Kriminalsoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Praxis 9783845271842, 9783848728060


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Kriminalsoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Praxis
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Dieter Hermann | Andreas Pöge [Hrsg.]

Kriminalsoziologie Handbuch für Wissenschaft und Praxis

https://doi.org/10.5771/9783845271842 Generiert durch Universität Leipzig, am 03.05.2021, 22:40:28.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-2806-0 (Print) ISBN 978-3-8452-7184-2 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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5 Vorwort Das vorliegende Handbuch versucht, die zentralen Themen der Kriminalsoziologe in unterschiedlichsten Facetten abzubilden. In den verschiedenen Einzelbeiträgen wird dazu jeweils eine systematische und umfassende Darstellung eines kriminalsoziologischen Themengebiets vorgenommen. Ebenfalls Inhalt jedes Beitrags ist die Vorstellung der Forschungen und Studien der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser. Ein Buch, das solch eine große inhaltliche Breite abdecken soll, kann nur durch die Zusammenarbeit vieler Forscherinnen und Forscher gelingen. Wir möchten uns deshalb ganz herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, die durch ihre gelungenen interdisziplinären Artikelbeiträge das Entstehen dieses Buches möglich gemacht haben. Darüber hinaus gebührt unser besonderer Dank dem Nomos-Verlag für die inhaltlichen Anregungen, das Lektorat und die Produktion dieses Handbuchs. In Person von Frau Dr. Sandra Frey und Frau Kristina Stoll standen uns jederzeit kompetente Ansprechpartnerinnen hilfreich zur Seite. Ein solches Buchprojekt nimmt viel Zeit in Anspruch, daher bedanken wir uns nicht zuletzt bei unseren Familien für ihre Unterstützung. im Dezember 2017 Dieter Hermann Heidelberg Andreas Pöge Bielefeld

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7 Inhaltsverzeichnis I. Kriminaliätstheorien, Methoden und Praxis Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität. Eine Darstellung aus der Perspektive der analytischen Soziologie ......................................................... Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie ............................................................ Dieter Hermann

39

Situational Action Theory .............................................................................. Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers

59

Anomietheorien ............................................................................................ Helmut Thome

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Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion ......................................................................................... Sonja Schulz Methoden der empirischen Kriminalsoziologie ..................................................... Jost Reinecke Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei ........................................................................................................ Daniela Pollich

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II. Ätiologie. Ursachen von Kriminalität Werte und abweichendes Verhalten ................................................................... Andreas Pöge & Daniel Seddig

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Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur? .............................................. Christian Walburg

171

Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? ................ Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner

185

Familiale Sozialisation und Delinquenz .............................................................. Dirk Baier

201

Geschlecht und Kriminalität ............................................................................ Christiane Micus-Loos

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Medien und Gewalt ....................................................................................... Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel

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Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend ........................................................................................................ Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link

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Inhaltsverzeichnis Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln .............................................. Thomas Bliesener

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III. Struktur und Entwicklung von Kriminalität Die Veränderung von Gewalt an Schulen ............................................................ Saskia Niproschke Regionale Unterschiede in der gerichtlichen Sanktionspraxis in der Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Analyse ............................................................... Volker Grundies Stadtstruktur und Kriminalität ......................................................................... Dietrich Oberwittler

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IV. Soziale Probleme und gesellschaftliche Reaktionen Wirtschaftskriminalität .................................................................................. Kai-D. Bussmann

339

Korruption .................................................................................................. Peter Graeff

357

Migration als soziales Problem. Assimilation, abweichendes Verhalten und Kriminalität ................................................................................................. Michael Windzio

369

Rechtsextreme Gewalt am Beispiel qualitativer Analysen zu jugendlichen Tätern und Opfern ....................................................................................................... Andreas Böttger

383

Strafvollzug ................................................................................................. Frieder Dünkel

399

V. Viktimisierungen und Kriminalitätsfurcht Opferforschung ............................................................................................ Angelika Treibel

441

Kriminalitätsfurcht. Über die Angst der Bürger vor dem Verbrechen ......................... Helmut Hirtenlehner, Dina Hummelsheim-Doss und Klaus Sessar

459

VI. Abstracts ..............................................................................................

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VII. AutorInnenverzeichnis .............................................................................

483

Sachegister ..................................................................................................

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I. Kriminaliätstheorien, Methoden und Praxis

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11 Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität. Eine Darstellung aus der Perspektive der analytischen Soziologie Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb

1. Einleitung

Seit den Anfängen der Soziologie gibt das soziale Phänomen der Kriminalität der Disziplin Rätsel auf. Insbesondere Boudon hat die Kriminalität als eine soziale Paradoxie beschrieben: While a given theft has obvious negative effects on its victim, stealing can generate collective positive effects and hence appear as desirable to many people. Thieves contribute to the benefit of many – lawyers, locksmiths, and insurance companies flourish; lower-class people can obtain stolen goods at low prices, etc. (Boudon 2001, S. 453). Die Grundprinzipien der analytischen Soziologie (Hedström 2005; Hedström/Swedberg 1996, 1998; Hedström/Ylikoski 2010) stellen einen Werkzeugkasten für die Auflösung dieser Rätsel bereit (Maurer/Schmid 2010). Aus dieser Perspektive konstituiert sich Kriminalität über die Aggregation des kriminellen Handelns individueller Akteure, und es wird als Aufgabe einer soziologischen Analyse betrachtet, kollektive Sachverhalte anhand des Handelns individueller Akteure zu rekonstruieren. Vor diesem Hintergrund wird das kriminelle Handeln zum zentralen Bezugspunkt kriminalsoziologischer Analysen. An den Beginn dieser Analysen gehört zunächst eine Definition von Kriminalität, wie auch Wikström (2010, S. 214) festhält: Clearly defining what it is we want to explain […] helps us focus on what kinds of factors and processes may qualify as potential causes and explanations […]. Insofern als – ausgehend von den Grundprinzipien der analytischen Soziologie – Erklärungen des sozialen Phänomens der Kriminalität grundsätzlich handlungstheoretisch fundiert sind, ist eine klare handlungsbezogene Kriminalitätsdefinition sinnvoll. Entsprechend fassen wir im Einklang mit der klassischen Begriffsbestimmung von Sutherland/Cressey (1960, S. 8) und der jüngsten Definition von Wikström et al. (2012, S. 12) kriminelles Handeln als Handeln auf, das gegen geltende Normen des Strafrechts verstößt. Wie Wikström et al. (2012, S. 12) zutreffend anmerken, umfasst ein derartiges Verständnis von Kriminalität den Kern dessen, „what all crimes, in all places, at all times, have in common” und verschafft der Erklärung von Kriminalität zugleich ein stabiles ontologisches Fundament. Die vorgelegte Definition stellt heraus, dass sich Kriminalität als kollektiver Sachverhalt auf der Ebene sozialer und rechtlich-administrativer Entitäten (z. B. Nachbarschaften, Gemeinden, Städte, Gesellschaften, Staaten) verorten und aufgrund des Handelns individueller Akteure rekonstruieren lässt. Eine handlungstheoretisch fundierte Erklärung gibt Antworten auf die Frage, warum – unter welchen sozialen Bedingungen – Akteure zu kriminellem Handeln motiviert und befähigt sind (Maurer/Schmid 2010). In diesem Sinne deckt sich die analytische Soziologie mit Max Webers

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb Idee, der zufolge die Kernaufgabe einer soziologischen Analyse darin besteht, „soziales Handeln deutend (zu) verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich (zu) erklären […]“ (Weber 1981/1922, S. 19). Anders als im Rahmen der Phänomenologie, der Ethnomethodologie oder im Rahmen praxeologischer Ansätze wird dem Aspekt des Verstehens in der analytischen Soziologie dadurch Rechnung getragen, dass das Handeln von Akteuren vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialen Situation interpretiert und damit verstehend erklärt wird. In der gegenwärtigen Kriminalsoziologie stehen mehrere Ansätze zur Erklärung kriminellen Handelns nebeneinander, und die Grundprinzipien der analytischen Soziologie können herangezogen werden, um diese Ansätze in geordneter Weise darzustellen. Daher erläutern wir im Folgenden zunächst die Grundprinzipien der analytischen Soziologie (Abschnitt 2). Ausgehend davon werden die klassischen handlungstheoretischen Ansätze in der Tradition utilitaristischer und behavioristischer Sozialtheorien – Abschreckungstheorie, Rational Choice-Theorie und soziale Lerntheorie1 – vorgestellt (Abschnitt 3), sodann befasst sich Abschnitt 4 mit innovativen Erweiterungen und neueren handlungstheoretischen Perspektiven. Der finale Abschnitt 5 bietet Raum für abschließende Bemerkungen.

2. Grundprinzipien der analytischen Soziologie

Folgt man den Grundprinzipien der analytischen Soziologie, so besteht die Aufgabe kriminalsoziologischer Analysen darin, das soziale Phänomen der Kriminalität entlang der sozialen Bedingungen und Konsequenzen des kriminellen Handelns von individuellen Akteuren zu rekonstruieren und auf diese Weise verstehend zu erklären. Dabei genügt es aus der Perspektive der analytischen Soziologie nicht, systematische Beziehungen zwischen relevanten Merkmalen darzustellen; vielmehr geht es darum, diejenigen sozialen Mechanismen herauszuarbeiten, die für diese systematischen Beziehungen ursächlich sind: „[…] a satisfactory explanation requires that we are also able to specify the social ‚cogs and wheels‘ (Elster 1989, S. 3) that have brought the relationship into existence“ (Hedström/Swedberg 1996, S. 286). Die analytische Soziologie ist dem methodologischen Individualismus mit dem Prinzip der Mikrofundierung soziologischer Erklärungen verpflichtet: „In sociology […], the elementary ‘causal agents’ are always individual actors, and intelligible social mechanisms should […] always include explicit references to the causes and consequences of their actions” (Hedström/Swedberg 1996, S. 290). Entsprechend rekurrieren die Vertreter der analytischen Soziologie auf das Makro-Mikro-Makro-Modell soziologischer Erklärungen (Hedström/Swedberg 1996, 1998; Hedström 2005; Hedström/Ylikoski 2010). Das Makro-Mikro-Makro-Modell soziologischer Erklärungen wurde ursprünglich von Coleman (1986, 1990) vorgeschlagen und von Esser (1993, 1999) im deutschen Sprachraum vertreten. Eine soziologische Erklärung umfasst dem Makro-Mikro-Makro-Modell zufolge drei 1 Zu den klassischen handlungstheoretischen Ansätzen zur Erklärung kriminellen Handelns gehören außerdem die Kontrolltheorien und die General Strain Theory als handlungstheoretisch fundierte Anomietheorie. Da diesen Perspektiven im vorliegenden Handbuch jeweils eigene Beiträge gewidmet sind, werden sie in diesem Beitrag nicht behandelt (für die Kontrolltheorien siehe Schulz in diesem Handbuch, für die Anomietheorien siehe Thome in diesem Handbuch).

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität sequentiell aufeinanderfolgende Schritte: Zunächst erfolgt eine Rekonstruktion der sozialen Situation der Akteure (Logik der Situation), indem über die Formulierung von Brückenhypothesen diejenigen sozialen Bedingungen angegeben werden, die auf der Mikroebene die Bedingungen des Handelns darstellen (Kelle/Lüdemann 1996; Lindenberg 1996). In einem weiteren Schritt wird eine allgemeine Handlungstheorie angewandt (Logik der Selektion). Ein abschließender Schritt umfasst die Anwendung einer Aggregationsregel, die soziales Handeln zu kollektiven Sachverhalten transformiert (Logik der Aggregation). Über diese drei Schritte wird die Beziehung zwischen der sozialen Situation und dem zu erklärenden kollektiven Sachverhalt hergestellt.2 Im Rahmen der analytischen Soziologie ist ein an das Mechanismenkonzept angelehnter Sprachgebrauch üblich: Die ‚Logik der Situation‘ wird als situational mechanism bezeichnet, die ‚Logik der Selektion‘ wird action-formation mechanism genannt, und die ‚Logik der Aggregation‘ entspricht dem transformational mechanism (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Das Makro-Mikro-Makro-Modell soziologischer Erklärungen

Kollektives  Explanandum 

Soziale   Situation 

Logik der Situation  situational mechanism 

Akteur 

Logik der Aggregation  transformational mechanism 

Logik der Selektion  action‐formation mechanism 

Handeln 

Die zentralen Aufgaben im Rahmen einer soziologischen Erklärung bestehen dabei in der Beschreibung der Situation, der Ausformulierung der Beziehung zwischen Situation und Handeln und der Spezifikation der Handlungstheorie, die im Rahmen der ‚Logik der Selektion‘ bzw. als action-formation mechanism eingesetzt wird. Im vorliegenden Zusammenhang ist insbesondere die Spezifikation der Handlungstheorie für die soziologische Erklärung von Bedeutung. Coleman (1990) hat das soziale Handeln der indi-

2 Das Makro-Mikro-Makro-Modell soziologischer Erklärungen geht ursprünglich auf Überlegungen von McClelland (1961) zurück, der im Anschluss an Weber (1993/1904) einen Zusammenhang zwischen der protestantischen Ethik und der Entwicklung kapitalistischer Wirtschaftssysteme beschrieben hat. McClelland (1961) hat eine Mikrofundierung dieses Zusammenhangs vorgenommen, indem er Aspekte der protestantischen Ethik auf elterliche Erziehungspraktiken und die Entstehung kindlicher Leistungsbedürfnisse bezogen hat. Für die Mikroebene wurde im Anschluss an die Theorie der resultierenden Valenz (Lewin et al. 1944) die Theorie der Leistungsmotivation formuliert, die leistungsorientiertes Verhalten als das Resultat zweier gegenläufiger Tendenzen, nämlich des Strebens nach Erfolg und der Furcht vor Misserfolg, konzeptualisiert hat (Atkinson 1964).

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb viduellen Akteure dabei in Anlehnung an Webers Idealtyp des zweckrationalen Handelns als Wahlhandeln konzeptualisiert, das von dem Bestreben nach Nutzenmaximierung geleitet ist. Allerdings führte dies häufig zu der Feststellung, dass das soziale Handeln der individuellen Akteure auf diese Weise nur unzureichend erklärt werden kann. In ähnlicher Weise haben Maurer und Schmid (2010, S. 43) festgehalten, „dass unser nomologisches Handlungswissen unvollständig ist und erweitert werden muss“. In jüngerer Zeit wurden daher unterschiedliche Mechanismen zur Erklärung sozialen Handelns in das Makro-Mikro-Makro-Modell einbezogen. Eine dieser Erweiterungen stellt das Konzept der variablen Rationalität dar, mit dem Kroneberg (2005) neben dem Idealtyp des zweckrationalen Handelns auch die anderen Weberschen Idealtypen des sozialen Handelns – das wertrationale Handeln, das traditionale Handeln und das affektuelle Handeln – in das Makro-Mikro-Makro-Modell integriert hat. In ähnlicher Weise verdeutlicht auch Gambetta (1998), dass auf der mikrosoziologischen Ebene unterschiedliche Mechanismen angenommen werden können, mittels derer die Bedingungen sozialen Handelns spezifiziert werden. Gambetta (1998) versteht „mechanisms (as) hypothetical causal models that make sense of individual behavior (and) have the form, ,given certain conditions K, an agent will do x because of (mechanism) M with probability p’“ (Gambetta 1998, S. 102). Hedström/Swedberg (1998) bezeichnen diese Mechanismen als action-formation mechanisms (Hedström/Swedberg 1998, S. 23), die explizieren, „[…] how a specific combination of individual desires, beliefs, and action opportunities generate a specific action” (Hedström/ Swedberg 1998, S. 23). Diese Formulierung verweist auf die Desire-Belief-Opportunity-Theory (DBOT), die Hedström zu einem späteren Zeitpunkt vorgeschlagen hat (Hedström 2005). In diesem Zusammenhang konstatiert Hedström (2005, S. 36): In order for a theory to be explanatory it must consider the reasons why individuals act as they do. Im Rahmen der DBOT ist „the cause of an action […] a constellation of desires, beliefs and opportunities in the light of which the action appears reasonable” (Hedström 2005, S. 39). Obwohl Manzo (2010, S. 130) die DBOT als ,simplistic‘ kritisiert hat (siehe auch Manzo 2014), scheint sie als Bezugsrahmen für eine Analyse verschiedener action-formation mechanisms im Kontext des Makro-Mikro-Makro-Modells geeignet zu sein; dies insbesondere deshalb, weil ihre ausgeprägte Einfachheit eine prinzipielle Offenheit bezüglich derjenigen Mechanismen, die auf mikrosoziologischer Ebene thematisierbar sind, zulässt. Die Erklärungsaufgabe von Mechanismen stellt insbesondere Hedström (2005, S. 25) in Anlehnung an Hedström und Swedberg (1998) heraus: A social mechanism is a precise, abstract, and action-based explanation which shows how the occurrence of a triggering event regularly generates the type of outcome to be explained. Damit entspricht eine auf Mechanismen basierende soziologische Erklärung einer Suche nach den causes of effects, also einer Suche nach den Bedingungen, die für bestimmte Formen sozialen Handelns angeführt werden können (Smith 2014). Im Folgenden stellen wir klassische Ansätze zur Erklärung kriminellen Handelns vor und gehen auf Erweiterungen der jeweiligen Ansätze ein, die in engem Wechselspiel mit empirischen Analysen vorgeschlagen wurden. Dabei identifizieren wir stets die relevanten action-formation mechanisms, die den nomologischen Kern der einzelnen Ansätze bilden.

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität

3. Klassische Ansätze zur Erklärung kriminellen Handelns

Als Ursprünge der klassischen Ansätze zur Erklärung kriminellen Handelns gelten zum einen die klassische Kriminologie auf der Grundlage von Beccaria (1988/1766) und Bentham (1970/1789) und zum anderen die Chicago School der Soziologie (Park et al. 1925). Sowohl die Abschreckungs- und Rational-Choice Ansätze als auch die sozialen Lerntheorien zur Erklärung kriminellen Handelns spezifizieren einen Mechanismus, der zentral am Konzept der Erwartung ansetzt und damit den Aspekt der desires im Sinne der DBOT (Hedström 2005) konkretisiert.

3.1 Abschreckungstheorien und Rational-Choice Ansätze Die ideengeschichtlichen Wurzeln der Abschreckungstheorie und der Rational-Choice Ansätze bildet jeweils der Utilitarismus. Danach ist menschliches Handeln prinzipiell von der Tendenz bestimmt, Lustgewinne zu erzielen und Schmerzzustände zu vermeiden. Menschen werden als prinzipiell eigenverantwortliche, willensfreie Akteure verstanden, die in der Lage sind, diejenigen Formen sozialen Handelns zu wählen, von denen sie sich möglichst eine Maximierung von Annehmlichkeiten versprechen. Bereits Beccaria (1988/1766) formulierte die These, dass kriminelles Handeln im Vergleich zu konformem Handeln attraktiver ist, weil es leichter zu einer Maximierung von Annehmlichkeiten führen kann. Diese Merkmale krimineller Handlungen führen dazu, dass sie konformen Handlungen vorgezogen werden. Nach Beccaria (1988/1766) besteht in der Androhung von Strafe eine Möglichkeit, kriminelles Handeln mit Unannehmlichkeiten zu verbinden. Auf dieser Grundlage hat Beccaria (1988/1766) die Idee der Abschreckung (deterrence) entwickelt: Eine abschreckende Wirkung von Strafe ergibt sich ihm zufolge dann, wenn das Strafmaß der Attraktivität einer kriminellen Handlung entspricht und eine Tat prompt und mit Sicherheit bestraft wird. 3.1.1 Abschreckungstheorien Die Idee der Abschreckung bildet die selbstverständliche Grundlage des Strafrechts moderner Gesellschaften. Der relevante action formation mechanism, so wie er von Beccaria formuliert wurde, entwickelte sich allerdings erst etwa 200 Jahre später systematisch zum Gegenstand kriminalsoziologischer Theoriebildung und Forschung. Hierbei rückte die Hypothese, dass kriminelles Handeln verhindert werden kann, je schwerer, schneller und sicherer eine Bestrafung erfolgt, in den Mittelpunkt der Analyse (Pogarsky 2009). Dabei wurden abschreckende Wirkungen von Bestrafungen bzw. der Androhung von Strafen anhand von drei Mechanismen konkretisiert und zum Gegenstand empirischer Untersuchungen: Als Unfähigmachung (incapacitation) wird bezeichnet, dass Straftäter im Falle einer Inhaftierung keine weiteren Straftaten begehen können; als allgemeine Abschreckung (general deterrence) wird die Verhinderung von kriminellem Handeln durch die Androhung von Strafen betrachtet, und als spezifische Abschreckung (specific deterrence) wird der Einfluss des Erlebens von Bestrafung auf weiteres kriminelles Handeln thematisiert (Nagin 2013). In jüngerer Zeit werden differentielle Wirkungen

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb der Androhung von Strafe im Rahmen des Konzepts der Differentiellen Abschreckbarkeit thematisiert (Jacobs 2010).3 (i) Incapacitation: In einem Übersichtsartikel über bisherige Untersuchungen der Einflüsse von Inhaftierungen auf kriminelles Handeln berichtet Nagin (2013) von eher mäßigen Effekten. Die meisten Untersuchungen weisen darauf hin, dass diese Effekte mit der Länge der Inhaftierungen interagieren. Effekte der Unfähigmachung sind geringer, je länger die Inhaftierungen sind (vgl. zusammenfassend Nagin 2013). (ii) General deterrence: In der Kriminalsoziologie werden Einflüsse von Bestrafung auf zwei Analyseebenen bezogen. Zum einen werden auf der makrosoziologischen Ebene Beziehungen zwischen Verurteilungs- und Inhaftierungsraten auf Kriminalitätsraten untersucht, zum anderen werden auf der mikrosoziologischen Ebene Einflüsse der subjektiv wahrgenommenen Sanktionserwartungen auf kriminelles Handeln untersucht. Überblicksstudien zeigen dabei, dass auf makrosoziologischer Ebene vor allem das Bestrafungsrisiko einen kriminalitätsreduzierenden Effekt hat (Nagin 2013). Auf mikrosoziologischer Ebene (perceptual deterrence research) wurden Beziehungen zwischen der von Akteuren eingeschätzten Sicherheit, Schwere und Schnelligkeit des Eintretens negativer Sanktionen und kriminellem Handeln betrachtet (vgl. sekundär Dahlbäck 1998, 2003). In diesem Zusammenhang wurde einerseits die These vertreten, dass sowohl die Sicherheit des Eintretens einer Strafe als auch die Schwere einer angekündigten Strafe eigenständige Effekte auf kriminelles Handeln haben (Carroll 1978). Andererseits wurde insbesondere von Tittle (1969) herausgestellt, dass „[…] severity acts as a deterrent only when there is high certainty of punishment“ (Tittle 1969, S. 417, Hervorhebung im Original). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen haben Grasmick und Bryjak (1980) ein Modell entwickelt, das kriminelles Handeln I auf zwei konditionale Effekte (Sicherheit C, Schwere einer Bestrafung S) und einen Interaktionseffekt (mit der Eintrittswahrscheinlichkeit gewichtete Schwere einer Bestrafung CS) zurückführt (Grasmick/Bryjak 1980, S. 483): I = a + b1C + b2S + b3CS

(1)

Piliavin et al. (1986) konnten zeigen, dass Sanktions- und Inhaftierungsrisiken auf makrosoziologischer Ebene nur mäßige Einflüsse auf die subjektiv wahrgenommene Sicherheit des Eintretens negativer Sanktionen auf mikrosoziologischer Ebene hat. Eine abschließende Beurteilung der Einflüsse der wahrgenommenen Sicherheit, Schwere und Schnelligkeit des Eintretens von negativen Sanktionen auf kriminelles Handeln ist jedoch gegenwärtig kaum möglich. Hirtenlehner (2017) führt in Übereinstimmung mit Dölling et al. (2009) und Nagin (2013) in erster Linie methodische Gründe für die Uneinheitlichkeit der bislang erzielten Ergebnisse an. (iii) Specific deterrence: Auch für Einflüsse von Sanktionserfahrungen auf weiteres kriminelles Handeln wurden uneinheitliche bis widersprüchliche Befunde erzielt (vgl. mit weiteren Quellen Matsueda et al. 2006). Neuere Studien deuten darauf hin, dass Sanktionserfahrungen das wahrgenommene Sanktionsrisiko erhöhen und damit kriminelles Handeln unwahrscheinlicher machen (z. B. Schulz 2014; Thomas et al. 2013). In jüngerer Zeit werden in diesem Zusammenhang Abschreckungseffekte von Erfahrungseffekten unterschieden. Akteure, die Straftaten begangen haben, ohne hierfür negativ sanktioniert worden zu sein, korrigieren ihre Einschät-

3 Für Übersichtsartikel zum Stand der Abschreckungsforschung sei z. B. auf Nagin (1998, 2013), Pogarsky (2009), Pratt et al. (2006) sowie Paternoster (2009) verwiesen.

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität zung von Sanktionsrisiken entsprechend ihrer Erfahrung (siehe hierzu auch Punkt (vii) in Abschnitt 3.1.3). (iv) Differentielle Abschreckbarkeit: Die Uneinheitlichkeit und Widersprüchlichkeit der Befunde zur Abschreckungswirkung von Strafen haben zu der Annahme geführt, dass die Androhung von Strafe möglicherweise mit Merkmalen von potenziellen Straftätern interagiert. In einem Überblick über die Forschungsliteratur zeigt Hirtenlehner (2017), dass Abschreckungseffekte in Abhängigkeit von der Normbindung und der Selbstkontrolle bestehen. Auch diesbezüglich ist allerdings unklar, ob Abschreckungseffekte bei hoher oder niedriger Normbindung bzw. bei hoher oder geringer Selbstkontrolle auftreten (vgl. Schulz sowie Wikström und Schepers in diesem Handbuch). 3.1.2 Subjective Expected Utility Theory Im Rahmen der Kriminalsoziologie wurde die utilitaristische Sichtweise auf kriminelles Handeln über die Abschreckungstheorie hinaus ausgearbeitet. Dabei wurde der Akteur prinzipiell als ein reasoning criminal (Cornish/Clarke 1986) betrachtet. Kriminelles Handeln wurde auf der Grundlage der von Savage (1954) vorgeschlagenen Subjective Expected Utility Theory (SEU-Theorie) analysiert. Aus dieser Perspektive wird kriminelles Handeln als Entscheidung konzeptualisiert und entspringt wie jedes andere intentionale menschliche Handeln auch dem Bestreben nach Nutzenmaximierung (Cornish/Clarke 1986). Eine kriminelle Handlungsoption wird gewählt, wenn deren subjektiv erwarteter Vorteil bzw. Nutzen den Vorteil bzw. Nutzen anderer Handlungsoptionen übersteigt. Kriminelles Handeln wird hier insofern als rationales Handeln konzeptualisiert, als die Handlungsentscheidung auf der Basis einer Evaluation der subjektiv wahrgenommenen Nutzen- und Kostenkomponenten verschiedener Handlungsoptionen erfolgt und dem Prinzip der Nutzenmaximierung unterliegt (vgl. klassisch Elster 1983; Matsueda 2013). Die SEU-Theorie basiert auf der Annahme, dass Akteure keine vollkommene Information besitzen, sondern im Sinne einer ,bounded rationality‘ (Simon 1957) entscheiden. Im Rahmen der SEU-Theorie werden Nutzen- und Kostenkomponenten im Sinne eines subjektiv erwarteten Handlungsnutzens analysiert.4 Entsprechend wird hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung eine Wahrscheinlichkeitsverteilung individueller, auf subjektiver Wahrnehmung basierender Sanktionswahrscheinlichkeiten pi  (i = 1,  …,  n ) mit p  als Erwartungswert angenommen (Nagin 1998).5 Das Grundmodell der SEU-Theorie kann für die Analyse kriminellen Handelns demzufolge angeschrieben werden als J

J

J

SEU K i = ∑ j = 1 pi jUi j = ∑ jBB = 1 pi jBBi jB − ∑ jCC = 1 pi jCCi jC 

(2)

mit SEU K i  als dem SEU-Wert eines Akteurs i  für eine kriminelle Handlungsoption, dem subjektiv erwarteten Nutzen ∑ pi jUi j , der sich additiv aus den mit der subjektiv erwarteten Eintrittswahrscheinlichkeit pi j∗ gewichteten bzw. multiplizierten J   (JB + JC = J ) Nutzen- (Bi jB ) und Kostenkomponenten (Ci jC ), konstituiert. Eine Entscheidung für kriminelles Handeln wird als

4 Die Variabilitätsannahme der Nutzenkomponente ist Gegenstand einer anhaltenden Kontroverse. Für eine kurze Zusammenfassung der verschiedenen Positionen sei auf Best (2007) verwiesen. Diese theoretische Unschärfe des Nutzenkonzepts scheint eine weitere Ursache für dessen Vernachlässigung im Rahmen der empirischen Forschungsbemühungen zur Erklärung kriminellen Handelns darzustellen. 5 Für die Eintrittswahrscheinlichkeiten werden prinzipiell Bayessche Wahrscheinlichkeitsannahmen getroffen und Bayessches Lernen durch permanentes Updating (z. B. Karni 1996) unterstellt (einführend z. B. Braun/Gautschi 2011; spezifisch für das perzipierte Entdeckungsrisiko Matsueda et al. 2006).

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb eine Entscheidung unter Risiko konzeptualisiert, deren Handlungsausgänge ungewiss sind (siehe weiterführend z. B. Eifler 2009). Im Rahmen kriminalsoziologischer Studien auf der Basis der SEU-Theorie wurde anstelle eines engen ökonomischen Nutzenbegriffs, der sich auf monetäre Anreize für kriminelles Handeln bezieht, mit einem weiten Nutzenbegriff gearbeitet (Opp 1999). Dabei wurden neben den subjektiv erwarteten Kosten einer Bestrafung auch nicht-instrumentelle Anreize wie informelle und interne negative Sanktionen einbezogen. Das Erleben sozialer Missbilligung im Anschluss an eine kriminelle Handlungsentscheidung wird als informelle negative Sanktion bezeichnet, Gefühle der Scham und der Verlegenheit gegenüber anderen können als interne negative Sanktionen betrachtet werden (Grasmick/Green 1980). Einflüsse dieser Kostenarten auf kriminelles Handeln wurden ausgehend von der Studie von Grasmick und Green (1980) in zahlreichen Untersuchungen empirisch analysiert. Diese Studien führten zu dem allgemeinen Ergebnis, dass Entscheidungen für kriminelles Handeln stärker von subjektiven Erwartungen informeller und interner negativer Sanktionen abhängt als von der subjektiv erwarteten Bestrafung (Eifler 2009; Grasmick/Bursik 1990; Grasmick et al. 1991, 1993; Nagin/Paternoster 1993, 1994; Piquero/Tibbetts 1996; Tibbetts/Herz 1996). Vor allem Gefühle der Scham verhindern kriminelles Handeln wirksamer als Gefühle der Verlegenheit (Cochran et al. 1999; Tibbetts 1997). In anderen Studien wurden außerdem subjektiv erwartete positive Konsequenzen kriminellen Handelns berücksichtigt. Über die im Rahmen eines ökonomischen Nutzenbegriffs bereits untersuchten Einflüsse von materiellen Anreizen wurden dabei auch nicht-instrumentelle Anreize wie soziale Anerkennung und Gefühle von Aufregung und Abenteuer (thrill) als Prädiktoren berücksichtigt (Eifler 2009; Klemke 1982, 1992; Leitgöb et al. 2014; Matsueda et al. 2006; Nagin/Paternoster 1993; Paternoster/ Simpson 1996; Piquero/Tibbetts 1996; Tibbetts/Herz 1996; Wittenberg 2009). Verschiedene Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, dass Entscheidungen für kriminelles Handeln entweder ebenso stark wie (Nagin/Paternoster 1993) oder stärker als (Matsueda et al. 2006) durch subjektiv erwartete negative Konsequenzen durch subjektiv erwartete positive Konsequenzen determiniert werden. 3.1.3 Ökonomische Kriminalitätstheorie In der Kriminalsoziologie wurde darüber hinaus die ökonomische Kriminalitätstheorie des neoklassischen Ökonomen Gary Becker rezipiert. Unter Berücksichtigung der Expected Utility Theory (von Neumann/Morgenstern 1944; für eine Einführung siehe z. B. Jehle/Reny 2011, S. 102 ff.) formalisiert Becker (1968, S. 177) die Kosten-Nutzen-Abwägung hinsichtlich der Ausführung krimineller Handlungen in folgender Funktion: E U = pU Y − f + 1 − p U Y  

(3)

mit E U   als dem zu erwarteten Nutzen der kriminellen Handlung, p  als der Wahrscheinlichkeit ertappt und bestraft zu werden, 1 − p   als der komplementären Wahrscheinlichkeit unentdeckt zu bleiben und ohne Strafe davonzukommen, Y   als dem monetären und psychischen Gewinn, den die Begehung der Straftat stiftet und schließlich f   als die mit einer Bestrafung verbundenen Kosten.6 Weiterhin repräsentiert U ∗   eine Von-Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktion, die Y   und f   in eine gemeinsame Metrik überführt. Dem durch Gl. (1) beschriebenen 6 Eine allgemeine Einführung in die Rational-Choice-Theorien (RC-Theorien) aus soziologischer Perspektive stellen Hechter/Kanazawa (1997), Kroneberg/Kalter (2012) sowie Voss/Abraham (2000) zur Verfügung. Eine konstruktive Kritik an RC-Theorien formuliert Boudon (2003).

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität Nutzenmodell liegen folgende Annahmen zugrunde: Akteure entsprechen dem Menschenbild des homo oeconomicus: Sie (i) verfügen über vollkommene Information und (ii) besitzen eine bezüglich der situativ gegebenen Handlungsoptionen stabile transitive Präferenzordnung. (iii) Der Ausgang der kriminellen Handlung ist ungewiss und folglich mit Unsicherheit bzw. Risiko behaftet (McCarthy 2002, S. 418 ff.). Gemäß (i) gelten p  und f   als exogen und als den Individuen bekannt. Während p  vor diesem Hintergrund als objektive Sanktionswahrscheinlichkeit verstanden werden kann, die sich (zumindest approximativ) in der entsprechenden Aufklärungsquote – enthalten in der amtlichen Kriminalstatistik – manifestiert (Braun/Gautschi 2011, S. 121), entspricht f   der für das begangene Delikt gesetzlich festgelegten Strafhöhe.7 Weiterhin weist das Modell hinsichtlich der Risikopräferenz8 der Akteure (allgemein z. B. Jehle/Reny 2011, S. 111 ff.) folgende innen- und justizpolitisch relevante Eigenschaften auf: Bei Risikoneutralität ist die Nutzenfunktion linear, sodass sich Gl (1) zu E Y = p Y − f + 1 − p Y = Y − pf 

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transformieren lässt (Eide 2004). Unter diesen Bedingungen kann der erwartete Gewinn E Y   konstant gehalten werden, wenn z. B. eine Verringerung von p  durch eine entsprechende Erhöhung von f   ausgeglichen wird. Becker (1968, S. 183) leitet daraus das Prinzip der Effizienz harter Strafen ab: If the supply of offenses depended only on p f   – offenders were risk neutral – a reduction in p  “compensated” by an equal percentage increase in f   […] would reduce the loss, because the costs of apprehension and conviction would be lowered by the reduction in p . The loss would be minimized, therefore, by lowering p  arbitrariliy close to zero and raising f   sufficiently high so that the product p f   would induce the optimal number of offenses. Liegt Risikoaversion vor, nimmt der Graph der Nutzenfunktion eine konkave Form an, und eine Änderung in f   übt größeren Einfluss auf den erwarteten Nutzen aus als eine äquivalente Verschiebung von p . Demgegenüber verläuft die Nutzenfunktion unter Risikoaffinität konvex, und das Gegenteil ist der Fall.9 7 Prinzipiell unterstellt Becker (1968) interindividuelle Variation in p  und f  . Diese ist allerdings nicht auf die divergierende Bewertung der Größen durch die Individuen zurückzuführen, sondern vielmehr auf Unterschiede in den Strafverfolgungs- und Rechtssprechungspraktiken der jeweiligen Ermittlungsbehörden, Gerichte und Geschworenen sowie auf askriptive Personenmerkmale. Allerdings vernachlässigt er im weiteren Verlauf des Beitrags diese Heterogenität und bezieht sich nur noch auf die Erwartungswerte. 8 Wie die experimentalökonomischen Arbeiten von Kahneman/Tversky (1979, 1984; Tversky/Kahneman 1992) zum Auftreten kognitiver Verzerrungen in Entscheidungsprozessen unter Unsicherheit im Rahmen der Entwicklung ihrer Prospect Theory belegen, scheinen Akteure jedoch keine stabile Risikodisposition zu besitzen. Vielmehr variiert das Risikoverhalten aufgrund des Reflection Effects in Abhängigkeit davon, ob es in einer konkreten Situation einen drohenden Verlust abzuwenden oder einen potenziellen Gewinn zu generieren gilt. Während Akteure in der ersten Situation eine gehobene Tendenz zum Risiko aufweisen, dominieren in der zweiten Situation risikoaverser Strategien. Dem von Lattimore/Witte (1986; siehe auch Guthrie 2003) formulierten Vorschlag, Modelle der kriminellen Handlungsentscheidung auf der Grundlage der Prospect Theory zu spezifizieren, wurde bislang allerdings äußerst wenig Beachtung geschenkt (Garoupa 2003). 9 Die empirische Evidenz, dass der Sanktionswahrscheinlichkeit eine höhere kriminalitätsreduzierende Wirkung zukommt als der Sanktionsschwere (z. B. Nagin 1998, 2013; Paternoster 1987, 2010; Pratt et al. 2006; Von Hirsch et al. 1999), veranlasste Becker (1968, S. 178) zu folgender Feststellung: „The widespread generalization that offenders are more deterred by the probability of conviction than by the punishment when convicted turns out to imply in the expected-utility approach that offenders are risk preferrers (…)”. Die Annahme, dass Risikofreudigkeit ein Straftäter charakterisierendes Persönlichkeitsmerkmal (trait) darstellt, ist jedoch Gegenstand anhaltender Kritik (z. B. Dahlbäck 2003; Eide 1999; Mehlkop 2011; Mühlenfeld 1999).

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb Gemäß Gl. (1) entspricht der zu erwartende Nutzen einer kriminellen Handlung nun der Summe der mit den jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichteten Nutzen- und Kostenkomponenten. Demzufolge wird sich ein Individuum ausschließlich in jenen Situationen für die Ausübung krimineller Handlungen entscheiden, die einen positiven erwarteten Nutzen hervorbringen, sodass E U > 0  gilt. Dieser Fall liegt vor, wenn Ungleichung U Y > pU Y − f  

(5)

hält und der Nutzen aus dem durch die kriminelle Handlung realisierten Gewinn die entsprechenden Kosten in Form der Sanktionsschwere, multipliziert mit der Sanktionswahrscheinlichkeit, übersteigt. Da der mit einer kriminellen Handlung verbundene Nutzen deliktspezifisch geformt ist und vollständig über den realisierbaren ökonomischen Ertrag Y   determiniert wird, entzieht er sich im Gegensatz zu den beiden Kostenkomponenten weitgehend der Möglichkeit zur politischen Intervention. Dies hat u. a. zur Folge, dass der Fokus der empirischen kriminalsoziologischen bzw. kriminologischen Forschung im Rahmen des RC-Ansatzes auf der Abschreckungsqualität der Sanktionswahrscheinlichkeit und -schwere liegt, was wesentlich zur Vermehrung des abschreckungstheoretischen Wissensbestandes beigetragen hat (Eifler 2002, S. 52). Das von Becker propagierte Modell erweist sich in mehrfacher Hinsicht als restriktiv, sodass im Laufe der Zeit eine Reihe von Erweiterungen, Generalisierungen bzw. Adaptionen vorgeschlagen wurden. Die zentralen Weiterentwicklungen werden nachfolgend vorgestellt: (i) Eine erste Ergänzung erfuhr das Modell durch Brown und Reynolds (1973), die eine Berücksichtigung des individuellen Einkommens aus konventionellen Tätigkeiten bzw. des Wohlstandsniveaus W  , des über die kriminelle Handlung zu realisierenden Gewinns G  mit Y = W + G  sowie des aus einer Entdeckung resultierenden Verlusts L  (z. B. durch den Ausfall des Erwerbseinkommens bei Verbüßung einer Haftstrafe; Grogger 1991) mit f = L + G  vorgenommen haben. So lässt sich Gl (3) anschreiben als E U = pU W − L + 1 − p U W + G  

(6)

Demzufolge wird ein Individuum nur dann eine kriminelle Handlung vollziehen, wenn der daraus erwartete Nutzen größer ist als jener aus dem konventionellen Einkommen W  . Dieser Fall tritt ein, wenn 1 − p U G + pU L > 0  vorliegt. Zu weiteren Details dieses Modells, insbesondere für risikoaverse Individuen, siehe Brown und Reynolds (1973). (ii) Das Becker-Modell unterstellt ferner, dass der aus einer kriminellen Handlung zu erzielende Gewinn auch bei Entdeckung vollständig abgeschöpft werden kann. Dies muss allerdings keineswegs immer zutreffen. Vielmehr argumentieren Braun und Gautschi (2011, S. 121), dass der konsumierbare Anteil des aus der kriminellen Handlung hervorgegangenen Ertrags Y   bei Entdeckung wesentlich vom begangenen Delikt abhängt. Zur Berücksichtigung dieses Umstands schlägt Heineke (1975) eine Erweiterung des Modells um den Parameter x  mit 0 ≤ x ≤ 1  vor, der im Kostenteil multiplikativ mit Y   verlinkt wird und somit dessen Anteil determiniert: E U = pU xY − f + 1 − p U Y  

(7)

Aus Gl. (7) wird ersichtlich, dass sich bei x = 1  das Heineke-Modell auf das Becker-Modell reduziert. Der gegenläufige Extremfall mit x = 0  resultiert im Brown-Reynolds-Modell (Brown/ 20

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität Reynolds 1973). Dieses unterstellt, dass ein Akteur bei Entdeckung und Bestrafung den aus der kriminellen Handlung erwachsenden Ertrag vollständig verliert. Ein die bisherigen Kritikpunkte (i) und (ii) berücksichtigendes generalisiertes RC-Modell der kriminalitätsbezogenen Entscheidungsprozesse diskutieren Braun und Gautschi (2011, S. 121 ff.). (iii) Weiterhin lässt Becker die Existenz legitimer Handlungsalternativen außer Acht bzw. legt die implizite Annahme zugrunde, dass der erwartete nicht-kriminelle Handlungsnutzen gleich null ist (Matsueda 2013, S. 286). Dies erscheint jedoch wenig plausibel, da die Mehrheit der Akteure auch aus nicht-kriminellen Aktivitäten einen positiven Nutzen erwartet.10 Eine Aufhebung der Annahme kann über die explizite Formulierung einer strukturell äquivalent formulierten Nutzenfunktion für nicht-kriminelle Handlungsoptionen erreicht werden (z. B. Bueno de Mesquita/Cohen 1995): E Uk = pkU I + 1 − pk U W  

(8)

mit E Uk   als dem erwarteten Nutzen aus der konventionellen Aktivität, I   als dem damit verbundenen Einkommen, pk  als der Wahrscheinlichkeit, I   realisieren zu können, und W   als dem bestehenden Wohlstandsniveau, falls I   nicht abgeschöpft werden kann. Unter dem gegebenen Set an Annahmen wird ein Individuum eine Handlungsentscheidung zugunsten von Kriminalität ausschließlich dann treffen, wenn E U > E Uk   vorliegt. Ferner hat eine solche Formalisierung des Entscheidungsprozesses zur Folge, dass die Wahrscheinlichkeit der Begehung krimineller Handlungen nicht nur über die innen- und justizpolitische Regulierung der Sanktionswahrscheinlichkeit und -härte beeinflusst werden kann, sondern auch über die auf bildungs-, sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen basierende Bereitstellung attraktiver konventioneller Alternativen (Matsueda 2013, S. 392). Eine solche Perspektive steht u. a. im Einklang mit der von von Liszt (1905, S. 146) bereits vor mehr als 100 Jahren geäußerten Einsicht, dass gute Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik sei. (iv) Der Kostenterm des Becker-Modells berücksichtigt mit der zu erwartenden Sanktionsschwere f   ausschließlich Kosten, die nur durch eine Entdeckung mit der darauf folgenden Strafe anfallen. Demzufolge fallen keine Kosten an, wenn eine kriminelle Handlung erfolgreich realisiert werden kann. Becker und Mehlkop (2006; siehe auch Mehlkop/Graeff 2010) schlagen eine Erweiterung dieser einfachen Kostenstruktur um Opportunitäts- und Transaktionskosten mit den daraus resultierenden Konsequenzen vor, die unabhängig vom Durchführungserfolg der kriminellen Handlung anfallen. Zu den Opportunitätskosten zählen sie z. B. aus nicht-gewählten Handlungsoptionen entgangene Erlöse, zu den Transaktionskosten Kosten, die anfallen, um eine Tat überhaupt erst begehen zu können (z. B. Kosten des Erwerbs einer Waffe) und als resultierende Konsequenzen z. B. Kosten zur Verschleierung der Tat (für eine umfassende Auflistung siehe etwa Ekblom/Tilley 2000). So bezeichnet McCarthy (2002, S. 426) auf Grundlage der empirischen Befunde aus Pezzin (1995) sowie Uggen und Thompson (1999) insbesondere die Opportunitätskosten aus legaler Erwerbsarbeit als „powerful influence on illegal involvement”.

10 In diesem Zusammenhang verweist Matsueda (2013) unter Bezugnahme auf Hirschis (1969) Social Bonding Theory darauf, dass Individuen, die stark in konventionelle Tätigkeiten eingebunden sind und sich dadurch einen gewissen sozialen Status, Prestige, Einkommen usw. erarbeitet haben, eine geringe Kriminalitätsneigung aufweisen, da sie die dafür getätigten Investitionen bzw. den damit generierten Nutzen nicht aufs Spiel setzen möchten.

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb (v) In Anlehnung an Heckhausen/Schulz (1993) sowie McCarthy/Hagan (2005) plädieren Mehlkop und Becker (2004) für eine Aufhebung der Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Begehung einer kriminellen Handlung die zur Sanktionswahrscheinlichkeit komplementäre Wahrscheinlichkeit repräsentiert und 1 − p  entspricht. Vielmehr gehen sie davon aus, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit unabhängig von der Sanktionswahrscheinlichkeit ist. Als entscheidende Kriterien für die individuelle Bewertung der situationsbezogenen Erfolgswahrscheinlichkeit stellt Mehlkop (2011, S. 78) basierend auf den SEU-Annahmen die Evaluation (a) der Opportunität (prinzipielle Gelegenheit zur Tatbegehung; z. B. Eifler 2009), (b) des Besitzes der dafür erforderlichen Fähigkeiten bzw. der notwendigen Kenntnisse (z. B. Ekblom/ Tilley 2000; Guerette et al. 2005) und (c) der Selbstwirksamkeitserwartung im Anschluss an Banduras sozial-kognitive Lerntheorie (Bandura 1977, 1982) als der Fähigkeit, die in Punkt (ii) angeführten Ressourcen in einer konkreten Situation auch erfolgreich zum Einsatz bringen zu können (vgl. hierzu bereits Fetchenhauer 1998 oder Topalli 2005) durch die Akteure heraus. Diese erweiterte Form des (vereinfachten) SEU-Modells lässt sich in Anlehnung an Fetchenhauer (1998) sowie Mehlkop und Graeff (2010, S. 194) wie folgt formalisieren: SEU K i = qiBi − piCi 

(9)

mit q  als der subjektiv wahrgenommenen Wahrscheinlichkeit, die strafbare Handlung K   erfolgreich und somit unentdeckt ausführen zu können. Die bestehende empirische Befundlage (z. B. Becker/Mehlkop 2006; Fetchenhauer 1998; Mehlkop/Becker 2004; Mehlkop/Graeff 2010) indiziert, dass der perzipierten Erfolgswahrscheinlichkeit ein von der Entdeckungswahrscheinlichkeit unabhängiger, eigenständiger Beitrag zur Erklärung kriminellen Handelns zukommt, dessen Stärke allerdings moderaten delikt- und schichtspezifischen Variationen unterworfen ist. (vi) Aus soziologischer Sicht richtungsweisend gilt die Berücksichtigung sozialer und psychologischer Dimensionen wie die Internalisierung von sozialen Normen und das daraus erwachsene Maß an Normakzeptanz, Moralität, Wertorientierungen (siehe den Beitrag von Pöge/Seddig in diesem Handbuch) sowie Selbstkontrolle in RC-theoretische Ansätze kriminellen Handelns (für eine allgemeine Argumentation siehe Opp 1999, 2013; einschlägig: z. B. Eifler 2008, 2010, 2016; Kroneberg et al. 2010; Mehlkop 2011; Mehlkop/Graeff 2010; Paternoster/Pogarsky 2009; Paternoster/Simpson 1993, 1996; Sattler et al. 2013a, 2013b; Seipel/Eifler 2010; Tittle et al. 2010).11 Da sich die genannten Persönlichkeitsmerkmale über Lern- und Sozialisationsprozesse in den sozialen Kontexten ausbilden, in denen die Individuen heranwachsen bzw. sich zeit ihres Lebens bewegen, und da diese wiederum von den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen geformt werden, erlangt der Ansatz über die Formulierung entsprechender Brückenhypothesen im Rahmen des Makro-Mikro-Makro-Modells soziologischer Erklärungen konzeptionellen Anschluss an die strukturelle Makroebene. Während die Annahme, dass eine ausgeprägte Norminternalisierung bzw. entwickelte Moralvorstellungen die Wahrscheinlichkeit der Begehung krimineller Handlungen reduzieren, unstrittig ist, stehen sich mehrere theoretische Argumentationsstränge hinsichtlich deren Einbettung in eine RC-basierte Erklärung kriminellen Handelns gegenüber (Tittle et al. 2010).

11 Für die auch als Autonomy Thesis bezeichnete kritische Position zur Integration sozialer Normen im RC-Framework siehe grundlegend Elster (1989) sowie die in Opp (2013) angeführte Literatur.

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität In einer Analyse der sozialen Bedingungen des Versicherungsbetrugs hat Fetchenhauer (1998) drei Arten des Zusammenwirkens von Moralvorstellungen und Kosten-Nutzen-Erwägungen voneinander unterschieden: Kriminelles Handeln kann danach einem „simultanen Modell“ entsprechend auf den subjektiv erwarteten Nutzen zurückgehen, wenn die materiellen Anreize so stark sind, dass der subjektiv erwartete Nutzen sehr hoch wird und die Normorientierungen demgegenüber in den Hintergrund treten. Normorientierungen können weiterhin als „Epiphänomen“ dem subjektiv erwarteten Nutzen begleitend angepasst werden. Schließlich können Normorientierungen wie ein moralischer Filter wirken, indem sie zunächst kriminelles Handeln legitimieren und dann eine Abwägung zwischen subjektiv erwarteten positiven und negativen Handlungskonsequenzen veranlassen. Ein solches ,sequentielles Modell‘ geht auf Trasler (1993) zurück und basiert auf folgender Überlegung: Moralvorstellungen „are ,temporally prior‘ to any decisions concerning the commission of a particular crime for which there may be an opportunity, essentially preempting such decisions – a feature that is consistent with the notion of sequential rather than simultaneous decision making“ (Trasler 1993, S. 314). Trasler (1993, S. 315) geht ferner davon aus, dass Moralvorstellungen Kosten-Nutzen-Erwägungen bedingen: We first determine what kinds of information we are prepared to admit to the decision process, and we then proceed to a decision on the basis of a limited set of data. The ‘moral’ individual does not admit to his decision set considerations that are inconsistent with his moral stance. Die Filter-Hypothese repräsentiert eines der Kernargumente der Situational Action Theory (siehe den Beitrag von Wikström und Schepers in diesem Handbuch). In Übereinstimmung mit der Filter-Hypothese zeigte sich, dass Normorientierungen mit der erwarteten Sanktionsschwere interagieren: Einflüsse der erwarteten Schwere einer Bestrafung zeigten sich in manchen Studien nur im Falle einer geringen Orientierung an rechtlichen Normen (Bachman et al. 1992; Burkett/Ward 1993; Fetchenhauer 1998; Paternoster/Simpson 1996; Wenzel 2004). Eine weitere Überlegung ergibt sich aus der Low Cost-Hypothese, die ursprünglich im Rahmen der Analyse des Umweltverhaltens entwickelt wurde (Bamberg 1999; Bamberg/Kühnel 1998; Diekmann/Preisendörfer 1992, 1998). Es wird angenommen dass Moralvorstellungen für das Handeln vor allem dann relevant werden, wenn Akteure angesichts von Low Cost-Situationen mit geringen Kosten ihrer Entscheidung rechnen. Demgegenüber wird angenommen, dass Kosten-Nutzen-Überlegungen vor allem in High Cost-Situationen die Handlungsentscheidung beeinflussen. In einem kriminalsoziologischen Kontext bedeutet dies, dass Akteure sich vor allem in Low Cost-Situationen von Moralvorstellungen leiten lassen, beispielsweise in Situationen, in denen das Entdeckungsrisiko gering ist. Bisherige Befunde zur Low Cost-Hypothese im Bereich der Kriminalsoziologie sind allerdings uneinheitlich (Eifler 2015, 2016). (vii) Aus analytischer Sicht lässt sich schließlich ein langsamer Übergang von statischen zu dynamischen RC-Modellen delinquenten Handelns konstatieren (z. B. Anwar/Loughran 2011; Leung 1991, 1995; Lochner 2007; Matsueda et a. 2006; Pogarsky et al. 2004; Thomas et al. 2013; Wilson et al. 2017). Diese Entwicklung ist in erster Linie auf die zunehmende Verfügbarkeit surveybasierter Längsschnittstudien mit elaborierten Messungen der RC- bzw. SEU-Komponenten, der Formulierung entsprechender theoretischer Argumente über die adaptiven Lernprozesse und die Etablierung komplexer statistischer Panelmodelle zurückzuführen (Matsueda 2013). Diesen Modellen liegt u. a. die Annahme zugrunde, dass die von Akteuren perzipierte Entdeckungswahrscheinlichkeit pi  aufgrund persönlicher oder stellvertretender Erfolgs- bzw.

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb Aufgriffserfahrungen über die Zeit variiert und der zugrunde liegende Mechanismus über Prozesse des adaptiven Lernens durch Bayessches Updating erklärt werden kann. Ferner erlaubt eine longitudinale Perspektive die analytische Zerlegung des Einflusses der beiden Kostenfaktoren Sanktionswahrscheinlichkeit und -schwere in eine abschreckungs- und eine lernbezogene Komponente, die im Rahmen der Querschnittsanalyse aufgrund von Endogenitätsproblemen nicht realisierbar ist (z. B. Carmichael et al. 2005; Hirtenlehner/Wikström 2016; Saltzman et al. 1982).

3.2 Soziale Lerntheorie zur Erklärung kriminellen Handelns In einem der meistbeachteten Übersichtswerke zum allgemeinen Status der kriminologischen Theorie klassifizieren Cullen et al. (2006) die soziale Lerntheorie (SLT) in der von Akers (1973) vorgelegten Form als Kerntheorie der Disziplin.12 Dementsprechend weist sie gemäß den Ergebnissen aus einer von Ellis et al. (2008) realisierten Umfrage unter den Mitgliedern der American Society of Criminology die höchste Anwendungsdichte zur Erklärung von geringfügigem und schwerwiegendem kriminellem Verhalten auf. Das Fundament der kriminologischen SLT (kSLT) bilden nach Akers und Jennings (2009) die soziologische Theorie der differentiellen Assoziation (TDA) von Sutherland (1939, 1947; Sutherland/Cressey 1960, 1966) und die auf Prinzipien der behavioristischen Psychologie (Skinner 1953) basierende Differential Association-Reinforcement Theory (DART) von Burgess und Akers (1966). Die TDA lässt sich im intellektuellen Nahbereich der Chicago School der Soziologie (Park et al. 1925) verorten und basiert auf neun Thesen zur Erklärung kriminellen Handelns. Diesen zufolge wird kriminelles Verhalten im Zuge der sozialen Interaktion mit anderen Personen – insbesondere aus dem sozialen Nahbereich (intimate personal groups) – erlernt (T1, T2, T3). Das Lernen bezieht sich hierbei sowohl auf (i) die für die Ausführung von Straftaten erforderlichen Techniken und (ii) die über die Bewertung der relevanten kodifizierten Normen als positiv oder negativ determinierte Richtung von Motiven, Trieben, Rationalisierungen und Einstellungen (T4, T5). Mit dem Prinzip der differentiellen Assoziation enthält die sechste These das namensgebende Kernargument der TDA: A person becomes delinquent because of an excess of definitions favorable to violation of law over definitions unfavorable to violation of the law. (Sutherland 1947, S. 6 f.). Demzufolge ist das Auftreten kriminellen Verhaltens dann zu erwarten, wenn das soziale Umfeld eines Individuums einen Überhang an kriminalitätsbegünstigenden Definitionen bereitstellt. Diese werden über einen durch die Interaktion mit dem kriminogenen Kontext initiierten Lernprozess internalisiert und auf diese Weise für die Handlungssteuerung übernommen. Hinsichtlich der ,differentiellen Assoziationen‘ liegt die Annahme zugrunde, dass diese in ihrer Frequenz, Dauer, Priorität und Intensität variieren (T7). Der über die kriminalitätsbegünstigenden bzw. -hemmenden Assoziationen gesteuerte Lernprozess konstituiert sich ferner aus jenen Mechanismen, die beim Verhaltenslernen im Allgemeinen (und somit auch von gesetzeskonformen Verhaltensweisen) emergieren (T8). Schließlich wird kriminelles Verhalten als Ausdruck allge12 Im Gegensatz zur Kriminologie bezieht sich der Begriff ,soziale Lerntheorien‘ in der Sozialpsychologie grundlegend auf die behavioristisch geprägten Ansätze von Bandura (z. B. 1977); Bandura/Walters (1963) sowie Rotter (1954).

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität meiner Werte und Bedürfnisse verstanden. Es kann jedoch nicht durch diese erklärt werden, da jedes andere Verhalten auch Ausdruck derselben Bedürfnisse ist (T9). Trotz empirischer Evidenz zugunsten der TDA (für einen Überblick siehe Matsueda 1988) wurde der Theorie im Laufe der Zeit ein beachtliches Maß an Kritik entgegengebracht. Einer der Hauptkritikpunkte bezieht sich auf die mangelnde Operationalisierbarkeit der Kernkonzepte der Theorie (z. B. Burgess/Akers 1966; Gibbs 1987; Hirschi 1969). Davon ist insbesondere die empirische Abbildung des individuellen Verhältnisses internalisierter Definitionen, die Verstöße gegen das Strafgesetz als positiv oder negativ bewerten, betroffen, die für eine strenge Prüfung des Prinzips der differentiellen Assoziation jedoch als notwendige Voraussetzung erachtet werden muss. Ferner weisen Burgess und Akers (1966) darauf hin, dass die Thesen der TDA keine Spezifikation der den Lernprozess konstituierenden Mechanismen zur Verfügung stellen. Weitere substantielle Kritikpunkte an der TDA wurden von Kornhauser (1978) vorgebracht, die in diesem Zusammenhang auch wesentlich zu einer Verschiebung des paradigmatischen Fokus in der theoretischen Kriminologie von der lerntheoretischen zur kontrolltheoretischen Perspektive beigetragen hat (Matsueda 1988, S. 289 ff.). Nicht zuletzt aufgrund der angeführten Kritikpunkte wurden einige Revisionen bzw. Erweiterungen der TDA vorgeschlagen, allen voran die sieben Thesen umfassende Differential Association-Reinforcement Theory (DART) von Burgess und Akers (1966). Die DART fokussiert auf die theoretische Integration des Prinzips der differentiellen Assoziation mit dem Prinzip der differentiellen Verstärkung aus der operanten Konditionierung (Skinner 1953, 1959). Auf diese Weise konkretisieren Burgess und Akers (1966) die Steuerung des kriminalitätsbezogenen Lernprozesses über positive und negative Verstärker in der Form erhaltener Belohnung bzw. vermiedener Bestrafung, die sich als Konsequenz aus der Durchführung einer Handlung ergeben (z. B. Erhalt sozialer Anerkennung für eine begangene Straftat durch die Peers [+]; Ausbleiben der strafrechtlichen Sanktionierung und deren negative Folgen durch die erfolgreiche – d. h. unentdeckte – Begehung der Tat [-]). Negative Konsequenzen (strafrechtliche Sanktionierung und deren negative Folgen bei Entdeckung) ebenso wie das Ausbleiben positiver Konsequenzen (durch die Straftat konnte kein Gewinn erzielt werden) senken demgegenüber die Wahrscheinlichkeit für kriminelles Handeln. In Anlehnung an sozial-kognitive Lerntheorien etablieren Burgess und Akers (1966) das Konzept der Erwartungen als eine zentrale Komponente des Lernprozesses. So führen direkte und stellvertretende Erfahrungen mit kriminellem Handeln zur Ausbildung und Verfestigung von Erwartungen über dessen positive und negative Konsequenzen. Aus der Perspektive Rotters (1954) folgt die These, dass die Wahrscheinlichkeit für die Begehung krimineller Handlungen nun von der Erwartung beeinflusst wird, dafür belohnt bzw. nicht bestraft zu werden (siehe weiterführend Eifler 2009, S. 38 ff.). Eine weitere Generalisierung der DART im Vergleich zur TDA bezieht sich darauf, dass kriminelles Handeln prinzipiell auch in nicht-sozialen Situationen (ohne die direkte Interaktion mit anderen Individuen, z. B. durch Medienkonsum) erlernt werden kann, sozialen Lernumgebungen jedoch eine ausgeprägte Wirkmächtigkeit zukommt. In weiterer Folge entwickelte Akers (z. B. 1973, 1977, 1985, 1998; Akers/Jensen 2003; Akers/ Sellers 2004) die kriminologische SLT über eine umfassende Restrukturierung, Erweiterung und Verfeinerung der DART. Während die Kernelemente der DART beibehalten wurden, rückte der klassische Behaviorismus Skinnerscher Prägung im Kontext der differentiellen Verstärkung zugunsten sozial-kognitiver Lerntheorien – insbesondere in der Formulierung von Bandura (1973, 1977, 1979, 1986; Bandura/Walters 1963) – in den Hintergrund. So kommen neben

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb der differentiellen Assoziation und der differentiellen Verstärkung mit den ,Definitionen‘ und der ,Imitation‘ zwei weitere Konzepte hinzu, die die sieben Thesen von Burgess und Akers (1966) ablösen. Während sich die Komponente der ,Definitionen‘ auf den Bereich der individuellen Wertorientierungen, normativen Überzeugungen und Einstellungen bezüglich kriminellen Handelns bezieht, tritt ,Imitation‘ auf, wenn Individuen Verhaltensweisen für sich übernehmen und in konkrete Handlungen umsetzen, die sie durch direkte oder indirekte Beobachtung (inklusive der Handlungskonsequenzen) von anderen erlernt haben (z. B. Akers 1973; Bandura 1977). Auf den Punkt gebracht, nimmt die kriminologische SLT an, dass Individuen in soziale Beziehungen eingebunden sind, die als Lernumgebungen dienen, indem sie die Beobachtung der unterschiedlichsten kriminellen und konformen Aktivitäten ermöglichen. Wenn Individuen in diesen Lernumwelten nun überwiegend kriminellen Verhaltensmustern begegnen, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie auch selbst kriminell handeln werden, da diese differentiellen Assoziationen die individuellen Bewertungsmaßstäbe (Definitionen) formen, entlang derer Kriminalität im Zuge der Handlungsselektion beurteilt wird. Das soziale Umfeld wiederum reagiert (neben dem Rechtsstaat) mit Belohnungen oder Bestrafungen (differentielle Verstärkung) auf kriminelles Handeln und fordert über die Bereitstellung entsprechender Verhaltensmodelle zur Nachahmung auf (Imitation).13 Im Laufe der Zeit wurde die kriminologische SLT einer Vielzahl an empirischen Überprüfungen unterzogen (für einen Überblick siehe z. B. die Meta-Analyse von Pratt et al. 2010 sowie die Beiträge von Akers/Jensen 2006 und Akers/Sellers 2009). Während sich aus der bestehenden Befundlage stabile Beziehungen der Komponenten ,differentielle Assoziation‘ (insbesondere für primäre Sozialisationsgruppen wie der Familie und den Peers; für einen kurzen Überblick siehe Akers/Jennings 2009, S. 111 f.) und ,Definitionen‘ mit kriminellem Handeln ableiten lassen, muss die empirische Evidenz für die Komponenten ,differentielle Verstärkung‘ und ,Imitation‘ bestenfalls als bescheiden bewertet werden (Pratt et al. 2010). Zudem treten erhebliche Schwankungen in den Effektstärken, hervorgerufen durch das Studiendesign, die Modellspezifikation und die eingesetzten Messkonzepte, auf. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass Akers (1998; Jensen/Akers 2003) mit dem Social-Structure-Social-Learning-Modell (SSSL) eine Erweiterung der kriminologischen SLT auf höhere sozialstrukturelle Ebenen vorgelegt haben, allerdings ohne das Potenzial des MakroMikro-Makro-Modells soziologischer Erklärungen (siehe Abbildung 1, Abschnitt 2) als methodologischem Bezugsrahmen auszuschöpfen. Hintergrund dieser theoretischen Extension ist die Annahme, dass auf der Meso- und insbesondere der Makroebene verortete sozialstrukturelle Merkmale distale Determinanten des konkreten sozialen Umfelds von Individuen repräsentieren, in dem sich die sozialen Lernprozesse vollziehen und somit kriminalitätsbezogenes Handlungslernen stattfindet. Weiterhin gilt es der Vollständigkeit halber anzumerken, dass einem breiter gefassten Rahmen sozialer Lerntheorien mit Fokus auf deviantes und kriminelles Handeln auch eine Reihe weiterer theoretischer Ansätze zugerechnet werden können, auf deren Erörterung allerdings aus Platzgründen verzichtet werden muss. Hierzu zählen etwa das Konzept der Neutralisierungstechniken als kognitive Strategie zur Bewältigung von Schuldund Schamgefühlen von Sykes und Matza (1957; siehe den Beitrag von Pöge/Seddig in diesem Handbuch). 13 Eine prägnante Zusammenfassung der zentralen Argumente der kriminologischen SLT stellt auch Akers (1998, S. 50) zur Verfügung. Für eine informative Kurzeinführung in die Theorie sei auf Akers/Jennings (2009) verwiesen.

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität

4. „Neue“ Ansätze zur Erklärung kriminellen Handelns

In den letzten beiden Dekaden konnten sich neben den in Abschnitt 3 skizzierten ,klassischen‘ handlungstheoretischen Ansätzen eine Reihe ergänzender bzw. alternativer Theorien bzw. theoretischer Modelle in der Kriminalsoziologie etablieren. Diese Ansätze erweitern die handlungstheoretische Perspektive um den Aspekt der Situation, vor deren Hintergrund kriminelles Handeln ausgeführt wird. Die bislang erläuterten action-formation mechanisms werden mit anderen Worten durch situational mechanisms ergänzt bzw. mit diesen verknüpft. Diese Entwicklung vollzog sich zum einen über den Transfer von Ansätzen aus der Ökonomie (Spieltheorie) und der allgemeinen Soziologie (Modell der Frame-Selektion) und zum anderen über die systematische Ausarbeitung eines an den Grundprinzipien der analytischen Soziologie orientierten Ansatzes, der Situational Action Theory (vgl. Wikström/Schepers in diesem Handbuch). (i) Den Ansatzpunkt für spieltheoretische Überlegungen (für eine allgemeine nichttechnische Einführung siehe Diekmann 2009) im Rahmen der Erklärung des kriminalitätsbezogenen Entscheidungsprozesses bildet der Umstand, dass diese Form der Handlungsselektion nicht in einem sozialen Vakuum vollzogen wird, sondern interaktionalen Dynamiken unterliegt (McCarthy 2002, S. 429). So kann im Gegensatz zu den konventionellen RC-Ansätzen das Potenzial der Spieltheorie genutzt werden, um perzipierte Handlungsoptionen, individuelle Präferenzen und das handlungsleitende Rationalitätsprinzip systematisch mit den von anderen Akteuren (z. B. Polizei, Komplizen, Opfer) auf die potenziellen Handlungen zu erwartenden Reaktionen zu einer differenzierten Entscheidungsstrategie zu verknüpfen. Als ,Arbeitspferd‘ für die handlungsstrategische Täter-Polizei-Beziehung hat sich insbesondere das von Tsebelis (1989, 1990a, 1990b) vorgeschlagene und u. a. von Andreozzi (2004, 2010), Holler (1993), Rauhut (2009, 2015) sowie Rauhut und Junker (2009) weiterentwickelte Inspection Game erwiesen, bei dem sich im Grundmodell ein Agent A für oder gegen die Ausführung einer kriminellen Handlung entscheiden muss unter dem Wissen, dass ein Agent B (der ,Inspektor‘) existiert, der ihn überwacht oder auch nicht. Unter einem gemischten Nash-Gleichgewicht wird erwartet, dass härtere Sanktionen zu (a) einem verringerten Ausmaß an formaler Kontrolle durch die Polizei und zu (b) keiner Veränderung der Kriminalitätsraten führen. Während (a) solide empirische Bestätigung findet, zeigt sich im Rahmen von Laborexperimenten doch ein zumindest schwacher Abschreckungseffekt höherer Strafen (Rauhut 2009). Weiterhin wurde zur Erklärung von (Nicht-)Kooperationsstrategien zwischen kriminell handelnden Akteuren (Komplizenschaft) etwa von McCarthy et al. (1998) mit dem Gefangenendilemma ein ,Klassiker‘ der Spieltheorie bemüht. Für aktuelle Übersichtsartikel zum Einsatz spieltheoretischer Elemente im kriminologischen Kontext sei z. B. auf McCarthy und Chaudhary (2014) sowie Rauhut (2017) verwiesen. (ii) Das Modell der Frame-Selektion: Als Modell im Sinne einer formalisierten Theorie (Mayntz 1967) knüpft das Modell der Frame-Selektion (Kroneberg 2005, 2007) an Überlegungen der Frame-Selektions-Theorie (Esser 2001) an. Mit der Idee einer ‚variablen Rationalität‘ wurden rationale ebenso wie normative Handlungskonzepte in den Bezugsrahmen des MakroMikro-Makro-Modells soziologischer Erklärungen gestellt. Neuere Überlegungen beziehen sich insbesondere auf eine Integration des Weberschen Idealtypus des wertrationalen Handelns (Kroneberg 2007). Das Modell der Frame-Selektion wurde erstmals von Eifler (2008, 2009)

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb auf die Analyse kriminellen Handelns bezogen und entsprechend ausgearbeitet. Es arbeitet im Rahmen des Makro-Mikro-Makro-Modells soziologischer Erklärungen (Abbildung 1, Abschnitt 2) den situational mechanism und den action-formation mechanism aus. Die Beziehung zwischen der sozialen Situation und dem Handeln wird in drei Schritte zerlegt: Ein erster Schritt bezieht sich auf die Definition der Situation, die durch den Akteur vorgenommen wird (Frame-Selektion). In einem zweiten Schritt werden innerhalb dieses Rahmens Handlungsmöglichkeiten eruiert (Skript-Selektion), von denen eine in einem dritten Schritt (Handlungs-Selektion) realisiert wird (Kroneberg 2005). Eine zentrale Annahme des Modells der Frame-Selektion besteht im Anschluss an Esser (2001) darin, dass die einzelnen Selektionen in zwei Modi erfolgen können, nämlich entweder in einem reflektiert-kalkulierenden Modus (rc-Modus) oder in einem automatisch-spontanen Modus (as-Modus). Diese Unterscheidung geht auf sozialpsychologische Dual-Process-Theorien zurück, die einen Modus der Verknüpfung von Einstellungen und Verhalten über einen Prozess der Intentionsbildung analog zur Theorie überlegten Verhaltens (Fishbein/Ajzen 1975) von einem Modus der unmittelbaren Verknüpfung von Einstellungen und Verhalten unterscheiden (Fazio 1990). Die Idee des Framings beschreibt, dass Akteure im Moment des Handelns eine Definition der Situation vor dem Hintergrund sozialer Strukturen und Prozesse vornehmen. Ein Frame wird als ein gedankliches Modell betrachtet, das die Definition der Situation steuert: Es sind kollektiv verbreitete, in den Gedächtnissen der Akteure verankerte kulturelle Muster, ‚kollektive Repräsentationen‘ typischer Situationen, und die ‚Werte‘ als generalisierbare kognitiv-emotionale Ordnungsschemata, die alles andere, die Zwecke und die Mittel, die Präferenzen und die Erwartungen, strukturieren. (Esser 2003, S. 159, Hervorh. im Orig.). Die Selektion eines Frames führt im nächsten Schritt zu einer Aktivierung von möglichen Handlungsabläufen oder Skripten im Sinne „ganze(r) Bündel von mental gespeicherten Handlungssequenzen“ (Esser 2003, S. 159). Der Begriff des Skripts wird kognitionspsychologischen Ansätzen entlehnt. Aus der Perspektive der Skripttheorie Abelsons (Abelson 1976; Schank/ Abelson 1977) ist das Wissen über alltägliche Handlungsvollzüge in Form von Skripten kognitiv organisiert und verfügbar. Auch die Handlungs-Selektion wird im Anschluss an die Skript-Selektion entweder in einem as-Modus oder in einem rc-Modus vorgenommen. Die Handlungs-Selektion im as-Modus hängt von dem Ausmaß ab, in dem ein Skript das Handeln regelt, das mit der Aktivierung eines Skripts innerhalb eines Frames multiplikativ verknüpft ist. Die Handlungs-Selektion im rc-Modus wird mit der SEU-Theorie modelliert (vgl. Kroneberg 2007, S. 219).14 Eine Reihe von Beiträgen zur Frame-Selektions-Theorie bzw. zum Modell der Frame-Selektion widmen sich auf der Integration des wertrationalen Idealtyps (Esser 2003; Greve 2003; Kroneberg 2007; Stachura 2006). Diese sind für die Analyse des Zusammenwirkens zwischen Moralvorstellungen und Kosten-Nutzen-Erwägungen im Kontext von Entscheidungen für kriminelles Handeln relevant. Während es bereits Analysen hinsichtlich dieses Zusammenwirkens im Kontext der SEU-Theorie gibt (vgl. Abschnitt 3), kann mit dem Modell der Frame-Selektion zusätzlich erklärt werden, unter welchen situativen Rahmenbedingungen Werte und Moralvorstellungen im Sinne von allgemeinen Orientierungen des Handelns für die Wahrnehmung dieser Rahmenbedingungen als Opportunitäten relevant werden. Entsprechende empirische Analysen stehen allerdings noch aus. 14 Eine formale Darstellung des Modells der Frame-Selektion kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht geleistet werden. Hierfür sei auf Kroneberg (2011, Kapitel 5) verwiesen.

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Handlungstheoretische Ansätze zur Erklärung von Kriminalität (iii) Die von Per-Olof Wikström vorgelegte Situational Action Theory (SAT; Wikström 2004, 2010; Wikström et al. 2012; Wikström/Treiber 2016) erhebt ebenfalls den Anspruch, eine allgemeingültige Theorie über jene kausalen Mechanismen zu repräsentieren, die in kriminellem Handeln (genereller: acts of moral rule-breaking) resultieren. Im Kern versteht die SAT kriminelle Handlungen als Ergebnis eines situativen ,Perception-Choice Prozesses‘, der über das spezifische Zusammenspiel individueller (Moralität und Selbstkontrolle) und kontextueller Faktoren (Moralität und Abschreckungsqualität des Settings) gesteuert wird. Eine detaillierte Vorstellung der Theorie ist im Kapitel von Wikström und Schepers in diesem Handbuch zu finden. Für eine umfassende Zusammenschau zur empirischen Evidenz der zentralen SAT-Annahmen sei auf Pauwels et al. (im Erscheinen) verwiesen.

5. Fazit

Im vorliegenden Beitrag konnte gezeigt werden, dass die Kriminalsoziologie über ein Set an ausgebildeten handlungstheoretischen Ansätzen verfügt, die eine Mikrofundierung der Erklärung von Kriminalität in modernen Gegenwartsgesellschaften im Rahmen des Makro-MikroMakro-Modells soziologischer Erklärungen erlaubt. Allerdings gilt es abschließend auch, auf eine Reihe methodologischer Defizite hinzuweisen, die bislang nicht die notwendige Aufmerksamkeit erfahren haben. (i) Eine im Sinne der Grundprinzipien der analytischen Soziologie vollständige Erklärung des sozialen Phänomens der Kriminalität wurde noch nicht vorgelegt, da bislang nur wenige Ansätze explizit Verbindungen zwischen situational mechanisms und action-formation mechanisms hergestellt haben. Das Potenzial von Ansätzen, die – wie das Modell der Frame-Selektion oder die Situational Action Theory (SAT, vgl. Wikström/Schepers in diesem Handbuch) – eine Ausarbeitung der situational mechanisms in Verbindung mit den action-formation-mechanisms vornehmen, ist bislang nicht ausgeschöpft. Erste systematische Ansätze zu einer bereichsspezifischen Ausarbeitung, die sicherlich noch fortgeführt werden können und müssen, finden sich bei Eifler (2008, 2009). Allerdings stehen Mikrofundierungen von Theorien, die bislang auf makrosoziologischer Ebene und damit auf der Ebene kollektiver Sachverhalte argumentieren – wie etwa die institutionelle Anomietheorie (IAT; z. B. Messner/Rosenfeld 1996, 2007, 2009) – bislang weitgehend aus. In diesem Zusammenhang wäre auch zu erörtern, ob im Rahmen der Kriminalsoziologie einer starken oder einer schwachen Version des methodologischen Individualismus der Vorzug zu geben ist (Udéhn 2002). Während die starke Version auf der Annahme beruht, dass alle sozialen Phänomene vollständig auf das Handeln individueller Akteure zurückgeführt werden sollen, beruht die schwache Version auf der Annahme, dass auch soziale Strukturen in die Erklärung einbezogen werden sollen. (ii) Auch ist es erforderlich, im Rahmen der methodischen Übersetzung von Theorien auf die Ebene empirischer Analysen, gezielt Techniken zu entwickeln, die die Modellierung der sozialen Situation der handelnden Akteure erlauben, etwa im Rahmen von Feldexperimenten oder im Rahmen von faktoriellen Surveys. In beiden Bereichen besteht mit Blick auf kriminalsoziologische Fragestellungen Entwicklungsbedarf (Eifler/Petzold 2014; Keuschnigg/Wolbring 2014; Wallander 2009).

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Stefanie Eifler & Heinz Leitgöb (iii) Diese Kritik betrifft ebenso mögliche Verbindungen zwischen action-formation-mechanisms und transformational mechanisms. Bislang wurden im Hinblick auf die Aggregation des sozialen Phänomens der Kriminalität aus kriminellen Handlungen individueller Akteure keine expliziten theoretischen Modelle entworfen. (iv) Schließlich sind empirische Prüfungen der bestehenden handlungstheoretischen Ansätze im Bereich der Kriminalsoziologie stark der Suche nach effects of causes (Holland 1986) verhaftet. Gefragt wird also nicht, welche Bedingungen – oder besser: Mechanismen – für bestimmte Veränderungen einer abhängigen Variablen verantwortlich sind (causes of effects), sondern welche Einflüsse bestimmte Merkmale auf eine interessierende abhängige Variable haben (effects of causes) (Pearl 2014; Smith 2014). Wie Heckman (2005, S. 2) allerdings zu Recht anmerkt, ist „science […] all about constructing models of the causes of effects“, d. h. die Erklärungsaufgabe wird im Einklang mit den Grundprinzipien der analytischen Soziologie in der Aufdeckung kausaler Mechanismen gesehen.

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39 Die voluntaristische Kriminalitätstheorie Dieter Hermann

1. Einleitung

Der Ausgangspunkt für die Entwicklung zahlreicher Kriminalitätstheorien waren Phänomene, die in den Konzeptionsphasen der Theorien gesellschaftlich relevant waren. Viele Theorien entstanden in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten. Damals war die gesellschaftliche Situation geprägt von deutlichen Schichtunterschieden, ethnischen Konflikten und räumlicher Segregation (Adler et al. 2006). Diese Situation führte zu Theorien, die Delinquenz durch schichtspezifische Unterschiede und soziokulturelle Diskrepanzen erklärten, so die Anomietheorie von Merton sowie die subkulturtheoretischen und sozialökologischen Ansätze der Chicago-Schule (Merton 1995a und 1995b; Miller 1979; Sellin 1938). Die gesellschaftliche Situation hat sich verändert. Aufgrund der komplexen Verflechtung der Individuen in verschiedene Teilbereiche der Gesellschaft wird sie als entstrukturiert und individualisiert beschrieben, als eine Gesellschaft, in der die vertikale Differenzierung von untergeordneter Bedeutung ist und die Relevanz des Subkulturkonzepts zur Beschreibung von Gesellschaften infrage gestellt wird (Beck 1983 und 1986; Berger 1986; Esser 1991 und Vaskovics 1989). Dadurch ist das empirische Fundament dieser Ansätze fraglich geworden. So zeigen sich kaum noch Zusammenhänge zwischen Schichtzugehörigkeit und kriminellem Handeln (Tittle et al. 1978; Albrecht/Howe 1992). Das empirische Phänomen existiert nicht mehr, die darauf aufbauenden Kriminalitätstheorien sind geblieben. Ein weiteres Problem nahezu aller Kriminalitätstheorien ist die Beschränkung auf eine einzige Untersuchungsebene, entweder auf die Erklärung delinquenten Handelns von Individuen oder auf die Erklärung von Kriminalitätsraten. Beispielsweise ist die Anomietheorie von Durkheim (1992 und 1995) auf die Makroebene fokussiert, die Anomietheorie von Opp (1974) auf die Mikroebene. Im ersten Fall wird die Häufigkeit des Auftretens bestimmter Verhaltensmuster in geographischen oder sozialen Einheiten erklärt, im zweiten Fall sind die Untersuchungen auf individuelles Verhalten konzentriert. Kriminalitätstheorien, die mehrere Ebenen berücksichtigen, sind eine Ausnahme. Eine weitere Begrenzung der Reichweite von Kriminalitätstheorien ist der berücksichtigte zeitliche Aspekt. Manche Theorien sind auf die Erklärung von Auftreten, Häufigkeit und Schwere kriminellen Handelns oder justizieller Sanktionierungen beschränkt, während sich andere auf die zeitliche Veränderung von kriminellen Aktivitäten sowie Kriminalisierungen konzentrieren und Karriereverläufe untersuchen. Kriminalitätstheorien, die statische und dynamische Aspekte berücksichtigen, sind selten. Vor diesem Hintergrund ist die Entwicklung von „allgemeinen Kriminalitätstheorien“ plausibel, so beispielsweise die „General Theory of Crime“ (Gottfredson/Hirschi 1990), die „Situa-

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Dieter Hermann tional Action Theory“ (Wikström/Schepers 2017) und die „Voluntaristische Kriminalitätstheorie“ (Hermann 2003 und 2013). Allerdings wird der Generalitätsbegriff unterschiedlich verstanden (Thome 2011). In der voluntaristischen Kriminalitätstheorie ist damit gemeint, dass das Kernmodell, wenn auch in modifizierter Form, auf alle Formen von Kriminalität anwendbar ist, dass die Theorie die Mikro- und Makroebene berücksichtigt und kriminelle Handlungen sowie Verläufe und Karrieren erklärt.

2. Grundlagen der voluntaristischen Kriminalitätstheorie

Die voluntaristische Kriminalitätstheorie steht in der Tradition der idealistischen Philosophie von Immanuel Kant und der soziologischen Handlungs- und Gesellschaftstheorien von Max Weber und Talcott Parsons. Diese Grundlagen formulieren die „Grand Theory“ (Mills 2000, S. 25 ff.), aus der deduktiv empirisch überprüfbare Hypothesen abgeleitet werden, die insbesondere kriminelles Handeln, den Verlauf krimineller Karrieren, Unterschiede in Kriminalitätsraten und deren Wandel erklären sollen. Die zentrale Grundlage der Kriminalitätstheorie ist die Handlungstheorie von Parsons (1967 und 1972). Diese kann als Erweiterung der Handlungstheorie von Weber gesehen werden, und dieser stützt sich auf Kant. Somit fließen die Annahmen über das Menschenbild von Kant in die Konzeption der voluntaristischen Kriminalitätstheorie ein. Es wird postuliert, dass (1) der Mensch an sich vernünftig ist, aber nicht immer vernünftig handelt, (2) das Bewusstsein einen Einfluss auf das Sein hat und (3) der Mensch einen (bedingt) freien Willen hat. Mit dem letztgenannten Punkt ist gemeint, dass der Mensch zwar wollen kann, was er will, aber sein Handlungsspielraum von Struktur und Situation begrenzt wird. Nach der Handlungstheorie von Parsons sind Normen und Werte zentrale Kategorien zur Erklärung menschlichen Handelns. Werte können als zentrale und abstrakte Zielvorstellungen und Lebensprinzipien definiert werden; Normen sind Verhaltensvorschriften und Verhaltenserwartungen. Der Mensch wird als produktiv-realitätsverarbeitendes Subjekt gesehen, das in eine komplexe Umwelt eingebunden ist (Hurrelmann 1983). Zur Reduzierung der Komplexität, zur Verarbeitung der Informationen und zur Auswahl von subjektiv Wichtigem werden seitens der Akteure Normen und Werte verwendet. Diese Filter beeinflussen das Ergebnis der Informationsverarbeitung sowie die Auswahl von Handlungszielen und von Mitteln zur Zielerreichung. Durch Werte können wichtige von unwichtigen Handlungszielen unterschieden und durch Normen können akzeptierte von nicht akzeptierten Handlungsmitteln abgegrenzt werden. Jede Handlung ist demnach das Ergebnis der Wahrnehmung der Situation sowie der Auswahl von Handlungszielen und Handlungsmitteln, und auf allen Ebenen sind Werte und Normen von Bedeutung. Für die Ableitung von makrosoziologischen Hypothesen der voluntaristischen Kriminalitätstheorie wird die Systemtheorie von Parsons genutzt. Demnach stehen Werte und Normverständnis von Individuen mit Umgebungssystemen wie Gesellschaft, Institutionen und PeerGroups in einem Interdependenzverhältnis. Die Wertevermittlung wird als Sozialisationsprozess gesehen, bei dem die Wertorientierungen wichtiger Bezugspersonen eine zentrale Rolle

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie spielen. Diese werden vom Akteur nicht einfach übernommen, sondern in Abhängigkeit vom Entwicklungsniveau reflektiert und an die Erfahrungswelt anpasst.

3. Hypothesen und Forschungsprogramm der voluntaristischen Kriminalitätstheorie Abbildung 1: Hypothesen der voluntaristischen Kriminalitätstheorie

Sanktionierung

Sanktionsrate

Kriminelles  Handeln

Kriminalitäts‐ rate

Akzeptanz  von Normen

Gesellschaftliche  Akzeptanz von  Normen

Individuelle  Werte

Gesellschaftliche  Werte

Strukturelle  Situation

Gesellschafts‐ struktur

Mikroebene:  Handelnder

Makroebene: Peer,  Subkultur, Gesellschaft

Der Kern der Theorie ist die Verknüpfung zwischen Werten und Delinquenz auf der Individualebene. Je ausgeprägter religiöse, traditionsbezogene, leistungsbezogene und idealistische Werte sind, desto höher ist die Akzeptanz von Rechtsnormen und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit kriminellen Handelns. Materialistische, hedonistische und subkulturelle Werte haben den gegenteiligen Effekt. Die Sanktionierung von Kriminalität kann – in Abhängigkeit von der praktischen Ausgestaltung – die Wertorientierungen des Sanktionierten und damit auch den Verlauf krimineller Karrieren beeinflussen. Trägt eine Sanktion zur Förderung religiöser, leistungsbezogener und idealistischer Werte bei, wird die Wahrscheinlichkeit krimineller Handlungen reduziert, fördert sie hingegen materialistische, hedonistische und subkulturelle Werte, bewirkt die Sanktion einen eigendynamischen Prozess, der zu einer Eskalation der Kriminalitätsentwicklung führt. Diese Hypothesen auf der Mikroebene können analog für die Makroebene formuliert werden, wobei die Interdependenz zwischen Werten und Normen auf

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Dieter Hermann der Mikro- und Makroebene eine Verbindung zwischen beiden Ebenen herstellt. In Abbildung 1 sind die Hypothesen der voluntaristischen Kriminalitätstheorie grafisch dargestellt. Das Forschungsprogramm der voluntaristischen Kriminalitätstheorie kann aber nicht auf eine Überprüfung der oben beschriebenen Hypothesen beschränkt werden. Hypothesen sind abstrakte Aussagen, die der Konkretisierung bedürfen, bevor sie getestet werden können. So ist es erforderlich, Fragen nach der Struktur des Werteraums zu beantworten – zudem Fragen nach der Entstehung von Werten, nach ihrer Konsistenz und Stabilität und den Bedingungen für eine Veränderung von Werten. Diese Themen sind mit den Hypothesen der voluntaristischen Kriminalitätstheorie inhaltlich verknüpft.

4. Empirische Studien zur voluntaristischen Kriminalitätstheorie 4.1 Werte und Kriminalität – Ergebnisse empirischer Untersuchungen Zu dem Forschungskomplex „Werte und Kriminalität“ wurden schon sehr früh empirische Untersuchungen durchgeführt, insbesondere zu den Fragen, ob die Beziehungen zwischen den genannten Merkmalen in verschiedenen Altersgruppen nachgewiesen werden können. Clark und Wenninger (1963) haben Schüler der Klassen 6 bis 12 befragt. Bivariate Analysen zum Zusammenhang zwischen Werten und Delinquenzbelastung erbrachten zum Teil sehr hohe Korrelationen. Die engsten Zusammenhänge mit einer niedrigen Kriminalitätsbelastung wurden mit folgenden Items erzielt: Fleißig sein, Zielstrebigkeit, Hilfsbereitschaft, Fähigkeit zur Vermeidung von Ärger und körperlichen Auseinandersetzungen sowie Vorsicht im Umgang mit fremdem Eigentum. Cernkovich (1978) hat männliche weiße Jugendliche untersucht. Das Ergebnis der Analyse war, dass mit zunehmender Bedeutung konventioneller Werte die Delinquenzbelastung sinkt, während die Orientierung an subkulturellen Werten den gegenteiligen Effekt hat. Einen Einfluss von traditionellen Wertorientierungen auf Delinquenz konnten Kerner, Stroezel und Wegel (2011) bei einer Untersuchung mit männlichen Inhaftierten im Jugendstrafvollzug und in einer Studie mit (Berufs‑)Schülern bestätigen. Zudem konnten sie einen delinquenzreduzierenden Effekt idealistischer Wertorientierungen nachweisen, während moderne materialistische Werte den gegenteiligen Effekt auf Delinquenz hatten. Hadjar, Baier und Boehnke (2008) haben anhand einer Panelerhebung von Schülern (Klasse 8 und 9) gezeigt, dass ein erfolgsorientierter Egoismus einen delinquenzfördernden Effekt hat. Insbesondere die Verlaufsstudie „Kriminalität in der modernen Stadt“ (Crimoc) hat seit dem Jahr 2000 durch die jährlichen Befragungen von Schülerinnen und Schülern in Münster und Duisburg (beginnend mit der Jahrgangsstufe 7) zu einer Vielzahl von Publikationen geführt, in denen die Beziehung zwischen Werten und Kriminalität behandelt wurde: Boers et al. (2010a und 2010b), Boers/Pöge (2003), Boers et al. (2002); Pöge (2007, 2016 und 2017); Seddig (2011, 2014a und 2014b); Walburg (2014). Das Ziel der Untersuchung war insbesondere, Verläufe von selbstberichteter Delinquenz über die Adoleszenz hinaus zu verfolgen und zu erklären. Die Analysen haben immer wieder das Ergebnis reproduziert, dass hedonistische Werte Delinquenz fördern, während traditionelle Wertorientierungen normkonformes Handeln be-

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie günstigen. Die Ergebnisse sind in dem Beitrag von Pöge und Seddig (2017) in diesem Sammelband differenzierter dargestellt.

4.2 Daten zu eigenen Studien Die Daten zu den hier berichteten Ergebnissen stammen aus mehreren Projekten: – Repräsentative Bevölkerungsbefragungen in Heidelberg und Freiburg aus dem Jahr 1998: Die Grundgesamtheit bildeten die Bewohnerinnen und Bewohner der Kommunen, sofern sie zwischen 14 und 70 Jahre alt waren. Aus diesem Personenkreis wurden zufällig Personen ausgewählt; davon haben etwa 3.000 an den Befragungen teilgenommen (Hermann 2003). – Replikation der oben beschriebenen Bevölkerungsbefragung im Jahr 2009, beschränkt auf Heidelberg: Auch die Replikationsstudie basierte auf einer Zufallsstichprobe. An der Erhebung haben etwa 1.600 Personen zwischen 14 und 70 Jahren teilgenommen (Hermann 2009). – Totalerhebung der Schülerinnen und Schüler der Klassen fünf bis neun aller Heidelberger Haupt- und Förderschulen in den Jahren 2002, 2003 und 2004: Diese drei Wellen umfassten die Angaben von mehr als 3.400 Befragten. Die Daten der Untersuchung stammten aus dem Projekt „Schulsozialarbeit“, das von der Heidelberger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kooperation mit dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg durchgeführt wurde (Hermann et al. 2010). – Befragung von Schülerinnen und Schüler der Klassen 5 und 7 der Hauptschulen, Realschulen, Förderschulen und einer Gesamtschule in Heidelberg. Zudem wurde ein Elternteil in die Befragung einbezogen. Die Erhebungen zur ersten Welle erstreckten sich von Februar bis Juni 2010 und umfassten 339 Fälle. Die Daten der Untersuchung stammen aus dem Projekt „Weichensteller“, das von der Heidelberger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Kooperation mit dem Institut für Kriminologie der Universität Heidelberg durchgeführt wurde (Hermann et al. 2012). – Repräsentative Panelbefragung von Kindern und einem Elternteil in Deutschland: Die Grundgesamtheit bildeten die Kinder in Deutschland, die bei der Erstbefragung acht und neun Jahre alt waren. Die Erhebung diente insbesondere einer Evaluation der Erstkommunionkatechese; die Daten können jedoch auch für andere Fragestellungen genutzt werden. Die Stichprobe der Befragten wurde durch eine zweistufige Zufallsauswahl festgelegt. Auf der ersten Stufe wurden zufällig 81 Gemeinden in Deutschland ausgewählt (Gewichtung nach Einwohnerzahl), auf der zweiten Stufe wurden dann von den zuvor gewählten Gemeinden Adressen der Zielgruppe angefordert und daraus jeweils Zufallsstichproben gezogen. Dieses Verfahren führte zu 11.824 Adressen von Kindern und ihren Eltern. Diese erhielten Fragebögen zugesandt, wobei für jede Familie die Identifikationsnummern der Kinder- und Elternfragebögen übereinstimmten, um eine Zuordnung zu gewährleisten. Die Eltern wurden gebeten, dass der Elternteil den Fragebogen ausfüllen soll, der im Wesentlichen für die religiöse Erziehung zuständig ist. An der ersten Befragung (Frühsommer 2010) haben 2.529 Kinder und Eltern teilgenommen; davon waren 1.877 zu weiteren Befragungen bereit. Die erste Befragung diente in erster Linie der Erfassung der Bereitschaft, mehrfach an der Befragung teilzunehmen. An der ersten inhaltlich umfassenderen Befragung im Spätsommer 2010 (Welle 2) haben sich 1.383 Kinder und jeweils ein Elternteil beteiligt. An der dritten Welle

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Dieter Hermann im Frühsommer 2011 waren es 1.111, an Welle 4 (Sommer 2012) 1.022, an Welle 5 (Spätherbst 2013) 603 und an Welle 6 im Spätherbst 2014 noch 518 Personenpaare (Forschungsgruppe Religion und Gesellschaft 2015, S. 79-84). – Panelbefragung aller Inhaftierten der JVA Adelsheim mit sechs Wellen: Die Erhebung wurde zwischen März 2003 und April 2005 durchgeführt und umfasste insgesamt 1.700 Befragungen (Hermann/Fiedler 2012).

