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German Pages 637 [640] Year 2006
Europäische Methodenlehre Handbuch für Ausbildung und Praxis
Karl Riesenhuber (Hrsg.)
Europäische Methodenlehre Handbuch für Ausbildung und Praxis
De Gruyter Recht · Berlin
Herausgeber: Professor Dr. Karl Riesenhuber, M.C.J., Professur für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Handels- und Wirtschaftsrecht an der Ruhr-Universität Bochum
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, ● das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt
ISBN-13: 978-3-89949-345-0 ISBN-10: 3-89949-345-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Copyright 2006 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Christopher Schneider, Berlin Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Das hier vorgelegte Lehr- und Handbuch „Europäische Methodenlehre“ ist aus dem gleichnamigen Tagungsband hervorgegangen. Der Tagungsband stieß auf reges Interesse, es zeichnete sich schon kurz nach seinem Erscheinen ab, daß er bald vergriffen sein würde. Dem Interesse von Wissenschaft, Ausbildung und Praxis wollen Herausgeber und Autoren Rechnung tragen, wenn sie das Werk nun in einer erweiterten Fassung vorlegen. Die Beiträge aus dem Tagungsband wurden überarbeitet und teilweise auch ergänzt. Weitere Beiträge sind hinzugekommen, um das Gesamtbild abzurunden. Das sind zunächst Beiträge zu Aspekten der Rechtsgeschichte von Prof. Dr. Christian Baldus und Prof. Dr. Jan Dirk Harke. Neu eingefügt sind zudem Beiträge zur Vorwirkung von Richtlinien von Dr. Christian Hofmann, LL.M. oec.int. und zum Europäischen Kartellrecht von Prof. Dr. Thomas Ackermann, LL.M. Auch an dieser Stelle ist noch einmal der Fritz Thyssen Stiftung zu danken, die die Tagung „Europäische Methodenlehre“ gefördert und so auch zur Erstellung des vorliegenden Bandes beigetragen hat. Ferner danke ich meinen Mitarbeitern an der Europa-Universität Viadrina und der Ruhr-Universität Bochum, die mich wiederum mit Freude und Engagement unterstützt haben, unter ihnen besonders Herrn Referendar Frank Rosenkranz, der mich bei der Fahnendurchsicht und der Erstellung des Stichwortregisters gedankenreich unterstützt hat. Berlin/Bochum, im August 2006
Karl Riesenhuber
V
Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur §1
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. V . IX . XXVII . XXIX . XXXV
Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Riesenhuber . .
1
1. Teil: Grundlagen §2 §3 §4 §5 §6
System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht Harke Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert Baldus . . . . . . . . . . Die Rechtsvergleichung Schwartze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ökonomische Theorie Kirchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht Franck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 32 75 93
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133
Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Pechstein/Drechsler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die primärrechtskonforme Auslegung Leible/Domröse . . . . . . . . . . .
159 184
2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen §7
Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen
Abschnitt 2 Primärrecht §8 §9
Abschnitt 3 Sekundärrecht . . . .
217 244 273 292
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Roth . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung Habersack/Mayer . . . § 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . .
308 334 366
§ 10 § 11 § 12 § 13
Systemdenken und Systembildung Grundmann . . . . . Die Auslegung Riesenhuber . . . . . . . . . . . . . . . Die Konkretisierung von Generalklauseln Röthel . . . Die Rechtsfortbildung Neuner . . . . . . . . . . . . . .
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Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht
VII
Inhaltsübersicht
3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten . . . . .
389 410 448 492 512
§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH Stotz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 23 Die Rechtsprechung des BGH Schmidt-Räntsch . . . . . . . . . . . . . .
532 552
§ 17 § 18 § 19 § 20 § 21
Europäisches Vertragsrecht Schmidt-Kessel . . . . Europäisches Arbeitsrecht Rebhahn . . . . . . . . . Europäisches Gesellschaftsrecht Windbichler/Krolop Europäisches Kapitalmarktrecht Kalss . . . . . . . Europäisches Kartellrecht Ackermann . . . . . . . .
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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung
VIII
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
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. V . XXVII . XXIX . XXXV
§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Karl Riesenhuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
II. Inhalte der Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I. Europa und Methodenlehre
2
III. Begriff der Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
1. Teil § 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht Jan Dirk Harke I. Ein System des römischen Vertragsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die herkömmliche Ansicht: Vom Typenzwang zur Vertragsfreiheit . . . . . . . . . 2. Eine ‚unfruchtbare‘ Einteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zeitliche Abfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Realverträge: Haftung aus Vorenthaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Stipulation: Verpflichtung aus Rechtsfolgenanordnung . . . . . . . . . . . . . 6. Die Konsensualverträge: Verpflichtung aus Bestimmung des Geschäftsgegenstands 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegung im römischen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . 1. Quod actum est und der Gegensatz von verba und voluntas 2. Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktion der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6 6 11 13 18 20 20 24
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II. Römische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normbildung und interpretatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aussagen der klassischen Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
38 38 40
§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert Christian Baldus I. Einführung . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . 2. Rechtsvergleichender Überblick 3. Zum Folgenden . . . . . . . .
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IX
Inhaltsverzeichnis III. Hermeneutische Positionen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spätes Gemeines Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik . . . . . . . . . . . . . . 3. Überblick zu den Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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45 47
IV. Deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick zu einzelnen Autoren . . . . . . . 3. Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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56 56 56 65
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66
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V. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert
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VI. Überschneidungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
VII. Folgerungen für das Gemeinschaftsprivatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
§ 4 Die Rechtsvergleichung Andreas Schwartze I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode
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76
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78 79 80 81 83
III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH . . . . . . . . . . . . 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte . . . . . . . .
85 85 88
IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissenschaftliche Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Zusammenfassung – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herkömmliche Rechtsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuartige Regelungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 5 Die ökonomische Theorie Christian Kirchner I. Problemstellung und Gang der Darstellung
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II. Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . .
98 98
X
Inhaltsverzeichnis 2. Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3. Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 V. Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze . . . . . . . . 1. Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas . . . 2. Methodische Defizite von Wirkungsanalysen . . . . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen . . . . . . . . 1. Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen) 4. Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . 5. Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen . . . . . . . . . 6. Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens . . . . . . . . . . . . . 7. Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis . . . . . . . 8. Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes .
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VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes 3. Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz . . . a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie . . . . . c) Unterschiedlicher normativer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX. Zwischenfazit: eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 X. Legislative Rechtsfortbildung: der Beitrag der ökonomischen Theorie 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positive Analyse von Normsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . 3. Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht . . 4. Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren . . . . . . .
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XI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
§6
Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht Jens-Uwe Franck I. Ökonomische Theorie und Ausgestaltung von Privatrechtsregeln
. . . . . . . . . . 121
II. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz . . . . . . . . . . . . 123 III. Ökonomische Denkmuster als Schlüssel zum Verständnis der Grundfreiheitendogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 IV. Ökonomische Argumente und Auslegung privatrechtlicher Richtlinien
. . . . . . . 128
V. Zur Wahl des Regelungsinstruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 VI. Zusammenfassung
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XI
Inhaltsverzeichnis
2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Johannes Köndgen I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts . . . . . a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: Von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom klassischen zum „regulativen“ Privatrecht – und wieder zurück? . . . .
. . 134 . . 134 . . 137 . . 137 . . 139
II. Das Primärrecht: Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Privatrechts . . . . . . . . . 141 1. Geltungsvorrang der Grundfreiheiten vor dem nationalen Privatrecht? . . . . . . . 141 2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion . . . . . . 1. Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . . aa) Richtlinien als „medialisierte“ Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts . . . . . . . . . . . . aa) Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung . . . . . . . . . . . bb) Defizite bei den Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Erwägungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer b) Die Verordnung über die Societas Europea . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? . . . . . . . . . . . 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts? . . . . . . . . . . . .
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IV. „Indirekte“ Wirkungen von Gemeinschaftsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 V. Europäisches Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitteilungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission . . . . . . . . . . . . . b) Empfehlungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Expertenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. Lamfalussy-Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Koregulierung“: Codes of Best Practice . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Résumé und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
XII
Inhaltsverzeichnis
Abschnitt 2 Primärrecht §8
Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Matthias Pechstein/Carola Drechsler I. Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
II. Rechtliche Unterscheidung zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht . . . . . . . 161 1. Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Rechtsnatur des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Europarecht
. . . . . . . . . . . . . . . . 164
IV. Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen . 2. Einzelne Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsvergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . .
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V. Auslegungsmethoden im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK . . . . . . . a) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsvergleichende Auslegung . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . .
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VI. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 VII. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 VIII. Zusammenfassung
§9
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Die primärrechtskonforme Auslegung Stefan Leible/Ronny Domröse I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung . . . . . . 186
II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheitenund grundrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung . . cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung . . . . . (1) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 187 . 188 . 188 . . . .
189 189 190 190
. 190
XIII
Inhaltsverzeichnis (2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts und die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . .
. . 191 . . 194 . . 194 . . 194 . . 197 . . 197 . . 198 . . 199 . . 201
III. Die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . b) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Gemeinschaftsrechts . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts . a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? . . . . . . . . . . . . . c) Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationales Recht des forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . 202
IV. Exkurs: Das primäre Gemeinschaftsrecht als Gegenstand der Konformauslegung? 1. Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . 3. National-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . .
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XIV
. . 202 . . 202 . . 203 . . 204 . . 205 . . 206 . . 206 . . 207 . . 208 . . 208 . . 208 . . 209 . . 209 . . 211 . . . .
213 213 214 216
Inhaltsverzeichnis
Abschnitt 3 Sekundärrecht § 10 Systemdenken und Systembildung Stefan Grundmann I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 II. Gesamtsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweiebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eckpunktemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modell der materiellen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit b) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einführung zu den Einzelgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz a) Vertragsrechtsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wettbewerb der Formen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . b) Überblick zu weiteren Systemgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften . . . . b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen . . . . . . . a) Wettbewerb der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompatibilität der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Generalisierbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . .
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219 219 219 220 222 222 223 224 224 225 228
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V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
§ 11 Die Auslegung Karl Riesenhuber I. Autonome Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 II. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 III. Kriterien der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
XV
Inhaltsverzeichnis 1. Die grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wortlaut und Sprachenvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Relativität der Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die historische und genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugängliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen . . . . . . . . . d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ . . . . . . . . . . . . . e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelungszweck und Angleichungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . c) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . .
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IV. Rangfolge der Auslegungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 V. Einzelne Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. „In dubio pro consumente“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln Anne Röthel I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 II. Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung . 1. Institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz . . . . a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht b) Rechtsangleichungsintention . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung auf die Klauselrichtlinie . . . . . . . . . . . . III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH . . . . . . . 1. Océano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiburger Kommunalbauten . . . . . . . . . . . . 3. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung . . .
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IV. Konkretisierung als Methodenproblem . . . . . . . . . . . . . 1. Methodische Modellvorstellung der Konkretisierung . . . . 2. Konkretisierung durch Auslegung i.e.S. . . . . . . . . . . . . 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Referenzordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Regelung bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen . . . . . . . b) Prinzipien und Leitbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Konkretisierung als Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
XVI
Inhaltsverzeichnis
§ 13 Die Rechtsfortbildung Jörg Neuner I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts . . 2. Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts 3. Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts . .
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III. Die Schranken der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . 1. Die Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . a) Die kompetentielle Dimension . . . . . . . . . . aa) Das institutionelle Gleichgewicht . . . . . . bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit b) Die inhaltliche Dimension . . . . . . . . . . . . aa) Die Wortsinngrenze . . . . . . . . . . . . . bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht . . . c) Die zeitliche Dimension . . . . . . . . . . . . . aa) Die Vorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bindung an das Präjudiz . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit . . . . b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes . . . . .
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IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung . . . 1. Die Rechtsfindung praeter legem . . . . a) Die Lückenfeststellung . . . . . . . . aa) Das externe System . . . . . . . bb) Das interne System . . . . . . . b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung aa) Der Gleichheitssatz . . . . . . . bb) Das Primärrecht . . . . . . . . . c) Die Grenzen der Lückenausfüllung . aa) Analogieverbote . . . . . . . . . bb) Unausfüllbare Lücken . . . . . . 2. Die Rechtsfindung contra legem . . . . a) Die Feststellung der Nichtigkeit . . . b) Die Folgen der Nichtigkeit . . . . . . c) Die Einzelfallgerechtigkeit . . . . . .
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II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 1. Die rechtsprechende Gewalt . . . 2. Die gesetzgebende Gewalt . . . . 3. Die faktische Gewalt . . . . . . .
V. Schlußbetrachtung
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Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Wulf-Henning Roth I. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . a) Auslegung der lex fori . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats
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XVII
Inhaltsverzeichnis 2. Richtlinien- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . 3. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 5. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte . . . . . . . . a) „So weit wie möglich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umsetzungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . a) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? c) Schranken des nationalen (Verfassungs-) Rechts . . . . . . . .
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II. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht . . . . . . . . . . . . . 1. Richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts . . . . . . . a) Wille des deutschen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden . 3. Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel . . . . . . . . . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3 GG . . b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? . . . . . . . . . . c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . . . . . . bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . .
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung Mathias Habersack/Christian Mayer I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 335 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . cc) Lauterkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Örtlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fakultative Umsetzung, opt-out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Textgleiche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Auslegung des nationalen Rechts
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Inhaltsverzeichnis 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht? . . . . . . . . a) Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschußbereich? . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht . . . . . . 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschußbereich . . . . . . . . . a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermutung für einheitliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gründe für eine gespaltene Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die nach der hier vertretenen Methodik zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung entscheidende Frage . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 362 . . . 362 . . . 363 . . . 363
V. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Christian Hofmann I. Rechtswirkung von Richtlinien im Umsetzungsstadium
. . . . . . . . . . . . . . . . 367
II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von Richtlinien . . . . . . . 1. Umsetzungspflicht und Anwendungsvorrang erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung . . . . . . . . . . . . 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge . . . . .
. . . . . . . . . . . 367 . . . . . . . . . . . 367 . . . . . . . . . . . 368 . . . . . . . . . . . 369
III. Die Sperrwirkung erlassener Richtlinien für den nationalen Gesetzgeber 1. Die Vorgaben des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie . b) Die Vorgaben in der Rechtssache Mangold . . . . . . . . . . . . . 2. Die Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen der Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Die Vorwirkung von Richtlinien im Hinblick auf die Rechtsauslegung nationaler Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . . 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung: Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorfrage: Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . .
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370 370 370 372 373 374 374
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375 375 376 376 377 378
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XIX
Inhaltsverzeichnis b) Nationale Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 c) Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 V. Die Vorwirkung von Richtlinien im Hinblick auf die Rechtsanwendung nationaler Verwaltungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 VI. Zusammenfassung
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3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Vertragsrecht Martin Schmidt-Kessel I. Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . 391 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 II. Methoden des Gemeinschaftsrechts im Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Instrumentarium des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts . . . . . . . . . . . . . 3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . .
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396 396 396 397
IV. Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . 1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium . 2. Objektivierungen . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung des Auslegungsmaterials b) Risikozuweisungen . . . . . . . . . .
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V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht . . . . . . . 1. Anpassung der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons . . . . a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte . . . . . . . . b) Telos der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systemgestützte Erwägungen . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre . . . . . . . 4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht
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VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen 1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen . . . . . . . . . . . 3. Zur künftigen Auslegung des Instruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht 1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive . . . . . 2. Anwendung des etablierten Kanons? . . . . . . 3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts . . 4. Verbot der Analogie? . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
§ 18 Europäisches Arbeitsrecht Robert Rebhahn I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 II. Allgemeines zu den Methoden der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiede je nach Rechtsquelle oder Rechtsgebiet? . . . . . . . . . . . . . 2. Verweis auf Vorjudikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlußanträge der Generalanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einheitliche Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wichtige Argumente: Wortlaut, Rechtstextzusammenhang, Regelungszweck . a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtstextzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weniger wichtige Argumente: Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung 7. Kompetenzkonforme Interpretation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Inneres System und favor laboris als Argumente? . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Pragmatische Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Allgemeine Rechtsgrundsätze: Grundrechte, Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ausgewählte Entscheidungen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis 5. Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner . . . 6. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Richter und Urteilsstile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 V. Schlußbemerkungen
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht Christine Windbichler/Kaspar Krolop I. „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäische Regelungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamik der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz
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II. Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 1. Praktisches Ausgangsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462
XXI
Inhaltsverzeichnis a) Sachverhalt in BGHZ 110, 47 – IBH/Lemmerz . . . . . . . . . . . . . . b) Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inferent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gesellschaft selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übrige Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökonomische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtlicher Einstieg: Deutsches Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . a) Forderungseinbringung als Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung c) Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion . . . . . . . . . 3. Erschließung der europäischen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorlage beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) 1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm . . . . . . . . . . . . . bb) 2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes . b) Methodische Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kollisionsrechtliche Ebene: Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatus . . . . . . . . . b) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . . . . . . aa) Einordnung nach nationalem Kollisionsrecht: Fallbeispiel Insolvenzverschleppungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die europarechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verzahnung von europäischer und nationaler Ebene: Methodenfragen bei der SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht . . . . . . . b) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie bei der SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellung der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer bei der SE in der Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . c) SE als besondere Herausforderung im Wettbewerb der Rechtsordnungen
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§ 20 Kapitalmarktrecht Susanne Kalss I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 II. Junges dynamisches Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . 1. Dramatische Änderung des Marktes . . . . . . . . . . . 2. Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 3. Die Rolle von CESR bei Normsetzung und -auslegung . 4. Besonderheiten für die Interpretation der Normen . . . 5. CESR – Dritte Regelungsebene . . . . . . . . . . . . . .
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III. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 1. Öffentliches – Privates Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504
XXII
Inhaltsverzeichnis 2. 3. 4. 5. 6.
Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur . Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur Vertragliche Regelungen . . . . . . . . . . . Schutzgesetzcharakter von Normen . . . . Gespaltene Interpretation . . . . . . . . . .
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IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
§ 21 Europäisches Kartellrecht Thomas Ackermann I. Die Quellen des Gemeinschaftskartellrechts . . . . . . . 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kartellverordnung . . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppenfreistellungsverordnungen . . . . . . . . c) Die Fusionskontrollverordnung . . . . . . . . . . 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission?
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II. Die Interpretation EG-kartellrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Autonome Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung 3. Das Verhältnis der gemeinschaftlichen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rolle der gemeinschaftlichen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ausstrahlung des Gemeinschaftskartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des Gemeinschaftskartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts . . . a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeblicher GWB-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
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514 514 515 515 516 516 517
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. . . . . 527 . . . . . 527 . . . . . 529 . . . . . 529 . . . . . 530 . . . . . 531
Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 22 Die Rechtsprechung des EuGH Rüdiger Stotz I. Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit II. Die Auslegung nationalen Rechts
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III. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Bedeutung von Präjudizien
. . . 537 . . . 537 . . . 540 . . . 547
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V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551
XXIII
Inhaltsverzeichnis
§ 23 Die Rechtsprechung des BGH Jürgen Schmidt-Räntsch I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch den BGH 1. Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Auslegungskompetenz des BGH . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegungsmonopol des EuGH . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . b) Anwendung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . 2. Vorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungserhebliche Fragen . . . . . . . . . . . b) Vorlagezeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorlageberechtigte Gerichte . . . . . . . . . . . . . . d) Vorlageermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagepflicht des BGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . aa) Klärung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EG-Rechts . cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . 4. Vorlageverfahren vor dem BGH . . . . . . . . . . . . . a) Form und Anlaß der Vorlage . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt des Vorlagebeschlusses . . . . . . . . . . . . . aa) Tenor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Praxis des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Technische Abwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH . . . . . . . . . . . . a) Schriftliches Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . b) Mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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556 556 556 557 558 558 558 559 560 560 560 561 561 562 562 563 564 564 565 565 565 566 566 566 566 567 567
III. Auslegungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts . . a) Primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . b) Verordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Richtlinien und Rahmenbeschlüsse . . . . . . . . . . . . 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . . . a) Umsetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . . aa) EG-konforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln . . . . . 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EG-Recht . . . . . a) EG-rechtliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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567 567 568 569 569 569 569 570 572 572 572 573 573 574 575 576 577 577
XXIV
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Inhaltsverzeichnis b) Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten . . . . a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten b) Überbrückung durch Rechtsprechung . . . IV. Auslegungsmethoden . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . 2. Wortlautauslegung . . . . 3. Systematische Auslegung 4. Historische Auslegung . . 5. Teleologische Auslegung .
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580 580 580 580 581 581
V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582
XXV
Autorenverzeichnis Thomas Ackermann Christian Baldus Ronny Domröse Carola Drechsler Jens-Uwe Franck
Stefan Grundmann Mathias Habersack Jan Dirk Harke Christian Hofmann Susanne Kalss Christian Kirchner Johannes Köndgen Kaspar Krolop Stefan Leible Christian Mayer Jörg Neuner Matthias Pechstein Robert Rebhahn Karl Riesenhuber Wulf-Henning Roth
Dr.iur., LL.M., Professor an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg Dr.iur., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Wiss. Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Wiss. Mitarbeiterin an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., LL.M. oec., wiss. Mitarbeiter an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr.iur. Dr.phil., LL.M., Professor an der HumboldtUniversität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Johannes GutenbergUniversität Mainz Dr.iur., Professor an der Bayerischen JuliusMaximilians-Universität Würzburg Dr.iur., LL.M. oec.int., wiss. Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., LL.M., Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien Dr.iur., Dr.rer.pol., LL.M., Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Friedrich-WilhelmsUniversität, Bonn Dr.iur., wiss. Mitarbeiter an der HumboldtUniversität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Universität Bayreuth M.Jur., wiss. Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg Universität Mainz Dr.iur., Professor an der Universität Augsburg Dr.iur., Professor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., Professor an der Universität Wien Dr.iur., M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum Dr.iur., LL.M., Professor an der Friedrich-WilhelmsUniversität, Bonn
XXVII
Autorenverzeichnis
Anne Röthel Martin Schmidt-Kessel Jürgen Schmidt-Räntsch Andreas Schwartze Rüdiger Stotz
Christine Windbichler
XXVIII
Dr.iur., Professorin an der Bucerius Law School, Hamburg Dr.iur., Professor am European Legal Studies Institute der Universität Osnabrück Dr.iur., Richter am Bundesgerichtshof Dr.iur., LL.M., Professor an der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck Dr. iur., LL.M., Honorarprofessor an der RWTH Aachen, Ministerialdirigent im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Dr.iur., LL.M., Professorin an der HumboldtUniversität zu Berlin
Abkürzungsverzeichnis a.A. A.C. a.E. a.F. a.M. aaO abgedr. abl. Abs. Abschn. AbzG AE-EuVGB
AGBG ähnl. Am.J.Comp.L. Abl. AöR ArbuR Art. AStV ausdr. AWD B.U.L.Rev. BaFin BB BE
BeckRS BGB BGBl. BGH-Report
anderer Ansicht Appeal Cases am Ende alte Fassung anderer Meinung am angegebenen Ort abgedruckt ablehnend Absatz Abschnitt Abzahlungsgesetz Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler („Akademieentwurf“) Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen ähnlich/e The American Journal of Comparative Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Amtsblatt Archiv für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr] Seite) Arbeit und Recht – Zeitschrift für Arbeitsrechtspraxis (Jahr, Seite) Artikel Ausschuß der Ständigen Vertreter (s. Art. 207 Abs. 1 EG), s.a. CoRePer ausdrücklich Außenwirtschaftsdienst (Jahr, Seite; später RIW) Boston University Law Review Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Betriebs-Berater (Jahr, Seite) Begründungserwägung; die Gründe, mit denen gem. Art. 253 EGV Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen zu versehen sind Beck-Rechtsprechung, Beck Online Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt BGH-Report, Schnelldienst zur Rechtsprechung des BGH (Jahr, Seite)
XXIX
Abkürzungsverzeichnis
BKR BLRev BT-Drs. bzgl. Cambr.L.J. ch. CISG CMLR CMR
Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (Jahr, Seite) Business Law Review (Jahr, Seite) Bundestags-Drucksache bezüglich Cambridge Law Journal (Jahrgang [Jahr] Seite) chapter Convention on the International Sale of Goods Common Market Law Review (Jahr, Seite) Convention relative au contrat de transport international de marchandises par route Code civil Französischer Code civil von 1804 Col.J.Eur.L. Columbia Journal of European Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Colum. J. Transnat’l L. Columbia Journal of Transnational Law CoRePer Comité des Représentants Permanents, s.a. AStV CR Computer und Recht (Jahr, Seite) Curr.Leg.Prob. Current Legal Problems (Jahrgang [Jahr] Seite) ders. derselbe dies. dieselbe/n DÖV Die öffentliche Verwaltung DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt E.L.Rev. European Law Review (Jahrgang [Jahr] Seite) EB Erläuternde Bemerkungen (Gesetzesbegründung, Österreich) ebd. ebenda EBLR European Business Law Review EEA Einheitliche Europäische Akte EG 1. Europäische Gemeinschaft; 2. Nach Bezeichnung eines Artikels: EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 EGV EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrags über die Europäische Union vom 7.2.1992 (Maastrichter Fassung) Einl. Einleitung ERCL European Review of Contract Law (Jahrgang [Jahr] Seite) ERPL European Review of Private Law – Revue européenne de droit privé – Europäische Zeitschrift für Privatrecht (Jahr und Seite) EU 1. Europäische Union; 2. Nach Bezeichnung eines Artikels: EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union, Konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 EuLF (UK) The European Legal Forum – englische Ausgabe (Jahr, Seite) EuLF The European Legal Forum – deutsche Ausgabe (Jahr, Seite) EuR Europarecht EUV EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (Maastricht-Vertrag)
XXX
Abkürzungsverzeichnis
EuZW EWIV
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Verordnung über die Schaffung einer europäischen Interessenvereinigung EWS Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) FG Festgabe FKVO Fusionskontrollverordnung Fordham Int’l LJ Fordham International Law Journal FS Festschrift GmbHR GmbHRundschau GPR Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht GRUR Int. Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil (Jahr, Seite) GRUR Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Jahr, Seite) GS Gedächtnisschrift GVO Gruppenfreistellungsverordnung Harv.Int.L.J. Harvard International Law Journal (Jahrgang [Jahr] Seite) h.M. herrschende Meinung HWiG Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften i.e. im einzelnen i.E. im Ergebnis ICLQ International and Comparative Law Quarterly (Jahrgang [Jahr] Seite) idF in der Fassung idR in der Regel ieS im engeren Sinne ILJ The Industrial Law Journal (Jahr, Seite) Int.Enc.Comp.L. International Encyclopedia of Comparative Law Int’l. Comp. Corp. LJ International and Comparative Corporate Law Journal i.O. im Original IPR Internationales Privatrecht IPRspr. Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Internationalen Privatrechts (Entscheidungssammlung; Jahr, lfd. Nr.) iSd im Sinne des/der iSv im Sinne von Ius Commune Ius Commune – Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt a.M. (Band [Jahr] Seite) iVm in Verbindung mit IVRA Rivista internazionale di diritto romano e antico (Jahrgang [Jahr] Seite) iwS im weiteren Sinne J. Law & Econ. University of Chicago Press, Journal of Law & Economics (Jahrgang [Jahr] Seite) J. Law, Econ., Organ. Journal of Law, Economics and Organization J. Leg. Stud. Journal of Legal Studies
XXXI
Abkürzungsverzeichnis
J.Contract L. J.Crim.L. JbFfSt JbJZ JBl JBL JCE JCP JIBL JRP JuS JZ K&R krit. KWG l.Sp. Leg.Stud. LIEI LQR LRE LS m.E. maW Mich.L.R. MindestkapG MJ MLR mwN NBW n.F. NJW NJW-RR Northw.J.In.L.Bus. NVwZ NZBau NZM ORDO Oxf.J.Leg.Stud. Oxf.Rev.Econ.Pol. Pa.JIEL Pa.L.Rev.