4.3 Die Operationalisierung von Werten und die Struktur des Werteraums Die Messung von Wertorientierungen erfolgte in den oben aufgeführten Bevölkerungsbefragungen mithilfe der Skala „Individuelle reflexive Werte“ (Hermann 2004). Sie besteht aus einer Itemliste, die erstrebenswerte Dinge und Lebenseinstellungen für das Individuum aufzählt, wobei deren Wichtigkeit anhand einer Ratingskala angegeben werden soll. Das Instrument basiert auf Arbeiten von Klages (1992) sowie Klages und Gensicke (1993), wobei die von Klages entwickelten Fragen um kriminologisch relevante Aspekte ergänzt wurden. Der Fragentext lautet: „Jeder Mensch hat ja bestimmte Vorstellungen, die sein Leben und Denken bestimmen. Für uns sind Ihre Vorstellungen wichtig. Wenn Sie einmal daran denken, was Sie in Ihrem Leben eigentlich anstreben: Wie wichtig sind Ihnen dann die Dinge und Lebenseinstellungen, die wir hier aufgeschrieben haben?“. Die Itemliste besteht aus 34 Statements wie beispielsweise „Gesetz und Ordnung respektieren“, „Sozial benachteiligten Gruppen helfen“, „An Gott glauben“, „Die guten Dinge des Lebens genießen“, „Am Althergebrachten festhalten“ und „Hart und zäh sein“. Dieses Instrument wurde in Befragungen von Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen eingesetzt. Für Erhebungen bei Kindern wurde die Fragestellung vereinfacht: „Jeder Mensch hat etwas, das für ihn besonders wichtig ist. Wie wichtig sind für Dich die Dinge, die wir hier aufgeschrieben haben?“. Die Itemliste wurde reduziert und vereinfacht: „Mich an die Regeln der Schule zu halten“, „Anderen Menschen zu helfen“, „An Gott zu glauben“ und „So zu leben, wie Gott es will“. Die Items der Skala „Individuelle reflexive Werte“ können mit den Daten der Bevölkerungsbefragungen in Heidelberg und Freiburg aus dem Jahr 1998 durch eine Faktorenanalyse (mit schiefwinkliger Rotation) in neun empirisch unterscheidbare Dimensionen aufgeteilt werden. Diese neun Wertedimensionen können wiederum mittels einer Faktorenanalyse (mit orthogonaler Rotation) drei übergeordneten Dimensionen zugeordnet werden. Diese können als traditionelle Werte, als moderne idealistische Werte und als moderne materialistische Werte bezeichnet werden. Die Dimension mit den traditionellen Werten umfasst die Orientierung an Leistung, Religion und sozialen Normen, sowie eine konservative Orientierung; moderne idealistische Werte beinhalten sozialintegrative, politisch tolerante, ökologisch-alternative und altruistische Orientierungen und in modernen materialistischen Werten sind subkulturelle und hedonistische Präferenzen subsummiert (Hermann 2003, S. 192 f.). Das Problem einer faktorenanalytischen Konstruktion einer Skala ist, dass nicht unterschieden werden kann, ob zwei hoch korrelierte Items Indikatoren einer Dimension sind oder ob sie in einer Kausalbeziehung stehen. Rokeach (1973) hat versucht, dieses Problem durch die Annahme einer hierarchischen Struktur des Werteraums, nämlich der Unterscheidung zwischen terminalen und instrumentellen Werten, zu lösen, wobei die erstgenannten Werte als Basiswerte betrachtet werden können. Für die Wahl von religiösen Werten als Basiswerte oder Werte erster

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie Ordnung sprechen fünf Argumente: (1) Nach Max Weber (2006) sind religiöse Werte eine Rahmenbedingung für die Ausbildung anderer Werte wie Leistungsorientierung, (2) religiöse Werte betreffen aufgrund der kanonischen Texte von Religionen andere Wertebereiche wie Egoismus, Altruismus, Hedonismus, Toleranz, Menschenwürde und Erhaltung der Schöpfung, (3) lediglich religiöse Werte berücksichtigen transzendente Bereiche, sie sind somit umfassender als andere Werte, (4) die postulierte Wertehierarchie ist empirisch abbildbar und (5) religiöse Werte haben eine Schlüsselstellung in der Wertesozialisation (Hermann 2013). Greift man die Idee des hierarchischen Werteraums auf und definiert religiöse Werte als Werte erster Ordnung und alle anderen Wertebereiche als Werte zweiter Ordnung, führt eine faktorenanalytische Differenzierung des letztgenannten Wertebereichs zu acht Dimensionen, die in einer weiteren Analyse zu drei übergeordneten Dimension zusammengefasst werden können: Nomozentrierte-konservative Leistungsorientierung, idealistische Werte und hedonistisch-materialistische Werte. Die Struktur des gesamten Werteraums ist in Tabelle 1 dargestellt. Diese Struktur kann faktorenanalytisch sowohl mit den Daten der Bevölkerungsbefragungen aus Heidelberg und Freiburg aus dem Jahr 1998 und den Daten der Replikationsstudie für Heidelberg aus dem Jahr 2009 reproduziert werden (Hermann 2013). Tabelle 1: Struktur des Werteraums

Werte erster Ordnung

Items

Christlich religiöse Werte

Wichtigkeit des Glaubens an Gott Wichtigkeit der Ausrichtung des Lebens nach christlichen Normen und Werten

Werte zweiter Ordnung

Untergeordnete Wertedimension

Nomozentrierte-konservative Leistungsorientierung

– Normorientierte Leistungsethik – Konservative Orientierung

Idealistische Werte

– Sozialer Altruismus – Politisch tolerante Orientierung – Ökologische Orientierung – Sozialintegrative Orientierung

Hedonistisch-materialistische Werte

– Subkulturell-materialistische Orientierung – Hedonistische Orientierung

Mittels der oben genannten Daten kann die Hypothese von der hierarchischen Struktur des Werteraums überprüft werden. Ein Strukturgleichungsmodell mit christlich-religiösen Werten als Ursache für alle anderen Wertedimensionen führt ausschließlich zu signifikanten Effekten. Die standardisierten Pfadkoeffizienten betragen 0,58 für die Erklärung der nomozentrierten konservativen Leistungsorientierung, 0,22 für die Erklärung der idealistischen Werte und -0,09 für die Erklärung der hedonistisch-materialistischen Werte (Hermann 2013). Der Werteraum wird hier als hierarchisch strukturierter mehrdimensionaler Raum verstanden, wobei die Dimensionen nicht a priori festgelegt sind. Dieses Wertemodell wird in neueren Analysen verwendet. Ein anderes Konzept verfolgt Shalom Schwarz (2012). Dieser ordnet zehn explorativ gefundene Basiswerte sowie die zugrunde liegenden Motivationen nach Ähnlichkeiten.

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Dieter Hermann Dadurch können Werte mittels eines Kreises geordnet werden: Ähnliche Werte sind benachbart und konträre Werte werden gegenüberliegend verortet. Durch die Kreisstruktur ist der Werteraum a priori auf zwei Dimensionen beschränkt, die Schwarz durch die Endpunkte der Dimensionen beschreibt: „Openness to Change“ versus „Conservation“ und „Self-Enhancement“ versus „Self-Transcendence“ (vgl. dazu Pöge/Seddig, 2017 in diesem Band). Es ist möglich, die Items der Skala „Individuelle reflexive Werte“ den Items der Werteskala von Schwartz zuzuordnen und auch mit diesen eine Kreisstruktur der Werte zu generieren, sodass beide Wertekonzepte empirisch kompatibel sind (Bilsky/Hermann 2016).

4.4 Einfluss von Werten auf Kriminalität: Mikroebene Mit den Daten der Bevölkerungsbefragungen in Heidelberg und Freiburg aus dem Jahr 1998 konnten mithilfe von Strukturgleichungsanalysen die Beziehungen zwischen Werten, Normen und selbstberichteter Delinquenz geprüft werden. Bei dieser Analyse wurde auf das nichthierarchische Wertemodell zurückgegriffen. Das Ergebnis ist in Abbildung 2 grafisch dargestellt. Die Zahlenwerte auf den Pfeilen sind standardisierte Pfadkoeffizienten. Demnach sind Wertorientierungen von Strukturmerkmalen abhängig. Traditionelle Werte korrespondieren mit normkonformem Handeln, moderne materialistische Werte hingegen mit Delinquenz, wobei die Effekte über die Normakzeptanz vermittelt werden (Hermann 2003, S. 195). Abbildung 2: Strukturgleichungsmodell mit standardisierten Effektschätzungen zum Einfluss von individuell reflexiven Werten und Normen auf Delinquenz (Daten: Heidelberg/Freiburg 1998)

Alter

‐0,47

Moderne  materialistische  Werte

‐0,28

Normakzeptanz ‐0,91 Delinquenz

0,35

Schulbildung

‐0,34

Traditionelle  Werte

0,82 CFI = 0,93

Beschränkt man die Analyse auf Personen, die bereits delinquent gehandelt haben und ersetzt die abhängige Variable durch Fragen nach der Bereitschaft, delinquent zu handeln, kann das in Abbildung 2 beschriebene Strukturgleichungsmodell reproduziert werden: Der standardisierte Pfadkoeffizient von modernen materialistischen Werten auf Normakzeptanz beträgt -0,41, von traditionalen Werten auf Normakzeptanz 0,91 und von Normakzeptanz auf -0,89 (Hermann 2003, S. 268). Die Bereitschaft von Delinquenten, (erneut) delinquent zu handeln, ist ein Indikator für Rückfälligkeit. Somit ist das Modell geeignet, sowohl selbstberichtete Delinquenz als auch Rückfallbereitschaft zu erklären. Mit den Daten der Heidelberger Replikationsstudie aus dem Jahr 2009 kann das Modell zur Erklärung der Normakzeptanz reproduziert werden – die Fragen zur selbstberichteten Delinquenz wurden in dieser Studie nicht berücksichtigt (Hermann 2013). Auch Woll (2011) hat in einer Replikationsstudie zur voluntaristischen Kriminalitätstheorie die Kernhypothesen replizieren können. Die Analyse basiert auf einer Panelerhebung von Berufsschülern. Die Ergebnisse: Traditionelle Wertorientierungen korrespondieren mit normkonformem Handeln, moderne materialistische Werte hingegen mit Delinquenz.

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie Auch in der oben beschriebenen Panelbefragung von Schülerinnen und Schülern der Klassen fünf bis neun aus Haupt- und Förderschulen Heidelbergs (Projekt Schulsozialarbeit) konnte ein deutlicher Einfluss der idealistischen Normorientierung auf Gewaltdelinquenz belegt werden (Hermann et al. 2010). Bei der Weiterführung dieses Projekts unter dem Namen „Weichensteller“ wurden die relevanten Variablen wieder erhoben – dieses Mal nicht nur für Kinder, sondern auch für ihre Eltern. Die Replikation bestätigt den Einfluss der genannten Wertorientierungen auf Delinquenz. Die Ergebnisse: Je wichtiger religiöse Erziehungsziele für die Eltern sind, desto wichtiger sind religiöse Werte für das Kind. Diese beeinflussen die idealistische Normorientierung. Je wichtiger dieses Merkmal ist, desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns. Die Daten der Panelbefragung von Kindern und Eltern durch die Forschungsgruppe Religion und Gesellschaft (2015) erlauben eine weitere Replikationsstudie, allerdings beschränkt auf die Erklärung von Gewaltbereitschaft. Durch die Mehrfachbefragung kann die Analyse mit zeitlich unterschiedlichen Messungen von unabhängigen, intervenierenden und abhängigen Variablen durchgeführt werden, sodass die postulierte Kausalbeziehung in der Modellstruktur berücksichtigt werden kann. Die Messung der Gewaltbereitschaft erfolgte in der letzten Welle durch die Berücksichtigung von sechs Indikatoren am differenziertesten. Das Ergebnis eines Strukturgleichungsmodells mit Messungen der Wertorientierungen in Welle 4 (t1), der Normakzeptanz in Welle 5 (t2) und Gewaltbereitschaft in Welle 6 (t) führt zu dem in Abbildung 3 dargestellten Ergebnis. Es zeigt sich, dass die Relevanz christlich-religiöser Werte die idealistische Normorientierung und diese sowohl direkt als auch indirekt über die Normakzeptanz die Gewaltbereitschaft beeinflusst – diese Kausalkette findet man sowohl bei Kindern als auch bei Eltern. Alle beschriebenen Effekte sind theoriekonsistent und signifikant. Die Vorzeichen der Effektschätzungen ändern sich nicht, wenn die gesamte Zeitspanne der Befragungen genutzt wird und Messungen der Wertorientierungen in den Wellen eins und zwei, die Erhebung der Normakzeptanz in den Wellen drei bis fünf und Gewaltbereitschaft aus Welle 6 verwendet wird – auch diese Effektschätzungen sind signifikant. Die Ergebnisse sprechen für die Stabilität des Modells. Abbildung 3: Strukturgleichungsmodell mit standardisierten Effektschätzungen zum Einfluss von Werten und Normen auf Delinquenz (Daten: Deutschlandweite Panelbefragung von Kindern und einem Elternteil)

0,28 / 0,23

Christlich‐religiöse  Werte (t1)

0,40 / 0,31*

Idealistische  Normorientierung(t1) 

Norm‐ akzeptanz (t2)

‐0,22 / ‐0,17

*) Erstgenannte Effektschätzung: Kinder; zweiter Zahlenwert: Eltern

‐0,28 / ‐0,18

Gewaltbereitschaft (t3) CFI (Kinder) = 0,96 CFI (Eltern) = 0,97

Die vorgestellten Analysen nutzen ein Konzept, das von einem hierarchischen mehrdimensionalen Werteraum ausgeht. Mittels der Daten der Heidelberger und Freiburger Befragung ist die Analyse mit einem alternativen Wertekonzept möglich. Ordnet man die Items der Skala „Individuelle reflexive Werte“ den Items der Werteskala von Schwartz (2012) zu, konstruiert mit diesen Items die Basiswerte und korreliert diese mit selbstberichteter Delinquenz, hat Konformität die betragsmäßig größte negative Korrelation, während die Assoziationen mit Hedonismus und Stimulation die größten positiven Korrelationen ergeben (Bilsky/Hermann 2016).

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Dieter Hermann Diese Merkmale sind die zentralen Basiswerte für eine Wertedimension, die Schwartz mit den Endpunkten „Openness to Change“ und „Conservation“ beschreibt. Operationalisiert man Werte mit allen Indikatoren dieser Wertedimension, führt ein Strukturgleichungsmodell mit demographischen Merkmalen, Werten, Normakzeptanz und selbstberichteter Delinquenz zu dem in Abbildung 4 dargestellten Ergebnis. Je höher das Alter ist, desto größer ist die Ablehnung von Werten, die für Wandel stehen. Der Wert „Conservation“ korrespondiert positiv mit hohem Alter: „Openness to Change“ ist ein kriminogener Wert, während „Conservation“ den gegenteiligen Effekt hat. Der Einfluss setzt sich aus einem direkten und indirektem Effekt über die Normakzeptanz zusammen. Durch die Analysen werden die Hypothesen der voluntaristischen Kriminalitätstheorie zum Einfluss von Werten auf Normen und Delinquenz nicht falsifiziert. Abbildung 4: Alternatives Strukturgleichungsmodell mit standardisierten Effektschätzungen zum Einfluss von Werten und Normen auf Delinquenz (Daten: Heidelberg/Freiburg 1998) 0.13 ‐0.39

Alter

Schulbildung

0.57 ‐0.17

Werte:  Conservation  vs. Openness  to Change

0.34

Norm‐ akzeptanz

‐0.13

‐0.48

Delinquenz

CFI = 0,65

Die vorgestellten Analysen zum Einfluss von Wertorientierungen auf Delinquenz sprechen für eine Replizierbarkeit der Ergebnisse: Sowohl bei Kindern als auch bei älteren Personen ist ein starker Einfluss von Wertorientierungen auf Delinquenz und Delinquenzbereitschaft erkennbar, wobei insbesondere religiöse, traditionelle und idealistische Werte einen kriminoresistenten und hedonistisch-materialistische Werte einen kriminogenen Effekt haben. Mit diesem Modell kann auch die Rückfallbereitschaft erklärt werden.

4.5 Einfluss von Werten auf Kriminalität: Makroebene Zur Beziehung zwischen gesellschaftlichen Werten und Delinquenzraten liegen nur wenige Analysen vor. Mittels der Daten einer mehrfach durchgeführten Befragung von High-SchoolAbsolventen in den USA ist es möglich, die Beziehung zwischen den beiden Merkmalen zumindest näherungsweise zu bestimmen. Es handelt sich zwar bei den Befragungen (Monitoring the Future) um Individualdaten zu Werten und selbstberichteter Delinquenz, die Fallzahl ist mit etwa 3.000 Fällen pro Welle jedoch ausreichend, um durch eine Aggregation zuverlässige Schätzwerte für die Makroebene zu erhalten. Die Analysen zeigen, dass mit zunehmender Wichtigkeit traditionell-familialer Werte das Niveau der Gewaltdelinquenz sinkt, während subkulturelle risikoorientierte Werte den gegenteiligen Effekt haben (Hermann 2003, S. 292–300). Einen weiteren Hinweis auf die Beziehung zwischen gesellschaftlichen Werten und Kriminalitätsraten findet man mittels einer Analyse der Daten des European Social Survey und European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics (2003). Im European Social Survey wird eine gekürzte Version der Werteskala von Schwartz eingesetzt, und die andere genannte

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie Datenquelle liefert Informationen zu Häufigkeitszahlen, das ist die Anzahl polizeilich registrierter Fälle pro 100.000 Einwohner. Die Abbildung 5 zeigt die Assoziation zwischen den länderspezifischen Durchschnittswerten für die Orientierung an traditionellen Werten und der Häufigkeitszahl. Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2003. Der Korrelationskoeffizient zwischen beiden Merkmalen beträgt r= –0,71 und ist signifikant. Das Ergebnis ist theoriekonsistent: Je größer die Akzeptanz traditioneller Werte in einer Gesellschaft ist, desto niedriger ist die Delinquenzrate.

Häufigkeitszahl (Straftaten pro 100.000)

Abbildung 5: Assoziation zwischen der länderspezifischen Wichtigkeit traditioneller Werte und Häufigkeitszahlen

Ablehnung

Traditionelle Werte

Akzeptanz

4.6 Intergenerationale Transmission von Werten Die Untersuchung der Mechanismen der intergenerationalen Transmission von Werten setzt eine Antwort auf die Frage voraus, ab welchem Alter Menschen Werte haben. Ronald Inglehart (1977) vertritt die Ansicht, dass Werte erst in der Adoleszenz ausgebildet werden und danach ein Leben lang stabil bleiben. In Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen eine Person in der Adoleszenzphase aufwächst, bilden sich solche Werte aus, die mit knappen Gütern assoziiert sind. Lebt jemand in einer Überflussgesellschaft, werden postmaterialistische Werte dominieren, während eine Mangelgesellschaft die Ausbildung materialistischer Werte fördert. Diese Hypothese unterstellt, dass vor der Adoleszenzphase Werte entweder gar nicht oder nur rudimentär vorhanden sind. Hurrelmann und Bründel (2003, S. 76) hingegen postulieren, dass die Entwicklung von Werten und Moralvorstellungen Entwicklungsaufgaben der späten Kindheit sind und die Werteentwicklung etwa im Alter von 8 bis 11 Jahren erfolgt. Empirische Studien mit der Werteskala von Schwartz zeigen, dass diese Altersschätzung nicht zu hoch gegriffen ist: Bereits Kinder zwischen 8 und 12 Jahren können zwischen verschiedenen Wertebereichen differenzieren (Döring et al. 2010). Bubeck/Bilsky (2004) konnten bei einer Studie mit über 1.500 Kindern und Jugendlichen zeigen, dass bereits zehn bis zwölf Jahre alte Kinder sinnvoll über Wertepräferenzen Auskunft geben können. Die Wer-

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Dieter Hermann testruktur von Kindern dieser Altersgruppe ist nahezu genauso differenziert wie bei Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren. Mit den Daten der Panelbefragung von Kindern und einem Elternteil in Deutschland kann dies bestätigt werden. Faktorenanalysen der Kinder- und Elterndaten führen zu identischen Strukturen der Werteitems. In beiden Fällen können zwei Wertedimensionen unterschieden werden, nämlich die christlich-religiöse Orientierung und die idealistische Normorientierung. Zudem ist die interne Konsistenz der Skalen mit Eltern- bzw. Kinderwerten, gemessen als Cronbachs Alpha, nahezu identisch (Hermann 2013). Die Wertestrukturen von Kindern und Eltern sind folglich ähnlich. Insgesamt gesehen sprechen die aufgeführten Studienergebnisse für eine frühe Ausbildung von Werten bereits im Grundschulalter. Somit ist die Frage nach den Mechanismen der intergenerationalen Transmission von Werten für diese Altersgruppe sinnvoll. Zu der Thematik liegen bereits einige Studien vor. Dickmeis fasst in ihrer Dissertation den Forschungsstand so zusammen, dass „empirische Studien jedoch nur bescheidene Zusammenhänge zwischen den Werthaltungen von Eltern und Kindern“ erbracht haben und resümiert, dass die Annahme von hohen Korrelationen zwischen den Werthaltungen von Eltern und Kindern kaum aufrechterhalten werden kann (Dickmeis 1997, S. 55). Das Problem vieler Studien liegt im gewählten Alter der Probanden. Meist werden Jugendliche untersucht, also Personen, die sich in einer Altersphase befinden, die durch eine Ablösung vom Elternhaus gekennzeichnet ist: Hoge, Petrillo und Smith (1982) untersuchten 16-jährige Personen, Dickmeis (1997) bezieht ihre Studie auf 14- bis 16-Jährige und Schönpflug (2001) auf Jugendliche und Heranwachsende zwischen 14 und 19 Jahren. In diesem Alter liegt die Phase der Wertebildung schon relativ weit zurück, sodass ein Einfluss von Dritten und eine Veränderung von Werten durch Selbstreflexion wahrscheinlich sind. In der Untersuchung von Boehnke und Welzel (2006, S. 353) wurden zumindest teilweise jüngere Probanden berücksichtigt, nämlich Personen zwischen 7 und 14 Jahren. In dieser Studie liegt die Korrelation zwischen Kinder- und Elternwerten zwischen 0,4 und 0,8. Allerdings ist die Fallzahl der Studie relativ klein – es wurden lediglich 121 Kinder und 43 Eltern berücksichtigt. Weitere Studien und Hypothesen zur intergenerationalen Transmission von Werten sind bei Pöge (2017, S. 105–106) aufgeführt. Mit den Daten der Panelbefragung durch die Forschungsgruppe Religion und Gesellschaft von anfänglich 8- bis 9-jährigen Kindern und einem Elternteil in Deutschland kann die Frage nach der intergenerationalen Transmission von Werten untersucht werden (Hermann/Treibel 2013). Die hier vorgestellte Analyse basiert auf einem Strukturgleichungsmodell, das den Transferprozess von Werten abbildet, wobei zwischen christlich-religiösen Werten und idealistischer Normorientierung unterschieden wird. Das Ergebnis der Analyse ist in Abbildung 6 dargestellt. Dabei wurden, um die maximale Zeitdifferenz zwischen den Werten der Eltern und Kinder zu nutzen, die Antworten der ersten und letzten Befragungswelle berücksichtigt. Die Pfadkoeffizienten sind standardisierte Effekte.

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie Abbildung 6: Intergenerationale Transmission von Werten (Daten: Deutschlandweite Befragung von Kindern und Eltern als Panelstudie)

Christlich‐religiöse  Werte Eltern  (t1)

0,65

Christlich‐religiöse  Werte Eltern  (t6)

0,43

Idealistische  Normorientierung  Eltern  (t1) 

0,46

‐0,05*

Idealistische  Normorientierung  Eltern  (t6) 

*) Nicht signifikant (p = 0,58)

CFI = 0,96

Bei der Vermittlung von Werten scheinen die christlich-religiösen Werte der Eltern eine zentrale Rolle zu spielen. Diese werden von ihren Kindern übernommen; für andere Wertebereiche trifft dies nur in eingeschränktem Umfang zu – zumindest ist der Einfluss der idealistischen Normorientierung der Eltern auf die entsprechende Wertorientierung bei Kindern nicht signifikant. Die intergenerationale Transmission von Werten erfolgt folglich wertespezifisch – dies erklärt die Unterschiede in den Studien zu dieser Thematik. Sowohl bei den befragten Eltern als auch bei den Kindern haben religiöse Werte einen signifikanten Einfluss auf die idealistische Normorientierung. Dies kann so interpretiert werden, dass bei der Ausbildung außerreligiöser Wertepräferenzen Kinder und Erwachsene insbesondere auf ihre eigenen religiösen Präferenzen zurückgreifen, sodass die Wertesozialisation nicht einfach als Transfer elterlicher Werte beschrieben werden kann, sondern als Prozess, bei dem auch die individuellen Weltbilder der Kinder bedeutsam sind. Dieses Ergebnis stützt die Annahme einer frühen Vermittlung religiöser Werte und damit das Postulat eines hierarchischen Werteraums, in dem religiöse Werte als Werte erster Ordnung und alle anderen Wertebereiche als Werte zweiter Ordnung bezeichnet werden.

4.7 Die Veränderung individueller Werte In Querschnittstudien findet man enge Zusammenhänge zwischen Alter und Wertepräferenzen. Beispielsweise nimmt die Wichtigkeit religiöser Werte mit dem Alter zu, während die Orientierung an hedonistisch-materialistischen Werten mit dem Alter abnimmt (Hermann 2003; Hermann 2009). Solche Analysen erlauben jedoch keine Unterscheidungen zwischen Lebenslaufund Kohorteneffekten. Es ist denkbar, dass die beschriebenen Zusammenhänge durch die Veränderung von Werten während der Lebenszeit oder durch kohortenspezifische Sozialisationsprozesse erklärt werden können. Eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen ist nur auf der Grundlage von Panelstudien möglich. Solche Untersuchungen liegen meist nur für kürzere Zeiträume vor.

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Dieter Hermann Eine umfassende Studie zur Veränderung von Werten stammt von Pöge (2017). Mittels der Paneldaten aus dem oben beschriebenen Forschungsprojekt „Kriminalität in der modernen Stadt“ (Crimoc) hat Pöge die Frage nach Stabilität und Wandel von Werten untersucht. Die Erhebungen erfolgten in Duisburg und umfassten in der ersten Welle Schülerinnen und Schüler, die damals im Durchschnitt 13 Jahre alt waren. Diese wurden im jährlichen Abstand siebenmal befragt. Die Analyse beschränkte sich auf die Befragten, die mindestens an vier der sieben Wellen teilgenommen hatten, das waren 2.957 Personen (Pöge 2017, S. 136). Berücksichtigt wurden drei Wertedimensionen: traditionell-konservative Werte, hedonistisch-materialistische Werte und öffentliches Engagement. Es zeigte sich, dass die Stabilität von Werten im Laufe der Jugendphase zunächst sehr deutlich zugenommen hat, jedoch gegen Ende der Jugendphase hat sie leicht abgenommen. Zudem scheint der Stabilitätsverlauf wertespezifisch geringfügig zu variieren: Die Stabilitätsentwicklung unterscheidet sich sowohl hinsichtlich des zeitlichen Einsetzens als auch in der Form des Ablaufs. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass markante Lebensereignisse wie ein Schulwechsel oder der Übergang von der Schul- in die Berufswelt sowohl die Stabilität als auch die Präferenz von Werten beeinflusst (Pöge 2017, S. 285–314). Mittels der Befragung von Kindern und ihren Eltern in Deutschland durch die Forschungsgruppe Religion und Gesellschaft kann die Werteentwicklung über einen Zeitraum von 4,5 Jahren verfolgt werden. In Abbildung 7 sind die Entwicklungen der Mittelwerte für die Werteitems dargestellt. Demnach sind die Werte bei Erwachsenen weitgehend unverändert, bei Kindern hingegen ist zu erkennen, dass mit zunehmender Annäherung an die Adoleszenz christlich-religiöse Werte und die idealistische Normorientierung an Bedeutung verlieren. Abbildung 7: Wertewandel bei Kindern und Eltern (Daten: Deutschlandweite Befragung von Kindern und Eltern als Panelstudie)

Skala Kinder: 1: ganz unwichtig, … 5: ganz wichtig Skala Eltern: 1: ganz unwichtig, … 7: ganz wichtig

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie Ein weiterer Datensatz, mit dem die Veränderung von Werten untersucht werden kann, ist die Panelbefragung aller Inhaftierten der JVA Adelsheim in sechs Wellen. Diese Daten ermöglichen Analysen zu der Frage, ob sich Wertpräferenzen währen der Haftzeit verändern. Zumindest ein Bereich der Prisonisierungsforschung – die Deprivationstheorie – geht davon aus, dass die Mängelzustände im Strafvollzug die Übernahme subkultureller Werte fördern. Nach Donald Clemmer (1958), Ervin Goffman (1986), Gresham M. Sykes und Sheldon L. Messinger (1960) entstehen Subkulturen im Strafvollzug aufgrund institutioneller, haftspezifischer Faktoren. Das Gefängnis wird als System gesehen, das seine Mitglieder mit Problemen wie dem Verlust an Freiheit, der Auflösung sozialer Bindungen und dem Wegfall heterosexueller Beziehungen konfrontiert. Diese Konfliktsituation führt für die Betroffenen zu einem Autonomieverlust und zu einer Reduzierung der Entfaltungsmöglichkeiten in sozialen Rollen (Sykes 1971, S. 70ff.; Harbordt 1972, S. 12f.). Eine Reaktion auf diese Probleme ist die Ausbildung von Subkulturen. Dort steht den Inhaftierten ein Repertoire an alternativen sozialen Rollen zur Verfügung, dort finden sie die Möglichkeit zur begrenzten Autonomie und Selbstentfaltung. Die Ausbildung einer Insassensubkultur kann demnach funktional als Mittel der Problemlösung und Reaktion auf institutionelle Deprivationen erklärt werden (Trotha 1983, S. 22). Demnach müsste sich während der Haftzeit insbesondere die Präferenz für subkulturelle Werte ändern. Für die empirische Überprüfung dieser Hypothese wurde bei der Befragung der Inhaftierten die Skala „Individuelle reflexive Werte“ eingesetzt. Für die Analyse des Wertewandels während der Haftzeit wurden clusteranalytisch Gruppen mit unterschiedlichen Werteprofilen bestimmt und die „Wanderungen“ zwischen den Clustergruppen während der Haftzeit untersucht. Dabei können sechs Personengruppen unterschieden werden. Die Gruppe der „Sozial Angepassten“ ist durch die subjektive Wichtigkeit idealistischer Ordnungswerte und christlich-religiöser Werte sowie durch die Ablehnung subkultureller Werte charakterisiert. Das konträre Werteprofil ist in der Gruppe der „Subkulturell Orientierten“ zu finden. Die anderen Clustergruppen sind für die vorliegende Fragestellung von untergeordneter Bedeutung. Die Wertegruppen haben einen unterschiedlichen Umfang, der sich mit der verbüßten Haftdauer verändert. Für die Analyse wurden drei Haftphasen unterschieden, nämlich das erste, zweite und letzte Drittel der zu verbüßenden Haftzeit, wobei bei der Einordnung in eine Haftphase der von den Inhaftierten erwartete Zeitpunkt der Haftentlassung entscheidend war und nicht die tatsächliche Haftdauer. Die Analyse zeigt, dass zu Haftbeginn die Gruppen der sozial Angepassten und subkulturell Orientierten gleich groß waren. Am Ende der Haft ist die erstgenannte Gruppe kleiner geworden, von 16 auf 13 Prozent, während die zweite Gruppe gewachsen ist, von 16 auf 21 Prozent. Die Subkulturgruppe im Jugendstrafvollzug übt einen Sogeffekt aus, während die Gruppe der „Sozial Angepassten“ an Attraktivität verliert. Der Wechsel von einer Wertegruppe in eine andere findet vor allem am Anfang der Haft statt. Beim Übergang von der ersten zur zweiten Haftphase bleiben 38 Prozent der Personen aus der Gruppe der „Sozial Angepassten“ in dieser Gruppe, beim Übergang von der zweiten zur dritten Haftphase sind es 69 Prozent. Für die Gruppe der „Subkulturell Orientierten“ liegen diese Werte bei 43 und 62 Prozent. Der Vollzug der Jugendstrafe führt somit zu einer Veränderung von Werten, insbesondere zu Haftbeginn. Diese Phase ist durch Instabilität gekennzeichnet, durch eine Erschütterung der Wertepräferenzen. Allerdings sind die Wanderungen zwischen den Wertegruppen keineswegs zufällig. So findet kein Wechsel von der Gruppe der subkulturell Orientierten in die Gruppe

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Dieter Hermann der sozial Angepassten und fast kein Wechsel von der Gruppe der sozial Angepassten in die Gruppe der subkulturell Orientierten statt (Hermann/Fiedler 2012). Die Ergebnisse lassen vermuten, dass markante und einschneidende Ereignisse im Leben eines Menschen eine Veränderung von Wertorientierungen verursachen können. Dazu zählen Haftstrafen, aber auch die Adoleszenz. Diese Altersphase wird mit Entwicklungsaufgaben in Verbindung gebracht, insbesondere der Identitätsfindung – und dabei sind das Infragestellen von Bezugspersonen und die Krise wichtige Instrumente (Oerter 2008, S. 260-264). Als Hypothese für die Erklärung der Veränderung individueller Werte bietet sich eine Übertragung des Ansatzes von Sampson und Laub (1995) an. Diese postulieren einen Einfluss von Turning Points auf die Veränderung des Verlaufs krimineller Karrieren. Diese Hypothese kann derart differenziert werden, dass Turning Points eine Werteveränderung bewirken und sich dies auf Delinquenz auswirkt: Einschneidende Ereignisse führen zu einem Wandel individueller Werte und dies beeinflusst als Folge davon die Wahrscheinlichkeit delinquenten Handelns.

5. Fazit

Die voluntaristische Kriminalitätstheorie wurde nicht problemorientiert konzipiert, sondern baut auf einer etablierten Handlungs- und Gesellschaftstheorie auf. Sie nutzt damit die Vorarbeiten intellektueller Koryphäen – und auf den Schultern von Riesen sieht man weiter (Merton 1980, S. 7). Das Forschungsprogramm der voluntaristischen Kriminalitätstheorie überschneidet sich mit mehreren Gebieten der Soziologie und ist deshalb vergleichsweise umfangreich. Die Ergebnisse der empirischen Studien können folgendermaßen zusammengefasst werden: – Die Konzeption eines mehrdimensionalen Werteraums mit hierarchischer Struktur ist sowohl bei Befragungen mit Erwachsenen als auch bei Befragungen mit Kindern anwendbar und führt zu stabilen und reproduzierbaren Ergebnissen. Dieses Modell ist dem Schwartzschen Konzept der Anordnung von Werten nach Ähnlichkeiten kompatibel. – Die Resultate einschlägiger empirischer Studien lassen eine intergenerationale Transmission religiöser Werte vermuten und eine selbstständige Ableitung weiterer Werte auf der Grundlage religiöser Werte. – Die Untersuchungen zum Einfluss von Wertorientierungen auf Delinquenz ergeben bei verschiedenen Alterspopulationen ähnliche Ergebnisse: Religiöse, idealistische und normorientierte Werte haben sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit delinquenten Verhaltens – dies spricht für die Universalität und Stabilität des Erklärungsmodells. – Wertepräferenzen können sich ändern, insbesondere durch einschneidende Ereignisse wie eine Inhaftierung oder die Adoleszenz. – Die Beziehungen zwischen Werten und Delinquenz lassen sich auf der Mikro- und Makroebene nachweisen. Insgesamt gesehen konnte durch keine der Studien die voluntaristische Kriminalitätstheorie falsifiziert werden. Die hohen Effektschätzungen und das große Erklärungspotenzial der Modelle lassen vermuten, dass das Forschungsprogramm der voluntaristischen Kriminalitätstheo-

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Die voluntaristische Kriminalitätstheorie rie ein erfolgreicher Weg für die Entwicklung einer umfassenden Kriminalitätstheorie sein könnte.

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59 Situational Action Theory Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers

1. Einleitung

Die Situational Action Theory (SAT) ist eine dynamische und mechanismenbasierte generelle Theorie kriminellen Handels und seiner Ursachen (u. a. Wikström 2004; 2005; 2006; 2010; 2011). Die SAT hat zur Zielsetzung, die Fragmentierung kriminologischen Wissens zu überwinden (vgl. Cullen et al. 2008; Wikström 2004; 2011), indem sie zentrale Erkenntnisse der kriminologischen Forschung (und generell der relevanten Sozialwissenschaften) im Rahmen der analytischen Kriminologie integriert. Die SAT argumentiert, dass kriminelle Handlungen als moralische Handlungen analysiert und erklärt werden sollten, also als Handlungen, die durch die Frage, was richtig und was falsch ist, geleitet sind. Aus dieser Annahme ist nicht ausgeschlossen, dass kriminelle Handlungen durch den „Charakter“ einer Person (ihrer persönlichen Moral und ihrer Fähigkeit zur Selbstkontrolle) und den „Umständen“, die Personen in ihrem täglichen Leben erleben (dem moralischen Kontext von Gelegenheiten und Versuchungen, denen sie widerstehen oder nachgeben), bestimmt ist. Aber im Rückschluss bleiben kriminelle Handlungen Verstöße gegen Verhaltensregeln; Verstöße gegen das, was unter bestimmten Gegebenheiten richtig oder falsch ist zu tun (oder nicht zu tun). Die Gründe kriminellen Handelns sind situativ.1 Personen äußern ihren Handlungscharakter als Reaktion auf die Bedingungen des Settings, an dem sie partizipieren. Daher muss für die Erklärung, warum kriminelles Handeln auftritt, letztlich die Rolle der Wechselwirkung zwischen dem „Charakter“ der Person und den „Umständen“ der Umgebung verstanden werden. Konkret kann man argumentieren, dass Personen kriminelle Handlungen begehen, weil sie es unter den gegebenen Umständen akzeptabel finden (und es keine relevante oder ausreichend starke Abschreckung gibt) oder weil sie nicht in Übereinstimmung mit ihrer eigenen persönlichen Moral handeln (d.h. keine Selbstkontrolle ausüben) unter Umständen, in denen sie externen Druck erfahren, entgegegen ihrer persönlichen Moral zu handeln. Die Argumentation, dass die Ursachen kriminellen Handelns situativ sind, impliziert nicht, dass kulturelle und strukturelle Faktoren sowie Entwicklungsprozesse in der Analyse kriminellen Handelns unwichtig bzw. zu vernachlässigen sind. Im Gegenteil, aber sie sollten als „Ursachen der Ursachen“ analysiert werden. Faktoren und Prozesse, die nicht direkt erklären, was Personen dazu bewegt, kriminelle Handlungen zu begehen, sondern helfen zu erklären, (i) warum bestimmte Interaktionen von Typen von Personen („Charaktere“) und Typen von Orten 1 Ein aktueller Beitrag zu der Diskussion findet sich bei Wikström/Treiber 2015.

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Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers („Umstände“) auftreten und eine kriminogene Situation schaffen, in denen kriminelle Handlungen passieren, (ii) warum Personen bestimmte und unterschiedliche Kriminalitätsneigungen entwickeln (basierend auf ihrer persönlichen Moral und ihrer Fähigkeit zur Selbstkontrolle) und warum Umgebungen spezifische und unterschiedliche kriminogene Anreize entwickeln (abhängig von dem moralischen Kontext von Gelegenheiten und Spannungen, die erfahrbar sind). Konkret wird argumentiert, dass Unterschiede in dem Ausmaß kriminellen Handelns von Prozessen sozialer Selektion und Selbstselektion abhängig sind, die dazu führen, dass einige Personen sich häufiger in kriminogenen Settings aufhalten als andere; und Prozessen der Genese, die dazu führen, dass einige Personen eine stärkere kriminogene Disposition ausbilden als andere (personale Genese) und einige Settings eine stärkere kriminogene Exposition aufweisen als andere (soziale Genese). Die Analyse von kriminellem Handeln als moralischem Handeln beinhaltet nicht notwendigerweise einen moralistischen Ansatz für das Studium von Kriminalität und seinen Ursachen. Die Annahme, dass menschliches Verhalten durch persönliche Moral und die Fähigkeit zur Selbstkontrolle sowie dem moralischen Kontext, in dem das Handeln stattfindet, geprägt ist, impliziert nicht gleichzeitig, dass zum Beispiel, alle existierenden Gesetze und vorherrschenden Normen (notwendigerweise) durch eine höhere moralische Ordnung repräsentiert sind. Die Frage, warum bestimmte Gesetze und Normvorstellungen existieren, ist gesondert von der Frage, ob das Handeln von Personen im Wesentlichen von ihrer persönlichen Moral und dem moralischen Kontext der Situation geleitet ist. Ein denkbarer Grund, warum eine Person es akzeptabel findet, ein gewisses Gesetz zu brechen, kann darin liegen, dass sie mit dem betreffenden Gesetz nicht übereinstimmt oder es sogar als unmoralisch betrachtet. Einige Gesetze sind moralisch strittiger als andere.

2. Grundannahmen zur Analyse von Kriminalität als regelgeleitete Handlung

Die Grundannahmen der Situational Action Theory sind, dass – Personen im Wesentlichen regelgeleitete Wesen2 sind und Gesellschaft (soziale Ordnung) auf (mehr oder weniger) geteilten Verhaltensregeln (moralischen Normen) basiert. Sich von den Regeln leiten zu lassen bedeutet innerhalb des Kontextes einer regelgeleiteten Handlungswahl, seine Bedürfnisse (Wünsche) auszudrücken und auf Spannungen zu reagieren. – Personen die Quelle ihrer Handlungen sind; sie erkennen, wählen und führen ihre Handlungen aus, aber – die Gründe ihrer Handlungen situativ sind; die individuelle Wahrnehmung von Handlungsalternativen, der Wahlprozess und die Ausführung der Handlungen werden durch die relevanten Reize aus der Person-Umwelt-Interaktion ausgelöst und geleitet.

2 Für eine Übersicht aus der kognitiven Neurowissenschaft, die unserem Verständis der Anwendung von Regeln in der Handlungswahl entspricht, siehe z.B. Bunge 2004 und Bunge & Wallis 2008.

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Situational Action Theory Durch die Analyse von menschlichem Handeln als regelgeleitete Handlungswahl in Reaktion auf Motivatoren (Versuchungen, Provokationen) wird das Risiko einer zu deterministischen Sicht auf menschliches Handeln vermieden. Regelgeleitet bedeutet insofern geleitet, als dass Personen entscheiden können, bestimmten Regel-Leitlinien zu folgen oder sie zu ignorieren. Die Regelleitung kann mehr oder weniger automatisiert sein und Elemente der Vorhersagbarkeit („Automatisierung“) und Überlegung („freier Wille“) in der Handlungswahl beinhalten. Verhaltensregeln (intern, extern) können unter Umständen in Konflikt stehen, sodass die Regelleitung weniger verständlich ist, wodurch das Erkennen von Handlungsoptionen erschwert und eine stärkere Überlegung benötigt wird. Personen können unwissend gegenüber bestimmten moralischen Normen (oder sogar Gesetzen) sein bzw. diese missverstehen, obwohl sie mit offensichtlichen Implikationen für die Handlungswahl ausgestattet sind.

3. Zentrale Aussagen der Situational Action Theory

Die Situational Action Theory basiert auf vier zentralen Aussagen: 1. Handlungen sind letztendlich das Ergebnis eines Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozesses. 2. Dieser Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess wird durch relevante Aspekte der PersonUmwelt-Interaktion ausgelöst und bestimmt. 3. Prozesse der sozialen Selektion und der Selbstselektion vermitteln Typen von Personen in Typen von Settings (wodurch wiederum bestimmte Typen von Interaktionen ausgelöst werden). 4. Welche Typen von Personen in welchen Typen von Umgebungen (Settings) in einem Rechtssystem präsent sind, ist das Ergebnis historischer Prozesse der personalen und sozialen Genese. Aussagen 1 und 2 beziehen sich auf das situative Modell, Aussagen 3 und 4 beziehen sich auf das soziale Modell. Abbildung 1 illustriert wie das situative und das soziale Modell miteinander verknüpft sind.3 Die SAT schlägt vor, dass die Ursachen von Handlungen (so wie kriminelles Handeln) situativ sind (Aussage 1 und 2) und dass soziale Faktoren, die das Handeln von Personen, wie kriminelles Handeln, beeinflussen (z.B. Einflussfaktoren auf Selektion und Genese) am besten als Ursachen der Ursachen analysiert werden (Aussage 3 und 4). Die Rolle der zentralen Mechanismen der Kriminalitätsentstehung, wie sie in der SAT konzeptualisiert sind, sind in Tabelle 1 zusammengefasst.

3 Die Abbildung ist eine Version der gelegentlich als Coleman-Diagramm (oder auch „Coleman-Boot“ bzw. „Coleman’sche Badewanne“) bezeichneten Darstellung und basiert auf dem lehrreichen Ansatz, der von Coleman 1990, S. 1–13 und Boudon 1986, S. 29–60 entwickelt wurde, um das Makro-Mikro-Problem zu analysieren. Obwohl die in der Abbildung präsentierte Darstellung teilweise durch den analytischen Ansatz von Coleman und Boudon inspiriert ist, ist anzumerken, dass sich die Terminologie und der Inhalt erheblich unterscheiden.

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Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers Abbildung 1. Situational Action Theory – Übersicht über die zentralen Mechanismen und ihren Zusammenhang. Umgebungsbedingungen (Struktur und Kultur)

soziale Genese

regionale Kriminalitätsraten

Korrelation (Prädiktion)

Umweltmechanismus (soziale Selektion)

Transformationsmechanismus) (Aggregation)

personale Genese

soziale Interaktionen

Situationsmechanismus

(Selbstselektion) Individuum 

Individuum im Setting

(Wahrnehmungs‐ Entscheidungs‐Prozess)

Handlung (kriminelle Tat)

Tabelle 1. Situational Action Theorie: zentrale kausale Mechanismen und ihre Funktionen in der Kriminalitätsentstehung.

Zentraler Mechanismus

Funktion in der Kriminalitätsentstehung

Ursachen Wahrnehmung-Entscheidung

Ursachen der Ursachen Selektion (soziale Selektion und Selbstselektion)

Genese (personale and soziale Genese)

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Handlungsmechanismus. Verknüpft die Interaktion von Personen und ihren Umgebungen zu ihren Handlungen (erklärt, warum Kriminalität entsteht) Vermittelt Typen von Personen zu Typen von Settings und schafft so Typen von Interaktionen, auf die das Handeln einer Person die Reaktion ist (erklärt, warum kriminogene Situationen entstehen und warum bestimmte Personengruppen eine höhere Exposition gegenüber kriminogenen Settings haben als andere). Psychosoziale Prozesse, die eine spezifische persönliche Disposition schaffen (personale Genese) und sozioökologische Prozesse, die spezifische ortsgebundene, umweltbedingte Anreize schaffen (soziale Genese) (erklärt, warum Personen in ihrer kriminogenen Disposition variieren und warum Umgebungen in ihrer Kriminogenität variieren)

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Situational Action Theory

4. Der Situationsmechanismus als Wahrnehmungs-EntscheidungsProzess

Die Ursachen von Kriminalität sind situativ. Der Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess ist der situative Mechanismus, der Personen und ihre unmittelbaren Umgebungen mit ihren Handlungen verbindet (vgl. Wikström 2006, S. 76–84). Er ist der zentrale kausale Mechanismus, der menschliches Handeln erklärt. Der Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess ist durch relevante Aspekte der Interaktion zwischen einer Person und ihrer Handlungsumgebung (den Teilen der Umgebung, die einer Person in einem bestimmten Moment mit seinen Sinnen zugänglich ist) initiiert und geleitet. Der Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess ist für das Handlungsergebnis entscheidend, da die Wahrnehmung (die selektive Information, die wir über unsere Sinne erhalten) die Person mit der Umgebung verbindet und die Entscheidung (die Entwicklung einer Absicht, in einer bestimmten Weise zu handeln) die Person mit ihren Handlungen verbindet. Welche Art von Handlung als Ergebnis des Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozesses entsteht, ist davon abhängig, welcher Typ von Person der Handelnde ist und in welchem Typ von Setting er sich aufhält. Eine kriminelle Handlung wird auftreten, wenn eine Person Kriminalität als annehmbare Handlungsalternative unter den gegebenen Umständen betrachtet (und es keine relevante oder ausreichend starke Abschreckung gibt) oder wenn es der Person misslingt, in Übereinstimmung mit ihrer eigenen persönlichen Moral zu handeln (d.h. daran scheitert, Selbstkontrolle auszuüben) unter Umständen, in der sie externem Druck ausgesetzt ist, entgegen den eigenen moralischen Vorstellungen zu handeln. Die zentralen Schritte dieses Handlungsprozesses im Kontext kriminellen Handelns sind in Abbildung 2 zusammengefasst. Motivation und die Orientierung an Regeln steuern den Handlungsprozess. Motivation (zielgerichtete Aufmerksamkeit) initiiert den Handlungsprozess und ist das Ergebnis der Interaktion zwischen Präferenzen, Verpflichtungen oder Empfindsamkeiten einer Person, sowie Gelegenheiten und Spannungen, die das Setting (die unmittelbare Umgebung), an der eine Person partizipiert, präsentieren. Wenn eine Person die Gelegenheit wahrnimmt, ein Verlangen (Wunsch, Notwendigkeit) zu befriedigen oder eine Verpflichtung zu erfüllen, stellt dies eine Versuchung dar. Wenn eine Person auf eine Spannung (eine ungewünschte externe Störung) stößt, kann dies Ärger oder Verstimmung auslösen, was wiederum zu Provokationen führen kann. Personen variieren in ihren Präferenzen und Verpflichtungen und daher variiert auch, welche Arten von Gelegenheiten oder Spannungen zu Versuchungen bzw. Provokationen führen.

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Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers Abbildung 2. Übersicht über die zentralen Schritte im Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozess.

Motivation

Motivator

zielgerichtete Aufmerksamkeit

Versuchung, Provokation

Wahrnehmung von Handlungsalternativen

moralischer Filter Kriminalität keine Handlungsalternative

Kriminalität als Handlungsalternative

Gewohnheit (automatische Handlungswahl)

rationale  Überlegung

Handlungswahl

Kontrollen wirksam kein  kriminelles Handeln

kriminelles Handeln

kein  kriminelles Handeln

unwirksam kriminelles Handeln

Handlung

Motivation ist ein notwendiger, aber nicht hinreichender, situativer Faktor für die Erklärung von Handlungen. Welche Handlungsalternative (falls vorhanden) eine Person wahrnimmt, wird über den moralischen Filter reguliert (Wikström 2010). Der moralische Filter ist die durch moralische Regeln induzierte selektive Wahrnehmung realisierbarer Handlungsalternativen in Bezug auf einen bestimmten Motivator (Versuchung oder Provokation). Personen bringen ihre persönliche Moral (wertorientierte Verhaltensregeln) in bestimmte moralische Kontexte (die wahrgenommenen geteilten Verhaltensregeln des Settings). Die Interaktion zwischen der persönlichen Moral und den moralischen Kontexten erzeugt den moralischen Filter, der die Handlung in Bezug auf ihre Handlungsalternativen in Reaktion auf einen Motivator filtert und entscheidet, ob eine der Handlungsalternativen kriminelles Handeln beinhaltet. Wenn kriminelles Handeln keine Handlungsalternative darstellt, wird es keine kriminelle Handlung geben. Wichtig ist, dass der Entscheidungsprozess in dieser ersten Phase des Handlungsprozesses keine Rolle spielt: Die Wahrnehmung von Handlungsalternativen ist dem Entscheidungsprozess vorangestellt, da eine Entscheidung Handlungsalternativen erfordert, auch wenn es nur eine herausstechende Handlungsalternative gibt, die automatisch gewählt wird (wie es bei habituellen Gewohnheitshandlungen der Fall ist). Wenn eine Person als Reaktion auf einen Motivator Kriminalität jedoch als Handlungsalternative wahrnimmt, ist der Entscheidungsprozess ausschlaggebend für das Ergebnis. Der Entscheidungsprozess kann entweder hauptsächlich automatisiert sein – habituelles Handeln ausdrücken – oder maßgeblich durch rationale Überlegungen geschehen – dem Abwägen von Vorund Nachteilen der verschiedenen Handlungsalternativen (zu dualen Denkprozessen siehe auch Evans/Frankish 2009; Kahneman 2003). Im Fall einer habituellen Entscheidung wird eine kriminelle Tat ausgeführt (bzw. versucht), da der Handelnde nur eine hervorstechende Handlungsalternative wahrnimmt (auch wenn die Person unterbewusst wissen könnte, dass es weitere Handlungsalternativen gibt). Habituelle Handlungen werden typischerweise durch wiederholte Exposition gegenüber ähnlichen Umständen geschaffen, in denen eine bestimmte Handlung in der Vergangenheit zu einem wiederholt befriedigenden Ergebnis geführt hat (zu habituellem Handeln generell siehe auch Bargh 1997; Wood/Quinn 2005). In Fällen, in denen die 64

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Situational Action Theory Person rational überlegt, ob eine kriminelle Handlung ausgeführt (bzw. versucht) wird, ist das Handlungsergebnis von der Wirksamkeit der vorhandenen Kontrollen abhängig. Wenn die Wahrnehmung von Kriminalität als Handlungsalternative durch externen Druck, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, bestimmt ist, ist die Fähigkeit zur Selbstkontrolle (d.h. in Übereinstimmung mit der eigenen persönlichen Moral zu handeln)4 entscheidend dafür, ob kriminelles Handeln gewählt wird oder nicht. In Fällen, in denen eine Person nach rationalen Überlegungen Kriminalität als Handlungsalternative wahrnimmt, hängt die Durchführung (bzw. der Versuch) einer kriminellen Handlung von der Relevanz und Stärke der vorhandenen Abschreckungen ab.

5. Die Ursachen der Ursachen 5.1 Selektionsprozesse Die Analyse der Situation erklärt, warum Kriminalität auftritt, indem die in die Kriminalitätsverursachung involvierten Interaktionen und Handlungsmechanismen detailliert analysiert werden. Jedoch sagt die situative Analyse nicht viel darüber aus, wie kriminogene Situationen (Interaktionen) entstehen und welche Rolle strukturelle und kulturelle Faktoren dabei einnehmen. Um Makroeigenschaften einer Gesellschaft (z.B. Segregationsmuster) mit Mikroereignissen (z.B. einer kriminogenen Situation) zu verknüpfen, müssen die Mechanismen verstanden werden, die auf der Makroebene wirken. Die Situational Action Theory unterstellt, dass für das Verständnis des Zusammenhangs von „Struktur“ und „Kultur“ zu kriminogenen Situationen ein Verständnis der Selektionsprozesse erforderlich ist; wie Prozesse der sozialen und personalen Genese bestimmte Typen von Personen („Charaktere“) in bestimmte Typen von Umgebungen („Umstände“) selektiert und dadurch bestimmte Typen von Interaktionen schafft, von denen einige kriminogen sein können (Abbildung 1). Dies können zum Beispiel Prozesse sein, die gewaltbereite Personen in Settings mit einem hohen Maß an Spannungen einführen. Selektionsprozesse erklären, warum kriminogene Wechselwirkungen auftreten (wann, wo und in welchem Ausmaß), aber auch, warum einige Personen (Personentypen) stärker kriminogenen Settings ausgesetzt sind als andere. Als Einflussfaktoren auf die Ausbildung unterschiedlicher Expositionen helfen Selektionsprozesse, das Verständnis über die Wichtigkeit der Rolle von Faktoren wie Ungleichheit, Integration und Segregation (im Kontext der Ursachen der Ursachen) in der Kriminalitätsentstehung zu verstehen. Soziale Selektion bezieht sich auf soziale Kräfte (abhängig von generellen Systemen formaler und informeller Regeln und der unterschiedlichen Verteilung personaler und institutioneller Ressourcen in einem bestimmten Rechtssystem), die bestimmten Typen von Personen die Teilhabe an bestimmten Typen von zeit- und ortsgebundenen Aktivitäten entweder ermöglicht (fördert oder erzwingt) oder einschränkt (abschreckt oder ausschließt). Der Inhalt kultureller 4 Die Konzeption von Selbstkontrolle in der SAT unterscheidet sich von der Konzeption, wie sie im Rahmen der General Theory of Crime (Gottfredson & Hirschi 1990) vorgestellt wurde. Eine ausführliche Diskussion der Unterscheidung findet sich bei Wikström/Treiber 2007.

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Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers (regelbasierter) und struktureller (ressourcenbasierter) gesellschaftlicher Kräfte, die die soziale Selektion antreiben, variiert zwischen den Rechtssystemen (Länder, Regionen, Städte) und daher variiert auch das Ergebnis solcher Prozesse (das Ergebnis der Interaktion bestimmter Personentypen und bestimmter Umgebungstypen); einige produzieren mehr kriminogene Interaktionen als andere (also Interaktionen zwischen kriminogenen Personen und kriminogenen Settings). Jedoch sind Menschen nicht einfach nur den Kräften sozialer Selektion ausgesetzt, ihre Exposition zu bestimmten Typen von Settings ist auch von ihrer Selbstselektion abhängig. Selbstselektion bezieht sich dabei auf die Selbstwirksamkeit („agency“) und die Fähigkeit, präferenzbasierte Entscheidungen zu treffen, an bestimmten zeit- und ortsgebundenen Aktivitäten zu partizipieren, unter der Einschränkung der sozialen Kräfte (so haben Personen nicht immer die Ressourcen oder die Erlaubnis, an Aktivitäten teilzunehmen, die sie bevorzugen). Personen unterscheiden sich in ihrer Selbstwirksamkeit (der Macht, die Auswahl des Settings, in dem sie partizipieren, zu bestimmen) in Abhängigkeit von ihrem Alter5 und ihrem Zugriff auf Humankapital (z.B. Fähigkeiten), Finanzkapital (z.B. Geld) und Sozialkapital (z.B. ressourcenreiche Beziehungen). Ebenso variieren Personen in ihrer Präferenz von Aktivitäten, größtenteils als Ergebnis ihres vorausgegangenen Lebenslaufs. Die Dynamik der Prozesse sozialer Selektion und Selbstselektion ist entscheidend für das Verständnis unterschiedlicher Dispositionen von Personen und unterschiedlicher Expositionen zu kriminogenen Settings. Personen variieren in der Stärke der Einflussnahme auf ihr Leben innerhalb der Wirkung sozialer Selektion.

5.2 Prozesse der Genese Während die Analyse der Situation hilft zu identifizieren, welche wichtigen personalen und umweltbedingten Faktoren an der Kriminalitätsentstehung beteiligt sind; und die Analyse der gleichzeitigen Selektionsprozesse erklärt, wie kriminogene Situationen (Interaktionen) entstehen; bleibt noch die Frage offen, warum bestimmte Menschen eine bestimmte kriminogene Disposition entwickeln und warum bestimmte Orte bestimmte kriminogene Eigenschaften haben (und warum einige Rechtssysteme mehr kriminogene Personen und mehr kriminogene Settings hervorbringen als andere). Gemäß der Situational Action Theory betriffft es dabei im Wesentlichen das Verständnis von (historischen) Prozessen der Genese, d.h. von Prozessen, wie etwas so wird, wie es ist (Abbildung 1). Die SAT nimmt an, dass die Entwicklung und Veränderung der kriminogenen Disposition in hohem Maß von psychosozialen Prozessen der personalen Genese abhängig ist, insbesondere von Prozessen der moralischen Erziehung und der kognitiven Förderung, vor allem im Kontext der Entwicklung kriminogener Dispositionen (der gesetzlich relevanten persönlichen Moral und der Fähigkeit zur Selbstkontrolle; siehe auch Wikström/Treiber 2017). Diese Prozesse beeinflussen und ändern, wie Personen ihre Handlungsalternativen sehen und Entscheidungen treffen, wenn sie bestimmten Motivatoren in bestimmten Umständen ausgesetzt sind, so auch in Situationen, in denen sie kriminelles Handeln als Handlungsalternative wahrnehmen und wählen, eine kriminelle Handlung auszuführen. 5 Menschen haben zu Lebensbeginn nur wenig oder keine Selbstwirksamkeit, sondern entwickeln die Fähigkeit, auf die Auswahl des Settings, an dem sie teilhaben, Einfluss zu nehmen im Lebensverlauf, insbesondere in der Kindheit und Adoleszenz (wenngleich auch in unterschiedlichem Ausmaß).

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Situational Action Theory Moralische Erziehung bezieht sich auf Lern- und Evaluationsprozesse, bei denen Personen im Zeitverlauf aktiv dazu übergehen, wertorientierte Verhaltensregeln über das, was in bestimmten Umständen richtig oder falsch zu tun ist, zu übernehmen und zu ändern. Die zentralen Mechanismen, die diese Prozesse steuern sind Vorgabe, Beobachtung, Versuch und Irrtum. Personen bekommen Verhaltensregeln erklärt und vorgegeben, und wenn sie diese anwenden, beobachten sie andere Personen bei der Einhaltung von Verhaltensregeln und den Folgen von Verstößen. Daraufhin versuchen und testen sie, was geschieht, wenn sie bestimmte Verhaltensregeln befolgen oder missachten. Allerdings sind Personen nicht nur passive Empfänger moralischer Erfahrungen, sondern evaluieren (und re-evaluieren) diese Erfahrungen im Kontext ihrer bisher erworbenen persönlichen Moral und ihrer kognitiven Fähigkeiten. Soziale Institutionen wie das Familien- und Bildungssystem spielen dabei eine zentrale Rolle in der moralischen Erziehung, insbesondere in den formativen Jahren der Kindheit und Jugend. Kognitive Förderung bezieht sich auf Erfahrungsprozesse (limitiert durch die neurologische Konstitution und die Basiskapazitäten einer Person), die neurokognitive Fähigkeiten und deren Äußerung positiv beeinflussen. Die kognitiven Fähigkeiten einer Person (Exekutivfunktionen6) sind wichtig für die Fähigkeit, Selbstkontrolle auszuüben, können aber ebenso relevant sein für die Fähigkeit, sich Verhaltensregeln anzueignen, diese zu verstehen und anzuwenden (insbesondere wenn eine Person kognitive Defizite hat). Auch hier ist die Funktion von Familien- und Bildungseinrichtungen, vor allem in den formativen Jahren, von größter Bedeutung (vielleicht sogar stärker als für die moralische Erziehung). Die SAT nimmt an, dass die Kriminogenität von Orten weitestgehend von sozioökologischen Prozessen sozialer Genese, der Bevölkerungsentwicklung und der Ausdifferenzierung von Aktivitäten abhängig ist, die für das Auftreten von (zeit- und) ortsbasierten Motivatoren und rechtsrelevanten moralischen Normen sowie deren Durchsetzung relevant sind. Die moralischen Normen eines Settings und das Ausmaß der Durchsetzung sind von den in dem Setting stattfindenden Aktivitäten und der Zusammensetzung der anwesenden Typen von Personen, die an dem Setting partizipieren, abhängig. Einige Aktivitäten fördern stärker als andere, bestimmte Verhaltensregeln zu brechen, und einige Personen haben eher als andere Ansichten, die Verstöße gegen bestimmte Verhaltensregeln fördern. Das Ausmaß, in dem ein Setting kriminogen ist, ist also abhängig von der Zusammensetzung aus Aktivitäts- und Personentypen. Die Entstehung bestimmter Muster von Interaktionen von Personentypen und Aktivitäten (mit Konsequenzen für die Entstehung kriminogener Interaktionen) ist das Resultat historischer Prozesse der Bevölkerungsentwicklung, Aktivitätsentwicklung und zeitlicher, sowie räumlicher Differenzierung (z.B. die Abhängigkeit von Markteinwirkungen sowie Planungs- und Technologiefortschritten, z.B. im Transportwesen).

6 Exekutivfunktionen sind kognitive Funktionen höherer Ordnung, die an der Beachtung, Unterdrückung sowie der Aktivierung, Evaluation, Organisation und Integration von (intern und extern geleiteten) handlungsrelevanten Informationen beteiligt sind (Morgan & Lilienfeld 2000). Zur neurowissenschaftlichen Basis der Situational Action Theory siehe Treiber 2011.

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6. Empirische Überprüfung der zentralen Annahmen der SAT

Die SAT ist ein genuin empirisches Projekt und wurde maßgeblich durch die Auseinandersetzung mit den Befunden der Peterborough Youth Study und der sich anschließenden Peterborough Adolescent and Young Development Study (PADS+) entwickelt. Sie ist seit den Anfängen ihrer Entwicklung auf die empirische Überprüfbarkeit der zentralen Annahmen konzentriert und stimulierte daher früh auch Studien in anderen europäischen Ländern. Inspiriert von PADS+ und den dort verwendeten Instrumenten werden unter anderem in Schweden (Malmö Individual and Neighbourhood Development Study MINDS, Ivert/Torstensson Levander 2014), Slovenien (Study of Parental Monitoring and Adolescent Delinquency SPMAP, Mesko et al. 2015) und den Niederlanden (Study of Peers, Activities and Neighbourhoods SPAN, Weerman et al. 2015) kollaborative Studien durchgeführt. Aber auch insbesondere in Deutschland ist die Studienlandschaft zur SAT breit gefächert und gleich mehrere Studien nehmen sich der Überprüfung der in der Theorie postulierten theoretischen Zusammenhänge der Erklärung kriminellen Handelns an.

6.1 PADS+ 6.1.1 Studiendesign Die Peterborough Adolescent and Young Adulthood Development Study (PADS+) ist eine Längsschnittstudie unter der Leitung von Per-Olof H. Wikström an der University of Cambridge, bestehend aus einer Stichprobe von 716 Befragten, die im Jahr 2002 in der Stadt Peterborough wohnten, zum damaligen Zeitpunkt (2003) 12 Jahre alt waren und die im Rahmen der Studie während der Jugendjahre und bis ins Erwachsenenalter begleitet werden. Zwischen 2004 und 2008 wurden jährliche, interviewbasierte Fragebogenerhebungen mit Fragen zu persönlichen, familiären und schulischen, später auch beruflichen Charakteristika und Erfahrungen, kognitiven Messungen, randomisierten Szenarios und Space-Time-Budgets erhoben. Seit 2010 erfolgt die Befragung alle zwei Jahre. Die Jugendbefragung (seit 2003) hat sich an eine initiale Datenerhebung in Form eines strukturierten Interviews der Eltern (im Jahr 2002) der befragten Jugendlichen angeschlossen, bei der Daten über die soziale Situation der Familie zur Zeit der Studienimplementierung erhoben, sowie retrospektive Informationen über Kindheitserfahrungen und kritische Lebensereignisse der Probanden erfasst wurden. Zusätzlich wurden Daten des Justizwesens (z.B. Strafregisterauszüge der Befragten) als auch Daten anderer Behörden (z.B. Landnutzungs- und Bevölkerungsdaten) erfasst. Ergänzend wurden in den Jahren 2005 und 2012 zwei kleinräumige Community-Surveys mit jeweils unabhängigen Samples von rund 6000 zufällig ausgewählten Befragten aus der Stadt Peterborough, die mindestens 18 Jahre waren, durchgeführt, um zusätzliche Informationen über Kohäsion und informelle soziale Kontrollen im nachbarschaftlichen Raum zu erheben.

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Situational Action Theory 6.1.2. Zentrale Messinstrumente7 Um die generelle kriminogene Disposition zu messen, werden zwei Konstrukte in dem interviewgeleiteten Fragebogen erfasst: eine Skala misst generalisiert (gesetzesrelevante) persönliche Moral, indem die Befragten bewerten, wie schlimm sie 16 unterschiedliche Verhaltenweisen einer gleichaltrigen Person finden (von „einen Stift von einem Klassenkameraden stehlen“ bis „Gewalt oder Waffen anwenden, um Geld von jemanden zu stehlen“), die andere Skala misst die generalisierte Fähigkeit, Selbstkontrolle auszuüben in Form einer angepassten und gekürzten acht Items umfassenden Version der Grasmick-Skala mit Fokus auf die Dimensionen Risikobereitschaft, Impulsivität und Zukunftsorientierung. Zur Messung der kriminogenen Exposition werden zwei Indizes verwendet: einer, um die Zeit, die in kriminogenen Settings verbracht wird, zu messen; der andere, um den moralischen Kontext des Settings zu erfassen, also die Assoziation mit kriminogenen Personen (Peers). Die Messung zur Exposition von kriminogenen Settings basiert auf den Daten des Space-Time-Budgets, des Community-Surveys und der Landnutzungsdaten und summiert sich zu der Anzahl der Stunden, die unbeaufsichtigt mit Peers in Settings mit geringer kollektiver Efficacy oder im Stadtzentrum verbracht werden. Die Messung zur Exposition zu kriminogenen Personen wird über den Fragebogen mittels einer Skala zur Peerdelinquenz erfasst, in der die Befragten Angaben zu der Involviertheit ihrer Freunde in kriminelle Handlungen berichten. 6.1.3 Zentrale Ergebnisse Die Ergebnisse der Studie PADS+ bestätigen die generellen Annahmen der Theorie, dass sowohl Exposition als auch Disposition eine Beziehung zu kriminellem Verhalten aufweisen, wobei vor allem die Interaktion zwischen Disposition und Exposition für die Erklärung von Kriminalität eine starke Unterstützung durch die Daten erfährt (vgl. Wikström et al. 2012). Weitere Analysen mit Daten des Space-Time-Budgets zeigen deutliche Zusammenhänge zwischen den Aktivitätsfeldern der Jugendlichen und ihrer Exposition zu kriminogenen Settings, Zusammenhänge von Exposition und der Beteiligung an kriminellen Handlungen, sowie die Abhängigkeit des Einflusses des kriminogenen Settings von der Disposition der Befragten; Befragte mit einer höheren Disposition verbringen mehr Zeit in kriminogenen Settings (vgl. Wikström et al. 2010). Dabei zeigen Personen mit einer hohen persönlichen Moral, unabhängig von ihrer Fähigkeit zur Selbstkontrolle, kein kriminelles Verhalten, nur bei Befragten mit einer niedrigen persönlichen Moral ist das Ausmaß der Selbstkontrolle ein wichtiger Faktor für die Erklärung kriminellen Handelns (vgl. Wikström/Svensson 2010). Der Einfluss von Abschreckungseffekten ist ebenfalls abhängig von der individuellen Disposition. Abschreckungseffekte zeigen keine Relevanz für Personen, die keine Disposition zu kriminellem Verhalten aufweisen. Dies stützt die theoretische Annahme, dass Personen nicht kriminell handeln, weil sie abgeschreckt werden, sondern vielmehr weil sie Kriminalität nicht als Handlungsalternative wahrnehmen (vgl. Wikström et al. 2011). Personen, die in sozial benachteiligten Verhältnissen aufwachsen, entwickeln eine höhere kriminogene Disposition und halten sich häufiger in kriminogenen Settings auf. Wie in der Hypothese der Ursachen der Ursachen angenommen, ist die Beziehung von sozialen Benachteiligungen und Kriminalität vollständig über Disposition und Exposition vermittelt. Dieser Zusammenhang wird wiederum über soziale und Selbtselektionseffekte be7 Eine ausführliche Beschreibung der Operationalisierung der Situational Action Theory in der Studie PADS+ findet sich bei Wikström et al. 2012.

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Per-Olof H. Wikström & Debbie Schepers stimmt. Befragte, die unter Bedingungen sozialer Benachteiligung aufwachsen, halten sich signifikant häufiger in kriminogenen Settings auf (vgl. Wikström/Treiber 2016). Ebenso zeigt sich bei Auswertungen mit den Längsschnittdaten der Studie, dass Veränderungen im Ausmaß kriminellen Handelns von Veränderungen in Disposition und/oder Exposition geleitet sind (vgl. Wikström 2009).

6.2 Befunde aus Deutschland 6.2.1 Lebenslagen und Risiken von Jugendlichen Die Schulbefragung „Lebenslagen und Risiken von Jugendlichen“ wurde in den Jahren 2011 und 2012 in den Städten Mannheim und Köln vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg durchgeführt und hat insgesamt rund 7300 Schülerinnen und Schüler in 63 allgemeinbildenden Schulen in den 8. bis 10. Jahrgangsstufen befragt. Das Fragebogeninterview enthält Angaben zum soziodemografischen Hintergrund, der familiären Situation, dem sozialen und schulischen Umfeld, Einstellungen zu Delinquenz und eigenes delinquentes Handeln, sowie Erfahrung von Freunden mit delinquentem Verhalten. Ein zentraler Teil der Befragung stellt die Erfassung der Freundschaftsnetzwerke innerhalb einer Klasse dar. Auswertungen der Daten im Kontext der SAT bestätigen die zentralen theoretischen Annahmen, dass unstrukturierte Freizeitaktivitäten und eine kriminogene Disposition einen delinquenzfördernden Effekt haben. Ein risikoreicher Freizeitstil führt jedoch nicht zwangsläufig zu Delinquenz, sondern ist durch die individuelle kriminogene Disposition bestimmt, die wiederum den Effekt der kriminogenen Exposition moderiert (vgl. Gerstner/Oberwittler 2015). 6.2.2 Zusammenleben in der Stadt Die postalische Datenerhebung des Projekts „Zusammenleben in der Stadt“ fand Ende 2011 in Leipzig statt. Die Grundgesamtheit bildeten alle im Einwohnermelderegister erfassten Bürgerinnen und Bürger, die zum 31.8.2008 (Stichtag) zwischen 18 und 65 Jahre alt waren. Aus einer disproportional geschichteten Zufallsstichprobe konnten mit Abschluss der Datenerhebung 2383 auswertbare Fragebögen realisiert werden. Fokus der Befragung ist die Erklärung von Fundunterschlagung mittels eines Vignettendesigns in einem zweistufigen Selektionsprozess, was im Kontext der SAT als Analyse des Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozesses untersucht wird. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sowohl die moralischen Bindungen als auch die Attraktivität einer Gelegenheit erklären können, ob Personen sich in Versuchung führen lassen, sowie dass unter der Bedingung ungünstiger Gelegenheiten Abschreckungseffekte erklärungskräftig sind. Die Befunde zu Interaktionseffekten zwischen moralischer Disposition und externer Kontrolle weisen dagegen weniger eindeutige, aber dennoch in die theoretische Richtung weisende Ergebnisse auf (vgl. Eifler 2015). 6.2.3 Chancen und Risiken im Lebensverlauf Die Studie „Chancen und Risiken im Lebensverlauf“ ist eingebunden in das Teilprojekt A2 „Die Entstehung und Entwicklung devianten und delinquenten Verhaltens im Lebensverlauf und ihre Bedeutung für soziale Ungleichheitsprozesse“ des SFB 882 an der Universität Bielefeld. Die Datenerhebungen wurden mit einem längsschnittlich, kombinierten Kohorten-Se-

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Situational Action Theory quenz-Design mit jährlichen Erhebungen in den Städten Dortmund und Nürnberg in zwei Kohorten (5. und 9. Jahrgangsstufe) zwischen den Jahren 2012 und 2014 durchgeführt. Die Grundgesamtheit bildeten dabei in Dortmund alle Schülerinnen und Schüler, die 2012 die 5. und 9. Klassen der Gymnasien, Gesamt-, Real-, und Hauptschulen besuchten, während in Nürnberg die Schülerinnen und Schüler aller Mittelschulen (Hauptschulen) der 5. und 9. Jahrgangsstufen die Grundgesamtheit bildeten. Insgesamt wurden über beide Kohorten und beide Standorte in jeder der drei Erhebungswellen rund 3000 Probanden befragt. Konzipiert, um die SAT mit deutschen Daten zu testen, umfasst der Fragebogen neben ausführlichen Selbstberichten zu delinquentem Verhalten u. a. Messungen von persönlicher Moral, Selbstkontrolle, Freizeitaktivitäten und delinquenten Peers, wie sie in der Fragebogenerhebung von PADS+ verwendet werden. Auswertungen bestätigen den in der SAT postulierten Zusammenhang von Disposition und Exposition für die Erklärung delinquenten Verhaltens, jedoch sind die Interaktionsbeziehung nicht in allen Modellen statistisch stabil schätzbar. Sind die statistischen Bedingungen jedoch erfüllt, findet sich ebenfalls Unterstützung für die in der SAT angenommene Interaktionsbeziehung von Persönlichkeitsmerkmalen und Bedingungen des Settings (vgl. Schepers/ Reinecke 2015). Die Untersuchung von sozialen Ungleichheiten im Kontext der SAT zeigt empirische Unterstützung für die Konzeption von Heterogenitätsmerkmalen als Ursachen der Ursachen. Die Beziehung von Merkmalen wie Geschlecht, Schulform, ökonomische Situation, Migrationshintergrund und Familienstruktur zu Kriminalität ist bestimmt durch den Einfluss, den sie auf die Ausbildung von persönlicher Moral, Selbstkontrolle und die Selektion in kriminogene Settings haben (vgl. Schepers 2016). Weiter zeigen Analysen der Moralentwicklung der befragten Kinder und Jugendlichen, dass der elterliche Einfluss auf Moralentwicklung im Zeitverlauf abnimmt, während der Einfluss delinquenter Peers zunimmt. Jedoch haben die moralischen Emotionen Schuld und Scham den stärksten Einfluss auf die Entwicklung der persönlichen Moral im Zeitverlauf, deren Wirkung im Rahmen des Wahrnehmungs-EntscheidungsProzesses als moralischer Filter konzeptualisiert ist (vgl. Schepers 2017).

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Situational Action Theory Wikström, P.-O.H.; Oberwittler, D.; Treiber, K. und Hardie, B. (2012): Breaking Rules: The Social and Situational Dynamics of Young People’s Urban Crime. Oxford: Oxford University Press. Wikström, P.-O.H.; Tseloni, A. und Karlis, D. (2011): Do people comply with the law because they fear getting caught? In: European Journal of Criminology 8 (5): S. 401–420. Wood, W. und Quinn, J.M. (2005): Habits and the structure of motivation in everyday life. In: J.P. Forgas; K.D. Williams und S.M. Laham (Hg.): Social Motivation: Conscious and Unconscious Processes. Cambridge: Cambridge University Press, S. 55–70.

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1. Einleitung

Der Begriff der „Anomie“ ist dem Griechischen entnommen („anomia“), wo er das Fehlen oder Verneinen von Gesetz und Ordnung bezeichnet. Durkheim (1858–1917) hat ihn als Problem- und Erklärungskonzept in die Soziologie eingeführt, vor allem im Rahmen seiner Untersuchungen zur Arbeitsteilung (Durkheim [1893] 1992) und in seiner Studie über den Selbstmord (Durkheim [1897] 1990).1 Die zweite autoritative Quelle, auf die sich fast alle Soziologen beziehen, die heutzutage das Anomie-Konzept verwenden (insbesondere zur Erklärung kriminellen Verhaltens), sind die Aufsätze von Robert K. Merton (1910–2003) über „Social Structure and Anomie“ (Merton 1968). Es lohnt auch heute noch, sich die Konzepte dieser beiden Klassiker näher anzuschauen (s. unten, Abschn. 1) – nicht nur aus didaktischen Gründen, sondern auch deshalb, weil einige ihrer fundamentalen Einsichten in der neueren Forschungsliteratur häufig nicht hinlänglich rezipiert und beachtet worden sind. Im zweiten Abschnitt werden die beiden Ansätze vorgestellt, die, explizit auf Durkheim und Merton aufbauend, die internationale Diskussion zum Thema Anomie seit den 90er Jahren wohl am stärksten geprägt haben: die Institutional-Anomie Theory von Steven F. Messner und Richard Rosenfeld sowie die General Strain Theory von Robert Agnew. Innerhalb der deutschen Soziologie haben vor allem Ralf Dahrendorf (1979; 1994) und Peter Waldmann (2002) eigene anomie-theoretische Ansätze ausgearbeitet, die ich aber aus Platzgründen hier nicht vorstellen kann. Im dritten Abschnitt werden stattdessen (gemäß den Vorgaben der Herausgeber) einige Arbeiten skizziert, mit denen ich versucht habe, zu diesen Diskussionen beizutragen.

2. Grundlagen der Anomie-Theorie: Durkheim und Merton2 2.1 Durkheim Durkheim hat keine systematisch entwickelte Anomie-Theorie vorgelegt, sondern in verschiedenen Schriften unterschiedliche Versionen dieses Begriffs eingesetzt und dabei immer wieder neue Facetten eingeführt, die sich einer klaren umfassenden Definition entziehen. Im Kern ging es Durkheim um die Analyse verschiedener Formen einer „gestörten Ordnung“ (Durkheim

1 Einen umfassenden monografischen Überblick zur Begriffsgeschichte bietet Orrù (1987). 2 Ich greife hier auf frühere Texte zurück, vor allem Thome (2016).

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Helmut Thome 1990, 289), wobei sich „Ordnung“ auf diverse Aspekte und Ebenen (arbeitsteiliger) sozialer Systeme (im Durkheimschen Sinne eines „Kollektivs“) bezieht, in die die Individuen idealiter so einbezogen sein sollen, dass sie darin ihren Lebenssinn in einer Balance von Autonomie und Zugehörigkeit finden können. Durkheim organisierte seine Überlegungen vor allem entlang zweier analytischer Dimensionen: einer grundsätzlich nicht gezielt steuerbaren Evolution sozialer Strukturen einerseits, die aber andererseits Raum lässt, ja spezifische Notwendigkeiten schafft für Regulation. Die Strukturevolution charakterisiert Durkheim vor allem in Richtung einer zunehmenden Arbeitsteilung (ansatzweise schon konzipiert im Sinne fortschreitender sozialer Differenzierung) und der damit notwendig verbundenen Individualisierung. Diese Entwicklung muss nicht zu weniger, sondern zu jeweils anderen Formen von Integration und Solidarität führen (Wandel von „mechanischer“ zu „organischer Solidarität“). Für ein immer wieder neu auszutarierendes Maß an Integration und Solidarität sorgt aber nicht (nur) die Evolution selbst, sondern es bedarf hierzu verschiedener, an das jeweilige Differenzierungsniveau angepasster Regulierungen. Zwar vollziehen sie sich in der lebensweltlichen „sozialen Praxis“ teilweise auch ungeplant, sind aber darüber hinaus durch bestimmte Instanzen oder Akteursgruppen gezielt zu gestalten, insbesondere vom (demokratisch verfassten) Staat und seinen „Organen“ (Durkheim 1999, Kap. 4–9; Durkheim 1992, 426 f.) – durchaus im Zusammenwirken mit den intermediären Gruppen und zivilgesellschaftlichen Formationen. In heutiger Terminologie gesprochen, können sowohl die Sozial- als auch die Systemintegration als funktionale Bezugsprobleme der Regulation gelten, die so zu bewerkstelligen ist, dass die Austauschbeziehungen zwischen den arbeitsteilig operierenden „Organen“ (den gesellschaftlichen Teilsystemen und ihren Organisationen) in effizienter Weise ablaufen, aber auch so, dass die einzelnen Personen eine befriedigende Balance zwischen individuellem Streben und Pflichtgefühl, persönlicher Identität und gemeinschaftlicher Bindung erreichen können. Das in diesem Sinne gelungene Zusammenwirken von Regulation und Individuation unter der Bedingung fortgeschrittener sozialer Differenzierung expliziert Durkheim (idealtypisch) als „moralischen“ oder „kooperativen“ Individualismus (s. unten Abschn. 3). Dieser wird erst möglich, wenn die gewaltaffinen kollektivistischen Strukturen mit ihrer starren Kopplung von sozialer Hierarchie und Ehre (bis hin zur „Ehrlosigkeit“) erodiert sind. Als „anomisch“ bezeichnet Durkheim hingegen Störungen oder „unnormale“ Abweichungen von dieser idealtypisch konzipierten Ordnung. Im Arbeitsteilungsbuch betrachtet er Anomie vor allem als Folge der sehr tiefgreifenden und »mit einer außerordentlichen Geschwindigkeit vor sich gegangen[en]« Veränderungsprozesse, in denen sich die Feudalgesellschaft aufgelöst und die Dynamik der Industriegesellschaft eingesetzt hat (Durkheim 1992, 439). Die dadurch entstandenen Regulierungslücken hielt er aber, zunächst noch, für schließbar. Er konstatiert darüber hinaus zwei weitere „Anomalien“, die jedoch nicht auf einem Mangel, sondern auf falschen oder überzogenen Regulierungen beruhen, die in der einen oder anderen Form immer wieder auftreten; auf sie kann ich hier aus Platzgründen nicht weiter eingehen. Zur komplexen Balance von spontaner Selbstregulierung und staatlicher Einflussnahme siehe die bemerkenswerte Spannweite von Äußerungen in Durkheim (1992, 285, 428, 446, 455f.). Im Selbstmord-Buch spezifiziert Durkheim näher, welche Folgen eine im obigen Sinne „gestörte“ Sozialordnung“ bei den davon betroffenen Menschen zeitigen kann, insbesondere hinsichtlich ihrer Bereitschaft, Gewalt gegen andere anzuwenden oder Selbstmord zu begehen. Vor allem in Zeiten rasanter ökonomischer Auf- oder Abschwünge entstehe die Gefahr, dass Menschen Opfer ihrer überzogenen Aspirationen werden (Durkheim 1990, 273–296). Es fehle ih-

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Anomietheorien nen in solchen Situationen an der nötigen Disziplin; sie schätzten sich und ihre Fähigkeiten nicht mehr richtig ein; die ins Auge gefassten Optionen überstiegen die realen Vollzugsmöglichkeiten; es entstehe die Gefahr eines Identitätsverlusts per Entgrenzung. In solchen Situationen wachse die Neigung, Selbstmord zu begehen oder Gewalt gegen andere einzusetzen. Während Durkheim in seinem Arbeitsteilungsbuch noch grundsätzlich davon ausging, dass anomische Erscheinungen nur temporär auftreten, identifiziert er im Selbstmordbuch auch eine „chronische“ Form der Anomie: „Es gibt eine Sphäre gesellschaftlichen Lebens, wo er [der Zustand der Anomie, H.T.] tatsächlich eine Art Dauerzustand ist, nämlich in der Welt des Handels und der Industrie“ (Durkheim 1990, 290). Durkheim, dem der erste große Globalisierungsschub von Handel und Industrie ja schon gegenwärtig war, ging zudem davon aus, dass die „chronische“ Anomie dabei sei, sich in andere gesellschaftliche Bereiche auszudehnen; die Regierung sei bereits „von einer Regelinstanz des wirtschaftlichen Lebens zu dessen Instrument und Diener geworden“ (ebd., S. 291), und „das Fehlen einer jeden ökonomischen Disziplin (müsse) einen Verfall der öffentlichen Moralität zur Folge haben“ (Durkheim 1992, 44).

2.2 Merton Einen ersten Artikel zum Thema Anomie veröffentlichte Merton 1938 im American Sociological Review; eine erweiterte und modifizierte Fassung wurde als eigenständiges Kapitel in Mertons Hauptwerk Social Theory and Social Structure (Erstaufl. 1949) präsentiert. Dessen 1957 erschienene Neuausgabe enthält sowohl dieses Kapitel als auch einen zusätzlichen (wesentlich längeren) Aufsatz zum gleichen Thema: Continuities in the Theory of Social Structure and Anomie. In ihm reflektiert Merton seine theoretischen Konzepte im Lichte bereits vorliegender Rezeptions- und Forschungsliteratur und erörtert verschiedene Möglichkeiten, wie sich die theoretischen Konstrukte mit geeigneten empirischen Indikatoren verbinden lassen. Die beiden Aufsätze sind unverändert in die 1968 erschienene „enlarged edition“ dieses Bandes eingegangen. Merton hat sich in weiteren Arbeiten explizit mit „Anomie“ beschäftigt (siehe z.B. Merton 1964); besonders empfehlenswert ist eine autobiografische Skizze, in der er in sehr anschaulicher Weise die Entwicklungsstufen seiner Theorie nachzeichnet und die verschiedenen sozialen Kontexte vor Augen führt, in denen sie entstanden ist (Merton 2000). Bei Merton steht „Anomie“ nicht mehr für ein breites oder gar unbegrenztes Spektrum von Desintegrationsproblemen, sondern spezifisch für einen Mangel an normativen Bindungen, der sich aus einer im gesellschaftlichen System dauerhaft angelegten Diskrepanz von kulturell angestrebten Zielen einerseits und normativ zulässigen, aber nicht ausreichend verfügbaren und ungleich verteilten Mitteln der Zielerreichung andererseits ergibt. Die strukturellen Bedingungen, die laut Merton Anomie konstituieren, enthalten im Wesentlichen drei Komponenten. (1) Kulturell sind bestimmte Wertpräferenzen bzw. Handlungsziele als hoch- oder vorrangig definiert, damit auch normativ legitimiert; und die Menschen der betreffenden Gesellschaft sind in ihrer großen Mehrheit aktiv bestrebt, sie zu erreichen. (2) Kulturell sind auch die Wege und Mittel festgelegt, die legitimer Weise eingesetzt werden dürfen, um diese Ziele zu erreichen. Anomie wird begünstigt, wenn es (wie, lt. Merton, in der US-amerikanischen Gesellschaft) allgemein als wichtiger angesehen wird, die angestrebten Ziele (Werte) zu realisieren, als sich dabei lediglich auf legitime Mittel zu stützen. Die (moralische) Bindekraft normativer Regeln, die die Wahl der Mittel betreffen, schwindet zudem in dem Maße, wie (3) die Sozialstruktur die

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Helmut Thome probaten Mittel nicht allen in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt. Der anomische Effekt wird umso stärker, je ungleicher die geeigneten Mittel unter den Aspiranten verteilt sind. Die Diskrepanz zwischen, einerseits, den kulturell ausgezeichneten und individuell angestrebten Zielen (die man nicht nur erreichen darf, sondern erreichen muss, wenn man persönliche Wertschätzung genießen will) und, andererseits, den nicht ausreichend verfügbaren Mitteln, ist der entscheidende Punkt in Mertons Anomie-Theorie. Unter dieser Voraussetzung gilt: „there is no longer a widely shared sense within the social system … of what goes and what does not go“ (Merton 1964, 226). Merton bezeichnet diese Konstellation als malintegration, als fehlerhafte Integration, nicht als disintegration. Die Folgen haben die Individuen oder einzelne Gruppen zu tragen; die „Gesellschaft“ kann sich in dieser Konstellation hinreichend stabil halten. Die Ungleichverteilung der Mittel ist in der kriminalsoziologischen Literatur häufig als Erklärung für die (mutmaßliche) Prävalenz kriminellen Verhaltens unter Angehörigen niederer sozialer Schichten herangezogen worden (auch von Merton). Diese Sichtweise greift aber in drei Punkten zu kurz. Erstens ist zu bedenken, dass auch die illegitimen Mittel ungleich verteilt sind (worauf schon Cloward früh aufmerksam gemacht hat), was für diejenigen, die auch hierin benachteiligt sind, den Einsatz körperlicher Gewalt besonders attraktiv machen dürfte, während höheren sozialen Schichten bspw. die verschiedenen Formen der Wirtschaftskriminalität leichter zugänglich sind. Die jeweils zugänglichen oder präferierten Delikte sind über die sozialen Gruppen unterschiedlich verteilt (wie auch die Entdeckungs- und Verurteilungschancen), die Häufigkeit ihres tatsächlichen Vorkommens – über alle Deliktarten summiert – wohl eher nicht, denn alle Gruppen sind einer Konkurrenzsituation unterworfen (s. Coleman 1987; Agnew 2015). Damit kommen wir zum zweiten Punkt: Zu beachten ist, dass sowohl die Art der kulturell vorgegebenen Ziele als auch deren Bandbreite das anomische Potenzial variieren lassen. Merton exemplifiziert die entsprechenden Bedingungskonstellationen vor allem am Beispiel der US-Gesellschaft, dem „American Dream“ mit seiner starken Betonung des monetären Erfolgs und des damit verbundenen Prestiges. „(I)n the American Dream there is no final stopping point. The measure of ‘monetary success’ is conveniently indefinite and relative. At each income level, …, Americans want just about twenty-five per cent more … In this flux of shifting standards, there is no stable resting point” (Merton 1968, 190).3 Diese Konstellation ist besonders anomieträchtig, da der „Erfolg“ hier nicht nur in absoluten, sondern auch – oder sogar primär – in relativen Größen gemessen wird: Erfolg hat man in dem Maße, wie man mehr erreicht als andere – notfalls eben auch mit illegitimen Mitteln. Der Wettbewerb um den größeren Erfolg (vgl. Durkheims Warnung vor der Entfesselung der Begierden) wird umso schärfer, je weniger alternative, aber ebenbürtig attraktive und legitime Ziele eine Kultur anbietet: Die Möglichkeit, den Misserfolg in einer Sache durch den Erfolg in einer anderen Sache zu kompensieren, entfällt oder wird stark reduziert. Da Geld multifunktional verwertbar ist und eine präzise Mess-Skala liefert, eignet es sich in besonderer Weise für die Zuschreibung von „Erfolg“ (Misserfolg) und die damit verbundene Zuteilung von Prestige und Status, die es für alle sichtbar symbolisch repräsentiert. Der Kampf um Positionsgüter und Statusränge wird zudem umso härter – und damit kommen wir zum dritten Punkt – je größer, über alle sozialen Schichten hinweg, die Zahl der Teilnehmer ist, die in ihn verwickelt sind (s. Hirsch 1980). Über Merton

3 Er weist aber auch ausdrücklich darauf hin, seine Theorie sei „not confined to the specific goal of monetary success“ (Merton 2000: 31).

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Anomietheorien hinausgehend ist anzunehmen: allgemein gleiche Zugangs- bzw. Teilhabechancen mindern den Druck nicht, können ihn sogar erhöhen (s. u., Abschnitt 3). Die (potenziellen) Verlierer können bestimmte Strategien entwickeln, diese Erfahrung zu bewältigen. Sie mögen sich trotz ihrer Frustrationen weiterhin konform zu den etablierten Werten und den anerkannten Mitteln verhalten. Sie können sich aber auch von den bisherigen Zielen und/oder den legitimen Mitteln abkehren – ersatzlos („Rückzug“) oder indem sie alternative, bspw. kriminelle Mittel einsetzen („Innovation“), evtl. auch alternative gesellschaftliche Ziele propagieren („Rebellion“). Merton schließt im Übrigen nicht aus, dass auch andere Ursachen zu hoher Anomie, also zu einem Mangel an Normbindung, führen können (Merton 1968, 217); er beansprucht auch nicht, dass alle Formen abweichenden Verhaltens mit seinem spezifischen Anomie-Konzept zu erklären seien (ebd., 232). Konzentriert man sich nicht auf Niveau-Unterschiede zwischen Regionen und Ländern, sondern auf Unterschiede zwischen einzelnen Individuen, spricht man häufig nicht mehr von „Anomie“, sondern (die griechische Ursprungsbedeutung einengend) von „Anomia“ und verwendet diesen Terminus als einen Sammelbegriff, der nicht nur mangelnde normative Bindungen, sondern weitere Merkmalsdimensionen, wie persönliche (Selbst-)Kontroll- und Orientierungsdefizite anspricht. Schon bei Merton finden sich Überlegungen in dieser Richtung bspw. in seinen positiven Kommentaren zu der berühmten AnomiaSkala von Srole (s. Merton 1968, 218; vgl. Merton 1964), die – neben anderen Varianten von Skalen (Fragebatterien) – seit den 1950er Jahren häufig in der sozialwissenschaftlichen Umfrageforschung eingesetzt worden ist (für Beispiele aus der jüngeren deutschen Forschungsliteratur siehe Legge 2010, Hövermann 2013).4

3. Gegenwärtig prominente Anomie-Theorien 3.1 Die Institutional-Anomie Theory (IAT) von Messner und Rosenfeld Messner und Rosenfeld haben ihre IAT seit Ende der 1980er Jahre in einer langen (kaum noch zu überblickenden) Serie von Aufsätzen und empirischen Forschungsarbeiten entwickelt und den jeweiligen Entwicklungsstand in sukzessiven Auflagen ihres Buches Crime and the American Dream (erste Aufl. 1994, fünfte Aufl. 2013; vgl. Hövermann et al. 2016) monografisch zusammengefasst. Sie bejahen Mertons Intention, kriminelles Verhalten bzw. die Häufigkeit seines Vorkommens mit dezidiert makro-soziologischen Konzepten zu erklären, die diskordante Beziehungen zwischen kulturellen und sozial-strukturellen Faktoren identifizieren. Sie halten jedoch Mertons Ansatz und vor allem dessen Rezeption und Anwendung in der kriminologischen Forschung für zu eng gestrickt. So stellen sie fest: „Merton’s theory largely ignores the relevance for crime of institutions other than the stratification system (e.g., the family, polity, education, religion) … A second major limitation of Merton’s analytical framework is that it focuses narrowly on the stratification of economic outputs (monetary rewards) and neglects 4 Hierzulande häufig aufgegriffene Vorschläge zur Operationalisierung des Anomie-Konzepts (bzw. von „Anomia“) liefern Fischer und Kohr (1980); s. http://zis.gesis.org/skala/Fischer-Kohr-Sozio-Politische-Einstellungen. Einen neueren Ansatz bieten Bjerregaard und Cochran (2008).

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Helmut Thome other important aspects of the economy” (Messner und Rosenfeld 2004, 87,88), wobei sie vor allem an die Austauschbeziehungen zwischen der Ökonomie und anderen gesellschaftlichen Teilsystemen bzw. Institutionen (wie z.B. Politik und Familie) denken. Die Autoren gehen davon aus, dass die institutionellen Arrangements, insbesondere das relative Gewicht der von der Wirtschaft vorgegebenen Handlungsziele und zugelassenen Verhaltensweisen im Vergleich zu den Handlungszielen und Verhaltensregeln, die in anderen funktional und institutionell differenzierten Handlungsbereichen gelten, auch zwischen den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern noch deutlich variieren und dass diese Varianz in erheblichem Maße zur Erklärung der unterschiedlichen Kriminalitätsniveaus in den verschiedenen Ländern beiträgt. (Entsprechendes gilt auch bezüglich der Erklärung historischer Trendentwicklungen innerhalb der einzelnen Länder). Merton hat sich bei der Beschreibung der Ziel-Mittel-Diskrepanzen und ihrer anomischen Implikationen am Modell des „American Dream“ orientiert, aber keine Konzepte vorgelegt, mit denen sich unterschiedliche Ausprägungen der Ziel-Mittel-Diskrepanzen und der – damit verbundenen – defizitären normativen Bindungen länderübergreifend erfassen lassen. Diese Lücke versuchen Messner und Rosenfeld mit ihrem Konzept der „institutional balance of power“ zu schließen. Dabei greifen sie auf einen Institutionen-Begriff zurück, wie ihn Talcott Parsons entwickelt hat: „Institutions refer to systems of rules intended to control behavior that have the distinctive quality of being ‚moral‘, i.e., rooted in some overarching value system“ (Messner et al. 2008, 167). Diese normativ und sozial generalisierten Verhaltensregeln geben für verschiedene gesellschaftliche Funktionsbereiche und die in ihnen spezifizierten sozialen Rollen die jeweils vordringlichen Handlungsziele sowie die legitimen Wege und Mittel vor, mit deren Hilfe sie erreicht werden sollen (unter Inanspruchnahme entsprechender Ressourcen, die die Sozialstruktur zur Verfügung stellt). Wie die verschiedenen Institutionen „funktionieren“ hängt einerseits von ihrer internen Struktur, andererseits aber auch von der „Machtbalance“ (balance of power) ab, die sich zwischen den verschiedenen Institutionen im Rahmen ihrer wechselseitigen Austauschbeziehungen herausbildet.5 Obwohl sie wechselseitig aufeinander angewiesen sind, können sich in diesem Geben und Nehmen Ungleichgewichte herausbilden, die sich auch auf der Akteursebene in den dominanten Formen der Bearbeitung von Rollenkonflikten zeigen, z.B. dann, wenn zu entscheiden ist, wie viel Zeit und Energie man für die berufliche Arbeit einsetzt und wie viel davon für die Familie oder für soziales Engagement. Eine zweite zentrale Konfliktdimension sehen Messner und Rosenfeld in den unterschiedlichen Handlungsorientierungen, die die Interaktionen innerhalb der verschiedenen Institutionen steuern, z.B. starkes affektives Engagement in der Familie versus affektiv-neutrales, kalkulatorisches Nützlichkeitsdenken in der Wirtschaft. Messner und Rosenfeld gehen davon aus, dass sich in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften ein funktionales Primat der Wirtschaft herausgebildet hat: eine „economic dominance in the institutional balance of power“, gekoppelt mit einem Komplex von Wertorientierungen „heavily tilted toward achievement orientation, universalism, individualism, and a pecuniary materialism“ (Messner u. Rosenfeld 2006). Je stärker diese Dominanz in einer Gesellschaft ausgeprägt ist, desto eher folgen die Individuen im Konfliktfalle den Erfordernissen ökonomischer Rollen. Darüber hinaus überlagern und verdrängen die dem ökonomischen Subsystem eigenen kalkulatorisch-egoistischen Handlungsorientierungen ihnen entgegenstehende Wertorientierungen und Verhaltensregeln inner-

5 Messner und Rosenfeld unterscheiden nicht klar zwischen „Institutionen“ und den gesellschaftlichen „Teilsystemen“, die sich in Prozessen funktionaler Differenzierung herausbilden; auf diese Problematik kann ich hier nicht eingehen.

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Anomietheorien halb anderer institutioneller Bereiche. Als Folge dieser Kommerzialisierungsprozesse konstatieren die Autoren: „The means of social action have been literally de-moralized, resulting in anomie. Under conditions of extreme anomie, the internalized restraints against crime are expected to be quite weak. Compliance with institutional norms, including legal norms, is thus dependent on the ‚secondary type of control,‘ i.e., the ‚calculation of advantage‘“ (Messner et al. 2008, 169). Die auf diese Weise vorangetriebene Erosion normativer (moralischer) Bindungen fördert nicht nur die Eigentums- und Wirtschaftskriminalität, sondern auch die Gewaltkriminalität. Die große Frage ist nun: Wie kann der Grad der ökonomischen Dominanz und die Stärke des damit verbundenen anomischen Potenzials als erklärende Variable in der einschlägigen empirischen Forschung operationalisiert, also mithilfe messbarer Indikatoren erfasst werden, und wie lässt sich seine spezifische Einflussstärke im Zusammenwirken mit weiteren Bestimmungsfaktoren ermitteln? Messner und Rosenfeld, aber auch etliche andere Autoren haben inzwischen eine Reihe empirischer Studien mit unterschiedlichen Analyse-Designs und Datenquellen – und auch mit unterschiedlichen, teils widersprüchlichen Ergebnissen – vorgelegt.6 Es ergeben sich erhebliche methodologische Probleme, wenn die vielfältigen, auf unterschiedlichen Ebenen und für verschiedene institutionelle Bereiche theoretisch explizierbaren Einflussfaktoren, die ja häufig wechselseitig aufeinander einwirken, in ein empirisch realisierbares Erklärungsmodell so übertragen werden sollen, dass die spezifischen Einflussgewichte einzelner Variablen bestimmbar werden. Einen knappen Einblick in diese Problematik bietet Messner (2003, S. 104-107); umfassender verdeutlicht werden Schwierigkeiten und Möglichkeiten der empirischen Überprüfung der IAT-Hypothesen u.a. in dem komplexen Analyse-Design, den Baumer und Gustafson (2007) vorstellen. Schon in einer ihrer frühen Studien haben Messner und Rosenfeld (1997) die in 48 ökonomisch hochentwickelten Ländern gegebenen Homizidraten in Abhängigkeit vom jeweils vorliegenden Grad an „Dekommodifizierung“ untersucht, der anhand des Umfangs und bestimmter weiterer Merkmale wohlfahrtsstaatlicher Leistungen bestimmt werden kann, durch die materielle Grundbedürfnisse unabhängig von der in den Markt eingebrachten persönlichen Arbeitsleistung abgedeckt werden (s. Esping-Andersen 1990; Thome/Birkel 2007, Kap. 6.2): Je höher die „Dekommodifizierung“, umso stärker das regulatorische Gewicht des Staates im Verhältnis zur Ökonomie und umso geringer (folglich) die Homizidrate. Die Daten der erwähnten Studie stützen diese Hypothese (unter Berücksichtigung einer Reihe von Kontrollvariablen), ebenso eine Untersuchung von Savolainen (2000), die einen wichtigen Befund hinzufügt: Der positive Effekt der Einkommensungleichheit auf die Homizidraten unterschiedlicher Länder fällt umso schwächer aus, je umfänglicher die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sind. Der IAT-Ansatz postuliert nicht nur (wie andere kriminologische Ansätze auch), dass Armut und ökonomische Ungleichheit generell kriminelles Verhalten fördern, sondern liefert darüber hinaus die spezifischere Hypothese, dass das mit Armut und Ungleichheit gegebene kriminogene Potenzial sich umso eher in kriminellem Verhalten realisiert, je stärker in der jeweiligen Gesellschaft das funktionale Primat der Ökonomie gegenüber den anderen Institutionen ausgeprägt ist. Gene6 Den nach meiner Kenntnis umfassendsten Überblick über die einschlägigen Studien mit ihren unterschiedlichen Forschungsstrategien und Ergebnissen liefert Kittlestone (2012). Messner und Rosenfeld haben immer wieder verschiedene Studien mit positiven und negativen Ergebnissen bezüglich der IAT-Hypothesen zusammenfassend kommentiert, so z.B. in Messner u. Rosenfeld (2006). Einen neueren Überblick, gekoppelt mit einer eigenen umfassenden Studie, bieten Hughes et al. (2015) sowie – eher kritisch – Hirtenlehner et al. (2013); einen weiteren innovativen Ansatz liefern Enzmann et al. (2016).

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Helmut Thome rell lässt sich sagen: Die kriminogenen Folgen der verschiedenen Aspekte sozialer Schichtung hängen in erheblichem Maße von dem umfassenderen Geflecht institutioneller Zusammenhänge ab (Messner u. Rosenfeld 2004, 102). Erfahrbare materielle Defizite oder Misserfolge fallen weniger ins Gewicht, wenn die Akteure über ihre Einbindung in starke außerökonomische Institutionen alternative Handlungsziele entwickeln und generell stärkere moralische Bindungen an gegebene gesellschaftliche Normen aufbauen können.7 Hier gibt es Anschlussmöglichkeiten an weitere kriminologische Theorien, die bspw. die unterschiedlichen Ausprägungen „sozialer Desorganisation“ oder der „collective efficacy“ in den Blick nehmen, aber den übergreifenden makro-soziologisch zu konzipierenden Wirkungskomplex der institutional balance of power außer Betracht lassen (Veysey u. Messner 1999; Messner u. Rosenfeld 2006; Louderbeck 2015). Grundsätzlich befürworten Messner und Rosenfeld einen Mehrebenenansatz, der sowohl makro-strukturelle, situativ-lokale wie auch individuelle (personengebundene) Einflussfaktoren umfasst (s. hierzu die programmatischen Ausführungen in Messner et al. 2008, 173– 177, sowie die innovative Ausführung solcher Mehrebenenanalysen in Hirtenlehner et al. 2013 und Hoevermann et al. 2016). Vielversprechende Möglichkeiten hierfür sehen sie insbesondere im Hinblick auf eine Integration ihres Ansatzes mit Wikströms Situational Action Theory (Messner 2012). Abschließend noch drei Hinweise: (1) Der Ansatz der IAT ist nicht nur zur Erklärung kriminellen Verhaltens eingesetzt worden, sondern auch zur Erklärung des Aufkommens fremdenfeindlicher Einstellungen (s. Legge 2010; Hövermann et al. 2015). (2) Inzwischen werden zudem Versuche unternommen, den IAT in der Weise zu modifizieren und auszubauen, dass er auch auf die Situation in asiatischen Ländern angewandt werden kann (s. Messner 2015 mit Blick auf China). (3) In einem jüngst veröffentlichten Artikel (Thome 2016) habe ich versucht, die theoretische Basis des IAT-Ansatzes unter Rückgriff auf systemtheoretische Konzepte Luhmanns zu erweitern (vgl. Frerichs et al. 2008).

3.2 Agnews General Strain Theory (GST) Robert Agnew hat in den 1980er Jahren damit begonnen, die von ihm so bezeichneten „klassischen“ Strain-Theorien von Merton, Cohen sowie Cloward u. Ohlin zu korrigieren und zu erweitern. Dabei bezog er sich u. a. auf bereits vorliegende empirische Befunde, die zeigten, dass abweichendes Verhalten (delinquency) über alle soziale Klassen verbreitet sei (Agnew 2007). Er erachtete es für notwendig, die wahrgenommene, vor allem auf finanziellem Erfolg bezogene Ziel-Mittel-Diskrepanz in ein umfassenderes Strain-Konzept zu überführen.8 Dabei stützte er sich auf psychologische Forschungsergebnisse zur Stress-Bewältigung, aber auch auf bereits vorliegende kriminologische Ansätze, insbesondere die verschiedenen Varianten der sozialen 7 Die Stärke oder Schwäche nicht-ökonomischer Institutionen wird in den verschiedenen Studien mit einer Reihe weiterer Indikatoren erfasst. Die Stärke der Familie z.B. mit dem Anteil von Scheidungen im Verhältnis zur Zahl neu geschlossener Ehen pro 100.000 Einwohner, das Gewicht religiöser Bindungen über Mitgliedschaften in Kirchen und anderen religiösen Organisationen, das Gewicht der Politik über Wahlbeteiligung, Mitgliedschaften in Parteien oder Engagement in anderen Formen politischer Beteiligung. Das Gewicht des Erziehungsbereichs (education) erfassen einige Autoren mit dem Anteil an Hochschulabsolventen und ähnlichen Größen, was fragwürdig ist, wenn der Bildungsverlauf selbst immer stärker als Mittel zum beruflichen Erfolg angelegt ist (s. unten Abschn. 3). Vorschläge für ein mehrere Indikatoren zusammenfassendes Maß der „imbalance of institutional power“ bieten Hirtenlehner et al. (2013) sowie Hoevermann et al. (2016). 8 Der „Strain“-Begriff ist auch von Merton des Öfteren zur Kennzeichnung von Ziel-Mittel-Diskrepanzen herangezogen worden.

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Anomietheorien Kontroll- und Lerntheorien, von denen er sich andererseits auch wieder absetzt (Agnew 1992; 2000; 2001, 348 ff.). Er lässt makrosoziologische Verbindungen offen, betont aber: „The theory is written at the social-psychological level: It focuses on the individual and his or her immediate social environment“ (Agnew 1992, 48). Dabei konzentriert er sich auf „negative Beziehungen“, die eine Vielzahl von Strain-/Stress-Erfahrungen hervorbringen (Agnew 2001, 319 spricht von „many hundreds of types of strain“), die aber längst nicht alle zu abweichendem bzw. kriminellem Verhalten führen. Agnew versucht nun, die belastenden Erfahrungen typologisch zu klassifizieren und Schritt für Schritt diejenigen zu identifizieren, die spezifisch zu einem solchen Verhalten führen. Das komplexe Kategoriensystem, das er hierfür entwickelt hat (und das sich immer nur partiell in empirische Forschungsdesigns umsetzen lässt), kann hier nur in seinen groben Umrissen skizziert und mit einigen Beispielen illustriert werden.9 Agnew (1992) unterscheidet drei umfassende „Idealtypen“ von Strain: (1) das Nichterreichen positiv bewerteter Ziele; dies kann sich auf verschiedene Differenzen zwischen idealen Wünschen (Aspirationen), realitätsorientierten Erwartungen und tatsächlich Erreichtem beziehen; außerdem auf das Maß der Erfüllung von Gerechtigkeitskriterien und Fairnessregeln. (2) Der Entzug von positiv bewerteten „Stimuli“, z.B. der Verlust von Freunden, das Scheitern einer Ehe, Wegzug aus einer vertrauten sozialen Umgebung. (3) Die Konfrontation mit negativ bewerteten „Stimuli“, z.B. körperlichen und psychischen Bestrafungen und Misshandlungen, Mobbing und sonstige Degradierungen. Die Erfahrung von Strain führt in der Regel zu „negativen Emotionen“. Im Falle von Zorn (anger) und damit verbundener Schuldzuweisung (blame) werden aggressiv-korrektive Gegenreaktionen wahrscheinlicher, während Verzweiflung (despair) eher zu innerpsychischen Reaktionen (wie z.B. Depressionen) führt. Wiederholt auftretende („chronic“) Strain-Erfahrungen gleicher oder auch unterschiedlicher Art können zu kriminellen Dispositionen führen, die sich auch ohne akute Anlässe in entsprechende Handlungen umsetzen (ebd., 61 ff.). Grundsätzlich können Personen in sehr unterschiedlicher Weise mit ihren Strain-Erfahrungen umgehen. Agnew unterscheidet eine Vielzahl von kognitiven, konativen und emotiven Bewältigungsstrategien (ebd., 66–70). Ob es zu abweichendem bzw. kriminellem Verhalten kommt, hängt u.a. von folgenden Einflussfaktoren ab (ebd., 70–74): (1) Der Wichtigkeit der angestrebten, aber nicht erreichten Ziele/Werte für die Identität der betroffenen Personen sowie deren soziale und kulturelle Unterstützung. Dabei spielt auch eine Rolle, ob alternative Ziele/Werte kompensatorisch zur Verfügung stehen. (2) Den für Bewältigungsstrategien verfügbaren individuellen Ressourcen; dazu gehören auch Persönlichkeitsmerkmale wie Temperament, Intelligenz und Selbstbewusstsein, die Alternativen zu abweichendem Verhalten leichter erkennbar oder übersehbar machen. (3) Art und Ausmaß sozialer Unterstützung und Kontrolle. Agnew verweist dabei auch auf makro-strukturelle und (sub-)kulturelle Einflussfaktoren, die nicht nur die Verteilung materieller Ressourcen betreffen, sondern auch die Legitimierung kriminellen Verhaltens (Stichwort: Gewaltkulturen) sowie die Sichtbarkeit und kulturelle Deutung von Schamerfahrungen. Ein starkes kriminogenes Potenzial schreibt Agnew Strain-Erfahrungen vor allem dann zu, wenn sie von den Betroffenen (mehr oder weniger orientiert an entsprechenden sozialen Normen) als ungerecht angesehen werden (Agnew 2001, 327 ff.). In einer Auflistung von Strain9 Ob Agnews GST überhaupt noch als anomietheoretischer Ansatz einzuordnen ist, kann durchaus bezweifelt werden. Zwar gehört Mertons Anomie-Theorie zu den Vorlagen, aus denen heraus Agnew seinen Ansatz entwickelt, die spezifischen makrosoziologischen Bedingungskonstellationen und Erscheinungsformen der „Anomie“ im Sinne Durkheims oder Mertons spielen in der GST aber keine zentrale Rolle mehr.

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Helmut Thome Erfahrungen, denen er kein oder allenfalls ein schwaches kriminogenes Potenzial zuschreibt, nennt er u.a. „educational success, occupational success, and middle-class status. Although the inability to achieve these goals may result in strain of high magnitude, such strain is unlikely to be seen as unjust … the failure to achieve such goals is typically blamed on the victim“ (ebd., 340).10 Nun gibt es aber auch Studien, die zeigen, dass aus den damit verbundenen Demütigungen ein starkes Motiv erwachsen kann, Gewalt einzusetzen, um wenigstens darin Stärke und Überlegenheit zu demonstrieren (Thome/Birkel 2007, 334–340). Agnew selbst modifiziert bzw. erweitert die oben zitierte These, indem er dem Arbeitnehmerdasein innerhalb des sekundären Arbeitsmarktes ein kriminogenes Potenzial zuschreibt. „Such work commonly involves unpleasant tasks … little autonomy, coercive control, low pay, …, little prestige, and very limited opportunities for advancement … such work … may be seen as unjust … Crime is often an effective remedy to the problems associated with work in the secondary labor market“ (Agnew 2001, 345). Ein kriminogenes Potenzial schreibt er auch ganz allgemein dem Streben nach mehr und mehr Geld zu – vor allem deshalb, weil dieses Streben (anders als der angepeilte Bildungs- und Berufserfolg) nicht das Resultat konventioneller Sozialisation sei [?!] und zudem einem Ziel gelte, das leicht mittels krimineller Handlungen erreichbar sei (ebd., 343). Agnew nennt noch eine Reihe weiterer Konstellationen, die Strain-Erfahrungen mit kriminogenem Potenzial hervorbringen, darunter „abusive peer relations“ und das Erfahren von Vorurteilen und Diskriminierungen, die auf zugeschriebenen Merkmalen wie der ethnischen Zugehörigkeit beruhen. Abschließend lässt sich feststellen: Agnews GST hat den Einblick in die Vielfalt der individuell erfahrbaren Strain-/Stress-Konstellationen und in deren kriminogenes oder eher nicht-kriminogenes Potenzial erheblich erweitert – fast ins Uferlose. Agnew selbst räumt ein: „GST is so broad that researchers have little guidance as to the specific types of strain to examine in their research.“ Zudem räumt er ein, dass die zahlreichen, immer wieder neu aufgelisteten Einflussfaktoren häufig nicht theoretisch begründet sind. „Rather, they represent ad hoc attempts to explain empirical findings or to incorporate other theoretical and empirical work into GST“ (ebd., 328). Fortschritte in dieser Richtung sind auch bei der Lektüre jüngerer Arbeiten kaum erkennbar (s. die eher spekulativen Anmerkungen hierzu in Agnew 2015, 223 ff); dabei bleiben makro-soziologische Einflussfaktoren, deren Einbeziehung den soziologischen Gehalt des Ansatzes erhöhen könnten, weiterhin kaum berücksichtigt. Soweit ich sehe, lässt sich der GSTAnsatz am ehesten dann fruchtbar anwenden, wenn es darum geht, das differentielle Vorkommen kriminellen Verhaltens unterschiedlicher sozialer Gruppierungen (bspw. Männer vs. Frauen, s. Broidy u. Agnew 1997) oder in verschiedenen Phasen des Lebenslaufs (s. Agnew 1997) zu erklären.

10 Laut Agnew (2001, 340) wird die von Merton hervorgehobene Strain-Erfahrung (das Nicht-Erreichen ökonomischer Ziele aufgrund fehlender Mittel) von den Betroffenen in der Regel nicht als ungerecht interpretiert; außerdem sei ihr situativer Kontext durch hohe soziale Kontrolle gekennzeichnet; beides senke die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens. Einen differenzierten Überblick hierzu bietet Agnew (2015).

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4. Eigene Arbeiten des Autors

Aussagehalt und Gültigkeit makro-soziologischer Erklärungsansätze (wie z.B. der oben skizzierten IAT) sollten nicht nur in querschnittlichen, sondern auch in längsschnittlichen Untersuchungen (also in historischer Perspektive) erhellt und belegt werden (s. z.B. Messner et al. 2011; Thome 2001). Dies hat Durkheim schon ganz klar gesehen und auch praktiziert. Ich möchte in diesem Abschnitt vor allem zwei empirische Studien kurz vorstellen, in denen ich versucht habe, an Durkheimsche Überlegungen anzuknüpfen und diese mit IAT-Konzepten zu verbinden. Die erste Studie (Thome 2002; 2010a) untersucht die Entwicklung der Gewaltkriminalität (in Form gefährlicher Körperverletzungen) in Deutschland zwischen 1883 und 1902 auf der Basis entsprechender Daten der Verurteiltenstatistik des Deutschen Reiches aus rund 1000 Stadtund Landkreisen. Die Deliktrate nimmt in dem genannten Zeitraum reichsweit um mehr als 100 Prozent zu; ein ähnlicher Zuwachs wird für die Einwohnerschaft der Stadtgemeinden registriert, während der Anteil der Landbevölkerung (bei etwa gleichbleibenden absoluten Zahlen) sinkt. Die parallelen Trendentwicklungen von (zunehmender) Urbanisierung und (zunehmender) Gewaltentwicklung könnten zu der Vermutung führen, dass städtische Lebensbedingungen eher als ländliche die Gewaltkriminalität fördern. Auf diese Weise würde eine der zentralen Thesen Durkheims infrage gestellt, der zu folge die Häufigkeit persönlicher Gewaltanwendungen mit der Erosion kollektivistischer gesellschaftlicher Strukturen (also mit zunehmender Individualisierung) abnimmt.11 In meiner Studie konnte ich aber zeigen, dass während des Beobachtungszeitraums die (ansteigenden) städtischen Deliktraten (bei Kontrolle landesspezifischer Effekte) durchgängig rund 20 % unterhalb der (ansteigenden) ländlichen Deliktraten lagen. Die Differenz erhöhte sich auf nahezu 40 %, wenn zusätzlich die (positiven) Effekte des Bevölkerungswachstums (als Indikator für rapiden sozialen Wandel) statistisch neutralisiert wurden. Dieser Befund zeigt, wie wichtig es ist, analytisch zwischen prozess- und strukturbedingter Anomie (s. Durkheim) zu unterscheiden und ihre jeweiligen Effekte mithilfe von Untersuchungsstrategien erkennbar zu machen, die längs- und querschnittliche Betrachtungsperspektiven kombinieren.12 „Urbanisierung“ als Prozess mag (in Kombination mit sonstigen Strukturveränderungen) anomische Konsequenzen zeitigen und zu einem Anstieg krimineller Gewalt beitragen; ein höherer Grad erreichter „Urbanität“ (weniger Kollektivismus) kann dennoch Gewalt mindernd wirken. Die multivariate Analyse wurde durch Hinzuziehen weiterer Variablen (zur demografischen und ökonomischen Entwicklung sowie zu ethnischen Konfliktlagen und konfessionellen Zugehörigkeiten) ergänzt. Hinzugezogen wurde auch ein zusätzlicher Indikator für das relative Gewicht kollektivistischer versus individualistischer Strukturkomponenten: die in den jeweiligen Kreisen gegebene Geburtenrate. Sie erwies sich in den entsprechenden Regressionsmodellen als stärkste Prädiktorvariable: Je niedriger die Geburtenrate

11 In kollektivistischen Gesellschaften, so Durkheim, erfährt das „Kollektiv“ eine höhere Wertschätzung als die ihm (meist per Geburt) zugehörenden Individuen. Die segmentär stratifizierte Feudalgesellschaft (deren Strukturelemente teilweise noch in das 19. Jh. hineinragen) enthält ein besonders gewaltaffines Potenzial dadurch, dass eine strikte soziale Hierarchie mit einem Ehrenkodex verbunden ist, der das Maß der Ehre über unterschiedliche Gruppen (Stände) differentiell verteilt und im Falle von Ehrverletzungen Sühne- und Rache-Handlungen vorschreibt. 12 Zu den methodologischen Aspekten s. den kurzgefassten Überblick in Thome u. Messner (2015) sowie die weiteren Beiträge in dem von diesen Autoren herausgegebenen Themenheft des IJCV.

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Helmut Thome umso niedriger die Gewaltkriminalität – ein starker Beleg zugunsten von Durkheims Thesen über die Gewalt mindernden Effekte erodierender kollektivistischer Gesellschaftsstrukturen. Ein Blick auf die weitere historische Entwicklung lässt hier allerdings Zweifel aufkommen: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts steigen in den westlichen Industriegesellschaften die Gewaltdelikte deutlich an (s. Eisner 2003; Thome u. Birkel 2007), obwohl in dieser Zeit die Individualisierung sicherlich noch weiter vorangeschritten ist. Man kann hier zunächst wieder auf anomische Konsequenzen rapider gesellschaftlicher Veränderungen (also auf mögliche Prozesseffekte) verweisen, aber anders als Ende des 19. Jahrhunderts liegen die Deliktraten in den größeren Städten (im Querschnittvergleich) nun deutlich über denen in den kleineren Gemeinden. Einen in sich stimmigen Erklärungsansatz gewinnt man dennoch, wenn man eine weitere analytische Unterscheidung hinzunimmt, die Durkheim vorgeschlagen hat: die Unterscheidung von „kooperativem“ (oder „moralischem“) versus einem „exzessiven“ (oder „egoistischen“) Individualismus: Der mit der Erosion kollektivistischer Strukturen einhergehende Rückgang innergesellschaftlicher Gewalt setzt sich langfristig nur in dem Maße fort, in dem der kooperative Individualismus nicht durch den egoistischen Individualismus überlagert oder abgelöst wird. Ich habe versucht, Durkheims Überlegungen zum egoistischen Individualismus und zur chronischen Anomie in einem Konzept des „desintegrativen Individualismus“ zusammenzuführen (s. Thome 2007; 2010b). Die verschiedenen Dimensionen und Komponenten dieses Konzepts (das inzwischen teilweise auch in den IAT-Ansatz eingebaut worden ist, s. Messner et al. 2008; Messner 2015) können hier aus Platzgründen nicht näher erläutert werden. Der kooperative Individualismus gründet sich auf universalistische Prinzipien der Solidarität und Gerechtigkeit, auf Sympathie und Respekt für den jeweils anderen unabhängig von dessen Herkunft. Im desintegrativen Individualismus wird die Spannung zwischen Gemeinsinn und Selbstbestimmung einseitig zugunsten einer hedonistisch geprägten Selbstbezogenheit aufgelöst. Als soziale Praxis stellt sich der exzessive Individualismus als rigorose Verfolgung persönlicher Interessen dar, wobei die anderen vor allem als Mittel zum eigenen Zweck dienen. Es ist natürlich schwierig, dieses Konzept in empirischen Untersuchungen zur Kriminalitätsentwicklung zu operationalisieren, vor allem, wenn man sich dabei auf Daten der offiziellen Statistik stützen muss. Eher heuristisch sind diese Konzepte in einer umfassenden, Länder vergleichenden Analyse der Entwicklung der Gewaltkriminalität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Thome u. Birkel (2007) herangezogen worden. In einer späteren (und thematisch enger eingegrenzten) Studie haben Thome u. Stahlschmidt (2013) eine quantitative Operationalisierung bestimmter desintegrativ-individualistischer Strukturelemente vorgenommen, um deren Effekte mithilfe statistischer Analysemodelle ermitteln zu können. Dieser Versuch soll hier noch kurz skizziert werden: Die Studie stützt sich auf Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik zur Häufigkeit von Körperverletzungs- und Raubdelikten in den Jahren 2005–2007, die für alle 413 Stadt- und Landkreise Deutschlands zur Verfügung stehen. Neben etlichen Standard-Variablen kriminalsoziologischer Aggregatdatenanalysen – wie Urbanisierungsgrad und relative Armut – haben wir den Datensammlungen des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschungen weitere Indikatoren entnommen, mit denen wir versucht haben, ein hypothetisches Korrelat zum desintegrativen Individualismus zu konstruieren. Ausgangspunkt war die Annahme, dass die derzeit ablaufenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse (in Richtung einer Wissens- und Informationsgesellschaft) diese Form des Individualismus stärker als dessen kooperative Variante befördern. Wie weit diese Prozesse in den einzelnen Kreisen (oder auch übergreifenden Regio-

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Anomietheorien nen) fortgeschritten sind, haben wir anhand der folgenden vier Indikatoren zu erfassen versucht: (a) Anteil der Hochqualifizierten (mit mindestens Fachschulreife) unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, (b) Anteil der Gymnasialschüler gemessen an der Gesamtschülerzahl, (c) Anteil der Zugezogenen plus Anteil der Fortgezogenen an der Gesamtbevölkerung (residentielle Mobilität), (d) Anteil der Ein-Personen-Haushalte bereinigt um den Alterseffekt. Alle vier Variablen sind hoch miteinander korreliert, sodass wir sie in unserer Studie per Hauptkomponentenanalyse zu einem Faktor zusammengefasst haben. Den beiden ersten Indikatoren wird in kriminologischen Untersuchungen normalerweise kein gewaltförderndes Potenzial zugeschrieben. Es lassen sich aber Argumente für die Annahme anführen, dass die Bildungsexpansion den individualisierten Wettbewerb um berufliche Positionen und ökonomischen Erfolg in einer Weise verschärft, die den desintegrativen Individualismus befördert. So ist zum Beispiel zu erwarten, dass „Bildungsverlierer“ umso stärker degradiert werden (in der Fremd- wie in der Eigenwahrnehmung), je mehr „Gebildete“ ihnen gegenüberstehen. Expressive Mittel der Selbstbehauptung – wie der körperliche Gewalteinsatz gegenüber anderen Personen – können dann eher an Attraktivität gewinnen. Unsere Regressionsanalysen kommen denn auch tatsächlich zu dem Ergebnis, dass der so konstruierte Desintegrationsfaktor die Gewaltkriminalität (Körperverletzungsdelikte stärker als Raubdelikte) unabhängig von Wohlstandsbzw. Armutsniveaus, Urbanisierungsgrad und etlichen anderen Kontrollvariablen signifikant ansteigen lässt (mit Einschränkungen, je nach berücksichtigten Kontrollvariablen, bei den ostdeutschen Kreisen). Daraus ergibt sich kein Verdikt gegen die Bildungsexpansion und eine damit verbundene Verbesserung der Chancengleichheit. Allerdings sollte man evtl. auftretende problematische (anomische) Nebeneffekte, die sich vor allem aus dem verschärften individualisierten Wettbewerb ergeben, nicht übergehen. Freilich wären weitere Untersuchungen hierzu mit Daten anderer Länder und Regionen erforderlich. Zudem sollten längsschnittliche Untersuchungen über längere Zeiträume auch dazu genutzt werden, evtl. vorliegende gegenläufige Tendenzen zu registrieren, die eine kooperative Form des Individualismus fördern könnten (s. z.B. den Abbau autoritärer Familienstrukturen und die Entwicklung neuer Formen politischer Beteiligung und sozialen Engagements). An dieser Stelle sei noch auf ein weiteres Konzept hingewiesen, mit dem sich kriminogene Potenziale identifizieren lassen und das sich ebenfalls aus Durkheims Überlegungen zu verschiedenen Formen gesellschaftlicher Fehlregulierungen gewinnen lässt. Er selbst hat es aber nur andeutungsweise unter dem Etikett des „Fatalismus“ in seinem Selbstmord-Buch eingeführt: als eine Form der „Überregulation“, die er von der anomischen „Unterregulation“ absetzt (Durkheim 1990, 318). Ich habe es unter dem Etikett eines „regressiven Kollektivismus“ rekonstruiert, der sich parallel, aber auch in Reaktion auf die Ausbreitung des desintegrativen Individualismus herausbilden kann. Bisher habe ich hierzu noch keine empirische Studie vorgelegt, sondern das Konzept lediglich als Interpretationshilfe zum Verständnis des Rechtsextremismus vorgestellt (Thome 2011). Es lässt sich aber auch zur Deutung weniger radikaler Formen rechts-populistischer Politik-Bewegungen heranziehen, denen Individualisierung, Pluralisierung und materielle sowie symbolische Status-Unsicherheiten zu weit gehen und die deshalb eine Rückkehr zu kollektivistischen Gemeinschaftsformen einfordern, zu einer „Solidarität aus Ähnlichkeit“ (Durkheim) drängen. Zu den Äußerungsformen des regressiven Kollektivismus gehören Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, eine Ideologie der natürlichen oder kulturellen Ungleichwertigkeit – in den extremeren Erscheinungsformen gekoppelt mit einer Missachtung demokratischer Verfahrensregeln und individueller Freiheitsrechte.

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Helmut Thome In einigen Fällen geht damit eine ansteigende Gewaltbereitschaft einher, die sich vor allem gegen Minderheiten und gesellschaftliche Außenseiter sowie gegen Personen und Institutionen richten, die deren Rechte unterstützen.

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91 Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion Sonja Schulz

1. Einleitung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Konstrukt der Selbstkontrolle (engl. ‚self-control ‘) als Bedingungsfaktor von abweichendem und kriminellem Verhalten, prominent geworden in der kriminologischen Diskussion durch die General Theory of Crime (GToC) von Gottfredson und Hirschi (1990). Selbstkontrolle soll verstanden werden als Tendenz, kurzfristigen hedonistischen Impulsen zugunsten langfristiger Ziele zu widerstehen und die längerfristigen Nachteile unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung in eine Entscheidung einzubeziehen (vgl. Duckworth/ Steinberg 2015). Das hier besprochene Konstrukt wird in der Psychologie unter einer Vielzahl weiterer Bezeichnungen diskutiert, wie zum Beispiel Selbstregulation (Baumeister/Heatherton 1996), Selbstdisziplin, Willensstärke, Emotionskontrolle, Impulskontrolle (mit ihrem Gegenspieler Impulsivität), Belohnungsaufschub (‚Delay of Gratification‘, Mischel et al. 1989), Zeitpräferenz und ‚Executive Functioning‘ (Duckworth/Kern 2011). Selbstkontrolle wird hier als ein Merkmal angesehen, dass die kriminelle Neigung (engl. ‚criminal propensity‘) einer Person beeinflusst, jedoch nicht – wie häufig in der kriminologischen Diskussion – mit krimineller Neigung gleichgesetzt. Unter krimineller Neigung soll die Gesamtheit an persönlichen Eigenschaften einer Person verstanden werden, die ihre Tendenz, kriminell zu handeln, im Vergleich zur Allgemeinheit erhöhen. Neben Selbstkontrolle können dies Merkmale wie z.B. Empathiefähigkeit oder persönliche Moralvorstellungen sein. Kriminelle Neigung verhält sich zu Selbstkontrolle entsprechend als übergeordnetes Konstrukt höherer Ordnung.

2. Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der General Theory of Crime von Gottfredson und Hirschi (1990)

Prominent geworden als Prädiktor von Kriminalität ist das Konstrukt der Selbstkontrolle durch die ‚General Theory of Crime‘ von Gottfredson und Hirschi (1990). Die häufig auch als Selbstkontrolltheorie bezeichnete Theorie wurde zugleich extrem populär wie kontrovers diskutiert. „No book in the field of criminology is quoted, commented on, and critiqued as much as General Theory, and none has been both widely praised and damned as much” (Goode 2008, S. vii). In den fünf Jahren unmittelbar nach der Publikation der GToC waren Gottfredson und Hirschi die beiden meistzitierten Wissenschaftler in den wichtigsten kriminologischen

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Sonja Schulz Zeitschriften und auch anschließend waren sie immer unter den fünf bis zehn Meistzitierten (Cohn 2011). Die Popularität der Theorie mag unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass sie einen Versuch darstellte, von ‚klassischen‘ Kriminalitätstheorien (z.B. Bentham [1780] 1970) ausgehend den Befund relativ stabiler individueller Unterschiede in kriminellem Verhalten ebenso wie eine große Spannbreite von begangenen Taten einzelner Täter zu erklären, was klassische Kriminalitätstheorien für sich betrachtet nicht vermochten (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 87). Zu Kontroversen führten insbesondere der formulierte weitreichende Geltungsanspruch und die Messproblematik des zentralen Konstruktes einer niedrigen Selbstkontrolle. Die Selbstkontrolltheorie geht von einem rational handelnden Akteur aus, der durch die Kosten einer kriminellen Handlung von dieser abgeschreckt werden kann. Grundannahme ist, dass alle kriminellen und devianten Handlungen eine Gemeinsamkeit aufweisen: Sie sind gekennzeichnet durch eine schnelle Bedürfnisbefriedigung und kurzfristige Vorteile mit dem Risiko gravierender langfristiger Kosten wie Bestrafung (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 89). Der Anspruch der Selbstkontrolltheorie ist nicht nur kriminelles Verhalten, sondern jegliches Verhalten, das durch eine derartige Kosten-Nutzen-Struktur gekennzeichnet ist, zu erklären. Solche nicht-kriminellen Verhaltensweisen wären etwa instabile Job-Biografien, riskantes Sexualverhalten und ungesunde Verhaltensweisen (z.B. Rauchen, übermäßiger Alkoholkonsum). Gottfredson und Hirschis Kernargument ist, dass individuelle Unterschiede in kriminellem oder abweichendem Verhalten gemäß der Natur krimineller Akte auf individuelle Unterschiede in der Tendenz, impulsiv zu entscheiden und langfristige Kosten einer Entscheidung bei der Entscheidungsfindung zu vernachlässigen, zurückzuführen sind. Diese Disposition wird als niedrige Selbstkontrolle (engl. ‚low self-control‘) bezeichnet. „(T)he offender appears to have little control over his or her own desires. When such desires conflict with long-term interests, those lacking self-control opt for the desires of the moment, whereas those with greater selfcontrol are governed by the restraints imposed by the consequences” (Gottfredson/Hirschi 1990, S. xv). „What classical theory lacks is an explicit idea of self-control, the idea that people also differ in the extent to which they are vulnerable to the temptations of the moment” (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 87). Die Wirkweise von Selbstkontrolle in der Verursachung von kriminellen Handlungen ist in Abbildung 1 dargestellt. Abbildung 1: Selbstkontrolle im Entscheidungsprozess zu kriminellem Verhalten gemäß der GToC

  Ein Anspruch von Gottfredson und Hirschi ist es, stabile individuelle Unterschiede in kriminellem Verhalten sowie eine geringe Spezialisierung von Tätern auf bestimmte kriminelle Verhaltensweisen (Versatilität begangener Delikte) auf dem Fundament klassischer Kriminalitätstheorien zu erklären und damit die gemeinsame Varianz verschiedener Deliktarten (Gottfredson/ 92

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Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion Hirschi 1990, S. 94). Bereits am Erklärungsanspruch der Theorie entzündeten sich jedoch Debatten und es entwickelten sich unterschiedliche Lesarten. Hierbei ist zu betonen, dass diese verschiedenen Lesarten aus der Veröffentlichung der GToC im Jahr 1990 grundsätzlich ableitbar sind, somit keine von vorne herein als ‚falsch‘ anzunehmen ist: Einige Forscher folgten der oben beschriebenen Lesart, gemäß der die GToC einen begrenzten Erklärungsanspruch hat und konkrete Phänomene, nämlich das geringe Ausmaß an Spezialisierung von Tätern und die Stabilität individueller Unterschiede in der Kriminalitätsneigung möglichst sparsam erklären soll (Marcus 2004; Engel 2012). Andere Forscher folgten Aussagen von Gottfredson und Hirschi, die auf den Anspruch mit ihrer Theorie, kriminelles Verhalten vollständig zu erklären, (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 117) und einen alleinigen Geltungsanspruch schließen lassen (vgl. Pratt/Cullen 2000; Schulz et al. 2011; Ellwanger/Pratt 2014 als Beiträge jüngeren Datums).1 Gottfredson und Hirschi sprachen nämlich anderen Theorien wie psychologischen Ansätzen, der Straintheorie oder der sozialen Lerntheorie zusätzliche Erklärungskraft ab (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 64–81). Dementsprechend solle es auch keinen kausalen Einfluss von Merkmalen wie Arbeitslosigkeit, einer geringen sozialen Einbettung oder dem Vorhandensein delinquenter Peers auf Kriminalität geben, sondern Beziehungen solcher Merkmale zu kriminellem und abweichendem Verhalten sollen auf Selbstselektion von Personen mit niedriger Selbstkontrolle in entsprechenden Kontexte beruhen („the social consequences of low self-control“, Gottfredson/Hirschi 1990, S. 154–168). Laut Gottfredson und Hirschi sei ihr Konstrukt einer niedrigen Selbstkontrolle „the only enduring personal characteristic predictive of criminal (and related) behavior” (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 111). Anstelle einer klaren und eindeutigen Definition des Konstruktes der Selbstkontrolle, basierend auf der individuellen Tendenz, kurzfristigen Handlungsimpulsen zu folgen und langfristige Folgen in der Handlungsentscheidung zu vernachlässigen, finden sich in Gottfredson und Hirschis Publikation von 1990 jedoch fast ausschließlich Beschreibungen von Personen, die eine niedrige Selbstkontrolle aufweisen, oder niedrige Selbstkontrollfähigkeiten werden mit der Fähigkeit, kriminelle Handlungen zu vermeiden, gleichgesetzt.2 Wenn aber Selbstkontrolle nicht unabhängig von ihren Auswirkungen definiert und operationalisiert wird, kann Selbstkontrolle keinen Beitrag zur Erklärung von kriminellen und abweichenden Verhaltensweisen leisten. Auch in späteren Arbeiten behandelten Gottfredson und Hirschi abweichendes Verhalten so, als ob es selbst als Messung von Selbstkontrolle genommen werden kann (z.B. Hirschi/Gottfredson 1993). Forscher warfen den Autoren der GToC entsprechend vor, tautologisch zu argumentieren (Akers 1991). Gottfredson und Hirschi spezifizierten eine niedrige Selbstkontrolle als ein Konstrukt, das die kriminelle Neigung einer Person vollständig bestimmt. Dieser Logik folgend leiten Gottfredson und Hirschi (1990) im Umkehrschluss wiederum die Bestandteile einer niedrigen Selbstkontrolle („the elements of self-control“, Gottfredson/Hirschi 1990, S. 89–91) als Konstrukt krimineller Neigung aus den Merkmalen krimineller Handlungen ab, die sie zusätzlich zu einer 1 In späteren Veröffentlichungen beschrieben die Autoren der GToC erstere Lesart als die von ihnen intendierte (vgl. etwa Hirschi & Gottfredson 1993, S. 50; Hirschi 2004, S. 548; Gottfredson 2011, S. 139). 2 Häufig wird in diesem Zusammenhang folgende Textstelle zitiert: „This is the problem of self-control, the differential tendency of people to avoid criminal acts” (Gottfredson & Hirschi 1990, S. 87). Erst in späteren Arbeiten finden sich unabhängige Definitionen: „(S)elf-control (is) the ability to resist temptations of the moment in favor of long-term projects or prospects” (Hirschi 1995, S. 122). „Self-control theory is a rational choice theory where actors differ in the significance they place on long-term costs of their behavior” (Hirschi 2008, S. 66). „Self control is agency. It is the tendency to consider, however wittingly or unwittingly, however well or erroneously perceived, the long-term consequences of one’s acts and to behave accordingly“ (Gottfredson 2011, S. 139).

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Sonja Schulz unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung als maßgeblich ansehen. „In sum, people who lack selfcontrol will tend to be impulsive, insensitive, physical (as opposed to mental), risk-taking, short-sighted, and nonverbal, and they will tend therefore to engage in criminal and analogous acts ” (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 90). Diese Merkmale erfassen jedoch in sehr unterschiedlicher Güte den beschriebenen Mechanismus, der einer niedrigen Selbstkontrolle als Ursache verschiedener Arten von Delikten unterliegen soll. Während Impulsivität einen engen Bezug zu diesem Mechanismus aufweist (Daruna/Barnes 1993), stellen Selbstzentriertheit oder eine Präferenz für physische Aktivitäten entferntere Merkmale einer kriminellen Neigung dar (vgl. auch Marcus 2003, 2004). Kritiker merkten entsprechend an: „Gottfredson and Hirschi (1990) sometimes use self-control to refer to a loose amalgam that seems to include all individual difference factors that might be associated with crime’’ (Felson/Osgood 2008, S. 160– 161). Abbildung 2 verdeutlicht, wie Gottfredson und Hirschi (1990, S. 89–91) Selbstkontrolle als Konstrukt einer kriminellen Neigung spezifizieren. Mit abgebildet ist jeweils ein BeispielItem aus dem Messvorschlag von Grasmick et al. (1993) zur Operationalisierung der verschiedenen Dimensionen von Selbstkontrolle (hierzu unten) sowie der potenziell zugrunde liegende Mechanismus jeder Subdimension in der Kriminalitätsverursachung. Abbildung 2: Niedrige Selbstkontrolle als Konstrukt krimineller Neigung gemäß der GToC

  Da die Autoren der Selbstkontrolltheorie selbst keinen Messvorschlag zur Operationalisierung ihres zentralen Konstrukts vorlegten, mussten für die empirische Überprüfung der GToC erst Messungen erarbeitet werden. Analog zu den beiden Konzeptualisierungen von niedriger Selbstkontrolle in der GToC als Konstrukt krimineller Neigung einerseits und als der Tendenz, kurzfristig belohnenden Impulsen nicht widerstehen zu können andererseits, entwickelten sich primär zwei Messstrategien: Verhaltensmaße von Selbstkontrolle orientieren sich am zugrunde liegenden Mechanismus und versuchen eine niedrige Selbstkontrolle anhand von Verhaltensweisen zu erfassen, die kurzfristige Vorteile erbringen, aber mit dem Risiko langfristiger Nachteile einhergehen (‚analogous

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Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion acts’, Gottfredson/Hirschi 1990, S. 90). Als Indikatoren des Grades an Selbstkontrolle verwenden solche Maße etwa das Benutzen von Sicherheitsgurten beim Autofahren, wie häufig ein Befragter Alkohol konsumiert (Keane et al. 1993), das Beenden der Schule, das Abschließen eines Altersversorgungssparplans, das Erleben von Unfällen (Tittle et al. 2003) sowie das Begehen kleinerer Delikte in Kindheit, Jugend und dem Erwachsenenalter (Marcus 2003; vgl. Piquero 2008 für ein ausführliches Review). Das Verwenden solcher Verhaltensmaße bei der Erklärung von abweichendem und kriminellem Verhalten wurde als tautologisch kritisiert (Pratt/ Cullen 2000, S. 933), darüber hinaus ist die Konstruktvalidität solcher Maße fraglich (vgl. Schulz/Beier 2012, S. 252–253). Einstellungsmaße orientieren sich an Gottfredson und Hirschis (1990) Beschreibung von niedriger Selbstkontrolle als Konstrukt krimineller Neigung und intendieren Selbstkontrolle anhand der „elements of self-control“ (Gottfredson/Hirschi 1990, S. 89–91) zu erfassen. Das verbreitetste Einstellungsmaß ist die Selbstkontrollskala von Grasmick et al. (1993), die sechs Subdimensionen einer niedrigen Selbstkontrolle identifizierten: Impulsivität, Temperament, Risikoneigung, eine Präferenz für einfache Aufgaben, Selbstzentriertheit und eine Präferenz für physische (statt kognitive) Aktivitäten (vgl. Abbildung 2). Solche Maße von Selbstkontrolle werden ebenfalls kontrovers diskutiert (Hirschi/Gottfredson 1993; Marcus 2003, 2004; Piquero 2008; Schulz/Beier 2012). Kritikpunkte betreffen insbesondere die mangelnde Eindimensionalität der Skala, die unterschiedliche Vorhersagegüte der Subdimensionen bezüglich verschiedener abweichender Verhaltensweisen und die fragliche Theorie- und Mechanismenkonformität. Auch aufgrund der häufigen Überprüfung der Theorie anhand der Grasmick-Skala gestand Hirschi (2004) ein, dass die Beschreibung der „elements of self-control“ in der ursprünglichen Fassung der GToC ein Fehler war. „(W)e discovered the Big Five (plus one), introduced a language I did not understand, championed ideas contradicting our theory, and otherwise muddied the waters” (Hirschi 2004, S. 541). Eine Vielzahl bisheriger empirischer Studien zur Selbstkontrolltheorie beruht somit auf Messungen mit fraglicher Konstruktvalidität, sodass eine Einordnung bisheriger Befunde zur Bedeutsamkeit einer niedrigen Selbstkontrolle als Ursache von Kriminalität weiterhin schwerfällt.

3. Der Einfluss der GToC auf die spätere kriminologische Theoriebildung

Vor der Veröffentlichung der GToC von Gottfredson und Hirschi (1990) wurde selten explizit in den Blick genommen, dass Individuen sich in ihrer Reaktion auf kriminalitätsfördernde (oder hemmende) Faktoren unterscheiden könnten. Ein bedeutsamer Einfluss der GToC auf die spätere kriminologische Theorieentwicklung war es daher, dass modernere Theorien die Annahme individueller Unterschiede in krimineller Neigung integrierten oder sogar in den Mittelpunkt ihrer Theorie stellten. Drei prominente Beispiele sind die ‘Age-Graded Theory of Informal Social Control’ (AGTISC, Sampson/Laub 1993), die ‚General Strain Theory‘ (GST, Agnew 1992; Agnew et al. 2002) und die ‚Situational Action Theory‘ (SAT, Wikström et al. 2012). Wie diese Theorien die Idee von individuellen Unterschieden in krimineller Neigung und Selbstkontrolle integrierten, wird im Folgenden näher beschrieben.

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3.1 Selbstkontrolle und die Age-Graded Theory of Informal Social Control von Sampson und Laub Die AGTISC von Sampson und Laub (1993) teilt mit früheren Kontrolltheorien (z.B. Hirschi 1969) die Grundannahme, dass Individuen durch Bindungen an die konforme Gesellschaft von Kriminalität abgehalten werden können. Anders als frühere Kontrolltheorien fokussiert die AGTISC in besonderem Maße auf die Bedingungsfaktoren für Kontinuität und Wandel in kriminellem Verhalten. Obwohl sich ein Großteil der Arbeit von Sampson und Laub (1993) liest, als wäre sie bewusst als Gegensatz zur GToC mit ihrem Fokus auf die Gründe für Stabilität von abweichendem Verhalten formuliert3, teilt sie dennoch die Sicht, dass relativ stabile Unterschiede in der Neigung zu Kriminalität bedeutsam sind. „Our theoretical model thus acknowledges the importance of early childhood behaviors and individual differences in self-control but rejects the implication that later adult factors have little relevance” (Sampson/Laub 1993, S. 7, Literaturverweise entfernt). Auch wenn Sampson und Laub (1993) neben einer niedrigen Selbstkontrolle auch auf individuelle Merkmale wie ein schwieriges Temperament als Gründe für Verhaltenskontinuität eingehen (Sampson/Laub 1993, S. 124), werden niedrige Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in ihrer Argumentation zumeist gleichgesetzt (z.B. Sampson/ Laub 1993, S. 16; 136-137). Sampson und Laub gehen davon aus, dass sich Individuen mit einer frühen kriminellen Neigung in Zustände selektieren, die in besonderem Maße das Risiko für (weiteres) kriminelles Verhalten erhöhen, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Unverheiratetsein und das Vorhandensein von Vorstrafen. Dies schmälert auch die zukünftigen Lebenschancen (Sampson/Laub 1993, S. 142) und die Prozesse der Pfadabhängigkeit, Labeling und kumulative Benachteiligung führen zu einer weiteren Stabilität von kriminellem Verhalten über mögliche direkte Effekte einer kriminellen Neigung/einer niedrigen Selbstkontrolle hinaus (Sampson/Laub 1993, S. 123-138). Ferner gehen Sampson und Laub (1993) davon aus, dass konventionelle soziale Bindungen (wie die Ehe oder Erwerbsbeteiligung) eine moderierende Wirkung entfalten, indem sie die Gelegenheiten der Realisierung einer kriminellen Neigung reduzieren und die Kosten von delinquentem Verhalten erhöhen (Sampson/Laub 1993, S. 142–143). Individuen mit einer niedrigen Selbstkontrolle sollten entsprechend durch Bindungen an die konventionelle Gesellschaft in der Entfaltung ihrer kriminellen Neigung gehemmt werden, während sich diese bei Individuen ohne soziale Bindungen frei entfalten kann. Abbildung 3 illustriert, wie sich eine niedrige Selbstkontrolle im Prozess der Verursachung von Kriminalität gemäß der AGTISC von Sampson und Laub (1993) auswirken sollte. Auch die Selbstkontrolltheorie würde eine Selektion von Personen mit ausgeprägteren Selbstkontrollfähigkeiten in konventionelle Beziehungen vorhersagen und einen direkten Effekt von Selbstkontrolle auf die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens annehmen. Die AGTISC unterscheidet sich von der GToC durch die Annahme eines direkten, kausalen Effekts von Bindungen an die konventionelle Gesellschaft auf Kriminalität und in der Annahme eines moderierenden Einflusses solcher Beziehungen auf die Auswirkung einer niedrigen Selbstkontrolle.

3 Bereits im dritten und vierten Abschnitt der Einleitung zu ‚Crime in the Making’ beschreiben Sampson und Laub (1993), dass die Annahme der GToC, ein stabiles Merkmal wie eine niedrige Selbstkontrolle sei ausreichend zur Erklärung von Kriminalität im Lebensverlauf, sie maßgeblich zur Formulierung der AGTISC motiviert habe.

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Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion Abbildung 3:Selbstkontrolle als Ursache von Kriminalität in der AGTISC von Sampson und Laub (1993)

  3.2 Selbstkontrolle und die General Strain Theory von Agnew Die ‚General Strain Theory‘ sieht kriminelles Verhalten als Bewältigungsreaktion (engl. ‚coping‘) auf negative Emotionen wie Ärger, Frustration und Depression, die aus der Erfahrung von Belastung und Stress resultieren (Agnew 1992). Obwohl die GST empirisch gute Unterstützung gefunden hat (z.B. Mazerolle et al. 2000; Piquero/Sealock 2000), war eine Schwäche früher Versionen, dass sie nur schlecht in der Lage waren, individuelle Unterschiede in der Reaktion auf Stressoren zu erklären – also warum einige Personen auf einen Stressor mit Delinquenz reagieren und andere nicht. Obgleich sich die Idee, dass sich Individuen in ihren Coping-Ressourcen unterscheiden, bereits in frühen Versionen der GST findet (vgl. etwa Agnew 1992, S. 71–74), führten Agnew et al. (2002) ihre Annahmen über die Rolle individueller Unterschiede in der kriminellen Neigung von Personen weiter aus und spezifizierten diese als expliziten Bestandteil ihrer „extended version“ der GST. In dieser neueren Fassung der GST sollen die Persönlichkeitsmerkmale ‚negative Emotionalität‘ (engl.: ‚negative emotionality‘) und Zurückhaltung (engl.: ‚constraint‘) die Reaktion auf Stressoren moderieren. Diese persönlichen Coping Ressourcen steuern einerseits das Belastungserleben, insbesondere aber bestimmen sie die Tendenz, mit negativen Gefühlen und Delinquenz zu reagieren. Negative Emotionalität sollte delinquentes Coping begünstigen, da Individuen mit diesem Merkmal stärkere emotionale Reaktionen auf Belastungen haben und verstärkt zu Aggressionen neigen. Individuen mit wenig ‚constraint’ sollten bei Belastungen unter anderem verstärkt impulsgesteuert reagieren. „Such individuals are impulsive, are risk taking/sensation seeking, reject conventional social norms, and are unconcerned with the feelings or rights of others” (Agnew et al. 2002, S. 46). Einen moderierenden Einfluss begründen Agnew et al. (2002, S. 46) folgendermaßen: „(I)ndividuals low in constraint should be less aware of and concerned with the negative consequences of delinquent behavior, less able to cope through noncriminal means, and more disposed to criminal coping given their attraction to risky behavior” (Agnew et al. 2002, S. 46).

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Sonja Schulz Die Ähnlichkeit zwischen der Konzeptualisierung von ‚constraint’ von Agnew et al. (2002) und der von geringer Selbstkontrolle als Konstrukt krimineller Neigung bei Gottfredson und Hirschi (1990, S. 89-91) ist augenscheinlich und wurde auch von Agnew et al. (2002, S. 48) festgestellt: „Low self-control includes many of the specific traits that comprise negative emotionality and low constraint, such as impulsivity, a preference for risk-taking, irritability, and insensitivity to others“. Während ‚negative Emotionalität‘ ein eindimensionales Merkmal der Persönlichkeit zu sein scheint (vgl. Spielberger et al. 1983 für die Operationalisierung von State- und Trait-Anger), wird ‚constraint‘ als mehrdimensionales Konstrukt krimineller Neigung spezifiziert. Bereits die Unterscheidung zwischen ‚negative emotionality‘ und ‚constraint‘ ist für die GST aber analytisch von untergeordneter Bedeutung, denn Agnew votiert anstelle der Verwendung von möglichst eindimensionalen Maßen für zusammengefasste Maße von Coping-Ressourcen bei empirischen Überprüfungen. Agnew et al. (2002) verwenden bei der empirischen Überprüfung der ‚extended GST‘ ein zusammengefasstes Maß von negativer Emotionalität und constraint. Agnew (2013, S. 665) schlägt vor, aufgrund der insgesamt stark gemischten Befundlage zur Wirkung von Coping Ressourcen verschiedene Faktoren, die als Coping-Ressourcen wirken sollten, in Skalen zusammenzufassen, um das Gesamtausmaß an Coping-Ressourcen eines Individuums zu erfassen, oder – sollte dies nicht möglich sein – „researchers can measure the individual’s standing on factors that serve as a ‘‘marker’’ for a host of conditioning variables, with such markers including gang membership, living on the street, and perhaps designation as a ‘‘life-course persistent’’ offender“ (vgl. hierzu kritisch Schulz 2016). Abbildung 4: ‚Negative Emotionality/Constraint‘ als Ursache von Kriminalität in der extended GST von Agnew et al. (2002)

 

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3.3 Selbstkontrolle in der Situational Action Theory von Wikström Eine derzeit im kriminologischen Diskurs prominent vertretene Theorie ist die Situational Action Theory (SAT) von Wikström. Da die SAT die Interaktion von Person (bzw. deren krimineller Neigung) und sozialer Umwelt, bzw. der Situation oder dem Setting in den Mittelpunkt ihrer Erklärung von Kriminalität stellt („kinds of people in kinds of settings”, Wikström et al. 2012, S. vi) und der Wirkung von Selbstkontrolle besondere Aufmerksamkeit widmet (Wikström/Svensson 2010; Wikström/Treiber 2007), soll diese hier ausführlich diskutiert werden. Kriminelle Neigung wird in der SAT definiert als „tendency to see and, if so, to choose acts of crime” (Wikström et al. 2012, S. 15) und besteht aus zwei Teilkomponenten: den persönlichen moralischen Normvorstellungen und der Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Individuen mit geringer krimineller Neigung sollten größtenteils immun gegenüber Provokationen und Anreizen, sich abweichend zu verhalten, sein und bleiben auch in kriminogenen Settings bei konformem Verhalten. Diese grundlegende Annahme einer Interaktion zwischen krimineller Neigung und kriminogener Exposition suggeriert, dass persönliche Moral und Selbstkontrolle in der Verursachung von Kriminalität ähnlich ‚funktionieren‘ sollten. Dies wird auch durch die verbreitete Praxis, bei Tests der SAT zusammengefasste Maße der beiden Komponenten zu verwenden, nahegelegt (z.B. Wikström et al. 2012; Hirtenlehner 2015; Pauwels 2015). Tatsächlich ist die anzunehmende Wirkweise von Selbstkontrolle in der SAT äußerst komplex und widersprüchliche Hypothesen können abgeleitet werden, wie im Folgenden dargelegt wird. Die SAT nimmt an, dass die persönliche Moral bestimmt, inwiefern die Möglichkeit, sich kriminell zu verhalten, überhaupt in Betracht gezogen wird. Starke konforme Moralvorstellungen sollten als ‚moralischer Filter‘ wirken und Kriminalität vom Set möglicher Handlungsalternativen in einer Situation ausschließen. Über die Möglichkeit, sich kriminell zu verhalten, wird entsprechend nicht nachgedacht – konformes Verhalten erfolgt spontan und unreflektiert (Wikström et al. 2012, S. 16, 24–25)4. Externale Kontrollfaktoren (z.B. Abschreckung durch Sanktionen) sowie interne Kontrollfaktoren, definiert als das Ausmaß an Selbstkontrolle, sollten nur dann relevant werden, wenn Individuen über die Option, sich kriminell zu verhalten, reflektieren – Kriminalität also nicht durch den moralischen Filter ausgeschlossen wird (SATs ‚statement about conditional relevance of controls‘, Wikström et al. 2012, S. 25). Entsprechend kann aus der SAT die Hypothese abgeleitet werden, dass Selbstkontrolle mit moralischen Vorstellungen interagiert und nur bei schwacher Normverankerung ihre Wirkung entfaltet (z.B. Bruinsma et al. 2015; Hirtenlehner 2015; Hirtenlehner/Kunz 2016; Svensson et al. 2010; Wikström/Svensson 2010). Andererseits wurde die Hypothese aus der SAT abgeleitet, dass Selbstkontrolle nur bei einem mittleren Niveau an Moral Wirkung entfaltet – sowohl Personen mit stark konformen als auch Personen mit stark devianten Verhaltensnormen sollten nicht reflektieren und sich automatisch-spontan konform oder eben deviant verhalten (Antonaccio/Tittle 2008; Gallupe/Baron 2014). Und auch die Annahme, dass Selbstkontrolle nur bei starker Normverankerung wirkt, kann aus der SAT abgeleitet werden (Eifler 2015; Hirtenlehner 2015). Hierfür ist die SAT-eigene Definition von Selbstkontrolle verantwortlich. Die SAT definiert Selbstkontrolle als „process by which a person succeeds in adhering to a personal mo4 Dies ist eine verkürzte Darstellung, da der moralische Filter nur dann wirken sollte, wenn persönliche moralische Vorstellungen mit den situativen normativen Anforderungen (‚rules of the setting‘) in Einklang sind (SATs ‚principle of moral correspondence‘, Wikström et al. 2012, S. 25). Die Gleichsetzung von persönlicher Moral und moralischem Filter wird jedoch regelmäßig vorgenommen (z.B. Wikström & Svensson 2010; Svensson et al. 2010; Hirtenlehner & Kunz 2016), zumal konforme Settingnormen der ‚Normalfall‘ sein sollten.

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Sonja Schulz ral rule when it conflicts with the moral norms of the setting” (Wikström et al. 2012, S. 26). Dieser Selbstkontrollprozess wird wiederum gesteuert durch das momentane Ausmaß an Selbstkontrollfähigkeiten, welches einerseits bestimmt wird durch relativ stabile selbstregulative Fähigkeiten einer Person, andererseits durch situationale Faktoren wie Alkoholeinfluss oder Stresserleben. Personen mit hohen Selbstkontrollfähigkeiten sollten in der Lage sein, an ihren persönlichen Normvorstellungen festzuhalten, selbst wenn diese herausgefordert werden (z.B. durch eine besonders ‚günstige Gelegenheit‘ oder sozialen Druck in einem Setting). Dies setzt jedoch zunächst ein nennenswertes Ausmaß an persönlicher Moral voraus. Es kann sogar gefolgert werden, dass ein Konflikt zwischen den Settingnormen und den persönlichen Normvorstellungen nur dann besonders stark ausfallen kann, wenn auch die persönlichen Normvorstellungen besonders stark sind (der Normenkonflikt wird schwächer, wenn das Setting Devianz stark nahelegt, aber die persönliche Moral dem nicht stark entgegensteht und umgekehrt), sodass Selbstkontrolle besonders bei starken Moralvorstellungen (und stark kontrastierenden Settingnormen) wirken sollte5. In ähnlicher Weise lassen sich widersprüchliche Hypothesen über das Zusammenspiel von Selbstkontrolle und Abschreckung durch negative Folgen von Kriminalität aus der SAT ableiten. Ähnlich wie Gottfredson und Hirschi (1990) argumentieren Wikström und Treiber (2007), dass ein geringes Maß an Selbstkontrolle die Abschreckbarkeit durch negative Folgen von kriminellem Verhalten beeinträchtigt: „the weaker an individual’s ability to exercise selfcontrol, the stronger the deterrent cues must be to be a factor in the process of deliberate choice” (Wikström/Treiber 2007, S. 250). Aus der zusätzlichen Annahme, dass nur Akteure mit schwacher Bindung an konventionelle Normen über kriminelles Verhalten reflektieren, lässt sich entsprechend folgern, dass diese Wirkweise von Selbstkontrolle wiederum abhängig ist von den moralischen Überzeugungen der Akteure, also in statistischen Modellen eine Dreifach-Interaktion vorliegen sollte (für diese Lesart der SAT vgl. Cochran 2016; Gallupe/Baron 2014). Andererseits wird aus der SAT abgeleitet, dass sich ein Abschreckungseffekt nur bei Personen mit einer niedrigen Selbstkontrolle finden lässt (Pauwels et al. 2011; Hirtenlehner et al. 2014; Wikström et al. 2011). Dies erscheint zunächst unplausibel, wenn man sich den zugrunde liegenden Wirkmechanismus von niedriger Selbstkontrolle in Erinnerung ruft: verstärkt impulsiv zu entscheiden und langfristige Folgen zu vernachlässigen. Hierzu Wikström et al. (2011, S. 404): „On theoretical grounds, it may appear implausible that the weaker an individual’s self-control the more he or she would be influenced by deterrent effects. (…) If one, however, makes the assumption that deterrence is relevant for actors’ crime involvement only to the extent that they consider breaching the law, and further assumes that there is a negative correlation between an individual’s level of generalized self-control (self-perceived criminality) and his or her likelihood to consider committing acts of crime, the presented relationships are just what would be expected.” Die Annahme, dass Abschreckung nur bei Personen mit einer niedrigen Selbstkontrolle wirken sollte, wird in der SAT also nicht aus dem ihr zugrunde liegenden Wirkmechanismus abgeleitet, sondern daraus gefolgert, dass eine niedrige Selbstkontrolle als Teilbestandteil einer kriminellen Neigung spezifiziert und entsprechend aus der Korrelation mit Moral hergeleitet wird. Wikström et al. (2011, S. 418) fügen hinzu: „Ideally, these 5 Aus der SAT-eigenen Definition von Selbstkontrolle lässt sich ferner die Hypothese ableiten, dass Selbstkontrolle ein Individuum auch in die Lage versetzen sollte, an devianten Verhaltensnormen festzuhalten, selbst wenn die Setting-Normen konformes Verhalten vorschreiben – und damit kriminelles Verhalten wahrscheinlicher machen. Diese Hypothese stellt in der Theoriediskussion um die SAT jedoch einen Sonderfall dar (vgl. hierzu Kroneberg/ Schulz 2017).

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Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion two variables should be measured separately in a study of crime decision-making to unravel their joint and separate impact on an individual’s engagement in acts of crime.” Bei gleichzeitiger statistischer Kontrolle der Moral einer Person lässt sich ein stärkerer Abschreckungseffekt bei niedriger Selbstkontrolle daher auch gemäß der SAT nicht unbedingt erwarten.

4. Neuere Forschung zur Rolle von Selbstkontrolle als Ursache von Kriminalität

In der jüngeren empirischen Forschung finden sich nur noch selten explizite Tests der Selbstkontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi (1990). Dennoch spielt das Konstrukt der Selbstkontrolle weiter eine wichtige Rolle, und die Annahme, dass sich Individuen in ihrer kriminellen Neigung unterscheiden, ist aus der kriminologischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. In den letzten Jahren wird kriminelle Neigung seltener als Konglomerat von verschiedenen Persönlichkeitsmerkmalen verstanden, die ein Individuum unweigerlich kriminell werden lassen. Stattdessen betonen neuere Ansätze die individuelle Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit (‚agency‘) des Individuums (Gottfredson 2011; Paternoster/Pogarsky 2009; Nagin 2007). Neben Tests der Annahmen der SAT finden sich in den letzten Jahren entsprechend vermehrt empirische Studien, die die Wirkweise verschiedener Merkmale einer kriminellen Neigung und ihr Zusammenspiel mit anderen handlungstheoretischen Konstrukten genauer studieren (z.B. Thomas/McGloin 2013; Kroneberg et al. 2010) und es wird Kritik daran laut, kriminelle Neigung als zusammengefasstes Maß unterschiedlicher Merkmale zu erfassen (z.B. Felson/Osgood 2008; Pogarsky 2007; Schulz 2014, 2016). Einige Autoren votierten für eine weitere Untergliederung des Konstrukts der Selbstkontrolle. Ein Vorschlag betrifft die Unterscheidung zwischen Selbstkontrollfähigkeiten einerseits und der Motivation, Selbstkontrolle auszuüben andererseits – je nachdem ob langfristige Folgen bewusst und absichtlich oder primär aufgrund mangelnder Fähigkeit, diese zu berücksichtigen, in der Handlungsentscheidung vernachlässigt werden (Nagin/Pogarsky 2004; Tittle et al. 2004; Schulz/Beier 2012). Diese Arbeiten kommen zu dem Ergebnis, dass beide Teildimensionen unabhängige Effekte auf abweichende Verhaltensweisen haben, die Untergliederung somit sinnvoll ist. Bisherige Versuche, die Teildimensionen zu operationalisieren, können jedoch nicht zufriedenstellen: Die Studien von Nagin und Pogarsky (2004) und Tittle et al. (2004) waren auf die Analyse von Sekundärdaten mit fragwürdiger Konstruktvalidität angewiesen. Unveröffentlichte Analysen zu den Fragebogenitems der Skalen von Schulz und Beier (2012) zeigten anhand von kognitiven Pretests bei Kindern und Jugendlichen im Alter von etwa 13 Jahren, die häufig Zielpopulation kriminologischer Dunkelfeldstudien sind, dass diese Items aufgrund der abstrakten Formulierung und der Schwierigkeit der Aufgabenstellung für diese Zielgruppe nicht geeignet sind. Des Weiteren wurde das ‚self-regulatory strength‘ Modell (Baumeister et al. 2007) auf kriminologische Fragestellungen angewendet (Muraven et al. 2006). Dieses Modell sieht Selbstkontrolle wie einen Muskel an, der nach intensivem Gebrauch erlahmen und durch Training gestärkt werden kann (Muraven/Baumeister 2000; Muraven 2010). „After exerting self-control, the amount of self-control strength available for subsequent attempts is diminished, at least

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Sonja Schulz until the person has had some time to rest. Hence, exerting self-control diminishes further selfcontrol ability in subsequent activities” (Muraven et al. 2006, S. 266). Obgleich sich Personen auch in ihren grundlegenden Selbstkontrollfähigkeiten unterscheiden, können auch Personen mit hohen Selbstkontrollfähigkeiten einen Zustand der völligen ‚Selbstkontrollerschöpfung’ erleben (niedrige ‚State-Selbstkontrolle‘). Laut Muraven et al. (2006) kann die Unterscheidung zwischen Selbstkontrolle als Personenmerkmal und Selbstkontrolle als Zustand (engl. ‚trait‘ und ‚state self-control‘) in der kriminologischen Diskussion sinnvoll sein, da Selbstkontrollfähigkeiten (gemessen mit der Grasmick-Skala) und experimentell induzierte Selbstkontrollerschöpfung unabhängig voneinander Betrug bei einer Testaufgabe vorhersagen. Zudem findet das ebenfalls aus der Psychologie stammende Dual-Process Modell von Steinberg zunehmend Anwendung in der kriminologischen Forschung (Vazsonyi/Ksinan 2017; Burt et al. 2014; Burt/Simons 2013; Schulz 2016). Während Risikoaffinität und Impulskontrolle in Selbstkontrollmaßen wie der Grasmick-Skala zusammengefasst werden, argumentiert das Dual-Process Modell von Steinberg et al. (2008), dass beiden Konstrukten in der Kriminalitätsverursachung unterschiedliche Mechanismen zugrunde liegen, bei denen auch verschiedene Hirnregionen wirksam werden. Das sogenannte sozio-emotionale Teilsystem ist verantwortlich für das Suchen nach starken emotionalen Erfahrungen, die als belohnend empfunden werden (‚sensation-seeking‘). Risikoaffinität kann als Teilkomponente eines solchen Strebens nach Belohnungen und Aufregung angesehen werden und ist entsprechend ein Konstrukt, welches individuelle Unterschiede in der Motivation zu Risikoverhalten bezeichnet. Das sozio-emotionale Teilsystem interagiert mit dem kognitiven Kontrollsystem, das für Impuls- und Emotionskontrolle und das Einbeziehen von nachgelagerten Folgen in den Entscheidungsprozess zuständig ist. Impulsivität und Risikoaffinität können laut dem Modell von Steinberg zwar in den gleichen Personen zusammentreffen, aber sie konstituieren verschiedene Verhaltenstendenzen: „Impulsivity refers to a lack of self-control or deficiencies in response inhibition; it leads to hasty, unplanned behavior. Sensation-seeking, in contrast, refers to the tendency to seek out novel, varied, and highly stimulating experiences, and the willingness to take risks in order to attain them. Not all impulsivity leads to stimulating or even rewarding experiences (e.g., impulsively deciding to end a friendship), and not all sensation-seeking is done impulsively (e.g., purchasing advance tickets to ride a roller coaster or sky dive)” (Steinberg et al. 2008, S. 1765, Hervorhebungen und Literaturverweise entfernt). Unterschiedliche Entwicklungsverläufe des sozio-emotionalen Teilsystems und des kognitiven Kontrollsystems sollen mitverantwortlich für eine Periode gesteigerten Risikoverhaltens im Jugendalter sein. Die Aktivität im sozioemotionalen System steigt etwa ab Beginn der Pubertät kuvilinear stark an und erreicht ein Maximum im Alter von 15 bis 17 Jahren. Danach bleibt die Suche nach Aufregung größtenteils stabil. Das Impulskontrollsystem hingegen entwickelt sich durch Reifeprozesse im präfrontalen Kortex langsamer und linear bis ins junge Erwachsenenalter. Diese zeitliche Lücke in der Entwicklung beider Teilsysteme, mit gesteigertem ‚Sensation-Seeking‘ im Jugendalter bei gleichzeitig noch nicht ausgereiftem Kontrollsystem, führt zu einer Phase besonderer Vulnerabilität (Steinberg et al. 2008, S. 1764) und ist möglicherweise auch geeignet, den typischen Altersverlauf von kriminellem Verhalten mit zu erklären (Vazsonyi/Ksinan 2017). Auch zwei Arbeiten der Autorin dieses Beitrags befassen sich mit der Wirkweise von Risikoaffinität und Impulsivität im Entstehungsprozess von kriminellem Verhalten. Beide Arbeiten verdeutlichen die Wichtigkeit einer eindimensionalen und mechanismenkonformen Erfassung von Konstrukten einer kriminellen Neigung anstelle einer Verwendung zusammengefasster ‚Omni-

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Selbstkontrolle und kriminelle Neigung in der modernen kriminologischen Theoriediskussion bus-Maße‘: Schulz (2014) untersucht eine Kernannahme der GToC – ob individuelle Unterschiede in der Abschreckbarkeit von Kriminalität bestehen. Speziell wird untersucht, ob sich Individuen je nach Ausmaß an Impulsivität und Risikoaffinität darin unterscheiden, inwiefern sie aus kriminellen Erfahrungen (erfolgreiche Tatbegehung oder Polizeikontakt) lernen, und ihre Einschätzung der voraussichtlichen Entdeckungswahrscheinlichkeit bei einer Straftat anpassen. Die Ergebnisse zeigen, dass impulsive Individuen nach erfolgreicher Tatbegehung ihre Wahrnehmung der Entdeckungswahrscheinlichkeit stärker senken als Individuen mit hoher Selbstkontrolle. Impulsive Personen unterscheiden sich nicht signifikant von nicht-impulsiven in ihrer Reaktion auf Polizeikontakte, obgleich das Vorzeichen eines geschätzten Interaktionseffekts auch hier auf eine größere ‚Sprunghaftigkeit‘ bei Personen mit niedriger Selbstkontrolle hindeutet. Im Hinblick auf Risikoaffinität zeigt sich, dass nur risikoaverse Personen ihre Einschätzung der Entdeckungswahrscheinlichkeit nach ersten erfolgreichen Taten senken. Risikoaffine Personen zeigen ebenso eine geringere Reaktivität auf Polizeikontakte. Schulz (2016) befasst sich damit, inwiefern eine niedrige Risikoaffinität und Selbstkontrollfähigkeiten als Coping-Ressourcen gemäß der extended GST wirken. Es wird angenommen, dass beide Merkmale den Zusammenhang zwischen wahrgenommener Provokation und Gewaltverhalten mindern, aber aufgrund unterschiedlicher Mechanismen: Selbstkontrolle sollte als Coping-Ressource wirken, da weniger impulsive Individuen besser in der Lage sein sollten, aggressive Impulse aufgrund von Provokation zu kontrollieren und nicht in Gewalthandeln umzusetzen. Risikoneigung sollte gewalttätige Reaktionen wahrscheinlicher machen, da risikoaffine Personen weniger Furcht vor einer (weiteren) Eskalation und Viktimisierung durch den Provokateur haben dürften. Die empirischen Analysen zeigen, dass beide Merkmale als CopingRessource bei Provokation wirken. Dieses Ergebnis verdeutlicht somit ebenfalls, dass es sinnvoll ist, beide Merkmale analytisch zu trennen.

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107 Methoden der empirischen Kriminalsoziologie Jost Reinecke

1. Einleitung

In dem vorliegenden Beitrag sollen Methoden, die insbesondere bei der Analyse kriminalsoziologischer Fragestellungen Anwendung finden, vorgestellt werden. Zunächst wird dabei in Abschnitt 2 auf die Möglichkeiten der Erhebung von Daten im Hell- und Dunkelfeld sowie die unterschiedlichen Studiendesigns eingegangen. Dabei werden ausgewählte nationale und internationale Studien detailliert vorgestellt. In Abschnitt 3 erfolgt eine Darstellung spezieller Auswertungstechniken, den Wachstums- und Mischverteilungsmodellen, die bei kriminalsoziologischen Längsschnittuntersuchungen weit verbreitet eingesetzt werden. Abgeschlossen wird dieser Beitrag mit Ausführungen zu den eigenen Forschungstätigkeiten in Abschnitt 4, bei denen die beschriebenen Techniken der Datenerhebung und -auswertung zum Einsatz kommen.

2. Methoden der Datenerhebung 2.1 Hellfeld Unter dem Begriff Hellfeld wird das kriminelle Verhalten verstanden, welches den Institutionen der Strafverfolgung (Polizei und Justiz) entweder angezeigt oder anderweitig bekannt gemacht worden ist und entsprechend den gesetzlichen Vorgaben registriert wird. Die zentralen Registrierungen erfolgen über die polizeilichen Kriminalstatistiken (PKS), die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften sowie das Bundeszentralregister. In der PKS werden die der Polizei bekannt gewordenen rechtswidrigen Straftaten einschließlich der mit Strafe bedrohten Versuche, die Anzahl der ermittelten Tatverdächtigen und eine Reihe weiterer Angaben zu Fällen, Opfern oder Tatverdächtigen gesammelt und tabellarisch sowie grafisch aufbereitet.1 Die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften stellen die justiziellen Verläufe der angezeigten Delikte dar, beispielsweise Verfahrenseinstellungen oder Anklagen vor Gericht. Eine technische Erfassung und Verwaltung der prozessualen Verläufe wird in einigen Bundesländern mittlerweile durch die

1 Die PKS für die Bundesrepublik Deutschland wird vom Bundeskriminalamt auf der Grundlage der von den 16 Landeskriminalämtern gelieferten Landesdaten erstellt. Nicht enthalten sind Staatsschutzdelikte, Verkehrsdelikte, Ordnungswidrigkeiten, Finanz- und Steuerdelikte sowie Straftaten, die unmittelbar bei der Staatsanwaltschaft angezeigt werden.

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Jost Reinecke Mehrländer-Staatsanwaltschafts-Automation (MESTA) vorgenommen.2 Das Bundeszentralregister erfasst rechtskräftige Entscheidungen mit den Personendaten des Betroffenen. Es liegt also in der Kette der Hellfelddaten am Ende der polizeilichen und justiziellen Erfassung des kriminellen Verhaltens. Eine Nutzung der Daten zu Forschungszwecken ist nach dem Bundeszentralregistergesetz ausdrücklich mit Zustimmung der eingetragenen Personen gestattet (vgl. Schulte 2017).3 Allerdings müssen für eine Auswertung dieser Informationen die gesetzlich vorgeschriebenen Löschungsfristen beachtet werden, die den Analysezeitraum wesentlich einschränken. Die statistische Aufbereitung der PKS wird regelmäßig vom Bundeskriminalamt (BKA) vorgenommen. Durch die Sammlung der Daten aus allen Bundesländern steht hier ein nahezu lückenloses Datenmaterial zur Verfügung. Entwicklungen von kriminellem Verhalten, welches angezeigt wurde, lassen sich grundsätzlich mit Daten der PKS über Zeitreihen abbilden. Auswirkungen von Grundsatzurteilen und gesetzlichen Änderungen werden innerhalb der Zeitreihe deutlich (vgl. die Beispiele in Kersting/Erdmann 2015). Für die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaften ist eine bundesweite Zusammenfassung der Daten nicht gegeben. Auch wenn in einigen Bundesländern MESTA verwendet wird, ist eine individuelle Verlaufsanalyse praktisch unmöglich, da eine Verknüpfung mit der PKS nicht vorgesehen ist (vgl. Kersting/Erdmann 2015). Mit der PKS und dem Bundeszentralregister liegt eine bundesweite Erfassung von Straftaten und deren justizielle Konsequenzen vor. Allerdings muss dem selektiven Prozess der Datenerfassung höchste Aufmerksamkeit gewidmet werden: Die Anzeigebereitschaft kann einerseits von aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten geprägt sein (z.B. die Bedeutung von Kriminalität bei geflüchteten Personen) oder andererseits durch polizeiliches Handeln selber beeinflusst werden (z.B. wenn aufgrund terroristischer Anschläge verstärkt Grenzkontrollen durchgeführt werden). Empfehlenswert sind die Betrachtung und die Analyse von Hellfeldinformationen in Kombination mit den Erkenntnissen aus Studien, die das sogenannte Dunkelfeld der Kriminalität im Fokus ihrer Untersuchungen haben.

2.2 Dunkelfeld Unter dem Begriff Dunkelfeld wird im Gegensatz zum Hellfeld das kriminelle Verhalten verstanden, welches Polizei und Justiz in der Regel nicht bekannt ist. Wenn auch die Dunkelfelduntersuchungen den Anspruch haben, das gesamte Ausmaß delinquenten Verhaltens zu erfassen, also registrierte und nicht registrierte Delikte, so bleibt ein Teil dennoch „im Dunkeln“, da befragte Personen sich beispielsweise nicht erinnern (oder nicht erinnern wollen).4 Die fortwährende Entwicklung sozialwissenschaftlicher Erhebungsdesigns und Erhebungsmethoden wirkt sich auch auf die Konzeptualisierung erster Dunkelfeldstudien aus. Die klassischen Erhebungsmethoden (Beobachtung, Befragung, Experiment) können hierzu herangezogen werden, wenn auch mit deutlich unterschiedlicher Gewichtung. Schon aus forschungsethi2 Die Amtsanwaltschaften, Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften in den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein verwenden derzeit MESTA. 3 Das Bundeszentralregister wird auch genutzt, um bei Einstellungen im öffentlichen Dienst die Straffreiheit nachzuweisen (behördliches Führungszeugnis). 4 Hier wird auch vom absoluten oder doppelten Dunkelfeld gesprochen (vgl. Schwind 2016).

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie schen Gründen lassen sich Beobachtungsverfahren und experimentelle Anordnungen nur bedingt einsetzen und spielen allenfalls bei häufig vorkommenden und eher bagatellhaften Delikten eine Rolle (vgl. die Ausführungen in Prätor 2015). Die Befragung kann daher auch für die Dunkelfeldforschung als der „Königsweg“ (Scheuch 1973) bezeichnet werden. Grundsätzlich sind die Adressaten der Befragung zu unterscheiden: Täter, Opfer und Informanten. Letztere Gruppe (z.B. Eltern und Lehrpersonal) wird verwendet, wenn beispielsweise Personen nicht direkt befragt werden können. Viele Studien kombinieren auch die Rolle der befragten Personen in einem Fragebogen. Einerseits wird nach unterschiedlichen Delikten befragt, andererseits nach bestimmten Opfererfahrungen. Die Delinquenz des Partners/der Partnerin der befragten Person oder die der eigenen Kinder kann ergänzend abgefragt werden. Dem Einsatz von Vignetten (vgl. Dülmer 2014) kommt hier eine gewisse Sonderrolle zu, da hier Personen zu einer fiktiven, aber realistisch anzunehmenden Situation befragt werden und über die Intention, ein mögliches deviantes oder delinquentes Verhalten in dieser geschilderten Situation zeigen zu wollen, berichten sollen (vgl. Eifler 2009; Verneuer 2017).

2.3 Erhebungsdesigns und Studien Die empirische Überprüfung der innerhalb der Dunkelfeldforschung formulierten Fragestellungen erfordert zunächst eine Festlegung, welches Erhebungsdesign notwendig ist. Beziehen sich die Forschungsfragen auf einen Zeitpunkt, wird ein einmaliger Einsatz des Erhebungsinstrumentes ausreichen. Die empirische Untersuchung folgt damit einem sogenannten Querschnittdesign. Werden zeitbezogene Fragestellungen aufgestellt und ist eine damit verbundene Überprüfung kausaler Richtungen (Hypothesenprüfungen) angestrebt, wird der mehrmalige Einsatz des Erhebungsinstrumentes innerhalb eines Längsschnittdesign erforderlich. Das Längsschnittdesign lässt sich weiter differenzieren in das Trenddesign und das Paneldesign. Das Trenddesign entspricht einem regelmäßig wiederholten Querschnittdesign, wobei zu jedem Zeitpunkt neue Stichproben aus der betreffenden Grundgesamtheit gezogen werden und das gleiche (oder weitgehend ähnliche) Erhebungsinstrument eingesetzt wird. Hingegen findet im Paneldesign nur zu Beginn der Untersuchung eine Stichprobenziehung statt, um dann die gleichen Personen wiederholt über die Zeit mit dem gleichen Erhebungsinstrument zu befragen (vgl. Diekmann 2010, S. 304f.; Reinecke 2014, S. 21f.; Wittenberg 2015, S. 97f.).5 Der Informationsgehalt des Datenmaterials steigt vom Querschnitt- über das Trend- zum Paneldesign: Während Trendstudien auf der Aggregatebene Informationen über mehrere Querschnitte geben, also beispielsweise über Kriminalitätsentwicklungen der untersuchten Population Auskunft geben können, liegt der Mehrwert bei Panelstudien in den Informationen auf der Individualebene. Panelstudien eignen sich sowohl zur Untersuchung von intra- und interindividuellen Entwicklungsverläufen als auch zur Prüfung von kausalen Einflüssen von relevanten erklärenden Variablen auf diese Verläufe (vgl. hierzu im Detail Abschnitt 3).

5 In speziellen Varianten des Paneldesigns sind die Untersuchungspersonen nicht immer identisch. Bei einem alternierenden Panel wird die Stichprobe in Subgruppen eingeteilt, die dann abwechselnd in den Panelwellen befragt werden. Bei einem rotierenden Panel wird die Stichprobe in so viele Gruppen aufgeteilt, wie Panelwellen geplant sind. Bei jeder Panelwelle scheidet eine der bisherigen Gruppen aus und wird durch eine neue Gruppe ersetzt (vgl. Schnell et al. 2011, S. 235).

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Jost Reinecke Tabelle 1: Ausgewählte nationale und internationale Studien im Dunkelfeld

Nationale Studien Studie

Design

Grundgesamtheit

Zeitraum

Deutscher Viktimisierungssurvey 2012

Querschnitt

Bevölkerung > 16 Jahre

2012

Jugendstudien des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (KfN)

Querschnitte, Trend

Jugendliche aus verschiedenen Städten und Landkreisen

seit 1998

Kriminalität in der modernen Stadt (CrimoC)

Panel

Jugendliche (Münster/ Duisburg)

seit 2000

Chancen und Risiken im Lebensverlauf (CURL)

Panel

Jugendliche (Dortmund/ Nürnberg)

2012–2014

Freundschaft und Gewalt im Jugendalter (FuGJ)

Panel

Jugendliche (Kreis Reck2013–2016 linghausen)

Internationale Studien Crime Survey for England and Wales (CSEW)

Querschnitte, Trend

Bevölkerung > 16 Jahre; Jugendliche (10 bis 15 Jahre)

seit 1982;

National Crime Victimization Survey (NCVS)

Querschnitte, Panel

Bevölkerung > 12 Jahre

seit 1973

International Self-Report Delinquency Study (ISRD1-3)

Querschnitte, Trend

Jugendliche (12-16 Jahre)

1992–1993 2005–2006 2012–2016

Cambridge-Study in Delinquent Development

Panel

Jungen (London)

seit 1961

The Peterborough Adolescent and Young Adult Development Study (PADS+)

Panel

Jugendliche rough)

seit 2002

(Peterbo-

seit 2009

Tabelle 1 zeigt eine Übersicht von ausgewählten nationalen und internationalen kriminologischen Studien, die auf einem (sich wiederholendem) Querschnittdesign basieren oder ein Paneldesign (teilweise in Verbindung mit einem Kohortendesign) verwenden. Wenige Untersuchungen haben repräsentativen Charakter. Dazu gehört der „Deutsche Viktimisierungssurvey 2012“ (vgl. Birkel, Guzy, Hummelsheim, Oberwittler, Pritsch 2014), eine bisher in Deutschland nicht vorliegende Befragung von bundesweit repräsentativ ausgewählten 30.000 Personen zu ihren Viktimisierungserfahrungen, zur Kriminalitätsfurcht und zum Anzeigeverhalten. Mit Hilfe der Daten können differenzierte Aussagen zur Hellfeld-Dunkelfeld-Relation sowie deliktspezifischen Opfererfahrungen getroffen werden, um im Unterschied zur PKS ein realistischeres Bild über Umfang und Struktur von Kriminalität bekommen zu können (zu einzelnen Ergebnissen, vgl. Birkel et al. 2016). Im Hinblick auf die Erfassung selbstberichteten delinquenten Verhaltens von Jugendlichen (vorwiegend aus der neunten Jahrgangsstufe) hat bisher das Kriminologische Forschungsinsti110

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie tut Niedersachsen (KfN) die meisten Querschnitts- und Trenduntersuchungen durchgeführt. Ziel war es, zuverlässige Daten über Ausmaß und Struktur jugendlicher Devianz und Delinquenz zu gewinnen, auch wenn durch die gezielte Auswahl von Städten und Landkreisen keine bundesweit repräsentativen Daten vorliegen.6 Die Befragungen wurden aus ökonomischen und aus Gründen der besseren Erreichbarkeit überwiegend in der Schule als Klassenzimmerbefragungen durchgeführt (vgl. beispielsweise Baier et al. 2009; Baier/Rabold 2012). Die in Tabelle 1 genannten (und überwiegend noch laufenden) drei nationalen Panelstudien basieren ebenfalls auf Klassenzimmerbefragungen und haben einen regional begrenzten Auswahlrahmen. Die Studie „Kriminalität in der modernen Stadt“ (CrimoC)7 verfügt über ein abgeschlossenes Panel mit vier Wellen in Münster und ein seit 2002 laufendes jährliches (ab 2009 zweijährliches) Panel in Duisburg (zur genaueren Beschreibung, siehe Abschnitt 4). Die Studie „Chancen und Risiken im Lebensverlauf“ (CURL) ist eine in Dortmund und Nürnberg durchgeführte Kohorten- und Paneluntersuchung, die insgesamt drei Panelwellen in zwei Städten (Dortmund und Nürnberg) für zwei Alterskohorten (fünfte und neunte Jahrgangsstufe) realisieren konnte. Neben der Delinquenzentwicklung liegt der inhaltliche Schwerpunkt auf der Analyse sozialer Ungleichheitsprozesse (vgl. Reinecke et al. 2016).8 Das Projekt „Freundschaft und Gewalt im Jugendalter“ (FuGJ) ist eine bisher vier Panelwellen umfassende Studie in vier Städten im Kreis Recklinghausen, die über 2500 Jugendliche befragt hat. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der handlungstheoretischen Analyse der Zusammenhänge von gewaltlegitimierenden Normen, wahrgenommenen Anreizen, Gelegenheiten, Situationsdefinitionen und Selbstkontrolle sowie eine netzwerkanalytische Betrachtung von Prozessen unter Gleichaltrigen (vgl. Kroneberg et al. 2016). Alle aufgeführten Panelstudien (CrimoC, CURL, FuGJ) haben einen Auswahlrahmen, der sich auf Schulen bezieht, um die Jugendlichen der jeweils ausgewählten Alterskohorte möglichst vollständig erreichen zu können. Neben Einverständniserklärungen der Erziehungsberechtigten sind für die Wiederholungsbefragungen geeignete Datenschutzmaßnahmen notwendig, um die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten (vgl. für CURL Meinert/Sünkel 2013, S. 21). Werden die Jugendlichen über den schulischen Werdegang hinaus befragt, ist ein Wechsel des Befragungsmodus unter Beibehaltung des Erhebungsinstrumentes notwendig (vgl. beispielsweise Bentrup 2017 für CrimoC). Mittlerweile werden auch computergestützte Erhebungstechniken (Audio-CASI) in Klassenbefragungen eingesetzt, um die Reliabilität und Validität der Antworten zu verbessern (vgl. für FuGJ, Kroneberg et al. 2016, S. 358). Im internationalen Kontext sind zwei Studien mit jeweils repräsentativen Stichproben zu nennen: der „Crime Survey for England and Wales“ (CSEW) und der „National Crime Victimization Survey“ (NCVS, vgl. Tabelle 1).9 Der CSEW ist eine sich jährlich wiederholende Querschnittstudie für England und Wales und wird seit 1982 alle zwei Jahre und ab 2001 jährlich durchgeführt. Es werden Personen, die 16 Jahre und älter sind, sowohl nach ihren Opfererfahrungen als auch nach ihrem Delinquenzverhalten befragt. Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren, die aus dem gleichen Haushalt stammen, werden seit 2009 zusätzlich befragt (vgl. Fitzpatrick/Grant 2011). 6 Eine Ausnahme ist die deutschlandweit repräsentative Schülerbefragung 2007/2008 (vgl. Baier et al. 2009; Baier et al. 2010). 7 Die Abkürzung CrimoC bezieht sich auf den englischen Projekttitel Crime in the modern City. 8 Die Studie war ein Teilprojekt des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Sonderforschungsbereiches 882 (Thema: Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten) an der Universität Bielefeld. 9 Bis zum Jahre 2011 wurde der CSEW als „British Crime Survey“ (BCS) bezeichnet. Der NCVS hatte ursprünglich die Bezeichnung „National Crime Survey“ (NCS).

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Jost Reinecke Der NCVS wird seit 1973 durchgeführt und basiert auf einer Haushaltsstichprobe, wobei Personen ab einem Alter von 12 Jahren halbjährlich zu ihren Opfererfahrungen und ihrem Delinquenzverhalten befragt werden. Zur kontinuierlichen Berichterstattung werden die Erhebungen jeweils über das ganze Jahr verteilt (vgl. Bureau of Justice Statistics 2013). Wiederholte Befragungen in den Haushalten finden im Rahmen eines rotierenden Panels statt, sodass für kürzere Zeiträume auch intraindividuelle Verlaufsanalysen möglich sind (vgl. Wittenberg 2015, S. 108). Bei der „International Self-Report Delinquency Study“ (ISRD) werden Opfererfahrungen und Delinquenzverhalten von Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren aus ausgewählten Städten in mehreren (überwiegend europäischen) Ländern erhoben. Begonnen haben die Erhebungen in den Jahren 1992 und 1993 in 13 Ländern (ISRD-1), die zweite Erhebung wurde zwischen 2005 und 2007 in 31 Ländern (ISRD-2) und die dritte Erhebung in den Jahren 2012 bis 2015 in 34 Ländern (ISRD-3) durchgeführt (für einen Überblick vgl. Junger-Tas et al. 2003; JungerTas et al. 2010). Die Studie berücksichtigt explizit auch Kontextvariablen (Schule, Nachbarschaft), sodass neben Ländervergleichen auch hierarchische Modelle innerhalb eines Landes analysiert werden können.10 Die klassische entwicklungspsychologische Forschungsrichtung zur Untersuchung von Delinquenz im Altersverlauf ist die „Cambridge Study in Delinquent Development“, die im Jahre 1961 Daten über 411 Jungen aus einem durch hohe Kriminalitätsraten charakterisierten Londoner Stadtteil erhoben und diese Personen über ihren Altersverlauf bis zum 50. Lebensjahr kontinuierlich verfolgt hat (für einen Überblick vgl. Farrington et al. 2009).11 Auch wenn ein stark stratifiziertes und nicht repräsentatives Erhebungsdesign vorliegt, konnte die Studie wesentliche Unterschiede zwischen Delinquenzentwicklungen im Hell- und Dunkelfeld nachweisen. Die Identifikation von persönlich-individuellen, familiären und sozioökonomischen Risikofaktoren steht hierbei im Vordergrund der zahlreichen empirischen Arbeiten. Die „Peterborough Adolescent and Young Adult Development Study (PADS+)“ ist, vergleichbar zur CrimoC-Studie, ein langjähriges Panel, welches Daten einer Kohorte von Jugendlichen ab 2003 (11 Jahre) jährlich (ab 2008 im zweijährigen Zyklus) in der Stadt Peterborough in England erhoben hat. Neben den Längsschnittinformationen steht auch umfangreiches Datenmaterial aus den Kontexten der befragten Personen zur Verfügung (community surveys), die die kleinräumigen situationalen Bedingungen (z.B. ethnische Diversität) für delinquentes Verhalten erfassen (für einen Überblick vgl. Wikström et al. 2012). Für alle kriminologischen und kriminalsoziologischen Studien, die im Wesentlichen auf Befragungen basieren, sind die methodischen Gütekriterien der Reliabilität und Validität entscheidend. Diese Kriterien können durch verschiedene methodische Probleme beeinträchtigt werden. Dazu zählen systematische Verzerrungen aufgrund von fehlenden Personen, die nicht erreichbar (undercoverage) oder nicht wieder erreichbar sind (vgl. hierzu Pöge 2008), der Einfluss des Erhebungsmodus (persönlich-mündliche, schriftliche, telefonische und webbasierte Befragung), das besonders bei sensiblen Fragestellungen auftretende Problem des sozial erwünschten Antwortverhaltens sowie das selektive Erinnerungsverhalten der befragten Perso10 Das Datenmaterial für ISRD-2 (2005–2007) steht auf dem Datenserver des Interuniversity Consortium for Political and Social Research (ICPSR) zur Verfügung (www.icpsr.umich.edu/icpsrweb/). 11 Das Datenmaterial für die Jahre 1961 bis 1981 steht auf dem Datenserver des Interuniversity Consortium for Political and Social Research (ICPSR) zur Verfügung (www.icpsr.umich.edu/icpsrweb/).

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie nen bezogen auf die jeweils in den Untersuchungen angesprochenen Referenzzeiträume (vgl. Prätor 2015).

3. Methoden der Datenanalyse

Techniken zur Analyse kriminologischer und kriminalsoziologischer Daten sind vielfältig und erstrecken sich von klassischen und neueren deskriptiven Verfahren bis zu multivariaten, erklärenden Ansätzen, denen ein experimentelles, quasi-experimentelles und nicht-experimentelles Erhebungsdesign (Querschnitt- und Längsschnitt) zugrunde liegt (für einen Überblick vgl. Piquero/Weisburd 2011). Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf Verfahren, für die ein Längsschnittdesign mit wiederholten Messungen (Paneldesign) erforderlich ist und die in der kriminologisch orientierten Längsschnittforschung (für einen Überblick vgl. Boers 2013) eine weite Verbreitung gefunden haben (vgl. Liberman 2010). Dies sind zum einen sogenannte Wachstumsmodelle (growth curve models), die über Strukturgleichungen spezifiziert werden und die Schätzung von Verlaufskurven (z.B. Delinquenzentwicklungen) erlauben (vgl. Abschnitt 3.1).Werden in der Untersuchungspopulation nicht homogene, sondern heterogene Verläufe angenommen, dann lassen sich sogenannte Mischverteilungsmodelle (growth mixture models) berechnen, die eine Differenzierung der Entwicklungsprozesse nach unterschiedlichen Klassen von Personen erlauben (vgl. Abschnitt 3.2).

3.1 Wachstumsmodelle Die Konzeption eines Wachstumsmodells unterscheidet zwei Ebenen: die Ebene der Messungen (z.B. jährlich erhobene Delinquenzraten) und die Ebene der Veränderungsfaktoren. Die Beziehungen zwischen den Messungen und den Veränderungsfaktoren repräsentieren die Verlaufsform des Entwicklungsprozesses, wobei Veränderungen und Entwicklungen als latente Variablen (Faktoren) formal spezifiziert werden können. Die Datengrundlage muss auf wiederholten Messungen gleicher Untersuchungseinheiten basieren, da intraindividuelle Veränderungen und Entwicklungen (innerhalb gleicher Untersuchungseinheiten) und interindividuelle Veränderungen und Entwicklungen (innerhalb verschiedener Untersuchungseinheiten) gleichzeitig untersucht werden können. Die Modellierung des Delinquenzverlaufes über das Alter ist ein weit verbreitetes Anwendungsbeispiel aus der kriminologischen Längsschnittforschung.12 Die statistische Formalisierung von latenten Wachstumsmodellen als eine Variante des Kovarianzstrukturgleichungsmodells ist, basierend auf den grundlegenden Arbeiten von Rao (1958) und Tucker (1958), von McArdle (1989) und Meredith und Tisak (1990) diskutiert worden. Hierbei kann das Wachstumsmodell als konfirmatorisches Faktorenmodell formalisiert werden, wobei über Restriktionen der Faktorenladungen spezifische Entwicklungsmuster abgebil12 Wachstumsmodelle können auch als Mehrebenenlängsschnittmodelle bezeichnet werden, da durch die wiederholte Datenerhebung im Paneldesign ein hierarchischer Datensatz erzeugt wird. In einigen Lehrbüchern (z. B. in Hox 2010) wird sowohl die statistische Modellierung der Wachstumskurven als Mehrebenenmodell als auch als Strukturgleichungsmodell diskutiert. Die Erörterung wird hier auf den Strukturgleichungsansatz beschränkt, da dieser für die Modellierung in der kriminologisch orientierten Längsschnittforschung sehr verbreitet ist.