XXXII
Journal of Contract Law (Jahrgang [Jahr] Seite) The Journal of Criminal Law (Jahrgang [Jahr, Seite) Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht (Jahr, Seite) Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler (Tagungsjahr, Seite) Juristische Blätter (Jahr, Seite) The Journal of Business Law (Jahr, Seite) Journal of Comparative Economics Journal of Consumer Policy (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of International Business Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Journal für Rechtspolitik (Jahr, Seite) Juristische Schulung (Jahr, Seite) Juristenzeitung (Jahr, Seite) Kommunikation und Recht (Jahr, Seite) kritisch Kreditwesengesetz linke Spalte Legal Studies, The Journal of the Society of Public Teachers of Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Legal Issues of European Integration Law Quarterly Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Lebensmittelrechtliche Entscheidungen (Jahr, Seite) Leitsatz meines Erachtens mit anderen Worten Michigan Law Review Gesetz zur Neuregelung des Mindestkapitals bei der GmbH Maastricht Journal of European and Comparative Law (Jahrgang [Jahr] Seite) Modern Law Review (Jahrgang [Jahr] Seite) mit weiteren Nachweisen Nieuw Burgerlijk Wetboek neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift (Jahr, Seite) NJW-Rechtsprechungsreport Zivilrecht (Jahr, Seite) Northwestern Journal of International Law and Business Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Baurecht Neue Zeitschrift für Mietrecht Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Jahr, Seite) Oxford Journal of Legal Studies (Jahrgang [Jahr] Seite) Oxford Review of Economic Policy (Jahrgang [Jahr] Seite) University of Pennsylvania Journal of International Economic Law University of Pennsylvania Law Review (Jahrgang [Jahr] Seite)
Abkürzungsverzeichnis
PECL pr.ALR Proc.Brit.Acad. ProdHG r.Sp. RabelsZ RdL Rev.trim.dr.civ. Rg RIW RL Rn.
Rs. Rspr. S. S./s. s.a. s.o. SchlA SE SEEG Slg. Sps. Stud.Gen. StudZR SZ TR TranspR Tz.
u.a. UAbs. uam umstr. UP Urt. v. verb.Rs. VerbrKrG
Principles of European Contract Law Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Proceedings of the British Academy (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesetz über die Haftung für fehlerhafte Produkte rechte Spalte Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Jahrgang [Jahr] Seite) Recht der Landwirtschaft Revue trimestrielle de droit civil (Jahrgang [Jahr] Seite) Rechtsgeschichte – Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (Jahrgang [Jahr] Seite) Recht der Internationalen Wirtschaft – Betriebs-Berater International (Jahr, Seite) Richtlinie Randnummer; im Zusammenhang mit Entscheidungen des EuGH regelmäßig (außer bei älteren Entscheidungen) zur Verweisung auf die Absätze der Entscheidungsgründe verwandt (s.a. Tz.) Rechtssache (Aktenzeichen des EuGH) Rechtsprechung Satz Siehe/siehe siehe auch siehe oben Schlußanträge Societas Europea Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft Amtliche Sammlung des EuGH Spiegelstrich Studium Generale (Jahr, Seite) Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (Jahr, Seite) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Romanistische Abteilung (Jahrgang [Jahr] Seite) Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis (Jahrgang [Jahr] Seite) Transportrecht (Jahr, Seite) Textziffer; im Zusammenhang mit Entscheidungen des EuGH regelmäßig zur Verweisung auf Ausführungen in den Schlußanträgen des Generalanwaltes verwandt (s.a. Rn.) unter anderem Unterabsatz und andere(s) mehr umstritten Unidroit Principles of International Commercial Contracts Urteil vom verbundene Rechtssachen (s.a. Rs.) Verbraucherkreditgesetz
XXXIII
Abkürzungsverzeichnis
vgl. VIZ VuR WiB WM WpHG WpÜG WRP WSA WuW Yale L.J. YEL z.B. z.T. ZaöRV ZfRV ZGR ZIP ZLR ZUM zust. zutr. ZVglRWiss
XXXIV
vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht (Jahr, Seite) Verbraucher und Recht (Jahr, Seite) Wirtschaftsrechtliche Beratung (Jahr, Seite) Wertpapier-Mitteilungen Wertpapierhandelsgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis (Jahr, Seite) Wirtschafts- und Sozialausschuß Wirtschaft und Wettbewerb (Jahr, Seite) Yale Law Journal Yearbook of European Law (Jahrgang [Jahr], Seite) zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Jahrgang [Jahr] Seite) Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Jahr, Seite) Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (Jahr, Seite) zustimmend zutreffend Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Jahrgang [Jahr] Seite)
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur AnwaltKomm BGB v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht
v. Bar, IPR I
Basedow, Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung Bengoetxea, Legal Reasoning
Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze Bydlinski, Juristische Methodenlehre Bydlinski, System und Prinzipien Calliess/Ruffert-Bearbeiter
Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz
Canaris, Systemdenken und Systembegriff Canaris, Iustitia distributiva Coing, Rechtsphilosophie Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers
Dauner-Lieb/Heidel/Ring, Anwaltkommentar zum BGB, 2005 Bar, Christian von, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Erster Band, Die Kernbereiche des Delitksrechts, seine Angleichung in Europa und seine Einbettung in die Gesamtrechtsordnung, München 1996 Bar, Christian von, Internationales Privatrecht – Erster Band: Allgemeine Lehren, München 1987, Zweiter Band: Besonderer Teil, München 1991 Basedow, Jürgen (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht, Tübingen 2000 Bengoetxea, Joxerramon, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence, Oxford 1993 Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Haag, Marcel, Die Europäische Union – Europarecht und Politik, 6. Auflage Baden-Baden 2005 Bydlinski, Franz, Fundamentale Rechtsgrundsätze – Zur rechtsethischen Verfassung der Sozietät, Wien, New York 1988 Bydlinski, Franz, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage, Wien, New York 1991 Bydlinski, Franz, System und Prinzipien des Privatrechts, Wien, New York 1996 Calliess, Christian/Ruffert, Matthias, Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Auflage Neuwied/ Kriftel 2002 Canaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz – Eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Auflage Berlin 1983 Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz – entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Auflage Berlin 1983 Canaris, Claus-Wilhelm, Die Bedeutung der iustitia distributiva im deutschen Vertragsrecht, München 1997 Coing, Helmut, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Auflage Berlin/New York 1993 Drexl, Josef, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers – Eine Studie zum Privat- und Wirtschaftsrecht unter Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bezüge, Tübingen 1998
XXXV
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
Dworkin, Law’s Empire Dworkin, Taking Rights Seriously Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip Engisch, Einführung in das juristische Denken Esser, Grundsatz und Norm
Esser, Vorverständnis und Methodenwahl Fikentscher, Methoden des Rechts Flume, Rechtsgeschäft
Franzen, Privatrechtsangleichung Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen Gebauer/Wiedmann-Bearbeiter, Kap. Rn.
Grabitz/Hilf-Bearbeiter, Art. Rn.
Groeben/Schwarze-Bearbeiter, Art. Rn.
Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht Grundmann, Systembildung und Systemlücken
Grundmann/Kerber/Weatherill, Party Autonomy Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht
XXXVI
Dworkin Ronald, Law’s Empire, Cambridge/Massachusetts 1986 Dworkin, Ronald, Taking Rights Seriously, Cambridge/ Massachusetts 1978 Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Auflage Tübingen 1998 Engisch, Karl, Einführung in das juristische Denken, 7. Auflage Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1977 Esser, Josef, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Auflage Tübingen 1990 Esser, Josef, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt a.M. 1972 Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band I–V, Tübingen 1975–1977 Flume, Werner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II, Das Rechtsgeschäft, 4. Auflage Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo/Hong Kong/Barcelona/Budapest 1992 Franzen, Martin, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, Berlin 1999 Fritsch, Michael/Wein, Thomas/Ewers, Hans-Jürgen, Marktversagen und Wirtschaftspolitik, 4. Auflage München 2001 Gebauer, Martin/Wiedmann, Thomas (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluß – Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten EG-Verordnungen, Stuttgart/ München/Hannover/Berlin/Weimar/Dresden 2005 Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Loseblattsammlung, München Stand: März 2005, Band I und II: Meinhard Hilf (Hrsg.), EUV/EGV Groeben, Hans von der/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage Baden-Baden 2003 Gruber, Urs Peter, Methoden des Internationalen Einheitsrechts, Tübingen 2004 Grundmann, Stefan, Europäisches Schuldvertragsrecht – Das europäische Recht der Unternehmensgeschäfte, Berlin/New York 1999 Grundmann, Stefan (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht, Tübingen 2000 Grundmann, Stefan/Kerber, Wolfgang/Weatherill, Stephen (Hrsg.), Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market, Berlin/New York 2001 Ipsen, Hans Peter, Europäisches Gemeinschaftsrecht, Tübingen 1972
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
Jauernig, Othmar, Bürgerliches Gesetzbuch mit Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Kommentar, 11. Auflage 2004 Kaufmann/Hassemer/Neumann, Kaufmann, Arthur/Hassemer, Winfried/Neumann, Einführung in die RechtsUlfried (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und philosophie und Rechtstheorie Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Auflage 2004 Kieninger, Wettbewerb der Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der PrivatrechtsordPrivatrechtsordnungen nungen im Europäischen Binnenmarkt – Studien zur Privatrechtskoordinierung in der Europäischen Union auf den Gebieten des Gesellschafts- und Vertragsrechts, Tübingen 2002 Kilian, Europäisches Kilian, Wolfgang, Europäisches Wirtschaftsrecht, Wirtschaftsrecht 2. Auflage, München 2003 Koch/Rüßmann, Juristische Koch, Hans-Joachim/Rüßmann, Helmut, Juristische BeBegründungslehre gründungslehre – Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, München 1982 Körber, Grundfreiheiten und Körber, Torsten, Grundfreiheiten und Privatrecht, TüPrivatrecht bingen 2004 Kötz, Europäisches Vertragsrecht Kötz, Hein, Europäisches Vertragsrecht I – Abschluß, Gültigkeit und Inhalt des Vertrages – Die Beteiligung Dritter, Tübingen 1996 Kramer, Methodenlehre Kramer, Ernst A., Juristische Methodenlehre, 2. Auflage Bern/Wien/München 2005 Langenbucher-Bearbeiter, § Rn. Langenbucher, Katja (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, Baden-Baden 2005 Larenz, Methodenlehre Larenz, Karl, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage Berlin, Heidelberg, New York usw. 1991 Larenz, Richtiges Recht Larenz, Karl, Richtiges Recht – Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979 Larenz/Canaris, Methodenlehre Larenz, Karl/Canaris, Claus-Wilhelm, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Auflage 1995 Looschelders/Roth, Juristische Looschelders, Dirk/Roth, Wolfgang, Juristische MethoMethodik dik im Prozeß der Rechtsanwendung – Zugleich ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen von Gesetzesauslegung und Rechtsfortbildung, Berlin 1996 Müller/Christensen, Juristische Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische MeMethodik I thodik, Band I, Grundlagen, Öffentliches Recht, 9. Auflage Berlin 2004 Müller/Christensen, Juristische Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische MeMethodik II thodik, Band II, Europarecht, Berlin 2003 Neuner, Die Rechtsfindung Neuner, Jörg, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufcontra legem lage München 2005 Neuner, Privatrecht und Neuner, Jörg, Privatrecht und Sozialstaat, München Sozialstaat 1999 Oppermann, Europarecht Oppermann, Thomas, Europarecht – ein Studienbuch, 3. Auflage München 2005 Palandt-Bearbeiter, § Rn. Palandt, Otto (Begründer), Kommentar zum Bügerlichen Gesetzbuch, 64. Auflage München 2005 Pawlowski, Hans-Martin, Methodenlehre für Juristen, Pawlowski, Methodenlehre 3. Auflage Heidelberg 1999 Jauernig-Bearbeiter, § Rn.
XXXVII
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
Pechstein/Koenig, Die Europäische Union Posner, Economic Analysis of Law Ranieri, Europäisches Obligationenrecht Rawls, A Theory of Justice Reich/Micklitz, Europäisches Verbraucherrecht
Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik Riesenhuber, System und Prinzipien Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht Röhl, Allgemeine Rechtslehre Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung Rüthers, Rechtstheorie MünchKommBGB-Bearbeiter, Art./§ Gesetz Rn. Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse
Schlechtriem-Bearbeiter, Art. CISG Rn.
Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht AT Schneider, Gesetzgebung Schwarze-Bearbeiter, Art. Rn. Streinz-Bearbeiter, Art. Rn. Streinz, Europarecht Vogel, Juristische Methodik Weatherill/Beaumont, EU Law
XXXVIII
Pechstein, Matthias/Koenig, Christian, Die Europäische Union, 3. Auflage Tübingen 2000 Posner, Richard A., Economic Analysis of Law, 6. Auflage New York 2003 Ranieri, Filippo, Europäisches Obligationenrecht – ein Handbuch mit Texten und Materialien, 2. Auflage Wien 2003 Rawls, John, A Theory of Justice, Cambridge/Massachusetts 1971 Reich, Norbert/Micklitz, Hans-W., Europäisches Verbraucherrecht – Eine problemorientierte Einführung in das europäische Wirtschaftsrecht, 4. Auflage BadenBaden 2003 Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G., Neue Institutionenökonomik, 2. Auflage Tübingen 1999 Riesenhuber, Karl, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, Berlin 2003 Riesenhuber, Karl, Europäisches Vertragsrecht, 2. Auflage Berlin 2006 Röhl, Klaus F., Allgemeine Rechtslehre – Ein Lehrbuch, 2. Auflage Köln/Berlin/Bonn/München 2001 Rüthers, Bernd, Die unbegrenzte Auslegung – Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 4. Auflage Heidelberg 1991 Rüthers, Bernd, Rechtstheorie – Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, 2. Auflage München 2005 Säcker, Jürgen/Rebmann, Kurt/Rixecker, Roland (Hrsg.), Münchener Kommentar zum BGB, 4. Auflage München 2000–2005 Schäfer, Hans-Bernd/Ott, Claus, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Auflage Berlin/Heidelberg/New York/Barcelona/Hongkong/London/Mailand/Paris/Singapur/Tokio 2005 Schlechtriem, Peter (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht – Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf – CISG –, 4. Auflage München 2004 Schlechtriem, Peter/Schmidt-Kessel, Martin, Schuldrecht Allgemeiner Teil, 6. Auflage Tübingen 2005 Schneider, Hans, Gesetzgebung, 3. Auflage Heidelberg 2002 Schwarze, Jürgen, (Hrsg.), EU-Kommentar, 1. Auflage Baden-Baden 2000 Streinz, Rudolf (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, München 2003 Streinz, Rudolf, Europarecht, 7. Auflage Heidelberg 2005 Vogel, Joachim, Juristische Methodik, Berlin/New York 1998 Weatherill, Stephen/Beaumont, Paul, EU Law – The essential guide to the legal workings of the European Community, 3. Auflage London 1999
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
Weatherill, EC Consumer Law and Policy Zimmermann, The Law of Obligations Zippelius, Rechtsphilosophie Zippelius, Methodenlehre Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung
Weatherill, Stephen, EC Consumer Law and Policy, 2. Auflage Cheltenham, UK/Northampton, MA, USA 2005 Zimmermann, Reinhard, The Law of Obligations – Roman Foundations of the Civilian Tradition, Cape Town/Wetton/Johannesburg 1990 Zippelius, Reinhold, Rechtsphilosophie, 4. Auflage München 2003 Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 9. Auflage München 2005 Zweigert, Konrad/Kötz, Hein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Auflage Tübingen 1996
XXXIX
§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Karl Riesenhuber
Übersicht I. Europa und Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Inhalte der Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Begriff der Europäischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
I.
Rn. 1 2–9 10
Europa und Methodenlehre
In vielen Lehrbüchern zum nationalen Recht sucht man das Stichwort Europa nach wie vor vergebens, ebenso in vielen Büchern zur Methodenlehre. Manchmal findet sich dort nicht mehr als ein Hinweis oder die Erörterung von Einzelfragen auf wenigen Seiten oder sogar nur in einer Fußnote. Auf der anderen Seite stoßen Lehre und vor allem die Praxis immer wieder auf Methodenfragen im Zusammenhang mit dem Europäischen Recht. Tatsächlich findet man in der Literatur zunehmend Hinweise auf eine spezifische Methodenlehre. So ist schon in den 1970er Jahren der „Beginn einer Methodenlehre des Rechts der EWG“ beobachtet worden.1 Gerade auch im Hinblick auf die Rechtsangleichung in Europa ist von einer „harmonisierenden Auslegung“ 2 sowie von einer „international brauchbaren Auslegung“ 3 gesprochen worden. Man hat ein „europäisches Gemeinrecht der Methode“4 gefordert. Eine „europarechtliche Methodenlehre“, zu der neben methodischen Fragen wie der Auslegung und Rechtsfortbildung auch materiell-rechtliche Fragen gerechnet werden, ist konzipiert und kürzlich näher ausgeführt worden.5 Man hat auf das Verhältnis von
1 Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, S. 784–786: „Es kann nicht ausbleiben, daß auch das Recht der EWG eine eigene Methodik entwickelt.“ Als Forderung formuliert von Behrens, EuZW 1994, 289; auch Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999) (freilich weithin rechtspolitisch; zu Einzelfragen der Methodenlehre S. 66–76). 2 Odersky, ZEuP 1994, 1–4. 3 Berger, FS Sandrock (2000), S. 49–64. 4 Berger, ZEuP 2001, 4–29. 5 Langenbucher, JbJZ 2000, 65, 67; jetzt dies., in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2005), S. 25–66; auch Müller/Christensen, Juristische Methodik II – Europarecht (2003). Karl Riesenhuber
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1
Einführung
„juristischer Methode und Europäischem Privatrecht“ hingewiesen.6 Und schließlich ist die Ausbildung einer „gemeineuropäischen Methodenlehre“ gefordert und jüngst als Programm formuliert worden.7
II.
Inhalte der Europäischen Methodenlehre
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In der Tat wirft das Europäische Recht – wie jedes Recht – seine eigenen Methodenfragen auf.8 Bevor diese im einzelnen erörtert werden, sind zunächst einige Grundlagen zu legen. Nur in Einzelpunkten kann dabei freilich auf die reiche und vielfältige Geschichte des Rechtsdenkens in Europa eingegangen werden.9 Exemplarisch dafür stehen hier zwei Beiträge, die freilich grundlegende Fragen von andauernder Bedeutung betreffen. Zum einen wird System und Auslegung im römischen Recht erörtert (§ 2). Zum anderen wird dargelegt, wie sich das Verhältnis von Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert entwickelt hat. (§ 3).
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Zu den Grundlagen der Methodenlehre des Gemeinschaftsrechts gehört weiterhin die Rechtsvergleichung (§ 4). In einem Rechtssystem das auf den vielfältigen Traditionen der Mitgliedstaaten aufbaut und an dessen gesetzgeberischer Gestaltung und richterlicher Anwendung und Fortbildung Juristen aus verschiedenen Ländern mitwirken, ist die Rechtsvergleichung ein naheliegendes Werkzeug. Doch ist umstritten, welche Rolle sie im Rahmen der Methodenlehre spielt. Ähnlich verhält es sich bei der ökonomischen Theorie (§§ 5, 6). Ist das Gemeinschaftsrecht primär auf die Herstellung eines Binnenmarktes ausgerichtet, so versteht sich, daß ökonomische Erwägungen eine verhältnismäßig größere Rolle spielen. Doch auch hier wird die Bedeutung für die Methodenlehre kontrovers diskutiert.
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Nach diesen Grundlagen sind die Rechtsquellen des Europäischen (Privat-) Rechts zu bestimmen (§ 7). Sie finden sich im Primärrecht und im Sekundärrecht. Beide Bereiche weisen Besonderheiten auf und sind daher auch gesondert zu untersuchen. Zunächst ist die Auslegung und Fortbildung von primärem Unions- und Gemeinschaftsrecht zu erörtern (§ 8). Ebenfalls dem primärrechtlichen Bereich kann man auch die primärrechtskonforme Auslegung zurechnen (§ 9). Sie betrifft zwar nicht das Primärrecht selbst, sondern das Sekundärrecht und das nationale Recht, doch ist sie primärrechtlich determiniert.
6 Flessner, JZ 2002, 14–23. S. a. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts (2004). 7 Häberle, EuGRZ 1991, 261, 272; ders., Europäische Rechtskultur (1994), S. 66; ähnlich Kramer, in: Heinz-Dieter Assmann/Gert Brüggemeier/Rolf Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), S. 31–47; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234–263. 8 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569–597; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 235–240, mit Hinweis auf die Notwendigkeit einer einheitlichen Methodenlehre. 9 S. dazu noch Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung I (S. 375–586 – Romanischer Rechtskreis), II (S. 1–150 – Englischer Rechtskreis), III (Mitteleuropäischer Rechtskreis); Larenz, Methodenlehre, S. 9–185; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967).
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Karl Riesenhuber
§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht
Das Europäische Privatrecht findet sich überwiegend im Sekundärrecht. Gerade für den Bereich des Privatrechts ist hier zunächst das grundlegende Thema der Systembildung zu untersuchen (§ 10), denn es ist nach wie vor umstritten, ob die Rechtsetzung der Gemeinschaft im Privatrecht als System begriffen werden kann. Zudem weist das System aber durch seine Verbindung mit dem nationalen Recht Besonderheiten auf. Und nicht zuletzt ist es geradezu andauernd in der Entwicklung befindlich.
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Für die Praxis stehen drei methodische Einzelfragen im Vordergrund. Praktisch jeder gemeinschaftsrechtlich beeinflußte Fall wirft Fragen der Auslegung des Sekundärrechts auf; sie sind in vielem ähnlich zu beantworten wie im nationalen Recht, doch gibt es schon hier Besonderheiten (§ 11). Öfter finden sich im Sekundärrecht Generalklauseln; prominente Beispiele sind die AGB-Richtlinie, die Handelsvertreter-Richtlinie und jetzt die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Auch bei der Konkretisierung von Generalklauseln im Gemeinschaftsrecht stellen sich teilweise besondere Fragen, der EuGH beginnt hier, eine eigene Methodik zu entwickeln (§ 12). Und endlich wirft auch die Rechtsfortbildung im Sekundärrecht Fragen auf. Hier gilt es besonders, die Legitimation der Rechtsfortbildung zu ergründen (§ 13).
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Da es sich bei dem System des Europäischen (Privat-) Rechts um ein „Zwei-EbenenSystem“ handelt, bei dem das Gemeinschaftsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zusammenwirken, wirft auch die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts im nationalen Recht spezifische Fragen auf. Das betrifft besonders die Umsetzung von Richtlinien. Vor allem stellt sich die Frage, ob und inwieweit das mitgliedstaatliche Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann und muß (§ 14). Hier wirken gemeinschaftsrechtliche Anforderungen und mitgliedstaatliche Methodenlehre zusammen. Darüber hinaus wirft aber auch die sogenannte überschießende Umsetzung von Gemeinschaftsrecht neben rechtlichen auch methodische Fragen auf (§ 15). Es geht insbesondere darum, ob die überschießende Umsetzung gemeinschaftsrechtskonform auszulegen ist und ob die mitgliedstaatlichen Gerichte dem EuGH Auslegungsfragen im Hinblick auf die überschießende Umsetzung vorlegen dürfen. Ein Querschnittsthema, das primär im nationalen Recht Bedeutung entfaltet, ist schließlich die Frage nach der Vorwirkung von Richtlinien (§ 16): Inwieweit sind sie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist auch für die Rechtsfindung von Bedeutung?
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Fragen der Methodenlehre werden in diesem Band nicht nur theoretisch untersucht, sondern in einem Besonderen Teil auch exemplarisch für einzelne Teilgebiete des Privatrechts vertieft: für das Europäische Vertragsrecht (§ 17), das Europäisches Arbeitsrecht (§ 18), das Europäische Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht (§§ 19, 20) sowie das Europäische Kartellrecht (§ 21). Weiterhin wird erörtert, wie der Europäische Gerichtshof (§ 22) und der deutsche Bundesgerichtshof (§ 23) mit Methodenfragen des Europäischen Rechts umgehen. Das bietet nicht nur die Möglichkeit, Methodenaussagen zu überprüfen. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwieweit spezielle Rechtsgebiete spezielle Methodenfragen aufwerfen. Bei alledem geht es nicht nur darum, die die vorgefundene Praxis zu resümieren.10 Auch an dieser Stelle soll „der
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10 Das kritisiert mit Recht Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 243. Karl Riesenhuber
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Einführung
Verzwergung der Rechtswissenschaft zur Rechtsprechungskunde“ entgegengewirkt werden.11 Methodenlehre wird – wie aus dem nationalen Bereich bekannt – nicht als eine empirische Beschreibung verstanden, sondern vielmehr als eine Lehre von der rechtlich richtigen, rationalen, überzeugenden und vorhersehbaren Rechtsfindung.
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Methodenlehre ist damit – ungeachtet mancher Vorurteile – eine ausgesprochen praktische Disziplin. Methodenfragen stellen sich schon den Gemeinschaftsorganen, wenn sie das Primärrecht anwenden, z.B. das Kartellrecht und die Grundfreiheiten. Methodenfragen stellen sich aber auch den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern, z. B. wenn sie Richtlinien umsetzen: Wie sind diese auszulegen? Welche Folgen hat eine überschießende Umsetzung? Vor allem muß der Rechtsanwender mit Methodenfragen umgehen. Welche Anforderungen stellt das Primärrecht, und sind Sekundärrecht oder mitgliedstaatliches Recht ggf. primärrechtskonform auszulegen? Was bedeutet das Sekundärrecht und ist das mitgliedstaatliche Recht etwa richtlinienkonform auszulegen? Wem steht die Befugnis zu, Generalklauseln zu konkretisieren: Kommt eine Vorlage an den EuGH in Betracht? Usf.