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Jost Reinecke det werden können. Diese Entwicklungen können sowohl linear als auch kurvilinear verlaufen. Wie bei allen Kovarianzstrukturgleichungsanalysen steigen mit der Anzahl der Restriktionen der Informationsgehalt der Modelle und die Wahrscheinlichkeit, dass die empirischen Daten mit den modellimplizierten Daten nicht mehr übereinstimmen. Für den allgemeinen Fall wird hier zunächst auf ein zweifaktorielles Wachstumsmodell eingegangen, wobei hierfür folgende Messgleichung formuliert werden kann (vgl. Meredith/Tisak 1990, S. 108; Willett/Sayer 1994, S. 369): yt  =  λt1η1 + λt2η2 + εt 

(1)

Entsprechend ist für jede latente Variable η  eine Strukturgleichung zu formulieren: η1 = α1 + ζ1  η2 = α2 + ζ2 

(2)

Hierbei steht η1  für den Ausgangsstatus (initial level factor bzw. intercept factor), während sich η2  auf die lineare Wachstumsrate (linear growth factor bzw. slope factor) bezieht. Beide

latenten Variablen werden in den Strukturgleichungen durch ihre Mittelwerte (α1  und α2 ) sowie durch ihre Residualgrößen (ζ1  und ζ2 ) beschrieben. Da η1  und η2  nicht durch exogene Va-

riablen erklärt werden, können ζ1  und ζ2  als Abweichungen der latenten Variablen von ihren

jeweiligen Mittelwerten interpretiert werden (vgl. Willett/Sayer 1994, S. 370). In der Terminologie der Mehrebenenmodelle werden η1  und η2  als random coefficients und ζ1  und ζ2  als random effects bezeichnet (vgl. Preacher et al. 2008, S. 7). Weitere zu schätzende Parameter sind die Streuungen von η1  und η2  sowie die Kovariation zwischen beiden latenten Variablen (ψ 11 ,

ψ 22  und ψ 21 ).

Die Faktorenladungen für η1  werden üblicherweise auf den Wert 1 fixiert, sodass der Anfangs-

status für jedes Individuum über die Zeit eine Konstante ist. Die Ladungen für η2  können bei Annahme eines linearen Wachstums entsprechend restringiert werden (0,1,2...). Die Faktorenladungen werden in der Matrix Λy  spezifiziert: 1 0 1 1 Λy =   1 2   ⋮ ⋮ 1 t−1

(3)

Die in Λy  vorgenommenen Restriktionen richten sich sowohl nach den Annahmen über den Entwicklungsverlauf, als auch nach den empirischen Informationen, die zur Schätzung des Modells zur Verfügung stehen (Anzahl der Messzeitpunkte). Für jeden Messzeitpunkt t  des Panels werden die Varianzen der Messfehler (Parameter θϵt ) geschätzt, wobei unter Annahme gleicher Variabilität diese auch über die Zeit gleichgesetzt werden können. Je mehr Messzeitpunkte im Paneldatensatz zur Verfügung stehen, desto besser sind die Prüfmöglichkeiten der Modelle durch die zusätzlichen Informationen. Außerdem können durch weitere latente Variablen auch nicht lineare Entwicklungsverläufe modelliert werden. In diesem Fall ist neben η1  als intercept und η2  als linearer slope die latente Variable η3  für einen 114

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie nicht linearen Verlauf (z.B. quadratisches Wachstum) zu ergänzen. Die Gleichungen 1 und 2 lassen sich hierfür relativ einfach erweitern (vgl. auch Duncan et al. 2006, S. 20 f.): yt = λt1η1 + λt2 η2 + λt3η3 +  ϵt 

(4)

η2 =  α2 +  ζ2 

(5)

η1 =  α1 +  ζ1  η3 =  α3 +  ζ3 

Alle drei latenten Variablen werden in den Strukturgleichungen durch ihre Mittelwerte (α1  bis

α3 ) sowie durch ihre Residualgrößen (ζ1  bis ζ3 ) beschrieben. Daneben werden die Streuungen

und Kovariationen von η1 , η2  und η3  geschätzt (ψ 11 , ψ 22 , ψ 33 , ψ 21 , ψ 31 , ψ 32 ). Die Faktorenladungen von η3  entsprechen bei quadratischem Wachstum den quadrierten Werten der Faktorenladungen von η2 . Die Matrix Λy  wird dafür folgendermaßen restringiert: 1 0 0 1 1 1 4 Λy =   1 2 ⋮ ⋮ ⋮ 1 t−1 t−1



(6)

2

Gleichung 4 kann durch weitere Terme erweitert werden, wobei mit zunehmender Komplexität der Modelle auch die inhaltlichen Interpretationen zunehmen. In kriminologischen Längsschnittstudien mit vielen Messzeitpunkten sind vielfach Wachstumsmodelle mit kubischen Termen (Erweiterung der Gleichung 4 um eine latente Variable η4 ) verwendet worden, die dann zu akzeptablen Modellanpassungen führen, wenn ein zweiter Wendepunkt im Entwicklungsverlauf zu verzeichnen ist. Ein Anstieg des delinquenten Verhaltens in der Jugendzeit kann in der frühen Erwachsenenphase zurückgehen, um dann wieder wegen veränderter Deliktstruktur in der späteren Erwachsenenphase anzusteigen (vgl. zu einem Beispiel Thornberry 2005). Formal lassen sich die hier erörterten Wachstumsmodelle durch erklärende Variablen erweitern, um Differenzen in den Verläufen erklären zu können (vgl. Reinecke 2012, S. 13 und Reinecke 2014, S. 278). Zeitstabile Merkmale (z.B. Geschlecht) werden den Wachstumsmodellen hinzugefügt, sodass geprüft werden kann, ob sich in Abhängigkeit von den Ausprägungen der zeitstabilen Merkmale unterschiedliche Verläufe zeigen (vgl. das Beispiel in Reinecke 2012, S. 60). Des Weiteren ist es möglich, in komplexeren Längsschnittmodellen neben den zeitstabilen Merkmalen auch zeitvariante Konstrukte zu berücksichtigen und diese mit einem Wachstumsmodell zu verbinden (vgl. das Beispiel in Boers, Reinecke, Mariotti, Seddig 2010).

3.2 Mischverteilungsmodelle Während beobachtete Heterogenität durch Berücksichtigung zusätzlicher, meist zeitinvarianter Variablen analysiert werden kann, ist die Berücksichtigung unbeobachteter Heterogenität dagegen aufwendiger und erfordert eine statistische Modellierung im Rahmen von Mischverteilungsmodellen, mit denen Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Entwicklungsverläufen über Klassifikationsverfahren und einer damit verbundenen Einteilung der Untersuchungspopulation in Subgruppen ermöglicht werden. Unter Berücksichtigung der zentralen ökonometri-

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Jost Reinecke schen Forschung (McLachlan/Peel 2000) entwickelten sowohl Nagin und Land (1993) als auch Muthén und Shedden (1999) statistische Lösungsmöglichkeiten zur Schätzung dieser Modelle für Paneldaten (growth mixture model, im Folgenden abgekürzt GMM). Das GMM unterscheidet zwischen kontinuierlichen und kategorialen latenten Variablen. Während die kontinuierlichen Variablen ein Wachstumsmodell (nach der Formalisierung in Abschnitt 3.1) repräsentieren, beziehen sich die kategorialen Variablen auf Subgruppen, die sich durch eine jeweils gemeinsame Entwicklung im Entwicklungsverlauf auszeichnen. Es wird demnach nicht nur die Variation eines einzigen Mittelwertes der Wachstumsparameter betrachtet, sondern die Variation der Parameter über verschiedene Gruppen (bzw. Klassen) von Personen. Ob beobachtete und unbeobachtete Heterogenität im Entwicklungsverlauf vorliegt, kann im klassischen Wachstumsmodell unmittelbar aus den Varianzen der jeweiligen latenten Variablen η  (Parameter ψ ) abgelesen werden. Je größer die Variabilität, desto wahrscheinlicher ist ein heterogener Entwicklungsverlauf. Für ein dreifaktorielles Mischverteilungsmodell werden die Gleichungen 1 und 2 um eine latente kategoriale Variable c  mit k = 1,  2,  …,  K  Klassen, die die unterschiedlichen Subpopulationen repräsentieren, erweitert (vgl. Muthén 2002, 2004): ytk =  λ1tkη1k +  λ2tkη2k +  λ3tkη3k +  ϵtk  η1k =  α1k +  ζ1k  η2k =  α2k +  ζ2k 

(7)

η3k =  α3k +  ζ3k  Die Mittelwerte und Streuungen der Variablen η1  (intercept), η2  (slope) und η3  (quadratic slo-

pe) werden für jede Klasse k  geschätzt (α1k , α2k , α3k , ψ 11k , ψ 22k , ψ 33k ). Hinzu kommen die Kova-

rianzen zwischen η1 , η2  und η3  (ψ 21k , ψ 31k , ψ 32k ). Das von Nagin und Land (1993) entwickelte

group-based modeling approach (vgl. auch Nagin 1999, 2005, 2010) ist ein wichtiges Submodell des GMM, welches von Muthén (2004) als latent class growth analysis (LCGA) bezeichnet wird. Dieses Submodell nimmt keine Variation der Wachstumsvariablen innerhalb der Klassen an (Parameter ψ k = 0 ) und wird oft als Ausgangsmodell für die Schätzung eines vollständigen GMM verwendet. Bei kleinen Klassengrößen sind die Varianzen der η -Variablen innerhalb der Klassen oft nicht zu schätzen und führen dann zu instabilen und nicht interpretierbaren Modellergebnissen (vgl. hierzu die ausführlichen Erörterungen von LCGA und GMM in Muthén 2004, 2008). Systematische und beispielorientierte Anwendungen dieser Modelle werden unter Berücksichtigung verschiedener Verteilungsannahmen im folgenden Abschnitt 4 diskutiert.

4. Eigene Forschungen

Ein breites Anwendungsgebiet für die angesprochenen Wachstums- und Mischverteilungsmodelle ist die kriminologische, kriminalsoziologische sowie die psychologisch orientierte Längsschnittforschung zur Entwicklung von agressivem, deviantem und delinquentem Verhalten im Lebensverlauf. In der Übersicht von Piquero (2010) werden 80 Studien (Zeitraum von etwa

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie 1993 bis 2006) genannt, die Entwicklungsverläufe modelliert und geschätzt haben. 30 Studien beziehen sich auf den gesamten Zeitverlauf vom Kindheitsalter und Jugendalter bis zur jungen Erwachsenenphase. Des Weiteren haben van Dulmen, Goncy, Vest und Flannery (2009) 59 kriminologisch orientierte Studien zusammengestellt, die über die Berechnung von Mischverteilungsmodellen versucht haben, unterschiedliche Delinquenzverläufe in Form von Trajektorien zu identifizieren. In den meisten Arbeiten werden Registrierungsstatistiken (Hellfeldstatistiken) zur Verlaufsanalyse verwendet. Hierzu gehören die Anzahl der Polizeikontakte, die registrierte Kriminalität in Form der Anzeigestatistik und die Anzahl der Verurteilungen. Die auf Befragungs- und Beobachtungsdaten basierende Dunkelfeldstatistik bezieht sich in erster Linie auf die selbstberichtete Delinquenz oder auf Formen devianten, zumeist aggressiven Verhaltens in einem konkretisierten Zeitraum. Die meisten Studien ermitteln über die angesprochenen Mischverteilungsmodelle zwischen drei und sieben Trajektorien (für eine Übersicht vgl. Tabelle 1 in Reinecke 2017). Das Datenmaterial für die eigene Forschung zur Untersuchung von Entwicklungsverläufen stammt aus dem kriminologisch-soziologischen Längsschnittprojekt Kriminalität in der modernen Stadt, im Weiteren abgekürzt CrimoC.13 Eines der wesentlichen Ziele dieses Projektes ist die Untersuchung der Entstehung, Entwicklung und des Verlaufs von deviantem und delinquentem Verhalten Jugendlicher und junger Erwachsener unter Berücksichtigung formeller und informeller Kontrollinstanzen. Zu den formellen Kontrollinstanzen zählen die Polizei und die Justizorgane, zu den informellen die Familie, der Freundeskreis und die Schule. Die Studie startete mit der ersten Paneluntersuchung im Jahr 2000 an weiterführenden Schulen in Münster. Schülerinnen und Schüler des 7., 9. und 11. Jahrgangs wurden in ihren Klassen in einjährigen Abständen bis 2003 schriftlichen Befragungen unterzogen, sodass für diese Alterskohorte ein Panel mit vier Erhebungswellen vorliegt (zu den wesentlichen Ergebnissen vgl. Boers/Reinecke 2007). Im Jahre 2002 wurden die ersten Befragungen der 7. und 9. Klassen an weiterführenden Schulen in Duisburg mit dem Ziel durchgeführt, parallel für zwei Alterskohorten einen Datensatz aufzubauen.14 Die Befragung der Jugendlichen, die im Jahre 2002 die 7. Jahrgangsstufe in Duisburg besuchten (zu Beginn 3411 Befragte) dauert derzeit noch bis zum Jahre 2019 an, wobei im späteren Verlauf der Erhebung aufgrund des altersbedingten Verlassens der jeweiligen Schulen schrittweise auf einen postalischen Befragungsmodus umgestellt wurde. Ab dem Jahre 2009 wurde ein zweijähriger Befragungsmodus eingeführt, sodass jetzt 11 Panelwellen (bis 2015) vorliegen. Zentrale inhaltliche Ergebnisse sind in verschiedenen Publikationen zu finden (vgl. beispielsweise Boers et al. 2006; Boers, Seddig, Reinecke 2009; Boers, Reinecke, Bentrup et al. 2010; Boers, Reinecke, Bentrup et al. 2014). Selbstberichtete Delinquenz für Eigentums-, Gewalt- und Sachbeschädigungsdelikte wird in der CrimoC-Studie in jeder Panelwelle als Jahresprävalenz und Jahresinzidenz erhoben. Tabelle 2 zeigt eine Übersicht über die bisherigen und veröffentlichten Analysen mit den in Abschnitt 3.2 erörterten Mischverteilungsmodellen (LCGA und GMM). Für das Münsteraner Pa13 Das Projekt wird von Prof. Dr. Klaus Boers (Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Münster) und Prof. Dr. Jost Reinecke (Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld) geleitet und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2002 finanziert (zum Design der Studie siehe Pöge/Wittenberg 2007 und Bentrup 2017). Ausführliche Informationen sind auf der Projekthomepage unter www.crimoc.org zu finden. 14 Um eine starke Reduktion der Fallzahlen zu vermeiden, wurde eine Vollerhebung angestrebt. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde im Jahre 2004 die Untersuchung der älteren Kohorte (9. Klassen) nicht weitergeführt.

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Jost Reinecke nel mit vier Panelwellen konnten für die LCGA als auch für das GMM jeweils drei Gruppen ermittelt werden, wobei die jährlich aufsummierten Prävalenzraten (Versatilitätsindizes) als Datengrundlage dienten (vgl. Reinecke 2006a, 2006b, 2007). Die erste Gruppe besteht aus Personen, die im Untersuchungszeitraum nicht oder kaum abweichendes oder delinquentes Verhalten zeigten (non-offenders: 60%), die zweite Gruppe aus Personen mit einem geringen Ausgangswert und einer geringen Wachstumsrate (low-rate adolescents: 32%), und die dritte Gruppe beinhaltet Personen mit einem hohen Ausgangswert und einer deutlich stärkeren Wachstumsentwicklung (high-rate adolescents: 8%).15 Da das Münsteraner Panel bereits nach vier Wellen abgeschlossen wurde, ließ sich keine Gruppe von Personen, die sich durch einen zeitlich späteren Rückgang der Delinquenz auszeichnet, ermitteln. Für das Duisburger Panel wurden zunächst Mischverteilungsmodelle für vier Panelwellen mit bis zu sieben Klassen auf der Basis aufsummierter Prävalenzraten berechnet, wobei die Lösung mit fünf Klassen sich durch den besten Modellfit auszeichnet (vgl. Reinecke 2008). Die größte Klasse weist kein oder kaum delinquentes Verhalten über den Untersuchungszeitraum auf (non-offenders), in der zweitgrößten Klasse befinden sich Personen mit geringen delinquenten, aber über die Zeit relativ stabilen Verhaltensmustern (low-stable delinquency). Die drei übrigen Klassen sind unter kriminologischen Gesichtspunkten interessanter: eine Klasse, die zu Beginn ein hohes Delinquenzniveau aufweist, welches kontinuierlich zurückgeht (desisters), eine weitere Klasse, deren Delinquenz von einem niedrigen Niveau kontinuierlich ansteigt (increasers) und eine kleine Klasse von Personen, die sich durch mehr oder weniger stabil hohe Deliktraten auszeichnet (high-rates). Die zuletzt genannte Klasse beinhaltet überwiegend Personen, die nicht nur sehr unterschiedliche Delikte sondern auch gleiche Delikte mehrfach begangen haben. Dies wird durch die Mittelwerte der Inzidenzraten bestätigt. Der Vergleich zwischen dem Modell mit vier und dem Modell mit fünf Klassen zeigt, dass erst durch die fünfte Klasse die Gruppe der desisters aus den Daten identifiziert werden kann.

15 Die Berechnungen erfolgten auf Basis der Personen, die an allen Panelwellen teilgenommen haben (n = 813). Da zwischen erster und zweiter Panelwelle für eine Reihe weiterer Personen Zuordnungsprobleme auftraten, sind die fehlenden Informationen für diese weiteren Panelteilnehmer (n = 262) durch ein Simulationsverfahren (multiple Imputation, vgl. hierzu Enders 2010) statistisch ersetzt worden. Die Analysen für n = 1075 Personen unterscheiden sich teilweise bei den Delinquenzmittelwerten von denen für n = 813 Personen, die Verlaufskurven sind aber ähnlich (vgl. Reinecke 2006b).

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie Tabelle 2: Verlaufsanalysen mit den Paneldatensätzen der CrimoC-Studie

Publikation

Panel

Reinecke (2006a, 2006b, 2007)

Münster (4 Wellen) Duisburg

Reinecke (2008)

(4 Wellen)

Reinecke und Mariotti (2009)

Duisburg

Mariotti und Reinecke (2010)

(5 Wellen)

Boers, Reinecke, Mariotti und Seddig (2010)

Duisburg

Boers, Reinecke, Bentrup et al. (2010) Reinecke und Seddig (2011)

(5 Wellen) Duisburg (5 Wellen) Duisburg

Reinecke (2012)

(5 Wellen)

Boers et al. (2014)

Duisburg

Seddig und Reinecke (2017)

(7 Wellen)

Reinecke, Meyer und Boers (2015)

Duisburg (8 Wellen) Duisburg

Reinecke (2017)

(9 Wellen)

Stichprobe

Index

n = 813

Prävalenzen

n = 1769

Prävalenzen

n = 1552 n = 3909

Prävalenzen

(FIML)

Anzahl Trajektorien 3 (LCGA) 3 (GMM) 5 (LCGA) 5 (LCGA) 4 (GMM)

n = 1552

Inzidenzen

6 (LCGA)

n = 1552

Inzidenzen

n = 3909 (FIML)

Prävalenzen

4 (GMM)

n = 1895 (FIML)

Inzidenzen

7 (LCGA)

n = 3938 (FIML)

Inzidenzen

6 (LCGA)

n = 3942 (FIML)

Prävalenzen

6 (LCGA) 4 (GMM)

4 (LCGA) 4 (GMM)

Zur Erläuterung, vgl. den Text. Auch mit fünf Panelwellen wurde ein Mischverteilungsmodell (LCGA) durch die beschriebenen fünf Klassen bestätigt. Zusätzlich wurden die Modelle auf Basis aller verfügbaren Personen im Datensatz (n = 3909) überprüft, was die absoluten Klassengrößen vergrößerte, aber im Vergleich zum vollständigen Panel (n = 1552) nicht deren relative Verhältnisse untereinander (vgl. Mariotti/Reinecke 2010).16 Im GMM mit geschätzter Varianz des intercept wurde erwartungsgemäß eine Klasse weniger (4 Klassen) ermittelt: 43% der Personen gehören hier zur Klasse der non-offenders, 28% befinden sich in der Klasse der high-level desisters, die eine ausgeprägtere Delinquenz bis zur zweiten Panelwelle aufweisen, dann aber sehr deutlich zurückgeht. In der dritten Klasse befinden sich die increaser mit steigender Delinquenz, die etwa 18% der Personen umfassen. Die vierte und kleinste Klasse der high-rates erreicht mit etwa 11% der 16 Alle verfügbaren Personen beziehen sich auf diejenigen, die mindestens zweimal an der Untersuchung teilgenommen haben. Die für die Modellberechnungen notwendigen Mittelwertsvektoren und Kovarianzmatrizen werden auf Basis des full information maximum-likelihood (FIML)-Verfahrens vorgenommen, welches unter gewissen Annahmevoraussetzungen unverzerrte Schätzer liefert (vgl. hierzu die beispielorientierten Darstellungen in Enders 2010 und Reinecke 2014).

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Jost Reinecke befragten Personen die höchste, durchschnittliche Delinquenzrate in der dritten Panelwelle und weist den typischen, glockenförmigen Verlauf auf. In der fünften Panelwelle hat dieser Personenkreis immer noch die höchste Delinquenzrate. In Boers, Reinecke, Mariotti und Seddig (2010) wird erstmals ein Mischverteilungsmodell (LCGA) mit aufsummierten Inzidenzraten auf der Basis der vollständigen Paneldaten (n = 1552) vorgenommen und sechs Klassen ermittelt: 50% fallen in die Klasse der non-offenders, 19% in die Klasse der low-level offenders, 13% in die Klasse der adolescence-limited offenders mit der höchsten Delinquenzrate im Alter von 15 Jahren und einem anschließenden Rückgang sowie 9% in die Klasse der persistent offenders mit der höchsten Delinquenzrate im Alter von 14 Jahren und ebenfalls einem sich anschließenden Rückgang. Diese Gruppe als persistent zu bezeichnen ist insofern gerechtfertigt, da ihre durchschnittliche Delinquenzrate auch mit 17 Jahren immer noch mehr als zweimal höher ist als in den anderen Gruppen. Die beiden restlichen Klassen bestehen mit 19% aus den late-onset offenders, die erst mit 16 Jahren eine nennenswerte Zunahme des delinquenten Verhaltens aufweisen und mit 4% die early declining offenders, deren hohes Anfangsniveau schon mit 15 Jahren fast komplett zurückgeht.17 Als GMM können mit den gleichen Daten vier Klassen geschätzt werden: Die größte Klasse bilden erwartungsgemäß die non-offenders (43.1%), gefolgt von den high-level and persistent offenders (28.6 %), den adolescence limited offenders (18%) und den late-onset offenders (8.7%, vgl. Reinecke/Seddig 2011). Die Berücksichtigung weiterer Panelwellen gibt Einblicke über den Delinquenzverlauf im Übergang zwischen der Jugendphase und der jungen Erwachsenenphase. Mit aufsummierten Inzidenzraten aus sieben Panelwellen konnten mit einem LCGA-Modell sieben Klassen identifiziert werden (vgl. Boers et al. 2014; Seddig/Reinecke 2017), wobei die vier größten Verlaufsgruppen entweder nicht (non-offenders, 43%) oder in nur geringem Maße auffällig werden (low-level offenders, 14%), das delinquente Verhalten bei einem zwar frühen, aber auf niedrigem Niveau verbleibenden Beginn beenden (early desistance offenders, 9%) oder im Verlauf des Jugendalters einstellen (adolescent-intensive offenders, 15%). Die zuletzt genannte Gruppe der jugendlichen Intensivtäter erreicht mit durchschnittlich 19 Jahren ein moderates Niveau, sodass deren Verlauf noch als entwicklungsadäquates Hinausreifen aus der Delinquenz anzusehen ist. Die drei weiteren Gruppen sind unter kriminologischen Gesichtspunkten beachtenswert: die Persistenten (persistent offenders, 8%), die früh intensiven Täter und Abbrecher (early intensive/ desistance offenders, 6%) sowie die späten Starter (late-onset offenders, 6%). Bei den am stärksten belasteten Persistenten steigt die Inzidenzrate früh an und erreicht im 16. Lebensjahr ein Maximum von durchschnittlich 44 Delikten pro Person. Danach geht sie stark zurück, sodass sie im 19. Lebensjahr unter dem Niveau des 13. Lebensjahres liegt. Die Verringerung der delinquenten Intensität ist mit Moffitts Annahme einer lebenslangen, bis ins Erwachsenenalter hineinreichenden Persistenz bei Intensivtätern auch mit den Daten der CrimoC-Studie nicht vereinbar (vgl. Moffitt 1993). Denn von all denjenigen, die im 14. Lebensjahr am stärksten belastet waren, hatte in der CrimoC-Studie knapp die Hälfte schon ab dem folgenden Lebensjahr mit einem massiven Delinquenzabbruch begonnen. Der Umfang der in anderen Verlaufsanalysen entdeckten späten Starter (vgl. Krohn et al. 2013) sind hier deutlich geringer (6%) und ge17 Diese Modelle konnten aufgrund der Implementation in neueren Versionen des Programms Mplus für Zählvariablen (unter Annahme der negativen Binomialverteilung) berechnet werden. Diese Verteilungsannahme ist für aufsummierte Inzidenzraten insofern angemessener als die Poisson-Verteilung, da keine Äquivalenz von Mittelwert und Streuung angenommen werden muss und die Überdispersion (overdispersion) der Inzidenzraten explizit durch einen Parameter geschätzt wird (vgl. Reinecke/Seddig 2011).

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Methoden der empirischen Kriminalsoziologie hörten, bezogen auf das 17. und 18. Lebensjahr, zur nach den Persistenten am stärksten belasteten Gruppe. Je mehr Panelwellen berücksichtigt werden, desto aufwendiger ist die Modellierung des Delinquenzverlaufes. Die quadratische Modellspezifikation (vgl. Gleichung 7) kann durch ein sogenanntes piecewise trajectory model (vgl. Bollen/Curran 2006, 103f.) ersetzt werden. Dies bedeutet im einfachsten Fall, dass zwei Trajektorien zu spezifizieren sind: Die erste modelliert den Anstieg der Delinquenz im Jugendalter, die zweite den Rückgang bis in die junge Erwachsenenphase.18 Das piecewise trajectory model (spezifiziert als LCGA) ermittelt mit acht Panelwellen (bis zum 20. Lebensjahr) sechs Klassen (vgl. Reinecke et al. 2015, S. 81): die Klasse der nonoffenders mit 50%, die Klasse der adolescence-limited offenders mit 16.8%, die low-level decliners mit 13.5%, die low-rate-offenders mit 7.6%, die persistent offenders mit 6.9% sowie die high-level decliners mit 5.3%. Unter Berücksichtigung verschiedener Verteilungsannahmen (kontinuierliche Verteilung, negative Binomialverteilung und negative Binomialverteilung mit Inflationsterm, vgl. hierzu Hilbe 2011) wird in Reinecke (2017) ein systematischer Vergleich der Entwicklungsverläufe für das LCGA- und das GMM-Modell vorgenommen. Im Unterschied zu den vorhergehenden Analysen wird dazu ein Index mit aufsummierten Prävalenzraten verwendet. Die Modelle basieren auf Daten aus neun Panelwellen (bis zum 22. Lebensjahr) und unterscheiden sich zwischen LCGA und GMM nur in einzelnen Klassengrößen. Die Modelle (mit deutlicher Präferenz für die negative Binomialverteilung) ergeben vier Klassen (LCGA): Die Klasse der desisters (21.1%) weist nur eine leichte Steigung der Delinquenz zu Beginn der CrimoC-Studie auf, in der frühen Jugendphase gehen die Werte kontinuierlich zurück. Die Klasse der high-rates (10.3%) hat den größten Anstieg der Delinquenz zu verzeichnen, aber auch hier gehen in der frühen Jugendphase die Werte kontinuierlich zurück. Die dritte Klasse low stable (14.6%) liegt im Verlauf zwischen der Klasse der desisters und der high-rates. In der vierten Klasse (non-offenders, 53.9%) befinden sich Personen, die zu keinem Zeitpunkt ein nennenswertes delinquentes Verhalten zeigen. Deutliche Unterschiede für die Klasse der high-rates zeigen sich beim Geschlecht (höhere Delinquenz bei Jungen bzw. Männern) und bei der Schulform (höhere Delinquenz bei Personen aus der Hauptschule). Vergleicht man die bisherigen Befunde der Verlaufsanalysen aus den CrimoC-Daten mit angloamerikanischen Studien, dann weisen die Verlaufsmuster zwar eine große Ähnlichkeit auf, allerdings setzen die abnehmenden Tendenzen bei allen Verläufen hier früher ein. Damit wird das empirische Verlaufsbild der Delinquenz einerseits von Heterogenität und andererseits von Abbruchsprozessen geprägt (vgl. auch Sampson/Laub 2003 und zum gegenwärtigen Forschungsstand Boers/Herlth 2016 und Weaver 2016). Unter Berücksichtigung von Delikten, die überwiegend nur erwachsene Personen begehen, wird in Zukunft ein weiter differenzierteres Bild der Verlaufsmuster zu erwarten sein.

18 Mit sogenannten stage-sequential piecewise trajectory models (vgl. Kim/Kim, 2012) lassen sich auch Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen den Trajektorien schätzen. Auf diese Ergebnisse wird hier nicht eingegangen (vgl. im Detail Reinecke et al., 2015 S. 83f.).

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127 Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei Daniela Pollich

1. Einleitung

Befasst man sich mit der Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis, ist zunächst eine Eingrenzung dessen nötig, was in diesem Zusammenhang unter dem Begriff Kriminalsoziologie zu verstehen ist. Aus einem fachspezifischen Verständnis heraus umfasst die Kriminalsoziologie die „Beschäftigung mit den sozialen Bedingungen der Kriminalität und der gesellschaftlichen Reaktion auf Kriminalität“ (Eifler 2002, S. 5; siehe auch Lüdemann/Ohlemacher 2002, S. 11ff.; Reuband 2013, S. 140f.). Nachbardisziplinen stellen beispielsweise die Rechtssoziologie, die Rechtspsychologie, die Polizeiwissenschaften1, die Soziologie abweichenden Verhaltens und insbesondere die Kriminologie dar. Diese Differenzierung verschwimmt oftmals schon in rein wissenschaftlichen Kontexten; genannt sei hier beispielhaft die unterschiedliche disziplinäre Zuordnung der Kriminologie, die im deutschsprachigen Raum den Rechtswissenschaften, im angloamerikanischen Raum den Sozialwissenschaften zugeschlagen wird (vgl. Eifler 2002, S. 5; Albrecht 2013, S. 73, 76). Aufseiten der Praxis ist zu konstatieren, dass kriminalitätsbezogene Sozialforschung in den seltensten Fällen explizit der Kriminalsoziologie, beispielsweise in Abgrenzung zur Rechtspsychologie oder Kriminologie, zugerechnet wird. Vielmehr werden die Begriffe oft wenig exakt verwendet oder unter den (in vielen relevanten Praxisbereichen am stärksten verbreiteten) Begriff der Kriminologie subsumiert. Grund hierfür ist in erster Linie, dass die „Praxis […] nicht sorgfältig nach wissenschaftlichen Disziplinen sortiert“ (Unzicker 2012, S. 139) ist. Diesem Beitrag liegt durchaus eine bewusste Differenzierung der Disziplinen und eine Definition dessen, was unter Kriminalsoziologie zu verstehen ist, zugrunde (s. o.); dennoch bleibt ein gelegentliches Verschwimmen der genannten Fachrichtungen unvermeidbar, will man auf die Rezeption von kriminalitätsbezogenen Forschungsergebnissen in einer gegenstandsorientierten Praxis Bezug nehmen. Kriminalitätsrelevante Praxisfelder, in denen eine Rezeption und Umsetzung von kriminalsoziologischer Forschung stattfinden kann, sind vielfältig. Konkret handelt es sich beispielsweise um die soziale Arbeit (vgl. hierzu ausführlicher beispielsweise Möller 2012), die Arbeit mit Straffälligen (vgl. kritisch auch Liebl 2003, S. 282f.) oder die polizeiliche Arbeit. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Praxisfelder findet zur analytischen Betrachtung der Transformation 1 Die umfangreiche Debatte um die Begrifflichkeiten „Polizeiwissenschaft“, „Polizeiwissenschaften“, „Empirische Polizeiforschung“ etc. kann hier aus Kapazitätsgründen nicht wiedergegeben werden (siehe hierzu ausführlicher beispielsweise Feltes/Frevel 2015; Jaschke/Neidhardt 2004; Reichertz 2007). Dennoch werden vereinzelt Beispiele aus der Debatte um die Polizeiwissenschaft(en) angeführt.

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Daniela Pollich von Forschungsergebnissen im vorliegenden Beitrag eine Konzentration auf einen der Bereiche statt: Es ist primär die polizeiliche Praxis, der das Interesse gilt. Die Organisation Polizei scheint insofern von besonderem Interesse, da die Frage, wie polizeirelevantes, kriminalitätsbezogenes Wissen hergestellt und innerhalb der Polizei rezipiert wird, bislang eine auf analytischer Ebene eher wenig diskutierte ist (zu beachten ist hier allerdings beispielhaft der Sammelband von Grutzpalk 2016). Will man einen systematischen Überblick der Verwendung2 kriminalsoziologischer Forschung in der Praxis erarbeiten, so ist es zunächst notwendig, die verschiedenen Formen der Erzeugung und Übermittlung wissenschaftlichen Wissens für praktische Zwecke im Allgemeinen zu charakterisieren. Gleichzeitig wird eine Übertragung der dargestellten Systematik auf die kriminalitätsbezogene Wissensgenerierung vorgenommen und die damit generell verbundenen Umsetzungsprobleme dargestellt. Es folgt sodann eine Betrachtung, an welchen Orten, d.h. in welchen Institutionen mit welcher Zielrichtung kriminalitätsbezogene Forschung betrieben wird und welchen Einschränkungen diese Forschung jeweils konkret unterliegen kann. Im Anschluss wird erörtert, welche Inhalte, d.h. Forschungsthemen und -ergebnisse für die Praxis überhaupt relevant sind bzw. dort benötigt werden. Ausgehend von der Prämisse, dass die Übermittlung von wissenschaftlich fundierten kriminalsoziologischen Forschungsergebnissen in die kriminalitätsrelevante Praxis grundsätzlich begrüßenswert erscheint, werden abschließend Perspektiven aufgezeigt, wie vor dem beschriebenen Hintergrund die zielgerichtete Erzeugung wissenschaftlichen und zugleich praxisrelevanten Wissens künftig gestaltet und verortet werden könnte.

2. Formen der Erzeugung praxisorientierten kriminalsoziologischen Wissens

Insgesamt hat die Ressource Wissen in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Bedeutungsgewinn in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen erfahren. In der Soziologie wird dieser Zustand gemeinhin als Wissensgesellschaft bezeichnet bzw. diskutiert (vgl. beispielsweise Weingart 2001, S. 11ff., 2003, S. 8ff.; Maasen 2009, S. 77ff.). Das Aufkommen der Wissensgesellschaft hat sich auch in den meisten Bereichen beruflicher Praxis niedergeschlagen. Die erhöhte Bedeutsamkeit von Wissen, eine Professionalisierung des Berufsbilds sowie eine Verwissenschaftlichung der Ausbildung haben sich – nicht zuletzt vor dem Hintergrund komplexer werdender Anforderungen (vgl. beispielsweise Asmus 2012, S. 47) – auch in der Polizei bemerkbar gemacht. Dennoch sind Wissenschaft und (polizeiliche) Praxis prinzipiell als zwei getrennte Sphären oder auch Systeme (vgl. Luhmann 1992, S. 620ff.; Ohlemacher 2013, S. 187ff.) zu betrachten, „die vollkommen unterschiedlichen Logiken folgen“ (Ohlemacher 2013, S. 187f.; ähnlich auch Behr 2000, S. 72; Reichertz 2007, S. 136f.; Kerner 2013, S. 197; Asmus 2012, S. 50, Unzicker 2012, S. 135f., Weingart 2001, S. 17f., 27ff.; 2003, S. 83ff.; 91). Stets wird auch eine Grenzziehung der Systeme Wissenschaft und Polizei nach außen erforderlich, um als soziale Einheit erst

2 Zum Begriff der Verwendung und seinen Lesarten siehe genauer Beck/Bonß 1989, S. 24ff.

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei erkannt zu werden und zu bestehen. Diese identitätsstiftende Praktik (siehe hierzu auch Beck/ Bonß 1989, S. 11) beider Sphären erschwert oftmals deren Verständigung. Trotz der schwierigen Vereinbarkeit machen die Implikationen der Wissensgesellschaft vor der Polizei nicht Halt. Und auch die institutionell kränkelnde Kriminalsoziologie könnte von einem stärkeren Praxisbezug womöglich profitieren. Die beiden unterschiedlichen Systeme wären dann gezwungen, sich weiter aufeinander zu zu bewegen. Offenbleibt dabei die Frage, auf welche Weise diese Annäherung produktiv von statten gehen könnte. Um sich einer Antwort anzunähern, werden im Folgenden zunächst verschiedene Arten der Verwendung kriminalsoziologischer Erkenntnisse in der polizeilichen Praxis beleuchtet und hinsichtlich ihrer Praktikabilität bewertet. Hierzu werden idealtypisch verschiedene Modelle der Erzeugung und Weitergabe von praxisrelevantem Wissen dargestellt und die jeweiligen Bezüge zur aktuellen kriminalitätsbezogenen Forschungslandschaft hergestellt. Aus Kapazitätsgründen werden dabei lediglich die Pole eines Kontinuums skizziert.

2.1 Erzeugung von Grundlagenwissen im „Mode 1“ und Wissenstransfer In einem althergebrachten, in Teilen überholten (vgl. Beck/Bonß 1989, S. 16ff.), Verständnis handelt es sich beim Transportieren von wissenschaftlich erzeugten (kriminalsoziologischen) Wissensbeständen in die Praxis stets um die Vorstellung einer unidirektionalen Vermittlung im Sinne eines Transfers (vgl. Möller 2012, S. 85f.; Unzicker 2012, S. 133; Hessler 2012, S. 157f.) von Wissen. Systematisches, wissenschaftliches Wissen wird in diesem Verständnis allein innerhalb des universitären Wissenschaftsbetriebs erzeugt. Wissenschaft wird als geschlossenes System gesehen, dem die Hoheit über die Erzeugung disziplinär verorteten, wissenschaftlichen Wissens innerhalb bestimmter akademischer Einrichtungen durch speziell qualifizierte Personen obliegt (vgl. Weingart 2001, S. 14; Maasen, S. 79; Möller 2012, S. 89). Diese Form der Wissensproduktion wird mitunter als Mode 1 bezeichnet (vgl. Gibbons et al. 1994, S. 1ff.; 19), wo zudem eine strikte Trennung von Grundlagenwissenschaften und anwendungsbezogenem Wissen und damit auch eine strikte operationale Trennung der Herstellung beider Wissensformen vorherrscht. Adressat wissenschaftlicher Erkenntnisse ist im Mode 1 primär die Scientific Community. Burawoy (2012 S. 23ff.) entwirft (dieser Denktradition weitgehend analog) eine Systematisierung sozialwissenschaftlicher Wissensgenerierung, die eine gesonderte Forschung für die Praxis vorsieht. Der Verfasser unterscheidet eine professionelle Soziologie, die Grundlagenwissen für eine akademische Zielgruppe erzeugt, unter anderem von einer anwendungsorientierten Soziologie, die instrumentelles Wissen für nichtakademische Zielgruppen bereitzustellen sucht.3 Dem Autor zufolge geht es hier in erster Linie um die wissenschaftliche Bearbeitung von einem Auftraggeber konkret vorgegebener praktischer Probleme; das wissenschaftliche Fachwissen wird „gegen ein Honorar verkauft“ (Burawoy 2012, S. 26). Damit entwirft der Verfasser eine zwar idealtypisch zu verstehende (vgl. ebd.), jedoch immer noch unflexible Unterteilung verschiedener Segmente der Wissenserzeugung. Eine so verstandene und gelebte Anwendungsforschung ist dem im Mode 1 vorherrschenden Verständnis der Wissenserzeugung zuzuordnen, da 3 Daneben differenziert er Wissen auf einer reflexiven bzw. hinterfragenden Ebene, nämlich die kritische Soziologie für ein akademisches und die öffentliche Soziologie für ein nichtakademisches Publikum (vgl. Burawoy, 2012 S. 23ff.).

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Daniela Pollich Wissen nach wie vor disziplinenbasiert produziert wird (vgl. Gibbons et al. 1994, S. 4), kein Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis geschieht und die Trennung beider Sphären durch diese Art der Forschung in keiner Weise aufgehoben wird. Das Gelingen einer solch direkten Verwendung von Befunden durch die Praxis bewerten Beck und Bonß (1989, S. 24f.) allerdings pessimistisch. Angewendet auf die Kriminologie beschreibt beispielsweise Kerner (2013) ein solches Nebeneinander von Grundlagenwissenschaften und Praxis: Zwar vertritt er generell die Haltung „dass es für die Kriminologie, wie für alle anderen Human- und Sozialwissenschaften, auch wissenschaftlich fruchtbare Erkenntnis-Chancen gibt, wenn sie sich auf substantielle Kontakte und Vorhaben mit Praxisbezug einstellt und auch tatsächlich einlässt“ (Kerner 2013, S. 185), jedoch schildert er dies aus einer Denktradition heraus, die von einer recht strikten Trennung zwischen wissenschaftlich und praxisnah betriebener Kriminalitätsforschung ausgeht. Es könne „nicht nachdrücklich genug betont werden, dass Wissenschaft […] eines selbstbestimmten Freiraums bedarf“ (Kerner 2013, S. 185), der sich auf den gesamten Prozess der Erkenntnisgenerierung erstrecken und mit einer zunächst exklusiven Diskussion in der einschlägigen Scientific Community einhergehen sollte. Ein starker Anwendungsbezug berge stets die Gefahr des Verlustes wissenschaftlicher Autonomie (vgl. Kerner 2013, S. 185ff.). Als notwendig erachtet der Verfasser zudem eine explizit theoretische Fundierung auch praktisch orientierter kriminologischer Forschung, nicht zuletzt zur notwendigen intersubjektiven Objektivierung persönlicher „Alltagstheorien“ (Kerner 2013, S. 187) eines jeden Menschen (vgl. Kerner 2013, S. 187f.) und damit auch der polizeilichen Praktiker (vgl. auch Christe-Zeyse 2005, S. 137ff.; Behr 2000, S. 73; Jaschke/Neidhardt 2004, S. 15). Aus einer derartigen Sichtweise ergeben sich einige allgemeine und spezifische Probleme beim Transfer des erzeugten Wissens und im Zusammenspiel der Kriminalsoziologie bzw. kriminalitätsbezogenen Sozialforschung mit der polizeilichen Praxis. Die vorrangige Erzeugung von kriminalsoziologischem bzw. kriminalitätsbezogenem Wissen allein innerhalb des Wissenschaftssystems führt zunächst dazu, dass dieses in der Praxis allgemein wenig Anklang finden kann: Aufgrund der unterschiedlichen Logiken beider Systeme lässt es sich nicht ohne Aufwand in praktische Handlungsanleitungen übersetzen bzw. transferieren (vgl. Möller 2012, S. 90f.), wie sie seitens der Praxis oftmals eingefordert werden. Bislang scheint es weiterhin noch nicht gelungen, ein gleichberechtigtes Zusammenspiel von Grundlagenforschung und dem Transferziel Praxis zu realisieren; Ungleichwertigkeiten würden dabei von den verschiedenen Seiten auf unterschiedliche Weisen (aber aus ihrer Sichtweise heraus logisch konsequent) betont (vgl. Burawoy 2012, S. 31): Unter anderem führt die seitens der Grundlagenforschung gelegentlich vernehmbare Proklamation der Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens gegenüber praktischem Wissen (vgl. Möller 2012, S. 92; siehe auch Beck/Bonß 1989, S. 9, 12f.; Kerner 2013, S. 195), die seitens der Praxis gar als Überheblichkeit ausgelegt werden könnte, zu einer Konsolidierung der Gräben zwischen beiden Sphären. Eine Dissemination wissenschaftlich generierten, kriminalitätsbezogenen Wissens in der Praxis bleibt Liebl (2003, S. 280f.) zufolge aber auch deshalb aus, weil Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Ergebnisse nur ungern der Vereinfachung unterwerfen, die notwendig ist, um sie beispielsweise medial (aber auch in (polizeiliche) Praxisfelder, DP) zu transportieren. Weiterhin hervorgehoben wird in diesem Zusammenhang die Bedeutsamkeit einer auch sprachlich verständlichen Darstellung von Ergebnissen (vgl. Mischkowitz 2013, S. 216), aber andererseits auch die Erfordernis einer wissenschaftlich geprägten polizeilichen Aus- und Weiterbildung (vgl. Jarchow 2016. S. 187, 191f).

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei Wendet man sich damit der Polizei als demjenigen Praxisfeld zu, in welches wissenschaftliche Erkenntnisse transferiert werden sollen, so zeigt sich dort eine zwar schwindende, aber nach wie vor vernehmbare Skepsis gegenüber (Sozial)Wissenschaft im Allgemeinen. „Stimmen die Befunde mit der eigenen Weltsicht und Erfahrung überein, werden sie nicht erfreut dahingehend entgegengenommen, dass man nun sicherer als vorher davon ausgehen könne, auf der richtigen Spur zu handeln; vielmehr wird betont, dass man sich das Geld hätte sparen können, da eh schon alles bekannt sei. Widersprechen die Befunde dagegen der eigenen Weltsicht und Erfahrung, müssen sie,offensichtlich falsch‘ sein, weil man sich eben auf lange ganz anderes belegende Praxis stützen könne“ (Kerner 2013, S. 189; siehe hierzu auch Gatzke 2013; Reichertz 2007, S. 139f.). Die Folge ist eine Selektion der „wirklichkeitsadäquatesten Forschungsergebnisse“ (Unzicker 2012, S. 145), die oftmals durch ein gewisses Maß an Einfachheit gekennzeichnet sind. Erkenntnisse werden zudem oftmals pauschal als praxisfern und zu kompliziert abgetan (vgl. Christe-Zeyse 2005, S. 135; Gatzke 2015, S. 48; Jaschke/Neidhardt 2004, S. 20ff.). Durch die starke Handlungsorientierung des polizeilichen Alltags herrscht ein (generell gerechtfertigtes) Primat des Erfahrungswissens, welches vermeintlich ohne eine theoretische oder wissenschaftliche Fundierung auszukommen vermag und im praktischen polizeilichen Alltag an jüngere Generationen weitergegeben wird (vgl. Christe-Zeyse 2005, S. 136; Jaschke/Neidhardt 2004, S. 22).4 Insgesamt werden wissenschaftliche Erkenntnisse von der Praxis gelegentlich gezielt und teilweise eklektisch nach deren „Nützlichkeit“ und (politisch-)legitimatorischer Funktion ausgewählt (vgl. Unzicker 2012, S. 145, sowie Beck/Bonß 1989, S. 10ff.; Weingart 2003, S. 138f.; Möller 2012, S. 90f.); dies trifft auch auf die polizeiliche (vgl. Behr 2000, S. 74) und die damit eng verwobene politische (vgl. Asmus 2012 S, 47) Praxis zu. Die Wissenschaft wird damit in die Position einer „Legitimationsbeschafferin“ (Möller 2012, S. 87; vgl. auch Gatzke 2013; Weingart 2001, S. 142ff.; 2003, S. 95, 138f.) zur Rechtfertigung längst abgesteckter Ziele (vgl. Unzicker 2012, S. 141; 145) gedrängt.5 Festzuhalten bleibt also, dass auch die Polizei – genau wie weiter oben beschrieben die Wissenschaft – als System durchaus auf die Wahrung der eigenen Grenzen bedacht ist (vgl. auch Ohlemacher 2013, S. 190). Eine stark hierarchische Strukturierung, eine stetige Betonung des Spezialcharakters des Wissens um die polizeilichen Arbeit (die dem Außenstehenden nie ganz zugänglich sein kann) sowie ein stark organisationsspezifischer Sprachgebrauch sind nur einige weitere Beispiele für identitätsstiftende Grenzziehungen, die eine Annäherung beider Systeme schwierig machen. Diese in beiden Systemen zum Teil deutlich ausgeprägten Abgrenzungsmechanismen führen dazu, dass ein Verbleib im Mode 1 der Wissenserzeugung mit einem anschließenden Transfer „geeigneter“ Ergebnisse in die Praxis künftig eher zu einer Konservierung der Verschiedenartigkeit der Systeme denn zu einer Verständigung führen werden.

4 Asmus (2012, S. 49f.) verteidigt in diesem Zusammenhang berechtigterweise die notwendige „Autonomie der Praxis“ (Asmus 2012, S. 50) und die elementare praktische Dimension polizeilicher Tätigkeit, die trotz aller Notwendigkeit der Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht außer Acht gelassen werden sollte. 5 Weingart (2003, S. 92) hebt hervor, dass die zunehmende Komplexität und Vielfalt politischer Themen andererseits zu einer Zunahme ungesicherter Aussagen seitens der Wissenschaft führe (siehe auch Beck/Bonß 1989, S. 18); in der Folge seien die wissenschaftlichen Ergebnisse oft kaum mehr geeignet, die politisch anvisierte Legitimationsfunktion zu erfüllen. Für nahezu jede politische Meinung sei eine wissenschaftlich-rationale Begründung verfügbar (vgl. Weingart 2001, S. 144).

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2.2 Wissenserzeugung im „Mode 2“ und Transformation von Forschungsergebnissen Im Zeitalter der Wissensgesellschaft haben sich flexiblere Formen der Wissensproduktion entwickelt, die die oben beschriebenen Modelle der Produktion von Wissen für die Praxis teilweise ablösen, zumindest aber erweitern. In Abgrenzung zu der Vorstellung des einseitigen Transfers wissenschaftlicher Forschungsergebnisse greift beispielsweise Möller (2012, S. 85f.) auf den Begriff der Transformation zurück, um eine zunehmende Prozesshaftigkeit der Wissensproduktion und -übermittlung unter Einbeziehung aller relevanten Akteure zu beschreiben. Beck und Bonß (1989, S. 26) beschreiben mit ihrer Auffassung der „Verwandlung“ von Wissen einen ähnlichen Prozess. Diese neueren Formen der Wissensproduktion werden – in Kontrast zum weiter oben dargestellten Mode 1 – als Mode 2 bezeichnet (vgl. Gibbons et al. 1994, S. 1ff., 19; Weingart 2003, S. 134ff.; Maasen 2009, S. 79f.). Über das althergebrachte Verständnis hinaus beschreiben die Verfasser eine transdisziplinäre, heterogene und problemlösungsorientierte Wissensproduktion in einem erweiterten, komplexen Kontext von Anwendung. Die Dissemination von Ergebnissen geht dabei mit der Erzeugung des Wissens durch das flexible Zusammenspiel verschiedener (wissenschaftlicher und praktischer) Experten und Sphären weitgehend einher. Auch die Orte der Wissenserzeugung werden vielfältiger und verlagern sich zunehmend in außeruniversitäre Bereiche. Obwohl der Forschung im Mode 2 und der klassischen anwendungsbezogenen Forschung gemein ist, dass eine große Relevanz praktischer Belange vorherrscht, grenzen Gibbons und Kollegen beide explizit voneinander ab. Die Konstellation von Praxis und Wissenschaft bezeichnen sie im Mode 2 als komplexer und vielschichtiger hinsichtlich der intellektuellen und sozialen Herausforderungen (vgl. Gibbons et al. 1994, S. 4). Möller (2012, S. 86, 89) bezeichnet dies anschaulich als „transformative[…] Neugestaltung“ des Prozesses der Herstellung und Anwendung von Wissen bzw. als „anwendungsorientierte[…] Grundlagenforschung“. Allerdings weist Weingart darauf hin, dass es sich bei der Diskussion um den Mode 2 „eher um ein politisches Programm als um die empirische Beschreibung der gegenwärtigen Situation der Wissenschaft“ (Weingart 2003, S. 134) handeln könne. Dennoch beschreibt auch er die gestiegene Rekursivität von Prozessen der Wissensgenerierung für die Praxis (in diesem Fall die Politik): Der Austausch verlaufe keineswegs unilinear, sondern sei vielmehr ein stetiger Rückkopplungsprozess zwischen beiden Sphären (2001, S. 140ff., 2003, S. 87, 89ff.). Er weist zudem auf den Umbruch hin, den die strikte Trennung zwischen Grundlagenforschung und anwendungsbezogener Forschung mit ihrer ebenfalls getrennten Zuständigkeit und unidirektionaler Abfolge bereits erfahren hätten (vgl. Weingart 2003, S. 138).6 Zwar habe damit eine gleichzeitige „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ und „Vergesellschaftung der Wissenschaft“ (beide Weingart 2001, S. 18; Hervorhebungen im Original) eingesetzt, jedoch lösten sich damit die Grenzen zwischen beiden Systemen mitnichten völlig auf (vgl. Weingart 2001, S. 29f., 34). In unterschiedlichen Lesarten wird eine derartige koproduktive Wissensgenerierung bzw. -transformation in Forschungsbereichen, die der Kriminalsoziologie nahestehen7 (eine konkre6 Zur Entstehung der Trennung zwischen reiner, akademischer Wissenschaft und angewandter Wissenschaft siehe ausführlich Weingart (2001, S. 59ff.). 7 Die einbezogenen Beiträge stammen überwiegend aus den Praxisbereichen der Sozialen Arbeit und Jugendarbeit (Möller 2012), dem Bereich der Vereine, Stiftungen und politischen Organisationen (Unzicker 2012), Praxisbezügen unter anderem der politischen Soziologie, Rechtsextremismus- und Gewalt- und Vorurteilsforschung (Hessler 2012) sowie dem Bereich sozialer Innovationen (Howaldt/Schwarz 2012).

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei te Anwendung auf kriminalsoziologische Inhalte fehlt nach Kenntnis der Verfasserin jedoch bislang), bereits diskutiert (vgl. hierzu Unzicker/Hessler 2012). Verschiedene Autoren sprechen sich dafür aus, eine nachhaltige Kultur eines bidirektionalen, offenen Austauschs zu etablieren, die über den einseitigen Transfer von wissenschaftlich generiertem Wissen hinausreicht (vgl. Möller 2012, S. 102; Unzicker 2012, S. 133, 150f.). Über die traditionelle Nutzbarmachung von im Mode 1 erzeugten Forschungsergebnissen in der Praxis hinaus, attestiert beispielsweise Unzicker dem Zwiegespräch beider Sphäreneinen erheblichen Mehrwert auch für die Wissenschaft, die beispielsweise neue Forschungsfragen zu entdecken vermag, aber auch näher an den Forschungsgegenstand heranrückt, was die wissenschaftliche Forschung womöglich „erdet“ (Unzicker 2012, S. 151). Ein ähnliches, in Anlehnung an Weingart (2001, S. 133ff.) als rekursiv bezeichnetes Modell beschreibt Hessler (2012, S. 157f.) im Kontext der Thematik gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse. In Abgrenzung zu starren Modellen wie dem Mode 1 oder der oben beschriebenen Systematik von Burawoy führt Möller das Konzept eines Dritten Raumes ein, in dem ein Zusammenwirken der beiden Sphären Wissenschaft und Praxis gelingen soll (Möller 2012, S. 91): Er erachtet die Annahme, ein Zusammentreffen sei nur auf dem Terrain der einen oder der anderen möglich und wünschbar als genauso irrig wie die Annahme, beide Sphären ließen sich strikt voneinander trennen. Die Idee vom „Dritten Raum“ meint dabei kein ineinander Aufgehen beider Systeme, sondern vielmehr einen gesonderten Ort, der neue, emergente Denkweisen und Wissensbestände hervorzubringen vermag (vgl. Möller 2012, S. 92f.). Die Forderung nach praktischer „Nützlichkeit“ und „Verwertbarkeit“ (beide Howaldt/Schwarz 2012, S. 44; vgl. auch Weingart 2001, S. 15) von Wissen kommt in diesem Zusammenhang zu einer neuartigen Legitimität; auch deshalb, weil (teilweise akademisch ausgebildete) Praktiker zunehmend selbstbewusst und reflektiert mit sozialwissenschaftlich generierten Forschungsresultaten umzugehen vermögen (vgl. Howaldt/Schwarz 2012, S. 44f.; Möller 2012, S. 88). Wissenschaftlich Tätigen jenseits der klassischen forschenden Institutionen kommt Möller (2012, S. 85f.) zufolge dabei eine Schlüsselrolle zu: Die Aufgabe dieser Personen bestünde darin, durch die neuartige Anwendung das eigene Spezialwissen zu entgrenzen; es werden Bezüge zu anders gearteten Wissensstrukturen hergestellt, die dem übermittelten Wissen nicht per se immanent sind (Unzicker 2012, S. 137ff.): Das Wissen wird transformiert. Auch die Transformation von Wissen im oben beschriebenen Mode 2 erscheint im Zusammenhang polizeilicher Praxis nicht uneingeschränkt realistisch. Mit der Auflösung einer klaren Grenze zwischen Praxis und Wissenschaft, bzw. deren Zusammenwirken an einem gesonderten Ort, geht beispielsweise zwangsläufig eine erhöhte Abhängigkeit von externen Auftraggebern und damit potentiellen Einflussnehmern einher (vgl. Möller 2012, S. 87), die sicherlich gerade von universitär geprägten Forschern als inhaltliche Einschränkung empfunden werden kann. Die Überschreitung von disziplinären und organisatorischen Grenzen macht es zudem erforderlich, dass grenzüberschreitende Kontakte bezüglich der Rollen, Kompetenzen und Befugnissen der handelnden Personen aus der jeweils „fremden“ Sphäre geregelt werden müssen (vgl. Unzicker 2012, S. 136), um Konflikte zu vermeiden. Voraussetzung für die gemeinsame Wissenserzeugung ist nach Möller (2012, S. 93) primär ein egalitäres, auf gegenseitige Ergänzung bedachtes Verhältnis zwischen beiden Sphären. Dies gilt sicherlich sowohl für die personelle als auch die institutionelle Ebene. Inwieweit ein Mode 2 der Wissensproduktion für das Verhältnis zwischen Kriminalsoziologie und polizeilicher Praxis erreichbar bzw. überhaupt erstrebenswert ist, soll im Folgenden erör-

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Daniela Pollich tert werden. Aus den allesamt recht abstrakt bleibenden Ausführungen wird deutlich, dass man mit Weingart – zumindest momentan und für das hier relevante Praxisfeld – auch von einer wissenschaftspolitischen Programmatik anstatt einer faktisch bereits fest etablierten Entwicklung ausgehen könnte. Eine empirische Überprüfung dieser Annahme im Kontext der praxisbezogenen kriminalsoziologischen Forschung im strengen Sinne kann an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Stattdessen wird auf Basis eines Aufrisses des Status quo der Wege des Transfers bzw. der Transformation kriminalitätsbezogener Forschungsergebnisse in die polizeiliche Praxis versucht, eine Basis für eine weitergehende Einschätzung zu generieren.

3. Orte der kriminalitätsbezogenen Wissensproduktion

In diesem Abschnitt werden die aktuell relevanten Institutionen der kriminalsoziologischen Wissenserzeugung und der Transfer bzw. die Transformation von Forschungsergebnissen von den jeweiligen Orten aus in die polizeiliche Praxis hinein beleuchtet. Die verschiedenen Konstellationen werden auch dahingehend untersucht, welcher Form der wissenschaftlichen Wissenserzeugung sie zuzuordnen sind und welchen konkreten Einschränkungen in der konkreten Umsetzung sie – neben den weiter oben beschriebenen grundlegenden Problemstellungen – unterliegen.

3.1 Universitäre Grundlagenforschung Die rein am wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse orientierte, kriminalitätsbezogene Grundlagenforschung wird überwiegend an Universitäten durchgeführt; die institutionelle und personale Grenzziehung des Systems Wissenschaft ist hier meist recht stark ausgeprägt. Der institutionellen Verankerung der Kriminalsoziologie an deutschen Universitäten stellt Reuband (2013, S. 141f.; genauso Liebl 2003, S. 280) jedoch allgemein ein schlechtes Zeugnis aus: Zahlreiche Professuren sind zugunsten anderer soziologischer Schwerpunkte in jüngerer Zeit weggefallen. Zwar wird an zahlreichen Universitäten in Deutschland engagierte (Drittmittel)Forschung im Bereich Kriminalsoziologie bzw. Soziologie des abweichenden Verhaltens betrieben,8 jedoch berge die fehlende institutionelle Verankerung, vor allem in Form von einschlägigen Professuren, stets die Gefahr einer mangelnden Stetigkeit in Forschung und auch Lehre; hinzuweisen ist hier besonders auf die Problematik der Einwerbung von Forschungsgeldern. Insgesamt konstatiert Reuband sogar: „Es scheint, als wäre die Thematik von Kriminalität und Abweichung nahezu vollkommen aus dem Bezugsrahmen der Soziologie verschwunden“ (Reuband 2013, S. 151). Albrecht (2013, S. 74; vgl. auch Reuband 2013, S. 151) beschreibt analog auch einen „Bedeutungsverlust der deutschen Kriminologie an den Universitäten“9. Eine empirische Untersuchung, die dies weitgehend bestätigt, legten Boers und Seddig (2013) vor.

8 Da eine Nennung und Würdigung einschlägiger Forscherinnen und Forscher bzw. Projekte sicherlich nicht erschöpfend gelingen kann, wird an dieser Stelle auf den Versuch verzichtet. 9 Siehe hierzu auch das sogenannte Freiburger Memorandum unter https://www.mpicc.de/files/pdf1/freiburger_memorandum_kriminologie_de_123.pdf.

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei Zum notwendigen Transfer universitär erzeugten Wissens in die polizeiliche Praxis werden in der Literatur verschiedene Strategien angerissen; konkrete Vorschläge werden in den seltensten Fällen diskutiert. Auf einer übergeordneten Ebene kann ein Transfer von Wissen beispielsweise durch die Rezeption von Forschungsergebnissen in der Kriminalpolitik stattfinden, die dann durch wissensbasierte Entscheidungen die polizeiliche Praxis steuert. Jedoch konstatiert Becker (2013, S. 211), die universitäre Kriminologie böte recht wenige praktisch anschlussfähige Antworten und es mangele zudem an einem ertragreichen inhaltlichen Austausch zwischen Politik und kriminalitätsbezogener Wissenschaft. Ein weiterer gangbarer Weg der Erzeugung und Vorhaltung praxisbezogenen Wissens bestünde Kerner zufolge darin, das gesammelte wissenschaftlich erzeugte Grundlagenwissen „für Fremdzwecke“ (Kerner 2013, S. 198) zu funktionalisieren und einen Fundus an potenziell praxisrelevanten Forschungsergebnissen für den Bedarfsfall vorzuhalten (vgl. Kerner 2013, S. 198). Damit bliebe das von der Wissenschaft angebotene Wissen allerdings recht unkonkret und abstrakt, was die praktische Anwendung auf konkrete Problemstellungen womöglich einschränkt. Eine direktere Art des Transfers wissenschaftlich-kriminologischen Wissens in die Polizei hinein kann Liebl (2003, S. 287) zufolge auf einer organisationalen Ebene stattfinden; der Verfasser bleibt hier in seinen Ausführungen allerdings recht pauschal: Zur polizeilichen Planung und Steuerung müsste dann seitens der Polizei eine gewisse Nachfrage bzw. eine Rezeption kriminalitätsbezogener Erkenntnisse in Form von Forschungsaufträgen, Weiterbildungen etc. auf verschiedenen Ebenen (von der ministeriellen Ebene über Landesoberbehörden hin zu lokalen Polizeibehörden) erkennbar sein (siehe hierzu auch Gatzke 2013; 2015, S. 48). Als weiteren Weg des Transfers kriminologischen Wissens in die Polizei hinein nennt Liebl die polizeiliche Ausbildung, die sodann den Boden für ein vertieftes kriminologisches Verständnis bereiten kann. Insgesamt ist das klassische Modell universitärer Erzeugung von kriminalitätsbezogenem Wissen und eines (unterschiedlich ergiebigen) unilinearen Transfers nach dem oben beschriebenen Mode 1 noch weit verbreitet; sowohl aufseiten der Wissenschaft, als auch aufseiten der polizeilichen Praxis, die sich eigeninitiativ nur gelegentlich die Mühe macht, sich mit universitär erzeugten Wissensbeständen auseinanderzusetzen. Dies liegt wohl unter anderem auch daran, dass bei dieser Form des Erkenntnistransfers beiden Seiten die höchsten Übersetzungsleistungen abverlangt werden. Ein tatsächlicher Transfer von Ergebnissen, die originär für die eigene Scientific Community bestimmt sind (vgl. Möller 2012, S. 102) in praktisch umsetzbares Wissen, wird daher von beiden Seiten kaum gelebt. In Bezug auf den Wirkungsgrad der universitären Kriminologie in der Praxis stellt Liebl (2003, S. 285) dieser im Allgemeinen treffend das Zeugnis einer „folgenlose[n] Wissenschaft“ aus. Selbst bei einem besseren Gelingen des Transferprozesses ist dieses Modell künftig auch deshalb wenig tragfähig, weil die Institutionalisierung der Kriminalsoziologie und Kriminologie an den Universitäten einen rückläufigen Trend aufweist, dessen Ende nicht absehbar ist. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Praxis benötigte Wissensbestände zunehmend selbst zu generieren sucht.

3.2 Anwendungsbezogene Forschung in Polizeiinstitutionen Inzwischen ist eine anwendungsbezogene polizeiinterne Forschung an den Landeskriminalämtern zumindest in einigen Bundesländern fest etabliert. Die Länder Bayern (vgl. Luff 2012), Hamburg (vgl. Müller 2012, Jarchow 2016), Niedersachsen (vgl. Gluba/Pfeiffer 2012) und

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Daniela Pollich Nordrhein-Westfalen (vgl. KKF NRW 2012) unterhalten sogenannte kriminalistisch-kriminologische Forschungsstellen, das Land Hessen hat diese vor einigen Jahren aufgegeben (vgl. Bott 2012). Zudem betreibt das Bundeskriminalamt im Rahmen des kriminalistischen Instituts kriminalistisch-kriminologische Forschung, die Mischkowitz (2013, S. 214f.) zufolge stark an den Grundsätzen der Praxisnähe und des Anwendungsbezugs hinsichtlich polizeilicher Bedarfe ausgerichtet ist. Insgesamt haben sich verschiedene Vorgehensweisen bei der Wissensproduktion herauskristallisiert: In einigen Fällen werden Forschungsmittel durch polizeiliche Institutionen extern an Wissenschaftler, die Universitäten oder Forschungsinstituten angehören, vergeben. Zudem werden an den Forschungseinrichtungen der Polizeien eigenständig polizeipraktisch orientierte Forschungsprojekte durchgeführt; auch Mischformen dieser Vorgehensweisen werden gelegentlich praktiziert. Ein weiterer Teil der Aufgaben der polizeilichen Forschungsinstitutionen besteht in der Bündelung, Übersetzung und damit Nutzbarmachung (grundlagen)wissenschaftlicher Erkenntnisse, die der polizeilichen Praxis nicht ohne Weiteres zugänglich wären. Ihnen kommt damit, neben der eigenständigen Wissensproduktion, eine Transfer- und Übersetzungsfunktion zu (vgl. Gatzke 2013). Reichertz (2007, S. 136) kritisiert diese polizeilich betriebene Forschung als „Hilfswissenschaft der Kriminalistik“ und eine „Serviceleistung der Wissenschaft für die Polizei“ (beide Reichertz 2007, S. 136). Forschung für die Polizei sei zwar nicht generell durch mangelnde handwerkliche Qualität gekennzeichnet; vielmehr wäre ihre Verhaftung in der polizeilichen Denklogik problematisch, welche die Wissenschaftlichkeit dadurch gefährde, dass die „Perspektivenneutralität“ (Reichertz 2007, S. 139) eingeschränkt sei. Obwohl die (kriminologische) Grundlagenforschung beileibe nicht frei sei von äußeren und inneren Zwängen und Einschränkungen (vgl. Kerner 2013, S. 190f.), warnt beispielsweise auch Kerner in ähnlicher Manier vor einer Überformung und einem Autonomieverlust der kriminologischen Forschung durch einen allzu starken Praxisbezug schon während der Erkenntnisgenese (vgl. Kerner 2013, S. 194f.). Die Diskussion um die Arbeit der Forschungsstellen in Polizeiinstitutionen ist außerdem untrennbar verknüpft mit Überlegungen des Zusammenspiels von Wissenschaft und Politik. Gatzke (2013) führt einerseits aus, dass polizeiinterne Forschung erst Produkt einer politischen Öffnung gegenüber auch längerfristig angelegten Forschungsaktivitäten sei und auf politische Initiative hin etabliert wurde. Andererseits war und ist behördliche kriminalitätsbezogene Forschung gelegentlich dem Vorwurf ausgesetzt, eine mangelnde Distanz zu staatlichen Einrichtungen bzw. der Politik aufzuweisen (Albrecht 2013, S. 75; siehe auch Ohlemacher 2010, S. 7 und allgemein Weingart 2001, S. 142ff., 2003. S. 139). Prägend für die Kultur der polizeiinternen Forschung ist zudem die grundsätzliche Zeitknappheit bei der politischen Entscheidungsfindung (vgl. Becker 2013, S. 211; Mischkowitz 2013, S. 216), die gelegentlich direkt auf polizeiinterne Forschung durchschlägt und durch tagesaktuelle kriminalpolitisch relevante Ereignisse noch befeuert werden kann. Zutreffend bemerkt Jarchow die zumindest partielle Entwicklung eines Forschungsverständnisses, das die „polizeitypische[…] ‚ad-hoc-Kultur‘“ (Jarchow 2016, S. 190) widerspiegelt. Auch das, mitunter zu beobachtende, politisch geprägte Denken bei der Initiierung von Forschungsaufträgen, dessen zeitliche Einheiten Legislaturperioden sind, steht gelegentlich umfangreichen und längerfristig angelegten Forschungsprojekten gegenüber. Daneben ist auch die Rolle der praxisintern forschenden Akteure (mit akademischem Ausbildungshintergrund) keine einfache: „Nicht immer werden ihre Forschungsergebnisse [innerhalb 136

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei der Polizei, DP] erfreut aufgenommen“ (Jarchow 2016, S. 195; siehe auch Ohlemacher 2010, S. 11f.); die Legitimation und die Nützlichkeit des erzeugten Wissens werden nicht selten innerhalb der Organisation infrage gestellt. Auch von außen, insbesondere seitens des universitären Wissenschaftssystems herrscht gelegentlich die Ansicht eines Qualitätsgefälles zwischen universitärer und polizeinaher Forschung bzw. Forscherinnen und Forschern vor. Die Bindegliedfunktion der Personen in derartigen Schlüsselfunktionen wird damit oftmals unterschätzt bzw. übersehen und bliebt damit ungenutzt: „Die Möglichkeiten der Wissenschaft und die Möglichkeiten der Praxis werden durch Menschen mediatisiert – ein Allgemeinplatz, trotzdem wenig beachtet“ (Asmus 2012, S. 47). Dennoch kommt der polizeiinternen Forschung inzwischen insgesamt eine wichtige Funktion bei der Erarbeitung empirisch basierter Entscheidungen zu (Jarchow 2016, S. 189). Die verstärkt zu beobachtende Generierung von Forschungsfragen durch die Polizeiführung selbst wertet Jarchow positiv als Indiz einer zunehmenden institutionellen Verankerung sozialwissenschaftlicher Wissensbestände als feste Informationsquelle der Polizei (Jarchow 2016, S. 190; vgl. auch Asmus 2012, S. 49). Forschungsaktivitäten der Polizeiinstitutionen sind damit insgesamt der anwendungsbezogenen Forschung zuzuordnen (vgl. beispielsweise Burawoy 2012). „[I]n eindeutiger Abgrenzung zur Grundlagenforschung“ (Jarchow 2016, S. 187) sieht auch Jarchow die Forschung innerhalb der Polizei in erster Linie deshalb, weil die Forschungsinhalte stark auf einen unmittelbaren polizeilichen Nutzen zugeschnitten sind. Entstehungs- und Verwertungszusammenhang sind klar vorgegeben und eindeutig auf die polizeiliche Praxis fokussiert. Ein gesonderter Transfer der Ergebnisse in die Praxis ist damit kaum erforderlich; Ergebnisse werden oft recht direkt für die Umsetzung in der Praxis generiert, eine Anpassungs- bzw. Übersetzungsleistung wird damit weitgehend obsolet. Obwohl derartige Forschungsaktivitäten keineswegs dem Mode 1 der Wissensproduktion zuzuordnen sind (vielmehr genau dessen Gegenteil), entsprechen sie auch in weiten Teilen nicht dem proklamierten Mode 2. Zwar sind einige Merkmale desselben durchaus erfüllt (beispielsweise die Rolle der angestellten Wissenschaftler als Grenzgänger), jedoch handelt es sich bei dieser Form der Wissenserzeugung für die polizeiliche Praxis tendenziell ebenfalls um ein eher unflexibles Denkmodell, das komplementär zum Mode 1 der Wissensgenerierung funktioniert und die Trennung der Sphären anhand der Sparte der „anwendungsbezogenen Forschung“ untermauert. Dennoch darf nicht verkannt werden, dass es sich hier um eine Öffnung der Polizei gegenüber sozialwissenschaftlicher Forschung handelt, die womöglich ihren Wirkungsgrad noch auszubauen vermag. Gelingen kann dies durch eine gewisse Beharrlichkeit der beteiligten Forscher, ein ausreichendes Maß an Offenheit der polizeilichen Basis, die Courage der polizeilichen Führung und Politik, zeitintensive Forschungsprozesse und unbequeme Ergebnisse auszuhalten sowie eine stringente Verfolgung von Wissenschaftlichkeit in der polizeilichen Ausund Weiterbildung. Nicht zuletzt gewährleistet die zunehmende Offenheit der Polizei gegenüber wissenschaftlichen Methoden und Forschungsergebnissen einen weiteren Raum für die kriminalitätsbezogene Forschung, deren Überleben die universitäre Landschaft alleine momentan nicht zu realisieren vermag. Eine weitere Bewegung aus der starren Einteilung der „anwendungsbezogenen Sozialforschung“ heraus, hin zu flexibleren Formen des Mode 2 ist hierbei mittel- bis langfristig zumindest nicht ausgeschlossen.

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3.3 Mischlösungen und „Hybride“ Neben der universitären und der polizeiinternen Forschung sind weiterhin Forschungsinstitute zu nennen, die Albrecht (2013, S. 76) unter dem Schlagwort „[a]ußeruniversitäre Kriminologie“ zusammenfasst und die sich in der Forschungslandschaft fest etabliert haben.10 Seit deren Entstehung in den 1970er Jahren sei die Herausbildung weiterer Institutionen dieser Art Albrecht zufolge jedoch stagniert. Oft zeichnen sich derartige Institute durch eine Mischung an Grundlagen- und anwendungsorientierter Auftragsforschung aus, die stets von einem gewissen (variablen), instituts- und projektabhängigen Maß an Transfer bzw. Transformation von Ergebnissen begleitet ist. Neben den außeruniversitären Forschungsinstituten sowie einigen Fachhochschulen, die sich mit einschlägigen Inhalten befassen, sind, trotz ihrer generellen Polizeinähe, auch die Deutsche Hochschule der Polizei (DHPol) sowie die polizeilichen Fachhochschulen und Akademien in diesem Zusammenhang zu nennen. Die dort betriebene kriminalsoziologische bzw. kriminalitätsbezogene Forschung wird im vorliegenden Beitrag als Zwischenstufe zwischen Grundlagenforschung und praxisinterner Anwendungsforschung betrachtet, die sich überwiegend nicht innerhalb des institutionellen Rahmens von Polizeiinstitutionen abspielt. Reuband (2013, S. 144) zufolge stellen die polizeilichen Hochschulen gar diejenigen Orte dar, an denen die Soziologie und Kriminologie (auch in Form von Professuren) noch einen stetigen institutionalisierten Platz in der Auseinandersetzung mit Kriminalität einnehmen. Jaschke und Neidhardt beschreiben derartige Institutionen als „beiden Welten bzw. Kulturen zugehörig: der der Polizei und der der Wissenschaft“ (2004, S. 22). Ohlemacher bezeichnet polizeiliche (Fach)Hochschulen als Hybride zwischen den verschiedenartigen Systemen der Wissenschaft und der Polizei, die Denkweisen und Ansprüche beider Sphären integrieren müssen (vgl. Ohlemacher 2013, S. 188; Mokros 2008, S. 340f.). Interdisziplinarität und ein starker Konnex zwischen Wissenschaft und Praxis bestimmen hier das alltägliche Handeln; dies wird allein schon durch die Zusammensetzung des Personals deutlich. Dabei sind die polizeilichen Hochschulen Orte, an denen schwerpunktmäßig (kriminal)soziologische bzw. kriminologische Inhalte und Forschungsergebnisse in der Lehre weitergegeben werden; sie sind damit einerseits gewissermaßen originäre Orte des Transfers derartiger Inhalte in die Polizei. Hierbei wird sowohl Berufsaus- als auch Weiterbildung betrieben, was neben einer reinen Wissensvermittlung auch die Sozialisation im Sinne einer größeren Offenheit gegenüber wissenschaftlichen Aspekten in der polizeilicher Arbeit und eine anwendungsorientierte Verwertung kriminalitätsbezogener Erkenntnisse an der Basis und in der Führung voranbringen kann (vgl. Liebl 2003, S. 287; Mischkowitz 2013, S. 216; Gatzke 2015, S. 48).11 In jüngerer Zeit ist aus diesen Institutionen heraus aber auch eine zunehmende Beteiligung an der kriminalitätsbezogenen Forschungslandschaft wahrzunehmen. Auf einer institutionellen Ebene zeigt sich dies an der Herausbildung von Forschungsinstituten an verschiedenen polizeilichen

10 Er nennt in dieser Reihe das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, die Kriminologische Zentralstelle (KrimZ) in Wiesbaden und das Kriminologische Forschungsinstitut (KFN) in Hannover. Die Aufzählung ist dahingehend nicht abschließend, dass auch nicht explizit kriminologisch ausgerichtete Institute kriminalitätsbezogene Sozialforschung betreiben. Im vorliegenden Beitrag kann und soll keine umfassende Aufzählung der Vielzahl an Instituten gewährleistet werden. 11 Liebl (S. 288ff., 294ff.) äußerte sich im Jahr 2003 jedoch durchaus kritisch hinsichtlich des Standes der Wissensvermittlung an polizeilichen Fachhochschulden oder vergleichbaren Ausbildungsstätten, indem er beispielsweise die mangelnde Aktualität der vermittelten Inhalte, aber auch die mangelnde Wissenschaftlichkeit der Ausbildung, die eine Rezeption und praktische Umsetzung von Forschungsergebnissen erst ermögliche, moniert.

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei Hochschulen12. Jedoch sehen Zustandsbeschreibungen der Forschungstätigkeit an polizeilichen Hochschulen die aktuelle Situation eher ambivalent. Zwar hätten Forschungsaktivitäten zumindest bei einem Teil des wissenschaftlichen Personals zugenommen und Infrastrukturen sowie Hochschulpolitik passen sich langsam diesen Gegebenheiten an (vgl. Frevel 2012, S. 10), jedoch sei insbesondere durch die hohe Lehrverpflichtung der Beschäftigten der Spielraum für zeitintensive Forschungsprojekte oft begrenzt (vgl. Christe-Zeyse 2012, S. 17f.) und eine Forschungskultur insgesamt bislang wenig etabliert. Trotz der bislang nur moderaten Ausnutzung ihrer Möglichkeiten bieten die polizeilichen Hochschulen damit ein großes Potential für gelebte bidirektionale Modelle der Wissenserzeugung: Durch ihre Nähe zur Institution Polizei, verbunden mit dem Wegfallen des unmittelbaren Handlungsdrucks der Praxis sowie der wissenschaftlichen Ausbildung der interdisziplinär zusammengesetzten Beschäftigten bieten sich diese Institutionen als Instanzen der Vermittlung zwischen den Sphären geradezu an (vgl. auch Asmus 2004, S. 210f.; 2012, S. 50; Lorei/Hogrebe 2012, S. 12). Bei allem Potenzial zur kooperativen Kriminalitätsforschung bleibt an den polizeilichen Hochschulen die Lehre bislang zentral. Durch diese Transferfunktion werden sie wiederum stärker in die Nähe eines Mode 1 der Wissensproduktion bzw. unidirektionalen Wissensweitergabe gerückt. Dennoch ebnen sie momentan sogar auf zweierlei Weise Wege in Richtung eines Mode 2: Durch die Ausbildung einer neuen Polizistinnen- und Polizistengeneration, die mit wissenschaftlichen Denkweisen vertraut ist und diesen offen gegenübersteht, kann ein Nährboden für einen bidirektionalen Austausch bei der Wissensproduktion geschaffen werden. Zudem wird das Personal an den polizeilichen Fachhochschulen verstärkt aus dem Bereich der Wissenschaft rekrutiert; durch eine praxisbezogene Auslegung von Lehre und Forschung, die den Bezug zur Grundlagenforschung dennoch pflegt, kann auch hier eine hybride Form der Wissenserzeugung und -weitergabe entstehen, die die Gräben zwischen Praxis und Wissenschaft mitunter zu überbrücken vermag. Von einer Annäherung an die oben angesprochenen etablierten Institute (oft praxisnaher) kriminalitätsbezogener Forschung könnte eine solche Entwicklung sicherlich nur profitieren.

4. Relevanz verschiedener Forschungsinhalte für die Verständigung von Wissenschaft und Praxis

Neben einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber der Verständigung zwischen kriminalsoziologischer Wissenschaft und polizeilicher Praxis und einem Ort, an dem sich diese abspielen kann, ist eine weitere wesentliche Voraussetzung die Existenz von Themen und Inhalten, die für beide Sphären relevant sind. Ohne einen derartigen gemeinsamen Nenner ist jeglicher Austausch obsolet. Im folgenden Abschnitt wird eine Betrachtung dieser potenziellen Überschneidungsbereiche vorgenommen; hierbei wird zwischen inhaltlichen Aspekten, darunter kriminalsoziologische Theorien sowie deliktische bzw. thematische Schwerpunkte, und sozialwissenschaftlichen Methoden differenziert.

12 So existieren beispielsweise an einigen polizeilichen Hochschulen eigene Forschungsinstitute (vgl. IPOS 2012, Frevel 2012, Christe-Zeyse 2012 siehe zur Polizeiforschung an polizeilichen Hochschulen auch Lorei/Groß 2012).

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4.1 Kriminalsoziologische Theorien Der wesentliche und notwendige inhaltliche Fokus der Grundlagenforschung ist die empirische Prüfung und Weiterentwicklung von kriminalsoziologischen und kriminologischen Theorien. Eine praktische Ausrichtung ist im Bereich der Theorieprüfung naturgemäß nicht angestrebt; die Resultate derartiger Forschungsarbeiten sind damit für die Praxis (ohne Übersetzungsleistung) kaum von offensichtlicher Relevanz. Wohl auch aus diesem Grund konstatiert Becker (2013, S. 209) für den praktischen Bereich der Kriminalpolitik: „Der Fragebedarf nach den Grundlagen der kriminologischen Forschungen, nach Kriminalitätstheorien, ist nicht stark ausgeprägt“. Finden kriminalsoziologische oder kriminologische Theorien Eingang in die polizeiliche Praxis, so werden oftmals steinbruchartig die anwendungsrelevanten Bestandteile verwendet. Diskussionswürdig bleibt an dieser Stelle, welches ein geeignetes Maß an „Theorie“ 13 ist, dem sich auch die Praxis unterwerfen sollte; wobei dieser Begriff nach dortigem Verständnis nicht immer dem sozialwissenschaftlich gebräuchlichen Theoriebegriff entspricht. Zwar muss einerseits zugestanden werden, dass nicht jede kriminalsoziologische Theorie ohne Übersetzungsleistung für die Praxis relevant und anwendbar ist. Eindeutig ist dennoch, dass eine (kriminalsoziologisch-)theoretische Ausbildung unverzichtbar ist, um eine reflexive Haltung zu entwickeln, polizeiliche Alltagstheorien zu erweitern und das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen (vgl. Christe-Zeyse 2005, S. 141f.; Bernhardt/Christe-Zeyse 2016, S. 32ff.; Asmus 2004, S, 213f.). Eine fundierte (und dennoch wohldosierte) theoretische Ausbildung der Polizeibeamtinnen und -beamten ermöglicht erst die Herausbildung der nötigen Abstraktionsfähigkeit, um mit den zahlreichen Herausforderungen dieses komplexer werdenden Berufsfeldes adäquat umzugehen. Insgesamt bleibt jedoch zu konstatieren, dass der Überschneidungsbereich von theoriebezogener Forschung und polizeilicher Praxis bislang gering ist. Die Weiterentwicklung kriminalsoziologischer Theorien wird das Kerngeschäft der Grundlagenforschung bleiben, die tendenziell im Mode 1 der Wissensproduktion von statten geht. Die Notwendigkeit einer auch theoretisch ausgerichteten polizeilichen Ausbildung sowie einer theoretischen Fundierung eher angewandter bzw. polizeinaher Wissenschaftsbereiche (beispielsweise der Polizeiwissenschaften) bleibt davon unbenommen und wird beispielsweise von Stock (2000, S. 106f.) und auch Behr (2000, S. 74; 77) durchaus betont. Noch fehlen in diesem Bereich Theorien fast komplett (vgl. Ohlemacher 2010, S. 3), was wiederum Raum und Bedarf für eine praxisbezogene Theoriebildung zwischen Grundlagenforschung und Anwendung eröffnet.

4.2 Forschungsthemen Zur thematischen Ausrichtung kriminalitätsbezogener Sozialforschung, sollen ihre Ergebnisse für die Praxis relevant und umsetzbar sein, herrschen in der Literatur unterschiedliche Ansichten vor. Albrecht (2013, S. 77ff.) konstatiert, dass „die universitäre Kriminologie an den verschiedenen Forschungsentwicklungen und neuen Fragestellungen kaum mehr teilnimmt“ (Albrecht 2013, S. 77; siehe hierzu auch Liebl 2003, S. 283f.), sondern dass derartige Entwick13 Zum Begriff der Theorien in einem polizeilichen Kontext siehe genauer Asmus 2004, S. 210ff. sowie ChristeZeyse 2005, S. 137ff.

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei lungen von Nachbardisziplinen beforscht würden; dieses Versäumnis, sich über die klassischen, vergangenheitsorientierten Themen hinaus innovativeren Fragestellungen zu widmen, trifft sicherlich in gewissem Maße auch auf die Kriminalsoziologie zu. Durch „..unablässige[…] Berechnungen zu Stalking, Jugendgewalt, Cybermobbing, Menschenhandel“ (Albrecht 2013, S. 77) würde die Sicht auf zukunftsträchtige thematische Strömungen und Programme verbaut, die sich dem Verfasser zufolge in den Bereichen Kriminalpolitik (siehe hierzu auch Becker 2013), Sicherheit und Kriminalitätsprognose abspielen. Als relevante Felder der polizeilichen, anwendungsorientierten Forschung des BKA beschreibt Mischkowitz dagegen gerade stärker deliktisch orientierte, klassische Forschungsfelder wie Extremismus und Terrorismus, Gewaltkriminalität, Cybercrime, Dunkelfeldforschung und Prävention (vgl. Mischkowitz 2013, S. 216ff.). Darüber hinaus zählt Liebl als polizeirelevante Themen unter anderem den Wandel der gesellschaftlichen Definitionen von Kriminalität, Möglichkeiten der Kooperation verschiedener Akteure bei der Herstellung von innerer Sicherheit und nicht zuletzt die empirische Polizeiforschung auf (vgl. Liebl 2003, S. 286). Gatzke (2013) erwähnt darüber hinaus das notwendige Wissen über spezifische Täter- und Opfergruppen oder Instrumente der Früherkennung von neu aufkommenden Kriminalitätsphänomenen oder -szenarien. In vielen dieser Bereiche ist eine deutliche Überschneidung mit der universitären Forschung festzustellen; insbesondere individuelle Gründe für abweichendes Verhalten werden dort oft im Kontext von Theorieprüfungen – mehr oder weniger praxisnah – beforscht. Bereiche, die in der universitären Forschungslandschaft deutlich weniger stark ausgeleuchtet erscheinen, sind die praktisch an Bedeutung gewinnenden Themen der Produktion innerer Sicherheit und der Kriminalitätsprognose. Mitunter ist auch eine starke Beschäftigung der universitären Kriminalitätsforschung mit Themen festzustellen, die das tatsächliche Kriminalitätsgeschehen nur (noch) randständig prägen und damit in der Praxis nicht mehr vordringlich erscheinen; zu nennen wäre hier beispielsweise der große Komplex der Beforschung der Jugendkriminalität. Zwar ist dies aufgrund der hohen Relevanz der Jugendphase für die Theorieentwicklung in der Grundlagenforschung naheliegend, jedoch werden Themen, die einen unmittelbaren polizeilichen Handlungsdruck auslösen, wie aktuell beispielsweise der Wohnungseinbruchdiebstahl, von der Grundlagenforschung nahezu ausgeblendet. Insgesamt zeigt sich einerseits, dass die polizeilich offensichtlich nachgefragten und gelebten Forschungsthemen und -ergebnisse zum Teil durchaus konservativer sind als die von einigen Autoren eingeforderten, innovativeren Ausrichtungen. In der praktischen Umsetzung ist dagegen zu konstatieren, dass Polizeibehörden mit innovativen, jedoch (auch wissenschaftlich) nicht unumstrittenen Themen wie Predictive Policing oder Methoden der Gesichtserkennung mitunter innovative Wege gehen. Durch die Tatsache, dass (sozial)wissenschaftliche Forschung oftmals auf gesellschaftliche und praktische Entwicklungen erst dann reagiert, sobald diese deutlich wahrnehmbar sind und der sich anschließende Forschungsprozess nochmals eine nicht unerhebliche Zeit in Anspruch nimmt, ist der Praxis eine deutlich höhere Aktualität zuzusprechen, was die Diskussion neuartiger Entwicklungen angeht (vgl. hierzu auch Kerner 2013, S. 188; Asmus 2012, S. 43). Jedoch herrscht dort zunächst das Primat der Umsetzung; Nachfrage nach einer fundierten Beforschung aktueller Neuerungen besteht oft erst, nachdem eine erste Implementierung bereits realisiert ist. Ein stetiger Dialog mit der Praxis erscheint damit auch für die Wissenschaft besonders dann gewinnbringend, wenn es darum geht, aktuelle Forschungsthemen frühzeitig zu erkennen und zu beiderseitigem Nutzen wissenschaftlich umzusetzen.

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4.3 Forschungsmethoden Die größte Schnittmenge zwischen Grundlagenwissenschaft und forschungsorientierter Praxis besteht sicherlich im Bereich der wissenschaftlichen Forschungsmethoden; gerade die quantitativen sozialwissenschaftlichen Methoden sind (womöglich durch ihre naturwissenschaftliche Anmutung; vgl. Howaldt/Schwarz 2012: 43) als Expertenwissen auch in der Praxis anerkannt. Die Nachfrage nach diesen Methoden bzw. Experten, die sie anwenden können, ist in vielen Praxisbereichen groß. Zu nennen sind hier beispielsweise die polizeiliche Erhebung und Analyse von Dunkelfelddaten und Längsschnittanalysen der Kriminalitätsentwicklung, Vorhaben wie Predictive Policing oder auch interne Befragungen, beispielsweise zur Arbeitszufriedenheit (vgl. Jarchow 2016, S. 189). Ein weiterer Bereich, in dem zunehmend methodische Expertise gefragt ist, ist die Evaluation. Beispielsweise beschreibt Becker (2013, S. 209f.) den wachsenden Bedarf der Kriminalpolitik nach evidenzbasierten, wirtschaftlich tragfähigen Entscheidungen und damit der Evaluation beispielsweise von Gesetzen oder kriminalpräventiven Maßnahmen. Auch Asmus (2012, S. 47) führt die Evaluation als gern in Anspruch genommene Kompetenz der Wissenschaft an; allerdings betont er auch die politische Legitimationsfunktion von Evaluationsmaßnahmen. Ein Feld, das seine überwiegende Relevanz im Bereich einer Grundlagenforschung im Mode 1 behalten wird, ist dagegen die Methodenentwicklung. Eine Übertragung in die polizeiliche Praxis ist hier kaum zu erwarten und sicherlich auch von keiner Seite vorgesehen, da sich die Ausführungen und Ergebnisdarstellungen unzugänglich für einen praktisch orientierten Leserkreis gestalten (müssen?) und auch die Ergebnisse oft von einem Detaillierungsgrad geprägt sind, der in der Praxis oft unerheblich erscheint. Zusammenfassend zeigt sich, dass einige Forschungsinhalte (insbesondere die Theorie- und Methodenentwicklung) recht eindeutig der Grundlagenforschung im Mode 1 zuzuordnen sind und dies weitgehend bleiben sollten, da nur so ihr Fortbestand gewährt ist. Zahlreiche andere Bereiche, besonders die Beforschung spezieller Kriminalitätsphänomene und die Anwendung von Forschungsmethoden, sind zwischen beiden Systemen zum Teil überaus kompatibel und können ein Fundament für eine gegenseitige Verständigung bilden. Von einem stärkeren Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis können beide Seiten nur profitieren: Die kriminalitätsbezogene Forschung kann so leichter aktuelle neue Themenfelder erschließen und die Praxis ihre Maßnahmen auf solide wissenschaftliche Erkenntnisse stützen. So wird mit einem verbindenden inhaltlichen Bezug eine Transformation von Forschungsergebnissen erst denkbar und sinnvoll; vielmehr noch können geteilte inhaltliche oder problembezogene Interessen sogar zum Katalysator für eine weitere Etablierung bidirektionaler Wissensgenerierung im Mode 2 werden.

5. Fazit

Im vorliegenden Beitrag wurden die verschiedenen, aktuell beobachtbaren Konstellationen der Erzeugung von Wissen zwischen kriminalsoziologischer Grundlagenwissenschaft und polizeilicher Praxis überblicksartig dargestellt. Neben einer aktuell (noch?) vorherrschenden Domi-

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Die Transformation kriminalsoziologischer Forschung in die Praxis am Beispiel der Polizei nanz des Mode 1 sind Formen des Mode 2 der Wissensproduktion in Ansätzen durchaus etabliert und weisen auch ein gewisses Potenzial der Expansion auf. Doch stellte sich damit auch die Frage, ob eine solche im betrachteten Spannungsfeld überhaupt als erstrebenswert und tragfähig anzusehen ist. Die Ausführungen haben einerseits gezeigt, dass ein Verharren in der Dichotomie Mode-1-Wissensproduktion einerseits und Praxisforschung andererseits für beide Seiten nicht gewinnbringend ist: Die Grundlagenforschung würde den Bezug zu aktuellen Themen verlieren und sich vom eigentlichen Kriminalitätsgeschehen weiter entfernen. Die Praxis kann sich dagegen nicht der zunehmenden Verwissenschaftlichung entziehen und tut gut daran, sich weitergehend darauf einzulassen; sie würde angesichts zahlreicher neuer, auch technologiebasierter, Herausforderungen womöglich an Professionalität einbüßen. Damit würde auf den ersten Blick die Empfehlung naheliegen, sich gemeinsam dem Mode 2 der Wissensproduktion zu verschreiben. Doch auch dies ist – in einer absoluten Form – nicht als alleinig zielführend und auch nicht als durchgehend realistisch anzusehen: Beide Systeme folgen teilweise gänzlich verschiedenen Regeln und Logiken und sind allenfalls teilweise kompatibel. Diese Inkompatibilität ist zum Teil dem (verzichtbaren?) beruflichen Abgrenzungsgebaren beider Seiten geschuldet, zum Teil aber von existenzieller Notwendigkeit: Die universitären kriminalsoziologischen und kriminologischen Grundlagenwissenschaften dürfen nicht (weiter) aussterben, die polizeiliche Notwendigkeit des Handelns kann nicht vollends theoriebasiert bewältigt werden. Wie kann ein produktives Miteinander in der polizeibezogenen Forschung also gelebt werden? Angesichts der grundsätzlichen Verschiedenartigkeit der Systeme Polizei und Wissenschaft attestiert Ohlemacher eine Chance der Verständigung beider Systeme in Form eines „Aktionsbündnisses unter taktvoller Wahrung der Verschiedenartigkeit“ (Ohlemacher 2013, S. 190). Konkret fußt eine derartige Zusammenarbeit wesentlich auf der Existenz gemeinsamer Themen und Probleme, die bidirektional beforscht werden können. So basal diese Anforderung ist, ist sie auch die am einfachsten und unmittelbarsten zu gewährleistende. Eine inhaltliche und thematische Annäherung braucht sodann einen Ort, an dem sie stattfinden kann, ohne sich stets gegenüber der jeweils anderen Sphäre rechtfertigen zu müssen. Auch sollte dadurch keine der beteiligten Sphären ihrer Originalschauplätze beraubt werden; diese werden nicht zuletzt für die professionelle Identitätsstiftung benötigt. Zur Kooperation bieten sich damit die oben beschriebenen hybriden Orte an, an denen ein wissenschaftliches und praktisches sowie auch disziplinäres Miteinander in polizeinahen Kontexten ohnehin gepflegt wird und die die zahlreichen Graustufen im Kontinuum zwischen den beiden Extrempolen Grundlagenwissenschaften und Praxis damit naturgemäß abbilden. Dennoch sind die etablierten außeruniversitären Forschungsinstitute und einige nicht-polizeiliche Fachhochschulen in dieser Aufzählung genauso wenig zu vernachlässigen, wie auch das Potenzial der Universitäten und polizeilichen Forschungseinrichtungen zur Wissenserzeugung im Mode 2 übersehen werden sollte. Wie kann man nun die themenbezogene Verständigung von kriminalsoziologischer Forschung und Praxis an den verschiedenen Orten gewährleisten? Insgesamt hängt eine fruchtbare Zusammenarbeit beider Wissensgemeinschaften sicherlich maßgeblich davon ab, dass sich die beteiligten Akteure selbst auf die jeweiligen Rationalitäten, Regeln und Gepflogenheiten aber auch Erfordernisse des Gegenübers einlassen (vgl. Unzicker 2012, S. 134). Wissenschaftler müssten – sofern sie praktisch wirksam sein wollen – anerkennen, dass sie sich in einer für sie

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Daniela Pollich fremden Sphäre von Wissen bewegen, das sie „nicht einfach als unwissenschaftlich abtun können“ (Unzicker 2012, S. 150). Im Gegenzug müsste der Organisation Polizei im Ganzen eine noch stärkere Hinwendung zu einer sozialwissenschaftlich geprägten, in jedem Fall aber reflexiven und abstrahierenden Denkweise abverlangt werden.14 Trotz aller Notwendigkeit einer weiteren Annäherung kann und sollte niemals eine komplette Angleichung der Systeme das Ziel sein. Wie sich deren notwendiger werdende Kooperation weiterhin darstellt, bleibt abzuwarten; wichtig ist dabei sicherlich eine aktive Mitgestaltung beider Seiten unter Wahrung gegenseitiger Akzeptanz. „Es geht gesamtgesellschaftlich, wissenschaftlich und polizeilich gesehen, um das Aushalten, den Umgang mit Heterogenität, nicht um die Herstellung von Homogenität“ (Ohlemacher 2013, S. 190). Genau dieser, sicherlich nicht reibungslose bidirektionale Austausch entlang der zahlreich vorhandenen inhaltlichen Schnittmengen, birgt das Potenzial für fruchtbare Entwicklungen im Sinne einer echten Transformation von kriminalsoziologischer Forschung in die polizeiliche Praxis.

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II. Ätiologie. Ursachen von Kriminalität

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149 Werte und abweichendes Verhalten Andreas Pöge & Daniel Seddig

1. Einleitung

Werte spielen in den Sozialwissenschaften eine bedeutende Rolle, da ihnen meist schon per definitionem neben Sinnstiftung auch eine allgemeine Handlungsrelevanz zugesprochen wird. Damit lässt sich annehmen, dass Werte auch im Hinblick auf abweichende Verhaltensweisen grundsätzlich handlungsleitend sind. Eine weitverbreitete, klassische Definition beschreibt Werte folgendermaßen: „A value is a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action.” (Kluckhohn 1951, S. 395). Diese Definition eines Wertes als eine Auffassung bzw. Konzeption „von Wünschenswertem“ wurde durch einige Autorinnen und Autoren modifiziert – bedeutende Ansätze stammen von Rokeach (1973), Inglehart (1977), Klages (1984) und Schwartz (1992). Auch wenn deren Definitionen in manchen Bereichen differieren, kann man festhalten, dass Werte in der Regel als dauerhafte (siehe dazu Pöge 2017), tief in der Persönlichkeit verwurzelte Grundüberzeugungen und Zielvorstellungen gefasst werden, die einen relativ hohen Abstraktionsgrad aufweisen (vgl. Kadishi-Fässler 1993). Dieser letztgenannte Umstand ist mitverantwortlich dafür, dass direkte Effekte von Werten auf tatsächliches (abweichendes) Verhalten nicht leicht nachzuweisen sind. Man nimmt in der Regel an, dass sie über stärker situationsbezogene soziale Normen oder Einstellungen vermittelt werden. In diesem Beitrag werden zunächst die bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Wertetheorien vorgestellt (Abschnitt 2), danach werden die Theorien abweichenden Verhaltens besprochen, in denen Werte eine gewichtige Rolle spielen (Abschnitt 3). Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der empirischen Befunde zu den jeweiligen Theorien, die allerdings aufgrund von Überschneidungen nicht in jedem Fall trennscharf ausgewiesen werden können. Den Abschluss dieses Beitrags bildet die Darlegung der empirischen Analysen der Verfasser (Abschnitt 4).

2. Wertetheorien

Für den Sozialpsychologen Rokeach wird menschliches Verhalten durch ein Wertesystem, also das Zusammenspiel verschiedener, ihrer Priorität nach geordneter Werte, geleitet. Alle Menschen besitzen prinzipiell dieselben Werte, unterscheiden sich jedoch in der individuellen Rangreihenfolge der Werte-Prioritäten. Eine der Besonderheiten der Rokeachen Wertekonzeption ist die Unterscheidung von instrumentellen und terminalen Werten. Während die instrumentel-

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Andreas Pöge & Daniel Seddig len Werte sich auf die wünschenswerte Art und Weise der Lebensführung („modes of conduct“) beziehen, sind terminale Werte auf gewünschte Endzustände der Existenz („end-states of existence“) gerichtet (vgl. Rokeach 1973).1 Im Hinblick auf die Frage nach der Anzahl der Werte bleibt Rokeach vage: Er schätzt sie bei terminalen auf rund 20 und bei instrumentellen Werten auf rund 60 bis 70 (vgl. Rokeach 1973, S. 11). Empirisch umgesetzt wird seine Konzeption durch die Abfrage von Werteprioritäten mittels Rangreihenfolgen und umfasst folgende Wertedimensionen:2 „Immediate vs. delayed gratification“, „Competence vs. religious morality“, „Self-constriction vs. self-expansion“, „Social vs. personal orientation“, „Societal vs. family security“, „Respect vs. love“ und „Inner- vs. other-directed“. Besonders in der Soziologie und der Politikwissenschaft sind die Arbeiten des Politologen Ronald Inglehart (1977) über den Wertewandel der 1960er und 1970er Jahren sehr bekannt geworden. Er unterscheidet in Anlehnung an die Maslowsche Bedürfnispyramide (vgl. Maslow 1943) zwei grundlegend unterschiedliche Bedürfnistypen bzw. Zielvorstellungen: 1) unmittelbar persönliche Bedürfnisse „nach physischer Versorgung und Sicherheit“ und 2) Bedürfnisse „nach Selbstverwirklichung und intellektueller wie ästhetischer Befriedigung“ (Inglehart 1979, S. 282). Sie werden als materielle und nichtmaterielle bzw. postmaterielle Ziele bezeichnet. Mithilfe der sogenannten Mangel- und Sozialisationshypothese schließt Inglehart, dass man bei Erwachsenen aus ihren Werthaltungen ableiten kann, welche Umweltbedingungen zur Zeit ihrer Sozialisation vorherrschten und konstatiert über einen Generationenvergleich einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Dieser wird vor allem dadurch sichtbar, dass alte, materialistische Werte an Bedeutung verlieren und durch neue, postmaterialistische Werte ersetzt werden. In empirischen Studien, kommen Ranking-Verfahren zum Einsatz, bei denen Befragte zwölf vorgegebene Werte in eine nach Wichtigkeit sortierte Rangreihenfolge bringen müssen. Auf Grundlage ihrer Antworten werden Personen dann in vier Gruppen eingeteilt: 1) Post-Materialisten, 2) gemischt postmaterialistisch, 3) gemischt materialistisch, 4) Materialisten. Empirische Nachweise für seine Theorie legt Inglehart mit Daten aus zahlreichen Ländern und zu zahlreichen unterschiedlichen Zeitpunkten vor. Seine Grundannahmen, die methodische Umsetzung und die empirischen Erkenntnisse wurden allerdings sehr kontrovers diskutiert (siehe bspw. Lehner 1979; Six 1985; Klein/Pötschke 2000; Marcus 2009; Alemán/Woods 2016). Der als Hauptbefund zunächst festgestellte Wertewandel scheint nach einer Hochphase in den 1980er Jahren mittlerweile zumindest gestoppt zu sein (siehe bspw. Hradil 2002; Kaina/ Deutsch 2006; Klein 2008). In neueren Arbeiten erweitert Inglehart mittlerweile seinen Werteraum auf zwei Dimensionen: 1) „Traditional vs. secular-rational values“ und 2) „Survival vs. self-expressive values“ (vgl. Inglehart/Baker 2000; Inglehart 2008). In der kritischen Auseinandersetzung mit Inglehart entwickelt der Soziologe Helmut Klages (1985) im Rahmen der Speyerer Werteforschung ein zunächst zweidimensionales Konzept. Die zugrunde liegenden Wertedimensionen werden ursprünglich als „Kon-Werte“ (Pflichtakzeptanz) und „Non-Kon-Werte“ (Selbstentfaltung, Engagement) bezeichnet. Wertorientierungen sind für ihn individuelle Präferenzen, nach denen Menschen ihre Wahrnehmungen und ihr Handeln ausrichten. Wertewandel zeigt sich nach seinem Verständnis nicht nur ein-, sondern mindestens zweidimensional durch schubweise Veränderungen der Werte-Wichtigkeiten (vgl. 1 Instrumentelle Werte sind beispielsweise „mutig“, „ehrlich“ oder „einfallsreich“, Beispiele für terminale Werte sind „ein aufregendes Leben“, „eine friedliche Welt“ oder „Gleichheit“. 2 Eine bekannte Version des Erhebungsinstruments (Rokeach-Value-Survey, „Form D“) umfasst 18 instrumentelle und 18 terminale Werte (vgl. Rokeach 1973, S. 29). Die Operationalisierung mit einer erzwungenen Rangreihenfolge und daraus resultierenden Ranking-Daten wurde vielfach kritisiert (vgl. zusammenfassend Schlöder 1993).

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Werte und abweichendes Verhalten Klages 1985). Seit Mitte der 1980er Jahre ist in diesem Verhältnis eine weitere Dimension bedeutsam: „Hedonismus/Materialismus“.3 Die Konzeption von Klages beruht in Anlehnung an Parsons (1951) auf der Annahme, dass eine eindeutige, stabile Rangordnung zwischen Werten nicht immer und zwingend vorhanden sein muss – bei der Messung von individuellen Werthaltungen wird daher kein Ranking – sondern ein Rating-Verfahren verwendet. Er entwickelt dazu eine eigene, 24 Items umfassende Skala: das sogenannte Speyerer Inventar zur Messung von Wertorientierungen (Klages et al. 1992). Auf Grundlage der Ausprägungskombinationen (hoch/tief) auf den genannten drei Dimensionen werden Individuen in fünf Wertetypen eingeteilt: 1) Konventionalisten, 2) Resignierte, 3) Realisten, 4) Hedo-Materialisten und 5) Idealisten (vgl. Klages/Gensicke 2005, 2006). Eine besondere Bedeutung kommt den „aktiven Realisten“ zu, die durch das Wertemuster der Wertsynthese gekennzeichet sind, das heißt, der Zustimmung zu allen Wertedimensionen. Diese Wertsynthese wird als anomiefest und zukunftweisend charakterisiert (vgl. Klages/Gensicke 2006, S. 340) und stellt nach Meinung von Klages die „anspruchsvolle Reaktion“ auf komplexe gesellschaftliche Randbedingungen dar. Auch gegen die Theorie von Klages ist Kritik vorgebracht worden. Bemängelt wird unter anderem die lückenhafte theoretische Grundlegung (vgl. bspw. Schlöder 1993; Kadishi-Fässler 1993), aber auch die allzu positive Bewertung der Wertsynthese (vgl. Roßteutscher 2004; Thome 2005). Anknüpfend an Rokeach und eigene Vorarbeiten (Schwartz/Bilsky 1987, 1990), begründet der Sozialpsychologe Shalom Schwartz (1992, 1994, 1996) eine Theorie universeller menschlicher Werte. Er definiert Werte als Ziele im Sinne von Leitprinzipien des Lebens und differenziert zwischen zehn konzeptuellen Wertetypen, die spezifische Werte zusammenfassen (vgl. Sagiv/ Schwartz 1995, S. 438): „universalism“, „benevolence“, „conformity“, „tradition“, „security“, „power“, „achievement“, „hedonism“, „stimulation“, and „self-direction“. Besonders bedeutsam sind in seiner Theorie die Beziehungen zwischen den Wertetypen, denn diese stehen in einem systematischen Verhältnis zueinander. Schwartz ordnet sie nach ihrem konzeptuellen Ähnlichkeitsverhältnis kreisförmig an: Wertetypen bzw. zugrunde liegende Motivationen, die sich ähneln, liegen nebeneinander, Wertetypen, die in direktem Widerspruch zueinander stehen, liegen sich im Kreis gegenüber (vgl. Schwartz 1996; Bardi/Schwartz 2003). Die individuelle Werthaltung eines Individuums wird nach Schwartz über die Relationen aller zehn Wertetypen bestimmt und kann nur über das Gesamtverhältnis zueinander adäquat beschrieben werden (vgl. Schwartz 1996; Schwartz/Huismans 1995). Die zehn genannten Werte werden von Schwartz auf einer zweiten Abstraktionsebene mit vier Wertedimensionen verortet: „openness to change“, „conservation“, „self-enhancement“ sowie „self-transcendence“. Die Theorie ist seit ihrer ersten Formulierung erweitert worden, sodass in ihrer aktuellen Fassung auch eine weitere Unterteilung von motivationalen Wertgrundlagen möglich ist (vgl. Schwartz et al. 2012). Zur empirischen Überprüfung entwickelt Schwartz den „Schwartz Value Survey“ (SVS) mit ursprünglich 56 Einzelwerten, von denen 21 aus dem Werte-Inventar von Rokeach übernommen wurden (vgl. Schwartz 1992; Glöckner-Rist 2012).4 Um die Sozialstruktur der Gesellschaft zu beschreiben, stellt das Sinus-Institut Heidelberg Ende der 1970er Jahre einen sehr bekannt gewordenen Milieu-Ansatz vor, der Werte als wichtige 3 Die Wertedimensionen werden in den aktuellen Publikationen meist „Pflicht und Akzeptanz“, „Hedonismus und Materialismus“ sowie „Idealismus und Engagement“ genannt (vgl. Gensicke 2000, 2001; Klages/Gensicke 2006). 4 Ein kürzeres Erhebungsinstrument stellt der sogenannte „Portrait Value Questionnaire“ (PVQ) dar, der in einer ersten Version 40 Items enthält (vgl. Schmidt et al. 2007). Eine nochmals verkürzte PVQ-Version mit 21 Items wurde speziell für den „European Social Survey“ entwickelt (vgl. Schwartz 2001; Schmidt et al. 2007).

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Andreas Pöge & Daniel Seddig Aspekte einbezieht. Soziale Milieus werden hier, vereinfacht dargestellt, als gesellschaftliche Subgruppen verstanden, deren Mitglieder sich in Lebensweise und -auffassung ähneln (vgl. Becker/Nowack 1985, S. 14; Flaig et al. 1997, S. 55). Die als Sinus-Milieus bezeichneten Gruppen sind das Ergebnis von umfangreichen qualitativen Untersuchungen (sogenannten „Lebenswelt-Explorationen“), die bis heute fortlaufend weitergeführt werden und dem eigenen Anspruch nach alle für ein Individuum bedeutsamen Erlebnisbereiche (unter ihnen auch Einstellungen und Werthaltungen) abdecken (Barth/Flaig 2013, S. 19 ff.). Anfang der 1980er Jahre wird eine aus zunächst 45 Fragen bestehende Statement-Batterie, der sogenannte Milieu-Indikator, entwickelt, mit deren Hilfe eine quantitativ-empirische Überprüfung möglich ist.5 Sie erfasst milieuspezifische Wertorientierungen, die nach eigenen Angaben für die Identifizierung und Trennung der sozialen Milieus besonders gut geeignet sind und mithilfe spezieller Clusteranalysen6 zur Klassifikation herangezogen werden (Flaig et al. 1997, S. 69 ff.).7 Die so ausgemachten gesellschaftlichen Gruppen werden in einem Koordinatensystem, welches durch die Achsen „soziale Lage“ und „Grundorientierung“ aufgespannt wird, verortet, wobei die horizontale Orientierungsachse explizit Bezug auf Werte nimmt.8 Die Sinus-Milieus, deren Anzahl und inhaltliche Prägung sich im Laufe der Zeit mehrfach ändern, werden mit eingängigen Titeln belegt: 1) „Konservativ-Etablierte“, 2) „Liberal-Intellektuelle“, 3) „Performer“, 4) „Expeditive“, 5) „Sozialökologische“, 6) „Bürgerliche Mitte“, 7) „Adaptiv-Pragmatische“, 8) „Traditionelle“, 9) „Prekäre“ und 10)„Hedonisten“ (Sinus 2017, S. 13). Die Benennungen beziehen sich dabei zum Teil direkt auf die in diesen Milieus vorherrschenden Werte (beispielsweise bei den Hedonisten und den Traditionellen), zum Teil beziehen sie sich aber auch auf andere milieukonstituierende Merkmale (beispielsweise bei den Expeditiven und den Prekären). Lebensstil- und Milieuansätze wurden insgesamt zwar teils heftig kritisiert und negativ bilanziert (vgl. im Überblick Pöge 2007c, S. 31 ff.; Otte 2005), dennoch erfreuen sich die Sinus-Milieus als Analyseinstrument in der wissenschaftlichen Forschung großer Beliebtheit.

3. Werte und Theorien abweichenden Verhaltens

Vor allem in der Kriminalsoziologie wurden zur Erklärung von Delinquenz vielfältige Ansätze und Methoden entwickelt, die Werte einbeziehen (vgl. Hermann 2003). Wie oben bereits erwähnt, wird bei Werten ein eher hohes Abstraktionsniveau angenommen, welches sie unter anderem von konkreteren Normen und Einstellungen unterscheidet. Zwar wird Werten gemeinhin zugesprochen, sowohl die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen als auch die Reaktionen und Handlungen von Individuen zu beeinflussen, starke direkte Effekte auf tatsächliches Verhalten sind jedoch in der Praxis meist nicht einfach zu belegen. Als Gründe dafür können unter anderem die geringe Situationsbezogenheit und das zur Verhaltenssteuerung nö-

5 Eine Version des Instruments findet sich bei Heitmeyer et al. (1995, S. 472 f.). 6 Die methodischen Einzelheiten des Verfahrens sind allerdings aus urheberrechtlichen Gründen nicht bekannt. 7 Diese Itembatterie enthält neben einigen Wertedimensionen wie zum Beispiel „Pflicht und Konvention“, „Hedonismus und Materialismus“ und „Kreativität und Engagement“ allerdings auch weitere Faktoren wie beispielsweise „Technikaffinität“ oder „Deprivation“, die keine Werte im engeren Sinne darstellen (vgl. Pöge 2002, S. 71; Boers/Pöge 2003, S. 259 f.; Pöge 2007c, S. 115 ff.; Boers/Reinecke 2007a, S. 377). 8 Allerdings werden im Laufe der Zeit unterschiedliche Achsenbeschriftungen verwendet (vgl. bspw. Becker und Nowack 1985, S. 14; Flaig et al. 1997, S. 144).

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Werte und abweichendes Verhalten tige komplexe Zusammenspiel mehrerer Werte angeführt werden. Häufig wird der Einfluss von Werten auf die Wahl von Handlungsarten und -zielen daher als indirekt bzw. als vermittelt über soziale Normen oder Einstellungen angenommen (vgl. Homer/Kahle 1988; Feather 1995; Hitlin/Piliavin 2004). Normen werden nach Spittler (1967) in der Soziologie weitverbreitet als Verhaltensanforderungen für wiederkehrende Situationen angesehen. Als Konkretisierung von Werten spielen sie bereits bei der Definition von abweichendem Verhalten eine bedeutende Rolle. Zwar ist allein die Normorientierung nicht in jedem Fall für eine eindeutige Definition ausreichend (Beispiel: Labeling Approach), die Unterscheidung zwischen normkonformem und normabweichendem Verhalten (und damit indirekt auch der Bezug zu Werten) ist in der Kriminalsoziologie aber von entscheidender Bedeutung (vgl. Lamnek 2007, S. 20 ff.). Wenngleich wir also eher von indirekten bzw. vermittelten Effekten ausgehen können, lassen sich in Bezug auf abweichendes Verhalten – je nach Inhalt der Werte – durchaus Unterschiede in der Wirksamkeit vermuten. Am stärksten sollten Werte wirken, die sich explizit auf (Non-)Konformität beziehen bzw. selbst (Non‑)Konformität zum Inhalt haben. In Anlehnung an Braithwaite und Braithwaite (1981) können vier Arten solcher Werte formuliert werden: 1) präskriptiv-konforme, 2) präskriptiv-nonkonforme, 3) proskriptiv-konforme und 4) proskriptiv-nonkonforme Werte.9 In jeder der oben vorgestellten Wertetheorien sind Beispiele für diesbezügliche Werte enthalten. Am entferntesten ist der Konformitätsbezug noch bei Rokeach ausgearbeitet, wo aber immerhin die terminalen Werte des Weltfriedens und der inneren Harmonie bzw. äußeren und inneren Konfliktfreiheit sowie eine Reihe von verwandten instrumentellen Werten10 zu finden sind. Man kann diese mit einigen Einschränkungen als durchaus präskriptiv-konform betrachten. Bei Inglehart basiert die Wertedimension Materialismus (Sicherheitsbedürfnis) auf den Items „Aufrechterhaltung der Ordnung in der Nation“ und „Kampf gegen Verbrechen“ und weist somit einen präskriptiv-konformen und proskriptiv-nonkonformen Kern auf. Die Wertedimension der Pflicht- und Akzeptanzwerte bei Klages, die unter anderem mit den Items „Gesetz und Ordnung respektieren“ sowie „Nach Sicherheit streben“ gemessen wird, umfasst explizit präskriptiv-konforme Inhalte. Besonders ausgeprägt ist der Bezug in der Theorie von Schwartz, bei der der Wert Konformität als einer der zehn universellen menschlichen Werte Berücksichtigung findet.11 Mit Einschränkungen lässt sich hier auch noch der Wert Sicherheit anführen. Die zur Messung eingesetzten Statements weisen ebenfalls präskriptiv-konforme Inhalte und eines weist einen proskriptiv-nonkonformen Inhalt auf.12 Präskriptiv-nonkonforme und proskriptiv-konforme Werte sind hingegen in den gängigen Inventaren nicht zu finden, allerdings lassen sich auch dafür Beispiele formulieren. In bestimmten gesellschaftlichen Gruppen kann Nonkonformität durchaus einen präskriptiven Wertecharakter besitzen, wenn etwa Statuserhöhung durch nonkonformes Verhalten wie Gewaltverhalten, Graffitisprayen oder Mutproben als Ziel gesehen wird. Selbst für den Fall der proskripiv-konformen Werte können Beispiele ge-

9 Präskriptiv kann in diesem Zusammenhang mit vorschreibend, proskriptiv am ehesten mit ächtend übersetzt werden. 10 Dies sind die Werte „honest (sincere, truthful)“, „obedient (dutiful, respectful)“, „polite (courteous, wellmannered)“, „responsible (dependable, reliable)“ und „self-controlled (restrained, self-disciplined)“. 11 Conformity-Items: „He/She believes that people should do what they’re told. He/She thinks people should follow rules at all times, even when no-one is watching.“, „It is important to him/her always to behave properly. He/She wants to avoid doing anything people would say is wrong.“. 12 Security-Items: „It is important to him/her to live in secure surroundings. He/She avoids anything that might endanger his/her safety.“, „It is important to him/her that the government ensures his/her safety against all threats. He/She wants the state to be strong so it can defend its citizens.“.

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Andreas Pöge & Daniel Seddig funden werden. Im Bereich der Steuerdelikte scheint es gesellschaftliche Gruppen zu geben, die konformes Verhalten ächten und Mitglieder der russischen Mafia („Diebe im Gesetz“) verfolgen proskripiv-konforme Werte, die ihnen beispielsweise verbieten, eine Familie zu gründen oder einer regulären Arbeit nachzugehen.

3.1 Subkulturtheorie Eine der klassischen Kriminalitätheorien ist die Subkulturtheorie, die vielleicht am stärksten den direkten Einfluss von Werten13 auf abweichendes Verhalten berücksichtigt. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts wurde von Znaniecki und Thomas (1927) eine der Grundannahmen formuliert, dass Werte, Normen und Einstellungen eines Individuums von der jeweiligen sozialen Gruppe abhängen, der es angehört.14 Da moderne Gesellschaften in ihrer Zusammensetzung hochkomplex sind, existieren Unterschiede und auch Konflikte zwischen den Werten verschiedener sozialer Gruppen, die zu Devianz und Delinquenz führen können.15 Im Rahmen der Subkulturtheorie existieren verschiedene Ausrichtungen, die auch die Wirkung von Werten auf abweichendes Verhalten in unterschiedlicher Weise beschreiben. Subkultur-Theorien nach Cohen (1955), Miller (1958) sowie Wolfgang und Ferracuti (1967) postulieren, dass Delinquenz aus einem speziellen Wertesystem resultiert, welches charakteristisch für niedrige soziale Klassen ist und antisoziale Handlungen legitimiert oder sogar erfordert. Sehr bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die Subculture-of-Violence-These (Wolfgang 1958; Wolfgang/Ferracuti 1967), nach der Gewalt aus der Befolgung eines Sets von Subkultur-Werten, welche Gewaltausübung befürworten und unterstützen, resultiert (siehe auch Cloward und Ohlin 1960). Im Gegensatz dazu führen konventionelle Mittelklassen-Werte zu konformem Verhalten (vgl. Cohen 1967).16 Die Ursachen für die Ausbildung von Subkulturen mit spezifischen, nonkonformen Werte- und Normensystemen sieht Cohen (1955) vor allem in den Folgen von Anpassungsproblemen, die aus unterschiedlichen und ungleichen sozialen Lagen resultieren. Das vorherrschende (Mittelklassen-)Werte- und Normensystem gilt zunächst für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen, aber aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslagen können nicht alle Gesellschaftsmitglieder den Anforderungen dieses Systems entsprechen. Die Ausbildung von Subkulturen ist eine kollektive Reaktion auf solche Anpassungsprobleme, die durch die Ausbildung bzw. Formation eigener Werte- und Normstrukturen die Spannungszustände ihrer Mitglieder zu lösen versuchen. Dies geschieht durch eine Erhöhung des Selbstwertgefühls durch die „Ablehnung 13 Allerdings wurden häufig sehr verhaltensnahe, nonkonforme Werte formuliert, die den heutigen Wertedefinitionen kaum entsprechen. Nach Lerman (1968, S. 222 f.) finden sich in den verschiedenen Subkulturansätzen folgende Werte: „the ability to keep one’s mouth shut to the cops“, „the ability to be hard and tough“, „the ability to find kicks“, „the ability to make a,fast buck.‘“, „the ability to outsmart others“, „the ability to make connections with a racket“, „the ability to get good grades“ und „the ability to do well in the job world“. 14 Häufig werden nonkonforme Werte selbst allerdings als subkulturkonstituierend betrachtet, um dann als Erklärgrößen zu fungieren, was die Gefahr des tautologischen Zirkelschlusses in sich birgt. 15 Znaniecki und Thomas (1927) beziehen sich dabei zunächst auf unterprivilegierte Einwandererkinder und privilegierte Eltern und Lehrern in den USA. Bei Untersuchungen zu den Unterschieden zwischen Werten von delinquenten Jugendlichen und Kontrollgruppen in den 1930er Jahren konnten allerdings keine eindeutigen bzw. sogar widersprüchliche Belege ausgemacht werden (vgl. Barron 1951, S. 210). 16 Cohen (1967) argumentiert, dass protestantische Werte (harte Arbeit, Bedürfnisaufschub, Wert der formale Bildung etc.) die Einbindung in Kriminalität verringern, weil Jugendliche mit diesen Werten 1) keine Zeit für kriminelle Handlungen haben, 2) ihre Zukunft nicht riskieren wollen und 3) Delinquenz als unvereinbar mit den eigenen Normen und konventionellen Standards gesehen wird.

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Werte und abweichendes Verhalten der Ablehnenden“. Konventionelle präskriptiv-konforme Werte werden reaktiv-formativ in präskriptiv-nonkonforme umgewandelt (normative Inversion). Gegen diese Sichtweise ist einige Kritik vorgetragen worden. Downes (1966) beispielsweise sieht die Reaktion auf Anpassungsprobleme nicht in der Reaktion-Formation (bzw. Rebellion), sondern eher in einem Rückzug. Außerdem lässt sich unbestreitbar vorhandene Mittelklassen-Delinquenz nicht durch den beschriebenen Reaktion-Formations-Mechanismus erklären. Auch in Bezug auf Konformität bleibt unklar, ob mit dieser Sichtweise beispielsweise Mittelklassen-Angehörige dieselben Werte aufweisen müssen wie konforme Unterklassen-Angehörige? Schur (1969) argumentiert, dass konventionelle (Mittelklassen)-Werte nicht nur zur Erklärung konformen, sondern auch delinquenten Verhaltens herangezogen werden können.17 Miller (1958) nimmt im Gegensatz zu Cohen (1955) Unterklassen-Werte nicht als nur durch die Reaktion auf Mittelklassen-Werte gebildet, sondern als eigenständig an. Auch Unterklassen-Gang-Verhalten wird von eigenen Verhaltensanforderungen (sogenannten „focal concerns“)18 bestimmt. Er räumt jedoch ein, dass auch nicht-kriminelles Verhalten grundsätzlich aus denselben Werten und Bedürfnissen entspringen kann. Matza und Sykes (1961) stellen den Begriff der Neutralisationstechniken19 in den Vordergrund und nehmen an, dass Jugendliche vor allem dann delinquent werden, wenn sie diese Techniken erlernen und nicht, indem sie präskriptiv-nonkonforme Werte verinnerlichen. Matza (1964) konzentriert sich auf den Prozess des Wechselns zwischen Konformität und Nonkonformität (drift). Dieser intervenierende Prozess ist zwischen dem Versagen in einem Statussystem und Delinquenz wirksam. Nach seiner Sichtweise erlauben subkulturelle Werte zwar Delinquenz, sie verlangen sie aber nicht. Somit „driften“ delinquente Jugendliche zwischen konformem und delinquentem Verhalten. Versagen in einem Statussystem kann diesen Drift verstärken, wobei Machtlosigkeit als wichtigste Dimension dieses Versagens beschrieben wird. Für Lerman (1968) ist eine deviante Subkultur dann existent, wenn illegales Verhalten mit geteilten Symbolen (Gaunersprache/Slang und Werten) zusammenhängt. Er sieht diejenigen, die abweichende Werte aufweisen, ebenfalls nicht automatisch als an der Verletzung legaler Statuten interessiert an. Deckungsgleich zu Matza (1964) vermutet er, dass Werte nicht vorschreiben, illegal zu agieren, aber dass illegales Verhalten möglicherweise toleriert wird, wenn es im Einklang mit entsprechenden Werten steht. Die Subkulturtheorie wurde im Laufe der Jahre in einigen Studien empirisch überprüft. Eingesetzt wurde sie vor allem zur Analyse und Erklärung der Banden- bzw. Gang-Kriminalität, wobei der Fokus meist auf jungen Menschen lag. Clark und Wenninger (1963) können auf Grundlage von Schulkindern der sechsten bis zwölften Klasse (n = 1154), die in vier soziogeographischen Gruppen gezogen wurden, zeigen, dass grundsätzlich deutliche Beziehungen zwischen Werten und Kriminalität bestehen. Lerman (1968) belegt auf der Grundlage von n = 555 männlichen New Yorker Jugendlichen im Alter von 10 bis 19 Jahren, dass eine Orientierung an devianten Werten sowohl in der Vergangenheit als auch der Gegenwart stark mit der Anzahl an devianten Handlungen verknüpft ist. Dieser Befund trifft allerdings vorwiegend auf die älteren Jugendlichen zu. Des Weiteren kommt der Autor zu dem Schluss, dass Jungen generell stärker an devianten Werten orientiert sind als Mädchen und diese Entwicklung relativ früh in 17 Materialismus, Unpersönlichkeit, Individualismus und Akzeptanz quasi-krimineller Ausbeutung sind Beispiele für konventionelle Werte, die kriminogen wirksam sein können. Materialismus kann beispielsweise zu Geschäftserfolg aber auch zu Kriminalität führen. 18 Genannt werden: „trouble“, „toughness“, „smartness“, „excitement“, „fate“ und „autonomy“. 19 Neutralisationstechniken sind beispielsweise: Verantwortung für verwerfliches Handeln abschieben, Verneinung des Unrechts, Ablehnung des Opfers, Berufung auf höhere Instanzen etc.

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Andreas Pöge & Daniel Seddig der Jugendphase beginnt. Allerdings zeigt sich diese Orientierung als wenig stabil und wechselt häufig zu konformen Werten. Daneben existiert eine stärkere Orientierung an devianten Werten auf der Peer-Ebene als auf der individuellen. Jugendliche mit devianten Werten suchen sich offensichtlich Peers, für die dasselbe gilt. Cernkovich (1978) analysiert High-School-Jungen (n = 412) im Alter von 14 bis 18 Jahren und zeigt eine relativ starke Verbindung zwischen den betrachteten Subkultur-Werten (siehe Fn. 9) und Delinquenz auf. Konventionelle Werte hingegen fungieren als Puffer gegen häufige Delinquenz und zwar unabhängig vom jeweiligen sozioökonomischen Status oder den ebenfalls abgefragten, wahrgenommenen Lebenschancen. Er schließt bezüglich der Delinquenzneigung, dass Werte grundsätzlich wirksam sind, aber die Klassenzugehörigkeit für sich genommen keinen nennenswerten Einfluss hat – ein Befund, der von Heather (1979) bestätigt wird.

3.2 Anomie- und General-Strain-Theorie Eine weitere klassische Kriminalitätstheorie, die Werte in bedeutsamer Weise berücksichtigt, ist die Anomietheorie (Merton 1938, 1968). Nach dieser Sichtweise besteht die kulturelle Struktur einer Gesellschaft aus den kulturell festgelegten Zielen bzw. Werten und den Normen, die regulieren, welche Mittel zur Zielerreichung als legitim angesehen werden. Klaffen allgemein verbindliche kulturelle Ziele und die Verfügbarkeit der legitimen Mittel, die zur Zielerreichung nötig sind, auseinander, kann es im Ergebnis zum Zustand der gesellschaftlichen Anomie kommen. Dieser Zustand wird als Regel- bzw. Normlosigkeit gefasst und als Grund für Desintegrationserscheinungen in der Gesellschaft angeführt. Individuelle Desorientierung als Ergebnis dieses Auseinanderklaffens kann als intraindividueller Zustand nicht bestehen bleiben und durch den Versuch ihrer Auflösung ergeben sich verschiedene Typen der Anpassung: (Konformität), Innovation, Rebellion, Ritualismus und Rückzug (vgl. Lamnek 2007, S. 116). Wenn die Verwirklichung von internalisierten Zielen bzw. Werten durch konforme Mittel blockiert ist, deren Verfügbarkeit von der Sozialstruktur abhängt, kann es zur Anwendung illegitimer und non-konformer Mittel kommen (vgl. Merton 1968). Im Hinblick auf Werte geht die Anomietheorie im Unterschied zur Subkulturtheorie davon aus, dass delinquente und nicht-delinquente Menschen ein ähnliches Wertesystem haben. Ihre Ziele sind somit grundsätzlich gleich – abweichendes Verhalten wird „nur“ als ein illegitimes Mittel zur Zielerreichung betrachtet. Als Kritik gegen diese Sichtweise wurde vorgebracht, dass die Unterscheidung zwischen Zielen und Mitteln (vgl. terminale und instrumentelle Werte) nur schwer möglich ist und sich empirisch kaum aufrechterhalten lässt. Des Weiteren kann Anomia (Srole 1956) als Zustand der individuellen unzureichenden sozialen Integration auch durch das Aufgeben von Lebenszielen bzw. Werten gekennzeichnet sein und nicht durch die Anwendung illegitimer Mittel. Nach Opp (1974) muss die jeweilige Intensität der Ziele bzw. Werte und Normen mitberücksichtigt werden, wenn man die Anwendung nonkonformer Mittel zur Zielerreichung untersuchen will. Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Anomietheorie zwar Werte einbezieht, aber abweichendes Verhalten kaum durch die Werte selbst, sondern durch die Ziel- bzw. Werte-Mittel-Diskrepanz, erklärt. Eine Weiterentwicklung der Anomietheorie stellt die General-StrainTheorie von Agnew (1985) dar. Neben der beschriebenen Diskrepanz werden zusätzlich drei Typen sozialer Belastung (strain) für einzelne Akteure formuliert: 1) Die wahrgenommene Unmöglichkeit, positiv besetzte Ziele bzw. Werte zu erreichen, 2) das Erleben des Entzugs positiv bewerteter Stimuli und 3) die Konfrontation mit negativen Stimuli. Die aus diesen sozialen Belastungen re-

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Werte und abweichendes Verhalten sultierende Verärgerung und Enttäuschung begünstigt die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen. Im Gegensatz zu bzw. als Erweiterung der Anomietheorie können diese Prozesse allerdings unabhängig von sozialen Schichten auftreten. In den Kontext der Anomietheorie fällt auch der Ansatz von Heitmeyer et al. (1995), die den Begriff des Desintegrations-Verunsicherung-Gewalt-Konzepts geprägt haben. In diesem Ansatz wird der Aspekt der Ziel-Mittel-Diskrepanz mit dem sozialstrukturellen Milieukonzept verknüpft und vor dem Hintergrund der sich vollziehenden Individualisierung untersucht. Individualisierung als kulturelle Norm gilt für alle, die Realisierungschancen sind allerdings zwischen Angehörigen unterschiedlicher Sozialmilieus ungleich verteilt. Daher kommt es in einigen Milieus zu Desorganisations- und Desintegrationsprozessen, die mit abweichendem (Gewalt-)Verhalten als Bewältigungsstrategie bestimmter Teilgruppen einhergehen können. Die von Heitmeyer et al. (ebd.) betrachteten Milieus beruhen auf dem Sinus-Ansatz (vgl. Becker und Nowack 1985; Flaig et al. 1997), der Werte bei der Milieukonstruktion zentral berücksichtigt (zur Kritik siehe Ludwig-Mayerhofer 2000). Aufgrund ihrer Relevanz für die Sozialstruktur stellen Werte in diesem Ansatz einen bedeutsamen Faktor dar. Belegt werden die Thesen mittels Ergebnissen aus einer empirischen Studie mit 15- bis 22-jährigen Befragten in Deutschland (West: n = 1709, Ost: n = 1692). Hinsichtlich des Zusammenhangs von Werten und Gewalt zeigen sich vor allem in Milieus, die durch Traditionslosigkeit und Hedonismus gekennzeichnet sind, Auffälligkeiten. In diesen Milieus ist die Gewaltbereitschaft am größten und dort wird auch die meiste Gewalt verübt. Allerdings existiert in der Untersuchung auch ein aufstiegsorientiertes Mittelschichtmilieu, welches stark gewaltbelastet ist, dagegen aber eher rechtskonservative Werte vertritt (vgl. Heitmeyer et al. 1995).

3.3 Voluntaristische Kriminalitätstheorie Auf Basis der voluntaristischen Handlungstheorie von Parsons (1964) entwickelt Hermann (2003) das Konzept einer allgemeinen voluntaristischen Kriminalitätstheorie. Grundsätzlich wird hier davon ausgegangen, dass Akteure in bestimmten Situationen, die durch gegebene Bedingungen und Mittel definiert werden, bestimmte Ziele erreichen möchten. Selektionsregeln, die durch Normen, Werte, Rollen oder auch rational-utilitaristische Abwägungen determiniert sind, ermöglichen eine Situationsbewertung und stellen eine Beziehung zu den Zielen her. Je nach verwendetem Abwägungskriterium können Handlungen wert- oder zweckrational sein. Normen und Werte sind in diesem Ansatz zentrale Faktoren für die Erklärung kriminellen Handelns, da sie einerseits bei der Unterscheidung von wichtigen und unwichtigen Handlungszielen und andererseits bei der Abgrenzung akzeptierter von nicht akzeptierten Handlungsmitteln wirksam sind. Verinnerlichte Normen und Werte bestimmen das gesamte Handeln einer Person, damit auch das kriminelle. Konkret postuliert Hermann (ebd.), dass (christlich-)religiöse Werte delinquentes Handeln reduzieren, da sie zum einen explizit präskriptiv-konforme Inhalte aufweisen und zum anderen über die Einbindung in und die soziale Kontrolle durch christliche Institutionen und Netzwerke sowie einen ziel- und prinzipienorientierten Lebensstil präventiv wirksam sind. Auch gewissensorientierte Werte sowie Pflicht- und Akzeptanzwerte haben über die damit verbundene Normakzeptanz eine delinquenzmindernde Wirkung. Hedonistisch-materialistische sowie subkulturelle Werte wirken dagegen delinquenzförderend, da sie durch die Betonung von Härte, Erfolg, Aufregung etc. die Auswahl normwidriger Handlungs-

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Andreas Pöge & Daniel Seddig alternativen begünstigen. Insgesamt wird den Werten ein direkter Effekt auf abweichende Handlungen zugeschrieben und daneben eine indirekte Wirkung über Lebensstile, Normakzeptanz und utilitaristische Aspekte angenommen. Hermann (ebd.) überprüft und bestätigt seine Hypothesen mithilfe von Strukturgleichungsmodellen auf Basis von Daten aus einer Befragung in Heidelberg und Freiburg des Jahres 1998 von Personen zwischen 14 und 70 Jahren (n = 2930). Für die Operationalisierung der Werte wird dabei ein selbstentwickeltes Instrument (vgl. Hermann 2014) verwendet, welches auf dem Speyerer Werteinventar von Klages et al. (1992) basiert, dieses erweitert und insgesamt 34 Items umfasst.20 Eine Replikation der Studie mit einer Validierung der Ergebnisse führt Woll (2011) auf der Basis von Berufsschülerinnen und -schülern an sechs Schulen in Heidelberg und Weinheim durch (Vier-Wellen-Panel, insgesamt n = 1506). Vorläufer der ausgearbeiteten Theorie und einige empirische Ergebnisse werden bereits bei Hermann (2001), Hermann und Dölling (2001) und später Hermann (2004) beschrieben. Mithilfe einer Vorstudie in West-, Ostdeutschland und Polen, die auch junge Inhaftierte und Bewährungsprobanden (n = 94) umfasst, sowie der oben bereits genannten 1998er-Untersuchung, wird ein delinquenzreduzierender Effekt traditioneller und einen kriminogener Effekt moderner materialistischer Werte nachgewiesen.21 Eine objektorientierte Analyse, die im Rahmen von Lebensstilanalysen Wertemilieus ausweist, findet sich bei Hermann und Dölling (2001). Besonders kriminalitätsbelastet präsentieren sich hier junge Menschen, die sich durch eine säkulare Orientierung und die Ablehnung bürgerlicher und moderner gesellschaftlicher Werte auszeichnen sowie Personen, bei denen subkulturelle Werte wie Cleverness, Härte und materielle Werte dominieren und bei denen eine hohe Konsumorientierung in Kombination mit Hedonismus und der Ablehnung traditioneller Werte vorhanden ist. Eine dritte, delinquenzbelastete Gruppe weist eine deutliche Ablehnung von Konformismus und Konservativismus auf. Hermann et al. (2010) untersuchen, ob kriminelles Handeln im Jugendalter ebenso eine Folge von Wertorientierungen sein kann wie bei Erwachsenen. Verwendet werden Daten aus drei Studien: 1) ein Drei-Wellen-Panel (2002, 2003 und 2004) in Heidelberg aller Haupt- und Förderschüler (Klassen 5 bis 9; n ≈ 3400), 2) die oben genannte Vier-Wellen-Jugendstudie, 3) die oben genannte 1998er-Bevölkerungsstichprobe. Die Werteoperationalisierung erfolgt wiederum mit dem (zum Teil aber vereinfachten) Instrument nach Hermann (2014). Unter Verwendung eines Strukturgleichungsmodells ergibt sich ein starker Effekt der idealistischen Normorientierung auf selbstberichtete Delinquenz und Gewaltbereitschaft, der allerdings geschlechtsabhäng ist und mit zunehmendem Alter stärker wird. Als Ergebnis der Jugendstudie (nur erste Welle) wird festgehalten, dass eine religiöse Orientierung und eine normorientierte Leistungsethik delinquenzmindernd wirken, eine hedonistische Orientierung hingegen einen delinquenzfördernden Einfluss hat. Bei der Auswertung der Paneldaten wird darüber hinaus die Normakzeptanz in das Modell aufgenommen (t1) und die Delinquenz zum zweiten Erhebungszeitpunkt (t2) erklärt. Werte haben in diesem Modell einen deutlichen Einfluss auf Normakzeptanz, die wiederum sehr stark negativ auf Delinquenz wirkt. In der Erwachsenenstudie fördern posttra20 Enthalten sind neun Wertedimensionen: 1) „sozialintegrative Orientierung“, 2) „normorientierte Leistungsethik“, 3) „konservativer Konformismus“, 4) „politisch tolerante Orientierung“, 5) „subkulturellmaterialistische Orientierung“, 6) „ökologisch-alternative Orientierung“, 7) „religiöse Orientierung“, 8) „sozialer Altruismus“ und 9) „hedonistische Orientierung“. 21 Moderne materialistische Werte sind hier Erfolg, Cleverness, Härte, Macht und Einfluss, egoistischer Individualismus, Lebensstandard, Vergnügen, Hedonismus, Aufregung, Komfort. Traditionelle Werte sind Gesetzesakzeptanz, Sicherheit, Konformismus, Konservativismus, konventionelle Leistungsethik, Christliche Norm, Religiösität.

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Werte und abweichendes Verhalten ditionale Werte die Normakzeptanz, moderne materialistische Werte vermindern diese hingegen. Die Normakzeptanz wirkt auch hier sehr stark delinquenzmindernd. Als Zusammenfassung halten die Autoren fest, dass delinquentes Handeln grundsätzlich als Folge von Wertorientierungen angenommen werden kann, und dass diese Erkenntnis sowohl für Kinder als auch für Jugendliche und Erwachsene zutrifft. Der Einfluss der Werte scheint dabei mit dem Alter zuzunehmen. Hermann et al. (2012) verknüpfen kontrolltheoretische und wertebezogene Erklärungsansätze und verwenden die erste Welle (2010) einer Panelbefragung an 22 Heidelberger Grund-, Haupt-, Förder-, Gesamt- und Realschulen (n = 303) mit Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 5 und 7 sowie n = 1223 Eltern. Argumentiert wird, dass elterliche Erziehungsstile Wertorientierungen von Kindern beeinflussen und diese bezüglich der Delinquenz wirksam sind. Die durchgeführten Strukturgleichungsanalysen bringen hervor, dass eine idealistische Normorientierung bei Kindern einen delinquenzverhindernden Einfluss hat. Als Ursache für diese Normorientierung können sie eine religiöse Orientierung identifizieren, die über die Eltern an die Kinder vermittelt wird. Auch die Risikoorientierung (und damit auch die Selbstkontrolle) hängt von der Wertesozialisation ab. Hermann (2013) fasst die empirischen Befunde zur voluntaristischen Kriminalitätstheorie zusammen (siehe auch Hermann/Treibel 2013; Hermann 2015): Alles in allem kann übergreifend belegt werden, dass traditionelle Wertorientierungen mit normkonformem Handeln korrespondieren, moderne materialistische Werte hingegen mit delinquentem Handeln. Darüber hinaus beeinflussen christlich-religiöse Werte die idealistische Normorientierung positiv, und diese wirkt wiederum verhindernd auf die Gewaltbereitschaft sowohl von Eltern als auch von Kindern.

3.4 Weitere Ansätze und empirische Studien Die Theorie der differentiellen Gelegenheiten (Cloward/Ohlin 1960) vereint Aspekte der Lern-, Sozialraum-, Subkultur- und Anomietheorien. Abweichendes Verhalten wird als Folge eines schichtspezifischen Anpassungsdrucks beschrieben. Diese Theorie legt den Fokus allerdings auf die Zugangschancen zu illegitimen Mitteln die, ebenso wie ein charakteristisches Wertesystem, als schichtabhängig gesehen werden. Kriminalität ist nur dann möglich, wenn die Gesellschaft, bestimmte Stadtteile, Nachbarschaften oder delinquente Subkulturen illegitime Mittel bereitstellen. Insgesamt zielt die Theorie damit eher auf die Tatgelegenheit und weniger auf die Tatmotivation ab. Auch in der Frühform der Kontrolltheorie (Hirschi 1969) spielen Werte eine Rolle. Delinquentes Verhalten wird vorwiegend durch fehlende interne und externe Kontrolle und die Qualität von sozialen Bindungen erklärt. In diesem Zusammenhang ist auch die Bindung eines Individuums an die Gesellschaft aufgrund geteilter Norm- und Wertvorstellungen von Bedeutung. Auch hier wird davon ausgegangen, dass abweichendes Verhalten mit einem charakteristischen Wertesystem verbunden ist, allerdings liegt das Hauptaugenmerk auf dem Absinken konventioneller proskriptiv-konformer Werte oder deren Abwesenheit und nicht auf dem Vorhandensein präskriptiv-nonkonformer Werte. In der aktuellen Erweiterung der Kontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi (1990) spielen Werte allerdings kaum noch eine Rolle. Goff und Goddard (1999) verwenden die Sozialkontroll- sowie die Social-Strain-Theorie und untersuchen n = 544 Schülerinnen und Schüler. Die Operationalisierung von Werten erfolgt

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Andreas Pöge & Daniel Seddig mit der „List of Values“ von Beatty et al. (1985). Sie berichten, dass Gruppen, die „fun/enjoyment“ und „security“ hoch bewerten, stark mit Delinquenz und Drogenkonsum verbunden sind. Gruppen hingegen, die „self-respect“, „being well-respected“, „sense of accomplishment“, „warm relationship to others“ und „sense of belonging“ hoch bewerten, zeigen hingegen wenig Delinquenz und Drogenkonsum. Auf Grundlage der sozialen Lerntheorie untersuchen Simons et al. (1991) Ursachen für Drogenmissbrauch. Sie beziehen verschiedene Konstrukte ein, unter anderem auch prosoziale Werte, die mithilfe des Braithwaite and Law Value Inventory (Braithwaite/Law 1985) operationalisiert werden. Ein direkter Wirkpfad wird dabei in einem Regressions-Modell von den Werten auf Schulprobleme, deviante Peers und Depression angenommen. Die analysierte Stichprobe besteht aus n = 61 Familien, in denen Jugendliche der siebten Jahrgangsstufe leben. Im Ergebnis bestätigen sich die Hypothesen, dass prosoziale Werte einen präventiven Einfluss auf Depression, die Auswahl devianter Peers und Schulprobleme besitzen. Darüber hinaus vermittelt wirken diese Werte ebenfalls präventiv bezüglich des erhobenen Substanzkonsums. Cochrane (1971, 1974) verwendet die Werte-Operationalisierung von Rokeach und argumentiert, dass Werte als internalisierte Überzeugungen prinzipiell Handlungen und Gedanken regulieren und deshalb auch Grundlage für antisoziales Verhalten sein können. Persistentes kriminelles Verhalten impliziert aus diesem Blickwinkel daher, dass ein spezielles Wertesystem vorliegt. Ein empirischer Vergleich zwischen verurteilten Straftätern (n = 461) und einer Kontrollgruppe (n = 191) bringt tatsächlich für Männer und Frauen Differenzen in den Werte-Systemen zwischen beiden Gruppen hervor. Die Inhaftierten hielten Werte von unmittelbarer persönlicher Relevanz (Vergnügen, Freude) für wichtiger als die Personen der Kontrollgruppe, die langzeitige Werte (Erlösung) oder solche mit sozialen Implikationen (Frieden, Gleichheit, nationale Sicherheit) wichtiger einstuften. Ähnliche Befunde berichtet Cochrane (1974) für Jugendliche und Erwachsene. Ebenfalls mit dem Werteinventar von Rokeach arbeiten Feather und Cross (1975). Sie untersuchen eine Stichprobe von delinquenten und eine Kontrollgruppe von nichtdelinquenten Jungen (je n = 82), die die angebotenen Werte nach ihrer Wichtigkeit für sie selbst und für ihre Mütter und Väter ordnen mussten. Bezüglich der terminalen Werte zeigte sich bei den delinquenten Jungen ein typisches Muster, nämlich eine größere Diskrepanz zwischen den Wertesystemen der Jungen selbst und ihrer Eltern sowie zwischen den Elternteilen als bei den Nicht-Delinquenten. Eine spanische Untersuchung von n = 113 inhaftierten, männlichen Jugendlichen aus der Provinz Madrid legt Luengo Martín (1985) vor. Mit den Werten von Rokeach kommt er ebenfalls zu der Erkenntnis, dass „institutionalisierte“ Delinquente typische Wertemuster zeigen. So kann er in seinem Sample auffällig hohe Ausprägungen von egozentrierten Werten beobachten, dafür aber recht niedrige Ausprägungen von langzeitigen persönlichen, interpersonalen sowie makrosozialen Werten. Auch Romero et al. (2001) knüpfen an den Befund an, dass delinquente Erwachsene charakteristische Wertesysteme aufweisen. Um in Ergänzung zu bisherigen Studien auch das Dunkelfeld zu beleuchten, untersuchen sie n = 529 spanische Schülerinnen und n = 435 Schüler (jeweils zwischen 14 und 19 Jahren) sowie n = 95 inhaftierte Jungen (in Gefängnissen und Rehabilitationszentren; zwischen 14 und 20 Jahren). Auf Basis einer eigenen Werteskala kommen sie zu der Erkenntnis, dass antisoziales Verhalten in Zusammenhang mit hedonistischen Werten und einer gering ausgeprägten Orientierung an konventionellen sowie sozialen Werten steht. Die Beziehungen können nicht durch Institutionalisierungseffekte erklärt werden. Bei den Mädchen zeigt sich außerdem eine negative Korrelation zwischen antisozialem Verhalten und Konventionalismus, bei den Jungen eine

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Werte und abweichendes Verhalten negative Korrelation zwischen antisozialem Verhalten und Religiosität. Halpern (2001) verwendet ebenfalls das Werteinstrument von Rokeach und spezifiziert Werte als direkte und indirekte Ursachen von Delinquenz. Ein interessanter Aspekt ist die Vermutung der wechselseitigen Beeinflussung: Kriminalität kann auch einen Effekt auf (gesellschaftliche) Werte besitzen, wenn beispielweise die Gesellschaft ihre Werte je nach Höhe der Deliktraten anpasst. Er führt auf Basis des World Value Survey mit Erwachsenen aus einer Vielzahl von Ländern und Staaten (1981 bis 1993; kombiniert n = 92.141) Korrelationsanalysen der Werte mit nationalen Viktimisierungsraten durch und belegt einen kriminogenen Effekt von „self-interest“. Die oben vorgestellte Theorie universeller menschlicher Werte von Schwartz (1992) ist eine der zur Zeit theoretisch und empirisch am weitesten ausgearbeiteten Theorien zur Erklärung von Einstellungen und Verhalten. Dennoch betrachten nur einige empirische Studien delinquentes Verhalten. Dabei muss festgehalten werden, dass in den meisten dieser Untersuchungen eine explizite Formulierung der dem Zusammenhang von Werten und Delinquenz (und möglicherweise vermittelnden Variablen) zugrunde liegenden Mechanismen fehlt oder ungenau ist. Stupperich und Strack (2005) verwenden die genannte Wertetheorie und eine Stichprobe von n = 106 Bundeswehrangehörigen sowie n = 101 Patienten einer forensischen Psychiatrie. Sie untersuchen den Zusammenhang von Milieu, Werthaltungen und Gewaltdelinquenz und kommen zu dem Ergebnis, dass in einem Strafprozess Verurteilte, die gegenwärtig nicht im Vollzug sind, egozentristischere Werthaltungen aufweisen. Hospitalisierungserfahrungen, die durch gesellschaftliche Stigmatisierungen hervorgerufen werden können, scheinen hingegen einen Einfluss auf die Stärkung universalistischer Werte zu haben, im Maßregelvollzug werden nämlich offenbar selbstbezogene Werte aufgegeben. Eine Stichprobe bahamaischer Jugendlicher (n = 689) analysieren Cole et al. (2007) und verwenden eine Version des PVQ. Sie untersuchen mit latenten Klassenanalysen die Beziehungen der Werte zu Risikoverhalten, darunter auch unterschiedliche Formen von Delinquenz. Werte wie „universalism“, „security“, „tradition“ und „conformity“ stehen dabei im Zusammenhang mit geringen Delinquenzraten, „power“ und „hedonism“ hingegen insbesondere mit einer höheren Gewaltrate. Knafo et al. (2008) betrachten den Zusammenhang zwischen Werten, erhoben mit einer Version des PVQ, und Delinquenz bei arabischen und jüdischen Schülerinnen und Schülern in Israel (n = 907). Die Resultate der hierarchischen linearen Modelle zeigen ebenfalls, dass Gewaltverhalten positiv mit dem Wert „power“ in Verbindung steht. Als Begründung werden der motivationale Fokus auf eigennützigem Verhalten und ein Fehlen von Empathie angeführt. Zudem ist Gewalt wiederum negativ mit den Werten „conformity“ und „universalism“ verbunden. Begründet wird dies mit der Bindung an soziale Normen („conformity“) und dem Streben nach Toleranz und Friedfertigkeit („universalism“). Ähnliche Ergebnisse bei Untersuchung von Mobbing („bullying behavior“) berichtet Knafo (2003). Mobbing in klassischen und modernen Kontexten („bullying“ und „cyberbullying“) ist Gegenstand einer italienischen Studie von Menesini et al. (2013) auf der Grundlage von n = 390 Schülerinnen und Schülern (14 bis 18 Jahre). Beide Mobbing-Varianten, zu denen auch eine Messung physischer Gewalt gezählt wird, zeigen in Strukturgleichungsmodellen negative Beziehungen zu den Wertedimensionen „conservation“ und „selftranscendence“. Positive Beziehungen bestehen hingegen zu den Wertedimensionen „openness to change“ und „self-enhancement“. Die Studie von Bilsky und Hermann (2016) zielt auf die Vergleichbarkeit der Skala von Hermann (2014) mit den ursprünglichen zehn Schwartz’schen Wertetypen. Anhand der oben genannten Heidelberger und Freiburger Stichprobe von 1998 wird die Vergleichbarkeit durch

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Andreas Pöge & Daniel Seddig Verfahren der multidimensionalen Skalierung dargestellt. Anschließend werden die Werte hinsichtlich der Beziehung zu delinquentem Verhalten mit Strukturgleichungsmodellen untersucht. „Tradition“ und „conformity“ zeigen erwartungsgemäß die stärksten positiven Effekte auf Normakzeptanz und präventive Effekte hinsichtlich Delinquenz. Die Werte „hedonism“ und „stimulation“ wirken hingegen negativ auf Normakzeptanz und positiv auf Delinquenz. Ein ähnliches Muster ergibt sich, wenn statt der einzelnen Wertetypen die vier Dimensionen höherer Ordnung betrachtet werden. Vor allem „conservation“ wirkt normakzeptanzfördernd und delinquenzmindernd, „openness to change“ genau gegenteilig. Goossen et al. (2016) verwenden gepoolte Daten des European Social Survey von 2004 aus 14 Ländern (n = 25.868). Ziel der Analyse ist die Untersuchung des Zusammenhangs von Werten und „White-Collar“-Delikten wie Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug und Bestechung. Die Resultate der logistischen Regressionsmodelle zeigen präventive Wirkungen von „universalism/benevolence“, „tradition/conformity“ und „security“ hinsichtlich Steuerhinterziehung und Versicherungsbetrug. „Power/achievement“, „hedonism“, „stimulation“ und „self-direction“ wirken hingegen bei diesen Delikten delinquenzsteigernd (nicht allerdings „self-direction“ und Versicherungsbetrug). Daneben bestehen kriminogene Wirkungen von „security“, „power/achievement“ und „stimulation“ bezüglich des Delikts Bestechung, „universalism/benevolence“ und „hedonism“ wirken hier eher delinquenzhemmend. Seddig und Davidov (2017) verwenden Daten der Crimoc-Studie (siehe unten), die in einer Erhebungswelle eine an den PVQ angelehnte Werteskala enthält. Die Beziehung der Werte mit Einstellungen zu Gewalt und Gewaltverhalten werden bei jungen Erwachsenen im Alter von 22 und 24 Jahren (n = 1810) mit Strukturgleichungsmodellen untersucht. Dabei werden die Mechanismen, nach denen erwartungsgemäß jeder der zehn Wertetypen das Gewaltverhalten beeinflusst, explizit ausformuliert. Die Ergebnisse zeigen, dass unter Berücksichtigung der vermittelnden Wirkung von Einstellungen die Werte meist nur indirekt das Gewaltverhalten beeinflussen. Positive Beziehungen zu den Einstellungen zeigen vor allem die Werte „power“ und „stimulation“. Negative Zusammenhänge bestehen für die Werte „universalism“, „benevolence“, „tradition/conformity“ und „security“. Die vier letztgenannten Wertetypen zeigen zudem direkte Wirkungen auf das Gewaltverhalten. Solche direkten Effekte werden über den Ausdruck der motivationalen Grundlagen der Werte durch das Verhalten erklärt („value-expressive behaviors“; Bardi/Schwartz 2003). Orientiert sich ein Verhalten stark an diesen Motivationen, so ist neben der direkten Beziehung zwischen Einstellungen und Verhalten auch eine direkte Beziehung zwischen Werten und Verhalten erwartbar. In dieser Studie sind dies vor allem Motivationen, die Gewaltverhalten ausschließen.

4. Eigene empirische Arbeiten

Die seit dem Jahr 2000 in Münster, Bocholt und Duisburg durchgeführte Panelstudie Kriminalität in der modernen Stadt (Crimoc; Boers/Reinecke 2007a; Boers, Reinecke, Bentrup et al. 2010) verwendet zur Untersuchung von Jugenddelinquenz ein „strukturdynamisches Analysemodell“ (Boers/Reinecke 2007b). Auf der Grundlage verschiedener theoretischer Ansätze werden Werte als distale Faktoren betrachtet, die sich, zusammen mit anderen Freizeit- und Lebensstilelementen, milieukonstituierend über die Sozialstruktur auf (Dunkelfeld-)Kriminalität 162

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Werte und abweichendes Verhalten auswirken. Eine besondere Bedeutung wird dabei einer Vermittlung über Rechtsnormen zugeschrieben. Zur Operationalisierung wird eine jugendadäquat abgewandelte Sinus-Skala nach Flaig et al. (1994) und Heitmeyer et al. (1995) verwendet. Eine erste Analyse, die sich mit dem Einfluss von Werten auf kriminelles Handeln beschäftigt, liefert Pöge (2002). Auf Basis der Münsteraner Crimoc-Daten des Jahres 2000 mit Schülerinnen und Schülern (siebte Jahrgangsstufe; n = 1940) wird ein Strukturgleichungsmodell berechnet, welches einen negativen Einfluss hedonistischer Werte auf Rechtsnormen und, (vor allem) vermittelt über diese Normen, auch eine delinquenzförderende Wirkung zeigen kann. Daneben existiert in diesem Modell ebenfalls ein Effekt der hedonistischen Werte auf Gewalteinstellungen und aggressives Streitverhalten. Traditionelle Werte hingegen weisen einen positiven Einfluss auf Rechtsnormen auf, die wiederum eine präventive Wirkung besitzen. Dieser Befund wird von Boers et al. (2002) mit den 2001er-Crimoc-Daten aus Münster (achte Jahrgangsstufe; n = 1915) bestätigt: Auch dort kann der delinquenzfördernde Einfluss hedonistischer und deprivativer Werte, hier in Verbindung mit extrinsischem, eher gruppenorientiertem Freizeitverhalten, vermittelt über Rechtsnormen, belegt werden. In dieser Analyse wirken traditionelle Werte ebenfalls in präventiver Weise. Boers und Pöge (2003) arbeiten mit Crimoc-Daten aus Duisburg 2002 (neunten Jahrgangsstufe; n = 2627) und berichten, dass nicht nur der Einfluss von einzelnen Werten in Bezug auf Delinquenz wirksam ist, sondern auch deren Zusammenspiel. Cluster von Jugendlichen, in denen eine Kombination aus hedonistischen Werten und deprivativen Einstellungen vorherrscht, weisen höhere Delinquenzraten auf. Daneben existieren aber auch Personengruppen, in denen hedonistische Werte nicht mit höheren Raten einhergehen. In Boers, Reinecke, Bentrup et al. (2010) sowie Boers, Reinecke, Seddig et al. (2010) wird auf Basis der Duisburger Crimoc-Daten des Jahres 2004 (elfte Jahrgangsstufe; n = 3339) ein Strukturgleichungsmodell präsentiert, das vor allem Gewaltkriminalität erklärt. Im Ergebnis verstärken hedonistische Werte gewaltbefürwortende Normen und sowohl hedonistische Werte als auch gewaltbefürwortende Normen stehen in einem direkten und bedeutsamen Zusammenhang mit Gewaltdelinquenz. Demgegenüber stellt sich auch hier ein präventiver Effekt traditioneller Werte heraus. Die damit verbundene Bindung an die Schule kann offenbar zu einer konformen Normorientierung führen, die sich unmittelbar delinquenzhemmend auswirkt. Pöge (2007b) bildet mithilfe einer latenten Klassenanalyse aus den Münsteraner Jugendlichen der 2003er-Crimoc-Daten (zehnten Jahrgangsstufe; n = 1819) Gruppen mit ähnlichen Werthaltungen und analysiert diese unter anderem bezüglich abweichenden Verhaltens. In drei delinquenzbelasteten Gruppen ist eine überdurchschnittliche Zustimmung zu hedonistischen Werten sichtbar, in zwei unterdurchschnittlich belasteten dagegen die Ablehnung von Hedonismus. In zwei der drei besonders kriminell belasteten Wertetypen kommt eine sehr hohe Deprivation hinzu, die auf anomische Prozesse hindeutet. Die Ablehnung von Hedonismus und eine niedrige Deprivation scheinen hingegen präventiv zu wirken, insbesondere in Kombination mit sinnstiftenden religiösen Werten. In der Analyse wird allerdings auch sichtbar, dass es einzelne Personengruppen gibt, die trotz einer hohen Hedonismuszustimmung keine Auffälligkeiten hinsichtlich delinquenter Handlungen aufweisen und eine niedrige Deprivation nicht in jeder Gruppe delinquenzverhindernd wirkt. Pöge (2007a) erweitert die Analyse um die Daten aus Münster 2003 (achte Jahrgangsstufe; n = 1819), Duisburg 2003 (achte Jahrgangsstufe; n = 2438) und Duisburg 2005 (zehnten Jahrgangsstufe; n = 3243). Zusammenfassend zeigen die umfangreichen Analysen, dass alle Gruppen, die sich durch eine Kombination aus überdurchschnittlich verbreiteten hedonistischen Werten, hoher Deprivation bei gleichzeitig unterdurch-

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Andreas Pöge & Daniel Seddig schnittlich verbreiteten traditionellen Werthaltungen auszeichnen, in allen drei Datensätzen die am stärksten delinquenzbelasteten Typen sind. Eine Ablehnung von hedonistischen Werten und eine niedrige Deprivation wirken auch hier delinquenzverhindernd. Boers et al. (2009) können mit Paneldaten der Duisburger Crimoc-Studie für das Alter von 13 bis 17 Jahren ebenfalls die delinquenzmindernde Wirkung von traditionellen Werten zeigen. Diese wird im Wesentlichen über eine enge Bindung an die Schule und die Akzeptanz von Normen vermittelt. Traditionelle Werte begünstigen eine positive Schulbindung und die Normakzeptanz und können so indirekt delinquentes Verhalten verhindern. Zu einem ähnlichen Befund kommt Seddig (2014b). In seiner Analyse von Querschnitts- und Paneldaten der Duisburger Untersuchung mit Strukturgleichungsmodellen wird zudem auch die delinquenzfördernde Wirkung hedonistischer Werte gezeigt. Diese wird vor allem über die delinquente Peergruppe und positive Einstellungen zu delinquentem Verhalten, vor allem Gewaltverhalten, vermittelt. Außerdem führen hedonistische Werte zu einer Ablehnung der Schule und einer Bindung an delinquente Peergruppen, was wiederum positive Einstellungen zu Delinquenz und Gewalt befördert (siehe auch Seddig 2011, 2014a). Hedonistische Werte zeigen daneben auch einen schwachen direkten Einfluss auf das Verhalten. Wie oben bereits ausgeführt, können Seddig und Davidov (2017) mit Duisburger Crimoc-Daten Effekte von Werten auf Gewalteinstellungen und -verhalten zeigen. In dem kriminologischen Teilprojekt A2 des Sonderforschungsbereichs 882 der Universität Bielefeld wurden Werte im Hinblick auf die Erklärung selbstberichteter Jugenddelinquenz in Dortmund und Nürnberg untersucht. Zur Operationalisierung wurde wiederum eine verkürzte und jugendadäquat angepasste, fünfstufige Sinus-Werteskala verwendet (vgl. Flaig et al. 1994; Heitmeyer et al. 1995). Die Analysen in Reinecke et al. (2013) mit Dortmunder (alle Schulformen; n = 927) und Nürnberger (nur Mittelschulen; n = 494) Schülerinnen und Schüler der neunten Jahrgangsstufe belegen ebenfalls, dass die Gruppe der Hedonisten am stärksten delinquenzbelastet ist. Die Gruppe der Traditionellen ist hingegen unterdurchschnittlich von Kriminalität betroffen. Pöge (2016) verwendet dieselben Daten und betrachtet zusätzlich Moralität und Selbstkontrolle. Dabei weisen in Dortmund die Traditionellen erwartungsgemäß eine unterdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung auf, zeigen höhere Moralitätswerte (in allen untersuchten Subdimensionen) und besitzen offenkundig eine insgesamt stärkere Selbstkontrolle, geringere Risikobereitschaft und niedrigere Impulsivität. In Nürnberg ist dieser Befund nicht ganz so ausgeprägt, hier ist nur die Eigentumsdelinquenz unterdurchschnittlich. Die Moralitätswerte sind zwar ebenfalls durchweg höher, allerdings auf einem nichtsignifikanten Niveau. Bei der Selbstkontrolle bestätigt sich der Dortmunder Befund aber wieder: Die traditionellen Jugendlichen sind auch in Nürnberg kontrollierter, dafür weniger risikobereit und impulsiv. Hedonisten verüben hingegen in beiden Städten deutlich mehr kriminelle Taten und weisen niedrigere Moralitätswerte sowie eine geringere Selbstkontrolle auf. Dafür sind unter ihnen Risikobereitschaft und Impulsivität höher. Insgesamt stellt sich die Befundlage damit als überwiegend konform zu den oben erwähnten Ergebnissen dar. Jugendliche mit traditionellen Werten sind häufig konformer und besitzen einige weitere positive und konformitätsfördernde Eigenschaften, wohingegen hedonistische Jugendliche in vielen Bereichen das genaue Gegenteil davon verkörpern.

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Werte und abweichendes Verhalten

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171 Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur? Christian Walburg

1. Einleitung

Migrations- und Integrationsprozesse sind ebenso vielfältig wie Kriminalitätsphänomene und -verläufe. Entsprechend komplex fallen die Forschungsperspektiven und Befunde zu Zusammenhängen zwischen Einwanderung und Kriminalität aus. Zu den besonders kontrovers diskutierten Fragen gehört dabei, inwieweit mögliche herkunftskulturelle Prägungen die Kriminalitätsbeteiligung von Migranten und deren Nachkommen beeinflussen. Im Kern geht es meist darum, ob eine erhöhte Kriminalitätsbeteiligung – soweit eine solche festgestellt wird – ausreichend durch im Vergleich zu Nichtmigranten ungünstigere Lebensverhältnisse im Aufnahmeland sowie durch Akkulturations- oder auch Fluchtbelastungen zu erklären ist, oder inwieweit bei alledem auch kulturelle Unterschiede zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft eine Rolle spielen. Die Kriminalität der „Anderen“ mit deren (vermeintlichem) kulturellen „Anderssein“ zu erklären, ist nicht zuletzt in öffentlichen Debatten weit verbreitet (Franko Aas 2013, S. 93). Dies wird insbesondere dann zum Problem, wenn sozial konstruierten nationalen, ethnischen oder religiösen Gruppen kriminalitätsfördernde Mentalitäten und abweichende Verhaltensweisen als inhärent und unveränderlich, das heißt pauschalisierend und essentialistisch zugeschrieben werden, und wenn andere, gegebenenfalls bedeutsamere Ursachen als der kulturelle Hintergrund ausgeblendet bleiben. Entsprechende Generalisierungen und Fehlschlüsse können mit Blick auf abweichendes Verhalten besonders folgenschwer sein, denn nichts legitimiert so sehr Abwehr und Ausschluss wie das „negative Gut“ (Sack 1968, S. 469) Kriminalität.1 Umso bedeutsamer sind hier differenzierte, theoretisch fundierte empirische Analysen. An der allgemeinen Bedeutung von Wertorientierungen, Normen und Lebensstilen als in diesem Zusammenhang besonders relevanten Ausdrucksformen des vielschichtigen Konzepts „Kultur“ kann bei alledem kaum ein Zweifel bestehen. Sie sind wichtiger, wenn nicht zentraler Bestandteil vieler kriminalsoziologischer Theorien, und ihr Einfluss ist auch empirisch gut belegt. Auch mit Blick auf Kriminalitätsrisiken bei Migranten wird ihre Bedeutung spätestens seit den migrations- und stadtsoziologischen Untersuchungen der Chicago School of Sociology nach dem Ersten Weltkrieg sowie Thorsten Sellins Studie „Culture Conflict and Crime“ (Sellin 1938) in1 Kulturalistische Annahmen, die spezifische Kriminalitätsformen mit bestimmten sozialen Gruppen verknüpfen, können überdies konkrete Ermittlungen in eine völlig falsche Richtung lenken, wie im Zusammenhang mit der Mordserie des sogenannten NSU deutlich geworden ist. So hieß es in einer Operativen Fallanalyse des Landeskriminalamts Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“ (zitiert nach Dengler/Foroutan 2016, S. 436).

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Christian Walburg tensiv diskutiert. Häufig werden entsprechende Zusammenhänge zwischen „kulturellem Hintergrund“ und Kriminalität von Migranten allerdings eher geschlussfolgert, seltener werden sie direkt getestet. Im Folgenden sollen die theoretischen Überlegungen und empirischen Befunde hierzu resümiert werden (2.), bevor die Ergebnisse aus Untersuchungen zu möglichen kriminogenen Einflüssen von Wertorientierungen und Lebensstilen im Migrationskontext vorgestellt werden (3.).

2. Migranten, Kriminalität und „Herkunftskultur“. Stand der Diskussion

Ausgangspunkt der Diskussion um Einflüsse des kulturellen Hintergrundes auf Kriminalität bei Migranten ist gegenwärtig die Beobachtung, dass Migranten(-nachkommen) aus „nichtwestlichen“ Ländern in westeuropäischen Aufnahmegesellschaften häufig überdurchschnittliche Kriminalitätsraten aufweisen (Engbersen et al. 2007; Kardell/Martens 2013; Danmarks Statistik 2015). Hierbei kommen zu einem gewissen Teil unterschiedlich hohe Kriminalisierungsrisiken zum Tragen. Allerdings lassen Selbstberichtstudien erkennen, dass Unterschiede in der Häufigkeit offizieller Registrierungen nicht allein auf einer (durchaus beobachtbaren) erhöhten Anzeigeneigung gegenüber Minderheitenangehörigen oder intensiveren polizeilichen Kontrollen beruhen (s. bspw. Baier et al. 2009). Aus ätiologischer Perspektive lassen sich grundsätzlich drei Erklärungsebenen unterscheiden. Erstens können die Migrationsumstände selbst gerade für Zuwanderer aus Drittstaaten (zum Beispiel als Flüchtlinge und irreguläre Migranten) besonders belastend sein. Zweitens können, zum Teil damit zusammenhängend, die Lebensverhältnisse im Aufnahmeland ungünstiger sein, etwa was den rechtlichen Status, Zugangsmöglichkeiten zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und andere Formen sozialer Teilhabe sowie die Akzeptanz durch die Mehrheitsgesellschaft betrifft. Drittens kann der Blick auf die sozioökonomischen, politischen und kulturellen Verhältnisse in den Herkunftsländern gerichtet werden. So können die verschiedenen Migrantengruppen in unterschiedlichem Maße mit im Aufnahmeland anerkanntem Bildungskapital ausgestattet sein. Manche Migrantengruppen können von politischer Instabilität oder traumatisierenden Kriegserfahrungen betroffen (gewesen) sein (s. hierzu Beckley 2013). Mit Bezug auf kulturelle Divergenzen zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft lassen sich schließlich verschiedene Erklärungsstränge auseinanderhalten, wobei sich die Ansätze ergänzen, zum Teil aber auch in Widerspruch zueinander stehen. Eine wichtige Differenzierung besteht darin, zwischen möglichen direkten und indirekten Einflüssen zu unterscheiden.

2.1 Direkte Einflüsse. Äußere Kulturkonflikte Bei dem von Sellin (1938) so bezeichneten „primary conflict“, in der Folge häufig als „äußerer Kulturkonflikt“ erörtert, handelt es sich um einen direkten Einfluss konfligierender Normen. Kriminalität von Einwanderern beruht danach auf der Orientierung an im Herkunftsland (oder jedenfalls in Teilregionen/-milieus) anerkannten, im Aufnahmeland jedoch nicht (mehr) geteilten Verhaltensregeln. Als Beispiel führte Sellin eine mit der „Familienehre“ begründete Tötung des „Verführers“ der eigenen Tochter durch einen sizilianischen Einwanderer in New 172

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Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur? Jersey an. Für derartige Fälle von mit Verweis auf die „(Familien-)Ehre“ neutralisierten Tötungs- und anderen Gewalthandlungen hat das Konzept des äußeren Kulturkonflikts auch heutzutage weiterhin eine hohe Plausibilität. Die mit spezifischen politischen und ökonomischen Strukturen (schwaches staatliches Gewaltmonopol, agrarische Prägung und Armut) verknüpften patriarchalen sowie familial-kollektivistischen Orientierungen haben sich allgemein (Nisbett/Cohen 1996) und speziell auch im Migrationskontext (Oberwittler/Kasselt 2011; Rohe/Jaraba 2015) als durchaus langlebig erwiesen. Inwieweit divergierende delinquenzbezogene Normorientierungen auch jenseits von unmittelbar durch tradierte Ehrkonzepte beeinflussten Gewalttaten Erklärungskraft besitzen, ist weniger eindeutig. Gegen eine größere Bedeutung spricht, dass insgesamt von einem mehr oder weniger universellen Kernbestand an Verbotsnormen ausgegangen werden kann (Albrecht 1995, S. 26). Soweit bei Migranten zum Teil gleichwohl eine geringere Normakzeptanz festgestellt wird, kann dies zum einen mit subkulturfördernden Lebensumständen im Aufnahmeland zu tun haben, zum anderen aber auch mit Selektionseffekten. Ein aktuelles Beispiel für beide Aspekte dürften in den letzten Jahren neu nach Deutschland zugewanderte Migranten aus Nordafrika sein, die nach ihrer Einreise bisherigen Eindrücken zufolge (Bundeskriminalamt 2016) überdurchschnittlich durch Straßenkriminalität auffällig geworden sind: Häufig handelt es sich um unbegleitete Jugendliche oder junge Männer aus prekären Milieus der Herkunftsgesellschaften, zum Teil mit delinquenten Vorbelastungen sowie mit (außerhalb ihrer Herkunftsgruppe) geringen Bindungen und ungünstigen Perspektiven im Herkunfts- und Aufnahmeland (s. hierzu Zillinger 2016). Ein weiterer, empirisch begründeter Einwand gegen eine größere Bedeutung äußerer Kulturkonflikte geht dahin, dass in der ersten Migrantengeneration insbesondere in Nordamerika, häufig aber auch in Europa geringere Kriminalitätsbelastungen festgestellt wurden als bei Migrantennachkommen – und dies, obwohl die erste Generation stärker durch die Herkunftskultur geprägt sein müsste (Naplava 2011, S. 234). Allerdings könnte sich hier, als „kulturelle Risiken“ kompensierender Schutzfaktor, eine besondere Motivation bemerkbar machen, das Migrationsprojekt nicht durch Straftaten aufs Spiel zu setzen; ein Aspekt, der bei den Migrantennachkommen möglicherweise schwächer ausfällt. Überdies ist bei deliktsspezifischer Betrachtung zu erkennen, dass die Belastung mit bestimmten Gewaltdelikten in der ersten Migrantengeneration zuweilen nicht nur höher ausfällt als bei Nichtmigranten, sondern auch als bei Migranten der zweiten/dritten Generation (Kardell/Martens 2013). Durch solche Befunde gewinnt, bezogen auf Konflikttaten und häusliche Gewalt (s. hierzu Schröttle/Ansorge 2008), eine auf unterschiedliche Arten des Umgangs mit Konflikt- und Stresssituationen oder auf eine stärkere Betonung männlicher Dominanz gestützte Erklärung also wiederum an Plausibilität (Kardell/Martens 2013, S. 181), wobei allerdings auch hier schwierige Lebensbedingungen als mögliche Ursachen mit zu berücksichtigen sind. Vermehrtes delinquentes Verhalten bei jugendlichen Nachkommen von Migranten, wie es in westeuropäischen Aufnahmeländern vielfach zu beobachten ist (Berardi/Bucerius 2014), lässt sich hingegen nicht ohne Weiteres durch eine Orientierung an im Herkunftsland der (Groß-)Eltern verbreiteten Verhaltensregeln erklären. Für jugend- oder heranwachsendentypische Delikte wie Diebstähle und Sachbeschädigungen, aber auch für Raubtaten und Drogenhandel erscheint ein solcher Ansatz im Regelfall recht fernliegend. Hingegen ist es mit Blick auf Körperverletzungsdelikte wiederum eher denkbar, dass eine im Herkunftsland der Eltern (oder in bestimmten dortigen Milieus oder Landesteilen) weiter verbreitete, in Migrantenfamilien durch

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Christian Walburg Erziehung weitergebene Vorstellung männlicher Dominanz, Stärke und „Ehre“ auch noch bei den Kindern in bestimmten (Konflikt-)Situationen eine gewaltsame Reaktion begünstigt (Uslucan 2012, S. 106). Gestützt wird dies insbesondere durch Befunde, wonach Jugendliche ausländischer Herkunft (in den ab Ende der 1990er Jahre durchgeführten Studien vor allem aus der Türkei, aus Balkanstaaten sowie aus der ehemaligen Sowjetunion) sogenannten gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen häufiger zustimmen als Jugendliche ohne Migrationshintergrund, die Befürwortung dieser Einstellungen mit eigenem Gewalthandeln eng zusammenhängt, und herkunftsbezogene Unterschiede in der Verbreitung von Gewalt dadurch weitgehend erklärt werden können (Baier et al. 2009). Eine allein herkunftsbezogene Erklärung für erhöhte Zustimmungswerte zu männlicher Gewalt bei Migrantennachkommen würde indes zu kurz greifen. Sie würde übersehen, dass sich das Selbstbild des starken, seine „Ehre“ auch durch Gewalt verteidigenden Mannes herkunftsunabhängig auch aus der gegebenenfalls durch den Migrantenstatus verstärkten Marginalisierung männlicher Jugendlicher entwickeln kann, die durch diese spezifische Konstruktion von Männlichkeit anderweitig fehlende Quellen von Anerkennung und Selbstwert zu kompensieren versuchen (Kersten 1997; Enzmann et al. 2004; Spindler 2006; zum „Code of the Street“ in US-amerikanischen Innenstädten s. Anderson 1999). Welches Gewicht die beiden Faktoren haben, ist empirisch noch nicht vollständig geklärt. Zuletzt ist argumentiert worden, dass sich herkunftsbezogene Unterschiede in der Befürwortung und Ausübung von Gewalt unter Kontrolle des bei Migrantennachkommen häufig ungünstigeren sozioökonomischen Status nicht wesentlich verringern, was eher für den „herkunftskulturellen“ Erklärungsansatz spreche (Baier 2015). Allerdings ist es fraglich, ob mit der Einbeziehung der zwei Variablen „Transferleistungsbezug“ und „Schulform“ (zumal migrantische) Marginalisierung bereits angemessen abgebildet und kontrolliert wird. Überdies lassen andere Studien durchaus auf eine größere Bedeutung von sozialer Benachteiligung, fehlender Anerkennung und migrationsspezifischen Schwierigkeiten der Identitätsfindung für die Herausbildung gewaltaffiner Männlichkeitskonzepte schließen (Tertilt 1996; Babka von Gostomski 2003; Enzmann et al. 2004; Spindler 2006; Hällsten et al. 2013; s. auch Naplava 2005; Spies 2010; Bucerius 2014). Qualitativ angelegte Untersuchungen zu in den 1990er Jahren zugewanderten jungen (Spät-)Aussiedlern, bei denen es sich vielfach um Angehörige der im Kindes- oder Jugendalter „mitgenommenen“ anderthalbten Migrantengeneration handelte, deuten auf eine Dynamik aus Akkulturationsproblemen, fehlender sozialer Anerkennung und Teilhabe und einem dadurch geförderten Rückgriff auf tradierte Denk- und Handlungsweisen (Reich 2005, S. 345; Strasser/Zdun 2005, S. 20; ähnlich zu türkeistämmigen Jugendlichen Heitmeyer et al. 1997, S. 113; El-Mafaalani/Toprak 2011, S. 81 ff.). Solche Befunde stützen die Überlegung, dass sich kulturelle und strukturelle Faktoren in den Herkunfts- wie in den Aufnahmegesellschaften gegenseitig beeinflussen. Sie machen deutlich, dass es verkürzt wäre, Kultur und Ethnizität als statische soziale Kräfte zu interpretieren, die (noch dazu losgelöst von anderen Ungleichheitskategorien wie Schicht und Geschlecht) auf Akteure einwirken. Damit ist ein Kulturverständnis angesprochen, wonach Kultur in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt, und dabei auch mit dem eigenen Unterschicht- und Minderheitenstatus, (re-)produziert wird („culture as world-making“; Sampson/Bean 2006).

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Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur?

2.2 Indirekte Einflüsse. Akkulturationsprobleme Während nach dem Konzept des äußeren Kulturkonfliktes die Orientierung an „der Herkunftskultur“ direkt zu Konflikten mit Normen der Aufnahmegesellschaft führt und Kriminalität damit das Ergebnis einer ausbleibenden oder nicht hinreichenden kulturellen Assimilation ist, birgt aus akkulturationstheoretischer Perspektive umgekehrt gerade die zunehmende Hinwendung zur Aufnahmegesellschaft Kriminalitätsrisiken. Bei diesen Risiken handelt es sich danach um mögliche dysfunktionale Nebenwirkungen von Integrationsprozessen (Morenoff/Astor 2006, S. 56 f.). Kriminalitätsfördernd sind dann nicht mögliche von der Aufnahmegesellschaft abweichende Orientierungen als solche, sondern Widersprüche zwischen Herkunfts- und Aufnahmekultur, mit denen Migranten und ihre Kinder bei der Adaption an eine neue kulturelle Umgebung konfrontiert sind. Insbesondere zur Erklärung von Kriminalität bei Migrantennachkommen wird dieser Ansatz häufig herangezogen, ist die zweite Generation im Rahmen von jugendlichen (Norm-)Sozialisations- und Identitätsfindungsprozessen doch typischerweise stärker möglichen divergierenden Verhaltenserwartungen der eigenen Familie oder Migrantengemeinde auf der einen Seite sowie der unter anderem durch die Schule, Vereine und andere Institutionen repräsentierten Aufnahmegesellschaft auf der anderen Seite ausgesetzt (grundlegend Schrader et al. 1979). Die daraus resultierenden Orientierungsschwierigkeiten erhöhen, so die Annahme, die Wahrscheinlichkeit der Übernahme devianter Normen, Selbstbilder und Verhaltensweisen (Schneider 1987, S. 307; Schöch/Gebauer 1991, S. 56). Zu untersuchen sind hier Ausmaß und Bewältigung individueller und innerfamiliärer Akkulturationsprobleme sowie die Bedeutung unterschiedlicher Akkulturationsstrategien für Delinquenzrisiken. Grundsätzlich sollte nicht verkannt werden, dass ein Aufwachsen in bzw. zwischen „zwei Kulturen“ von vielen jungen Menschen durchaus als normal empfunden wird und keineswegs automatisch zu abweichendem Verhalten führt (Heitmeyer et al. 1997, S. 69). Die Annahme innerer Kulturkonflikte als Regelfall wird empirisch eher nicht gestützt (Halm/Sauer 2011, S. 86). Die Frage, ob es zu Belastungen und delinquentem Verhalten kommt, dürfte wesentlich von familiären Ressourcen abhängen. Die Situation ist hierbei allerdings durchaus komplex. Einerseits wird beobachtet, dass familiäre Bindungen im Migrationskontext besonders eng ausfallen (Heitmeyer et al. 1997, S. 71 ff.). Andererseits wird angenommen, dass immigrierte Eltern aufgrund eigener Akkulturationsschwierigkeiten und Entfremdung von ihren stärker der Aufnahmekultur ausgesetzten Kindern weniger Halt geben können, es häufiger zu innerfamiliären Konflikten kommt, und ihnen aufgrund geringerer Ressourcen Aufsicht und Kontrolle erschwert ist (Waters 1999). Erziehungsstile wurden, namentlich in muslimischen Familien mit noch im Ausland sozialisierten Eltern, als rigider und stärker kollektivistisch beschrieben, mit einer (gegebenenfalls auch durch Gewaltanwendung unterstrichenen) Betonung von Respekt und Gehorsam gegenüber Autoritäten und der Aufrechterhaltung traditioneller Geschlechterrollen (El-Mafaalani/Toprak 2011, S. 39 ff.). In einem stärker individualistischen gesellschaftlichen Kontext kann ein solches Erziehungsverhalten dysfunktional werden. Autoritätsverluste der Väter, die etwa durch Deindustrialisierungsprozesse ihre Ernährerrolle nicht mehr erfüllen können, können hergebrachte Strukturen sozialer Kontrolle schwächen. Mit Blick auf ElternKind-Konflikte besteht allerdings die Gefahr, dass entwicklungstypische sowie mit der Aufstiegsmobilität der Kinder verbundene Auseinandersetzungen bei Migranten und ihren Nach-

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Christian Walburg kommen vorschnell als migrationsspezifischer innerfamiliärer Kulturkonflikt gedeutet werden (Juhasz/Mey 2003, S. 315 f.). Bei der Frage, inwieweit der Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Bezügen gelingt, kommen schließlich auch strukturelle Barrieren, Ablehnungs- und Diskriminierungserfahrungen und damit die Aufnahmegesellschaft ins Spiel (Schrader et al. 1979, S. 184 ff.; Heitmeyer et al. 1997, S. 152 ff., 176 ff.; Schmitt-Rodermund/Silbereisen 2008, S. 104). Soweit die mehrheitsgesellschaftliche Forderung nach einer Preisgabe tradierter Werte, Normen und Identitäten – die über die Zeit allerdings auch von sich aus zunehmend an Sinn verlieren können – nicht mit der Anerkennung der Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft (etwa als „muslimische Deutsche“) einhergeht, kann demzufolge an die Stelle von Sicherheiten vermittelnden traditionellen Bindungen eine Identitätskrise treten, auf die durch deviante Selbstbilder und den Anschluss an Anerkennung und Selbstwert vermittelnde, delinquenzgeneigte Peer-Groups reagiert wird (Foroutan/Schäfer 2009, S. 13 ff.; El-Mafaalani/Toprak 2011, S. 13). Psychologische Studien deuten darauf hin, dass eine Bindung sowohl an die Herkunfts- als auch an die Aufnahmekultur mit den geringsten Spannungen einhergeht, während Marginalisierung (als Bindungslosigkeit mit Bezug auf beide Orientierungen) das Wohlbefinden am stärksten beeinträchtigt (Berry et al. 2006). Assimilation (als alleinige Identifikation mit der Aufnahmekultur) und Separation (als alleinige Identifikation mit der Herkunftskultur) sind danach (nur) dann relativ unproblematisch, wenn sie selbst erwünscht und von der Umgebung gestützt werden. In ähnlicher Weise gehen auch Portes und Rumbaut (2001) davon aus, dass eine Integration in die Aufnahmegesellschaft bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung herkunftskultureller Bindungen („selective acculturation“) negative Begleiterscheinungen des Akkulturationsprozesses gerade bei Migranten mit geringen Ressourcen besser abfedern kann, als eine im Verhältnis zu den Eltern „dissonante“, allein auf die Aufnahmegesellschaft ausgerichtete und mit größerer Entfremdung einhergehende Orientierung. Im hiesigen Kontext wäre mit Blick auf Delinquenzrisiken noch genauer auszuleuchten, ob und unter welchen Bedingungen ein solches Ergebnis wahrscheinlich ist, inwiefern es zum Beispiel von der Größe und den Ressourcen einer „eigenethnischen“ Umgebung, dem Ausbleiben von Diskriminierung oder auch einer grundsätzlichen Vereinbarkeit der unterschiedlichen kulturellen Anforderungen abhängig ist (s. hierzu Thomson/Crul 2007). Eine spannungsarme und mit positiven Resultaten verknüpfte „selektive Akkulturation“ erscheint umso eher erschwert, je stärker herkunftskulturelle Bezüge einerseits von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt werden, und je mehr solche Bezüge und Identitäten andererseits durch die Migranten selbst gerade in Abgrenzung zur Aufnahmegesellschaft und entsprechenden Grundverständnissen (etwa mit Blick auf Geschlechterrollen) konstruiert werden. Für den erfolgreichen Aufbau einer bikulturellen Identität dürfte die Abwesenheit von strukturellen Barrieren wiederum eine zentrale Rolle spielen. So wird eine leichte Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensweisen von Migrantennachkommen mit größerer Bildungsteilhabe häufiger bejaht (Halm/Sauer 2011, S. 84 ff.). Zugleich bleibt im Blick zu behalten, inwiefern herkunftskulturelle Orientierungen Aufstiegsmobilität begünstigen oder nicht eher hemmen (skeptisch zum Beispiel Esser 2010).

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Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur?

3. Migration, Wertorientierungen und Delinquenz

Werte, verstanden als grundlegende Vorstellungen von Wünschenswertem, wirken handlungsbegründend und vermitteln Handlungsziele. Handlungsentscheidungen können damit zum einen auf direkte Weise motivational beeinflusst werden. Werte können zum anderen aber auch indirekt, vermittelt durch Lebensstile und stärker situationsbezogene soziale Normen handlungsleitend sein. Wertorientierungen haben damit ein bedeutsames Erklärungspotenzial für abweichendes Verhalten (s. hierzu Pöge/Seddig sowie Stroezel/Wegel/Kerner, jeweils i.d.B.), und die Berücksichtigung der horizontalen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung im Rahmen von Milieu- und Lebensstilansätzen verspricht differenziertere Einblicke in Zusammenhänge zwischen Sozialstruktur und Kriminalität, als es allein an vertikalen Ungleichheiten orientierte Konzepte zulassen (Boers/Reinecke 2007, S. 44). Für kriminologische Fragestellungen mit Bezug zu Migration erlangt die Analyse des Einflusses von Wertorientierungen eine besondere Bedeutung, lassen sich dadurch doch kulturelle Orientierungen genauer ausleuchten. In bestimmten Migrantengruppen gelten traditionelle und auch religiöse Orientierungen als besonders stark ausgeprägt, und es wird eine recht hohe intergenerationelle Stabilität beobachtet. Nach allgemeinen Befunden zu Zusammenhängen zwischen Werten und Kriminalität müssten solche Orientierungen eigentlich ein Schutzfaktor sein (s. Pöge/Seddig sowie Hermann, jeweils i.d.B.). Im Migrationskontext würde nach der These der selektiven Akkulturation dasselbe gelten, soweit durch die Aufrechterhaltung traditioneller Werte intergenerationelle Dissonanzen in Migrantenfamilien verringert werden können. Hingegen sind aus assimilationstheoretischer Perspektive traditionell-religiöse Orientierungen in modernen, säkularen Gesellschaften mit Risiken einer stärkeren Marginalisierung verknüpft, und in der Folge sind danach größere Kriminalitätsprobleme zu erwarten – zumal dann, wenn solche Orientierungen die Befürwortung gewaltlegitimierender Männlichkeits- und Ehrvorstellungen begünstigen.

3.1 Wertorientierungen bei Migranten Untersuchungen zu Wertorientierungen bei Migranten belegen in vielen Bereichen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit der Mehrheitsbevölkerung (Uslucan 2013, S. 236 ff.). Zugleich verdeutlichen sie, dass auch die Bevölkerung mit Migrationshintergrund mit Blick auf die als wichtig erachteten Werte heterogen ist (Wippermann/Flaig 2009), auch wenn in bestimmten Migrantengruppen bislang insgesamt nur eine geringe Ausdifferenzierung zu beobachten ist (Halm/Sauer 2011). Die meisten quantitativen Untersuchungen beziehen sich hierzulande auf türkeistämmige Migranten. Auffällig ist in dieser Herkunftsgruppe, dass parallel zu deutlich zunehmenden interethnischen Kontakten und einer steigenden Orientierung an der Aufnahmegesellschaft auch in der zweiten Generation traditionellen und religiösen Werten weiterhin stark zugestimmt wird. Die Bedeutung von Religiosität wird von in Deutschland Geborenen sogar etwas stärker betont als von Angehörigen der ersten Einwanderergeneration aus der Türkei (Diehl/Koenig 2009, S. 309; Halm/Sauer 2011, S. 83 ff.), wobei allerdings bezüglich der religiösen Praxis (z.B. regelmäßige Moscheebesuche; Tragen des Kopftuchs) und mit Blick auf fundamentalistische Einstellungen durchaus erhebliche Rückgänge zu erkennen sind (Pollack

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Christian Walburg et al. 2016, S. 11 ff.) – ein Hinweis darauf, dass Religion zunehmend einen eher symbolischen Charakter einnimmt (s. zu Geschlechterunterschieden jedoch Diehl/Koenig 2009). Auch traditionelle Geschlechterrollen werden im Generationenverlauf den Untersuchungen zufolge seltener befürwortet. Bezüglich der Zustimmung zu traditionellen und religiösen Orientierungen bestehen die mit Abstand größten Unterschiede zur autochthonen Bevölkerung (Uslucan 2013, S. 253 ff.; Walburg 2014, S. 190 ff.; s. auch Stroezel/Wegel/Kerner, i.d.B.). Zugleich scheinen diese Einstellungen die Nähe zur deutschen Gesellschaft aber kaum zu beeinflussen. Auch stark traditionell orientierte Migranten können in intensivem Austausch mit der Mehrheitsgesellschaft stehen (Halm/Sauer 2011, S. 94), wobei jedoch zwischen dem Grad der Religiosität und der sozialen Assimilation (etwa der Verwendung der deutschen Sprache) negative Zusammenhänge beobachtet werden (Diehl/Koenig 2009, S. 314 f.). Studien deuten zudem darauf hin, dass gerade bei den in Deutschland lebenden Türkeistämmigen mit einer größeren Wertedistanz zur Mehrheitsgesellschaft kein vermindertes subjektives Wohlbefinden einhergeht (Hadjar et al. 2014, S. 61 ff.). Überdies ist eine große Werteähnlichkeit zwischen Eltern und Kindern danach, anders als es assimilationstheoretisch möglicherweise zu erwarten wäre, in migrantischen Familien hierzulande nicht mit einem geringeren Wohlbefinden verbunden als in nichtmigrantischen Familien (ebd.). Solche Befunde stützen die Annahme, dass einer innerfamiliären Transmission familienbezogener und religiöser Werte gerade im Migrationskontext eine Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion zukommt (Nauck 2007, S. 47). Die (Rück-)Besinnung auf herkunftskulturelle Ressourcen kann zudem als eine Kompensationsstrategie vor dem Hintergrund von Marginalisierungserfahrungen interpretiert werden (Schiffauer 2004), wobei daraus bisher allerdings nicht folgt, dass eine Aufrechterhaltung traditionell-religiöser Werte bei (Bildungs-)Aufsteigern wesentlich schwächer ausgeprägt ist (Diehl/Koenig 2009; Halm/Sauer 2011).