III. Begriff der Europäischen Methodenlehre 10
Diese Methodenfragen werden am besten mit dem Begriff der Europäischen Methodenlehre umschrieben.12 Daß es dabei um eine Methodenlehre des Europäischen Rechts geht, wie der Begriff der „europarechtlichen Methodenlehre“ hervorheben soll, versteht sich hier so wie bei dem allgemeinen Begriff der Methodenlehre. Die Kennzeichnung als „gemeineuropäisch“ weist auf der anderen Seite eher auf die Gemeinsamkeiten der nationalen Methoden europäischer Staaten (oder auch der Mitgliedstaaten) hin.13 Das ist zwar insoweit treffend, als das Europäische Recht weithin 14 eine einheitliche (all-„gemeine“) Methodenlehre verlangt. Indes könnte der Begriff zu der Fehlvorstellung verleiten, es ginge um eine in den europäischen (Mitglied-) Staaten einheitliche Methodenlehre, die auch für das autonom-nationale Recht Geltung beansprucht. Ist auch nicht auszuschließen, daß es zukünftig zu einer solchen Konvergenz der nationalen Methoden kommen wird, so ist das doch derzeit nicht abzusehen.
11 So für das nationale Schuldrecht Canaris, Schuldrecht II/2 (1994), S. Vf. 12 Ebenso Häberle, Europäische Verfassungslehre (4. Aufl. 2006), S. 270–272; Köndgen, GPR 2005, 105. 13 Ungeachtet weithin bestehender Übereinstimmung unterscheidet sich daher die von Vogenauer, ZEuP 2004, 234–263 skizzierte „gemeineuropäischen“ Methodenlehre von dem vorliegenden Ansatz darin, daß dort Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zentrale Bedeutung beigemessen wird (S. 246–252) und die „konstruktiv-dogmatischen“ Elemente erst „zu guter Letzt“ eine Rolle spielen (S. 253). 14 Bei der richtlinienkonformen Auslegung geht es hingegen um die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an die mitgliedstaatliche Methodenlehre.
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Karl Riesenhuber
1. Teil: Grundlagen § 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht Jan Dirk Harke
Übersicht I. Ein System des römischen Vertragsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die herkömmliche Ansicht: Vom Typenzwang zur Vertragsfreiheit . . . . . . 2. Eine ‚unfruchtbare‘ Einteilung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zeitliche Abfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Realverträge: Haftung aus Vorenthaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Stipulation: Verpflichtung aus Rechtsfolgenanordnung . . . . . . . . . . 6. Die Konsensualverträge: Verpflichtung aus Bestimmung des Geschäftsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegung im römischen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . 1. Quod actum est und der Gegensatz von verba und voluntas 2. Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Funktion der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rn. 1–29 1–9 10–12 13–16 17–20 21–22
. .
23–27 27–29
. . . . .
30–38 30–33 34–35 36–37 38
Literatur: Christian Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft, 1998; Giuseppe Gandolfi, Studi sull’ interpretazione degli atti negoziali in diritto romano, Mailand 1966; Max Kaser, Divisio obligationum, in: Römische Rechtsquellen und angewandte Juristenmethode, Köln u.a. 1986 S. 155– 172; Jan Dirk Harke, Si error aliquis intervenit – Irrtum im klassischen römischen Vertragsrecht, Berlin 2005, ders., Societas als Geschäftsführung und das römische Obligationensystem, TR 73 (2005) 43–66; André Magdelain, Le Consensualisme dans l’édit du préteur, Paris 1958; Alberto Maschi, La categoria dei contratti reali, 1973; Watson, The origins of consensual sale, TR 32 (1964) 245–254; Franz Wieacker, Zum Ursprung der bonae fidei iudicia, SZ 80 (1963) 1–41; Joseph Georg Wolf, Per una storia della emptio venditio: l’acquisto in contanti quale sfondo della compravendita romana, IVRA 52 (2001) 29–56; Hans Julius Wolff, Die Grundlagen des griechischen Vertragsrechts, SZ 74 (1957) 26–72.
Jan Dirk Harke
5
1. Teil: Grundlagen
1
I.
Ein System des römischen Vertragsrechts?
1.
Die herkömmliche Ansicht: Vom Typenzwang zur Vertragsfreiheit
Das herkömmliche, ja ganz unumstrittene Bild der gemeineuropäischen Vertragsrechtsentwicklung ist das einer Abfolge von Typenzwang und inhaltlicher Vertragsfreiheit: 1 Während das römische Recht die Parteien eines Schuldvertrags auf einen numerus clausus zulässiger Vertragstypen festgelegt habe, sei diese Bindung zunächst im Mittelalter gelockert,2 in der Neuzeit durch die Herausbildung eines typenübergreifenden Vertragsbegriffs 3 überwunden worden. Grundlage dieser Ansicht ist die römische Unterscheidung zwischen klagebewehrten contractus und einfachen pacta: Jene konnten von den Kontrahenten aktiv durch Erhebung einer Klage (actio), diese nur im Wege der Verteidigung mit einer Einrede (exceptio) durchgesetzt und daher nicht zum Träger einer Leistungspflicht werden.4 Sie war das Merkmal der contractus, die entsprechend ihrem Abschlußmodus wiederum in vier Gruppen, namentlich danach eingeteilt wurden, ob sie durch Sachhingabe (re), mündliche Wortformel (verbis), Schriftakt (litteris) oder einfache Einigung (consensu) zustande kamen. An diesen Kriterien orientiert sich zumindest der in der Mitte des 2. Jahrhunderts wirkende Schuljurist Gaius in seinem zur einzigen Originalquelle der römischen Rechtsliteratur gewordenen Anfängerlehrbuch, den institutiones: Gai 3.88 Nunc transeamus ad obligationes, quarum summa divisio in duas species diducitur: omnis enim obligatio vel ex contractu nascitur vel ex delicto. (89) Et prius videamus de his, quae ex contractu nascuntur. harum autem quattuor genera sunt: aut enim re contrahitur obligatio aut verbis aut litteris aut consensu. (90) Re contrahitur obligatio velut mutui datione … (91) Is quoque, qui non debitum accepit ab eo, qui per errorem solvit, re obligatur; nam proinde ei condici potest SI PARET EUM DARE OPORTERE, ac si mutuum accepisset. … sed haec species obligationis non videtur ex contractu consistere, quia is qui solvendi animo dat, magis distrahere vult negotium quam contrahere. (92) Verbis obligatio fit ex interrogatione et responsione, velut DARI SPONDES? SPONDEO, DABIS? DABO … FACIES? FACIAM. …
1 Vgl. nur Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), S. 477, Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1 (1985), S. 398 ff., Honsell/Mayer-Maly/Selb, Römisches Recht (4. Aufl. 1987), S. 250, Zimmermann, The Law of Obligations, S. 508 ff. 2 Vgl. hierzu vor allem Söllner, Die causa im Kondiktionen- und Vertragsrecht des Mittelalters, in: SZ 77 (1960) 182 ff., Dilcher, Der Typenzwang im mittelalterlichen Vertragsrecht, SZ 77 (1960) 270 ff. 3 Vgl. hierzu vor allem Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert (1985). 4 Vgl. D 2.14.7 Ulp 4 ed: Iuris gentium conventiones quaedam actiones pariunt, quaedam exceptiones. (1) Quae pariunt actiones, in suo nomine non stant, sed transeunt in proprium nomen contractus: ut emptio venditio, locatio conductio, societas, commodatum, depositum et ceteri similes contractus. (4)… igitur nuda pactio obligationem non parit, sed parit exceptionem.
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Jan Dirk Harke
§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht (128) Litteris obligatio fit veluti in nominibus transscripticiis. fit autem nomen transscripticium duplici modo, vel a re in personam vel a persona in personam. (129) A re in personam transscriptio fit, veluti si id quod tu ex emptionis causa aut conductionis aut societatis mihi debeas, id expensum tibi tulero. (130) A persona in personam transscriptio fit, veluti si id quod mihi Titius debet, tibi id expensum tulero … (131) Alia causa est eorum nominum, quae arcaria vocantur: in his enim rei, non litterarum obligatio consistit, quippe non aliter valet, quam si numerata sit pecunia; numeratio autem pecuniae rei facit obligationem. qua de causa recte dicemus arcaria nomina nullam facere obligationem, sed obligationis factae testimonium praebere. … (135) Consensu fiunt obligationes in emptionibus et venditionibus, locationibus conductionibus, societatibus, mandatis. (136) ideo autem istis modis consensu dicimus obligationis contrahi, quia neque verborum neque scripturae ulla proprietas desideratur, sed sufficit eos, qui negotium gerunt, consensisse. unde inter absentes quoque talia negotia contrahuntur … (137) Item in his contractibus alter alteri obligatur de eo, quod alterum alteri ex bono et aequo praestare oportet, cum alioquin in verborum obligationibus alius stipuletur alius promittat … 5
5 „Wir wollen jetzt zu den Verpflichtungen übergehen, deren Haupteinteilung in zwei Kategorien erfolgt: Jede Verpflichtung entsteht nämlich entweder aus Vertrag oder aus Delikt. (89) Und zunächst wollen wir die Verpflichtungen betrachten, die aus Vertrag entstehen. Hiervon gibt es vier Arten: Eine Verpflichtung wird nämlich entweder durch Sachhingabe, durch Wortformel, Schriftakt oder Konsens begründet. (90) Eine Verpflichtung durch Sachhingabe kommt zum Beispiel durch Darlehensgewährung zustande … (91) Durch Sachhingabe wird auch verpflichtet, wer von einem anderen aus Versehen eine Leistung auf eine Nichtschuld erhält. Denn die Kondiktion mit der Formel: „Stellt sich heraus, daß er zu geben verpflichtet ist“ kann gegen ihn so angestrengt werden, als ob er ein Darlehen empfangen hätte. … Aber diese Verpflichtung scheint nicht auf einem Vertrag zu beruhen, weil eine Verpflichtung eher aufheben als begründen will, wer mit der Absicht zu erfüllen zahlt.“ (92) Durch Wortformel kommt eine Verpflichtung im Wege von Frage und Antwort zustande, wie zum Beispiel: „Versprichst du, daß gegeben wird?“ – „Ich verspreche.“, „Wirst du geben?“ – „Ich werde geben.“ … „Wirst du tun?“ – „Ich werde tun.“ (128) Durch Schriftakt entsteht eine Verpflichtung beispielsweise bei Forderungsumbuchungen. Dies geschieht auf zweifache Weise, entweder von einer Sache auf eine Person oder von einer Person auf eine andere Person. (129) Von einer Sache auf eine Person geschieht die Umbuchung zum Beispiel, indem ich als an dich ausgezahlt eintrage, was du mir aufgrund eines Kaufs, einer Miete oder aus Gesellschaft schuldest. (130) Von einer Person auf eine andere geschieht die Umbuchung beispielsweise, indem ich als an dich ausgezahlt eintrage, was Titius mir schuldet … (131) Von anderer Art sind die sogenannten Kassenforderungen: Bei ihnen entsteht nämlich eine Real- und keine Litteralverpflichtung, weil sie nicht eher zustande kommen, als das Geld ausgezahlt ist, und seine Auszahlung eine Realverpflichtung begründet. Daher sagt man zu Recht, daß die Eintragung von Kassenforderungen keine Verpflichtung schafft, sondern nur Zeugnis einer schon begründeten Verpflichtung ist. (135) Durch Konsens entstehen die Verpflichtungen beim Kauf, bei der Verdingung, bei der Gesellschaft und beim Auftrag. (136) Wir sagen, daß diese Verpflichtung durch Konsens begründet werden, weil sie weder einer wörtlichen noch einer schriftlichen Formalität bedürfen und es genügt, wenn die Geschäftspartner einig sind … (137) Ferner werden bei diesen Verträgen beide Vertragspartner einander dazu verpflichtet, was jeder dem anderen nach Treu und Glauben zu leisten schuldig ist, während bei den Verbalverpflichtungen der eine sich versprechen läßt, der andere verspricht …“
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Mit der bloßen Einigung der Parteien begnügen sich der der Kauf (emptio venditio), der Auftrag (mandatum), die Gesellschaft (societas) und die Verdingung (locatio conductio), die den Platz von vier modernen Vertragstypen, der Miete und Pacht sowie des Dienst- und Werkvertrags, einnimmt.6 Als Eigenheit dieser nur auf consensus angewiesenen Verträge gilt Gaius außer ihrer formlosen Begründung, daß sie die Parteien beiderseitig und umfassend zur Leistung all dessen verpflichten, was sie einander nach Treu und Glauben (bona fides) schuldig sind.
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Das Gegenmodell zu den Konsensualverträgen ist der auf mündliche Wortformel angewiesene Vertrag, der im einseitigen Schuldversprechen durch Stipulation besteht. Er kann jeden erdenklichen Inhalt haben und setzt zu seiner Gültigkeit nur voraus, daß der Gläubiger den Schuldner fragt, ob er eine bestimmte Leistung verspricht, der Schuldner diese Frage bejaht.
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Der Vertrag, der durch Schriftakt zustande kommt, bedarf, um wirksam zu werden, einer vom Schuldner genehmigten Eintragung in das Hausbuch des Gläubigers. Ihr kommt entweder reine Beweisfunktion oder lediglich die Wirkung zu, daß eine bereits vorhandene Verpflichtung von ihrem Schuldgrund abstrahiert (transscriptio a re in personam) oder von einem anderem Schuldner übernommen (transscriptio a persona in personam) wird.