3.2 Migration, Wertorientierungen und Delinquenz Eigene Untersuchungen haben den Eindruck einer weitverbreiteten Aufrechterhaltung herkunftskultureller Bindungen bei in Deutschland geborenen Jugendlichen türkischer Herkunft bestätigt (Walburg 2014). Die Analysen erfolgten im Rahmen der seit 2002 in Duisburg durchgeführten Längsschnittstudie Kriminalität in der modernen Stadt, bei der (neben rund 1.900 autochthonen und rund 750 sonstigen allochthonen Jugendlichen) etwa 650 Jugendliche türkischer Herkunft seit ihrem 13. Lebensjahr zunächst in einjährigem Abstand, nach Beendigung der Schulzeit dann zweijährig zu eigenem delinquenten Verhalten und dessen Entstehungsbedingungen befragt werden konnten.2 Die Jugendlichen türkischer Herkunft waren ganz überwiegend bereits in Deutschland geboren worden und gehörten damit mindestens der zweiten, angesichts ihres Geburtsjahres (1988/89) zum Teil wohl aber auch schon der dritten Migrantengeneration3 an. Sie stellten Mitte der 2000er Jahre knapp 20% der Duisburger Schülerschaft – ein auch für westdeutsche Großstädte weit überdurchschnittlicher Wert. 2 Die Studie wird seit 2002 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Ein allgemeiner Ergebnisüberblick findet sich bei Boers et al. 2014; s. zu weiteren Informationen auch www.krimstadt.de. 3 Dies jedenfalls dann, wenn man hierfür genügen lässt, dass die Eltern (oder mindestens ein Elternteil) unabhängig von ihrem Geburtsland zu relevanten Teilen in Deutschland aufgewachsen sind (das Einreisealter der Eltern ist nicht erfragt worden).

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Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur? Eine intensive herkunftskulturelle Orientierung ließ sich zum einen an der ethnischen Identifikation der Jugendlichen ablesen. Fast alle türkeistämmigen Befragten sahen sich („eher“ oder „völlig“) als türkisch (bzw. kurdisch); rund die Hälfte fühlte sich daneben zumindest teilweise auch als deutsch (Walburg 2014, S. 139 ff.). Ein starker herkunftskultureller Bezug ging zum anderen aus zum Teil erheblich von Nichtmigranten abweichenden Zustimmungsmustern zu spezifischen Wertorientierungen hervor (a.a.O., S. 190 ff.). Zur Operationalisierung von Werten wurde eine jugendadäquat modifizierte Skala des Sinus-Instituts verwendet (s. auch Pöge/ Seddig, i.d.B.). Dabei stimmten im Rahmen der dritten Befragungswelle (2004; Durchschnittsalter 15 Jahre) in allen Herkunftsgruppen in gleicher Weise rund ein Drittel der Befragten hedonistisch-materialistischen Werten eher oder völlig zu. Hingegen fanden sich mit Blick auf traditionelle Einstellungen, im Einklang mit anderen Studien, deutliche Unterschiede zwischen Jugendlichen ohne und mit Migrationshintergrund. Den durch Aussagen wie „Alte Werte haben eine große Bedeutung für mich“, „Es ist mir wichtig, die Ehre der Familie hochzuhalten“, „Kinder haben die Pflicht, ihre Eltern zu achten / ihnen zu gehorchen“, „Nur wer Pflichten erfüllt, erreicht sein Lebensziel“ sowie klassische Geschlechterrollen geprägten traditionellen Werten stimmten insgesamt 36% der männlichen sowie 22% der weiblichen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund eher oder völlig zu. Bei gleichaltrigen Türkeistämmigen betrugen die Anteile 66% bzw. 62%.4 Bezüglich des persönlichen Stellenwerts der Religion („Es ist wichtig, Gottes Gebote zu beachten“; „Religiöse Vorstellungen sind wichtig“) fielen die Unterschiede noch größer aus: Während Jugendliche ohne Migrationshintergrund nur zu gut 10% religiösen Werten zustimmten, belief sich dieser Anteil bei den jungen Türkeistämmigen auf fast zwei Drittel.5 Die Auswertungen zu direkten und indirekten Zusammenhängen dieser Wertemuster mit Delinquenz ergaben, durchaus im Sinne der These selektiver Akkulturation, dass die weitverbreitete Aufrechterhaltung herkunftskultureller Bindungen jedenfalls im analysierten städtischen Kontext Delinquenzrisiken nicht verstärkt und tendenziell sogar reduziert. Hierfür spricht bereits der vor dem Hintergrund des bisherigen Forschungsstandes etwas überraschende Grundbefund, dass sich über das gesamte Jugend- und Heranwachsendenalter hinweg sowie nicht nur in der beschriebenen Hauptkohorte, sondern auch in einer zwei Jahre älteren Kontrollkohorte bei männlichen Türkeistämmigen keine (wesentlich) erhöhten Gewalttäteranteile fanden (Walburg 2014, S. 126 ff.). Damit übereinstimmend zeigten sich auch auf Einstellungsebene, hinsichtlich der Akzeptanz von Gewalt, nur geringe Unterschiede (a.a.O., S. 234 ff.). Mädchen türkischer Herkunft wiesen, durchaus im Einklang mit früheren in- und ausländischen Befunden, vor allem bei Eigentumsdelikten erheblich unterdurchschnittliche Täteranteile und eine im Vergleich zu anderen weiblichen Jugendlichen etwas stärker ausgeprägte Normakzeptanz auf. Wertorientierungen, die in dieser Studie als durch Sozialisationsinstanzen (Eltern, Schule, Peers, Medien) und delinquenzbezogene Normorientierungen sowie durch (situativ wirkende) Freizeitstile vermittelte distale Faktoren für Delinquenz konzipiert sind (Boers/Reinecke 2007; Walburg 2014), kam bei jungen Türkeistämmigen insgesamt eine etwas geringere Vorhersagekraft zu als bei Befragten ohne Migrationshintergrund. Vieles spricht dafür, dass dies mit der größeren Homogenität dieser Gruppe zusammenhängt. Nichtsdestoweniger waren herkunfts4 Auch bei anderen Jugendlichen ausländischer Herkunft (Polen, ehem. Sowjetunion, andere ehem. GastarbeiterAnwerbeländer) lagen die Zustimmungswerte für traditionelle Werte (gesamt) mit 50% bis 60% (Jungen) bzw. 37% bis 48% (Mädchen) deutlich über denen der autochthonen Befragten. 5 In den anderen Migrantengruppen spielte Religiosität ebenfalls eine größere Rolle, allerdings blieben die Anteile hier überwiegend deutlich unter 50%.

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Christian Walburg übergreifend grundsätzlich ähnliche Muster zu erkennen (Walburg 2014, S. 193 ff.). Auch unter Türkeistämmigen waren stärker traditionell orientierte und religiöse Jugendliche nicht häufiger (und zumindest der Tendenz nach zum Teil eher etwas seltener) an Delinquenz beteiligt als Jugendliche, die diesen Werten nicht zustimmten. Besonders bemerkenswert erscheint, dass die Zustimmung zu traditionellen Orientierungen (einschließlich entsprechenden Geschlechterrollen) auch unter Türkeistämmigen nicht mit einer größeren Gewaltbefürwortung einherging. Ähnliches gilt für den Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewalt. Das stark ausgeprägte Bekenntnis zum hohen Stellenwert von Religion stellte bei Türkeistämmigen allerdings, anders als bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, keinen Schutzfaktor gegen Gewaltausübung und -akzeptanz dar (s. zu durchaus konträren Befunden einerseits Baier et al. 2010, andererseits Brettfeld/Wetzels 2011). Bei der Einordnung dürfte zu berücksichtigen sein, dass die Zustimmung zu Religiosität bei Türkeistämmigen eine deutliche Mehrheit (den „Mainstream“) kennzeichnet, während es sich bei religiösen Jugendlichen unter Autochthonen um eine kleine Minderheit handelt. Mit hedonistischen Werten gingen hingegen herkunftsübergreifend erhöhte Delinquenzrisiken einher. Diese ergaben sich insbesondere mit Blick auf eine in allen Herkunftsgruppen bei „Hedonisten“ deutlich erhöhte Gewaltakzeptanz (Walburg 2014, S. 239 ff.). Als bedeutsam erwiesen sich daneben Unterschiede im Freizeitverhalten: Jugendliche türkischer Herkunft berichteten im mittleren Jugendalter sehr viel seltener, mit ihrer Clique abends auszugehen und vor allem Alkohol zu konsumieren (a.a.O., S. 250 ff.). Dabei war, bei Mädchen stärker als bei Jungen, ein negativer Zusammenhang zwischen solchen Delinquenzrisiken erhöhenden Freizeitbeschäftigungen und der Intensität traditioneller und religiöser Orientierungen zu beobachten. Die niedrigere Delinquenzbeteiligung von weiblichen Jugendlichen türkischer Herkunft ließ sich zu einem kleineren Teil durch eine etwas größere Normakzeptanz, vor allem aber durch diese Unterschiede im Freizeitverhalten erklären. Neben den Wertorientierungen selbst dürfte hier auch eine (damit im Zusammenhang stehende) engere elterliche Supervision eine Rolle gespielt haben.6 Bei den türkeistämmigen Jugendlichen fanden sich schließlich auch keine Hinweise auf grundlegend schwächer ausgeprägte familiäre Bindungen. Allerdings wurde, wie in früheren Untersuchungen, häufiger ein gewaltsamer elterlicher Erziehungsstil berichtet, auch wenn dieser keineswegs den Regelfall darstellte. Besonders auffällig war überdies eine ausgeprägte Bindung an die Schule. Diese fiel zudem umso größer aus, je stärker traditionelle und religiöse Orientierungen bejaht wurden. Insgesamt erwiesen sich die recht weitverbreitete Zustimmung zu traditionellen und religiösen Werten sowie die starken sozialen und identifikativen Herkunftsbezüge kriminologisch als eher nicht problematisch. Mit Blick auf die am Erhebungsort vergleichsweise günstige Bildungsbeteiligung von Jugendlichen ausländischer Herkunft (Walburg 2014, S. 179 ff.), mit einer im Städtevergleich überdurchschnittlichen Teilnahmequote in der Sekundarstufe II (s. hierzu auch Berlin-Institut 2009, S. 68 ff.), scheinen sie auch einer Aufwärtsmobilität der Migrantennachkommen nicht grundsätzlich im Wege zu stehen. Vielen gelang es offenkundig, auch vor dem Hintergrund von vergleichsweise geringen strukturellen Barrieren (gemessen an der Durchlässigkeit des Bildungssystems), die verschiedenen kulturellen Bezüge ohne größere Spannungen miteinander zu vereinbaren. Es steht zu vermuten, dass dazu der Umstand beigetragen hat, dass es sich hier um eine nach zu Studienbeginn vier (und mittlerweile über fünf) Jahrzehnten 6 Diese ist in der Studie nicht direkt erfragt worden.

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Migration und Kriminalität. Eine Frage der Kultur? Einwanderungsgeschichte recht etablierte und vor allem auch große (und damit im lokalen Kontext nicht ohne weiteres marginalisierte) Migrantengruppe handelt – mit entsprechenden sozialen Netzwerken und Ressourcen.

4. Fazit

Die skizzierten Befunde deuten darauf hin, dass die Zusammenhänge zwischen Migration, kulturellen Orientierungen und Kriminalität komplexer sind, als es assimilationstheoretische Modelle nahelegen. In modernen, auch bei Einheimischen pluralisierten und schon seit Langem gerade in Großstädten durch Migration weiter diversifizierten Gesellschaften verlieren Vorstellungen von „der“ Herkunfts- und „der“ Aufnahmekultur an Plausibilität. Auslandsbezüge, Überschneidungen und Mehrfachidentitäten werden hier zum Normalfall (Schneider et al. 2015). Transnationale Bindungen werden durch eine größere Mobilität und mediale Vernetzung befördert und spielen heutzutage eine größere Rolle als in früheren Einwanderungsphasen. Eine durch Offenheit, Individualisierung und Vielfalt gekennzeichnete Umgebung kann das Ankommen erleichtern. Die Adaption daran hält aber auch spezifische Herausforderungen bereit. Insbesondere für Migranten der „anderthalbten“ (im Kindes- oder Jugendalter zugewanderten) Generation sowie für die im Inland geborenen Kinder von neu Zugewanderten ist weiterhin näher auszuleuchten, inwieweit und unter welchen Bedingungen es zu Akkulturationsstress kommt und wie dieser verarbeitet wird. Genauer zu betrachten wäre dabei die Bedeutung unterschiedlich strukturierter nationaler und lokaler Aufnahmekontexte. Es ist denkbar, dass herkunftskulturelle Orientierungen in einer diese stützenden Umgebung besonders stark aufrechterhalten werden und gerade dort dazu in der Lage sind, Spannungen und Delinquenzrisiken zu reduzieren. Umgekehrt bleibt im Blick zu behalten, inwieweit im Falle starker Herkunftsbezüge etwa gewaltbegünstigende Männlichkeitsbilder (zunächst) in größerem Ausmaß beibehalten werden. Es geht dann um (auch längsschnittliche) Analysen zur Größe und Kohäsion von Migrantengemeinden, aber auch um regional unterschiedliche strukturelle Gelegenheiten bzw. Barrieren (Arbeitsmarkt, Bildungssystem) sowie Erfahrungen und die Art und Weise des Umgangs mit Migration durch die jeweilige Stadtgesellschaft. Zuletzt ergaben sich Hinweise darauf, dass die lange Zeit erkennbare Höherbelastung der Nachkommen der Arbeitsmigranten in den letzten Jahren generell, das heißt auch außerhalb des hier vorgestellten städtischen Kontextes zurückgegangen ist (Pfeiffer 2016; Walburg 2016) – und dies, ohne dass in Studien bislang eine wesentliche Verringerung herkunftskultureller Orientierungen zu beobachten gewesen ist. Weiterhin erhält ein beträchtlicher Teil der jungen Türkeistämmigen identifikative und soziale Bindungen mit dem Heimatland ihrer (Groß-)Eltern sowie religiöse und familienbezogene Werte aufrecht, während es zugleich vielen besser zu gelingen scheint, einen Platz in der hiesigen Gesellschaft zu finden. Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen ein durch die gegenwärtigen innertürkischen Entwicklungen zunehmend konfrontativ geprägtes türkisch-europäisches Verhältnis sowie die an Boden gewinnenden islamisch-fundamentalistischen Strömungen und antimuslimischen Stimmungen auf diese Prozesse haben.

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1. Einleitung

In den meisten Studien zu jugendlichem Problemverhalten über eine ganze Palette einzelner Auffälligkeitsbereiche der informellen bis formellen Sozialkontrolle hinweg zeigt sich, dass junge Menschen im Schnitt generell höher als vollerwachsene Menschen belastet sind. Im Rahmen dieses im Kern stabilen Befundes belegen Forschungen dann tendenziell klar und ebenfalls im Kern übereinstimmend einen Schichteinfluss. Im Regelfall erweisen sich junge Menschen der Basisschicht (in anderer Terminologie: der Unterschicht) „anfälliger“ als junge Menschen aus den mittleren bis oberen Schichten sowohl im sog. Hellfeld der offiziell bekannt gewordenen Delinquenz als auch, hier weniger ausgeprägt, im sog. Dunkelfeld selbstberichteter oder von nahen Personen berichteter Normabweichungen. Daneben nimmt seit alters her, und für viele Beobachter gerade heutzutage besonders erstaunlicherweise, das Geschlecht oder, vielleicht treffender gesagt, die Geschlechtsrollenverteilung in Gesellschaft, Wirtschaft und Staat, über alle historischen, soziopolitischen und sozioökomischen Wandlungen hinweg eine ganz hervorgehobene Stellung ein. Besonders deutlich treten solche Beziehungen quantitativ in Erscheinung, wenn es um Formen von Problemverhalten in Richtung Devianz bzw. Delinquenz geht, die nach ihrem Bekanntwerden von Familien-, Jugend- oder Schulbehörden bearbeitet werden, nachgerade in Formen des Sozialrechts (spezifisch des sog. Kinder- und Jugendhilferechts) oder des Familienrechts (BGB und FamFG). Dieses Feld von Auffälligkeiten und ihrer Prävention bis hin zur stationären Behandlung überschneidet sich in der Lebenswirklichkeit, in ihrer Erfassung und ihrer „Bearbeitung“, sowie schließlich im geltenden Recht, vergleichsweise häufig mit polizeirechtlich oder ordnungswidrigkeitsrechtlich bearbeiteten Fehlverhaltensweisen (Stichwort: Öffentliche Sicherheit und Ordnung) oder auch mit bereits stabiler ausgeprägten Verhaltensmustern, nicht selten eingebettet in eine längere Erfahrungsgeschichte von Viktimisierung. Im Gefüge der biographischen Entwicklung und ihrer Gefahrenlagen, der Antriebe und Kontrollen bis Korrekturzugriffe seitens der Institutionen informeller bis formeller Sozialisation will es vor dem gerade skizzierten „Hintergrund“, in psychologischer Perspektive eher folgerichtig denn überraschend sowie in soziologischer Perspektive eher normal denn abnorm erscheinen, dass es in der großen Menge der Bevölkerung vereinzelt, bei einem geringeren Teil wiederholt und schließlich im Extremfall früh oder spät startender sog. Krimineller Karrieren stetig zu strafrechtlich pönalisierten Verhaltensweisen kommt (Stichwort: Jugendstrafrecht, Kernstrafrecht des StGB, Nebenstrafrecht wie beispielsweise Drogenstrafrecht des BtMG oder Straßenverkehrsstrafrecht des StVG). Zu den grundlegenden Strukturen und relevanten Einzelfragen kann hier pauschal auf

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Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner die wissenschaftlichen Darstellungen in der allgemeinen Kriminologie (Bock 2013; Eisenberg 2000; Eisenberg/Kölbel 2017; Kunz/Singelnstein 2016; Neubacher 2017; Schwind/Schwind 2016) und spezifisch der Jugendkriminologie (Eisenberg 2016; Walter/Neubacher 2011) verwiesen werden. Mit fortschreitender Involvierung in den Reiz-Reaktions-Kreislauf der formellen strafrechtlichen Sozialkontrolle werden die „Täter“ zu höheren Sanktionen wie insbesondere Bewährungsstrafen und schließlich unbedingten freiheitsentziehenden Kriminalstrafen (Jugendstrafe nach dem JGG oder Freiheitsstrafe nach dem StGB) verurteilt, so dass am Ende jeweils eine Strafverbüßung in einer Anstalt des (Jugend-)Strafvollzugs ansteht. Aufgrund der gestuften „Auslese“ im (wiederholten) Strafverfolgungs-, Strafvollstreckungs- und Strafvollzugsgang findet, bildlich gesprochen, eine Verdichtung personaler Auffälligkeiten bzw. sozialer Problemblagen statt dergestalt, dass die Population der „Insassen“ von Gefängnissen (amtlich „Strafvollzugsanstalten“ oder auch „Justizvollzugsanstalten“) die oben skizzierten Auffälligkeiten in besonders hohem Ausmaße erkennen lässt. Damit beschäftigt sich neben anderen Disziplinen im Feld der (substantiellen) Kriminologie die sog. Pönologie des Rechts und der Wirklichkeit von Sanktionierung, Sanktionsumsetzung und ihren Folgefragen wie beispielsweise der weiteren Straffälligkeit einerseits (Rückfall bzw. Rückfälligkeit) oder aber, seit einigen Jahren auch paradigmatisch in den Vordergrund getreten, des Abflauens von Wiederholungstäterschaft bzw. des Abbruchs Krimineller Karrieren (Desistance) andererseits. Auch darauf sei pauschal verwiesen (Stelly et al. 2003; Laubenthal 2015; Schweder 2015; Boers/Herlth 2016; Kerner et al. 2016). Die Erklärungen in der Kriminologie und in anderen Human- wie Sozialwissenschaften insbesondere für Entstehung, Verfestigung und auch Beendigung jugendlichen Problemverhaltens sind vielschichtig. Als gesichert gilt traditionell im Mikrobereich, dass das elterliche Erziehungsverhalten eine maßgebliche Rolle spielt, wobei vor allem Inkonsistenz, übermäßige Strenge und Aggression in engem Zusammenhang stehen (Lösel/Bliesener 2003; Kassis 2005; Kerner et al. 2009).

2. Werte und Problemverhalten. Dimensionen der Forschung bzw. der Befunde

Werte bzw. Werthaltungen wurden in der (deutschen) Forschung zu Problemverhalten, Delinquenz und Kriminalität bis in die 1990er Jahre hinein eher selten thematisiert und noch seltener intensiv behandelt. Eine besonders hervorzuhebende Ausnahme stellt beispielsweise die auf systematisch vergleichende Einzelfallanalysen konzentrierte Angewandte Kriminologie dar (Göppinger 2008; Bock 2009). Werte werden verbreitet, in Anlehnung an die Studien von Rokeach (1973), definiert als „zentrale Ziel- und Wunschvorstellungen eines Individuums, die sowohl bei der Auswahl von Handlungszielen als auch bei der Festlegung auf eine Handlung von Bedeutung sind“. Individuelle Werte gelten somit als motivationaler Antrieb sozialen Handelns und bestimmen dessen Mittel und Zweck. Bezüglich der Ausprägung von Werten speziell bei jungen Menschen gehen Inglehart (1977 und 1989) und die an seinem Konzept ausgerichteten Studien davon aus, dass

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? im Makrobereich vor allem die sozialstrukturellen Bedingungen und die Prosperität des jeweiligen Landes, und im Mesobereich der soziale Status der Familie, wesentlich sind. Die grundlegenden Werte und die damit verbundenen Einstellungen (auch) zu „Gut und Böse“, „Recht und Unrecht“, „Konformität und Kriminalität“ sind bei normalem Entwicklungsgang von Kindern geschlechtsunabhängig mit ca. 10 Jahren deutlich ausgebildet; als im Kern stabile individuelle Wertorientierungen bzw. Werthaltungen sind sie um das 15. Lebensjahr herum ausdifferenziert (Kerner/Bott/Reich 2006; Cohn et al. 2009). Traditionale, auch posttraditionale, Werte – wie Sicherheit, Leistungsethik, Gesetzesakzeptanz und religiöse Bindungen – erscheinen generell unabhängig von ökonomischen Veränderungen zu sein und zu bleiben. Im Verlauf der Internalisierung sog. postmaterialistischer Werte hingegen, wozu beispielsweise Bedürfnisse nach Zuneigung, Liebe, Achtung und Selbstverwirklichung gehören, wirkt sich die soziale Lage der Jugendlichen mitprägend aus, aber danach sind auch sie gegen Veränderungen durch u. a. Außeneinflüsse relativ immun. Neuere Forschungen in Deutschland stellen verstärkt auf das Konzept der sozialen Milieus und der darin eingebetteten „Lebenswelten“ ab (zuletzt etwa Calmbach 2011). Was die Zusammenhänge zwischen Werten und Verhalten, insbesondere von Problemverhalten (Devianz, Delinquenz, Kriminalität) betrifft, so besteht in der kriminologischen Werteforschung relativ hoher Konsens dahingehend, dass hedonistische Werte einen kriminalitätsfördernden Einfluss, traditionelle Werte hingegen einen kriminalitätshemmenden Einfluss ausüben (Hermann u.a. 2010; Boers et, al. 2010; Kerner et. al. 2011). Vergleichbares gilt hinsichtlich der Ausbildung und Verfestigung individueller kriminalpolitischer Einstellungen und der Präferierung bestimmter Sanktionspraxen in einer Gesellschaft (Kinzig/Stroezel 2017). Den Hintergrund bilden im Gesamtkontext das sozioökonomische Herkunftsmilieu, der damit verbundene kulturelle Habitus, sowie die Erziehungserfahrungen erst im Elternhaus und dann allmählich erstarkend im Kindergarten, in der Schule, in Vereinen. Im Weiteren wirkt sich die Gruppe(n) der Gleichaltrigen, also der sog. Peer Groups im Freizeitbereich, im Guten wie im Gefährdenden aus; spezifisch kritisch wird die Lage dann, wenn es sich um die regelmäßige Anbindung bis Einbindung in Gruppen mit unstrukturierten Freizeitverhaltensmustern handelt (Goldberg 2003). Die starke Bedeutung der elterlichen Erziehung wurde auch im Rahmen der Tübinger Schülerstudien erforscht, vor allem mit Blick auf die präferierten Wertorientierungen (Kerner u. a. 2009b; Wegel 2011). Hermann und Fiedler (2014) vertieften (auch) dies bei Ihren Forschungen zu jungen Inhaftierten. Dieses gesamte „Konglomerat“ wird von unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und Modellen der Kriminologie in verstehender (idiographischer) bzw. erklärender (nomothetischer) Ausrichtung unterschiedlich eng mitverarbeitet. Hervorgehoben seien neben einer spezifisch ausgearbeiteten Theorie der Werte (Hermann 2003) entwicklungsdynamische Theorien (etwa Sampson/Laub 1994), Kontroll- und Bindungstheorien sowie Subkulturtheorien, oder an den Lebenswelten orientierte Theorien (zuletzt etwa Calmbach u. a. 2012). Unter den theoriegeleiteten empirischen Untersuchungen aus jüngerer Zeit in Deutschland, mit wesentlicher Beachtung von Werten und deren Einflüssen, sei für den Jugendbereich beispielhaft die von Boers, Reinecke et. al. (2002) in Duisburg und Münster durchgeführte LangzeitPanelerhebung mit Schülern der Klassen sieben bis zehn hervorgehoben. Sie fanden heraus, dass anstelle von oft vermuteten direkten Einflüssen indirekte Effekte wirksam wurden. Hedonistische Werte wirkten sich sowohl auf das Freizeitverhalten als auch im Sinne einer Verminderung von Normakzeptanz, und damit im Weiteren auf die Häufigkeit selbstberichteter Delin-

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Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner quenz aus. Traditionelle Werte hingegen bekräftigten die generelle und spezielle Normakzeptanz und wirkten sowohl der Bereitschaft zu delinquentem Verhalten als auch dessen faktischer Häufigkeit im Dunkelfeld entgegen. Reinecke (2007) wiederum konnte bei weiteren Berechnungen mit dem Datensatz dieser Studie ebenfalls indirekte Einflüsse von Werten auf Delinquenz bestätigen, daneben aber direkte Effekte von Normen auf Delinquenz feststellen. In einer jüngeren vielschichtigen Reanalyse der Duisburger Daten stellte Seddig (2014) generell einen indirekten Effekt traditioneller Werte dergestalt fest, dass diese die Bindung in der Schule sowie die Normakzeptanz wesentlich beeinflussen, und letztere wiederum Delinquenz mindernd wirkt. Hedonistische Werte andererseits führen auf dem Wege über die Bindung an die Peer-Group zu einer Ablehnung von Rechtsnormen, was das Auftreten und Verfestigen von Delinquenz begünstigt. Pöge (2016) untersuchte anhand der gleichen Daten den Einfluss soziodemografischer Faktoren in der Jugendphase auf Werte. Demnach hat das Geschlecht dergestalt einen Einfluss auf die präferierten Werte, dass männliche Jugendliche mit zunehmendem Alter hedonistisch-materialistische Werte und Mädchen verstärkt traditionelle Werte präferieren. Zugleich ergab sich, dass auch die kulturelle Verortung von entscheidender Bedeutung ist, indem türkische Jugendliche im Gegensatz zu deutschen Jugendlichen gleichbleibend und stabil traditionelle Werte äußern. Generell zeigte Pöge, dass sich Jugendliche mit zunehmendem Alter in Bezug auf ihre individuellen Werthaltungen spezialisieren. Dies kann beispielhaft am Wertetypus der Konventionalisten verdeutlicht werden. Hier erwies sich eine Spezialisierung auf diesen Wertetypus, verstärkt durch das Geschlecht, mit zunehmendem Alter als immer wahrscheinlicher. Woll (2011) konnte mittels Jugendbefragungen in Berufsschulen besonders den Zusammenhang zwischen modernen materialistischen Werten und Delinquenz bestätigen. Bei den Tübinger Studierendenbefragungen in jüngerer Zeit wurden spezifisch die Zusammenhänge zwischen Werten und kriminalpolitischen Einstellungen untersucht (Kinzig/Stroezel 2017). In einem Gesamtmodell konnte gezeigt werden, dass moderne materialistische Werte von zukünftigen Juristen das Sozialkapital (Vertrauen in die Strafgerichte), die Kriminalitätsfurcht (kognitives Sicherheitsgefühl und Angst vor Körperverletzungsdelikten), den Sinn der Strafe (Rache und Vergeltung) und die Sanktionsvorstellungen erklären. Wiederum haben auch in diesem Modell elterliche Erziehungserfahrungen einen Effekt auf die Werte, bei autoritärer Erziehung speziell auf die subkulturellen bzw. Abweichung begünstigenden Werte, wie „schneller Erfolg“ und „cleverer und gerissener sein als andere“. Das Gesamtmodell wird sozialstrukturell über das Geschlecht verortet, wobei weibliche Studierende keine modernen materialistischen Werte präferieren, dafür aber eine höhere Kriminalitätsfurcht aufweisen, den punitiven Charakter der Strafe betonen und drastischere Sanktionsvorstellungen haben als die männlichen Studierenden. Die Analyse konnte somit zeigen, dass Werte unmittelbar für die Ausbildung bestimmter strafrechtlicher bzw. kriminalpolitischer Einstellungen verantwortlich sind.

3. Werte, Religion und Religiosität im Überblick

Für das Erklärungspotenzial jugendlichen Problemverhaltens wird in den USA sozusagen schon immer, in der europäischen Forschung und Diskussion eher seit jüngerem und allmählich zunehmend, die sozusagen „religiöse Verortung“ ins Spiel gebracht (Analyse bei Kerner 188

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? 2005). Dies kann je nach Forschungsdisziplin oder theoretischem Einsatz abstellen auf die Zugehörigkeit zu einer der Weltreligionen oder einer ihrer zahlreichen Sonderausprägungen (unabhängigen Kirchen, freien Gruppen oder auch Sekten, in den USA „Denominationen“), oder aber auf das Maß und die Intensität der praktischen Ausübung des überkommenen oder gewählten Glaubenssystems und dessen Riten und Gebräuchen (christlich gesprochen „Kirchlichkeit“), oder aber, auch bei anderen Formen und Richtungen religiös-weltanschaulicher bzw. sogar naturreligiöser Anbindungen, auf das Maß und die Tiefe persönlicher religiöser Überzeugungen, Übungen und stabiler Selbstbilder. Bei der Suche nach Einflüssen von Wertorientierungen auf die Verminderung bis Vermeidung delinquenten Verhaltens haben viele Studien vor allem in den USA auf religiöse Werte als Teilbereich der traditionellen Wertorientierungen fokussiert. Elifson, Peterson und Hadaway (1983) beispielsweise konnten in ihrer Befragung von 600 Schülern zwischen 12 und 18 Jahren einen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Ebenen der Religiosität und einem Gesamtindex an Normverstößen feststellen. Die Korrelationen waren jedoch für Eigentums- und gerade auch Gewaltdelikte wesentlich geringer als für die Bereiche des Alkohol- und Drogenkonsums. Einige Jahre später konnte Free (1994) in einer Befragung von 916 Studierenden tendenziell Ähnliches feststellen, dass nämlich der Effekt zunehmender Religiosität (als traditioneller Wert), sich deutlich beim Verzicht auf den Konsum illegaler Substanzen zeigt, aber bei sonstigen Formen selbstberichteter Delinquenz weniger deutlich ausfällt. In einer bundesweit repräsentativen Schülerstudie des KFN, der insoweit ersten in Deutschland (Baier et al. 2009), wurden den rund 45.000 Schülerinnen und Schülern unter anderem Fragen zu Religion und Religiosität vorgelegt. Die bisherige Auswertung ergab im Bereich von Alkoholkonsum und Ladendiebstahl ein für alle Gruppen im Trend ähnliches Bild: Je fester eine Verankerung im Glauben angegeben wurde, desto konformer verhielten sich die Jugendlichen. Dieser Zusammenhang war bei muslimischen Jugendlichen stärker ausgeprägt als bei christlichen Jugendlichen, wobei Religiosität wiederum zu den traditionellen Wertorientierungen zählt. Im Rahmen einer prospektiven repräsentativen Längsschnittstudie zur Vermittlung religiöser Erziehungsinhalte konnten Hermann/Treibel (2013) einen direkten Zusammenhang zwischen der Gewaltbereitschaft von 8- bis 9-jährigen Kindern und einer idealistischen Normorientierung feststellen dergestalt, dass diese Bereitschaft mit zunehmender idealistischer Wertepräferenz sinkt. Die idealistischen Wertorientierungen stehen hier in einem engen Zusammenhang mit den religiösen Werten der Kinder, die wiederum von den Eltern vermittelt werden (s. a. Kerner et al. 2011). In der „Tübinger Schülerstudie“ (Kurzbeschreibung im Annex) konnte bei einer ersten Teilauswertung für die Gruppe junger Gefangener ein ähnlicher bivariater Effekt je nach Religionszugehörigkeit gefunden werden, einschließlich derer, die angaben, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören (Kerner et al. 2003 und 2005). Bei jungen Gefangenen muslimischer Religionszugehörigkeit zeigte sich eine deutliche Beziehung von Gewaltneigung, starkem Glauben an Allah, und der Selbstbeschreibung als religiös. Außerhalb des Jugendbereichs legten beispielsweise Hermann und Dölling (2001), in ihrem Wertesurvey mit rund 2.930 Personen aus der Durchschnittsbevölkerung der Städte Heidelberg und Freiburg, den Fokus auf den Einfluss von Werten und moralischer Entwicklung auf kriminelles Verhalten. Den stärksten kriminalitätshemmenden Einfluss (-.53) auf einen Gesamtindex an Delinquenz hatten wiederum traditionelle Werte, wohingegen die modern materialistischen Werte sich (mit +.28) als eher kriminali-

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Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner tätsbegünstigend erwiesen Im Bereich des Gewaltverhaltens ergab sich ein gegensätzliches Bild. Während bei deutschen wie nichtdeutschen Befragten die Quote derjenigen, die angaben, Gewalttaten begangen zu haben, mit steigender Religiosität sank, stieg bei muslimischen Befragten die Gewalttäterquote mit zunehmender Religiosität. Da solche Ergebnisse nicht erst, aber gerade auch, in der aktuellen Gegenwart im Sinne eines deutlichen „Zündstoffs“ für Diskriminierung von Muslimen generell verstanden bzw. sogar gezielt genutzt werden könnten, sei auf folgenden ganz zentralen Befund hingewiesen: In empirischen Studien, die in der Lage waren, mehrere intervenierende Faktoren auch mit multivariaten Verfahren zu prüfen, stellte sich heraus, dass sich der bivariat scheinbar eindeutig hervortretende Zusammenhang von muslimischer Religion bzw. Religiosität und Gewalt verflüchtigt, wenn sozialisatorische und kulturelle Einflüsse kontrollierend berücksichtigt werden, insbesondere sog. hegemoniale Männlichkeitsnormen oder die sog. Kultur der Ehre (Brettfeld/Wetzels 2003; Enzmann et al. 2003; Brettfeld 2009). In einer eigenen Studie wurden Befragungsdaten des „Instituts Liljeberg Berlin“ bei Türken in der Türkei, bei nach Deutschland migrierten Türken und bei Deutschen in Deutschland bezüglich bevorzugter Werte vergleichend analysiert. Hier stand etwaige Religiosität bereits im Ansatz nicht im Kern, vielmehr ging es um Familienbilder, Geschlechtsrollen, Ehrbegriff, Nationalbewusstsein und Ähnliches, also insgesamt um kulturelle Traditionen, die sich u. a. in einen Liberalitätsindex einordnen ließen. Im vorliegenden Rahmen relevant ist der zentrale Befund, dass sich die Werthaltungen bei den „DeutschTürken“ schon beachtlich in Richtung auf die aktuellen Werthaltungen und Einstellungen im „allgemeinen“ Deutschland verschoben hatten, aber doch noch in einigen Dimensionen konservativer und ggf. rigider ausgeprägt waren (Wegel u. a. 2016). Insgesamt wird man die bisherigen Befunde dahin zusammenfassen können, dass es für die Frage, ob religiöse Menschen gegen die Versuchungen zu Straftaten und insbesondere zu Gewalttaten widerständig sind und bleiben, bzw. ob umgekehrt Religiosität auch Gewalt und Kriminalität fördernd wirken kann, auf die Art und Weise der Einbettung von Religion und Religiosität in übergreifende Unrecht und Gewalt ablehnende sowie Recht und Ordnung betonende Wertorientierungen ankommt. (Hermann 2003; Kerner, Stroezel/Wegel 2005 und 2011).

4. Neuere Tübinger Analysen und Befunde (auch) zu religiösen Werten

Im Jahr 2016 wurde die Werteskala von Klages mit den von Hermann (2003) ergänzten kriminogenen Wertorientierungen erneut im Rahmen einer Evaluationsstudie des Instituts für Kriminologie bei Schülern eingesetzt. In einem neuen Schwerpunkt wurde diese Skala aufgrund aktueller Debatten über Migration und Islamismus durch verschiedene Items zur Ausprägung von Liberalität und Rechtsempfinden ergänzt. Zusätzlich wurden noch drei Vignetten eingefügt, in denen mit Antwortmöglichkeiten auf medial besonders prominente Vorkommnisse aus den Jahren 2015 und 2016 Bezug genommen wurde. Es handelte sich zum einen um die Vorfälle in mehreren deutschen Städten, öffentlichkeitswirksam vor allem auf der Domplatte in Köln in der Silvesternacht von 2015 auf 2016, mit gruppenartigen Diebstählen sowie sexuellen Übergriffen auf weibliche Jugendliche und Erwachsene. Sodann ging es um diejenige TV-Sendung von Jan Böhmermann, in der er eine satirisch-drastische Attacke auf den türkischen Prä-

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? sidenten Erdoğan geritten hatte. Schließich ging es um die Attentate in Paris sowie in Deutschland in den Jahren 2015 und 2016, die einen islamistischen Hintergrund hatten und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung seither stark beeinträchtigen. Hier wurden zusätzlich 591 Schüler befragt, wobei wiederum in einem Kontrastgruppendesign die Hauptschüler bzw. Werkrealschüler einerseits und die Gymnasiasten andererseits die Grundgesamtheit bildeten. Die ursprünglichen Tübinger Schülerstudien waren in einem ersten Analyseschritt mit Blick auf die Sozialstruktur ausgewertet worden, in Anlehnung an das Klassenschema nach Goldthorpe (1996). Im Vergleich der verschiedenen Schultypen hatte sich besonders zwischen Hauptschulen und Gymnasien deutlich die höherwertige Qualifikation der Eltern ausgeprägt (Wegel 2011). Ausgehend von diesen pointierten „Eckpunkten“ war u. a. die Hypothese geprüft worden, dass sich das jeweilige soziale Milieu auch in den Wertepräferenzen und den Erziehungsstilen pointiert unterschiedlich erweisen sollte. Als besonders wichtig stellte sich folgender Unterschied heraus: Gymnasiasten präferierten signifikant häufiger jene Werte, die soziale Einstellungen sowie Eigenständigkeit und Kreativität betrafen; Hauptschüler präferierten signifikant häufiger andere Werte wie Nationalstolz und Religiosität, welche dort vor allem durch die Schüler muslimischen Glaubens betont wurden. Weiter zeigte sich bei den Hauptschülern eine starke Präferenz für tendenziell subkulturelle bzw. Kriminalität begünstigende Werte („härter sein als andere“, „schnell Erfolg haben“, „ein Leben mit viel Vergnügen führen“), wie sie ansonsten im Vergleich ähnlich häufig nur bei jungen Strafgefangenen sichtbar geworden war. Eine weitere bedeutsame Differenzierung hatte sich bezüglich der Sozialisationserfahrungen herausgestellt: Bei den Gymnasiasten überwog im Elternhaus ein fürsorglich-kontrollierender Erziehungsstil, wohingegen die Hauptschüler aus ihren Erziehungserfahrungen auch häufig von geringer elterlicher Kontrolle und Viktimisierungserfahrungen berichten (Kerner et. al. 2009b). Über die verschiedenen Erhebungswellen hinweg zeigte sich ansonsten immer wieder der gleiche Grundbefund: Schüler unterschieden sich hinsichtlich ihrer Werthaltungen entsprechend dem Schultyp vor allem dann signifikant, wenn man die jeweilige Religionszugehörigkeit berücksichtigte. Der Glaube an Gott/Allah, die Ausrichtung des Lebens nach religiösen Regeln sowie der Nationalstolz finden sich verstärkt bei jungen muslimischen Schülern, aber auch in der Vergleichsgruppe der jungen Inhaftierten muslimischen Glaubens. Mit Blick auf personen- bzw. gruppenbezogene Fragen von Kriminalitätsentstehung, präventive Vorkehrungen und ggf. Behandlung oder Sanktionierung bei jungen Menschen verdient abschließend folgender Befund hervorgehoben zu werden. Auf der einen Seite unterschieden sich die „Schultypen“ völlig erwartungsgemäß deutlich nach dem Anteil von Schülern aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, ansonsten dann auch solchen mit Persönlichkeitsproblemen bzw. problematischen Werteinstellungen, insbesondere mit ausgeprägter Bereitschaft zum Gewalteinsatz für eigene Interessen oder in sozialen Konfliktsituationen. Auf der anderen Seite erwiesen sich innerhalb jedes einzeln untersuchten Schultyps, bis hin zu vom Umfeld her gut situierten Gymnasien, genau jene Schüler als gleichermaßen gefährdet hinsichtlich Gewalt-, Diebstahls- oder Betrugsneigung, die im „Strenghts and Difficulties Questionnaire“ (SDQ, Goodman 2001) ausgeprägte Kennwerte bezüglich geringer Selbstkontrolle sowie in der „Klages-Skala“ geringere Maße der Befürwortung bzw. sogar umgekehrt deutliche Maße der Ablehnung von Recht und Ordnung erreicht hatten (Kerner et al. 2014). In der folgenden Abbildung 1 werden, im Sinne eines längerfristigen Monitorings zu Wertvorstellungen bzw. Wertpräferenzen bei Populationen junger Menschen, folgende Mittelwertvergleiche von Werte-Items insoweit übereinstimmender Studien wiedergegeben: Die ursprüngli-

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Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner chen Tübinger-Schülerstudien; eine aktuelle Schülerbefragung für Mannheim und Heidelberg (mit gesonderter Auswertung für Schüler muslimischen Glaubens); Studierendenbefragungen am juristischen Seminar der Universität Tübingen der Jahre 2014/2015. Ergänzend werden die Befunde der schon oben erwähnten repräsentativen Bevölkerungsumfrage des Instituts für Kriminologie der Universität Heidelberg bei der Normalpopulation der Städte Freiburg und Heidelberg dargestellt. Wie man gemäß üblichen Erwartungen an die Lebensentwicklung und die Persönlichkeitsreifung zunächst sehen kann, hebt sich die Freiburger und Heidelberger Normalbevölkerung (repräsentativ eben mit vielen reiferen bzw. auch älteren Erwachsenen) gerade bei den für „bewegtes“ Leben und risikobehaftete Verhaltensmuster typischen Werten durch besonders ausgeprägte „Abstinenz“ von allen Samples Jugendlicher ab. Allgemeinen Bevölkerungsumfragen und großen Jugendstudien (wie etwa den Shell-Jugendstudien) entspricht es auch, dass bei dem Wert „Ein gutes Familienleben führen“ die Ausprägungen aller Befragten-Gruppen sehr nahe beieinander und insgesamt weit oben liegen. Die Kennwerte bei den Populationen der jungen Menschen erweisen sich ansonsten als vergleichsweise einander besonders nahe stehend, was „ein Leben mit viel Vergnügen“ und „ein aufregendes Leben führen“ betrifft. Wegen der kleinen Anzahl der Befragten muss man ansonsten mit Interpretationen vorsichtig sein: Jedoch fügen sich die aktuellen Befunde zu Schülern muslimischen Glaubens insgesamt ziemlich bruchlos in wiederholte Befunde anderer, auch eigener, Befragungen ein. Demnach ist bei ihnen der Glaube an „Allah“ (bei den anderen Schülern bzw. Befragten an „Gott“) mit einem Punktwert von 4,8 die höchstbewertete Präferenz aller Items. Sie heben sich von allen anderen Teilgruppen deutlich durch die Betonung der Wichtigkeit von Befolgung religiöser Normen und Werte hervor, mit relativ größter Diskrepanz zu anders- oder nichtgläubigen Schülern bzw. Jurastudierenden; vergleichbares gilt für die Gewichtung des Nationalstolzes. Relative Spitzenwerte erreichen sie allerdings auch bei der Zustimmung zum Wert der Führung eines bequemen Lebens. Hervorzuheben ist auch ihr relativ hoher Grad der Zustimmung zur Wichtigkeit des traditionalen Wertes von „Recht und Ordnung“, der insgesamt Konformität begünstigt. Der Glaube an Gott/Allah sowie die Bindung an kirchliche/religiöse Gebräuche und Riten vermag auf der einen Seite hilfreich für die alltägliche Lebensführung und innere Ruhe und Sicherheit zu sein. Auf der anderen Seite kann das individuelle, interindividuelle und soziale Konfliktpotenzial merklich ansteigen, wenn fest ausgeprägte und verankerte Weltanschauungen (im Prinz jeder Art oder jedweden beliebigen Typs, hier aber von der Anlage der Studien her nur der religiösen Art) in Verbindung stehen mit eher rigiden traditionalen Wertvorstellungen über die Ordnung des Sozial- und Familienlebens, die Geschlechterrollen, Erziehungsfragen, das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre, auch der Bedeutung von persönlicher versus gruppenbezogener „Ehre“ und deren Verteidigung.

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? Abbildung 1: Vergleich von Werteprofilen

Mittelwertvergleiche ausgewähleter Wertesurveys Wertevorgaben von 1‐ nicht wichtig bis zu 5‐sehr wichtig

5

4,7

4,8

4,5

4,4

4,3 4

4,1

4,2

4,1

3,9

3,9

3,8

3,5

3,4 3,3 3

4,2 3,9

3,5

3

3,1 2,9

3,2

2,8

3,2

3,1

2,7 2,5

2,5

2,1

2

1,5

Strafvollzug West N=201 Tübinger Befr. Heidelberg/Freiburger Befragung Repräs. N=2930 Schüler Mannh./Heidelberg 2016 N=466 Schüler 2016 nur muslim. N=44 Tübing.Hauptschüler 2004 (N=545) Studierende/Jura 2014/15; N=261

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Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen, aber auch mit Blick auf die aktuellen Belastungen bis sogar hin und wieder (auch potenziell künftiger) Verwerfungen in Staat und Gesellschaft bezüglich rezenter europäischer (bzw. zugleich genuin deutscher) Ereignisse und Entwicklungen, erschien es reizvoll und in der Sache potenziell weiterführend zugleich, mit dem jüngeren Tübinger Datensatz zur Befragung 2016 von Schülern aus Schulen Heidelbergs und Mannheims zu ergründen, wie sich bestimmte soziobiographische Merkmale sowie dann Werteinstellungen und Präferenzen, ganz besonders im religiösen Bereich, eben schon in jungen Lebensjahren auf die Einschätzung bzw. Beurteilung von Anpassungsnotwendigkeit an kollektive Leitbilder versus eigene Beurteilung und Lebensgestaltung auswirken können. In das entsprechend ausgearbeitete multivariate Modell gingen die auch in vorherigen Studien verwendeten Items zu persönlichen Charakteristiken, individuellen Werten und Sozialkapital sowie Erziehungserfahrungen ein. Dazu kamen Items, die in Tübingen bei der Re-Analyse der LiljebergStudie eine große Rolle gespielt hatten, wie Ausprägungsgrad eines patriarchalischen Frauenbilds („Hausarbeit/Kindererziehung sind Frauensache“), bzw. der Empfindlichkeit für mögliche Beleidigung der (eigenen) Religion durch Andersdenkende, bzw. der Empfindlichkeit für mögliche Beeinträchtigung der Familienehre, sowie schließlich der Neigung zur religiösen Intoleranz (kein Respekt vor anderen Religionen / Andersdenkende dürfen im Namen von Gott/ Allah bestraft werden), und schließlich die in jüngster Zeit verwendeten Items zur Ausprägung von Kriminalitätsfurcht, zu Strafeinstellungen und der Einstellung zu einer Kriminalpolitik der Ausweitung von Kriminalitätskontrolle. Abhängige Variablen waren die Antworten auf die in den oben erwähnten Vignetten skizzierten „Vorfälle“ 2015/2016. Bezüglich NRW bzw. vor allem Köln ging es um den Grad der Zustimmung zu Aussagen, dass „die Zeitungen übertreiben“ bzw. dass „Mädchen und Frauen, die so herumlaufen, selber schuld“ sind. Bezüglich Paris bzw. spezifisch des Überfalls auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo ging es um den Grad der Zustimmung zu Aussagen, dass solche Gewalt „gerechtfertigt ist, wenn der Glaube verletzt wird“ bzw. dass die Täter „Männer sind, die bereit sind, für ihren Glauben zu sterben“. Zur Berechnung des Ausgangsmodells war eine Reihe von Vorarbeiten erforderlich. So mussten, um die Modellgüte dieses hypothetischen Konstrukts prüfen zu können, Faktorenanalysen berechnet werden. Dies diente dazu, die hohe Anzahl der Variablen für das postulierte Modell zu reduzieren. Die Basis der Ausgangsberechnungen bildeten 64 Variablen. Im Rahmen von Faktorenanalysen (Hauptkomponentenanalyse, Anteile an erklärter Varianz in den Modellen zwischen min. 69% bis max. 76%) ließen sich sechs Dimensionen anhand der vorliegenden Daten statistisch abbilden. Im Rahmen eines explorativen Verfahrens wurden alle nicht signifikanten Pfade aus dem Ausgangsmodell1 entfernt. Im endlichen Pfadmodell bilden das Geschlecht und die Religionszugehörigkeit der Befragten (dichotom: christlich vs. muslimisch) als Strukturmerkmale die unabhängigen Variablen2. Das patriarchalische Frauenbild, die Einstellungen zur Beleidigung von Religion und Ehre sowie religiöse Intoleranz bilden die intervenierenden Variablen. Die Beurteilung der Ereignisse von Köln und Paris sind die abhängigen Variablen.

1 Das gilt konkret für nicht signifikante Pfadkoeffizienten unter.10. 2 Die interpretierten Schätzwerte im Schaubild beruhen auf standardisierten signifikanten Pfadkoeffizienten. Die dünnen und gestichelten Pfade mit Pfadkoeffizienten von.10 bis.19, die dicken grauen Pfade sind Pfadkoeffizienten zwischen.20 bis 29 und die dicken schwarzen Pfade sind Pfadkoeffizienten zwischen.30 bis.45. Alle obigen Pfadkoeffizienten (und das Gesamtmodell) sind signifikant auf dem Niveau.000 (siehe Modellgüte im Schaubild).

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? Methodologisch betrachtet können mit diesem auf Querschnittsdaten beruhenden Modell (dazu nachfolgende Abbildung 2) keine Kausalhypothesen geprüft werden. In der Fachliteratur besteht Einigkeit darüber, dass Längsschnittstudien im Paneldesign zur Ermittlung von Ursache und Wirkung eher geeignet sind (vgl. Reinders 2006, 569–587). Folgt man allerdings Hermann (2003, 118 ff.), dann lassen sich Kausalitätsfragen jedoch selbst mit Panelstudien nur eingeschränkt beantworten; es wäre allenfalls möglich, aus Theorien abgeleitete Hypothesen auf das Bestehen von Zusammenhängen zu prüfen, „wobei die Kausalrichtung Bestandteil der Hypothesen ist“. Zum ersten Erklärungsstrang ist zu sagen: Männliche Befragte haben ein ausgeprägtes patriarchalisches Geschlechterverständnis, was im Besonderen die Aufgabenverteilung zwischen Männern im Haushalt und bei der Kindererziehung betrifft (-.12). Darüber hinaus erklärt das Geschlecht über das patriarchalische Rollenverständnis sowohl das intolerante Religionsverständnis dahingehend, dass Andersdenkende nicht respektiert zu werden brauchen und im Namen von Allah bestraft werden können (.30), als auch die Beurteilung der Ereignisse von Köln (.20) und von Paris (.10). Zum zweiten Erklärungsstrang lässt sich sagen: Muslimische Befragte betonen verstärkt religiöse Werte, d.h. den Glauben an Allah und die Orientierung des Lebens an religiösen Werten und Normen (.45). Je bedeutsamer diese Werte als zentrale Lebenseinstellung für die Befragten sind, desto stärker lassen sie auch ein patriarchalisches Rollenverständnis erkennen (.26) und umso weniger wird eine als Beleidigung wahrgenommene Beeinträchtigung der eigenen Religion und der Familien-Ehre toleriert (.32). Darüber hinaus erklärt die Religionszugehörigkeit auch den Grad der Intoleranz gegenüber Andersdenkenden, direkt über die religiösen Werte (. 20) und indirekt über das patriarchalische Rollenverständnis (.30). Schließlich: Je bedeutsamer die religiösen Werte eine zentrale Lebensorientierung für die jungen muslimischen Befragten darstellen, je ausgeprägter ein patriarchalisches Rollenverständnis etabliert ist (.20) und je eher intolerante Einstellungen gegenüber Andersdenkenden und Andersgläubigen angegeben werden, desto eher wird die Verantwortung für die Ereignisse in Köln (.12) und Paris (.10) den betroffenen Opfern selbst zugewiesen.

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Holger Stroezel, Melanie Wegel & Hans-Jürgen Kerner Abbildung 2: Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Religion sowie traditionalen Werteinstellungen mit der Beurteilung von öffentlichen Vorfällen mit terroristischer Gewalt bzw. sexuellen Übergriffen auf Mädchen und Frauen 2015-2016.

Religionszugehörigkeit

Geschlecht

.45

.13 ‐.12

.12 Religiöse Werte .26

.32

Patriachalisches Frauenbild

Keine Beleidigung  der Religion .20

.30

Intoleranz Religion

.23 .14

.10 .12

Ereignisse   in Köln

.13

Ereignisse  in Paris

Chi‐square = 45,670 Degrees of freedom = 15 Probability level = ,000

Annex: Kurzbeschreibung der Tübinger Schülerstudien Die Werteforschung bildet seit über einem Jahrzehnt einen Forschungsschwerpunkt der Autoren, ausgehend von den Tübinger Schülerstudien, beginnend im Jahr 2003. Diese waren explizit, auch im Sinne von strukturell gerichteten Pilotstudien, auf ein Kontrastgruppendesign ohne den Anspruch auf statistische Verallgemeinerungsfähigkeit hin angelegt. Das heißt, es fehlte von den drei zentralen Gütekriterien der Validität, Reliabilität und Repräsentativität eben das letztere Kriterium. Eine möglichst große bundesweite Repräsentativerhebung war damals als nächster Schritt angedacht, konnte aber bis heute nicht verwirklicht werden. Das auf die Befragten bezogene Ziel war, auch solche Problemgruppen mit hinreichend großem N (d.h. absoluten Zahlen) zu erreichen, die in repräsentativen Erhebungen im Allgemeinen nur unzureichend angesprochen werden können. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden gezielt, neben Gymnasiasten und Studierenden von Sozialberufen, auch Schüler von Hauptschulen unterschiedlicher sozioökonomischer Einzugsbereiche, Berufsschüler und Probanden im Berufsvorbereitungsjahr angesprochen. Als Sondersample wurden zusätzlich zwei Vollerhebungen in Jugendstrafanstalten in Mecklenburg-Vorpommern und in Baden-Württemberg durchgeführt. Die Gesamtzahl der Befragten betrug ursprünglich 3.595 Personen, und damit konnte eine große Anzahl an Jugendlichen mit Migrationshintergrund erreicht werden. Das Erhebungsinstrument bestand aus valide getesteten Frage-Items und setzte sich aus insgesamt 412 Merkmalen zusammen. Ein überwiegender Teil (rund 200) dieser (später reduzierten) Variablen bezog sich in

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? der Ausgangsfassung auf die eigene Religionspraxis der Befragten bzw. ihrer Angehörigen. Dies hing damit zusammen, dass das Instrument im Rahmen einer interdisziplinären Forschergruppe zum Themenbereich „Religion, Familie, Kriminalität und psychische Befindlichkeit“ entwickelt worden war. Diese Studien wurden in den Folgejahren sukzessive mit Items zu weiteren Fragestellungen erweitert, namentlich zu Mobbingerfahrungen, Rechtsbewusstsein, psychischer Befindlichkeit sowie dem Medienkonsum. Auch hier wurden valide getestete Items verwendet, beispielsweise des oben bereits erwähnten SDQ. Das Zentrum der Erhebungen bildete durchweg die Werte-Skala von Klages mit den kriminogenen Wertorientierungen in der Modifikation von Hermann (2003). Ansonsten sei auf Folgendes hingewiesen: Einzelne Fragestellungen aus den Erhebungsinstrumenten wurden im weiteren Verlauf der Studien auch mit Daten aus Vollerhebungen untersucht (z.B. zu Mobbingerfahrungen unter Studierenden). Ein inhaltlicher Vergleich der Ergebnisse der Tübinger Studien mit anderen großen Schülerstudien in Deutschland, auch der bundesweit ersten und sehr großen Repräsentativstudie des KFN, lässt erkennen, dass sie sozusagen eine hohe Passgenauigkeit haben.

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Wertorientierungen bei Jugendlichen. Ein Prädiktor für Problemverhalten? Kinzig, J./Stroezel, H. (2017): Wertorientierungen zukünftiger Juristinnen und Juristen und ihre kriminalpolitischen Einstellungen – Erkenntnisse aus den Tübinger Studierendenbefragungen-. In: Festschrift für Franz Streng, Heidelberg u.a.: Müller. Kunz, K.-L./Singelnstein, T. (2016): Kriminologie. Eine Grundlegung. 7. Aufl. Bern: Haupt Verlag. Laubenthal, K. (2015): Strafvollzug. 7. Aufl. Berlin u. a.: Springer. Lösel, F./Bliesener, T. (2003): Aggression und Delinquenz unter Jugendlichen. München: Luchterhand. Neubacher, F. (2017): Kriminologie. 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos. Pöge, A. (2017): Werte im Jugendalter. Stabilität – Wandel – Synthese. Wiesbaden: Springer VS. Reinders, H. (Hg.) (2006). Interethnische Beziehungen im Lebenslauf. Themenheft (Inter-ethnic Contact through Life Course. Special Issue). Diskurs Kindheits- und Jugendforschung. 1. Jg., H. 1. 569–587. Reinecke, J. (2007): Das Verhältnis von Wertorientierungen, Freizeitstilen, Rechtsnormen und Delinquenz im Quer- und Längsschnitt. In: Boers, K.; Reinecke, J. (Hg.): Delinquenz im Jugendalter. Erkenntnisse einer Münsteraner Längsschnittstudie. Münster: Waxmann, 335–358. Rockeach, M. (1973): The Nature of Human Values. New York: Free Press. Sampson, R.J./Laub, J. H. (1994): Urban Poverty and the Family Context of Delinquency: A New Look at Structure and Process in a Classic Study. Child Development, 65, 523–540. Schweder, M. unter Mitarbeit von Borchert, J. (Hg.) (2015): Handbuch Jugendstrafvollzug. Weinheim: Beltz Juventa. Schwind, H.-D./Schwind, V. (2016): Kriminologie. Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen. 23. Aufl. Heidelberg: Kriminalistik. Seddig, D. (2014): Soziale Wertorientierungen, Bindungen, Normakzeptanz und Jugenddelinquenz. Münster: Waxmann. Stelly, W.; Thomas, J. und Kerner, H.-J. (2003): Verlaufsmuster und Wendepunkte in der Lebensgeschichte: Eine Untersuchung des Einflusses soziobiographischer Merkmale auf sozial abweichende und sozial integrierte Karrieren. Tübingen: Tobias-lib. Walter, M./Neubacher, F. (2011): Jugendkriminalität. Eine systematische Darstellung. 4. Aufl. Stuttgart u. a.: Boorberg. Wetzels, P.; Brettfeld, K. (2003): Auge um Auge – Zahn um Zahn. Münster: Lit-Verlag. Wegel, M. (2011): Soziale Milieus und Gewaltakzeptanz bei Jugendlichen. In: Bannenberg, B.; Jehle, J.-M. (Hg.): Gewaltdelinquenz, Lange Freiheitsentziehung, Delinquenzverläufe. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg. S. 85–96. Wegel, M; Kerner, H.-J. und Stroezel, H. (2011): Resilienz und Opferwerdung bei Mobbing. In: Kriminalistik 65, 526–532. Wegel; M.; Stroezel, H. und Kerner, H.-J. (2016): „Es ist besser das Leben zu verlieren, als die Ehre“. Religion, Männlichkeit, Ehre und Liberalität bei Deutschen und Migranten. In: Kriminalistik 70, 147–155. Woll, A. (2011): Kriminalität bei Berufsschülern: Eine Replikationsstudie der voluntaristischen Kriminalitätstheorie. Münster: Lit-Verlag.

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1. Einleitung

Die familiären Einflussfaktoren delinquenten Verhaltens lassen sich vereinfachend entlang von zwei Dimensionen anordnen. Die erste Dimension umfasst strukturelle Familienmerkmale. Hiermit werden Merkmale beschrieben, die die objektive Situation der Familie beschreiben. Dazu zählen bspw. die Anzahl an existierenden Erziehungspersonen, die Gegenwart von Geschwistern oder die ökonomische Lage. Diese Merkmale werden in Studien zu familienbezogenen Einflussfaktoren zwar immer wieder untersucht. Fraglich ist dennoch, ob sie tatsächlich als eigenständige Faktoren zu betrachten sind oder vielmehr Proxy-Variablen für damit verbundene innerfamiliäre Prozesse darstellen. Diese Prozesse beziehen sich auf die zweite Dimension an untersuchten Faktoren, die kulturellen Familienmerkmale. Diese beschreiben, wie sich die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern gestalten. Hierzu gehören elterliche Erziehungsstile ebenso wie das Verhalten der Eltern untereinander oder das Verhalten der Kinder gegenüber den Eltern. Die Interaktionen stellen weniger ein rein objektives Merkmal der Familie dar, sondern sie erweisen sich auch als abhängig von den individuellen Wahrnehmungen und Interpretationen der Familienmitglieder. Aus dem Bereich der strukturellen Faktoren wurde wiederholt die ökonomische Lage als Einflussfaktor betrachtet, vor dem Hintergrund der Annahme, dass eine schlechtere ökonomische Lage die Delinquenz erhöhen sollte. Diese Annahme leitet sich aus der Deprivationstheorie von Merton (1995) ab. Dieser Theorie zufolge kann es zu delinquentem Verhalten kommen, wenn die kulturellen Ziele (z.B. beruflicher Erfolg, Prestige) aufgrund struktureller Barrieren (z.B. Armut) nicht erreichbar sind. Es fehlen die Mittel, um am gesellschaftlichen Leben zu partizipieren, Dinge des täglichen Bedarfs zu erwerben usw. Um diese Situation zu überwinden, wird auf illegale bzw. illegitime Mittel (z.B. Diebstahl, Raub) zurückgegriffen. Allerdings ergeben vorhandene Studien, die multivariat verschiedene Einflussfaktoren prüfen, dass die ökonomische Lage von eher nachgeordneter Bedeutung für das Gewaltverhalten ist (Wetzels et al. 2001, 212 ff.), zugleich aber Zusammenhänge mit dem Diebstahl aufweist (Rabold/Baier 2007). Armut scheint also generell weniger zu Frustrationen und in diesem Zusammenhang zu Gewalt zu führen, als vielmehr die Bereitschaft zu erhöhen, sich gezielt bestimmte Güter zu beschaffen. Neben der ökonomischen Lage wird sich in Studien der familiären Konstellation gewidmet. Hier stehen insbesondere zwei Merkmale im Mittelpunkt der Betrachtung: die Trennung/Scheidung der Eltern und damit die Abwesenheit eines Elternteils (sogenannte Broken-Homes) sowie die Familiengröße insgesamt und damit vor allem das Aufwachsen mit Geschwistern. Hinsichtlich der Broken-Home-Situation deuten die vorhandenen Befunde darauf hin, dass diese ein Risikofaktor delinquenten Verhaltens darstellt. Farrington (2010) fasst dies wie folgt zu-

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Dirk Baier sammen: „In general, it is found that children who are separated from a biological parent are more likely to offend than children from intact families“ (S. 211). Albrecht et al. (1991) prüfen den Zusammenhang anhand einer deutschen Stichprobe von fast 1.500 Jugendlichen und stellen fest, dass die „strukturelle Unvollständigkeit der Familie in ihren verschiedenen Variationen signifikante Auswirkungen auf die Prävalenz von Jugenddelinquenz“ hat (S. 148). Diese Auswirkungen sind zugleich „am Rande der inhaltlichen Bedeutsamkeit“, in unteren Sozialschichten aber stärker ausgeprägt als in höheren Sozialschichten. In einer aktuellen Studie bestätigt Meinert (2016), dass eine Broken-Home-Situation das delinquente Verhalten verstärkt, bei jüngeren Befragten (5. Jahrgangsstufe) etwas mehr als bei älteren Befragten (9. Jahrgangsstufe). Bei Kontrolle weiterer familienkultureller Variablen reduziert sich zudem vor allem bei den älteren Befragten der Einfluss der Broken-Home-Situation. Diskutiert wird zudem die Geschwisteranzahl als Einflussfaktor. Eine höhere Anzahl kann folgenreich in Bezug auf die ökonomische Lage aber ebenso auf die Möglichkeiten, die Entwicklung der Kinder aufmerksam zu verfolgen, haben. Diskutiert wird dabei u.a. der Einfluss älterer Geschwister, die negative Verhaltensvorbilder darstellen können, insofern sie bspw. in der Pubertät eine Phase der Ablösung von Elternhaus und der Zuwendung zur Gleichaltrigengruppe durchlaufen, die mit erhöhter delinquenter Auffälligkeit verbunden ist. Dass delinquente Vorbilder, unabhängig davon, ob es sich um Freunde, Elternteile oder Geschwister handelt, die eigene Delinquenzbereitschaft beeinflussen, ist hinlänglich belegt (vgl. für einen Überblick zum Einfluss der Freunde Baier et al. 2010). Meinert (2016) bestätigt in ihrer Analyse, dass das Aufwachsen mit einer hohen Geschwisteranzahl die Delinquenz signifikant erhöht, allerdings nur bei jüngeren Befragten. Unter den strukturellen Familienmerkmalen können auch weitere kritische Lebensereignisse subsummiert werden, so z.B. der Tod eines Elternteils, das Erleben einer schweren Krankheit, der Familienumzug usw. Diese Ereignisse können mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit traumatisierend sein, was Folgen für das Verhalten der betroffenen Kinder und Jugendlichen hat. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, stellen diese Ereignisse zumindest eine Quelle des Stresserlebens dar. Der Stress kann in unterschiedlicher Weise verarbeitet werden. Internalisierendes und externalisierendes Problemverarbeitungsverhalten können eine Strategie der Verarbeitung sein. Lucia und Killias (2011) berichten auf Basis ihrer Jugendbefragung, dass das Erleben von solch belastenden Kindheitserlebnissen signifikant das Gewaltverhalten verstärkt. In Bezug auf die kulturellen Faktoren wird primär der Einfluss von Erziehungsstilen auf das delinquente Verhalten betrachtet. In der Forschung wird dabei eine große Anzahl an elterlichen Erziehungsstilen unterschieden. In Anlehnung an Baumrind (1989) lässt sich zwischen der elterlichen Zuwendung und der elterlichen Kontrolle differenzieren. Die Zuwendung umfasst, dass Eltern Kindern emotionale Geborgenheit geben, sie in den Arm nehmen, trösten usw. Bei der Kontrolle geht es darum, dass die Eltern um die Aktivitäten, Aufenthaltsorte, Freunde usw. ihrer Kinder wissen; dieses Wissen ermöglicht ihnen, dass sie Fehlverhalten entdecken und sanktionieren können. Bei Baumrind (1989) werden diese beiden Dimensionen zu vier Erziehungsstilen kombiniert: Autoritäre Eltern kontrollieren in erster Linie ihre Kinder, setzen klare Verhaltensregeln und fordern Gehorsam. Autoritative Eltern setzen zwar ebenfalls Regeln und kontrollieren das Verhalten ihrer Kinder, zugleich gewähren sie Unterstützung, Geborgenheit und Zuwendung. Die bisherige empirische Forschung hat gezeigt, dass Kinder von Eltern, die diesen Erziehungsstil praktizieren, am besten davor geschützt sind, delinquent zu werden (u.a. Farrington 1994, Pettit et al. 1997). Permissive Eltern versäumen es, neben der emotionalen 202

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Familiale Sozialisation und Delinquenz Zuwendung klare Verhaltensregeln zu benennen und deren Einhaltung zu überwachen; vernachlässigende Eltern sind ebenso gering kontrollierend und zudem emotional distanziert. Werden die beiden Erziehungsstile Zuwendung und Kontrolle getrennt voneinander betrachtet, ergibt sich für beide Stile ein präventiver Effekt auf das delinquente Verhalten (u.a. Baier et al. 2013, Leschied et al. 2008, Hoeve et al., 2009, Meinert 2016). Nicht unabhängig von diesen beiden Erziehungsdimensionen ist ein Erziehungshandeln, das ebenfalls hohe Aufmerksamkeit in der empirischen Forschung erhält: der elterliche Einsatz körperlicher Gewalt. Die Opfer solcher Übergriffe unterliegen einem erhöhten Risiko, selbst Gewalt anzuwenden; zudem sind Beziehungen mit verschiedenen anderen delinquenten und abweichenden Verhaltensweisen aufgezeigt worden (vgl. u.a. Gershoff 2002, Lansford et al. 2007, Pfeiffer et al. 1999, Rabold/Baier 2007). Für einen solchen Zusammenhang finden sich verschiedene Erklärungen (Baier/Pfeiffer 2015, Weiss et al. 2015): Entsprechend der sozialen Lerntheorie (Bandura 1979) kann davon ausgegangen werden, dass die betroffenen Kinder die sie prügelnden Eltern als Vorbilder betrachten und das vorgelebte Verhalten imitieren. Persönlichkeitsorientierte Ansätze gehen daneben davon aus, dass die Anwendung elterlicher Gewalt die Persönlichkeit eines Kindes negativ beeinflusst und dass die dadurch anerzogenen Persönlichkeitsfaktoren (wie z.B. eine geringe Empathie und Selbstkontrolle) das Gewaltverhalten erhöhen (Pfeiffer et al. 1999, Wilmers et al. 2002). Zudem wird auf neurologische Veränderungen bei Kindern, die Gewalt erleben, hingewiesen. Schädigungen in Gehirnbereichen, die für die Hemmung aggressiver Impulse oder die Steuerung der Hormonproduktion zuständig sind, können eine erhöhte Gewaltbereitschaft nach sich ziehen (Teicher et al. 2012). Psychodynamische Ansätze betonen zuletzt, dass die Anwendung elterlicher Gewalt eine Ohnmachtserfahrung darstellt. Durch die Ausübung von Gewalt, d.h. die Ausübung von Macht, kompensieren die Jugendliche ihre Ohnmachtserfahrungen (Sutterlüty 2004). Elterliche Gewalt weist nicht allein Zusammenhänge mit der Delinquenz auf. Gershoff (2002) belegt in ihrer Meta-Analyse u.a. auch Zusammenhänge mit der seelischen Gesundheit (geringer Selbstwert, Depression) oder der Täter- wie Opferschaft anderer Misshandlungen. Baier et al. (2013) zeigen auf, dass die Erfahrung elterlicher Gewalt ebenso das Risiko für Schulschwänzen, Alkoholkonsum oder Rechtsextremismus erhöht. Befragte mit Gewalterfahrungen geben zusätzlich häufiger an, Selbstmordversuche unternommen zu haben; ihre Lebenszufriedenheit ist zugleich deutlich reduziert. Diskutiert wird im Zusammenhang mit kulturellen Familienmerkmalen auch, inwieweit sich das Verhalten der Eltern untereinander auf Gewalt und andere Formen der Delinquenz auswirkt. Solche Beobachtungen könnten entsprechend der sozialen Lerntheorie bereits ausreichen, um die eigene Gewaltbereitschaft zu erhöhen. Vorhandene Studien belegen solch einen Zusammenhang (Pfeiffer et al. 1999). In multivariaten Auswertungen geht dieser Einfluss allerdings verloren und als signifikant erweisen sich vor allem die eigenen Gewalterfahrungen (Baier 2015). Bezüglich aller aufgeführten strukturellen und kulturellen familiären Einflussfaktoren gilt derzeit, dass die Befunde weitestgehend auf Querschnittstudien basieren. Diese lassen keine Aussagen darüber zu, ob der Einfluss tatsächlich kausal ist oder ob die Wirkrichtung auch umgekehrt sein kann (oder ggf. durch weitere Drittmerkmale verursacht ist). In Deutschland finden sich bislang nur weniger Längsschnittstudien, die eine Prüfung familiärer Einflussfaktoren vorgenommen haben. Wenn dies der Fall ist, dann fallen die gefundenen Zusammenhänge meist schwächer aus als im Querschnitt oder es werden z.T. auch keine Zusammenhänge berichtet.

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Dirk Baier So zeigt Baier (2005) auf Basis eines Zwei-Wellen-Längsschnitts von 443 Jugendlichen, dass eine Broken-Home-Situation und eine schlechtere sozio-ökonomische Situation (Deprivation) nicht das Gewaltverhalten prädizieren. Strukturelle Faktoren scheinen demnach keine kausale Wirkung zu haben. Demgegenüber erweist sich die elterliche Kontrolle als Schutzfaktor, wenngleich der Zusammenhang mit dem Gewaltverhalten eher gering ausfällt (r = -0,11). Noack und Kracke (2003) können auf einen Vier-Wellen-Längsschnitt von 95 Jugendlichen zurückgreifen. Einen signifikanten Kausalpfad von der autoritativen Erziehung auf die Delinquenz können sie nur von Welle 1 auf Welle 2 identifizieren (r = -0,21). In Bezug auf gewaltbereite Einstellungen finden sie zwei Kausalpfade der autoritativen Erziehung (Welle 1 zu Welle 2: r = -0,14, Welle 2 zu Welle 3: r = -0,24). Zugleich finden sie einen Kausalpfad in die Gegenrichtung: Eine hohe Gewaltbereitschaft aufseiten der Kinder führt insofern auch dazu, dass die Eltern ein weniger positives Erziehungsverhalten zeigen (r = -0,23). Die Drei-Wellen-Längsschnittstudie zu 836 Kindern von Weiss et al. (2015) widmet sich ausschließlich der kausalen Wirkung der elterlichen Gewalt. Diese kann mit r = 0,16 belegt werden. Die Autoren prüfen gleichzeitig, inwieweit dieser Einfluss über gewaltakzeptierende Einstellungen vermittelt ist. Dies ist den Analysen entsprechend der Fall. Die Analysen von Weiss et al. (2015) gehen davon aus, dass selbst die kulturellen Familienmerkmale nicht an sich für eine Wirkung in Bezug auf delinquentes Verhalten verantwortlich sind, sondern dass weitere vermittelnde Prozesse zu betrachten sind. Dies wurde oben bereits in Bezug auf die Wirkung der elterlichen Gewalterfahrungen und die vier Erklärungsansätze ausgeführt. Solch vermittelnde Prozesse sollte es allerdings nicht allein für die körperliche Gewalt, sondern ebenso für andere Erziehungsstile geben. Neben den gewaltakzeptierenden Einstellungen (vgl. hierzu auch Pfeiffer et al. 1999), die als Resultat des sozialen Lernens aufgefasst werden können, hat insbesondere eine Erziehung, die wenig auf Kontrolle setzt, zur Folge, dass die Selbstkontrollfähigkeiten weniger stark ausgebildet werden (Gottfredson/Hirschi 1990). Baier (2005) bestätigt im Längsschnitt, dass eine hohe elterliche Kontrolle die Selbstkontrollfähigkeiten erhöht und dass diese wiederum das Gewaltverhalten senken. In dieser Analyse wird noch ein weiterer Mediator betrachtet: Die geringe elterliche Kontrolle erhöht das Risiko, dass Kinder und Jugendliche verstärkt mit Freunden in Kontakt kommen, die delinquentes Verhalten zeigen. Die familiäre Sozialisation prägt damit das Assoziationsverhalten der Kinder. Die Integration in delinquente Peer-Gruppen geht dann mit einem erhöhten Risiko, Gewalttaten zu begehen, einher (vgl. hierfür auch Hentges/Wang 2017). Anzunehmen ist darüber hinaus, dass nicht nur im Speziellen das Assoziationsverhalten der Kinder familiär geprägt ist, sondern das Freizeitverhalten insgesamt. Eine geringe elterliche Kontrolle dürfte zur Folge haben, dass generell verstärkt problematischeren Freizeitverhaltensweisen nachgegangen wird. Im Sinne der Theorie der Routineaktivitäten (Cohen/Felson 1979) gehen gering kontrollierte Kinder und Jugendliche eher unstrukturierten Aktivitäten an von Erwachsenen weniger kontrollierten Orten nach. In jüngerer Zeit wird zusätzlich die Aktivität des Gewaltmedienkonsums betrachtet (Baier/Pfeiffer 2011, Kanz 2014). Auch hier ist davon auszugehen, dass die elterliche Erziehung einen Einfluss darauf ausübt, ob sich Kinder und Jugendliche verstärkt Gewaltmedien zuwenden oder nicht, und dass der Einfluss der Erziehung über diesen Faktor vermittelt wird. Verschiedene dieser Überlegungen und vorhandenen querschnittlichen wie längsschnittlichen Befunde sollen nachfolgend einer empirischen Prüfung unterzogen werden. Hierbei kann auf eine Längsschnittstudie zurückgegriffen werden, sodass Aussagen über kausale Zusammenhän-

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Familiale Sozialisation und Delinquenz ge möglich sind. Zuvor soll aber auf drei weitere relevante Aspekte des Themas familiäre Sozialisation und Delinquenz eingegangen werden. Ein erster Aspekt ist, dass vor allem die kulturellen Merkmale und deren Wirkung differenziert nach dem Geschlecht zu betrachten sind. So können bspw. Hadjar et al. (2007) zeigen, dass Jungen in der Familie weniger engmaschig kontrolliert werden als Mädchen. Hinsichtlich der elterlichen Gewalt finden verschiedene Studien einen „same-sex-effect“, nach dem Mädchen häufiger von den Müttern, Jungen häufiger von den Vätern geschlagen werden (Rosenthal 1988, Sunday et al. 2008). Zudem finden sich Hinweise, dass Mädchen stärker negativ auf die elterliche Gewaltanwendung reagieren als Jungen, dass also auch geschlechtsspezifische Wirkungen der Erziehung zu betrachten sind (Baier/ Pfeiffer 2014, O’Keefe 1994). Eine mögliche Begründung hierfür könnte sein, dass Mädchen grundsätzlich eine höhere familiäre Orientierung aufweisen, sie also die Nähe und das Vertrauen der Eltern eher suchen als Jungen. Das Erleben von Gewalt könnte dann eine größere Kränkung bedeuten, die über ein vergleichbares Verhalten kompensiert wird (vgl. Baier/Pfeiffer 2014). Zugleich erscheint es notwendig, das Geschlecht der Eltern zu betrachten. Baier und Rehbein (2013) berichten bspw., dass das Kontrollverhalten der Mutter für das Gewaltverhalten der Kinder relevanter ist als das Kontrollverhalten des Vaters. Ein zweiter Aspekt ist, dass sich die familiäre Sozialisation in Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten verändert hat. Dies gilt bspw. für den Einsatz körperlicher Gewalt: In einer Studie, die langfristige Veränderungen sichtbar machen kann, zeigt sich, dass in den 1930er und 1940er Jahren noch ein Viertel der Kinder schwere elterliche Gewalt erlebt hat; bei den ab 1990 Geborenen ist die Quote nur mehr ein Viertel so hoch (Baier et al. 2013). Auf Basis einer vergleichenden Studie in fünf europäischen Ländern kann gefolgert werden, dass diese Entwicklung auch auf Gesetzesänderungen zurückgeführt werden kann: „Die Ergebnisse [...] sprechen für den Gewalt senkenden Einfluss eines Körperstrafenverbots“ (Bussmann 2013, S. 126). Diese alles in allem positive Entwicklung ist nicht allein auf den elterlichen Gewalteinsatz beschränkt. Es gibt auch Belege dafür, dass sich der Anteil an mit hoher Zuwendung erzogener Kinder deutlich erhöht hat (Baier 2015). Ein dritter Aspekt bezieht sich auf einen auffälligen Gruppenunterschied. Es konnte wiederholt gezeigt werden, dass Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund vor allem im Hinblick auf den Einsatz körperlicher Gewalt anders erzogen werden. Am differenziertesten konnte dies bislang eine deutschlandweit repräsentative Befragung aufzeigen, in der 44.610 Jugendliche befragt wurden und in der insgesamt 14 ethnische Gruppen unterschieden werden konnten (Baier et al. 2009). Während deutsche Befragte in dieser Befragung nur zu 6,9 % angaben, selten oder häufiger Opfer elterlicher Misshandlung in der Kindheit gewesen zu sein, war das Risiko hierfür bei den türkischen Befragten mit 18,1 % 2,6-mal und bei den afrikanischen Jugendlichen mit 18,9 % 2,7-mal so hoch. Aber auch Befragte aus dem ehemaligen Jugoslawien bzw. Albanien, aus arabischen und nordafrikanischen Ländern sowie aus dem asiatischen Raum und Italien gaben recht häufig an, elterlicher Misshandlung erfahren zu haben.

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2. Ergebnisse einer Längsschnittstudie 2.1 Stichprobe In den Jahren 2007, 2008 und 2009 wurde jeweils zu Jahresbeginn in der Stadt Hannover eine Dunkelfeldbefragung durchgeführt. Im Jahr 2007 richtete sich diese an alle Klassen der 5. Jahrgangsstufe, im Jahr 2008 an alle Klassen der 6. Jahrgangsstufe und im Jahr 2009 an alle Klassen der 7. Jahrgangsstufe. Die Grundgesamtheit lag jedes Jahr bei etwa 4.400 Schülerinnen und Schülern. Da einzelne Schulen, Klassen und Schülerinnen und Schüler nicht für Befragungen zur Verfügung standen, wurde nur ein Teil befragt: Im Jahr 2007 wurden 2.764 Kinder erreicht, im Jahr 2008 2.343 Kinder und im Jahr 2009 2.422 Kinder. Dabei handelt es sich nicht immer um dieselben Schülerinnen und Schüler. Um die Kinder, die zu allen Befragungszeitpunkten teilgenommen haben, zu identifizieren, wurden folgende Informationen genutzt: 1. Die Klassenlehrkräfte sollten eine Klassenliste führen, auf der zu jedem Kind eine CodeNummer zugeordnet war. Die Nummer sollten die Kinder auf dem Fragebogen notieren. Die 2007 erstellte Liste sollte im Schulsekretariat aufbewahrt werden. In den beiden folgenden Jahren sollte die Liste zur Befragung mitgebracht werden. Leider war die Liste aber in den folgenden Jahren häufig nicht mehr an der Schule auffindbar. 2. Zu den Schülerinnen und Schülern wurden verschiedene Informationen wie das Geburtsdatum, das Geschlecht, die eigene Herkunft sowie die Herkunft der Eltern, die im Jahr vorher besuchte Schule (Name, Stadt), die derzeit besuchte Schule (Name) sowie ein Kurzcode (ersten beiden Buchstaben des Vornamens der Mutter, erster Buchstabe des eigenen Vornamens) erhoben. Allerdings machten nicht alle Kinder zu all diesen Fragen Angaben. Auf Basis der genannten Informationen wurden weitestgehend händisch jene Befragte identifiziert, die 2007 und 2008 teilgenommen haben (1.504 Befragte) und die 2008 und 2009 teilgenommen haben (1.378 Befragte). Anschließend wurden die Befragten bestimmt, die sowohl 2007 als auch 2008 und 2009 teilgenommen haben. Dies sind 1.004 Befragte. Diese liegen den nachfolgenden Auswertungen zugrunde. Der Großteil der Befragten dieses Drei-Wellen-Längsschnittdatensatzes ist in den Jahren 1995 und 1996 geboren (93,4 %). Von den Befragten sind 45,7 % männlich; 43,0 % haben einen Migrationshintergrund. Zur Bestimmung des Migrationshintergrundes wurden Angaben zum Geburtsland des Kindes sowie zum Herkunftsland des leiblichen Vaters bzw. der leiblichen Mutter herangezogen.

2.2 Messinstrumente und deskriptive Statistik Im Fragebogen wurden mehrere Formen des delinquenten Verhaltens erhoben. An dieser Stelle wird sich allerdings auf die Untersuchung von zwei, im Kindes- und Jugendalter häufig vorkommende Verhaltensweisen konzentriert: das Gewaltverhalten und der Ladendiebstahl. Tabelle 1 berichtet, dass beide Verhaltensweisen mit einem Item erfasst wurden. Das Gewaltverhalten bezieht sich dabei auf den Schulkontext und die zurückliegenden vier Wochen; der Ladendiebstahl wurde nicht kontextspezifisch und mit Bezug auf das letzte Jahr erhoben. Die Mittelwerte in Tabelle 1 sind mit drei Nachkommastellen aufgeführt, damit die binär kodierten Variablen als Prozentzahlen mit einer Nachkommastelle gelesen werden können. Dement206

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Familiale Sozialisation und Delinquenz sprechend haben die Befragten in der 5. Klasse zu 11,7 % Gewaltverhalten im Schulkontext gezeigt und zu 4,6 % mindestens einen Ladendiebstahl ausgeführt. In der 7. Klasse liegen die Anteile mit 14,2 % (Gewaltverhalten) und 6,2 % (Ladendiebstahl) etwas höher. Die strukturelle Situation der Familie wurde mit sieben Variablen erfasst (vgl. Tabelle 1). Das Erleben einer Trennung oder Scheidung der Eltern berichten in der 5. Klasse 23,7 % der Befragten, in der 7. Klasse bereits 28,0 %. Mit einem älteren Bruder leben zwischen 27,0 und 25,2 % der Befragten zu Hause zusammen, mit einer älteren Schwester zwischen 23,9 und 22,2 %. Dass mindestens ein zu Hause lebender Erwachsener (i.d.R. Mutter bzw. Vater) zum Zeitpunkt der Befragung arbeitslos ist, geben in der 5. Klasse 9,8 % der Kinder an, in der 7. Klasse nur noch 6,8 %. Ebenfalls rückläufig ist der Anteil an Kindern, die über kein eigenes Zimmer verfügen (von 20,6 auf 15,2 %). Bezüglich der Anzahl zu Hause verfügbarer Bücher ergibt sich über die verschiedenen Messzeitpunkte hinweg eher keine Veränderung. Etwas überraschend ist, dass der Anteil an Kindern, die berichten, mit ihrer Familie schon einmal umgezogen zu sein, von der 5. zur 6. Klasse von 61,5 auf 39,9 % sinkt. Dies spricht dafür, dass die jüngeren Kinder noch ein etwas weiter gefasstes Konzept von Umzügen haben. Im Vergleich der 6. und 7. Klasse steigt der Anteil leicht von 39,9 auf 43,7 %, eine zu erwartende Entwicklung, insofern innerhalb eines Jahres weitere Familien umziehen. Hinsichtlich der elterlichen Erziehungsstile können drei Variablen in den Analysen berücksichtigt werden: 1. das elterliche Kontrollverhalten: Dieses wurde mit zwei Items erhoben, die je nach Elternteil und Messzeitpunkt zu mindestens r = 0,32 miteinander korrelieren.1 Das nicht in Tabelle 1 genannte Item lautete: „Meine Mutter/mein Vater weiß, was ich in meiner Freizeit mache.“ Das elterliche Kontrollverhalten nimmt entsprechend der Mittelwerte mit dem Älterwerden der Kinder ab (von 3.148 auf 2.968). 2. die elterliche Zuwendung: Hier kamen zur Erfassung fünf Items zum Einsatz.2 Die Reliabilität der Skala ist mit Cronbachs Alpha ≥ 0,69 als ausreichend einzustufen. Vergleichbar mit der elterlichen Kontrolle sinkt auch die elterliche Zuwendung über die Befragungszeitpunkte hinweg. Dabei fällt die Zuwendung zugleich jeweils etwas höher aus als die Kontrolle. 3. der elterliche Gewalteinsatz. Dieser wurde ebenfalls mit fünf Items erhoben3, deren Reliabilität bei Cronbachs Alpha ≥ 0,58 liegt. Einzuschätzen war das Verhalten der Eltern in den zurückliegenden vier Wochen. Die ursprüngliche Antwortvorgabe reichte hier von „1 – nie“ bis „4 – immer“. Da der Gewalteinsatz aber eher selten erfolgt, wird nur zwischen Kindern unterschieden, die keine Gewalt erlebt haben und Kindern, die von mindestens einem Elternteil mindestens einmal irgendeine Form der abgefragten Gewalt erlebt haben. Dies trifft in der 5. Klasse auf 15,3 % der Kinder zu, in der 7. Klasse auf 11,3 %.

1 Bevor die zwei Items zu einer Mittelwertsskala zusammengefasst wurden, wurde aus der Angabe zur Mutter und der Angabe zum Vater der Mittelwert berechnet. 2 Die nicht abgebildeten Items lauten: Meine Mutter/mein Vater „ist jemand, mit der/dem ich über alles reden kann“, „spielt mit mir wenn Zeit ist (z.B. Brett- oder Kartenspiele)“, „lobt mich, wenn ich etwas besonders gut gemacht habe“ und „unternimmt etwas mit mir (z.B. Ausflug machen)“. Erneut wurde zu jedem Item zunächst der Mittelwert aus der Angabe zur Mutter und der Angabe zum Vater bestimmt, bevor die Items zu einer Mittelwertsskala zusammengefasst wurden. 3 Die nicht abgebildeten Items lauten: Meine Mutter/mein Vater „mich hart angepackt oder gestoßen“, „mich mit der Faust geschlagen oder mich getreten“, „mich mit einem Gegenstand geschlagen“ und „mich richtig verprügelt“.

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Dirk Baier Tabelle 1: Erfassung und deskriptive Statistik der familienbezogenen Untersuchungsvariablen

Operationalisierung

Kodierung

Gewaltverhalten

1 Item: In letzten 4 Wochen in der Schule „einen Schüler geschlagen oder getreten, und zwar nicht aus Spaß.“

Ladendiebstahl

1 Item: Im letzten Jahr „in einem Kaufhaus oder Geschäft etwas gestohlen“

Mittelwert 5. Klasse

6. Klasse

7. Klasse

0 – nein, 1 – ja

0,117

0,134

0,142

0 – nein, 1 – ja

0,046

0,038

0,062

1 Item: „Haben sich deine leibliTrennung/Scheichen Eltern getrennt oder scheidung der Eltern den lassen?“

0 – nein, 1 – ja

0,237

0,264

0,280

mit älterem Bruder zu Hause lebend

1 Item: „Lebst du mit älterem Bruder zu Hause zusammen?“

0 – nein, 1 – ja

0,270

0,252

0,259

mit älterer Schwester zu Hause lebend

1 Item: „Lebst du mit älterer Schwester zu Hause zusammen?“

0 – nein, 1 – ja

0,239

0,222

0,226

Arbeitslosigkeit mind. eines Elternteils

Abfrage getrennt für erwachsene Frau/erwachsenen Mann zu Hause, ob derzeit arbeitslos

0 – nein, 1 – ja

0,098

0,070

0,068

kein eigenes Zimmer

1 Item: „Hast du zu Hause dein eigenes Zimmer?“

0 – ja, 1 – nein

0,206

0,181

0,152

Anzahl Bücher zu Hause

1 Item: „Wie viele Bücher gibt es ungefähr bei dir zu Hause?“

1–0 bis 10 Bücher, 5 – mehr als 200 Bücher

3,744

3,794

3,817

Familienumzug

1 Item: „Bist du schon einmal mit deiner Familie umgezogen?“

0 – nein, 1 – ja

0,615

0,399

0,437

elterliche Kontrolle

2 Items, jeweils getrennt für Mutter und Vater, z.B. „Mutter/Vater erkundigt sich, mit wem ich befreundet bin“

1 – nie, 4 – immer

3,148

3,011

2,968

elterliche Zuwendung

5 Items, jeweils getrennt für Mutter und Vater, z.B. „Mutter/Vater geht lieb mit mir um“

1 – nie, 4 – immer

3,291

3,197

3,109

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Familiale Sozialisation und Delinquenz

elterliche Gewalt

Operationalisierung

Kodierung

5 Items, jeweils getrennt für Mutter und Vater und letzte 4 Wochen, z.B. „Mutter/Vater hat mir eine runtergehauen“

0 – nein, 1 – ja

Mittelwert 5. Klasse

6. Klasse

7. Klasse

0,153

0,124

0,113

Um mögliche vermittelnde Einflussfaktoren der familiären Sozialisation zu untersuchen, werden vier Variablen berücksichtigt (Tabelle 2): 1. der Gewaltmedienkonsum: Dieser wurde über das Spielen von gewalthaltigen Computerspielen operationalisiert. Die beiden Items korrelieren in den drei Befragungen zu mindestens r = 0,66 miteinander. Die Items gehen in einem Maximalwertindex ein; d.h. es wurde die höchste zu einem der beiden Spielgenres berichtete Häufigkeit berücksichtigt. Die Mittelwerte zu diesem Index zeigen, dass die Häufigkeit des Spielens von Jahr zu Jahr steigt. 2. die Bekanntschaft mit devianten Freunden: Die drei Items der entsprechenden Frage bilden eine reliable Skala (Cronbachs Alpha ≥ 0,63). Zusammengefasst wurden die Items wiederum zu einem Maximalwertindex. Die Mittelwerte zu diesem Index steigen von Befragung zu Befragung deutlich an, d.h. die Vernetzung mit delinquenten Peers nimmt stark zu. 3. das aufbrausende Temperament: Dieses stellt eine Dimension einer niedrigen Selbstkontrolle dar. Erhoben wurde es mit einer Drei-Item-Skala (Cronbachs Alpha ≥ 0,69).4 Die Items wurden zu einer Mittelwertskala zusammengefasst. Über die Jahre hinweg bleibt der Mittelwert dieser Skala konstant. 4. die gewaltakzeptierenden Einstellungen: Hier konnten zwei Items berücksichtigt werden, die zu mindestens r = 0,29 miteinander korrelieren.5 Berechnet wurde eine Mittelwertskala aus den Antworten zu beiden Items. Die Mittelwerte dieser Skala steigen im Vergleich der 5. Klasse und 7. Klasse deutlich an, die Gewaltakzeptanz nimmt also zu.

4 Die zwei weiteren Items lauteten „Ich verliere ziemlich schnell die Beherrschung“ und „Wenn ich echt wütend bin, gehen mir die Anderen besser aus dem Weg“. 5 Das zweite Item lautet „Der Vater soll der Chef der Familie sein und sich, wenn es sein muss, auch mit Gewalt durchsetzen“.

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209

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Dirk Baier Tabelle 2: Erfassung und deskriptive Statistik der Mediatorvariablen

Gewaltmedienkonsum

Operationalisierung

Kodierung

2 Items: Häufigkeit des Spielens von Ego-/Third-Person-Shootern sowie von Prügelspielen

5. Klasse

6. Klasse

7. Klasse

1 – nie, 5 – sehr oft

1,668

1,882

1,949

0 – null Freunde, 6 – über 5 Freunde

0,863

1,412

2,145

3 Items: „Wenn ich mit jemandem wirklich Streit habe, kann ich nur schwer ruhig bleiben.“

1– stimmt gar nicht, 4 – stimmt genau

1,977

1,971

1,942

2 Items, z.B.: „Ein Junge muss sich gegen Beleidigungen zur Wehr setzen, sonst ist er ein Schwächling.“

1– stimmt gar nicht, 4 – stimmt genau

1,278

1,398

1,454

3 Items: Anzahl Freunde, die den Unterricht geschwänzt haben, die eine Zigarette geraucht/mehr als deviante Freunde einen Schluck Alkohol getrunken haben, die öffentliche Verkehrsmittel ohne gültigen Fahrschein benutzt haben.

aufbrausendes Temperament

gewaltakzeptierende Einstellungen

Mittelwert

2.3 Ergebnisse Um zu prüfen, inwieweit die vorgestellten Familienvariablen mit dem delinquenten Verhalten in Beziehung stehen, wurden multivariate, binär-logistische Regressionsanalysen berechnet. Erklärt wird das Verhalten in der 6. bzw. 7. Klasse durch Variablen, die in der 5. bzw. 6. Klasse erhoben wurden. Damit wird sichergestellt, dass die Einflussfaktoren tatsächlich zeitlich vor dem zu erklärenden Verhalten liegen. Das Gewaltverhalten der 6. Klasse wird insofern u.a. durch das erlebte elterliche Kontrollverhalten in der 5. Klasse vorhergesagt. Zusätzlich zu den Familienvariablen finden sich die zeitunveränderlichen Merkmale Geschlecht, Geburtsjahr und Migrationshintergrund in den Modellen sowie das delinquente Verhalten im Jahr vorher. Die Aufnahme der letztgenannten Variable bedeutet, dass tatsächlich Veränderungen, die sich im Vergleich von zwei Erhebungszeitpunkten ereignen, erklärt werden. Im Modell zur Erklärung des Ladendiebstahls in der 7. Klasse wird insofern der in der 6. Klasse berichtete Ladendiebstahl als unabhängige Variable mit einbezogen.

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Familiale Sozialisation und Delinquenz Die in Tabelle 3 berichteten Ergebnisse belegen, dass es nur wenige signifikante familienbezogene Einflussfaktoren des delinquenten Verhaltens gibt. Die Ergebnisse der Erklärungsmodelle zum Verhalten in der 6. Klasse gleichen dabei jenen zum Verhalten in der 7. Klasse weitestgehend. Werden zunächst die Ergebnisse zum Gewaltverhalten betrachtet, so gilt, dass dieses Verhalten über die Zeit hinweg sehr stabil ist (signifikante Koeffizienten des Gewaltverhaltens ein Jahr vorher). Zudem gilt, dass männliche Kinder signifikant häufiger zu den Gewalttätern gehören als weibliche Kinder. Mit steigendem Geburtsjahr sinkt das Gewaltverhalten; d.h. dass jüngere Kinder seltener Gewalt ausüben als ältere Kinder. Für den Migrationshintergrund ergeben sich keine signifikanten Befunde. Bezüglich der strukturellen Faktoren erweist sich das Erleben einer Trennung oder Scheidung als Einflussfaktor des Gewaltverhaltens: Wenn Schüler davon berichten, gehören sie ein Jahr später eher zu den Gewalttätern. Zudem zeigt sich, dass Schüler, die über kein eigenes Zimmer verfügen, eher zu den Gewalttätern gehören – dieser Effekt ist aber nur in einem der beiden Modelle signifikant. Mit Blick auf die Erziehungsvariablen kann auf Basis der Ergebnisse gefolgert werden, dass die elterliche Kontrolle keinen Einfluss auf die Gewalttäterschaft ausübt. Demgegenüber gilt, dass Kinder, die von einer höheren Zuwendung berichten, signifikant seltener Gewalt ausüben. Daneben kann auch das elterliche Gewaltverhalten als Einflussfaktor der Gewaltdelinquenz eingestuft werden: Wenn Kinder Gewalt erlebt haben, gehören sie ein Jahr später eher zu den Gewalttätern. Der Koeffizient wird zwar nur im zweiten Modell zum Gewaltverhalten als signifikant ausgewiesen; im ersten Modell ergibt sich aber ein der Richtung nach entsprechender Effekt. Die Modelle zum Ladendiebstahl bestätigen die hohe Stabilität des delinquenten Verhaltens, die bzgl. dieses Verhaltens sogar noch stärker ausfällt als bzgl. des Gewaltverhaltens. Zudem gilt auch beim Ladendiebstahl, dass Jungen signifikant häufiger das Verhalten ausführen als Mädchen. Daneben zeigt sich ein Effekt des Migrationshintergrunds: Migrantenkinder begehen häufiger Ladendiebstähle als deutsche Kinder. In den Modellen zum Ladendiebstahl zeigt sich erneut ein Einfluss der erlebten Trennung bzw. Scheidung der Eltern. Kinder, die hiervon berichten, berichten ein Jahr später häufiger davon, einen Ladendiebstahl ausgeführt zu haben. Als ein weiterer Risikofaktor erweist sich das Aufwachsen mit einem älteren Bruder: Kinder, die mit einem älteren Bruder aufwachsen, begehen häufiger Ladendiebstähle. Für alle anderen Familienvariablen, d.h. auch für die Erziehungsvariablen ergeben sich keine signifikanten Zusammenhänge mit dem Ladendiebstahl. Dieser erweist sich demnach als weniger abhängig von den familiären Bedingungen als das Gewaltverhalten.

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Dirk Baier Tabelle 3: Einflussfaktoren des Gewaltverhaltens und des Ladendiebstahls (binär-logistische Regressionsanalyse; abgebildet: Exp(B))

Gewaltverhalten 6. Klasse

Gewaltverhalten 7. Klasse

Ladendiebstahl 6. Klasse

3,631 ***

3,729 ***

16,226 ***

6,247 ***

Geschlecht (1 – männlich)

3,597 ***

4,848 ***

3,022 *

1,842†

Geburtsjahr

0,598 **

0,794

0,771

1,114

Migrationshintergrund

1,426

1,452

2,300†

1,896†

Trennung/Scheidung der Eltern

1,532†

1,505†

1,487

2,152*

mit älterem Bruder zu Hause lebend

1,415

0,890

1,295

1,948*

mit älterer Schwester zu Hause lebend

1,199

0,882

0,776

1,207

Arbeitslosigkeit mind. eines Elternteils

0,696

1,459

1,330

0,855

1,679 *

0,974

1,605

0,486

Anzahl Bücher zu Hause

0,882

1,087

1,109

0,978

Familienumzug

0,905

0,958

0,675

0,872

elterliche Kontrolle

1,171

0,960

0,980

0,682

0,542 *

0,579 *

0,736

0,872

elterliche Gewalt

1,271

2,134 **

1,174

1,588

Nagelkerkes R2

0,254

0,268

0,270

0,171

955

954

870

856

Variable ein Jahr vorher

Gewaltverhalten/Ladendiebstahl

kein eigenes Zimmer

elterliche Zuwendung

N †

Ladendiebstahl 7. Klasse

p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

Die elterliche Zuwendung und die elterliche Gewalt erweisen sich als Einflussfaktoren des Gewaltverhaltens, wie die Auswertungen gezeigt haben. Dies bestätigt sich noch einmal in einer weiteren Analyse: In Tabelle 4 wird das Gewaltverhalten in der 7. Klasse durch Variablen der 5. Klasse erklärt. Dabei ergibt sich wiederum eine recht hohe Verhaltensstabilität (Koeffizient zur Variable „Gewaltverhalten 5. Klasse“). Die elterliche Zuwendung in der 5. Klasse reduziert das Gewaltverhalten in der 7. Klasse signifikant; die elterliche Gewalt erhöht sie signifikant.6 Die Analyse ermöglicht darüber hinaus, zu prüfen, welche vermittelnden Faktoren für den Einfluss der beiden Erziehungsvariablen verantwortlich gemacht werden können. Hierzu wurden in weiteren Modellen zunächst einzeln und abschließend gemeinsam die erfassten Mediatorvariablen berücksichtigt. Dabei ergeben sich drei wesentliche Befunde: 1. Das Modell II betrachtet gilt, dass alle vier Mediatorvariablen das Gewaltverhalten in der 7. Klasse signifikant beeinflussen. Jugendliche, die in der 6. Klasse Gewaltmedien konsu6 Geprüft wurde zudem, ob das Erleben einer Trennung/Scheidung bzw. die Nicht-Verfügbarkeit eines eigenen Zimmers (jeweils in der 5. Klasse) signifikant mit dem Gewaltverhalten in der 7. Klasse in Zusammenhang steht. Dies ist nicht der Fall, weshalb darauf verzichtet wurde, diese Variablen in der Analyse zu berücksichtigen.

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Familiale Sozialisation und Delinquenz miert haben, die Kontakte zu devianten Freunden hatten, die ein aufbrausendes Temperament aufweisen und die gewaltakzeptierende Einstellungen aufrecht halten, berichten in der 7. Klasse signifikant häufiger, Gewalt ausgeführt zu haben. Der Einfluss des Gewaltmedienkonsums und des aufbrausenden Temperaments fällt dabei stärker aus als der Einfluss der anderen beiden Variablen. 2. Trotz Berücksichtigung der vier Mediatorvariablen erweist sich die Zuwendung in der 5. Jahrgangsstufe weiterhin als signifikanter Einflussfaktor des Gewaltverhaltens in der 7. Jahrgangsstufe. Die betrachteten Faktoren vermitteln den Einfluss der Zuwendung also weitestgehend nicht. 3. Der Einfluss der elterlichen Gewalt wird demgegenüber mediiert. Die Modelle IIa bis IId helfen dabei, einzuschätzen, welche Variablen tatsächlich eine vermittelnde Wirkung zeigen. In den Modellen IIa und IIc wird durch Berücksichtigung der entsprechenden Variable kein signifikanter Einfluss der elterlichen Gewalt mehr ausgewiesen, in den anderen beiden Modellen hingegen schon. Insofern lässt sich folgern, dass elterliche Gewalt einerseits das aufbrausende Temperament erhöht, andererseits die Zuwendung zum Gewaltmedienkonsum verstärkt und darüber das Gewaltverhalten beeinflusst. Tabelle 4: Einflussfaktoren des Gewaltverhalten (binär-logistische Regressionsanalyse; abgebildet: Exp(B)) Gewaltverhalten 7. Klasse Modell I

Modell IIa

Modell IIb

Modell IIc

Modell II

Gewaltverhalten 5. Klasse

5,091 ***

3,694 ***

4,505 ***

4,502 ***

4,616 ***

3,415 ***

elterliche Zuwendung 5. Klasse

0,479 ***

0,512 ***

0,543 **

0,547 **

0,517 ***

0,584 **

1,725 *

1,509

1,750 *

1,412

1,579†

1,338

elterliche Gewalt 5. Klasse Gewaltmedienkonsum 6. Klasse

1,573 ***

deviante Freunde 6. Klasse

1,350 *** 1,266 ***

aufbrausendes Temperament 6. Klasse

1,125 * 2,278 ***

gewaltakzeptierende Einstellungen 6. Klasse Nagelkerkes R2 N †

Modell IId

1,745 ***

2,258 ***

1,390 *

0,142

0,227

0,187

0,210

0,199

0,283

963

963

963

963

963

963

p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

Eine letzte Analyse widmet sich der Frage, inwieweit die Zusammenhänge zwischen den Erziehungsvariablen und dem Gewaltverhalten für Jungen und Mädchen unterschiedlich ausfallen; vorhandene Forschungsbefunde geben einen Hinweis auf differente Zusammenhangsmuster. Tabelle 5 stellt die Ergebnisse eines Erklärungsmodells vor, bei dem das Gewaltverhalten der 7. Klasse durch Variablen der 6. Klasse vorhergesagt wird. Diese beiden Klassenstufen wurden an dieser Stelle ausgewählt, da sich in den obigen Auswertungen (Tabelle 3) signifikante Zusam-

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Dirk Baier menhänge zwischen dem Verhalten und der Zuwendung und der elterlichen Gewaltanwendung gezeigt hatten. Die Ergebnisse belegen, dass Gewaltverhalten bei Mädchen wie bei Jungen ein stabiles Verhaltensmuster darstellt: Das Gewaltverhalten in der 6. Klasse korreliert signifikant mit dem Gewaltverhalten in der 7. Klasse. Zusätzlich gilt für beide Geschlechter, dass elterliche Zuwendung das Gewaltverhalten senkt, das Erleben elterlicher Gewalt das Gewaltverhalten erhöht. Beide Male zeigen die Koeffizienten aber an, dass der Zusammenhang für Mädchen stärker ausfällt als für Jungen. Zusätzlich durchgeführte Analysen zur Prüfung der Signifikanz der Unterschiede der Koeffizienten haben ergeben, dass sich diese bei p < 0,10 nicht signifikant unterscheiden (ohne Abbildung). Gleichwohl erreicht der Unterschied des Koeffizienten zur elterlichen Zuwendung (0,394 bzw. 0,650) ein Irrtumswahrscheinlichkeitsniveau von p = 0,255. Die Auswertungen ergeben damit durchaus einen Hinweis, geschlechtsspezifischen Einflussmustern familienbezogener Variablen weiter nachzugehen. Tabelle 5: Einflussfaktoren des Gewaltverhaltens nach Geschlecht (binär-logistische Regressionsanalyse; abgebildet: Exp(B)) Gewaltverhalten 7. Klasse gesamt

Mädchen

Jungen

5,870 ***

4,849 **

3,761 ***

elterliche Zuwendung 6. Klasse

0,666 *

0,394 *

0,650†

elterliche Gewalt 6. Klasse

2,242 **

2,350†

1,931 *

0,171

0,154

0,146

973

531

442

Gewaltverhalten 6. Klasse

Nagelkerkes R2 N †

p < 0,10, * p < 0,05, ** p < 0,01, *** p < 0,001

3. Fazit

Die empirischen Auswertungen der Längsschnittstudie verdeutlichen Folgendes: 1. Die familiale Sozialisation und hier vor allem die kulturellen Faktoren wirken sich auf das Gewaltverhalten aus. Elterliche Zuwendung reduziert das Gewaltverhalten von Kindern, die Anwendung körperlicher Gewalt in der Erziehung erhöht das Gewaltverhalten. Für das elterliche Kontrollverhalten ergeben sich im Gegensatz zu bisherigen Forschungsbefunden keine Zusammenhänge mit der Delinquenz. 2. Strukturelle Familienmerkmale sind ebenfalls von Bedeutung, für Eigentumsdelikte stärker als für das Gewaltverhalten. Das Erleben einer Trennung/Scheidung steht mit beiden betrachteten Formen des delinquenten Verhaltens in Beziehung. Dabei wird der Einfluss dieses Merkmals nicht über die Erziehungsstile vermittelt. Fraglich bleibt daher, welche Prozesse für die Wirkung dieses Merkmals verantwortlich sind. 3. Delinquentes Verhalten weist eine hohe zeitliche Stabilität auf, die für den Ladendiebstahl noch höher ist als für das Gewaltverhalten. Wenn ein Verhalten in der betrachteten Entwicklungsphase derart stabil ist, müssen die Ursachen für das Verhalten in früheren Entwicklungsphasen liegen. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, familienbezogene Einfluss-

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Familiale Sozialisation und Delinquenz faktoren der Delinquenz längsschnittlich noch stärker bereits in der frühen Kindheit zu untersuchen. 4. Für das elterliche Gewaltverhalten kann gefolgert werden, dass es mit einem erhöhten Gewaltmedienkonsum und einer geringeren Selbstkontrolle einhergeht. Die vermittelnden Prozesse können damit für diese Dimension herausgearbeitet werden. Für die Zuwendung gilt dies nicht. Hier bleibt, wie bereits mit Bezug auf die Wirkung der Broken-Home-Situation konstatiert, nur zu folgern, dass die vermittelnden Prozesse zukünftig weiter zu untersuchen sind. 5. Es gibt Hinweise, jedoch keine statistisch haltbaren Belege, dass Mädchen stärker von familienbezogenen Merkmalen beeinflusst sind als Jungen. Weisen diese Befunde ebenso wie die Limitationen der vorliegenden Auswertungen (u.a. kurzer Beobachtungszeitraum, Einsatz von Kurzinstrumenten, fehlender Einbezug weiterer Drittvariablen) darauf hin, den Zusammenhang zwischen der familiären Sozialisation und Delinquenz zukünftig weiter zum Gegenstand empirischer Längsschnittforschung zu machen, erscheint es abschließend notwendig, auch darauf hinzuweisen, die Forschung in diesem Bereich in mindestens zweierlei Hinsicht auszuweiten. Erstens ist es notwendig, der Interaktivität des Erziehungsprozesses verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken. Bislang wird meist davon ausgegangen, dass Eltern Einfluss auf ihre Kinder ausüben. Kinder reagieren aber einerseits nicht passiv auf ihre familiäre Umwelt (vgl. u.a. das Konzept der Selbstsozialisation; Bauer 2002). Anderseits beeinflussen sie ebenso ihre Eltern, wie die Ergebnisse von Noack und Kracke (2003) zeigen konnten. Zweitens gilt es, das Verhältnis von Familie und anderen Sozialisationskontexten noch stärker in den Blick zu nehmen. Die familienbezogene Sozialisation ist eingebettet in andere Sozialisationsbereiche, die bspw. negative familiäre Erfahrungen verstärken oder aber auch abfedern können (vgl. z.B. Baier/Pfeiffer 2011a). In Zeiten der Medialisierung des Kinder- und Jugendalltags ist davon auszugehen, dass die familiäre Sozialisation noch stärker als früher äußeren Einflüssen ausgesetzt ist, was in empirischen Studien berücksichtigt werden sollte.

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1. Einleitung

Im Hinblick auf das Thema „Kriminalität“ dominieren in der Öffentlichkeit nach wie vor stereotype Geschlechtervorstellung vom ,kriminellen Mann‘ und der eher ,friedfertigen Frau‘. Auch wenn seit den 1980er Jahren die Kategorie Geschlecht als analytische Kategorie in der Kriminalitätsforschung zunehmend Berücksichtigung erfährt, geschieht dies noch nicht als Querschnittsthema. Im folgenden Beitrag werden die Beziehungen von Geschlecht und Kriminalität unter Bezug auf drei verschiedene Theorien aus der Frauen- und Geschlechterforschung beleuchtet: differenztheoretische, ethnomethodologische wie poststrukturalistische Perspektiven werden aufgegriffen, um unterschiedliche Zugänge zu einem tieferen Verstehen der Zusammenhänge von Geschlecht und Kriminalität zu eröffnen (vgl. Micus-Loos 2004). Konkretisiert werden die Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Kriminalität am Thema Gewalt1 – ein für die Frauenund Geschlechterforschung wichtiges Thema, das darüber hinaus aber auch „den öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskurs zu Devianz und Geschlecht maßgeblich prägt“ (Bereswill/ Neuber 2010, S. 308).

2. Differenztheoretische Perspektiven auf Geschlecht und Kriminalität

Die Wurzeln des Differenzparadigmas liegen vor allem in der Zweiten Frauenbewegung der 1970er Jahre. Für die Anfänge der sich mit der Zweiten Frauenbewegung konstituierenden Frauenforschung ist eine Vergewisserung eines „fundamentalen Anders-Seins“ (HagemannWhite 2007, S. 28) zu beobachten, deren Anliegen es war, den Androzentrismus vieler Wissenschaftstheorien offenzulegen, weibliche Subjektivität anzuerkennen und damit überhaupt die Bedeutung von Geschlecht als Kategorie sozialer Schließung zu fokussieren. In diese Zeit gehören Forschungen zur „anderen Stimme der weiblichen Moral“ (Gilligan 1984) oder auch zum „weiblichen Arbeitsvermögens“ (Beck-Gernsheim/Ostner 1979). Differenztheoretisch ist die Annahme bedeutsam, dass sich beide Geschlechter mit einer Kultur auseinandersetzen müssen, die zweigeschlechtlich organisiert ist, und so offen oder subtil an 1 An einigen wenigen Stellen wird auf Studien Bezug genommen, die den Begriff ,Aggression‘ wählen, um damit nicht nur körperliche Gewalt zu fokussieren, sondern den Blick für verschiedene Formen der Ausübung schädigenden Verhaltens zu öffnen (vgl. Micus-Loos 2002).

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Christiane Micus-Loos heranwachsende Mädchen und Jungen, an Frauen und Männer verschiedene Erwartungen, Aufgaben, Angebote und Sanktionen richtet (vgl. Bilden 1991; Hagemann-White 1984). Das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit wird aber nicht nur in seinen Zwängen und Zumutungen beschrieben, sondern gilt als fundamentaler Orientierungs- und Ordnungsrahmen: Die Aneignung einer eindeutigen weiblichen oder männlichen Geschlechtlichkeit schenkt nicht nur Identität, sondern führt zur gelungenen Verortung in der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit, die Orientierung, Halt, Sicherheit und auch Anerkennung mit sich bringen kann (vgl. Hagemann-White 2007). Die Anerkennung der Geschlechterdifferenz hat Auswirkungen auf die Forschungen und Aussagen zu Kriminalität und Geschlecht. Aus differenztheoretischer Perspektive gilt zu betonen, dass Kriminalitätsraten geschlechtsspezifisch erhebliche Unterschiede aufweisen. Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2016 zeigt, dass der Anteil der Männer unter den Gewalttätern wie auch den Opfern von Gewalthandlungen überproportional hoch ist: Im Jahr 2016 waren 74,9% (für 2015: 75,2%) Prozent der registrierten Tatverdächtigen männlichen Geschlechts. Gewaltkriminalität, so zeigt sich, wird in der Regel von Männern begangen. Insbesondere bei „Raubdelikten“ (90,4%), „Diebstahl unter erschwerenden Umständen“ (87,2%) und bei „Körperverletzung“ (81,3%) liegen die Prozentwerte sehr hoch. Aber Männer sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer von Gewalthandlungen. 60,3% Prozent der registrierten Opfer sind männlichen Geschlechts, vor allem von folgenden Straftaten: Opfer von „Raubdelikten“ sind 67,9%, Opfer von „Mord und Totschlag“ sind 66,1% und von „Körperverletzung“ 63,5% (vgl. PKS 2016). Auch wenn sich somit eine deutliche Korrelation von Gewalt und Männlichkeit zeigt, ist eine kausale Gleichsetzung von Männlichkeit und Täterschaft wenig hilfreich (vgl. Micus-Loos 2002, 2009). Insgesamt sind 39,7% (für 2015: 40,4%) (Straftaten insgesamt) der Opfer weiblich (vgl. PKS 2016, S. 33). Differenziert man zwischen verschiedenen Straftaten, zeigt sich, dass Frauen zu 93% Opfer von „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses“ (PKS 2016, S. 34) werden. Es folgen „Straftaten gegen die persönliche Freiheit“ (46,8%). Aber auch Frauen werden zu Täterinnen: 25,1% Prozent der registrierten Tatverdächtigen sind im Jahr 2016 weiblichen Geschlechts (für 2015: 24,8%). Dieser Prozentwert setzt sich u.a. aus der „Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht“ (68,5%), der „Entziehung Minderjähriger“ (50,4%), dem „Missbrauch von Scheck- und Kreditkarten“ (40,7%) und „einfachem Ladendiebstahl (35,5%) zusammen (PKS 2016, S. 17). Diese Analyse des Hellfeldes2 zeigt, dass eine kausale Gleichsetzung von Männlichkeit und Täterschaft ebenso wenig hilfreich ist wie eine Gleichsetzung von Weiblichkeit und Opferrolle. Auch Frauen werden nach Analyse des Hellfeldes zu Täterinnen, aber zum einen viel seltener als Männer, zum anderen in weniger schweren Delikten. Wolfgang Heinz (2002) betont, wie wichtig Zusatzinformationen aus Dunkelfeldforschungen sind, da sonst „Umfang, Struktur und Entwicklung der registrierten Fälle und Tatverdächtigen […] lediglich Unterschiede des Anzeigeverhaltens und damit letztlich der sozialen Toleranz widerspiegeln“ (S. 133). Auch wenn an dieser Stelle nicht auf einzelne Studien eingegangen werden kann, lässt sich zusammenfassend sagen, dass auch Befunde aus dem Dunkelfeld eine geschlechtlich unterschiedliche „Kriminalitätsbelastung“ (Heinz 2002, S. 140; 2 „Hellfeldkriminalität ist […] ein nicht repräsentativer Ausschnitt der ,Kriminalitätswirklichkeit‘. Ein Großteil der Delikte und der Täter verbleibt im ,Dunkelfeld‘“ (Heinz 2002, S. 132). Vermutlich, so Heinz (2002), erfährt die Polizei von nicht mehr als 10% der begangenen Delikte.

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Geschlecht und Kriminalität vgl. Baier/Pfeiffer et al. 2009; Heitmeyer 1995; Popp/Meier et al. 2001) belegen, und dass der Abstand zwischen den Geschlechtern mit steigender Häufigkeit und Schwere der Delikte auch im Dunkelfeld zunimmt (vgl. Baier/ Pfeiffer et al. 2009; Boers/Walburg et al. 2006). Qualitative Studien zeigen, dass sich Mädchen auf andere Weise aggressiv verhalten als Jungen, dass sie bevorzugt indirekt – in Form von Klatsch, Manipulation, üble Nachrede (Lästern) oder auch Entzug von Freundschaft – ihre Aggressionen äußern (Björkqvist 1994; Björkqvist/ Niemelä 1992; Schmerl 1999). Frauen sind nicht nur anders aggressiv als Männer, sie haben auch andere Motive und Wahrnehmungen bezüglich ihrer Aggressionen (vgl. Campbell 1995). Anne Campbell (1995) stellt für beide Geschlechter einen engen Zusammenhang von Aggression und Kontrolle heraus, doch während Frauen in der Aggression das „Versagen der Selbstkontrolle“ (S. 15) sehen – ein zeitweiliger Kontrollverlust, verursacht durch überwältigenden Druck und gefolgt von Schuldgefühlen –, ist Aggression für Männer eher ein probates Mittel, um Kontrolle über andere auszuüben, das eigene Selbstwertgefühl zu steigern oder auch soziale und materielle Vorteile zu gewinnen. Für Frauen haben Aggressionen expressive Funktion, sie reagieren auf alltägliche Frustrationen und Provokationen zunächst nicht mit Wut oder gezielter Gegenwehr. Für Männer haben Aggressionen eher eine instrumentelle Funktion, um Konkurrenz, Konflikte und Zweifel an ihrer männlichen Autorität schnell und effizient zu ihren Gunsten zu entscheiden. Die instrumentelle männliche Sichtweise von Aggression ist das gesellschafts- und wissenschaftsdominante Aggressionsverständnis (vgl. Schmerl 1999). So zeigt Campbell in der Analyse des männlich dominierten Systems der Strafjustiz, wie weibliches Aggressionsverhalten mit dem gesellschaftlich dominanten kollidiert, wenn Frauen nach jahrelanger Misshandlung ihren Ehemann im Schlaf töten und damit heimlich oder auch zeitversetzt agieren. Dann wird ihnen der juristische Aggressionsbegriff zum Verhängnis, der Töten nur im spontanen Affekt strafmildernd als Totschlag oder Notwehr anerkennt, was zu unterschiedlichen Bestrafungen der Geschlechter führt (vgl. Harzer 2009; Oberlies 1997; Schmerl 1999). Die Gründe für diese geschlechtsspezifischen Unterschiede im Hinblick auf die quantitative unterschiedliche Betroffenheit wie Ausübung von Straftatbeständen wie auch auf die nach Geschlecht differierenden Straftatbestände und qualitativen Umgangsformen wurden lange Zeit – und vielerorts werden sie dies immer noch – in der Biologie der Frau (vgl. Cremer 1974; Dennen 1992; zur Kritik Seus 2002) sowie in unterschiedlichen klassischen Frauen- und Männerrollen gesucht (vgl. Parsons 1947).3 Höhere Anteile von Frauen bei den Straftaten, so die Argumentation, finden sich bei Delikten, „die mit der klassischen Frauenrolle, der Erziehungsaufgabe“ (Heinz 2002, S. 138) zusammenhängen. So lässt sich vielleicht der hohe Anteil an der „Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht“ damit erklären, dass nach wie vor Frauen häufiger als Männer die Kindererziehung übernehmen.4 Der bereits 1951 von Simone de Beauvoir (1951) formulierte Satz „man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es” sucht die Ursachen für die Konstitution von geschlechterdifferenten Merkmalen in Sozialisationsprozessen (vgl. Bilden 1991; Hagemann-White 1984). So wird männliches Gewaltverhalten nicht selten als kompensatorischer Ausdruck einer unsicheren bzw. fragilen männlichen Geschlechtsidentität interpretiert und damit auch z.T. legitimiert (vgl. Böhnisch/Winter 1993; Chodorow 1985). 3 Vgl. zum Überblick Anina Mischau 1997. 4 Die Rede von „,typischen Frauendelikten‘“ (Oberlies 1990, S. 134) ist allerdings unangebracht, weil es keine Delikte gibt, „bei denen Frauen im Vergleich zu den Männern einen fast 50%igen Anteil oder im Einzelfall sogar einen über 50%igen Anteil der Fälle ausmachen“ (Köhler 2012, S. 38; vgl. Oberlies 1990).

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Christiane Micus-Loos „Verletzungsoffenheit“ (Flaake 2002, S. 161) und „Verletzungsmächtigkeit“ (Popitz 1992, S. 48) werden, so Karin Flaake (2002), durch Sozialisationsprozesse als geschlechtliche Haltungen eingeübt und antrainiert. Mädchen und Jungen werden nicht nur unterschiedlich erzogen, es gibt nach wie vor geschlechtlich unterschiedliche Sozialisationsziele und unterschiedliche von der Gesellschaft festgelegte Normen und Werte für die Geschlechter, und auch die Bewältigungsstrategien erfolgen im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit für die Geschlechter unterschiedlich: Während männliches Bewältigungsverhalten eher „,außen-orientiert', externalisiert“ (Böhnisch/Funk 2002, S. 51) ist – Jürgen Friedrichs (2006) spricht von männlichem „Risikoverhalten“ (S. 180), – und Männer „Hilflosigkeit eher ab[spalten], rationalisieren“ (Böhnisch/Funk 2002, S. 51), ist weibliches Bewältigungsverhalten eher nach innen gerichtet und äußert sich nicht selten auch in Form von Essstörungen oder psychischen Erkrankungen (vgl. Kolip/Hurrelmann 2002). Aber: Die geschlechterdifferenztheoretische Perspektive auf Kriminalität und Geschlecht reicht nicht aus, um der Vielfalt an Männlichkeiten wie Weiblichkeiten und der Komplexität der Zusammenhänge von Kriminalität und Geschlecht gerecht zu werden.

3. Ethnomethodologische Perspektiven auf Geschlecht und Kriminalität

Der ethnomethodologische Konstruktivismus richtet seine Aufmerksamkeit auf die Ebene der sozialen Handlungen und das ,Wie‘ alltäglicher Zuschreibungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsroutinen. Im Anschluss an Candace West und Don Zimmerman (1987) verstehen die ethnomethodologischen Konzeptualisierungen Geschlecht als „doing gender“ und stellen die Rede von ,Geschlechtszugehörigkeit‘ infrage, weil „Geschlecht nicht etwas [ist], was wir ‚haben’ oder ‚sind’, sondern etwas, was wir tun“ (Hagemann-White 1993, S. 68). Geschlecht wird nicht als Eigenschaft oder Merkmal von Individuen betrachtet, sondern es werden die alltäglichen Interaktionen untersucht, in denen Geschlechtszugehörigkeit als Unterscheidung immer wieder hergestellt bzw. reproduziert wird. Im alltäglichen „doing gender“ (West/Zimmerman 1987) werden Geschlechterdifferenzen dadurch erzeugt, dass die Handelnden sich kontinuierlich zu Mädchen und Jungen, Frauen und Männern machen und machen lassen. In der Regel wird von klein auf gelernt, sich entsprechend der Geschlechterrolle und der zur Verfügung stehenden Symbole ,geschlechtsangemessen‘ darzustellen und zu verhalten. „Wie konnten“, so fragt sich Erving Goffman (2001), „in der modernen Gesellschaft derartig irrelevante biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern eine anscheinend ganz enorme soziale Bedeutung gewinnen?“ (S. 139). Geschlechterdifferenzen und bestehende Geschlechterarrangements werden nicht nur in Interaktionen stets aufs Neue hervorgebracht und reproduziert – Goffman (1959) nennt dies „Performanz“ –, sondern gleichzeitig in Institutionen geregelt: Er spricht von institutionalisierten Genderismen (vgl. Goffman 2001, S. 150). Die auf individueller Ebene stattfindenden Prozesse werden durch strukturell verankerte Institutionen abgesichert. „Mit diesen ,institutionalisierten genderismen‘5 werden aber nicht nur tagtäglich Geschlechterdiffe-

5 „Diese Institutionen und die mit ihnen verbundenen Regeln […] [sind] prekäres und immer wieder neu zu konstituierendes Menschenwerk“ (Hess/Scheerer 1997, S. 123). Sie begegnen „dem einzelnen im Normalfall mit Objek-

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Geschlecht und Kriminalität renzen (re)produziert und verfestigt, sondern […] zugleich auch naturalisiert“ (Maihofer 2004, S. 38). Diese „Zirkularität sozialer Interaktionen“ (Maihofer 2004, S. 38) bezeichnet Goffman (2001) als „institutionelle Reflexivität“ (S. 139): Geschlechtsspezifische Verhaltensweisen erscheinen allen Beteiligten als Ausdruck einer natürlichen Geschlechterdifferenz zwischen Frauen und Männern, während das Wissen um die Konstruiertheit von Geschlecht verblasst.6 Aus ethnomethodologischer Perspektive interessiert Kriminalität als Handlung (,doing crime‘), fokussiert werden Interaktionsprozesse, in denen Menschen kriminelles Verhalten zugetraut, zugeschrieben, menschliches Verhalten von anderen Menschen und Institutionen als ,kriminell‘ eingestuft bzw. etikettiert wird. Von Bedeutung ist der labeling approach oder Etikettierungsansatz, der aus dem symbolischen Interaktionismus hervorgegangen ist, und der den Blick auf den „Prozess der Kriminalisierung“ (Köhler 2012, S. 65) richtet. Nach diesem Ansatz ist Kriminalität „,ubiquitär‘, also eine normale Erscheinung, die gleichmäßig über alle Schichten der Bevölkerung verteilt sei. Kriminelles Verhalten sei das, was andere als abweichend definieren. ,Kriminell‘ ist also keine Eigenschaft oder Merkmal, das dem Verhalten als solchem zukomme, sondern das an das jeweilige Verhalten herangetragen werde“ (Köhler 2012, S. 65). Kriminelles Verhalten ist aus dieser Perspektive vor allem ein Produkt von Zuschreibungen (vgl. Hawkins/Tiedemann 1975). So wichtig die Sensibilisierung für die Prozesse der Verfestigung kriminellen Verhaltens aufgrund sozialer Reaktionen und deren diskriminierenden Folgen für Betroffene durch den Labeling approach ist, so gering ist seine Erklärungskraft für geschlechtliches erstmaliges Auftreten krimineller Verhaltensweisen.7 Hier ist das von der australischen Soziologin Raewyn Connell (1999) entwickelte Konzept der hegemonialen Männlichkeit, das an Antonio Gramscis Klassenanalyse anschließt und die Dynamik sozialer Über- und Unterordnungen verschiedener Männlichkeiten fokussiert, hilfreich. Sie versteht Männlichkeit als „Position im Geschlechterverhältnis“ (S. 91) und interessiert sich für die „Praktiken“ (S. 91), durch die Männer diese Position einnehmen. Hegemoniale Männlichkeit als kulturelles Ideal für Männer zeichnet sich durch Männerdominanz, komplementäre und hierarchische Arbeitsteilung und dominante Heterosexualität aus, besitzt den größten Anteil der „patriarchale[n] Dividende“ (S. 100) und bestimmt, welche Männlichkeiten als bevorzugt gelten. Die Hegemoniale Männlichkeit gilt als Orientierungsmuster männlicher Praxen, ist aber kein „starr, über Zeit und Raum unveränderlicher Charakter“ (S. 97). Neben der Hegemonie existieren Unterordnung, Komplizenschaft und Marginalisierung als untergeordnete Formen von Männlichkeit. Auch wenn sich männliche Hegemonie „weniger durch direkte Gewalt“ (S. 98) auszeichnet, „sondern durch ihren erfolgreich erhobenen Anspruch auf Autorität“ (S. 98), folgt männliches Gewalthandeln der Logik hegemonialer Männlichkeit. Gemäß der „doppelten Distinktions- und Dominanzlogik“ (Meuser 2002, S. 58) zeigen sich zwei Dimensionen von Gewalthandeln. Zum einen benutzen viele Mitglieder der privilegierten Gruppe Gewalt, „um ihre männliche Dominanz zu sichern“ (Connell 1999, S. 104), häufig in der heterosozialen Dimension als Dominanz von Männern über Frauen. Zum Zweiten kann Gewalt dazu dienen, „sich der eigenen Männlichkeit zu versichern oder diese zu demonstrieren“ tivität und Übermacht, aber sie stehen und fallen doch letztlich mit der Bereitschaft vieler Akteure, die Idee dieser oder jener Institution zu respektieren, sich ihren Regeln gemäß zu verhalten und gegebenenfalls auch noch andere ganz handfest dazu zu zwingen“ (S. 123). 6 In seinem Rückgriff auf die Transgenderforschung zeigt der ethnomethodologische Konstruktivismus auf, wie voraussetzungsvoll Frau- und Mann-Sein sind (vgl. Garfinkel 1967). 7 Hess und Scheerer (1997), die mikroperspektivisch Kriminalität als „Karriere“ (S. 121) beschreiben, betonen für alle Stufen der Kariere „die Offenheit des Verlaufs, die Möglichkeit der Wahl von Handlungsalternativen [sowie] die Möglichkeit des Abbruchs der Karriere“ (S. 121).

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Christiane Micus-Loos (S. 105); dies geschieht in der homosozialen Dimension häufig unter Männern. In gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Männern, so Connell, sei eine Art „Ethik“ am Werke, die in der Verpflichtung bestehe, „Gewalt nicht unerwidert zu lassen“ (S. 123). Michael Meuser (1998, 2002, 2008), bezugnehmend auf Connells Konzept der Hegemonialen Männlichkeit und Pierre Bourdieus Aufsatz zur männlichen Herrschaft (2005), beschreibt Prozesse des „doing masculinity“ (Meuser 2002) als kompetitive Praxis, die „männlich-homosozialen Beziehungen in hohem Maße zu Eigen ist“ (Meuser 2008, S. 5171) und denen eine „vergemeinschaftende Funktion“ (ebd.) zukommt, die darüber hinaus „fundamentale habituelle Sicherheit“ (S. 5174) mit sich bringt. Männliches Gewalthandeln – so zeigt Meuser am Beispiel der ernsten Spiele des Wettbewerbs unter Männern auf, die Gemeinschaft, Anerkennung und Solidarität stiften – ist demnach nicht nur ein Ordnungsproblem, sondern kann auch ordnungsproduzierend, ordnungssichernd und sinnstiftend sein. „Bezogen auf homosoziale Interaktionen lässt sich Wettbewerb als generatives Prinzip des männlichen Habitus begreifen. Dieses Prinzip kann sich in unterschiedlichen Ausdrucksformen manifestieren. Gewalt ist eine davon und in dieser Hinsicht ,normal’ und ordnungsstiftend“ (Meuser 2002, S. 67). In Anschluss an Bourdieu versteht er männliches Gewaltverhalten als eine „Strukturübung“ (Bourdieu 1993, S. 138), die die Inkorporierung eines männlichen Geschlechtshabitus unterstützt. Männliches kriminelles Verhalten kann somit auch eine Ressource sein, männliche Normalität herzustellen bzw. zu inszenieren. Nach Joachim Kersten können in Rückgriff auf Connell (1999) und David Gilmore (1991) drei zentrale Merkmale zur Bewerkstelligung von Maskulinität genannt werden: „procreation“ meint die Unterordnung von Frauen und die männliche Kontrolle des Nachwuchses, „protection“ impliziert die „Vorherrschaft in den Männlichkeitsdomänen […] Schutz vor inneren und äußeren Feinden “ (Kersten 1997, S. 54) und „provision“ (S. 54) als „die Macht über die Versorgung der Familie und Gemeinschaft“ (Kersten 1997, S. 54; vgl. Friedrichs 2006). Für Kersten können kriminelle Verhaltensweisen für marginalisierte junge Männer auch einen Versuch darstellen, eine „vermeintlich ,richtige‘ oder gar ,gute‘ Männlichkeit“ (Kersten 1997, S. 189) herzustellen: Kriminalität junger Männer erweise sich nicht selten als risikohafte Bewerkstelligung von „Geschlecht als letzter Ressource von Selbstwert“ (Kersten 1997, S. 189). So zeigt Jürgen Friedrichs (2006) in Rückgriff auf Kersten auf, wie selbst eine „,Junkie-Karriere‘ […] zu einem Statusgewinn durch Teilhabe an den ,richtigen Männlichkeiten‘ führen“ (S. 188) kann. Dass zur „Strukturlogik des männlichen Habitus“ (Meuser 2008, S. 5173) ergänzend zur kompetitiven Struktur eine „Abgrenzung gegenüber Frauen sowie (zumindest phasenweise) gegenüber allem, was weiblich konnotiert ist“ (Meuser 2008, S. 5173), gehört, zeigt auch Mechthild Bereswill (1999, 2003, 2007) im Rahmen der Längsschnittstudie „Gefängnis und die Folgen“ auf: Angesichts „des institutionell forcierten Autonomieverlusts wird Geschlecht zur Ressource der Selbstverteidigung und schematische Versionen von Hypermaskulinität dominieren das Feld“ (Bereswill 2007, S. 108). Männlichkeit wird durch Gewalt in einem komplexen Wechselspiel von dargestellter Verletzungsmächtigkeit und nicht darzustellender Verletzungsoffenheit kollektiv stabilisiert (vgl. Bereswill 2003). Das männliches Gewalthandeln entlang der Logik hegemonialer Männlichkeit verläuft, während weibliches Gewalthandeln eher als Opposition gegen tradierte Weiblichkeitsvorstellungen verstanden wird, zeigt Campbell (1990, 1995; vgl. Meuser 2002) in den Reaktionen auf das Gewalthandelns der „Sex Girls“ (so der Name der Gang) und der „Sex Boys“ auf, die sich im Hinblick auf Initiationsrituale, Bestrafungssanktionen, Gewalteinsätze zur Verteidigung gegen territoriale Übergriffe durch andere Gangs oder

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Geschlecht und Kriminalität auch zur Verteidigung der eigenen „Ehre“ kaum unterscheiden. Beide Geschlechter respektieren sich in ihrer Gewaltbereitschaft gegenseitig, aber sie erfahren nicht die gleiche Anerkennung. In den Worten einer Frau über die Männer kommt dies zum Ausdruck: „They don’t call us girls. They call us wise guys“ (zit. n. Meuser 2002, S. 71). Auch wenn weibliches Gewalthandeln nach wie vor „im Widerspruch zu kulturell idealisierten Norm- und Wertvorstellungen von angemessenen Formen von Weiblichkeit steht“ (Silkenbeumer 2010, S. 325), zeigen Kirsten Bruhns und Svendy Wittmann (2002) in ihrer qualitativen Studie „Mädchen und Gewalt“, die nach Strategien, Gründen und Selbstdeutungen gewalttätiger Mädchen fragt, dass Mädchen durchaus in der Lage sind, ihre Gewalttätigkeit in ihre Weiblichkeitsvorstellungen zu integrieren (S. 270f.). Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung von Mädchen seien als veränderte subjektive Weiblichkeitsentwürfe und als Neupositionierung im Geschlechterverhältnis zu verstehen, so die Autorinnen. Gerade in der Auseinandersetzung mit adoleszenten Konflikten oder belastenden biographischen Erfahrungen, so Mirja Silkenbeumer (2010, S. 237ff.), kann eine gewaltbetonte Darstellung der Mädchen hilfreich sein, um „gegen Vorstellungen des braven, angepassten Mädchens zu rebellieren“ (Silkenbeumer 2007, S. 333). Der Widerstand gegen „geschlechtstypische Zuschreibungen […], die mit einer ohnmächtigen, hilflosen und in Geschlechterbeziehungen untergeordneten Rolle verbunden sind“ (Bruhns 2009, S. 185), führt allerdings nicht dazu, dass bestimmte Vorstellungen tradierter Weiblichkeit abgelehnt werden.8 Gewaltbereite Mädchen, so Bruhns und Wittmann, (2002) richten ihre Angriffe meist auf andere weibliche Jugendliche. „Eifersucht, Neid und Konkurrenz“ (Bruhns 2009, S. 181) sind die häufigsten Anlässe weiblichen Gewaltverhaltens. Der Buchtitel „Ich meine, mit Gewalt kannst du dir Respekt verschaffen“ (Bruhns/Wittmann 2002) zeigt, dass Gewalt für die heranwachsenden Frauen auch eine Ressource sein kann, „Machtansprüche“ (Bruhns 2009, S. 182) in der Clique durchzusetzen, sich Anerkennung zu verschaffen (vgl. Bruhns/Wittmann 2002; Equit 2011), aber auch „Erfahrungen der Ohnmacht, der Abwertung und Erniedrigung in der Familie und im Gleichaltrigenkontext“ (Bruhns 2009, S. 184) abzuwehren und „derartigen Erlebnissen entgegenzuwirken“ (Bruhns 2009, S. 184; vgl. Silkenbeumer 2007). Die ethnomethodologische Perspektive fokussiert soziale Interaktionen, die kriminelles bzw. gewalttätiges Verhalten von Individuen immer wieder bewirken, „ohne auf vorgängig vorhandene geschlechtsspezifische Eigenschaften, Kompetenzen oder psychische Strukturen der Individuen“ (Maihofer 2004, S. 36) zurückzugreifen. ,Doing crime‘ ist kein Wesensmerkmal, sondern kann auch in Interaktionen eine Ressource sein, Maskulinität zu beanspruchen oder auch weibliche Durchsetzungsfähigkeit zu demonstrieren. Damit öffnet sich der Blick für die Aktivität des Subjekts, für das situative Arrangement, für die Möglichkeiten der Veränderung kriminellen Verhaltens und für die Bedeutung institutioneller genderismen.

8 Als Beispiele werden geschlechtstypische Berufswahlentscheidungen und die Zuständigkeit der Frau für die Kindererziehung angeführt (vgl. Bruhns 2009, S. 185; Silkenbeumer 2007).

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4. Poststrukturalistische Perspektiven auf Geschlecht und Kriminalität

In den Gendertheorien der amerikanischen Philosophin Judith Butler (2001, 2009) wird das Subjekt – anders als in den beiden vorangegangenen Theorien – nicht als autonomes, kohärentes verstanden, sondern bezugnehmend auf Louis Althusser als ein Subjekt, das erst durch sprachliche Anrufungsprozesse ins Leben gerufen wird. Sprache versteht Butler – unter Bezugnahme auf Konzepte Jacques Derridas und Michel Foucaults – als eine dem Subjekt bereits vorgängige, symbolische Ordnung. Die Möglichkeit von Sprache, das Gesagte zugleich als soziale Bedeutung zu erzeugen, bezeichnet Butler in Rückgriff auf J. L. Austin als Performativität: „Sprache [ist] selbst etwas, was wir tun. Sprache ist ein Name für unser Tun, d.h. zugleich das,,was‘ wir tun (der Name für die Handlung, die wir typischerweise vollziehen), und das, was wir bewirken; also die Handlung und ihre Folgen“ (Butler 2006, S. 19f.). Demnach wird das Gesprochene zur sozialen Tatsache. Performativität bringt Subjekte hervor, in ihr liegt das Potenzial der Handlungsfähigkeit, aber sie determiniert Subjekte nicht. Butler hat auf die „Macht der Geschlechternormen“ (Butler 2009) für Identitätsbildungsprozesse verwiesen und verdeutlicht, inwiefern entlang dieser Normen die Anerkennung und der Ausschluss von Identitätspositionen reguliert wird. Sie entwirft eine kulturelle „Matrix der Intelligibilität“ (Butler 1991, S. 39), innerhalb derer Geschlechtsidentitäten entlang der wirkmächtigen Achsen von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität entworfen werden, um als „intelligibel“ (Butler 2009, S. 74) – von der Vernunft leichter zu fassende – und damit als anerkennbare Identitäten zu existieren. Die Matrix bzw. die mit ihr verbundenen „Schemata der Anerkennung“ (Butler 2009, S. 11) entscheiden über „lebbare[s] Leben“ (Butler 2009, S. 11): Anerkennung wird damit zu einem „Ort der Macht, durch die das Menschliche verschiedenartig erzeugt wird. Das bedeutet, dass das Begehren in dem Maß, wie es mit den sozialen Normen impliziert ist, mit der Machtfrage zusammenhängt und mit dem Problem verbunden ist, wer für das anerkennbar Menschliche infrage kommt und wer nicht“ (Butler 2009, S. 11). Der Drang nach Anerkennung führt nicht nur zum Einhalten heteronormativer Strukturen, sondern auch zu ihrer Unterwerfung. Die Normen, die im Rahmen der Subjektwerdung bedeutsam und machtvoll sind, müssen anerkannt, können aber gleichzeitig infrage gestellt und verschoben werden. Zweierlei erscheint aus poststrukturalistischer Perspektive bedenkenswert: Erstens schreibt Butler (2006) der Sprache eine „Handlungsmacht“ (S. 9) zu, die ermächtigen wie auch erniedrigen kann. Diese „Kraft“ (S. 11) der Sprache als „performativer Charakter“ (S. 11) kann Anerkennung verleihen, kann aber ebenso verwunden, verletzen und Menschen auf einen „Platz [verweisen], der aber möglicherweise gar keiner ist“ (S. 13). Ein Ausruf „Du bist kriminell“ ist auch „[e]ine performative Handlung […] eine solche, die das, was sie benennt, hervorruft oder in Szene setzt und so die konstitutive oder produktive Macht der Rede unterstreicht“ (Butler 1993, S. 123). Im Zuge der performativen Erzeugung von Subjektpositionen werden nun nicht allein Bedeutungen wiederholt, sondern auch gesellschaftlich geteilte Normen reproduziert und stabilisiert. Sprachliche Gewalt folgt einer „Logik der Ortsverschiebung […], die entlang einer Achse von Über- und Unterlegenheit verläuft“ (Herrmann 2015, S. 88): Nicht selten geht die sprachliche Erzeugung des ,kriminellen Anderen‘ mit der „Konstruktion des überlegenen Eigenen einher“ (Petran/Thiel 2012, S. 17). Mit dieser Perspektive rücken Fragen in den Fokus, wer was wie bzw. wen und warum als kriminelles Verhalten in 226

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Geschlecht und Kriminalität Sprache fasst (vgl. Hess/Scheerer 1997, S. 100f.). Mit Butler gesprochen wäre von Interesse, welches kriminelle Verhalten von wem als intelligibler angesehen wird. Wer gilt nach welchen Maßstäben als kriminell? Nach wie vor scheint die Darstellung und Benennung männlicher Kriminalität intelligibler. Sprachliche „Benennungen belasten oder entlasten, rechtfertigen oder diskreditieren, suggerieren Schuld oder entpersonalisieren, transportieren gewisse Handlungsanweisungen“ (Hess/Scheerer 1997, S. 88). Zweitens interessieren Diskurse, die für Michel Foucault wesentliche Träger der Macht sind. „Diskurs ist eine institutionell verfestigte Redeweise, insofern eine solche Redeweise schon Handeln bestimmt und verfestigt und also auch schon Macht ausübt“, so Jürgen Link (1983, S. 60). Subjektbildungsprozesse hängen „von dem Diskurs ab“ (Butler 1991, S. 26). Diskurse „implizieren und legen von vornherein die Möglichkeiten der vorstellbaren und realisierbaren Konfigurationen der Geschlechtsidentität in der Kultur fest“ (Butler 1991, S. 27). Identität, so Butler (1991), ist ein „Effekt diskursiver Praktiken“ (S. 39). Von Bedeutung ist die Frage, was in wirkmächtigen Diskursen markiert, aber auch unmarkiert bleibt. Foucaults (1976) Anliegen ist es, „Diskurse in ihren strategischen Verknüpfungen sichtbar zu machen“ (S. 32). Historisch zeigt er auf, wie die „Intoleranz der Bevölkerung gegen den Delinquenten“ (S. 36) durch Reden über „Furcht [und Angst] vor dem Kriminellen“ (S. 40), der Forderung nach „Kontrolle“ (ebd.) oder auch dem Bedürfnis nach „Ordnung der Dinge“ (S. 40) geschürt wurden. Nicht selten bewirken Kriminalitätsdiskurse eine Stabilisierung der sozialen Ordnung. Der Blick wird auf gesellschaftliche Deutungskämpfe gelenkt, welche Praxen als kriminell benannt werden, welche Diskurse den Gegenstand „Kriminalität“ mit beeinflussen. So weisen auch Henner Hess und Sebastian Scheerer (1997) zu Recht darauf hin, dass „[h]inter der Bezeichnung als Kriminalität […] eine davon unabhängige ontische Realität [fehlt]. […] Spräche man also z.B. beim Ladendiebstahl von einem Ärgernis, bei einem Wohnungseinbruch von einem Problem und bei einem Eifersuchtsmord von einer Lebenskatastrophe, dann löste sich die (falsche) Vorstellung von der Existenz einer Klasse von essentiell zusammengehörigen Phänomenen namens Kriminalität sofort in Luft auf“ (S. 87). Die Autoren zeigen auf, wie beispielsweise „Angst vor Kriminalität in fast jedem Wahlkampf nicht nur (vernünftigerweise) ernstgenommen, sondern auch für andere Interessen schamlos manipuliert und ausgebeutet wird“ (S. 84f.) – beispielsweise für einen „Boom der Sicherheitsindustrien“ (S. 137). Diskurse haben „weitreichende Konsequenzen“ (Butler 2009, S. 10)9, sind handlungsrelevant und legitimieren „politische Programme und Entscheidungen […] und das Verhalten und die Einstellungen der Bevölkerung im Alltag, ihr Verhältnis zu Parteien und Regierungen“ (Hess/Scheerer 1997, S. 129). So verknüpft sich beispielsweise der Diskurs über „Gewalt gegen muslimische und migrantische Frauen […] auf diese Weise mit einem seit den 1990er Jahren andauernden Diskurs über die erreichte Geschlechtergleichheit in westlichen Gesellschaften“ (Petran/Thiel 2012, S. 17; vgl. Knapp 2001). Der Diskurs um Frauen im Rechtsextremismus am Beispiel von Beate Tschäpe zeigt, wie Tschäpe gerade zu Beginn des Prozesses nicht nur als unpolitisch, sondern sexualisiert als ,Freundin von‘ bzw. „Braut eines Nazis“ (Oelhaf 2012) dargestellt wurde. Immer wieder wird auch in medialen Inszenierungen deutlich, dass die Verknüpfungen von Männlichkeit und Gewalt weniger erklärungsbedürftig scheinen, während 9 Butler (2010) spricht in ihrem Buch „Rasterung des Krieges“ von einer „Rasterung“ sprich Hierarchisierung von Verletzbarkeiten, „in der nur bestimmtes Leid als solches wahrgenommen und betrauert wird, während andere Verletzungen in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit nicht als betrauernswert erscheinen“ (Petran/Thiel 2012, S. 19).

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Christiane Micus-Loos sich der Mythos „weiblicher Friedfertigkeit“ (Mitscherlich 1987) hartnäckig zu halten scheint, was im Hinblick auf die Rolle von Frauen bei der Durchsetzung rechtsextremer Deutungsmuster fatale Folgen mit sich bringt (vgl. Bitzan 2011). Auch die „[s]exuelle Gewalt gegen Frauen_Lesben, Schwule und Transpersonen ist nicht denkbar ohne einen gesellschaftlichen Diskurs, der diese Menschen als verletzungsoffen konstruiert und dazu führt, dass Gewalt gegen sie in weiten Gesellschaftsteilen geduldet und legitimiert wird“ (Petran/Thiel 2012, S. 19). Die diskursive Macht, die jemanden auf eine ganz bestimmte Weise anruft, darstellt und zuordnet bzw. die Frage, wer wen wie und warum als kriminell repräsentiert, ist ebenso bedeutsam wie die Frage, warum bestimmte Aspekte in Diskursen unmarkiert bzw. ungesagt bleiben, weil all diese Momente (auch) Auswirkungen auf geschlechtliche Handlungspraxen und Subjektbildungsprozesse haben.

5. Fazit

Ich plädiere für die Notwendigkeit, die aufgezeigten verschiedenen theoretischen Zugänge der Geschlechterforschung für ein Nachdenken über die komplexen Zusammenhänge von Kriminalität und Geschlecht zusammenzudenken und sich dem „Gestus […] von Entweder-Oder“ (Meyer-Drawe 1990, S. 82) zu entziehen. Die differenztheoretische Perspektive sensibilisiert erst einmal für Geschlechterunterschiede im kriminellen Verhalten. Nach wie vor existieren im kulturellen System der Zweigeschlechtlichkeit unterschiedliche Erwartungen an weibliches wie männliches Verhalten in der Familie, der Schule oder auch der Peergroup; Probleme und Krisen werden unterschiedlich zu bearbeiten und zu bewältigen versucht. Kriminalität hat sich „an einem (unterschiedlichen) weiblichen und männlichen Lebenszusammenhang“ (Oberlies 1990, S. 130) und an geschlechtlichen Sozialisationsprozessen zu orientieren. Aber die Analyse muss über eine geschlechterdifferenzierende Betrachtungsweise hinausgehen. So öffnet sich mit dem ethnomethodologischen Konstruktivismus der Blick für vielfältige Differenzierungen, auch innerhalb der Kategorie ,Frau‘ wie ,Mann‘. Nicht alle Jungen und Männer profitieren gleichermaßen vom Patriarchat bzw. hegemonialer Männlichkeit, wie auch Frauen nicht einseitig als Opfer patriarchaler Strukturen angesehen werden sollten. Vielmehr gilt es, die Widersprüche, Brüche und Konflikte innerhalb einer Geschlechtskategorie zu untersuchen. Es gilt, „geschlechtsspezifische Konstruktion[en] von Kriminalität“ (Gransee/Stammermann 1991, S. 91) zu berücksichtigen und sich zu fragen, „ob die Konstruktion von Kriminalität mit den normativen Mustern von Weiblichkeit [und Männlichkeit, Erg. d. Verf.] verschmilzt, ja ob vielleicht sogar die Bilder und Symbole des ,Weiblichkeitsdiskurses‘ [und ,Männlichkeitsdiskurses‘, Erg. d. Verf.] die Konstruktion weiblicher [wie männlicher, Erg. d. Verf.] Kriminalität maßgeblich bestimmen“ (S. 91f.). So zeigt sich, dass männliches gewalttätiges Handeln der Logik hegemonialer Männlichkeit nicht zuwiderlaufen muss, während weibliches Gewalthandeln eher als Opposition gegen tradierte Weiblichkeitsvorstellungen verstanden wird. Neben der Fokussierung auf das ,Wie‘ sind aus poststrukturalistischer Perspektive wirkmächtige Diskurse in die Betrachtung mit einzubeziehen: Welches spezifische Wissen über Kriminelle wird immer wieder in Wissenschaft, Film, Literatur oder auch Print- und Bildmedien vermittelt? Welche Repräsentationen über Kriminalität setzen sich als hegemonial durch? Nur so wird neben der Berücksichtigung von sozialisati228

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Geschlecht und Kriminalität onstheoretischen Ansätzen und Zuschreibungsprozessen auch die Frage nach gesellschaftlich wirkmächtigen Repräsentationen über Kriminalität berücksichtigt, die nicht nur maßgeblich beeinflussen, „was gesagt und wahrgenommen wird“ (Dollinger/Schabdach 2013, S. 13), sondern aus denen intelligible Handlungspraxen und Subjekte hervorgehen.

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233 Medien und Gewalt Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel

1. Einleitung

Am 22. Juli 2016 erschoss der 18-jährige David S. im Münchner Olympia-Einkaufzentrum neun Menschen und verletzte weitere vier, bevor er sich selbst richtete. Wir wählen dieses Beispiel als Einstieg in unseren Beitrag, da sich daran zahlreiche kommunikationswissenschaftliche Fragestellungen rund um das Thema „Medien und Gewalt“ illustrieren lassen. Ein Bereich umfasst die Darstellung von Gewalt in den Medien (Kapitel 2). Bei Amokläufen, aber auch im Rahmen der alltäglichen Berichterstattung über Gewalttaten, stellen sich zunächst ethische Fragen: Wird der Täter gezeigt? Wird sein vollständiger Name genannt? Wie viel Platz räumt man der Berichterstattung ein, wie viel „Bühne“ bietet man damit einem Täter? Diese Entscheidungen werden – gerade im Falle von Terroranschlägen oder Amokläufen – unter enormem Zeitdruck getroffen: Ein großes Informationsinteresse auf Rezipientenseite steht einem „Informationsvakuum“ auf Medienseite gegenüber, was oft dazu führt, dass sich Massenmedien an Spekulationen beteiligen und Informationspausen durch Videomitschnitte oder Bilder des Tatortes füllen. Aber auch abseits solcher extremen Gewaltverbrechen umfasst die alltägliche Berichterstattung Gewaltdarstellung in unterschiedlicher Form: Gewalt, Negativität und Schaden sind zentrale Nachrichtenfaktoren, gewalthaltige Inhalte werden entsprechend nahezu reflexartig publiziert. Das Beispiel des Münchner Amoklaufs eignet sich auch, um die Debatte über die Schädlichkeit fiktionaler, gewalthaltiger Medieninhalte zu illustrieren: Wie auch bei vielen vergangenen Amokläufen spielte David S. Berichten zufolge regelmäßig Ego-Shooter, was kurz nach der Tat erneut eine Diskussion um das Verbot solcher Spiele entfachte. Dahinter steht eine relativ einfache Ursache-Wirkungs-Vermutung: Die Rezeption von gewalthaltigen Spielen führt zu Gewalt im echten Leben. Entsprechend beschäftigt sich ein zweiter Teil der Forschung mit der Frage, ob gewalthaltige Darstellungen eine Wirkung auf die Rezipienten haben und wie diese aussieht. Wie Kapitel 3 zeigen wird, bietet sich dabei ein etwas differenzierteres Bild als die Dichotomisierung in gefährliche vs. ungefährliche Medien, wie sie im öffentlichen Diskurs meist vollzogen wird. Fiktionale Gewaltdarstellungen sind zudem Gegenstand der Diskussion um Jugendschutz; trotz rechtlicher Auflagen und Einschränkungen kommen Kinder und Jugendliche vor allem im Fernsehen vielfach mit Gewaltdarstellungen in Kontakt, sowohl in realer als auch in fiktionaler Form. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema Medien und Gewalt aus zwei Perspektiven: Der Darstellung von Gewalt in den Medien und der Wirkung von gewalthaltigen Inhalten auf Rezipienten. Neben rechtlichen Rahmenbedingungen und Befunden zur Darstellung

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Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel und Wirkung von Mediengewalt geht der Beitrag vor allem auch auf ethische Fragen im Zusammenhang mit Gewaltdarstellungen ein.

2. Zur Darstellung von Gewalt in den Medien

Der Begriff Gewalt wird in der Forschung unterschiedlich definiert. Die wohl am häufigsten zitierte Definition ist die relativ breit angelegte von Früh (2001); danach ist Gewalt „die realisierte oder beabsichtigte, bewusste (nicht unbedingt geplante) Schädigung von Personen, Tieren, Pflanzen oder Sachen“ (S. 39). Unter diese Definition fallen auch Tatbestände, die einem durch das Alltagsverständnis von Gewalt möglicherweise nicht unmittelbar in den Sinn kommen, z.B. Mobbing oder Drohungen. In der Strukturierung von Merten (1999) wird entsprechend unter anderem auch zwischen physischer und psychischer Gewalt unterschieden. Einige Definitionen fokussieren auf personale Gewalt, also die Schädigung anderer durch eine Person, im Gegensatz zur strukturellen Gewalt (z.B. Ungerechtigkeit innerhalb eines Systems, Kunczik 1994). Einige Autoren schließen in ihre Definitionen auch nicht-intentionale bzw. natürliche Gewalt mit ein, worunter dann z.B. auch Naturkatastrophen fallen (Gleich/Groebel 1993, S. 49). Dies wird in der Gewaltforschung kritisch diskutiert, da einige Forscher argumentieren, dass für die Wirkung die Intentionalität der Tat den entscheidenden Faktor darstellt (vgl. Diskussion bei Kunczik/Zipfel 2006, S. 44). Welche Definition man Untersuchungen zugrunde legt, ist auch entscheidend für die Beantwortung der Frage, wie viel Gewalt in den Medien vorkommt. Entsprechend kommen Inhaltsanalysen hier zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen (vgl. nachfolgende Kapitel). Die Darstellung von Gewalt in den Medien ist an einige rechtliche Rahmenbedingungen geknüpft (vgl. dazu Früh/Brosius 2008; Gleich 2004). Durch das Strafgesetzbuch ist die Darstellung und Verbreitung von Inhalten untersagt, die zum Rassenhass anstacheln, Gewalt verharmlosen oder in menschenverachtender Weise darstellen. Darüber hinaus ist Gewalt im Zusammenhang mit sexuellen Darstellungen strikt reglementiert. Durch das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften ist der Zugang von Jugendlichen zu gewalthaltigen Inhalten geregelt. Potenziell jugendgefährdende Inhalte werden durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) geprüft und indiziert. Solche Inhalte dürfen nicht an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden, für Erwachsene wird der Zugang zumindest erschwert. Im Rundfunkstaatsvertrag ist festgelegt, dass indizierte Sendungen nur zwischen 23 und 6 Uhr ausgestrahlt werden dürfen. Zusätzlich dazu legt die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) Altersempfehlungen für Filme und Videoinhalte fest, an der sich die Fernsehsender bei der Sendezeit von solchen Inhalten orientieren (z.B. werden Filme mit einer Altersfreigabe ab 16 Jahren erst nach 22 Uhr gezeigt). Maurer und Reinemann (2006) unterscheiden zwischen der Darstellung realer Gewalt in der Berichterstattung und fiktionaler Gewalt in Unterhaltungsangeboten. Diese Unterscheidung ist nicht nur aufgrund der Art von Gewalt sinnvoll, sondern auch hinsichtlich der Motivation, Gewalt darzustellen: Während die Berichterstattung über reale Gewalt auf das Informationsbedürfnis der Gesellschaft abzielt und entsprechend bewertet wird, stehen für fiktionale Inhalte

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Medien und Gewalt das Unterhaltungsbedürfnis im Vordergrund bzw. wird auf die künstlerische Freiheit verwiesen.

2.1 Gewalt in der alltäglichen Berichterstattung Wenn im öffentlichen Diskurs von Gewalt in den Medien die Rede ist, geht es meist um fiktionale Gewalt im Fernsehen oder in Computerspielen. Gewalt begegnet uns aber auch in der alltäglichen Berichterstattung, überwiegend in Form von Verbrechen und Kriminalität bzw. Kriegsberichterstattung. Im kommunikationswissenschaftlichen Kontext sind hier zunächst die Selektionskriterien interessant, die zur Auswahl gewalthaltiger Nachrichten führen. Die hohe Publikationswahrscheinlichkeit von Gewalt lässt sich durch die Nachrichtenwerttheorie erklären (vgl. ausführlich Maier et al. 2010): Ereignissen bzw. Nachrichten werden bestimmte Faktoren zugeschrieben, die ihre Publikationswürdigkeit bestimmen. Solche Nachrichtenfaktoren sind z.B. Prominenz, Reichweite, Nähe des Ereignisortes oder Überraschungen – aber eben auch Negativität, Schaden und Aggression (Maier et al. 2010). Je mehr Nachrichtenfaktoren auf eine Nachricht zutreffen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Nachricht im Mediensystem weitergeleitet und publiziert wird (Kepplinger 1998). Die News-Bias-Forschung beschäftigt sich mit der Frage, welche systematischen Verzerrungen in der Berichterstattung im Vergleich zur Realität vorkommen. Empirisch konnte hier ermittelt werden, dass Verbrechen und Kriminalität eine höhere Publikationschance haben als andere Sachverhalte (Staab 1990). Dazu zeigen Untersuchungen, dass eine relativ starke Verzerrung in Richtung extremer Gewalt besteht: Sexual- und Tötungsdelikte kommen in den Medien sehr häufig bzw. an prominenter Stelle vor, obwohl sie in der Realität nur einen geringen Anteil an Verbrechen ausmachen; Diebstahl und andere leichtere Vergehen kommen dagegen überproportional selten vor (Grimm et al. 2005; van Um et al. 2015). In der Forschung spricht man hier von einem „Crime Bias“ der Berichterstattung. Brosius und Esser (1995) konnten zudem zeigen, dass spektakuläre Verbrechensfälle als eine Art Schlüsselereignis fungieren und in der Folge Berichterstattung über ähnliche Fälle nach sich ziehen, die es sonst nicht – oder zumindest nicht prominent – in die Medien geschafft hätten, wodurch der Eindruck einer regelrechten Gewaltwelle entstehen kann.

2.2 Ethische Überlegungen zur Darstellung von Gewalt in der Berichterstattung Neben der Frage, wie häufig (welche Form von) Gewalt in den Medien dargestellt wird, ist auch die Frage nach der Detailliertheit der Darstellungen wichtig, z.B. ob man Bilder oder Namen der Täter oder Einzelheiten zum Tathergang veröffentlicht. Überlegungen dazu betreffen unterschiedliche Aspekte: Zunächst geht es um ethische Fragen, z.B. die Würde von Opfern, Tätern und Angehörigen. Im Rahmen des Amoklaufs in München rügte der Deutsche Presserat die Veröffentlichung von Portrait-Bildern der Opfer auf Bild.de, die deren Facebook-Profilen entnommen wurden. Die Veröffentlichung von Name und Foto des Täters hingegen wurde als zulässig erachtet: „Das öffentliche Interesse am Täter ist höher zu bewerten als der Schutz der Persönlichkeit“ (Deutscher Presserat 2016, S. 1).

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Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel Ethische Überlegungen zur Darstellung einer Gewalttat betreffen aber auch die Frage, was man dem Publikum zumuten darf. Einige Untersuchungen konnten eine deutliche Zunahme der visuellen Darstellung von Gewalt in der Berichterstattung zeigen, unter anderem Bilder von Tatorten oder Opfern (Bruns/Marcinkowski 1997; Winterhoff-Spurk et al. 2005; für einen ausführlichen Überblick siehe Maurer/Reinemann 2006). Dies liegt vor allem auch daran, dass den Medien in der heutigen Zeit durch soziale Netzwerkseiten und Smartphones deutlich mehr Bilder zur Verfügung stehen: Das Video des Amokläufers in München, das ihn beim Schießen auf Passanten zeigt und auf allen Fernsehsendern zu sehen war, wurde von einer Passantin aufgenommen. Unter anderem wegen der Ausstrahlung dieses Videomitschnitts gab es im Rahmen des Münchner Amoklaufs eine ungewöhnlich hohe Anzahl an Zuschauerbeschwerden. Der gewalthaltige Inhalt des Videos sowie dessen Ausstrahlung am folgenden Nachmittag sahen einige Zuschauer als Verstoß gegen den Jugendschutz (Hausner 2016). Solche Beschwerden sind vor allem im Lichte des andauernden Vorwurfs, die Medien zeigen lediglich, was das Publikum sehen wolle, interessant. „Die Qualität der Beschwerden zeigt eine erfreulich kritische Kompetenz des Publikums“, so Uwe Conrad, Direktor der Landesmedienanstalt Saarland (die Medienanstalten 2016). Die Diskussion um die Angemessenheit von Gewaltdarstellungen rangiert zwischen realitätsgetreuer Darstellung auf der einen Seite und unangemessen sensationalistischer Berichterstattung auf der anderen. Gerade im Kontext von Kriegen und gewalthaltigen Konflikten werden in den Medien Aufnahmen gezeigt, die die öffentliche Diskussion spalten. In einem Artikel zum Bürgerkrieg in Liberia 2003 zeigte die BILD-Zeitung unter der Überschrift „Blut-Hölle Afrika“ das Foto eines Kämpfers mit abgetrenntem Kopf eines Gegners in der Hand. Der deutsche Presserat wies die zahlreichen Leserbeschwerden zurück, mit der Begründung, dass eine Darstellung der „realen Schrecken des Krieges“ zu einer faktentreuen Berichterstattung gehöre und solche Bilder „Aufmerksamkeit für Krieg und Gräuel sowie Mitgefühl mit den Opfern“ wecken könne (Langer 2005, S. 1). Die Veröffentlichung eines Standbilds aus einem IS-Video von 2004, das einen IS-Kämpfer mit abgetrenntem Kopf des 2012 getöteten US-Journalisten Nicholas Berg zeigte, führte dagegen zu einer öffentlichen Rüge der BILD-Zeitung durch den Presserat. Gerade im Zusammenhang mit Terrorakten und Amokläufen ist die Frage, wie viel Aufmerksamkeit man einer solcher Tat schenkt, auch aus einem anderen Grund wichtig: die Gefahr von Nachahmungstaten (Brosius/Weimann 1991; Egg 2012, siehe auch Kapitel 3.2). Die öffentliche Aufmerksamkeit ist für einige Gewalttäter das Ziel von Anschlägen, und die umfangreiche Berichterstattung kann dazu führen, dass andere sich „auch trauen“. Laut Aussagen eines Mitwissers verehrte der Amokläufer von München Anders Breivik, der bei einem Amoklauf 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete. Der wohl spektakulärste Fall in Bezug auf übersteigerte Aufmerksamkeit für Gewalttäter war das Geiseldrama von Gladbeck 1988. Als Reaktion darauf wurde im Pressekodex ein Satz aufgenommen, nach dem sich Journalisten „nicht zum Werkzeug von Verbrechern“ machen lassen sollen (Deutscher Presserat 2015). Ein Großteil der Forschung zu Nachahmungstaten findet sich im Bereich Suizide. Der Pressekodex schreibt hier Zurückhaltung in der Berichterstattung vor; entsprechend wird über Suizid meist nur bei öffentlichem Interesse, etwa im Fall von Prominenten, berichtet. Obwohl diese Regelung aus ethischer Sicht zu begrüßen ist, bleibt sie aus der Wirkungsperspektive problematisch, da gerade Suizide von Prominenten die größten Nachahmungswellen auslösen (Schmidtke/Schaller 2001). 236

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2.3 Gewalt in Unterhaltungsformaten Während sich Gewalt in Nachrichten zumindest teilweise durch den Informationsanspruch der Formate rechtfertigen lässt, ist die Legitimation von Gewalt in Unterhaltungsangeboten schwieriger. Entsprechend sind solche Inhalte auch stärker Gegenstand der öffentlichen Debatte zum Thema Mediengewalt. Warum wird Gewalt zu Unterhaltungszwecken inszeniert? Dass das Publikumsinteresse an solchen Darstellungen vorhanden ist, zeigt ein Blick auf aktuelle Zahlen zum Zuschauerverhalten. Inhalte, die sich um Kriminalität drehen, sind bei den Deutschen besonders beliebt: Krimis, Thriller und Krimikomödien machten 2015 mit rund 44 Prozent den größten Anteil an der Unterhaltungsnutzung der Deutschen aus, die Sendereihe Tatort ist mit rund neun Millionen Zuschauer im Schnitt das erfolgreichste Sendeformat und führt auch die Liste der meistgesehenen Einzelsendungen an (Zubayr/Gerhard 2016). Der Tatort ist immer wieder wegen exzessiver Gewaltdarstellungen in der Kritik. Oliver und Kollegen (2007) konnten in einem Experiment zeigen, dass Rezipienten sich bessere Unterhaltung von einem Film erwarten, wenn der Trailer Elemente von Sex und Gewalt enthält. In der Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich ein ganzer Forschungszweig mit der Frage, warum sich Menschen medialer Gewalt zu Unterhaltungszwecken aussetzen (für einen Überblick vgl. Kunczik/ Zipfel 2006). Ein Großteil der Untersuchungen zu Gewalt in Medien bezieht sich auf das Fernsehen oder andere audiovisuelle Inhalte. Die erste groß angelegte Studie zur Untersuchung von Mediengewalt wurde in den dreißiger Jahren im Rahmen der sogenannten Payne Fund Studies durchgeführt, die sich mit Gewalt in US-amerikanischen Kinofilmen und deren Auswirkungen auf Jugendliche beschäftigten. Schon damals zeigte sich, dass Gewalt neben Liebe und Sex das häufigste Thema in Spielfilmen war (Dale 1935). Gerbner und Kollegen führten im Zeitraum zwischen 1960 und 1990 Gewaltprofilanalysen für das US-amerikanische Fernsehprogramm durch; diese bildeten die Grundlage für ihre Forschung zu Kultivierungseffekten (siehe auch Kapitel 3.1). Sie verglichen die Ergebnisse mit offiziellen Kriminalitätsstatistiken und konnten unter anderem zeigen, dass im Fernsehen mehr – und vor allem mehr schwere – Gewaltdelikte vorkommen und entsprechend deutlich mehr Personen in Gewalthandlungen verwickelt sind als in Wirklichkeit (z.B. Gerbner et al. 1987). An dieser Stelle sei nochmals darauf verwiesen, dass die zugrunde gelegte Definition von Gewalt entscheidend für die Interpretation solcher Ergebnisse ist. So kritisieren Kunczik und Zipfel (2006, S. 43) an den Studien: „Die berühmte Torte im Gesicht, ‚Gewaltakte‘ von Donald Duck, Dick und Doof oder Tom und Jerry, Autounfälle, Unwetterkatastrophen, Erdbeben, Feuersbrünste usw. werden auf ein Niveau mit kaltblütigem Mord gesetzt. Das ist – vorsichtig formuliert – ein sehr zweifelhaftes Verfahren“. Daran schließt auch die Frage an, ob Gewalthandlungen in Comics überhaupt als Mediengewalt gelten sollen – vor allem, da gerade in Zeichentrickfilmen viel Gewalt vorkommt. Yokota und Thompson (2000) konnten bei ihrer Untersuchung von 74 US-Zeichentrickfilmen in jedem der untersuchten Filme mindestens einen Gewaltakt finden. Gewalt wurde dabei zumeist von den Helden des Films verübt, um die Bösen zu besiegen. Dabei stehen die Gewaltopfer in der Regel im nächsten Moment schon wieder unversehrt da, was oft als Verharmlosung von Gewalt gedeutet wird. Rathmann (2004) führte eine qualitative Studie zur Rezeption von gewalthaltigen Zeitentrickfilmen durch. Sie konnte zeigen, dass Kinder über die Gewalt in den Filmen lachen, weil sie sich des Unterschieds zu realer Gewalt bewusst sind.

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Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel Groebel und Gleich (1993) legten eine der ersten Gewaltprofilanalysen für das deutsche Fernsehen vor (auch hier wurde nicht-intentionale Gewalt miteingeschlossen). Sie untersuchten das gesamte Fernsehprogramm über den Zeitraum einer Woche. Die Autoren fanden in knapp 48 Prozent der Programme gewalthaltige Handlungen; ein Fernsehzuschauer wurde durchschnittlich fünfmal pro Stunde mit einer Gewalttat konfrontiert. Die meiste Gewalt war in fiktionalen Angeboten zu sehen, vor allem in amerikanischen Serien oder Spielfilmen; etwa ein Viertel der Gewalthandlungen kam in Zeichentrickserien vor. Auch Lukesch und Kollegen (2004) fanden den größten Gewaltanteil in fiktionalen Unterhaltungssendungen (94 Prozent), gefolgt von Kindersendungen (89 Prozent) und Informationssendungen (78 Prozent). Insgesamt nahmen Gewalthandlungen rund 5 Prozent der Gesamtsendezeit ein, in rund 80 Prozent aller Sendungen kam Gewalt vor.

3. Zur Wirkung von Gewalt in den Medien 3.1 Theoretische Ansätze Neben der Darstellung von Gewalt in den Medien hat sich die kommunikationswissenschaftliche und medienpsychologische Forschung – theoretisch wie empirisch – vor allem der Wirkung von Gewalt in den Medien zugewendet. Im Fokus stehen dabei mögliche Effekte, die sich durch die Rezeption realer (z.B. in Nachrichtensendungen) bzw. fiktionaler (z.B. in Fernsehserien oder Cartoons) medienvermittelter Gewalt ergeben können. Darüber hinaus werden auch solche Effekte untersucht, die mit der Nutzung von interaktiven gewalthaltigen Medienangeboten – vor allem Video- und Computerspielen – in Verbindung gebracht werden. Die Medien-und-Gewalt-Forschung hat vor diesem Hintergrund eine Vielzahl an Erklärungsansätzen zur Wirkung von Gewalt in den Medien hervorgebracht. Kunczik und Zipfel (2006) unterscheiden insgesamt 14 theoretische Ansätze, die sich auf Basis des unterstellten Wirkzusammenhangs (keine, negative, positive oder ambivalente Wirkung) jedoch unter vier übergeordneten Thesen subsumieren lassen (siehe Brosius/Kümpel 2014; nachfolgend auch Früh/ Brosius 2008; Kunczik/Zipfel 2010): 1. These der Wirkungslosigkeit („Nullhypothese“): Wie der Name bereits suggeriert, postuliert die These der Wirkungslosigkeit, dass – von pathologischen Einzelfällen abgesehen – keinerlei Zusammenhang zwischen Mediennutzung und realer Gewalt besteht. Medienvermittelte Gewaltdarstellungen seien mithin für die Entstehung tatsächlicher Gewalttätigkeit nicht von Bedeutung und einzelne Nachahmungstaten auf gesamtgesellschaftlicher Ebene irrelevant. Zwar wird die grundsätzliche Wirkmächtigkeit von Medien nicht geleugnet; die Annahme einfacher Kausalbeziehungen wird von den Vertretern dieser These jedoch bestritten. 2. Stimulationsthese: Die Stimulationsthese geht davon aus, dass die Bereitschaft zu eigener Gewaltanwendung durch die Rezeption gewalthaltiger Medieninhalte gesteigert (stimuliert) werden kann – aber nicht muss. Vielmehr entscheidet eine Vielzahl intervenierender Variablen darüber, ob es beim Individuum tatsächlich zu einer Zunahme aggressiven Verhaltens

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Medien und Gewalt kommt. Dabei wurde insbesondere der Einfluss von (durch Medieninhalte erzeugten) negativen Affekten auf aggressives Verhalten diskutiert und etwa unter Annahme der Frustrations-Aggressions-Hypothese gezeigt, dass ein durch Frustration bewirkter Zustand emotionaler Erregung aggressives Verhalten fördern kann (Berkowitz 1969, 1990). 3. Katharsis- und Inhibitionsthese: Katharsis- und Inhibitionsthese sind die einzigen Theorieentwürfe, die der Rezeption von gewalthaltigen Medieninhalten eine positive Wirkung zuschreiben, d.h. von einer Verminderung aggressiven Verhaltens bzw. der Förderung prosozialen Verhaltens ausgehen. Gemäß der bereits auf Aristoteles zurückgehenden Katharsisthese verfügen alle Menschen über einen natürlichen Aggressionstrieb, den sie gelegentlich ausleben müssen. Dies muss jedoch nicht notwendigerweise in Form realer Gewaltakte geschehen, sondern kann ‚stellvertretend‘ in der eigenen Fantasie vollzogen werden. Durch die Beobachtung und das gedankliche Miterleben von in den Medien dargestellter Gewalt kann der eigene Aggressionstrieb mithin abgeleitet und dadurch reale Aggression vermieden werden. Obwohl die Katharsisthese bis heute nicht mit anerkannten Methoden nachgewiesen werden konnte, wird sie in der öffentlichen Debatte – insbesondere von Vertretern der Computerspielindustrie – immer wieder als Beleg für die positive Wirkung von Mediengewalt angeführt. Im Rahmen der Inhibitionsthese hingegen wird angenommen, dass die (insbesondere realistische) Darstellung von Gewalt angstauslösend wirkt und die entstehende Angst dafür sorgt, dass die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten sinkt. Ähnlich wie bei der Katharsisthese fehlt es auch bei der Inhibitionsthese jedoch an aussagekräftigen empirischen Belegen. 4. Ambivalenzthese: Folgt man der Ambivalenzthese, kann der Konsum medialer Gewalt je nach Gemengelage eigenes aggressives Verhalten sowohl verhindern als auch erzeugen. Je nachdem, welche Umgangsweisen mit gewalthaltigen Stimuli erlernt wurden, kann somit ein und derselbe Medieninhalt aggressionshemmend, -auslösend oder überhaupt nicht wirken. Obwohl die Ambivalenzthese durch die mehrdeutige Richtungsvermutung kaum für eine empirische Prüfung geeignet ist, öffnet sie die Augen für mögliche personenbezogene Einflussfaktoren, die die Wirkung von gewalthaltigen Medieninhalten moderieren können. Der vielleicht prominenteste theoretische Ansatz, der sowohl geeignet ist, angstauslösendes als auch aggressivitätssteigerndes Potenzial von gewalthaltigen Medieninhalten zu erklären, ist die Theorie des Beobachtungslernens (z.T. auch als Theorie des sozialen Lernens oder schlicht Lerntheorie bezeichnet; Bandura 1979). Diese konzipiert Verhalten als Resultat einer Wechselwirkung aus Person und Umwelt und unterscheidet dabei zwei Stufen: Auf der ersten Stufe bauen Menschen durch Beobachten Anderer ein Verhaltensrepertoire auf, das ihnen fortan zumindest potenziell zur Verfügung steht. Das gelernte Verhalten muss jedoch nicht zwingend auch zur Anwendung kommen. Ob ein gelerntes Verhalten ausgeübt wird, hängt dann auf der zweiten Stufe u.a. von der (Ähnlichkeit der) Situation, der Verfügbarkeit der Mittel sowie den erwarteten Konsequenzen ab (siehe ausführlich auch Brosius/Esser 1995, S. 41 ff.; Kunczik/ Zipfel 2006, S. 149 ff.). Sieht ein Jugendlicher in einer TV-Serie etwa, wie der Protagonist eine Waffe zückt, um sich in einer Konfrontationssituation zu behaupten, liegt die Information „Waffen können erfolgreich zur Problemlösung eingesetzt werden“ zunächst als impliziter Wissensbestand vor. Ob der Jugendliche dieses Wissen in einer vergleichbaren Lage anwendet, ist jedoch davon abhängig, wie stark die Lage des Jugendlichen den in der Serie dargestellten

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Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel Umständen tatsächlich entspricht (Ähnlichkeit der Situation), ob er überhaupt im Besitz einer Waffe ist (Verfügbarkeit der Mittel) und wie der Erfolg der Handlung sowie mögliche Folgen wie eine Strafanzeige oder eine eigene Verletzung abgeschätzt werden (erwartete Konsequenzen). Die soziale Lerntheorie hat in der Medien-und-Gewalt-Forschung auch deshalb große Bedeutung erlangt, weil sie geeignet ist, andere theoretische Ansätze in einen größeren Bezugsrahmen zu stellen. So lässt sich etwa der Kultivierungsansatz hier verorten, wenn man den Prozess der Kultivierung als spezielle Form des sozialen Lernens begreift. Der auf George Gerbner zurückgehende Ansatz (Gerbner/Gross 1976; für einen Überblick siehe Gerbner 1998) konzipiert Kultivierung als langfristigen Beeinflussungsprozess, im Zuge dessen vor allem das Fernsehen das Weltbild der Rezipienten in Richtung medialer Darstellungen verändert. Es wird postuliert, dass das Fernsehen aufgrund seiner weiten Verbreitung und überwiegend realitätsnahen Darstellung sowohl quantitative Einschätzungen (Kultivierung 1. Ordnung, z.B. „Es gibt viele Diebstähle auf der Welt“) als auch Einstellungen, die sich aus diesen Einschätzungen ergeben (Kultivierung 2. Ordnung, z.B. „Ich würde nie in einer Wohnung ohne Panzerriegel leben“), beeinflussen kann. Die Annahmen besagen darüber hinaus, dass insbesondere diejenigen Rezipienten, die häufig und ausgiebig fernsehen („Vielseher“), die Realität eher so einschätzen, wie sie im TV dargestellt wird. Im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Ansätzen geht es im Rahmen des Kultivierungsansatzes nicht primär um den Zusammenhang zwischen der Rezeption von Mediengewalt und realer Gewalt, sondern vielmehr um die Entstehung von Angst oder sozialem Misstrauen. Ausdruck findet dies in dem von Gerbner als mean world syndrome bezeichneten Phänomen, demzufolge die häufige Darstellung von Kriminalität und Gewalt in den Medien insbesondere Vielseher zu einer negativeren Weltsicht veranlasst. Meta-Analysen deuten auf einen eher geringen, aber beständigen Effekt hin und bestätigen damit die prinzipielle Gültigkeit des Kultivierungsansatzes (Morgan/Shanahan 1997; Dossche/Van Den Bulck 2010). Kultivierungseffekte finden sich dabei nicht nur für fiktionale, sondern auch für non-fiktionale TV-Angebote: So fanden etwa Romer und Kollegen (2003) in drei verschiedenen Studien auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene einen Zusammenhang zwischen der Rezeptionsdauer von lokalen Fernsehnachrichten und der Angst vor Kriminalität und Gewalt. Dies deckt Gerbners Grundannahme, dass es sich beim Fernsehen um ein „relatively coherent system of images and messages“ (Gerbner et. al. 1994, S. 18) handelt, das mithin formatunabhängig ähnliche (Kultivierungs-)Effekte provoziert. Ein integratives Konzept, das die Annahmen verschiedener Theorien zur Entstehung von Aggression bzw. gewalttätigem Verhalten verbindet, ist das von Anderson und Bushman (2002) entwickelte General Aggression Model (GAM), das personale, situative und motivationale Einflussfaktoren zusammenführt. Dem GAM zufolge kann gewalttätiges Verhalten als Aktivierung bestimmter, kurz- oder langfristig gelernter, Strukturen im Gehirn verstanden werden. Übertragen auf die Effekte medialer Gewalt legt das GAM nahe, dass gewalthaltige Medieninhalte Aggressionen steigern können, indem sie modellhaft zeigen, wie Gewalt ausgeübt wird und so Erregung steigern oder aggressive Kognitionen und Emotionen evozieren können.

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3.2 Empirische Befunde Die Vielzahl an theoretischen Ansätzen sowie die daraus generierten empirischen Befunde zur Wirkung von Gewalt in den Medien verlangen nach einem systematischen Forschungsüberblick, der die Erkenntnisse einzelner Studien integriert. Dazu eignen sich Meta-Analysen, die in der Medien-und-Gewaltforschung bereits mehrfach und für verschiedene Inhaltstypen und abhängige Variablen durchgeführt worden sind (für einen Überblick über Meta-Analysen aus den Jahren 1977 bis 2001 siehe Comstock/Scharrer 2003; aktuell für jegliche Formen gewalthaltiger Medieninhalte Bushman/Huesmann 2006, sowie Anderson et al. 2010 und Greitemeyer/ Mügge 2014 für gewalthaltige Videospiele). Eine groß angelegte Meta-Analyse von Bushman und Huesmann (2006), die die Effekte von einer Vielzahl gewalthaltiger Medienangebote (u.a. Darstellungen in TV, Filmen, Videospielen, Musik und Comicbüchern) bei Kindern und Erwachsenen in den Blick genommen hat, offenbart einen schwachen bis mittleren positiven Zusammenhang zwischen der Rezeption gewalthaltiger Inhalte und aggressivem Verhalten (r =.19), aggressiven Gedanken (r =.18), Wutgefühlen (r =.27), sowie physiologischer Erregung (r =.26). Daneben zeigte sich ein schwacher negativer Zusammenhang zwischen der Rezeption gewalthaltiger Inhalte und (prosozialem) Hilfeverhalten (r = -.08). Die Autoren konnten zudem zeigen, dass die kurzfristigen negativen Effekte von gewalthaltigen Medienangeboten bei Erwachsenen stärker ausfallen als bei Kindern, langfristige negative Effekte jedoch stärker bei Kindern auftreten. Entsprechend müsse man, so die Autoren, insbesondere Kinder vor der wiederholten Rezeption gewalthaltiger Inhalte schützen. Angesichts der steigenden Bedeutsamkeit von Computer- und Videospielen sowie der Befürchtung, dass deren immersions- und identifikationsfördernder Charakter negative Auswirkungen noch verstärkt, hat sich die Forschung in den letzten Jahren zunehmend der Frage zugewendet, wie interaktive gewalthaltige Medienangebote Kognitionen und Verhalten beeinflussen. Die aktuellste Meta-Analyse, die sich diesem Zusammenhang widmet, stammt von Greitemeyer und Mügge (2014) und nimmt die Daten von fast hundert Studien mit über 36.000 Teilnehmern in den Blick. Da die Autoren sowohl die Auswirkungen gewalthaltiger als auch prosozialer Videospiele analysieren, können sie zeigen, dass 1) ein positiver Zusammenhang zwischen der Nutzung gewalthaltiger Videospiele und aggressivem Verhalten besteht (r =.18), aber auch, dass 2) ein positiver Zusammenhang zwischen prosozialen Videospielen und Hilfeverhalten existiert (r =.22). Videospiele scheinen soziales Handeln also ganz generell zu beeinflussen, weshalb die häufig in der öffentlichen Debatte vorgebrachte Aussage „Videospiele machen aggressiv“ in ihrer Generalität genauso unzulässig ist wie „Fernsehen macht dumm“. Die Vielzahl an Meta-Analysen lässt die Schlussfolgerung zu, dass aggressive Medieninhalte tatsächlich einen kausalen Risikofaktor für gesteigerte(s) aggressives Verhalten sowie aggressive Kognitionen darstellen, wobei die Zusammenhangsmaße überwiegend für eine schwache bis mittlere Beziehung sprechen. Allerdings sollte trotz der Vorteile von Meta-Analysen bedacht werden, dass jede Studie individuelle Stärken und Schwächen hat sowie mit unterschiedlichen Stichproben und Operationalisierungen arbeitet, was bei einer metaanalytischen Betrachtung fraglos außer Acht geraten kann. Entsprechend sollte das Ziel neben Verallgemeinerung auch Präzisierung sein, um relevante Einflussvariablen im Wirkungsprozess identifizieren zu können. Ein weiterer Forschungszweig in der Medien-und-Gewaltforschung hat sich einem besonderen Aspekt möglicher Wirkungen von Gewalt in den Medien angenommen – den Nachahmungstaten. Große Beachtung erhält hierbei die Untersuchung des sog. „Werther-Effekts“, d.h. die

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Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel Zunahme von Suizidfällen nach der Veröffentlichung von Berichten über Suizide (für einen systematischen Überblick siehe Stack 2000). Für diesen Beitrag deutlich relevanter ist jedoch die Frage, wie sich fiktionale Gewaltdarstellungen und/oder die aktuelle Berichterstattung in den Medien auf Gewalttaten wie Amokläufe, Morde oder sonstige Straftaten auswirken. Bereits 1971 berichteten Berkowitz und Macaulay (1971) über die „Ansteckung“, die sich durch sensationelle Berichterstattung über Morde in den Massenmedien ergibt. Auch Phillips (1983) zeigt gute zehn Jahre später, dass nach Ausstrahlung von Schwergewichtsboxkämpfen eine signifikante Zunahme von Mord- und Totschlagsdelikten zu verzeichnen war. Ähnlich Zusammenhänge zeigen sich nach Amokläufen und Gewalttaten an Schulen, die nachweislich eine starke Zunahme an Gewaltandrohungen – und teilweise auch deren Umsetzung – nach sich ziehen (Kostinsky et al 2001; Leuschner et al. 2016). Im Kontext der Berichterstattung über PKK- und Kurden-Gewalt konnten Scheufele und Brosius (2001) zudem belegen, dass die Berichterstattung über Gewalt von Ausländern reale Gewalt gegen Ausländer hervorrufen kann. Allerdings kann dies nicht einzig auf die Berichterstattung zurückgeführt werden, sondern ist vielmehr das Resultat einer Wechselwirkung zwischen (1) dem damaligen ‚objektiven’ Problem der PKK-Gewalt, (2) der wahrgenommenen Bedrohung durch Kurden im öffentlichen Bewusstsein und politischen Diskurs, (3) der Berichterstattung der Massenmedien sowie (4) der Gewaltbereitschaft fremdenfeindlich motivierter Personen. So lässt sich allgemein schlussfolgern, dass Medien als Katalysatoren für Nachahmungstaten fungieren können, jedoch nicht der einzige Auslöser sind. Oft lässt sich dabei aber nicht trennen, ob die fiktionalen Inhalte oder die Berichterstattung über sie zu Nachahmungstaten führen. Betrachtet man mögliche Faktoren, die die Wirkung von gewalthaltigen Medieninhalten beeinflussen können, sind dabei neben Eigenschaften des Medieninhalts vor allem Eigenschaften von Rezipienten sowie ihres sozialen Umfelds relevant (vgl. nachfolgend Kunczik/Zipfel 2006, S. 249 ff.; Früh/Brosius 2008; Kunczik/Zipfel 2010). Was Inhaltsmerkmale betrifft, so scheinen sich negative Wirkungen verstärkt dann zu offenbaren, wenn die Gewaltanwendung legitim erscheint, ein dem Rezipienten ähnlicher und vorbildhafter Protagonist gewalttätig wird oder negative Konsequenzen (z.B. Leiden der Opfer) nicht dargestellt werden. Mit Bezug auf Rezipientenmerkmale zeigte sich in der bisherigen Forschung, dass Männer etwas mehr als Frauen, Jüngere etwas mehr als Ältere sowie Personen, die bereits ein höheres Aggressivitätsniveau aufweisen, stärker von negativen Effekten betroffen sind. Zuletzt legen die Befunde mit Blick auf das soziale Umfeld (z.B. Familie, Freundeskreis, Schule) nahe, dass vor allem jene Rezipienten anfällig für die negativen Effekte von Mediengewalt sind, die in Haushalten mit ausgeprägtem Medien(gewalt)konsum leben, im „echten“ Leben einem hohen Maß an Gewalt ausgesetzt sind oder Teil von delinquenten Peer-Groups sind. Ganz generell bleibt festzuhalten, dass die Rezeption von Mediengewalt nur einer von vielen Risikofaktoren ist, wenn es darum geht, reales aggressives Verhalten zu erklären. Nichtsdestotrotz kann die Nutzung gewalthaltiger Medieninhalte bei einzelnen Rezipienten, die sich in besonderen sozialen Situationen befinden, ein ungleich größeres Risiko darstellen.

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Medien und Gewalt

4. Fazit

Die (kommunikations- und medien-)wissenschaftliche Behandlung des Themenkomplexes Gewalt wird in regelmäßigen Abständen durch eine gesellschaftliche Diskussion überlagert, verzerrt und konterkariert. Nahezu reflexartig wird nach jedem herausragenden Gewaltereignis (Amoklauf, Selbstmordattentat, Fememord etc.) in der Berichterstattung die Rolle der Medien thematisiert. Meist geschieht dies unter Zuhilfenahme unzulässiger Rückschlüsse und fragwürdiger Experten. So gibt es beispielsweise nach jedem Amoklauf eines Jugendlichen – zuletzt in München – Berichte aus dem Umfeld, dass der Täter gewalthaltige Computerspiele wie Counterstrike gespielt habe. Der journalistische Schluss, dass dies offenbar den Gewaltausbruch kausal verursacht hat, ist unzulässig und wissenschaftlich nicht haltbar. Man müsste ja erklären können, warum all die vielen Millionen anderer Jugendlicher, die dieses Spiel auch spielen, nicht auch zu Amokläufern werden. Die Frage, ob Gewaltdarstellungen in Medien schädliche Wirkungen auf Rezipienten haben oder nicht, ruft auch regelmäßig verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen auf den Plan. Die Film- und Fernsehindustrie sowie auch Spieleentwickler dürften eher ein Interesse daran haben, dass Gewaltdarstellungen harmloser Natur sind, während Erzieher und konservative Strömungen eher eine schädliche Wirkung unterstellen. „Das Fernsehen ist [die Spiele/die Filme sind] schuld“ ist darüber hinaus auch eine einfache Erklärung, die vermutlich innerhalb der Rezipienten auf fruchtbaren Boden fällt. Komplexe soziokulturelle Verhältnisse eignen sich wesentlich weniger als plausible Schuldzuweisung. So ist es auch die Vermittelbarkeit von alternativen Ursachen für Gewaltwirkung, welche die Gewaltdiskussion jeweils mitprägt. Man kann die wissenschaftliche Diskussion aber wohl eher so zusammenfassen, dass monokausale Schlüsse meist zu kurz greifen: Aggressives antisoziales Verhalten entsteht nicht plötzlich aufgrund einer einzelnen Medienbotschaft und deren Rezeption, sondern steht meist am Ende einer Verkettung von sozialen, situativen und personenspezifischen Faktoren, wie es etwa moderne Modelle der Gewaltwirkung wie das GAM postulieren (vgl. Anderson/Bushman, 2002). Mediengewalt ist dabei ein Faktor unter mehreren, möglicherweise nicht einmal der wichtigste, wenn es darum geht, reales aggressives Verhalten zu erklären. Aber solche komplexen Modelle sind für die Medienberichterstattung natürlich nicht besonders „sexy“, so dass dort eher der Eindruck entsteht, die Wirkungsforschung wisse auch nach jahrzehntelanger Forschung immer noch nichts Genaues. Tatsächlich sind auch noch dunkle Flecken auf der Forschungslandkarte zu erkennen. So ist zum Beispiel noch ungeklärt, wie die mediale Gewalt in Unterhaltungsformaten und Computerspielen und die Berichterstattung über solche Gewalt in der aktuellen Berichterstattung der Medien (vor allem Nachrichtenformaten) ineinandergreifen. Es wäre durchaus denkbar, dass gar nicht die Rezeption von fiktionaler Gewalt bei Jugendlichen zu Gewaltbereitschaft führt, sondern die Berichterstattung über besonders herausragende Ereignisse. Die wahrgenommene Glorifizierung der Täter etwa im Sinne (1) er wurde von Lehrern und Mitschülern dauernd gemobbt, (2) er sah keinen anderen Ausweg mehr und (3) die zumindest zeitweise Berühmtheit, die ein Amokläufer durch die Berichterstattung über ihn erlangt, könnten dazu beitragen, dass die Information die Gewalt auslöst und verbreitet und nicht etwa die Unterhaltung.