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Die Kategorie der durch Sachhingabe begründeten Verträge exemplifiziert Gaius in seinen Institutionen durch das zinslose Darlehen (mutuum) und die Leistung auf eine Nichtschuld (non debitum), bemerkt aber sogleich, daß diese eigentlich gar kein Vertrag sei, weil der Leistende statt seiner Verpflichtung deren Aufhebung bezwecke. Frucht dieser Einsicht ist eine Neuverortung dieser Konstellation in der zweiten Auflage der Institutionen, den aurea oder res cottidianae, die von Gaius selbst verfaßt 7 und herausgegeben 8 worden sein können, vielleicht aber auch erst nach seinem Tod entstanden ist. Die Leistung auf eine Nichtschuld erscheint hier zusammen mit den Verpflichtungen aus Geschäftsführung ohne Auftrag (negotiorum gestio), Vormundschaft (tutela) und Vermächtnis (legatum) als Element einer Zwischengruppe von Verpflichtungen, die weder aus Vertrag noch aus Delikt entstehen: 9 D 44.7.5 Gai 3 aur Si quis absentis negotia gesserit … si vero sine mandatu, placuit quidem sane eos invicem obligari eoque nomine proditae sunt actiones, quas appellamus negotiorum gestorum … sed neque ex contractu neque ex maleficio actiones nascuntur … (1) Tutelae quoque iudi-
6 Daß Gaius und die anderen klassischen Juristen den consensus nicht als Grundelement aller Verträge begriffen haben, nimmt zu Unrecht Sargenti, Svolgimento dell’idea di contratto nel pensiero giuridico romano, IVRA 39 (1988) 24 ff. an, der sich, abgesehen von D 45.1.137.1 Venul 1 stip, mit den entscheidenden Fällen des Konsensmangels gar nicht beschäftigt. 7 So Kaser, Divisio obligationum, S. 155, 156 f. 8 So Nelson/Manthe, Gai. Institutiones III.88–181, Die Kontraktsobligationen (1999) S. 461, 464 f. 9 Daß diese Neueinteilungen in den von Gaius bekundeten Zweifeln an der Zuordnung der rechtsgrundlosen Leistung zu den Realverträgen schon angelegt ist, stellt Kaser, Divisio obligationum, S. 168 heraus.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht cio qui tenentur, non proprie ex contractu obligati intelleguntur … sed quia sane non ex maleficio tenentur, quasi ex contractu teneri videntur. (2) Heres quoque, qui legatum debet, neque ex contractu neque ex maleficio obligatus esse intellegitur: … (3) Is quoque, qui non debitum accipit per errorem solventis, obligatur quidem quasi ex mutui datione et eadem actione tenetur, qua debitores creditoribus: sed non potest intellegi is, qui ex ea causa tenetur, ex contractu obligatus esse: qui enim solvit per errorem, magis distrahendae obligationis animo quam contrahendae dare videtur.10
Die beiläufige Bemerkung, daß die Verpflichtung aus Vormundschaft quasi ex contractu entspringe, hat den Anstoß zur Bildung einer eigenen Kategorie gegeben: In der dritten Fassung von Gaius’ Lehrbuch, den 533 als Gesetz erlassenen Institutionen Kaiser Justinians, erscheinen die in den aurea abgesonderten Zwischenfälle gemeinsam mit den Verpflichtungen zur Aufhebung einer Bruchteils- oder Erbengemeinschaft als obligationes quasi ex contractu, die zusammen mit der Gruppe der obligationes quasi ex delicto die herkömmliche Zweiteilung von deliktischen und vertraglichen Verpflichtungen zu einer Vierergruppe 11 ergänzen: IJ 3.27 Post genera contractuum enumerata dispiciamus etiam de his obligationibus quae non proprie quidem ex contractu nasci intelleguntur, sed tamen, quia non ex maleficio substantiam capiunt, quasi ex contractu nasci videntur. (1) Igitur cum quis absentis negotia gesserit, ultro citroque inter eos nascuntur actiones, quae appellantur negotiorum gestorum … (2) Tutores quoque, qui tutelae iudicio tenentur, non proprie ex contractu obligati intelleguntur … sed quia sane non ex maleficio tenentur, quasi ex contractu teneri videntur… (3) Item si inter aliquos communis sit res sine societate … (4) Idem iuris est de eo qui coheredi suo familiae erciscundae iudicio … obligatus est. (5) Heres quoque legatorum nomine non proprie ex contractu obligatus intellegitur … (6) Item is cui quis per errorem non debitum solvit quasi ex contractu debere videtur.12
10 „Führt jemand die Geschäfte eines Abwesenden ohne Auftrag, sind beide gleichwohl untereinander verpflichtet, und aus diesem Grund sind die Klagen eingeführt, die wir Geschäftsbesorgungsklagen nennen … (1) Auch die, die mit der Vormundschaftsklage haften, scheinen nicht eigentlich aus Vertrag verpflichtet … aber weil sie sicherlich nicht aus Delikt haften, scheinen sie gleichsam aus Vertrag zu haften. (2) Auch der Erbe, der ein Vermächtnis schuldet, scheint weder aus Vertrag noch aus Delikt verpflichtet … (3) Auch wer eine versehentliche Leistung auf eine Nichtschuld erhält, wird wie aus einer Darlehensgewährung verpflichtet und haftet mit derselben Klage wie die Kreditnehmer ihren Gläubigern. Aber wer aus diesem Grund haftet, kann nicht als aus Vertrag verpflichtet angesehen werden: wer nämlich versehentlich leistet, gibt eher mit dem Vorsatz, eine Verpflichtung aufzulösen, als mit der Absicht, sie zu begründen.“ 11 IJ 3.13.2: Sequens divisio in quattuor species deducitur: aut enim ex contractu sunt aut quasi ex contractu aut ex maleficio aut quasi ex maleficio. 12 „Nach Aufzählung der Vertragsarten wollen wir die Schuldverhältnisse betrachten, die eigentlich nicht aus Vertrag entstehen, aber dennoch, weil sie ihre Geltung nicht aus einem Delikt schöpfen, gleichsam aus Vertrag entstehen. (1) Daher entstehen, wenn jemand die Geschäfte eines Abwesenden führt, zwischen beiden untereinander Klagen, die Geschäftsbesorgungsklagen genannt werden. … (2) Auch die Vormünder, die mit der Vormundschaftsklage haften, sind nicht aus Vertrag verpflichtet … aber weil sie sicherlich nicht aus Delikt haften, scheinen sie gleichsam aus Vertrag zu haften. (3) Ebenso wenn eine Sache, ohne daß eine Gesellschaft abgeschlossen worden ist, im Miteigentum steht … (4) Dasselbe gilt für den, der … zur Erbteilung verpflichtet ist. (5) Auch der Erbe scheint wegen eines Vermächtnisses Jan Dirk Harke
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Mit der Ausgliederung der ungerechtfertigten Bereicherung aus dem Kreis der Realverträge geht seine Erweiterung um drei Vertragstypen einher, die in der Urfassung von Gaius’ Institutionen noch nicht erscheinen.13 Es sind Leihe (commodatum), Verwahrung (depositum) und Pfandvertrag (pignus): D 44.7.3, 5-6 Gai 2 aur 14 Is quoque, cui rem aliquam commodamus, re nobis obligatur, sed is de ea ipsa re quam acceperit restituenda tenetur. (5) Is quoque, apud quem rem aliquam deponimus, re nobis tenetur: qui et ipse de ea re quam acceperit restituenda tenetur. … (6) Creditor quoque, qui pignus accepit, re tenetur: qui et ipse de ea ipsa re quam accepit restituenda tenetur.15
Gemeinsam ist diesen Verträgen eine Verpflichtung zur Rückgabe der verliehenen, niedergelegten oder verpfändeten Sache, die sie mit der Pflicht des Darlehensnehmers zur Rückerstattung der Darlehensvaluta vergleichbar macht.
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Daß die Realverträge die Hingabe von Sachen erfordern und auf ihre Rückgewähr gerichtet sind, macht sie den Austauschgeschäften ähnlich, die außerhalb des viergliedrigen Systems der contractus stehen. Ihre Bewältigung läßt zwei verschiedene Phasen erkennen. In einer ersten wird die Partei, die auf eine unklagbare Vereinbarung geleistet hat, bei Ausfall der erwarteten Gegenleistung zur Rückforderung mit Hilfe der condictio causa data causa non secuta zugelassen. In einer zweiten Phase, deren Beginn in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts fällt, kommt zum bereicherungsrechtlichen Anspruch auf Rückgewähr der eigenen Leistung eine Klage auf die Gegenleistung hinzu.16 Dem an der Wende des 2. zum 3. Jahrhunderts wirkenden Spätklassiker Paulus gelten sie als alternativ zuständige Rechtsbehelfe: D 19.5.5pr., 1 Paul 5 quaest17 … in hac quaestione totius ob rem dati tractatus inspici potest. qui in his competit speciebus: aut enim do tibi ut des, aut do ut facias, aut facio ut des, aut facio ut facias: in quibus quaeritur, quae obligatio nascatur. (§ 1) Et si quidem pecuniam dem, ut rem accipiam, emptio et venditio est: sin autem rem do, ut rem accipiam, quia non placet permutationem rerum emptionem esse, dubium non est nasci civilem obligationem, in
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nicht eigentlich aus Vertrag verpflichtet … (6) Ebenso scheint gleichsam aus Vertrag zu schulden, wer versehentlich auf eine Nichtschuld geleistet hat.“ Ihre Nichterwähnung in den Institutionen ist mit Kaser, Divisio obligationum, S. 166 Fn. 55 aus dem Charakter dieses Werks als „unbekümmerte Weglassung“ leicht zu erklären; anders Magdelain, Le Consensualisme dans l’édit du préteur, S. 97 f. Ähnlich IJ 3.14.2– 4. „Auch der, dem wir eine Sache leihen, wird uns durch Sachhingabe verpflichtet, aber er haftet für die Rückgewähr derselben Sache, die er erhalten hat. (5) Auch der, dem wir eine Sache zur Verwahrung gegeben haben, wird uns durch Sachhingabe verpflichtet, und auch er haftet für die Rückgewähr derselben Sache, die er empfangen hat. (6) Auch der Gläubiger, der ein Pfand erhalten hat, haftet aus Sachhingabe, und auch er haftet für die Rückgewähr derselben Sache, die er empfangen hat.“ Für die zeitliche Einordnung ist die Kontroverse zwischen Aristo und dem noch unter Hadrian tätigen Celsus filius maßgeblich, der die Klage auf die Gegenleistung offenbar noch nicht kennt; vgl. D 2.14.7.2 Ulp 4 ed: Sed et si in alium contractum res non transeat, subsit tamen causa, eleganter Aristo Celso respondit esse obligationem. ut puta dedi tibi rem ut mihi aliam dares, dedi ut aliquid facias: hoc sunallagma esse et hinc nasci civilem obligationem. … Vgl. zu diesem Text Schmidt-Ott, Pauli Quaestiones (1993), S. 215 ff.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht qua actione id veniet, non ut reddas quod acceperis, sed ut damneris mihi, quanti interest mea illud de quo convenit accipere: vel si meum recipere velim, repetatur quod datum est, quasi ob rem datum re non secuta.18
Da beide Ansprüche die Vorleistung des Klägers voraussetzen, erhielten die mit ihrer Hilfe sanktionierten Geschäfte in nachrömischer Zeit den Namen Innominatrealverträge. Schon im Mittelalter wurden sie den anerkannten contractus an die Seite gestellt und gemeinsam mit diesen zu den bekleideten, nämlich klagebewehrten, pacta zusammengefaßt. So schreibt der 1192 verstorbene Glossator Placentinus:
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Pacta induta modis quinque vestiuntur: rebus ut mutuum, verbis ut stipulatio, literis, ut chirographum, consensu formatio in nomen speciale transeunte, ut venditio locatio, sed et lege dicta in re sua tradenda vestiuntur pacta. …19
In der gewandelten Begrifflichkeit war die Entwicklung zur vertraglichen Inhaltsfreiheit bereits angelegt: Steht pactum nicht mehr wie bei den römischen Juristen für eine unklagbare Vereinbarung, sondern ist Oberbegriff für jede Einigung einschließlich der hergebrachten contractus, muß deren Privilegierung fragwürdig werden. Die weltliche Jurisprudenz des Mittelalters tendierte daher zu einer steten Ausweitung des Katalogs klagbarer pacta; die kirchliche schaffte den Sprung zum Satz: pacta sunt servanda, indem sie jeden Bruch einer Vereinbarung zur Sünde erklärte.20 Die römischen contractus blieben in der Folge als Vertragstypen erhalten, waren aber ihrer exklusiven Stellung als Grundlage gewillkürter Verpflichtung beraubt. 2.
Eine ‚unfruchtbare‘ Einteilung?