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Hans-Bernd Brosius, Christina Peter & Anna Sophie Kümpel

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247 Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link

1. Einleitung

Die Suche und Auflistung von Risikofaktoren im Hinblick auf die Entwicklung dissozialen Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen gehört in der Kriminologie sowie in der empirischen Psychologie, dort vor allem im entwicklungspsychopathologischen Bereich, zu den wichtigsten Forschungsgebieten. Einer der Hauptausgangspunkte dieses Forschungsansatzes war das risk factor prevention paradigm (Hawkins/Catalano 1992). Dieses Paradigma wollte die Zahl der Verbrechen in den USA drastisch senken. Es hatte die simple Idee, dass man zunächst solche Risikofaktoren identifiziert, die die Gefahr für dissoziales Verhalten und damit für Straftaten erhöhen, um sie dann in einem zweiten Schritt mithilfe von Präventionsprogrammen zu bekämpfen. Dieser Ansatz kam aus dem Bereich Public Health, also aus der Gesundheitsforschung (Farrington/Ttofi et al. 2016). So präsentierten Hawkins und Kollegen (2000) basierend auf ihrem Review von 66 Studien sowie einigen ergänzenden Berichten eine Liste von Risikofaktoren, die sofort mithilfe von staatlichen Präventionsprogrammen und Interventionen eingedämmt werden könnten. Dissoziales Verhalten (im Englischen: antisocial behavior) umfasst dabei oppositionelles, aggressives, deviantes und delinquentes Verhalten. Alle Verhaltensweisen haben ein gemeinsames Kennzeichen: Es geht um die Verletzung von altersgemäßen sozialen Erwartungen, Regeln und informellen sowie formellen Normen (Beelmann/Raabe 2007; Coie/Dodge 1998). Das vorliegende Kapitel ist untergliedert in fünf Teile: Nach einer kurzen Einleitung werden die Eigenschaften von Risikofaktoren beschrieben, anschließend stellen wir ein Modell der Kumulation bzw. Kettenreaktion von Risikofaktoren vor, danach präsentieren wir ein ScreeningInstrument, welches die Erfassung bedeutsamer Risikofaktoren in der Kindheit und Jugend ermöglicht, und wir berichten über eigene Forschungsarbeiten zu Risikofaktoren. Das Kapitel endet mit einem kurzen Fazit.

2. Risikofaktoren und ihre Eigenschaften

Eine Erklärung für das große Forschungsinteresse an Risikofaktoren könnte darin liegen, dass sich dissoziale Lebensverläufe junger Menschen nur zu einem geringen Grade durch einzelne Faktoren oder Prozesse erklären lassen. Beteiligt sind in der Regel eine Vielzahl von Faktoren,

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Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link die in ihrer Kumulation die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dissozialen Verhaltens fördern (Bliesener/Beelmann et al. 2012). Risikofaktoren sind Merkmale der Person oder in der Umwelt der Person, die statistisch gesehen das Auftreten eines Problemverhaltens oder einer Fehlanpassung erhöhen. Empirisch gesehen liegt damit dem Konzept ein Zusammenhang bzw. eine Korrelation zugrunde; Risikofaktoren sagen deshalb zunächst nichts über Kausalität aus (obwohl diese natürlich möglich ist). Die Kritik an der Forschung zu Risikofaktoren, zumeist aus soziologischer Sicht, besteht darin, dass die bloße Auflistung von Risikofaktoren nur einen geringen Beitrag zur kausalen Erklärung der Entstehung dissozialen Verhaltens leistet. Von Kraemer und Kollegen (1997) stammt der anschauliche Vergleich von Risikofaktoren und deren möglicher mangelnder Kausalität, wenn man sich zum Beispiel das Thema AIDS anschaut, bei dem stets die beiden kausalen Risikofaktoren Tausch von Injektionsnadeln und ungeschützter Geschlechtsverkehr genannt werden. Kraemer et al. (1997) weisen darauf hin, dass diese beiden Faktoren nicht ursächlich mit AIDS in Zusammenhang stehen, sondern selbstverständlich die direkte Übertragung von HI-Viren. Die Bedeutung der Forschung über Risikofaktoren besteht in der Identifikation von Ansatzpunkten für mögliche Präventionsprogramme, die zum Beispiel am elterlichen Erziehungsverhalten ansetzen und/oder die soziale Kompetenz von Kindern stärken (vgl. EFFEKT von Lösel/ Beelmann et al. 2006; Lösel/Stemmler et al. 2007). Risikofaktoren geben damit wichtige Hinweise dafür, wo sich die weitere Erforschung lohnt. Darüber hinaus gewinnt die Forschung über Risikofaktoren an Erklärungswert, wenn man die Wirkung von Risikofaktoren näher betrachtet und daraus mögliche Entwicklungsmodelle entstehen (vgl. Lösel/Bender 2003). Diese Entwicklungsmodelle können dann eher Aussagen über die kausalen Mechanismen und Prozesse machen. Nicht zuletzt hat die Erforschung von Risikofaktoren auch die sogenannte Desistance-Forschung angekurbelt, also die Erforschung von Bedingungen, die Menschen veranlassen, aus der Kriminalität auszusteigen (Dollinger 2014). Schauen wir uns zunächst ein paar grundlegende Eigenschaften von Risikofaktoren an. Man unterscheidet vier Arten von Risikofaktoren (Kraemer 2003; vgl. Dollinger 2014): fixed markers sind unveränderbare Faktoren wie z.B. Hautfarbe oder Ethnie, variable markers sind variabel, aber nicht durch eine Intervention veränderbar, z.B. Alter, variable risk factors sind durch Interventionen veränderbare Faktoren, z.B. Armut, causal risk factors sind durch Interventionen veränderbare Faktoren, deren Veränderung ein Risiko signifikant modifiziert, z.B. dissoziale Einstellungen (criminal thinking pattern). Demnach sind kausale Risikofaktoren die für die Forschung bedeutsamsten Faktoren, denn bei diesen Faktoren besteht ein direkter Zusammenhang mit dem dissozialen Verhalten und zwar derart, dass eine Veränderung des Ausmaßes des Risikofaktors direkt das Ausmaß der Ergebnisvariablen beeinflusst (Risikofaktoren als Haupteffekte). Ferner muss immer die Frage gestellt werden „Risiko wofür?“. Die statistischen Zusammenhänge zwischen ein und demselben Risikofaktor hängen von der Art der Ergebnisvariablen ab. Die Zusammenhänge fallen unterschiedlich aus, je nachdem, ob man deviantes oder delinquentes Verhalten untersucht oder ob das delinquente Verhalten selbstberichtet wird oder es sich um Offizialdelikte handelt. Risikofaktoren lassen sich in drei Bereiche aufteilen: biologische, psychologische und soziale Risikofaktoren. Biologische Risikofaktoren machen deutlich, dass die Ausgangsbasis dissozia248

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Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend ler Entwicklungsmodelle bereits früh im Lebenslauf, nämlich schon während der Schwangerschaft, der Geburt oder im Kleinkindalter liegen kann (Lösel/Bender 2003). Die Wahrscheinlichkeit für eine Fehlentwicklung ist umso wahrscheinlicher, je mehr Risikofaktoren vorliegen und kumulieren (Loeber 1990). Die Kumulation von Risikofaktoren hat keine linear-additiven, sondern eher multiplikative oder sogar exponentielle Auswirkungen (Lösel/Bliesener 1994). So zeigte sich in der berühmten Cambridge Study in Delinquent Development (CSDD; Farrington 1995) über männliche Jugendliche, die in typischen Arbeitervierteln von London aufwuchsen, dass der Prozentsatz an strafrechtlich verurteilten Jugendlichen, die keine relevanten Risikofaktoren besaßen, von 3 Prozent auf 31 Prozent anwuchs für solche, die vier Risikofaktoren aufwiesen. Diese vier Risikofaktoren umfassten finanzielle Probleme, eine große Familiengröße, negative Erziehungspraktiken sowie einen geringen verbalen IQ des Kindes. Schädliche Einflüsse auf junge Menschen lassen sich in distale und proximale Risikofaktoren einteilen (Baldwin et al. 1990). So stellt beispielsweise Armut bzw. ein geringer sozioökonomischer Status einen distalen Risikofaktor dar, der nur dann schädigend wirkt, wenn er sich in weiteren proximalen Einflüssen niederschlägt. Dazu gehören elterliche Streitereien und häusliche Gewalt oder negative Erziehungspraktiken wie heftige körperliche Bestrafung und Züchtigung sowie kriminelle Geschwister (Farrington et al. 2016). Wenn keine gravierenden proximalen Risikofaktoren als Mediatoren vorliegen, dann bleiben schädigende Einflüsse weitgehend aus. Dies erklärt dann auch die Tatsache, dass ein Großteil der Kinder aus solchen schwierigen Verhältnissen nicht delinquent wird. Wir halten fest: Risikofaktoren wirken auch als Mediatorvariablen. Generell liegt die Höhe der empirisch gefundenen Korrelationen zwischen einzelnen Risikofaktoren und dissozialem Verhalten stets im niedrigen bis moderaten Bereich. Risikofaktoren müssen immer auch im Zusammenhang mit Schutzfaktoren (siehe Kapitel von Thomas Bliesener in diesem Band) betrachtet werden. Schutzfaktoren sind nicht bloß die Kehrseite einer Medaille (wie zum Beispiel ein geringer IQ versus hoher IQ), sondern können angesichts von Risikofaktoren wirksam sein: „a protective factor is a variable that interacts with a risk factor to nullify its effect“ (Farrington et al. 2016, S. 64) (Schutzfaktoren als Interaktionsvariablen). Zusätzlich gibt es auch direkt abpuffernde Schutzfaktoren, sogenannte promotive Faktoren, die quasi als Haupteffekt die Wahrscheinlichkeit für straffälliges Verhalten senken (Farrington et al. 2016) (Schutzfaktoren als Haupteffekte). Ein Beispiel für einen solchen promotiven Faktor findet sich in der berühmten Pittsburgh-Youth Study (Loeber et al. 1998), bei der männliche Jugendliche, die sich durch eine große Ängstlichkeit auszeichneten, signifikant weniger Eigentums- und Gewaltdelikte begingen (Farrington et al. 2016). Deshalb muss wie bei den Risikofaktoren auch die mögliche Kumulation von Schutzfaktoren berücksichtigt werden. Man sollte daher im Sinne eines Kompensationsmodells (Lösel/Bender 2003) immer beide Arten von Faktoren betrachten, sodass von schädigenden Einflüssen nur bei einem starken Übergewicht von Risikofaktoren auszugehen ist und Risikofaktoren einen umso stärkeren Einfluss haben, wenn Schutzfaktoren gänzlich fehlen (Rutter 1987). Da Risikofaktoren in der Regel nicht alleine auftreten, sondern miteinander interagieren, hat Loeber (1990) nochmals die wichtigsten Bedingungen für langfristige Fehlentwicklungen zusammengefasst. Danach wird langfristiges Problemverhalten umso wahrscheinlicher (vgl. Beelmann/Raabe 2007): – je mehr Risikofaktoren vorliegen und sich addieren (kumulieren), – je früher ein aus Risikofaktoren resultierendes Problemverhalten gezeigt wird, – je häufiger ein Problemverhalten auftritt,

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Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link – je länger ein Problemverhalten bereits gezeigt wurde, – je vielfältiger das Problemverhalten ist (Stichwort ‚Versatilität’), also wenn eine Kombination aus Hyperaktivität, Impulsivität, oppositionellem und aggressivem Verhalten gezeigt wird und – je verschiedener die Kontexte (Familie, Schule, Beruf, Freizeit) sind, in denen das Problemverhalten auftritt. Nachdem nun ein Einblick gegeben wurde, welchen Stellenwert die Risikofaktorenforschung innerhalb der Erforschung dissozialen Verhaltens einnimmt und welche begrifflichen sowie inhaltlichen Abgrenzungen dabei zu berücksichtigen sind, findet sich in Tabelle 1 eine Auflistung verschiedener Risikofaktoren. Eine Kategorisierung der Risikofaktoren wurde in Anlehnung an bio-psycho-soziale Modelle (Dodge/Pettit 2003) vorgenommen, wobei hier nur eine Auswahl der wichtigsten Faktoren dargestellt wird, welche im Laufe der Zeit im Fokus der Forschung standen und stehen. Zu den am häufigsten replizierten biologischen Risikofaktoren für antisoziales Verhalten im Kindes- und Erwachsenenalter gehört beispielweise ein niedriger Ruhepuls. Wie in einer umfangreichen Metaanalyse von Ortiz und Raine (2004) berichtet, zeigen zahlreiche Studien einen verringerten Ruhepuls bei antisozialen Kindern. Diese Kinder suchen sich vermehrt riskante Situationen aus, um externe Stimulationen zu erhalten (sensation-seeking behaviour) und damit der niedrigen körperlichen Erregung entgegenzuwirken. Insbesondere für aggressives und gewalttätiges Verhalten, auch im weiteren Lebensverlauf, scheint dies ein bedeutsamer Prädiktor zu sein (Armstrong et al. 2009; Raine et al. 1997). Weitere häufig berichtete biologische Risikofaktoren für Delinquenz sind beispielsweise auch der Konsum legaler und illegaler Drogen der Mutter während der Schwangerschaft (Brennan et al. 2002; Elliset al. 2012; Goldschmidt et al. 2000; Richardson et al. 2015) sowie exekutive Dysfunktionen, die zu einer mangelnden Planung und Handlungskontrolle führen können (Morgan/Lilienfeld 2000; Ogilvie et al. 2011).

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Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend Tabelle 1: Biologische, psychologische und soziale Risikofaktoren für Dissozialität und Delinquenz Biologische Risikofaktoren

Psychologische Risikofaktoren

Soziale Risikofaktoren

– genetische Faktoren – Substanzkonsum der Mutter

– internalisierende Störungen (z.B. De-

Familie

pression)

– – Schwangerschafts- und Ge– burtskomplikationen chronische Untererregung (ge- – ringer Ruhepuls) – abnorme biochemische Akti– vität – Exposition mit Giften (z.B. – Blei) während der Schwangerschaft (Nikotin/Alkohol/Drogen)

– – – –

– exekutive Dysfunktionen – männliches Geschlecht

– niedriger sozioökonomischer Status/Armut

Persönlichkeitsstörungen Aggressivität

– ungünstige Erziehungsmethoden (körperliche Bestrafung, geringe Supervision, geringes Engagement)

Impulsivität/geringe Selbstkontrolle früher Beginn gewalttätigen Verhaltens geringer IQ geringer Selbstwert geringe Empathie Defizite in sozialen Informationsverarbeitungsprozessen

– Scheidung der Eltern – Ein-Eltern-Haushalt – (frühe) Trennung von den Eltern

– ungünstige Eltern-Kind-Bindung

– Aufmerksamkeits-/ Konzentrationspro- – antisoziale/delinquente Eltern bleme

– Substanzkonsum – kognitive Verzögerungen/Störungen – antisoziale Einstellungen/Überzeugungen

– geringe Copingfähigkeit

oder Geschwister

– Kindesmissbrauch Peers

– Zurückweisung durch Peers – Peer-Delinquenz – Mitgliedschaft in einer Gang Schule/Beruf

– Schulversagen – geringe Bindung an die Schule – hohes schulisches Konfliktniveau

– häufige Schulwechsel – Schulschwänzen und Schulabbruch

– prekäre Beschäftigungssituation

Nachbarschaft

– Desorganisation des Gemeinwesens

– häufiger Wechsel des Wohnortes

Situationale Risikofaktoren

– Provokationen – Enthemmung (z.B. durch Alkohol) – Besitz von Waffen – problematischer moralischer Kontext Anmerkungen. Bei der Darstellung handelt es sich um eine Auswahl theoretisch und empirisch bedeutsamer Risikofaktoren. Die Zusammenstellung erfolgte in Anlehnung an das Cracow Instrument (z.B. Corrado 2002, 2012) sowie Hawkins et al. (2000), Lösel und Bender (2003), Murray und Farrington (2010), Tanner-Smith, Wilson und Lipsey (2013), Schick und Cierpka (2016), Wikström (2010).

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Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link Zu den psychologischen Risikofaktoren, die mit Delinquenz in Verbindung gebracht werden, zählen kriminogene Einstellungen und Überzeugungen, ein schwieriges Temperament und antisoziale Persönlichkeitsmerkmale bis hin zu psychischen Störungen aber auch spezifische kognitive Defizite. Als einer der bedeutendsten psychologischen Risikofaktoren ist hier sicherlich Impulsivität bzw. geringe Selbstkontrolle zu nennen. In einer großangelegten Längsschnittstudie von Moffitt et al. (2011) waren Selbstkontrolldefizite im ersten Lebensjahrzehnt ein signifikanter Prädiktor für Straffälligkeit im Erwachsenenalter. Auch das Vorhandensein früher psychischer Störungen wie ADHS oder Störungen des Sozialverhaltens – insbesondere bei Komorbidität – geht mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für spätere Dissozialität und Delinquenz einher (Pratt et al. 2002; von Polier, Vloet/Herpertz-Dahlmann 2012). Neben biologischen und psychologischen Faktoren spielt auch der Einfluss des sozialen Umfelds eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung delinquenten Verhaltens. Familiäre Belastungen können bereits im frühen Lebensalter problematische Entwicklungen begünstigen. Zu den häufig untersuchten und vielfach bestätigten familiären Risikofaktoren zählen beispielsweise ungünstige Erziehungsmethoden wie die Anwendung körperlicher Gewalt bis hin zu Misshandlung (Gershoff 2010; Lansford et al. 2007; Mersky/Reynolds 2007), aber auch mangelnde Supervision bzw. Kontrolle (Harris-McKoy/Cui 2013; Hoeve et al. 2009; McCord 1979). Kinder krimineller Eltern werden häufiger selbst kriminell, wobei hier besonders das Zusammentreffen multipler Risikofaktoren zu berücksichtigen ist (Aaron/Dallaire 2010; Farrington et al. 2009). Auch wurde ein Zusammenhang zwischen eigener Delinquenz und der Delinquenz von Geschwistern gefunden (Fagan/Najman 2003; Farrington et al. 1996). Neben dem familiären Umfeld gewinnen mit dem Eintritt in das Jugendalter soziale Beziehungen außerhalb der Familie an Bedeutung. Der Anschluss an deviante bzw. delinquente Peers kann dabei – insbesondere im Zusammenspiel mit weiteren individuellen und sozialen Risikofaktoren wie geringer elterlicher Supervision – delinquentes Verhalten begünstigen oder verstärken (Henneberger et al. 2013; Mann et al. 2015; Thornberry et al. 1994). Weitere häufig untersuchte Kontextfaktoren sind im schulischen sowie nachbarschaftlichen Umfeld angesiedelt (siehe Tabelle 1). Grundsätzlich ist zu beachten, dass einige der dargestellten Risikofaktoren hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Entstehung antisozialen Verhaltens durchaus kontrovers diskutiert werden und verschiedene Studien teilweise zu widersprüchlichen Ergebnissen kommen. Beispielhaft sei hier der (niedrige) sozioökonomische Status genannt, welcher als bedeutender Faktor in zahlreichen theoretischen Erklärungsmodellen antisozialen Verhaltens verankert ist. Während Tittle, Villemez und Smith (1978) in ihrem frühen Review den Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und Delinquenz als „Mythos“ bezeichnen, wird dieser in späteren Studien mit veränderten methodischen Herangehensweisen und der Berücksichtigung mediierender und moderierender Faktoren häufig bestätigt (Bjerk 2007; Farnworth et al. 1994; Hay et al. 2007; Jarjoura et al. 2002; Thornberry/Farnworth 1982). Zu betonen ist auch, dass einzelne Risikofaktoren nicht isoliert voneinander zu betrachten sind, sondern innerhalb komplexer multifaktorieller Bedingungsgefüge, welche antisoziales Verhalten begünstigen können. Biologische, psychologische und soziale Risikofaktoren stehen in multidirektionaler Wechselwirkung miteinander, was letztlich auch das gehäufte Auftreten verschiedener Risikofaktoren bei bestimmten Personen(-gruppen) erklären kann (Risikokumulation). So zeigte sich in einer Studie von Fergusson, Boden, Horwood, Miller und Kennedy (2012), dass eine bestimmte Variante des Monoaminoxidase-A-Gens besonders dann mit de252

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Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend linquentem Verhalten in Zusammenhang steht, wenn weitere Belastungsfaktoren hinzukommen (z.B. geringer IQ, materielle Deprivation der Familie, Kindesmisshandlung). Unter der Umschreibung „dissozial“ sind eine Reihe unterschiedlichster Verhaltensweisen zusammengefasst ist. Insofern sind die einzelnen Risikofaktoren nicht als gleichermaßen bedeutsam für jegliche Art dissozialen Verhaltens zu verstehen, sondern zum Teil besonders mit spezifischen Ausprägungsformen assoziiert. Beispielsweise scheint Kindesmisshandlung insbesondere für späteres aggressives und gewalttätiges Verhalten ein Risikofaktor zu sein (Mersky/Reynolds 2007). In der starken Unterrepräsentation biologischer Risikofaktoren spiegelt sich die Tatsache wider, dass diese erst in den letzten Jahren vermehrt erforscht wurden. Dies ist zum einen natürlich auf den Aspekt der Verfügbarkeit technischer Mittel in der Forschung zurückzuführen (heute z.B. fMRT, CT, DNA-Analysen, etc.). Zum anderen standen lange Zeit Jugendliche und junge Erwachsene sowie deren unmittelbare Lebensumwelt (Familie, Peers, Schule, etc.) im Fokus der Forschung, während zeitlich entferntere (distale) Risikofaktoren eher weniger Beachtung fanden. Des Weiteren war in diesem Bereich lange Zurückhaltung zu verzeichnen, da die Gefahr biologisch-deterministischer Sichtweisen und die damit verbundene Stigmatisierung bestimmter Personengruppen im Zusammenhang mit Dissozialität besonders hoch ist. Gerade die Genforschung – von DeLisi (2012) als enfant terrible der Kriminologie bezeichnet – wird mit ihrem Potenzial für vielversprechende Präventions- und Interventionsansätze in der Zukunft wohl einen größeren Stellenwert in der Risikofaktorenforschung einnehmen (DeLisi 2012). Auch situationale Faktoren finden erst in jüngerer Zeit vermehrt Beachtung in der Forschung sowie in theoretischen Modellen. So betont Wikström (2010) in seiner Situational Action Theory (SAT) die Bedeutung der Interaktion zwischen Person und Setting, also den unmittelbaren Umgebungsfaktoren, die Wahrnehmungs-Entscheidungs-Prozesse anstoßen und unter bestimmten Bedingungen die Wahl delinquenter Handlungsalternativen begünstigen.

3. Modell der Kumulation von biopsychosozialen Risikofaktoren (Lösel/ Bender 2003)

Das Modell der Risikokumulation von Lösel und Bender (2003) wird häufig im Zusammenhang mit der Wirksamkeit von Risikofaktoren genannt (siehe Abbildung 1). Dabei ging es Friedrich Lösel weniger um eine vollständige Liste aller wichtigen Risikofaktoren, als denn um eine Auflistung wichtiger Sozialisationsbereiche oder Merkmale, die bei der Erforschung von persistentem dissozialem Verhalten sowie deren transgenerationaler Übermittlung berücksichtigt werden sollten (deshalb verzichtet das grafische Modell auch auf Pfeile, die im Sinne einer kausalen Beeinflussung gedeutet werden könnten). Das Modell hat eine Reihe von wichtigen Charakteristiken: (1.) Biologische Faktoren werden berücksichtigt (siehe Bereich genetische Faktoren und neurologische Schädigung). Dies zeigt, dass die Ausgangsbasis dissozialer Entwicklungen bereits sehr früh im Lebensverlauf, nämlich schon während der Schwangerschaft, der Geburt oder im Kleinkindalter entstehen kann. (2.) Das Modell macht deutlich, dass bestimmte Merkmalsbereiche und Entwicklungsprozesse in bestimmten Entwicklungsabschnitten

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Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link von größerer Bedeutung sind, während diese in anderen Altersstufen von geringerer Bedeutung sind. (3.) Das Modell zeigt, dass chronisches antisoziales Verhalten als Ergebnis einer schädlichen Wirkung von Kettenreaktionen aufgefasst werden kann. Bei dieser Kettenreaktion können verschiedene Risikofaktoren kumulieren und sich gegenseitig verstärken. (4.) Auf der Entwicklungsleiste unterhalb des Modells wird deutlich, dass dissoziales Verhalten im Verlauf unterschiedliche Manifestationen zeigen kann, von Lügen und Wutausbrüchen bis zu schwerer Kriminalität. Damit wird die Notwendigkeit von entwicklungssensiblen Messinstrumenten angesprochen, denn aggressives Verhalten im Kindergarten unterscheidet sich von aggressivem Verhalten in der Jugendgruppe. (5.) Wichtig ist aber auch der Hinweis, dass die Mehrzahl der von kumulierten Risiken betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht zwangsläufig zu persistenten dissozialen Entwicklungsverläufen verdammt ist (Beelmann/Raabe 2007). So verharrten in einer Längsschnittstudie von Tremblay und Kollegen bezüglich stark risikobelasteter Jungen und deren körperlicher Aggression im Alter zwischen 4 und 15 Jahren nur vier Prozent auf dem persistenten Entwicklungspfad, während 28 Prozent sich von diesem Pfad lösten und sogenannte Desisters wurden (Nagin/Tremblay 1999). Es gilt also, beträchtliche Diskontinuitäten und erst später einsetzende Fehlentwicklungen zu berücksichtigen. Das Modell zeigt auch mögliche Ansatzpunkte für Interventionen, wenn beispielsweise Erziehungs- oder Bindungsdefizite angesprochen werden. Soziale Kompetenztrainings für Kinder können die verzerrte Verarbeitung von sozialen Informationen (z.B. hostility bias) bekämpfen, um mögliche negative Entwicklungsketten zu unterbrechen. Abbildung 1: Modell der Kumulation von biopsychosozialen Risikofaktoren (nach Lösel/Bender, 2003)

Weitergabe an die nächste Generation

Familiäre Disharmonie, Erziehungsdefizite

Bindungsdefizite

Ablehnung durch Gleichaltrige

Anschluss an deviante Peergruppen

Problematische heterosexuelle Beziehungen

MultiproblemMilieu, untere soziale Schicht

Schwieriges Temperament, Impulsivität

Verzerrte Verarbeitung sozialer Informationen

Problematisches Selbstbild, deviante Einstellungen

Persistent antisozialer Lebensstil

Genetische Faktoren, neurologische Schädigungen

Kognitive Defizite Aufmerksamkeitsprobleme

Probleme in der Schule

Defizite in Fertigkeiten und Qualifikationen

Probleme in Arbeit und Beruf

Manifestation der Antisozialität: Kindheit

Jugend

Junges Erwachsenenalter

Offen-aggressive oder verdeckte Störungen des Sozialverhaltens, Autoritätsprobleme (z.B. Aggression, Lügen, Stehlen, Wutausbrüche)

Erhebliche Delinquenz und Gewalt, frühe offizielle Straffälligkeit, Syndrom des Problemverhaltens (z.B.: Substanzmissbrauch, Risikoverhalten)

Schwere Kriminalität, antisoziale Persönlichkeit

Darüber hinaus sollte das biopsychosoziale Risikomodell mit situativen Faktoren kombiniert werden (siehe Schick/Cierpka 2016). Ein gutes Beispiel hierzu stellt die Situational Action Theory (SAT; Wikström 2006) dar.

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Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend

4. Eigene Forschungsarbeiten

Forschungsprojekt. Die Daten, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, stammen aus der Längsschnittstudie „Die Entstehung und Entwicklung devianten und delinquenten Verhaltens im Lebensverlauf und ihre Bedeutung für soziale Ungleichheitsprozesse“ (Kurztitel: „Chancen und Risiken im Lebensverlauf – CURL"; z.B. Reinecke, Stemmler, Arnis et al. 2013; Reinecke, Stemmler, Sünkel et al. 2013). Diese Studie wurde als Teil des Sonderforschungsbereichs „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“ (SFB 882) bis 2016 von der DFG an der Universität Bielefeld gefördert. Die psychologisch-kriminologisch und soziologisch-kriminologisch ausgerichtete Längsschnittstudie basiert auf einem Kohorten-Sequenz-Design. Ein Überblick über die Studieninhalte ist z.B. in Reinecke, Stemmler und Wittenberg (2016) enthalten. Stichprobe. Seit 2012 fanden insgesamt drei Erhebungen in etwa jährlichem Abstand statt. Die Datengrundlage der ersten schriftlichen Schülerbefragung (Messzeitpunkt T1) bilden die Selbstberichte der im Durchschnitt etwa 11- bzw. 15-jährigen Schülerinnen und Schüler der fünften bzw. neunten Jahrgangsstufe aus Dortmunder und Nürnberger Schulen. In Dortmund waren Schulen aller Schulformen beteiligt, wohingegen die Stichprobe in Nürnberg nur aus Mittelschulen (das sind frühere Hauptschulen) rekrutiert wurde. Die Befragungsinhalte beziehen sich jeweils auf eigene Devianz und Delinquenz sowie auf verschiedene weitere Aspekte, z.B. Merkmale der Person, Freizeit, Familie, Schule, Freunde, Nachbarschaft. Im fünften Jahrgang konnten zu Messzeitpunkt T1 insgesamt N = 1336 Kinder befragt werden; die Stichprobe des neunten Jahrgangs umfasst zu T1 insgesamt N = 1421 Jugendliche (Reinecke, Stemmler, Arnis et al. 2013). Nähere Angaben zu den beiden Kohorten finden sich z.B. bei Reinecke et al. (2016). Dissozialitätsrisiko und Cracow Instrument. Das Cracow Instrument ist ein Instrument zur Erfassung von risk/needs factors für Dissozialität mit dem primären Ziel der frühen Identifikation von schwerwiegendem dissozialen Verhalten und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen (z.B. Corrado 2002, 2012; Lussier et al. 2011). Die deutsche Übersetzung der kanadischen Originalversion wurde im Rahmen der Erlangen-Nürnberger Entwicklungs- und Präventionsstudie (Erlangen-Nuremberg Development and Prevention Study, ENDPS; vgl. Lösel et al. 2005; Lösel/Stemmler 2012) hinsichtlich der Validität erprobt (z.B. Wallner 2007; Wallner et al., under review). Die im Cracow Instrument enthaltenen Risikofaktoren für Dissozialität werden in fünf verschiedene Bereiche eingeteilt: Umwelt (soziale und frühe medizinische Risikofaktoren), Individuum (Merkmale der Person, die sich nach biologischen und psychologischen Kriterien sowie funktionalen Kriterien, wie zum Beispiel geringe Copingfähigkeit, einteilen lassen), Familie (externale Faktoren, die sich auf familiäre Rahmenbedingungen beziehen), Interventionen (Interventionsmaßnahmen, mithilfe derer ein Entwicklungsverlauf in Richtung Dissozialität verhindert werden soll) und externalisierende Verhaltensweisen (externalisierendes Verhalten der zu beurteilenden Person). Die Risikofaktoren des Cracow Instruments verteilen sich auf vier verschiedene Altersphasen: prä-/perinatale Phase, Phase der frühen Kindheit (0–5 Jahre), Phase der mittleren Kindheit (6–12 Jahre), Jugend (13–18 Jahre). Die Anzahl der relevanten Risikofaktoren nimmt dabei mit fortschreitendem Lebensalter der Kinder und Jugendlichen für die einzelnen Phasen nach Art eines kumulativen Modells zu. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden bereits vorhandene, zu Messzeitpunkt T1 erhobene Daten zu ausgewählten Risiken aus der oben skizzierten CURL-Studie (z.B. Reinecke et al.

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Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link 2016) kodiert. Die Risikofaktoren der Phase der mittleren Kindheit und Jugend, für die entsprechende Angaben vorliegen, sind in Tabelle 2 aufgelistet. Die Risikovariablen wurden für die folgenden Auswertungen dichotomisiert („kein/mittleres Risiko“ vs. „hohes Risiko“ in Bezug auf den jeweiligen Risikofaktor). Weiterführende Informationen zu den Items und Messinstrumenten, auf Grundlage derer die Operationalisierung der Risikovariablen vorgenommen wurde, sind den projektbezogenen Item- und Skalendokumentationen zu entnehmen (z.B. Arnis 2015; Meinert et al. 2014). Delinquenz. Bezüglich des delinquenten Verhaltens wurden Angaben zu strafrechtlich relevanten Taten im vergangenen Jahr herangezogen, darunter Angaben zu Eigentumsdelinquenz, Sachbeschädigungen und Gewalt (vgl. Reinecke et al. 2016). Als Täter bzw. Täterinnen wurden im Hinblick auf die Delinquenz diejenigen Befragten kategorisiert, die für das letzte Jahr insgesamt (über die einzelnen Deliktbereiche hinweg) mindestens eine delinquente Handlung berichtet haben (Jahresprävalenz). In die folgenden Auswertungen gehen somit dichotome Angaben zur Delinquenz ein („nicht delinquent“ vs. „delinquent“). Nähere Angaben zu den Items und Erhebungsinstrumenten, die in den beiden Kohorten jeweils für die Deliktabfrage verwendet wurden, finden sich z.B. bei Arnis (2015) sowie bei Meinert et al. (2014). Eigene empirische Befunde. Im Rahmen erster Auswertungen wurden die vorliegenden Risikovariablen mit Angaben zur Täterschaft in Beziehung gesetzt. Zunächst wurden Odds Ratios zwischen ausgewählten Risikofaktoren und Delinquenz im letzten Jahr berechnet: Die Relationen zwischen dem jeweiligen Risikostatus für Dissozialität („kein/mittleres Risiko“ vs. „hohes Risiko“ in Bezug auf den jeweiligen Risikofaktor) und dem delinquenten Verhalten („nicht delinquent“ vs. „delinquent“) in der Kindheit (5. Jahrgang) bzw. Jugend (9. Jahrgang) sollten im Querschnitt untersucht werden. Sämtliche berechneten Odds Ratios liegen deutlich über 1 und weisen darauf hin, dass die Odds („Chancen“) für Delinquenz bei den Kindern bzw. Jugendlichen mit hohem Dissozialitätsrisiko (in Bezug auf die einzelnen Risikofaktoren) deutlich größer sind als bei den Kindern bzw. Jugendlichen, die kein oder ein geringes Risiko für Dissozialität haben. Um die praktische Relevanz der Odds Ratios bzw. die Assoziationen in den jeweils zugrunde liegenden Vierfeldertafeln zu verdeutlichen, wurden für die Häufigkeiten in den einzelnen Zellen der Vierfeldertafeln („kein/mittleres Risiko“ vs. „hohes Risiko“ / „nicht delinquent“ vs. „delinquent“) jeweils Effektstärken (d) berechnet (Hasselblad/Hedges 1995). Diese wurden aus Gründen einer übersichtlichen Darstellung (in Anlehnung an Cohen 1988) nach ihrer Höhe klassifiziert und drei Kategorien („+“: 0 < d < .20; „++“: .20 ≤ d < .50; „+++“: d ≥ .50) zugewiesen. Die Befunde werden im Folgenden getrennt nach 5. und 9. Klasse aufgelistet (siehe Tabelle 2). Die Höhe der Effektstärken variiert je nach ausgewähltem Risikofaktor, Bereich und Alter (Jahrgangsstufe). Insgesamt sind die Effektstärken ausnahmslos positiv. Die entsprechenden Werte liegen größtenteils im niedrigen oder moderaten Bereich; einzelne Werte fielen höher aus. Die Effektstärken, die sich jeweils für die verhaltensbezogenen Risikofaktoren und Delinquenz ergeben, sind überwiegend höher als die Effektstärken für die übrigen Risikofaktoren und Delinquenz. Hinsichtlich der Ergebnisinterpretation ist allerdings einschränkend anzumerken, dass die Beziehungen zwischen Risikofaktoren und Delinquenz hier im Querschnitt untersucht wurden. Im Hinblick auf weitere Analysen erscheint es bedeutsam, die Beziehungen zwischen den Variablen zusätzlich längsschnittlich im Entwicklungskontext zu untersuchen. Bei der Interpretation der Befunde sollte des Weiteren berücksichtigt werden, dass für externalisierende Verhaltensweisen und Delinquenz teilweise ähnliche Inhalte erfasst wurden. Ergänzende Analysen 256

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Risikofaktoren für die Entwicklung dissozialen Verhaltens in der Kindheit und Jugend sollten sich ferner auch auf die einzelnen Deliktbereiche (z.B. Gewaltdelinquenz) beziehen. Für die dargestellten Befunde wurden alle Angaben von Jungen und Mädchen aus Dortmunder und Nürnberger Schulen berücksichtigt, die zu T1 erhoben wurden; aufgrund z.T. geringer Fallzahlen wurden die Daten keinen differenzierteren Auswertungen nach Migrationshintergrund bzw. Schultyp unterzogen. Insbesondere geschlechtsspezifische Analysen erscheinen jedoch ergänzend, im Rahmen weiterführender Forschungsarbeiten, sinnvoll. Zusätzliche Auswertungen sollten des Weiteren auch die kombinierte Betrachtung spezifischer Risiken für dissoziales Verhalten fokussieren. Tabelle 2: Klassifikation der Effektstärken (d) auf Basis der Häufigkeiten in den Vierfeldertafeln zu „Risiko für Dissozialität“ („kein/mittleres Risiko“ vs. „hohes Risiko“) x „Delinquenz“ („nicht delinquent“ vs. „delinquent“) getrennt nach Jahrgangsstufe

Risiko für Dissozialität: Bereiche und Risikofaktoren

Delinquenz Kindheit (5. Klasse)

Jugend (9. Klasse)

Umwelt Desorganisation des Gemeinwesens

++

+

Delinquente Peers

+++

++

+

+

Hyperaktivität/Unaufmerksamkeit

+

+

Ungünstige Persönlichkeitsmerkmale

+

+

Antisoziale Einstellungen

++

++

Schulische Probleme

+

++

Körperliche Bestrafung in der Erziehung

++

+

Ein-Elternteil-Haushalt

+

+

Ineffektive Erziehung

++

++

Tod eines Elternteils

++

+

Bindungsdefizite

++

+

Allgemeine Verhaltensproblemea

++

++

Gewalt/Aggressiona

+++

+++

–b

++

Geringe schulische Kontrolle/Kohäsion Individuum

Familie

Externalisierende Verhaltensweisen

Substanzkonsum

Anmerkungen. Die berechneten Effektstärken (d) werden nach ihrer Höhe klassifiziert („+“: 0 < d < .20; „++“:. 20 ≤ d < .50; „+++“: d ≥ .50). Alle Angaben beziehen sich auf querschnittliche Befunde zu T1. Die Auswahl der Bereiche bzw. Risikofaktoren orientiert sich am Cracow Instrument (z.B. Corrado 2002, 2012). Berücksichtigt werden hier nur diejenigen Bereiche bzw. Risikofaktoren der mittleren Kindheit bzw. Jugend, für die im Rahmen der CURL-Studie entsprechende Daten vorliegen; die Variablenbezeichnungen beziehen sich auf die hier jeweils zugrunde liegende Datenbasis bzw. die daraus gebildeten Indexwerte. Bezüglich der Delinquenz

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Mark Stemmler, Susanne Wallner & Eva Link wurden Angaben aus dem letzten Jahr berücksichtigt. a Berücksichtigt werden hier u.a. auch Probleme des Sozialverhaltens bzw. delinquente Aspekte. b Keine Angaben verfügbar.

5. Fazit

Die Erforschung von Risikofaktoren (risk factor research) hat bereits eine gewisse Tradition in der kriminologischen Forschung und damit einen wichtigen Stellenwert eingenommen. Sie muss immer dann kritisch betrachtet werden, wenn sie in einer atheoretischen, lediglich empirisch begründeten Auflistung resultiert; meist aufgrund von signifikanten Korrelationen. Aber auch hinter signifikanten Korrelationen können sich kausale Zusammenhänge verbergen, weshalb die Risikoforschung notwendig ist, um wichtige Entwicklungsbereiche zu entdecken. Zur ursächlichen Erklärung der Wirkungsweise von Risikofaktoren können Risikomodelle beitragen; diese könnten jedoch noch um die Berücksichtigung von situativen Aspekten ergänzt werden. Die Erforschung von Risikofaktoren ist eng mit der Forschung zu Schutzfaktoren verknüpft und damit eng mit der Resilienz- und Desistance-Forschung. Hier geht es um die Verhinderung bzw. Loslösung von dissozialen Verhaltensmustern. Die moderne Risikoforschung hat das Ziel, kausale Ursachen aufzudecken. Im Sinne von Kraemer, Lowe und Kupfer (2005, S. 16) können wir postulieren, dass „causal risk factors are the ‚gold’ of risk estimation – thus can be used both to identify those of high risk and to provide the bases for interventions to prevent the outcome”. Das endgültige Ziel wäre dann die Entdeckung von kausalen Prozessen und Mechanismen, die diese Zusammenhänge umfassend beschreiben und erklären.

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263 Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln Thomas Bliesener

1. Einleitung

Eine der Kernfragen der Kriminologie ist, warum und unter welchen Umständen Menschen abweichendes Verhalten zeigen, das gegen gültige Rechtsnormen verstößt. Insbesondere im Rahmen der entwicklungsorientierten Kriminologie werden seit Längerem die Faktoren und Prozesse untersucht, die auf der individuellen Ebene die Ausbildung und Stabilisierung eines normverletzenden Verhaltens begünstigen. Parallel zur Analyse der Entstehung nichtnormativen Verhaltens hat sich in den letzten Jahrzehnten aber unter dem Stichwort „Resilienz“1 auch ein Fokus auf eine normative Entwicklung unter nicht-normativen Bedingungen entwickelt. Mit Resilienz wird in den Sozialwissenschaften das Phänomen oder der Prozess einer positiven Anpassung unter widrigen Lebensumständen bezeichnet (Luthar 2006; Luthar/Cicchetti et. al. 2000). Aus einer kriminologischen Perspektive sind widrige Umstände gleichzusetzen mit dem Vorliegen von Risikofaktoren, die nachweislich – in der Regel heißt das, statistisch – die Entstehung und Aufrechterhaltung normabweichenden Verhaltens begünstigen. Dementsprechend bedeutet unter dieser Perspektive Resilienz die „Widerständigkeit“ gegenüber kriminologisch bedeutsamen Risikofaktoren.2 Anders als der Begriff der Widerständigkeit suggeriert, ist mit Resilienz jedoch nicht eine aktive Widerstandskraft des Individuums oder gar eine bewusste Entscheidung des Einzelnen gegenüber Verlockungen gemeint. Zudem ist Resilienz ein theoretisches Konstrukt, das zwei weiteren theoretischen Dimensionen übergeordnet ist: der positiven Anpassung bzw. Entwicklung und den bedeutsam widrigen Umständen. Damit ist Resilienz nicht direkt beobachtbar, sondern nur aus den zugrundeliegenden dimensionalen Konstrukten ableitbar. Dem Konstrukt der Resilienz eines Individuums liegt die Annahme zugrunde, dass die Wirkung der auf das Individuum wirkenden Risikofaktoren durch Schutzfaktoren aufgehoben oder reduziert werden kann. Zudem wird Resilienz als eine dynamische Eigenschaft verstanden, d.h., Resilienz wird nicht als absolutes und stabiles Merkmal einer Person (Trait) betrachtet, sondern Resilienz bezieht sich auf eine gegenwärtige Widerständigkeit gegenüber einer aktuellen Risikobelastung und deren spezifischen erwartbaren Auswirkungen (Garmezy 1985). Dieser Zustand, der einer austarierten Waage vergleichbar ist, kann dem Bild entsprechend 1 Der Begriff Resilienz stammt ursprünglich aus der Materialwirtschaft und beschreibt die Fähigkeit eines Materials, nach einer elastischen Verformung durch eine von außen wirkende Kraft wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren (Bliesener/Lösel 1992; Lösel/Bliesener 1990; Lösel/Bliesener et al. 1989). In den Humanund Sozialwissenschaften wurde das Konzept der Resilienz oder „Invulnerabiltät", das eine gesunde Entwicklung trotz risikobehafteter Lebensumstände beschreibt, erstmals von Garmezy und Nuechterlein (1972) sowie Anthony (1974) beschrieben. 2 Der Resilienz wird häufig der Begriff der Vulnerabilität gegenübergestellt, der eine besondere Ansprechbarkeit auf einzelne Risiken oder eine komplexere Risikobelastung bezeichnet.

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Thomas Bliesener durch eine Veränderung auf der Seite der Risikofaktoren oder auf der Seite der Schutzfaktoren aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Zudem beschreibt das Konzept der Resilienz nicht eine umfassende positive Entwicklung in allen Funktions- und Kompetenzbereichen, sondern sie bezieht sich in der Regel auf eine spezifische und umschriebene abhängige Ergebnisvariable (wie z.B. Schulleistung oder normkonformes Verhalten; Fergus/Zimmerman 2005; Luthar 2006).3

2. Schutzfaktoren

Kriminologisch bedeutsame Schutzfaktoren finden sich in allen Lebensbereichen und allen Entwicklungsphasen des Menschen. Für die Wirkungsweise der Schutzfaktoren gibt es bisher unterschiedliche Modellannahmen. Generell werden bei den Schutzfaktoren (1) direkt protektive oder promotive Faktoren und (2) risikobasierte oder interaktiv-protektive Faktoren unterschieden (Luthar/Cicchetti et. al. 2000; Sameroff/Bartko et al. 1998).4 Zu den direkt protektiven oder promotiven bzw. entwicklungsförderlichen Faktoren werden Merkmale oder Prozesse gezählt, die direkt mit einer geringen Wahrscheinlichkeit normabweichenden Verhaltens einhergehen (Garmezy/Masten et al. 1984; Riesner 2014). Promotive Faktoren haben eine entwicklungsbegünstigende Wirkung auf das Individuum, unabhängig vom Vorhandensein von Risikofaktoren oder vom Kontext (im Sinne eines varianzanalytischen Haupteffekts, siehe Abbildung 1a; Farrington/Loeber et al. 2008; Loeber/Farrington 2012). Anders ausgedrückt haben promotive Faktoren einen günstigen Effekt auf die Entwicklung bzw. hinsichtlich der Ausbildung problematischen Verhaltens für die gesamte Population (Krohn et al. 2014). Wie Farrington und andere (2008) in der Pittsburgh-Youth-Study zeigen konnten, ist z.B. Ängstlichkeit ein promotiver Faktor hinsichtlich der Gewalt- und Eigentumsdelinquenz. Hoch ängstliche Jugendliche zeigen sowohl unter risikoarmen wie auch unter risikoreichen Bedingungen weniger Delinquenz als ihre weniger ängstlichen Altersgenossen. Konzeptionell sind promotive Faktoren oft jedoch kaum von Risikofaktoren zu unterscheiden, da es sich bei ihnen in der Regel um die gegenläufige Ausprägung einer Variable handelt, die in der anderen Richtung einen Risikofaktor darstellt. So stellt ein unangemessenes und inkompetentes Erziehungsverhalten der Eltern ein Risiko für die Entwicklung antisozialen Verhaltens des Nachwuchses dar, ist das elterliche Erziehungsverhalten dagegen angemessen und kompetent, fördert es die soziale Kompetenz und ein angemessenes Durchsetzungsverhalten der Kinder und Jugendlichen.

3 Es findet sich jedoch auch ein verabsolutierendes Verständnis des Phänomens, bei dem eine umfassende positive Entwicklung in unterschiedlichen Verhaltens- und Kompetenzbereichen angenommen wird (siehe Bernard 1993). 4 In der Literatur finden sich auch andere Bezeichnungen für diese beiden Wirkungsweisen wie z.B. direkte und abpuffernde Faktoren (Herrenkohl/Lee et al. 2012; Lösel/Farrington 2012) oder kompensatorische und protektive Faktoren (Fergus/Zimmerman 2005; Garmezy/Masten et al. 1984).

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Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln Abbildung 1a-e: Darstellung einer promotiven Wirkung (a) bzw. verschiedener protektiver (b-e) Wirkungen eines Schutzfaktors im Zusammenhang mit einer Risikobelastung auf die Entwicklung normabweichenden Verhaltens. Abbildung 1a:

hoch

liegt nicht vor Protektiver Faktor

Normab‐ weichung

liegt vor

niedrig niedrig                            hoch Risikobelastung

Abbildung 1b:

hoch

liegt nicht vor Protektiver Faktor

Normab‐ weichung

liegt vor

niedrig niedrig                            hoch Risikobelastung

Abbildung 1c:

hoch

liegt nicht vor Protektiver Faktor

Normab‐ weichung

liegt vor

niedrig niedrig                            hoch Risikobelastung

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Thomas Bliesener Abbildung 1d:

hoch

liegt nicht vor

Normab‐ weichung

Protektiver Faktor

liegt vor niedrig niedrig                            hoch Risikobelastung

Abbildung 1e:

hoch

liegt nicht vor Protektiver Faktor

Normab‐ weichung

liegt vor

niedrig niedrig                            hoch Risikobelastung

Interaktiv-protektive Faktoren moderieren hingegen den Effekt von Risikofaktoren und zeigen ihre Wirkung nur bei Vorliegen einer Risikobedingung (Rutter 1985). Beispielsweise kann das Risiko einer Vernachlässigung durch die eigenen Eltern gegebenenfalls durch die Verfügbarkeit einer zuverlässigen Versorgungsperson außerhalb der Familie (protektiver Faktor) aufgefangen werden (Fergus/Zimmerman 2005). Diese Art der puffernden Wirkung lässt sich als ein Interaktionseffekt zwischen der Risikobelastung und dem protektiven Faktor beschreiben, unabhängig davon, ob der protektive Faktor die Risikowirkung lediglich neutralisiert (siehe Abbildung 1b), sie mindert (siehe Abbildung 1c) oder sogar umkehrt (siehe Abbildung 1d und e, Ttofi et al. 2016a). Wenngleich die Unterscheidung der verschiedenen protektiven Funktionen für das Verständnis der zugrundeliegenden Wirkmechanismen von Schutzfaktoren und damit auch für die Entwicklung präventiver Maßnahmen bedeutsam ist, so ist sie für die Klassifikation von Merkmalen eher ungeeignet. Die Wirkungsweise ist keine spezifische Merkmalseigenschaft, sondern ist häufig abhängig von den betrachteten Variablen (Criss/Pettit et al. 2002; Luthar/Cicchetti et al. 2000), vom betrachteten Altersbereich des Individuums (Jolliffe/Farrington et al. 2016) oder vom Kontext, in dem sich das Individuum entwickelt (Zolkoski/Bullock 2012). So können einzelne Schutzfaktoren je nach Kontext sowohl promotive als auch protektive Effekte aufweisen. Insofern erscheint es sinnvoller, von protektiven und promotiven Wirkungen der untersuchten

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Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln Merkmale und Prozesse zu sprechen (Riesner 2014; Stoddard/Whiteside et al. 2013; Stoddard/ Zimmermann et al., 2012).5 Von Risikofaktoren ist seit Langem gut bekannt ist, dass sie eine kumulative Wirkung haben und untereinander in Wechselwirkungen treten können, die das Auftreten normabweichenden Verhaltens deutlich begünstigen können (Bliesener 2014; Jaffee/Caspi et al. 2005).6 Eine Kumulation von protektiven Wirkungen durch unterschiedliche Schutzfaktoren ist bislang dagegen nur vereinzelt nachgewiesen worden (Fergusson/Horwood 2003; Herrenkohl/Hill et al. 2003; Ostaszewski/Zimmerman 2006; Stoddard/Zimmerman et al. 2012). Ebenso wie die Risikofaktoren der Entwicklung delinquenten Verhaltens zeigen sich auch die Schutzfaktoren in verschiedenen bio-psycho-sozialen Funktions- und Lebensbereichen. Sie finden sich bspw. als individuelle Merkmale der biologischen Grundausstattung, der Persönlichkeit, des Temperaments oder Kompetenz oder des sozialen Kontextes wie Familie, Schule, Freundesgruppe oder Nachbarschaft (Ttofi/Farrington et al. 2016b). Die Wirkungsweise bzw. die Wirkmechanismen der Schutzfaktoren sind bislang zum Teil noch nicht eindeutig geklärt. Über die zuweilen komplexen Moderationsmöglichkeiten von Schutzfaktoren ist auch deshalb wenig bekannt, weil sich die bisherige Forschung überwiegend auf die Wechselwirkungen von Risikofaktoren untereinander konzentriert hat (Farrington/Ttofi 2012; Riesner 2014). Ähnlich wie bei den Risikofaktoren scheinen auch hier bedeutsame Wechselwirkungen aufzutreten und bestimmte Kombinationen in ihrer protektiven Funktion effektiver zu sein als andere (Criss/ Pettit 2002). Allerdings lassen sich durchaus positive Wirkungskaskaden von Schutzfaktoren finden (Masten/Tellegen 2012). So zeigt sich, dass ein positives Erziehungsverhalten der Eltern die Fähigkeit zur Selbstregulation begünstigt, was wiederum positive Entwicklungen in weiteren Schutzfaktoren wie der sozialen Kompetenz, dem Selbstwert, den sozialen Beziehungen und der Verantwortungsübernahme anregt (Lewin-Bizan/Bowers et al. 2010). Entscheidend dafür, ob sich ein Individuum als resilient gegenüber einem Risiko oder einer Risikokonstellation erweist, erscheint nach bisherigen Erkenntnissen die Dosis aber auch das Timing der Risiko- und Schutzfaktoren. Bisherige Untersuchungen deuten darauf hin, dass für Risikofaktoren auf der einen Seite und Schutzfaktoren auf der anderen Seite eine ähnliche Beziehung zwischen Dosis und Wirkung besteht. Dies führt zu der Annahme, dass kumulierte Risikofaktoren durch ähnlich kumulierte Schutzfaktoren neutralisiert werden können (Herrenkohl/Lee et al. 2003; Lösel/Bliesener 1990,1994; Stattin/Romelsjö et al. 1996; Stouthamer-Loeber/Loeber et al. 2002; Van der Put/Van der Laan et al. 2011). Neuere Studien legen jedoch nahe, dass für derart risikopuffernde Effekte weniger das quantitative Verhältnis der Risikound Schutzfaktoren bedeutsam ist, sondern einerseits die Zahl und Breite der von den Risiken betroffenen Funktionsbereiche, als auch die zeitliche Passung des Vorliegens von Risiko- und Schutzfaktoren (Dubow/Huesmann et al. 2016; Riesner 2014). Jüngere Studien zeigen aber auch, dass ein kumulativer Effekt von Risikofaktoren durch das Geschlecht moderiert werden kann. Wie Newsome und andere (2016) gezeigt haben, reagieren männliche Jugendliche deutlich vulnerabler auf Risikokumulationen als ihre weiblichen Altersgenossinnen. 5 Da die beschriebenen Interaktionseffekte teilweise jedoch nicht linear verlaufen und häufig erst ab einem bestimmten Ausprägungsgrad der Variablen auftreten (Farrington/Ttofi 2012), ist ihr Nachweis deutlich schwieriger (z.B. Laan/Veenstra 2010; Stouthamer/Loeber 2002). 6 Hinsichtlich der kumulativen Wirkung konnten bislang sowohl additive, multiplikative als auch exponentielle Wirkungssteigerungen nachgewiesen werden (Loeber/Farrington 2008; Loeber/Slot et al. 2006; Lösel/Farrington 2012).

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3. Methodisches Vorgehen zur Identifikation von Risiko- und Schutzfaktoren

Bei der Identifikation von Schutzfaktoren und der Analyse der Wirkmechanismen werden bisher unterschiedliche methodische Ansätze verfolgt. Beim sogenannten variablenbasierten Ansatz werden die Merkmalszusammenhänge zwischen Risiko- und Schutzfaktoren sowie ihren Wechselwirkungen auf die Ergebnisvariable (Delinquenz) mittels multivariater Regressionsmodelle untersucht (Lodewijks/Ruiter et al. 2010). Alternativ werden beim personenorientierten Ansatz Hochrisikogruppen mit günstiger bzw. ungünstiger Entwicklung verglichen, um diskriminierende Variablen und Variablenkonstellationen zu identifizieren (Lösel/Bender et al. 2003; Lösel/Bliesener 1994). Die entwicklungsorientierte Kriminologie hat in den letzten Jahren den Blick auf unterschiedliche individuelle Verläufe der Kriminalität gerichtet. Dabei versucht auch sie, das dynamische Zusammenwirken von Risiko- und Schutzfaktoren sowie den Einfluss von Veränderungsprozessen und Lebensereignissen auf Entwicklungsverläufe kriminellen Handelns zu beleuchten (Farrington 2003). Im Vordergrund dieser Analyse stehen sogenannte Entwicklungspfade (developmental trajectories), die unterschiedliche prototypische Verläufe und Muster der kriminellen Aktivität abbilden (Nagin/Tremblay 2005; Sampson/Laub 2005). Für die Resilienzforschung haben sich dabei Verläufe als bedeutsam erwiesen, bei denen es nach einer Phase hoher krimineller Aktivität zu einer mehr oder minder spontanen Erholung kommt und die deliktische Aktivität in kurzer Zeit deutlich reduziert oder sogar ganz eingestellt wird (Krohn/Lizotte et al. 2014; Reingle/Jennings et al. 2013). Dieses als „desisting“ bezeichnete Phänomen findet sich als eine typische Verlaufsform „delinquenten Handelns“ in zahlreichen längsschnittlichen Studien (Bliesener 2012). Derartige Karriereabbrüche finden sich auch bei Intensiv- und Mehrfach-Gewalttätern mit einer substantiellen deliktischen Vorbelastung (Harrendorf 2007). Sie sind in der Regel jedoch nicht abrupt und absolut, indem die Kriminalität von heute auf morgen völlig eingestellt wird, sondern sie sind von einzelnen Rückfällen begleitet (Stelly/Thomas 2007). Gleichwohl scheint ein Moment der Umkehr im Karriereverlauf erkennbar zu sein. Inwieweit ein solches desisting nach anfänglicher Auffälligkeit durch Schutzfaktoren begünstigt wird oder Schutzfaktoren zum Abbruch delinquenter Karrieren beitragen, ist bisher wenig untersucht worden. Allerdings lassen sich Veränderungen eines dauerhaften delinquenten Verhaltensstils sehr oft mit substantiellen Veränderungen der Zahl und Struktur von Risiko- und/ oder Schutzfaktoren in Verbindung bringen. Solche einschneidenden Veränderungen der lebensweltlichen Strukturen und Bezüge werden als ‚turning points‘ (Rutter 1996) bezeichnet. Als turning points erweisen sich sowohl normative wie auch nicht-normative Veränderungen in der Lebenswelt (z.B. Aufnahme einer festen Beschäftigung, Heirat bzw. feste Partnerschaft mit Haushaltsgründung und eventueller Elternschaft, Militärdienst etc.). Turning points markieren bedeutsame Umstrukturierungen der Alltagssituationen und damit Veränderung der Struktur von Risiko- und Schutzfaktoren. Viele dieser lebensweltlichen Veränderungen gehen mit einer Erhöhung der Strukturierung des Alltags einher, sind durch eine stärkere Bindung an normkonforme Personen sowie zugleich stärkere Ablösung von devianten Peergruppen und die vermehrte Übernahme von Verantwortung gekennzeichnet. Zudem wirken sie sich in der Regel günstig auf den Selbstwert und die subjektiv empfundene Zugehörigkeit und gesellschaftliche Teilhabe aus (Bliesener 2012). Gleichzeitig bergen einige der normativen Veränderungen die 268

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Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln Gefahr des Statusverlustes bei fortgesetzter Kriminalität, in dem ein gewonnener Ausbildungsoder Arbeitsplatz riskiert wird oder eine Partnerschaft verloren gehen kann. Durch diese Gefahr des potenziellen Verlustes können die normativen Änderungen durchaus protektiv wirken. Insbesondere das Eingehen einer festen Partnerschaft wird in der Praxis von Polizei, Jugendhilfe und Vollzug als bedeutender turning point gesehen. Die potenziell protektive Wirkung einer guten Beziehung wird aber auch durch die Forschung belegt (Blokland/Nieuwbeerta 2005; Laub/Sampson 2003).

4. Promotive und protektive Schutzfaktoren

Schutzfaktoren, die eine entwicklungsförderliche (promotive) oder eine protektive Wirkung haben, indem sie eine vorhandene Risikobelastung abfedern, und so ein normkonformes Verhalten befördern, sind bislang recht gut untersucht (Farrington/Ttofi 2012). Schutzfaktoren finden sich ebenso wie die Risikofaktoren in nahezu allen Lebensbereichen und Lebensphasen. Die Wirkungen von Schutzfaktoren sind jedoch zeitlich nicht immer stabil. Sie können sich im Entwicklungsverlauf in ihrer Dauer und Stärke unterscheiden. Einige Schutzfaktoren verlieren ihre Wirkung, andere kehren sie sogar um. So hat eine groß angelegte Entwicklungsstudie an mehr als 17.000 Kindern, die 1958 in England, Schottland und Wales geboren wurden, beispielsweise gezeigt, dass sich eine vollzeitige Berufsausübung der Mutter entwicklungsförderlich für ältere Jugendliche auswirkt. Bei jüngeren Kindern hat sich eine volle Berufstätigkeit beider Eltern dagegen eher als ungünstig erwiesen (Buchanan/Ten Brinke 1998). Hingegen hat eine stark behütende Mutter zunächst eine protektive Funktion, wenn das Kind sehr explorationsfreudig und wenig ängstlich ist, für das ältere Kind stellt dieser mütterliche Verhaltensstil jedoch einen Risikofaktor für die Bewältigung jugendtypischer Entwicklungsaufgaben dar. Neben Wirkungsänderungen von Schutzfaktoren im Entwicklungsverlauf, sind bisher auch einige differentielle Wirkmöglichkeiten nachgewiesen worden. So stellt eine überdurchschnittliche kognitive bzw. intellektuelle Kompetenz einen protektiven Faktor für die Entwicklung delinquenten Verhaltens dar (Curtis/Cicchetti 2003), für die Entwicklung internalisierender Störungen (z.B. Depression, psychosomatische Auffälligkeiten) kann sie dagegen eher ein Risiko sein. Einzelne Schutzfaktoren entwickeln ihre protektive Funktion auch in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext (Johnson/Wiechelt 2004). So hat bereits Rutter (1985) darauf hingewiesen, dass ein Fortlaufen von Zuhause, einschließlich eines Streunens, in der Regel einen bedeutsamen Risikofaktor für die Entwicklung delinquenten Verhaltens darstellt. Das gleiche Verhalten kann jedoch unter den Bedingungen einer aktuell eskalierenden familiären Krise auch vor deren negativen Auswirkungen schützen. In der Regel werden Schutzfaktoren auf der Ebene des Individuums, die sich als promotiv oder protektiv erwiesen haben, auch als personale Ressourcen bezeichnet. Dazu gehören: – Ausreichende soziale Kompetenz. Insbesondere eine ausreichende Empathiefähigkeit, emotionale Ausdrucksfähigkeit und die Fähigkeit zur Lösung sozialer Probleme begünstigen sowohl die Bewältigung von Konflikten im Alltag als auch von psychischen Belastungen (White/Moffitt et al. 1989).

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Thomas Bliesener – Ein gutes Planungs- und Entscheidungsverhalten hilft dem Individuum bei der Vermeidung oder Bewältigung von Konflikt- und Problemsituationen. – Eine überdurchschnittliche Intelligenz begünstigt die Lösung von Alltagsproblemen und erweist sich als protektiv gegenüber verschiedenen Risikofaktoren (Ttofi/Farrington et al. 2016b). – Positive selbstbezogene Kognitionen (Selbstwertgefühl) und eine internale Kontrollüberzeugung. Kinder und Jugendliche, die ein positives Selbstwertgefühl und die Überzeugung aufbauen, dass sie selbst etwas bewirken und verändern können, sind eher in der Lage, psychische Belastungen zu bewältigen (Krohn/Lizotte et al. 2014). – Eine überdurchschnittliche Bildungsaspiration begünstigt die Bewältigung von Leistungskrisen und stärkt die Motivation zum Verbleib im Lernkotext (Krohn/Lizotte et al. 2014). – Eine robuste Neurobiologie, Toleranz für negative Affekte und eine gute Emotionsregulation. Eine hohe Toleranz für negative Affekte, ein geringer Neurotizismus oder eine robuste Neurobiologie können dazu beitragen, dass Belastungen von außen eine weniger starke innerpsychische Bearbeitung erfordern (Newsome/Vaske et al. 2016; Raine/Venables et al. 1995). – Positive Bewältigungserfahrungen. Normative und nicht-normative Veränderungen der Lebensbedingungen und -bezüge (Schulwechsel, Umzüge, Verlusterlebnisse etc.) werden leichter bewältigt, wenn bereits entsprechende Transitionserfahrungen vorliegen und auf erprobte Handlungsmuster und -routinen zurückgegriffen werden kann (Werner/Smith 1992). – Schüchternheit im Umgang mit anderen. Es wird angenommen, dass eine erhöhte Schüchternheit und ein geringes Stimulationsbedürfnis dazu beitragen, dass das Individuum gefahrgeneigte oder risikobehaftete Situationen vermeidet und sich so weniger weiteren Belastungen aussetzt (Steinberg/Icenogle et al. 2017). – Ein einfaches Temperament des Kindes, bei dem biologische Funktionen (z.B. der SchlafWach-Rhythmus) sehr regelmäßig verlaufen, das Kind wenig irritierbar und nicht übermäßig aktiv ist und eine überwiegend positive Stimmungslage hat, erleichtern u.a. die ElternKind-Interaktion bei äußeren Belastungen deutlich (Cowen/Wyman et al. 1990; Werner/ Smith 1982). – Glaube oder eine (spirituelle) Überzeugung von Sinnhaftigkeit und Struktur im Leben unterstützen die Bewältigung von Krisen und problematischen Situationen (Baldwin/Baldwin et al. 1990; Dubow/Huesmann et al. 2016; Jolliffe/Farrington et al. 2016). Außerhalb des Individuums finden sich auf der sozialen Ebene, hier vor allem in der Familie, aber auch im weiteren sozialen Umfeld (Schule, Nachbarschaft) sogenannte soziale Ressourcen. Hierzu zählen: – Eine emotionale Bindung an eine zuverlässige Person (bei Jugendlichen kann dies auch eine Partnerschaft sein; Jenkins/Smith 1990; Wyman/Cowen et al. 1991). – Ausreichende soziale Unterstützung durch normkonforme Personen (Tess/Ammons et al. 2015). Ein ausreichendes Maß an sozialer Unterstützung (auch außerhalb der Familie), kann einerseits vor bestimmten Problemen abschirmen, aber auch bei der konstruktiven Bearbeitung von Problemen helfen (Bliesener 1991). – Ein autoritativer Erziehungsstil. Eine Kombination aus einem emotional warmen und gleichzeitig an Normen orientierten Erziehungsverhaltens hat sich sowohl in der familiären

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Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln (Baumrind 1991), schulischen (Olweus 1993) als auch in der Heimerziehung (Lösel/Bliesener 1994) als günstig für die Neutralisation von Risiken erwiesen. – Eine angemessene Beaufsichtigung (Supervison) durch die Eltern (Jolliffe/Farrington et al. 2016; Krohn/Lizotte et al. 2014; Osofsky/Dewana 2000). – Bekräftigung für angemessenes Verhalten durch die Eltern (Jolliffe/Farrington et al. 2016; Kramer-Kuhn/Farrell 2016). – Die erlebte Wertschätzung einer Begabung oder eines Hobbys. Im außerfamiliären Bereich zeigt eine Aktivität in einem Lebensbereich, in dem ein eigenes Talent oder eine Begabung von anderen anerkannt wird, eine protektive Wirkung gegenüber psychosozialen Belastungen bei Kindern und Jugendlichen (Masten/Hubbard et al. 1999). – Gemeinsame Wertesysteme in der Familie und im sozialen Nahraum (Garbarino/Kostelny et al. 1997; Werner/Grant 2009). – Ein soziales Umfeld (Familie, Schule, Gemeinde), das eventuell auch von einer Spiritualität getragen wird (Greene/Galambos et al. 2003; Laird/Marks et al. 2011). – Eine hinreichende materielle Versorgung unterstützt die Gesundheit und erleichtert die Kompensation von Einschränkungen oder Störungen (z.B. durch medizinische Hilfsmittel oder schulische Nachhilfe) und ebenso die Wiederherstellung des Funktionsgrades bei entsprechenden Störungen (Benzies/Mychasiuk 2009). – Eine positive Einstellung zur Schule und positive Bindung an eine Lehrkraft oder die Schule (Jolliffe/Farrington et al. 2016; Lösel/Farrington 2012; Werner/Smith 1992).7 Die Wirkung vieler der beschriebenen Schutzfaktoren bei der Moderation einzelner Risikofaktoren ist aufgrund einiger konzeptioneller und methodischer Probleme bisher noch weitgehend ungeklärt. Die Frage, welche der aufgeführten Schutzfaktoren in welcher Ausprägung, unter welchen situativen Umständen und hinsichtlich welcher abhängigen Variable eine promotive oder eine protektive Wirkung haben, ist noch weitgehend offen. Wenig ist auch immer noch über die zugrunde liegenden Prozesse bekannt, die Schutzfaktoren ihre protektive Wirkung verleihen. Fergusson und Horwood (2003) haben vermutet, dass Schutzfaktoren die Schwelle beeinflussen, bei der Individuen auf Belastungen reagieren, indem sie entweder die innerpsychische Reagibilität reduzieren oder dazu beitragen, dass das Individuum weitere Konfrontationen mit Belastungen vermeidet. Gleichwohl stellen die aufgeführten Schutzfaktoren wichtige Ansatzpunkte für ein präventives Vorgehen dar. Insbesondere die sozialen Ressourcen eines jungen Menschen lassen sich prinzipiell günstig beeinflussen. Mit gewissen Einschränkungen gilt dies aber auch für die personalen Ressourcen. Für die Praxis der Prävention ist dabei die Unterscheidung zwischen promotiven und protektiven Wirkungen der einzelnen Faktoren von nachrangiger Bedeutung, da bei einer Fokussierung auf Gruppen mit hoher Risikobelastung per se ein günstiger Effekt erwartet werden kann.

7 Der protektive Effekt einer positiven Einstellung zur Schule scheint dabei nicht durch eine gute Schulleistung oder gar eine höhere Intelligenz begründet zu sein. Der Effekt einer positiven Bindung an die Schule zeigt sich auch bei Schülerinnen und Schülern, nachdem sie eine Klasse wiederholt haben (Jolliffe/Farrington et al. 2016). .

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5. Resilienzorientierte Prävention und Intervention

Der Grundgedanke einer resilienzorientierten Prävention und Intervention ist es, Kindern und Jugendlichen mit einer besonderen Risikobelastung für die Entwicklung antisozialen und delinquenten Verhaltens mit individuellen und sozialen Schutzfaktoren und Ressourcen auszustatten. Während ein defizitorientiertes Vorgehen eher versucht, die vorliegenden Risiken zu minimieren oder aufzuheben, versucht der resilienzorientierte Ansatz darüber hinaus, die Risikobehafteten durch die Vermittlung von Schutzfaktoren vor dem direkten Einfluss der Risiken zu schützen oder sie in ihrem Umgang mit den Risiken zu stärken (Fergus/Zimmerman 2005). Die resilienzorientierten Präventionen und Interventionen setzen sowohl auf der individuellen Ebene als auch im sozialen Umfeld an, hier vor allem in Familie, Schule und Nachbarschaft, um promotive und protektive Prozesse anzuregen. Auf der individuellen Ebene werden in erster Linie soziale Kompetenzen zur Lösung interpersoneller Probleme, Empathiefähigkeit, Emotionsregulation und die soziale Perspektivenübernahme trainiert. Derartige Trainingsprogramme werden in der Regel in der Gleichaltrigengruppe durchgeführt und folgen einem strukturierten Ablauf von Übungen und Rollenspielen (Beelmann 2014). Sie lassen sich vergleichsweise leicht bereits in Kindergärten und Schulen implementieren. Zahlreiche Programme wie bspw. international das PATHS-Curriculum (Greenberg/Kusché 2006), im deutschen Sprachraum das EFFEKT-Kindertraining (Jaursch/Beelmann 2008) oder das Faustlos-Programm (Schick/Cierpka 2005) vermitteln Kompetenzen zur Identifikation von und zum Umgang mit Emotionen, zur nicht-aggressiven Lösungen sozialer Probleme und zum angemessenen Sozialverhalten in kritischen Situationen. Die Wirksamkeit dieser Präventionsprogramme ist in zahlreichen Evaluationsstudien für und unterschiedlichen Kontexten nachgewiesen worden (Beelmann/Lösel 2007; Durlak/Weissenberg et al., 2011). Für die Behandlung bereits straffälliger Jugendlicher und Heranwachsender haben sich speziell konzipierte soziale, kognitiv-behaviorale Trainingsprogramme (z.B. das Reasoning & Rehabilitation-Programm) recht gut bewährt (Lipsey/Landenberger 2006; Tong/Farrington 2006). Auf der Ebene sozialer Ressourcen werden vor allem die Eltern als zentrale Sozialisationsagenten der Kinder und Jugendlichen fokussiert. Derartige Elterntrainings umfassen verschiedene psychoedukative Maßnahmen zur Vermittlung grundlegenden Erziehungswissens, zentraler Erziehungskompetenzen und positiver Erziehungspraktiken (bspw. emotionale Unterstützung, Verstärkung positiven Verhaltens, Grenzen setzen, Beaufsichtigung des Kindes; zur Übersicht siehe Beelmann 2007). Die grundsätzliche Wirksamkeit solch universeller Elterntrainings bei der Vermittlung positiven Elternverhaltens konnte bisher in mehreren Evaluationsstudien nachgewiesen werden (siehe Beelmann/Raabe 2009; Piquero/Farrington et al. 2009). Gleichwohl sind die präventiven Wirkungen dieser Programme auf das kriminelle Verhalten der Kinder und Jugendlichen bislang weniger deutlich. Eine günstigere kriminalpräventive Bilanz ergibt sich dagegen bei Präventionsprogrammen, die speziell für Hoch-Risiko-Gruppen konzipiert sind. Diese enthalten in der Regel neben dem Elterntraining zusätzliche Elemente wie individuelle Hausbesuche in den Familien und ebenso strukturierte Fördermaßnahmen für die Kinder. Die Evaluation dieser kombinierten Programme zeigt insbesondere für Teilnehmergruppen mit einer sehr hohen Risikobelastung zu Beginn der Studie langfristig eine geringere Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Störungen im Sozialverhaltens (Conduct Problems Prevention Research Group 2011). 272

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Resilienz. Schutzfaktoren für delinquentes Handeln Insgesamt ergeben sich bei vielen der resilienzorientierten Präventionsprogramme deutliche Hinweise auf positive und nachhaltige Effekte in der individuellen und sozialen Ressourcenausstattung der Teilnehmer. Die Programme erreichen ebenso günstige Effekte hinsichtlich der Gewalt- oder Kriminalitätsentwicklung, bedürfen aber einer jeweils aufwendigen und sorgfältigen Umsetzung, um die angestrebten Effekte zu erzielen (Beelmann/Raabe 2009).

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III. Struktur und Entwicklung von Kriminalität

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1. Einleitung

Gewalt in der Schule stellt eine bedeutende Herausforderung dar, da die bisherige schulbezogene Gewaltforschung einheitlich aufzeigen konnte, dass sowohl für die Opfer als auch für die Täter die Verwicklung in Gewalt mit gravierenden Kurz- und Langzeitfolgen einhergehen kann. Darunter fallen u.a. körperliche Folgen (z.B. Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Übelkeit und verminderte kognitive Fähigkeiten), psychologische Folgen (z.B. ein niedriges Selbstbewusstsein, erhöhte Depressionsraten und ein negatives Selbstwertgefühl), Folgen in Bezug auf den Bildungserfolg und die Einstellung zur Schule (z.B. erhöhter Schulabsentismus, Schulunzufriedenheit und ein negativ wahrgenommenes Schulklima) sowie soziale Folgen (z.B. weniger Freunde und Sozialkontakte, häufigere Ablehnung durch Peers oder geringere Beliebtheit unter Peers) (Bilz 2008; Kim et al. 2006; Melzer et al. 2012; Wachs et al. 2016; Wolke et al. 2013). Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass gewalttätige Erfahrungen für einen gewissen Anteil von Schülerinnen und Schülern beinahe alltäglich sind, bedenklich (Melzer et al. 2008; Scheithauer/Bull 2009). Angesichts dieser potenziellen Gefahren für eine positive Kindesentwicklung überrascht der Mangel an Studien zur schulischen Gewaltentwicklung und die vergleichsweise hohe Anzahl von Querschnittuntersuchungen zu dieser Thematik. Vor allem Langzeitstudien und Trendanalysen können dabei helfen zu verstehen, wie sich Gewalt an der Schule im Laufe der Zeit verändert, welche Fortschritte erzielt wurden und welche Bereiche noch mehr Bemühungen verlangen, Gewalt in der Schule zu reduzieren. Hier setzt der vorliegende Beitrag an und untersucht in einer zeitvergleichenden Analyse von 1996 zu 2014 die Gewaltentwicklung an sächsischen Schulen. Den Ausgangspunkt bildet die DFG-Teilstudie „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter“ Mitte der 1990er Jahre (Forschungsgruppe Schulevaluation 1998). Durch den Einsatz paralleler Erhebungsinstrumente in der DFG-Studie „Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing. Eine Studie zu Formen, Determinanten und Auswirkungen des Interventionshandelns aus Lehrer- und Schülersicht“ (Bilz et al. 2017), deren Daten im Jahre 2014 erhoben wurden, sollen Trendaussagen zur Entwicklung von schulischer Gewalt für das Bundesland Sachsen getroffen werden. In einem ersten Schritt wird der Gewaltbegriff näher definiert. Zudem wird erörtert, welche Schwierigkeiten mit der Erfassung und Untersuchung schulischer Gewalt verbunden sind (Abschnitt 2). Daran anschließend widmet sich Abschnitt 3 einer zusammenfassenden Darstellung des nationalen und internationalen Forschungsstandes zur schulischen Gewaltentwicklung. Die Frage, ob Gewalt an Schulen eher ab- oder eher zugenommen hat, ist Gegenstand der Analysen in Abschnitt 4. Hierbei soll unter Verwendung soziodemografischer Variablen (Geschlecht,

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Saskia Niproschke Schulform, Klassenstufe) untersucht werden, ob zudem bestimmte Gruppenunterschiede bestehen.

2. Zur Ambivalenz des Gewaltbegriffs und Bedeutung für die Empirie

Ein zentrales Ergebnis der schulbezogenen Gewaltforschung ist ein konsensfähiger Gewaltbegriff, nach dem Gewalt die vorsätzliche und zielgerichtete Schädigung gegenüber einer Person, einer Gruppe oder Gegenständen ist. Zugleich drückt sich Gewalt in verschiedenen Formen aus wie etwa verbale Erniedrigungen, physische Verletzungen oder psychische Schädigungen (Melzer/Schubarth 2015, S. 25f.). Diese Darlegung spiegelt sich auch in der Begriffsbestimmung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wider, welche darüber hinaus auch die Folgen von Gewalt fokussiert. Gewalt ist nach der WHO der „absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt“ (WHO 2003, S. 6). Viele Definitionen zum Gewaltbegriff betonen, dass neben einer Schädigungsabsicht ein Machtungleichgewicht zugunsten der Gewaltausübenden vorliegt. Im Zuge der Ausdifferenzierung und Internationalisierung der Gewaltforschung hat auch der Begriff Mobbing weite Verbreitung erfahren. In Ergänzung zum Gewaltbegriff wird unter Mobbing explizit die wiederholte Schädigungsabsicht verstanden (Wachs et al. 2016, S. 34). In der Alltagssprache ist der Gewaltbegriff zumeist negativ konnotiert und emotional besetzt. Dies zeigt sich bspw. in der weit verbreiteten und vor allem medial suggerierten Annahme, dass die Gewalt an Schulen immer mehr zunehmen würde (Schubarth 2013, S. 9). Die mittlerweile weitreichenden Befunde und Erkenntnisse zum Ausmaß und zu den Folgen von Gewalt an Schulen konnten die Alltagsannahme jedoch versachlichen (z.B. Melzer et al. 2011; Schubarth 2013). Objektiv betrachtet kann Gewalt sowohl positive (Sicherung) als auch negative (Zerstörung) Assoziationen hervorrufen (Heitmeyer/Hogan 2002, S. 19). Diese Ambivalenz des Gewaltbegriffs spiegelt sich auch in den Kontexten wider, in denen Gewalt stattfinden kann, oder in welcher Form sich Gewalt ausdrückt. Die damit verbundene Komplexität erschwert die Erfassung und Untersuchung des Gewaltphänomens sowie die Bewertung dessen, was als legitimes bzw. legales oder illegitimes bzw. illegales Verhalten gilt (ebd.). Genauso vielschichtig zeigt sich auch die schulbezogene Gewaltforschung, die bspw. unterschiedliche Gewaltphänomene begutachtet, durch verschiedene Zugänge der Disziplinen diverse Definitionen hervorbringt, wodurch die Reichweite und Aussagekraft der Analysen eingeschränkt sein können und ein Vergleich der Ergebnisse beeinträchtigt wird.

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3. Entwicklungstendenzen schulischer Gewalt – ein Forschungsüberblick

Verschafft man sich einen Überblick über den Forschungsstand zu Studien, die Aussagen zu Veränderungen des schulischen Gewaltausmaßes über die Zeit ermöglichen, zeigt sich sowohl national als auch international ein überschaubares Ergebnis. Für Deutschland repräsentative Daten zur Entwicklung von gewalttätigem Schülerverhalten liefert die „Health Behaviour in School-aged Children“ (HBSC)-Studie, die national im Turnus von vier Jahren durchgeführt wird. Im Ergebnis zeigt sich für den Analysezeitraum 2002 bis 2014 ein überwiegend positiver Trend (Oertel et al. 2016, S. 225-229): Der Anteil derer, die weder Opfer noch Täter sind (Unbeteiligte), nahm von 2002 bis 2014 um fast 10% zu, während der Anteil der Täter von 2002 zu 2006 mit mehr als 4% deutlich und bis 2014 nochmals etwas gesunken ist. Nachdem die Gruppe der Opfer im Vergleich von 2002 zu 2006 um 1,7% leicht anstieg, hat sich das Ausmaß bis 2014 erneut um knapp 4% verringert. Dagegen bleibt der Anteil der Täter-Opfer auf einem vergleichsweise relativ niedrigen Niveau. Die positiven Entwicklungstendenzen lassen sich vor allem durch die deutliche Reduktion der Opfer- und Täterschaft bei den Jungen und durch die älteren, 15-jährigen Schülerinnen und Schüler, die aus empirischer Sicht bislang das größte Gewaltpotenzial aufwiesen, erklären. Die auffällige Abnahme der Opfer- und Täterschaft bei den Jungen hat zur Folge, dass sich Mädchen und Jungen hinsichtlich ihres Gewaltausmaßes über die Zeit annähern. Im Gegensatz zu 2002 finden sich in der Studie von 2010 ferner Unterschiede zwischen den Schulformen: Schülerinnen und Schüler an Gymnasien sind deutlich seltener Opfer und Täter als Schülerinnen und Schüler anderer Schulformen (Melzer et al. 2012, S. 579f.). Dieser Trend setzt sich auch in neueren Analysen aus dem Jahr 2014 fort (Oertel et al. 2016, S. 229). Entwicklungstrends zeigen sich für Deutschland auch hinsichtlich der Gewaltformen. So geht aus der Statistik des Bundesverbandes der Unfallkassen, bei der das gewaltverursachende Verletzungsgeschehen an deutschen Schulen von 1993 bis 2003 dokumentiert wird, hervor, dass vor allem physische Gewalterfahrungen rückläufig sind und bis 2010 noch weiter abgenommen haben (Bundesverband der Unfallkassen 2005, S. 15 und 2012, S. 5). Neben diesen nahezu einzigen bundesweiten Trendanalysen liefern noch einige wenige zeitvergleichende bundeslandspezifische Studien Befunde zur Gewaltentwicklung an Schulen. Im Ergebnis zeigen sich an bayerischen Schulen geringere Opfer- und Täteranteile im Jahr 2004 im Vergleich zu den Erhebungszeitpunkten 1994 und 1999. Insbesondere ist die Anzahl schwerwiegender Gewalttaten und -erfahrungen gesunken. Während der Anteil der Unbeteiligten leicht zugenommen hat, ist der Anteil der Täter-Opfer über die Zeit relativ stabil geblieben. Im Vergleich der drei Erhebungszeitpunkte kann für alle untersuchten Schulformen gleichermaßen ein Absinken der Gewalthäufigkeit festgestellt werden. Im Detail weisen Gymnasien im Vergleich zu Real- und insbesondere Hauptschulen einen wesentlich geringeren Täter-Anteil auf. Eine Abnahme der Opferhäufigkeit kann lediglich an Gymnasien nachgewiesen werden. Insgesamt ist für alle Altersgruppen eine Abnahme des Gewaltausmaßes festzustellen, wenngleich 14- bis 17-jährige Schülerinnen und Schüler nach wie vor am häufigsten Gewalt ausüben. Bei den 10- bis 13-Jährigen konnte sogar eine Zunahme konstatiert werden. Dieses Ergebnis deutet auf eine Annäherung der Altersstufen hin. Rückläufige Trends zeigen sich auch hinsichtlich

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Saskia Niproschke der Geschlechter, wobei dieser bei den Jungen deutlich ausgeprägter ist (zusammenfassend Fuchs et al. 2009). Auch für das Land Brandenburg können positive Entwicklungstendenzen abgeleitet werden. Differenzierter betrachtet ist zwischen 1996 und 1999 ein deutlicher, seit 1999 ein leichter Rückgang schulischer Gewalt festzustellen. Gleichzeitig ist der Anteil der Unbeteiligten – hier sind es diejenigen, die nie „an Schlägereien oder gewalttätigen Aktionen“ beteiligt sind – seit 1996 kontinuierlich gewachsen, wenngleich der Anteil derer, die oft bzw. manchmal an Schlägereien teilnehmen, von 2005 zu 2010 leicht zugenommen hat, ohne aber die höchsten Ausgangswerte von 1996 zu erreichen. Dies trifft insbesondere auf die 15- bis 17-Jährigen sowie Schülerinnen und Schüler an Oberschulen zu, die auch den größten Anteil der Gewaltbelasteten verzeichnen (zusammenfassend Kleeberg-Niepage/Sturzbecher 2012). Nationale Befunde im Zeitvergleich können auch für einzelne Städte ermittelt werden. Die wenigen vorliegenden Befunde weisen in eine ähnlich erfreuliche Richtung der Gewaltentwicklung. So zeigt sich für die Städte Hannover und München bei den im Durchschnitt 15-jährigen Schülerinnen und Schülern zwischen 2000 und 2005 für München bzw. 2006 für Hannover insgesamt kein starker Anstieg der Gewalt an Schulen. Auffällig ist im Vergleich beider Städte jedoch ein gegenläufiger Trend beim Ausmaß leichter bis schwerer Gewaltformen: Während in Hannover ein Rückgang des Anteils von Mehrfachtätern zu beobachten war, gab es in München einen beachtlichen Anstieg dieser Gruppe (Rabold et al. 2008). Weitere Studien für die Städte Hamburg (Block et al. 2007) zwischen 1998 und 2005 sowie Greifswald (Dünkel/Geng 2002) zwischen 1998 und 2002 referieren ebenfalls rückläufige Trends bei der Jugendgewalt, wobei die Zahlen für die Stadt Greifswald ab 2002 stagnieren (Dünkel et al. 2007). Im Vergleich zu Deutschland stellt sich der internationale Forschungsstand hinsichtlich der schulischen Gewaltentwicklung aussagekräftiger dar. Ein internationaler Ländervergleich durch die HBSC-Studie konstatiert von 1993/94 zu 2005/06 für die meisten untersuchten Länder ein Rückgang der Gewalt: Während in Westeuropa, Skandinavien sowie in den meisten osteuropäischen Ländern die Gewalt rückläufig war, am deutlichsten in der Tschechischen Republik und Dänemark, zeigt sich in Großbritannien, Griechenland und Kanada keine Veränderung im Gewaltvorkommen bzw. ein leichter Anstieg (Molcho et al. 2009). Für Spanien ist eine Abnahme der Gewaltbelastung insbesondere hinsichtlich verbaler Gewalt und Ausgrenzungen von 1996 bis 2006 nachweisbar (del Barrio et al. 2008). Für die USA dokumentieren verschiedene repräsentative Studien ebenfalls eine Abnahme der Gewaltbelastung seit den 1990er Jahren (zusammenfassend siehe Finkelhor 2013). Rigby und Smith (2011) fassten in einer Literaturstudie den Forschungsstand zu internationalen Trendstudien im Zeitraum von 1990 bis 2009 zusammen. Für jedes der untersuchten Länder wurde auf die HBSC-Studie als einzig vorhandene Trendstudie verwiesen. Weltweit kann kein Anstieg der Gewaltbelastung an Schulen festgestellt werden. Während traditionelle Formen (z.B. verbale Erniedrigung) abgenommen haben, belegen Trendstudien sowohl für England (Rivers/Noret 2010) als auch für die USA (Wolakl et al. 2006) eine Zunahme neuer Phänomene wie Cybermobbing im Zeitraum von 1999 bis 2006 (Rigby/Smith 2011). Auch aktuelle Analysen bestätigen diese Trendentwicklung zum aggressiven Onlineverhalten (z.B. Kessel Schneider et al. 2015). Die österreichische Studie von Denis Ribeaud (2015) macht auf gegenläufige Entwicklungstrends zwischen Hell- und Dunkelfeld aufmerksam. Laut den Polizeilichen Kriminalstatistiken ist die Gewaltrate bei den 10- bis 17-Jährigen im Hellfeld im Zeitraum von 1991 bis 2006 gestiegen. Darauf folgte ein kontinuierlicher Rückgang der Gewaltrate bis 2013, was in etwa 282

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Die Veränderung von Gewalt an Schulen dem Niveau der frühen 2000er Jahre entspricht. Die Daten der Schülerbefragungen, die einen Einblick in das Dunkelfeld der Gewalt erlauben, zeigen für den Zeitraum von 1999 bis 2014 eher stagnierende Opfer- und Tätererfahrungen bzw. einen leichten Anstieg. Für den Untersuchungszeitraum lässt sich ferner feststellen, dass Jungen einem höheren Risiko unterliegen, Opfer von Körperverletzungen, Erpressung und Raub zu werden, wobei die Opfererfahrungen im Zeitraum 1999 bis 2014 enorm sanken. Bei den Mädchen ist das Risiko, Opfer sexueller Gewalt zu werden, um ein Vielfaches höher als bei den Jungen. Solche Opfererfahrungen haben bei den Mädchen nur leicht abgenommen. Zusammenfassend kennzeichnen die wenigen nationalen Befunde zur Gewaltentwicklung an Schulen einen positiven Trend. Die Betrachtung nach Geschlecht, Alter und Schulform liefert dabei differenzierte Ergebnisse, wenngleich zum Teil gegenläufige Trends sichtbar werden. Es lässt sich resümieren, dass der stärkere Anstieg unbeteiligter Schülerinnen und Schüler an Gewaltphänomenen zur Folge hat, dass die Anteile der Opfer und vor allem die der Täter abnehmen. Auffällig ist auch die besondere Rolle der Geschlechter bei der Gewaltreduktion. Speziell den Jungen kann eine stärker abnehmende Opfer- und Täterschaft nachgewiesen werden. Auch internationale Studien weisen auf rückläufige Trends hin. Gleichzeitig machen sie auf neue Phänomene wie etwa Cybermobbing aufmerksam, welche im Gegensatz zu traditionellen Formen eher zugenommen haben.

4. Gewaltentwicklung an sächsischen Schulen. Zentrale Ergebnisse einer Replikationsstudie 1996 und 2014

Im Folgenden werden Befunde zum Zeitvergleich der Erhebungsjahre 1996 und 2014 vorgestellt. Ausgangspunkt ist die Teilstudie „Gewalt an Schulen“ im Rahmen der DFG-Studie „Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (SFB 227)“ von 1996 (Forschungsgruppe Schulevaluation 1998). Mit einer vergleichbaren Stichprobe und analogen Erhebungsinstrumenten konnten 18 Jahre später mit dem DFG-Forschungsprojekt „Lehrerhandeln bei Gewalt und Mobbing. Eine Studie zu Formen, Determinanten und Auswirkungen des Interventionshandelns aus Lehrer- und Schülersicht“ (Bilz et al. 2017) Veränderungen im Gewaltniveau an sächsischen Schulen analysiert werden. Da der Gewaltforschung der 1990er Jahre „Gewalt“ als theoretischer Leitbegriff mit seinen verschiedenen Facetten (verbal, physisch, psychisch) zugrunde lag, werden für den angestrebten Zeitvergleich der Studien von 1996 und 2014 solche Ergebnisse präsentiert, die Aussagen zur Gewalt und deren Entwicklung an sächsischen Schulen zulassen (Abschnitte 4.3.1 und 4.3.2).

4.1 Stichprobe Sowohl 1996 als auch 2014 wurden Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen sechs und acht an Gymnasien, Oberschulen (ehem. Mittelschulen) und Förderschulen mit den Schwerpunkten Lernen, Sprache und Erziehungshilfe im Bundesland Sachsen befragt. Insgesamt konnten im Jahre 1996 3.147 Schülerinnen und Schüler (50,8% weiblich) befragt werden (Rücklaufquote 79%). Für die zeitvergleichende Analyse werden davon die 2.132 Schülerinnen

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Saskia Niproschke und Schüler berücksichtigt, die den Klassenstufen sechs und acht angehören. Die Erhebung im Jahre 1996 fand im Schuljahr 1995/96 statt (Forschungsgruppe Schulevaluation 1998). Die Erhebung im Jahre 2014 wurde gegen Ende des Schuljahres 2013/2014 in den Klassenstufen sechs und acht durchgeführt. Hiervon nahmen an den insgesamt 24 befragten Schulen 2.071 Schülerinnen und Schüler (48,7% weiblich) an der schriftlichen Befragung teil (Rücklaufquote 78%).

4.2 Methodik Um Trendaussagen zur Entwicklung des Gewaltniveaus an sächsischen Schulen treffen zu können, wurden Skalen und Items aus der 1996er DFG-Befragung für die 2014er DFG-Erhebung übernommen. Zur Analyse des Gewaltausmaßes von und gegen Schülerinnen und Schüler wurden solche Items verwendet, die in der Selbstauskunft die Häufigkeit der erlebten bzw. selbst ausgeführten Gewalthandlungen quantifizieren. Die Opfererfahrungen wurden mit fünf Items erhoben (z.B. „Wie oft bist du selbst an deiner Schule oder auf dem Schulweg in den letzten 12 Monaten von anderen angeschrien, beschimpft, beleidigt worden?“ oder „...von anderen geschlagen worden?“). Zur Erfassung der Tätererfahrungen kamen sechs Items zum Einsatz (z.B. „Andere unter Druck gesetzt.“ oder „Andere mit gemeinen Ausdrücken beschimpft.“), denen die Frage „Wie oft hast du selbst an deiner Schule oder auf dem Schulweg in den letzten 12 Monaten Folgendes gemacht?“ vorausging. Für alle Items wurde eine sechsstufige Antwortskala von 1 = „nie“, 2 = „seltener“, 3 = „alle paar Monate“, 4 = „mehrmals im Monat“, 5 = „mehrmals wöchentlich“ bis 6 = „fast täglich“ verwendet. Die interne Konsistenz der Skala zu den Opfererfahrungen betrug im Untersuchungsjahr 1996 Cronbachs α =.82 und im Untersuchungsjahr 2014 Cronbachs α =.73. Die Reliabilität der Skala zu den Tätererfahrungen betrug im Untersuchungsjahr 1996 Cronbachs α =.86 und im Untersuchungsjahr 2014 Cronbachs α =.82. Sowohl die Opfer- als auch die Tätererfahrungen werden differenzierter auf Itemebene untersucht. Hierfür werden die Antwortskalen dichotomisiert: Opfererfahrungen vs. keine Opfererfahrungen, Tätererfahrungen vs. keine Tätererfahrungen. Als Opfer- oder Tätererfahrung wird definiert, wenn Schülerinnen und Schüler „alle paar Monate und öfter“ gewaltförmigen Handlungen ausgesetzt sind bzw. ausgeführt haben. Dafür werden die Antwortalternativen 3 = „alle paar Monate“ bis 6 = „fast täglich“ zusammengefasst. Die zeitvergleichende Analyse geht über die Darstellung der Opfer- und Tätererfahrungen hinaus. Um dies zu ermöglichen und auch um an in der Vergangenheit publizierte Darstellungen anzuknüpfen, werden die Schülerinnen und Schüler in die etablierte Täter-Opfer-Typologie bestehend aus Unbeteiligte, Opfer, Täter und Täter-Opfer (Personen, die sowohl Täter als auch Opfer sind) gruppiert (Olweus 2002). Zur Erstellung der Typologie gelten Schülerinnen und Schüler als Opfer oder Täter, wenn sie Opfer- bzw. Tätererfahrungen gemacht haben (3 = „alle paar Monate“ bis 6 = „fast täglich“). Schülerinnen und Schüler, die weder Opfer- noch Tätererfahrungen aufweisen, werden als Unbeteiligte klassifiziert (1 = „nie“ und 2 = „seltener“). Als Täter-Opfer werden schließlich Schülerinnen und Schüler definiert, die sowohl als Opfer sowie als Täter in Erscheinung treten.

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Die Veränderung von Gewalt an Schulen

4.3 Ergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse des Zeitvergleichs von 1996 und 2014 im Hinblick auf die Frage, ob die Gewalt an sächsischen Schulen ab- oder zugenommen hat, vorgestellt. In einem ersten Schritt werden die Entwicklungstrends des Gewaltniveaus an sächsischen Schulen aus einer ersten zeitvergleichenden Analyse (Niproschke et al. 2016) zusammengefasst und Aussagen zur Veränderung von Opfer- und Tätererfahrungen getroffen (Abschnitt 4.3.1). Daran anknüpfend sollen in einem zweiten Schritt abermals die Opfer- und Tätererfahrungen und darüber hinaus das Rollengefüge in Gewaltsituationen im Hinblick auf Unterschiede der Verbreitung von Schülergewalt nach Geschlecht, Schulform und Klassenstufe überprüft werden (Abschnitt 4.3.2). 4.3.1 Veränderungen von Opfer- und Tätererfahrungen und Gewaltphänomenen Nachfolgend wird aufgezeigt, ob sich das Gewaltniveau an sächsischen Schulen im Vergleich der Erhebungen von 1996 zu 2014 verändert hat. Hierfür werden erstens die zusammengefassten Opfer- und darauffolgend die Tätererfahrungen vorgestellt. Für eine differenziertere Betrachtung schließt sich der Vergleich verbaler, physischer und psychischer Gewaltformen und deren Ausprägungen aus Opfer- und Tätersicht an. a) Opfererfahrungen im Zeitvergleich 1996 und 2014 Zur Analyse der Opfererfahrungen sollten die befragten Schülerinnen und Schüler sowohl 1996 als auch 2014 ihre selbst erlebten Gewalterfahrungen in den letzten 12 Monaten einschätzen. Der Vergleich der Mittelwerte der Skalen für die Opfererfahrungen 1996 (n = 2063) und 2014 (n = 2027) ergibt einen signifikanten Unterschied (t-Test, p