Vor dem Hintergrund dieser Daten scheint die positive Antwort auf die Frage, ob das mittelalterliche Vertragsrecht ein Modell des Typenzwangs abgelöst hat, zu selbstverständlich, als daß sie überhaupt einer Untersuchung lohnte. Weniger banal klingt dagegen die Frage nach Herkunft und Sinn des viergliedrigen römischen Vertragsschemas. Ist es die Erfindung des Schuljuristen Gaius, der mit seinem einfach struk-
18 „Bei dieser Gelegenheit kann das Thema der Leistung um einer Gegenleistung willen insgesamt untersucht werden. Es umfaßt folgende Fälle: Entweder gebe ich, damit du gibst, oder ich gebe, damit du etwas tust, oder ich tue etwas, damit du gibst, oder ich tue etwas, damit du etwas tust. In diesen Fällen stellt sich die Frage, welche Obligation entsteht. Gebe ich Geld, damit ich eine Sache erhalte, liegt ein Kauf vor. Gebe ich aber eine Sache, damit ich eine Sache erhalte, dann entsteht, da der Tausch von Sachen nicht als Kauf gilt, zweifellos ein zivilrechtliches Schuldverhältnis, und zwar eine Klage, die nicht auf Rückforderung dessen gerichtet ist, was du erhalten hast, sondern darauf, daß du in das Interesse verurteilt wirst, daß ich am Erhalt deiner vereinbarten Leistung habe. Will ich aber meine Leistung zurückerhalten, kann ich das Geleistete zurückfordern, weil es zu einem Zweck gegeben und dieser ausgefallen ist …“ 19 Summa Codicis, zu CJ 2.3, S. 44 der Ausg. Mainz 1586 (Nachdruck Turin 1962). („Angenommene pacta werden auf fünffache Weise bekleidet: durch Sachhingabe wie das Darlehen, durch Wortformel wie die Stipulation, durch Schriftakt wie das chirographum, durch Konsens, sofern er einem bestimmten Vertragstyp entspricht, wie Kauf oder Verdingung; aber auch durch eine Vereinbarung bei der Übergabe werden pacta bekleidet.“) 20 Vgl. Dilcher, SZ 77 (1960) 270, 281 ff. Jan Dirk Harke
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turierten Anfängerlehrbuch gar nicht nach wissenschaftlicher Anerkennung strebte, sondern dem Anfänger eine eingängige Darstellung des Rechtsstoffs bieten wollte? Hiergegen spricht, daß wir Gaius’ Einteilung der Sache und auch teilweise dem Namen nach schon 150 Jahre eher bei dem kurz nach der Zeitenwende verstorbenen Frühklassiker Labeo finden: 21 D 50.16.19 Ulp11 ed Labeo libro primo praetoris urbani definit, quod quaedam ‚agantur‘, quaedam ‚gerantur’, quaedam ‚contrahantur‘: et actum quidem generale verbum esse, sive verbis sive re quid agatur, ut in stipulatione vel numeratione: contractum autem ultro citroque obligationem, quod graeci sunallagma vocant, veluti emptionem venditionem, locationem conductionem, societatem: gestum rem significare sine verbis factam.22
Daß Labeo anders als Gaius auf eine Erwähnung des Litteralvertrags verzichtet, findet seinen guten Grund darin, daß dieser keine schuldbegründende Wirkung und daher eigentlich auch keinen Platz zwischen den anderen contractus hat.23 Kann Gaius insoweit durchaus der Vorwurf mangelnder Einsicht in die Struktur vertraglicher Verpflichtungen gemacht werden, träfe er im übrigen auch den als echten Wissenschaftler bekannten Labeo. Denn dieser führt ebenso wie Gaius Verträge auf, die verbis und re abgeschlossen werden, und stellt sie gleichfalls den Geschäften gegenüber, die gegenseitige Verpflichtungen zeitigen und als deren Beispiele ihm Kauf, Gesellschaft und Verdingung gelten. Ein Unterschied zu Gaius besteht nur insofern, als Labeo noch nicht von einem consensu abgeschlossenen Vertrag, insofern vielmehr von contractus spricht 24 und damit den Terminus gebraucht, den Gaius später als Oberbegriff für alle klagbaren Vereinbarungen einsetzt.25 21 Anders als Kaser, Divisio obligationum, S. 160 möchte ich D 46.3.80 Pomp 4 QM dagegen nicht als Beleg für eine Verwendung des gaianischen Schemas bei dem noch deutlichen älteren Quintus Mucius gelten lassen; dagegen auch Cascione, Consensus. Problemi di origine, tutela processuale, prospettive sistematiche (2003), S. 412 f. 22 „Labeo definiert im ersten Buch über den Stadtprätor, was bedeutet, daß ‚verhandelt‘, ‚gehandelt‘ oder ‚vereinbart‘ wird; und ‚verhandelt‘ sei der Oberbegriff, sei es, daß etwas durch Wortformel oder Sachhingabe bewirkt werde, wie bei der Stipulation oder der Auszahlung; ‚vereinbart‘ sei die gegenseitige Verpflichtung, was die Griechen Synallagma nennen, wie der Kauf, die Verdingung und die Gesellschaft; ‚gehandelt‘ bezeichne einen Rechtsakt ohne Spracheinsatz.“ 23 Sargenti, Labeone: la nascita dell’idea di contratto nel pensiero giuridico romano, IVRA 38 (1987) 25, 32. 24 Daß er deshalb dem consensus der Parteien keine rechtliche Bedeutung beigemessen hat, erscheint mir entgegen Sargenti, IVRA 38 (1987) 25, 30 ff., 50 ff. unwahrscheinlich. Richtig ist allerdings, daß nach dem Wortlaut von D 50.16.19 nicht die conventio, sondern die beiderseitige Verpflichtung der Parteien entscheidend ist; vgl. Talamanca, La tipicità dei contratti romani fra conventio e stipulatio fino a Labeone, in: Milazzo (Hg.), Contractus e pactum. Tipicità e libertà negoziale nell’esperienza tardo-republicana (1990), S. 35, 96 und Gallo, Synallagma e conventio nel contratto, Bd. 1 (1992), S. 153 f. Die Beiderseitigkeit der Verpflichtung geht jedoch Hand in Hand mit dem formfreien Abschlußmodus, der anders als die Verbal- und Realverträge nicht auf eine einseitige Verpflichtung von Versprechendem oder Sachempfänger festgelegt ist (vgl. unten 4., 5.). 25 Richtig d’Ors, Creditum und contractus, SZ 74 (1957) 73, 73 ff. und Nelson/Manthe, Gai. Institutiones III.88–181, Die Kontraktsobligationen, S. 466.
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Hat die Einteilung in Real-, Verbal- und Konsensualverträge demnach Tradition und keine Wurzel im individuellen intellektuellen Versagen eines Lehrbuchautors des 2. Jahrhunderts,26 drängt sich ihre Erklärung aus dem kasuistischen Charakter der römischen Rechtswissenschaft auf. So glaubt Max Kaser, die römischen Juristen hätten wenig Neigung zu tiefgängiger Systematik verspürt und das Vertragsschema als Produkt praktischer Rechtsanschauung entwickelt.27 Dieser Ansicht liegt ein abschätziges Urteil über den dogmatischen Wert der Einteilung nach dem Abschlußmodus zugrunde. Kaser erklärt das hieraus gewonnene Schema für äußerlich und „dogmatisch wenig fruchtbar“ 28.
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Wie unhistorisch dieses Urteil ist, zeigt das Verhältnis von Leihe und Miete, deren Zuordnung nach ihrem Abschlußmechanismus aus moderner Sicht geradezu als Musterbeispiel verfehlter Systematik gelten kann: Da Leihe heute als unentgeltliche Gebrauchsüberlassung definiert, die Miete ihr entgeltliches Gegenstück ist, sind beide Verträge in die Kategorie der Gebrauchsüberlassungsverträge einzureihen und nach Ein- oder Doppelseitigkeit des Vertragsnutzens zu unterscheiden. Ganz anders das römische Pärchen aus commodatum und locatio conductio: Selbst wenn man davon absieht, daß die Verdingung zugleich die Funktionen des modernen Pacht-, Dienstund Werkvertrags übernahm, bleibt ein fundamentaler Unterschied: Die locatio conductio verpflichtete den Vermieter zur Gebrauchsüberlassung als Dauerleistung. Das commodatum, das erst durch Sachhingabe zustande kam, verpflichtete den Verleiher dagegen nur dazu, eine Schädigung des Vertragspartners zu unterlassen. Die Gebrauchsgewährung war schon im Akt des Vertragsschlusses aufgehoben und nicht als Gegenstand einer vom Verleiher auch noch danach erbrachten oder geschuldeten Dauerleistung begriffen.29 Commodatum und locatio conductio waren in ihrer Struktur also völlig unähnlich; und der Vertragsschlußmechanismus hatte eine über das äußerliche Geschehen hinausreichende Bedeutung. Als Differenzierungskriterium war er demnach gar nicht so ungeeignet, wie es heute auf den ersten Blick erscheint.
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Die zeitliche Abfolge
Noch mehr leuchtet die Einteilung in Verbal-, Real- und Konsensualverträge ein, wenn man die zeitliche Abfolge ihrer Entstehung betrachtet:30 Der älteste Vertrag ist die verbis abgeschlossene Stipulation, die ihren Ursprung in einem magischen Ritual gehabt haben könnte.31 Daß sie schon zur Zeit des 450 v. Chr. erlassenen Zwölftafelgesetzes Rechtsschutz erfuhr, wird dadurch belegt, daß dieses Gesetz nach Gaius’
Dies ist noch die Ansicht von Schulz, Classical Roman Law (1951), S. 469. Kaser, Divisio obligationum, S. 171. Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 2 (2. Aufl. 1971), S. 477. Dazu Harke, Freigiebigkeit und Haftung (2006), S. 15 ff. Daß die Einteilung der Verträge mit dem Ablauf ihrer Genese zusammenhängt, vermutet auch Melillo, Contrahere, pacisci, transigere (1994), S. 123 f., der der Frage jedoch nicht weiter nachgeht. 31 Spekulationen hierzu bei Düll, Zur römischen stipulatio, SZ 68 (1951) 191, 196 ff. 26 27 28 29 30
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Zeugnis mit der actio per iudicis arbitrive postulationem eine besondere Klage für Ansprüche einführte, deren namentlich erwähnter Rechtsgrund eine sponsio war: 32 Gai 4.17a Per iudicis postulationem agebatur, si qua de re ut ita ageretur lex iussisset, sicuti lex XII tabularum de eo quod ex stipulatione petitur, eaque res talis erat. qui agebat sic dicebat: EX SPONSIONE TE MIHI X MILIA SESTERTIUM DARE OPORTERE AIO: ID POSTULO AIAS AN NEGES.33
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Am anderen Ende der Zeitfolge stehen die Konsensualverträge. Die aus ihnen entspringenden Klagen sind erstmals durch ein Zitat des 95 v. Chr. zum Konsul ernannten und 82 v. Chr. ermordeten Quintus Mucius (pontifex) in Ciceros De officiis bezeugt: Cic off 3.70 Q. quidem Scaevola, pontifex maximus, summam vim esse dicebat in omnibus iis arbitriis, in quibus adderetur EX FIDE BONA, fideique bonae nomen existimabat manare latissime, idque versari in tutelis, societatibus, fiduciis, mandatis, rebus emptis, venditis, conductis, locatis, quibus vitae societas contineretur; in iis magni esse iudicis statuere, praesertim cum in plerisque essent iudicia contraria, quid quemque cuique praestare oporteret.34
Kauf, Verdingung, Gesellschaft und Auftrag erscheinen hier zusammen mit Vormundschaft und Verwaltungs- oder Sicherungstreuhand (fiducia) als Auslöser für ein bonae fidei iudicium. Es erlaubt die Verurteilung zu, was auch immer die Parteien nach Treu und Glauben einander schuldig sind (quidquid dare facere oportet ex fide bona), und gestattet dem Richter so, das Leistungsprogramm der Kontrahenten nach seinem Ermessen festzulegen. Der Ursprung dieser Verfahrensart ist ungewiß. Er wurde früher zuweilen in der seit 242 v. Chr. bestehenden Fremdenprätur, einer Einrichtung für Prozesse mit Ausländerbeteiligung, vermutet.35 Die von Quintus Mucius
32 Vgl. hierzu Waldstein, Haftung und dare oportere, FS Wesener (1992), S. 519, 528 f. 33 „Durch Anforderung eines Richters klagte man, wenn das Gesetz angeordnet hatte, daß man auf eine Sache derart klagen sollte, zum Beispiel das Zwölftafelgesetz für das, was aus einer Stipulation gefordert wurde. Und dies geschah ungefähr folgendermaßen: Wer klagte, sprach so: ‚ICH BEHAUPTE, DASS DU MIR AUS EINEM VERSPRECHEN ZEHNTAUSEND SESTERZEN GEBEN MUSST, ICH FORDERE DICH AUF, DIES ZUZUGESTEHEN ODER ZU LEUGNEN‘. Der Gegner sprach, er sei nicht verpflichtet. Der Kläger sprach: ‚WENN DU LEUGNEST, FORDERE ICH DICH, PRÄTOR, AUF, DASS DU EINEN RICHTER ODER EINEN SCHIEDSRICHTER BESTELLST.‘ “ 34 „Zwar sagte Q. Scaevola, der Pontifex maximus, daß höchste Kraft in den Prozessen liege, in deren Formel ‚NACH TREU UND GLAUBEN‘ eingefügt sei, und er vertrat die Ansicht, daß der Begriff ‚Treu und Glauben‘ sehr weit gehe und in Vormundschafts-, Gesellschafts-, Treuhandverhältnissen, bei Aufträgen, Kaufverträgen und Verdingungen beachtet werde, durch die die Gesellschaft des Lebens zusammengehalten werde; in diesen Prozessen sei es Sache eines bedeutenden Richters zu entscheiden, was der eine dem anderen leisten müsse, zumal meist auch eine Widerklage gegeben sei.“ 35 So Kaser, Mores maiorum und Gewohnheitsrecht, SZ 59 (1939) 52, 69 ff.; Kunkel, Fides als schöpferisches Element im römischen Schuldrecht, FS Koschaker (1939), Bd. 2, S. 12 ff., Pringsheim, L’origine des contrats consensuels, in: ders., Gesammelte Abhandlungen (1961), Bd. 2, S. 179, 190; dagegen Wieacker, Zum Ursprung der bonae fidei iudicia, SZ 80 (1963) 1,
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genannten Klagen aus Vormundschaft und Treuhand waren jedoch gerade für römische Bürger gedacht; 36 und auch der unentgeltliche und daher vom Handelsverkehr ausgenommene Auftrag sowie die ebenfalls mit bona-fides-Klausel ausgestatten und bei Cicero andernorts 37 erwähnten Klagen wegen Geschäftsführung ohne Auftrag (actio negotiorum gestorum) und auf Rückgewähr einer Mitgift (actio rei uxoriae) sind schwerlich aus dem rechtsgeschäftlichen Kontakt mit Ausländern entstanden.38 Unterscheiden sich die Mitgift- und die Treuhandklage im Formelwortlaut 39 und damit vielleicht auch im Entstehungszeitraum noch von den sonstigen bonae fidei iudicia, sind diese im übrigen von derart einheitlicher Struktur, 40 daß sie insgesamt oder doch zum Großteil gleichzeitig oder in nur geringem zeitlichen Abstand im späten dritten 41 oder frühen zweiten 42 vorchristlichen Jahrhundert geschaffen worden sein müssen.43 Erst im Prinzipat können dagegen die bonae fidei iudicia für Leihe und Verwahrung entstanden sein.44 Cicero erwähnt sie noch nicht, und Gaius führt sie als Alternative zu den auf eine Tatsache (factum) gestellten Klagen auf, mit denen Verleiher oder
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11 ff., Watson, The origins of consensual sale, TR 32 (1964) 245, 253 f. und Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, Rg 6 (2005) 84, 91 f.; zurückhaltend auch Kaser, Das altrömische Jus (1949), S. 297ff. Hierauf weist Wieacker, SZ 80 (1963) 1, 40 hin. Cic top 66: In omnibus igitur eis iudiciis, in quibus ex fide bona est additum, ubi vero etiam ut inter bonos bene agier oportet, in primisque in arbitrio rei uxoriae, in quo est quod eius aequius melius, parati eis esse debent. Illi dolum malum, illi fidem bonam, illi aequum bonum, illi quid socium socio, quid eum qui negotia aliena curasset ei cuius ea negotia fuissent, quid eum qui mandasset, eumve cui mandatum esset, alterum alteri praestare oporteret, quid virum uxori, quid uxorem viro tradiderunt. Altzivile Vorbilder für den Schutz der hier obwaltenden fides könnten auch der Grund für die Rezeption der ohne gesetzliche Grundlage entstandenen bonae fidei iudicia in das ius civile gewesen sein; vgl. Wieacker, SZ 80 (1963) 1, 27 ff., 40. Die actio fiducia lautete offenbar auf ut inter bonos bene agier oportet et sine fraudatione; vgl. Cic off 3.70; die actio rei uxoriae ging auf quod eius melius aequius erit; vgl. Cic top 66. Daß gerade ihre Klageformel den Anschluß an die formalistische Tradition erlaubte, glaubt Fögen, Rg 6 (2005) 84, 97 f. Auf das 3. Jahrhundert, für das auch Watson, TR 32 (1964) 245, 253 ist, verweist Celsus’ Zitat von Sextus Aelius, Konsul des Jahres 198 v. Chr. in einer Entscheidung zum Annahmeverzug beim Kauf; vgl. D 19.1.38.1 Cels 8 dig: Si per emptorem steterit, quo minus ei mancipium traderetur, pro cibariis per arbitrium indemnitatem posse servari Sextus Aelius, Drusus dixerunt, quorum et mihi iustissima videtur esse sententia. Ausführlich zur Diskussion um die Bedeutung des Textes Cascione, Consensus. Problemi di origine, tutela processuale, prospettive sistematiche (2003), S. 305 ff. Vorausgesetzt ist der konsensuale Kauf offenbar bei den Vorschlägen zur Vertragsgestaltung in Catos De re rustica aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts; vgl. zur Diskussion um diese Quelle Cascione, Consensus. Problemi di origine, tutela processuale, prospettive sistematiche (2003), S. 249 ff. Wieacker, SZ 80 (1963) 1, 13, 34. Maschi, La categoria dei contratti reali, S. 152 ff. Magdelain, Le Consensualisme dans l’édit du préteur, S. 107 will ihre Einführung sogar erst nach Julian und damit in die Mitte des 2. Jahrhunderts datieren.
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Niederleger die Rückgabe der verliehenen oder in Verwahrung gegebenen Sachen verlangen konnten: 45 Gai 4.47 Sed ex quibusdam causis praetor et in ius et in factum conceptas formulas proponit, veluti depositi et commodati. illa enim formula, quae ita concepta est: IUDEX ESTO. QUOD AULUS AGERIUS APUD NUMERIUM NEGIDIUM MENSAM ARGENTEAM DEPOSUIT, QUA DE RE AGITUR, QUIDQUID OB EAM REM NUMERIUM NEGIDIUM AULO AGERIO DARE FACERE OPORTET EX FIDE BONA, EIUS [IDEM] IUDEX, NUMERIUM NEGIDIUM AULO AGERIO CONDEMNATO. SI NON PARET, ABSOLVITO, in ius concepta est. at illa formula, quae ita concepta est: IUDEX ESTO. SI PARET AULUM AGERIUM APUD NUMERIUM NEGIDIUM MENSAM ARGENTEAM DEPOSUISSE EAMQUE DOLO MALO NUMERII NEGIDII AULO AGERIO REDDITAM NON ESSE, QUANTI EA RES ERIT, TANTAM PECUNIAM, IUDEX, NUMERIUM NEGIDIUM AULO AGERIO CONDEMNATO. SI NON PARET, ABSOLVITO, in factum concepta est. similes etiam commodati formulae sunt.46
Da die ‚Tatsachenklagen‘ neben den weitergehenden bonae fidei iudicia überflüssig waren, müssen sie die älteren und direkten Nachfahren der Strafklagen sein,47 mit denen Leihe und Verwahrung ursprünglich sanktioniert wurden. Für die Verwahrung
45 Daß die fehlende Erwähnung der actio commodati in der Aufzählung der bonae fidei iudicia in Gai 4.62 nicht überzubewerten ist, zeigt Maschi, La categoria dei contratti reali, S. 229. 46 In manchen Fällen verkündet der Prätor sowohl eine auf eine Tatsache bezogene als auch eine auf das Recht bezogene Formel, wie zum Beispiel bei Verwahrung und Leihe. Die Formel, die so lautet: „Du sollst Richter sein. Was das anbelangt, daß Aulus Agerius dem Numerius Negidius einen silbernen Tisch in Verwahrung gegeben hat, was auch immer Numerius Negidius wegen dieser Sache dem Aulus Agerius zu geben und zu leisten verpflichtet ist aus Treu und Glauben, in dies sollst du, Richter, den Numerius Negidius dem Aulus Agerius verurteilen. Wenn es sich nicht herausstellt, spricht ihn frei.“ ist auf das Recht bezogen. Die Formel, die so lautet: „Du sollst Richter sein. Wenn sich herausstellt, daß Aulus Agerius dem Numerius Negidius einen silbernen Tisch in Verwahrung gegeben hat und dieser aus Verschulden des Numerius Negidius dem Aulus Agerius noch nicht zurückgegeben worden ist, verurteile du, Richter, den Numerius Negidius, dem Aulus Agerius zu so viel Geld, wie die Sache wert ist. Wenn es sich nicht herausstellt, spricht ihn frei.“ ist auf eine Tatsache bezogen. Ähnlich sind die Formeln der Leiheklage. 47 Magdelain, Les actions civiles (1954), S. 48 Fn. 1, Wieacker, SZ 80 (1963) 1, 5.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht
ist eine solche Strafklage sogar schon als Gegenstand des Zwölftafelgesetzes belegt,48 für die Leihe nur zu vermuten. Der Übergang zu den vom Strafgedanken befreiten und auf bloße Rückgabe des anvertrauten Guts gerichteten ‚Tatsachenklagen‘ kann einerseits erst nach Einführung des Formularprozesses durch die 242 v. Chr. geschaffene Fremdenprätur erfolgt sein. Denn erst mit dieser Einrichtung kam die im Zeitalter des älteren Legisaktionenprozesses unbekannte Schöpfung von ‚Tatsachenklagen‘ durch den Gerichtsmagistrat auf. 49 Andererseits muß deren Einführung für Leihe und Verwahrung aber noch vor der Welle der bonae fidei iudicia stattgefunden haben, weil ohne einen älteren Klageschutz für Leihe und Verwahrung durch ‚Tatsachenklagen‘ kein Anlaß bestanden hätte, diese Verträge von der Ausstattung mit einem bonae fidei iudicium auszunehmen. Hält man diesen dies quo ante und jenen dies post quem zusammen, ist die Entstehung der älteren ‚Tatsachenlagen‘ aus Leihe und Verwahrung in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. anzusetzen.50 In dessen erste Hälfte fällt wahrscheinlich auch die lex Silia und mit ihr die Einführung der legis actio per condictionem, Urform der heute noch so genannten ‚Kondiktionen‘. Diese Klage war abstrakt gefaßt, kam also ohne Nennung des Schuldgrundes aus, und war daher geeignet, dem bislang unklagbaren, vielleicht nur indirekt über das Deliktsrecht 51 zu verfolgenden Darlehen zur rechtlichen Durchsetzung zu verhelfen.52 Die Realverträge stehen damit in der Mitte zwischen der verbalen Stipulation und den Konsensualverträgen. Zur Zwölftafelzeit, als die Stipulation schon als eigenständiger Verpflichtungsgrund anerkannt war, dienten sie allenfalls als Anknüpfungspunkt für eine deliktische Haftung. Noch vor der Einführung der Konsensualverträge, in deren Prozeßschema des bonae fidei iudicium sie nur teilweise und auch erst nachträglich eingefügt wurden, waren sie jedoch schon als außerdeliktische Schuldverhältnisse ausgebildet und mit Klagen bewehrt, die den unberechtigten Verbleib der Darlehensvaluta, Leih- oder niedergelegten Sachen beim Empfänger sanktionierten. Die vermeintlich unbedarfte Einteilung in Real-, Verbal- und Konsensualverträge ist demnach zumindest als historische sinnvoll. Denn sie sondert drei Gruppen von Verträgen nach ihrer Entstehungszeit. Ist diese auch für ihre jeweilige Struktur bestimmend, könnte das klassische Vertragsschema darüber hinaus auch den Anspruch erheben, von dogmatischem Wert zu sein.
48 XII T 8.19; vgl. Coll 10.7.11 Paul: Ex causa depositi lege duodecim tabularum in duplum actio datur, edicto praetoris in simplum. 49 Vgl. Gai inst 4.11: Actiones, quas in usu veteres habuerunt, legis actiones appellabantur vel ideo quod legibus proditae erant, quippe tunc edicta praetoris, quibus conplures actiones introductae sunt, nondum in usu habebantur … 50 Ganz anders Maschi, Contratti reali, S. 154 ff., der sie aufgrund der Tabuala Heraclensis, Lex Iulia municipalis sogar erst in die Zeit nach 45 v. Chr. einordnen will, aber nicht erklären kann, warum sie nicht schon im ersten Zuge mit bonae fidei iudicia ausgestattet wurden. 51 So Kaser, Altrömisches Jus (1949), S. 287. 52 Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), S. 170, Maschi, La categoria dei contratti reali, S. 138 ff. Jan Dirk Harke
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Die Realverträge: Haftung aus Vorenthaltung
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Gemeinsames Merkmal der Realverträge ist ihre Konzentration auf die Rückforderung von Sachen, die einer der Vertragspartner dem anderen überlassen hat: 53 Der einzige Anspruch, der aus einem Darlehen (mutuum) entstehen konnte, war stets der Anspruch des Darlehensgebers auf Rückgewähr der Darlehensvaluta. Daneben gab es weder ein Recht des Darlehensnehmers auf ihre Auszahlung noch einen Anspruch des Darlehensgebers auf Zinsen als Entgelt für die Überlassung. Ganz ähnlich verhält es sich mit Leihe (commodatum) und Verwahrung (depositum): Die ‚Tatsachenklage‘, mit der die Sanktion beider Verträge begann, läßt nur Raum für die Verurteilung des Entleihers und des Verwahrers, die eine ausgeliehene oder niedergelegte Sache nicht zurückgeben. Gegenansprüche, gerichtet auf den Ersatz von Aufwendungen oder des Schadens, den die überlassene Sache bei ihrem Empfänger angerichtet hatte, wurden erst mit der Einführung der bonae fidei iudicia für Leihe und Verwahrung im Prinzipat klagbar. Mit ihnen wurde der bisherige Vertragsmechanismus jedoch nur um ein Bereicherungs- und Schädigungsverbot erweitert und änderte sich nichts daran, daß Leihe und Verwahrung auf die Rückgewähr des anvertrauten Gutes fixiert waren: Da das commodatum erst mit Übergabe der Leihsache zustande kam, gab es nach wie vor keinen Anspruch des Entleihers auf ihre Überlassung; und der Verwahrer konnte allenfalls Aufwendungs- und Schadensersatz, aber kein Entgelt für die Aufbewahrung der niedergelegten Sache fordern.
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Die Konzentration des Schuldverhältnisses auf die Rückgewähr überlassener Sachen verbindet die Realverträge mit dem Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung, wie er aus der Zahlung einer Nichtschuld entsteht. Daß Gaius diesen Fall zunächst den Realverträgen zuordnet und die bei dieser Gelegenheit geäußerten Bedenken erst in der Neuauflage des Lehrbuchs zur Ausgliederung des Bereicherungsanspruchs aus dem Vertragsrecht führen, wirft ein Licht auf die Struktur der Ansprüche aus Realvertrag: Klagegrund ist jeweils nicht die Vereinbarung über Rückzahlung oder Rückgabe der überlassenen Valuta oder Sachen, sondern ebenso wie in den älteren Strafklagen die Unrechtmäßigkeit ihres weiteren Verbleibs bei ihrem Empfänger: 54 Wer ein Darlehen nicht rechtzeitig zurückzahlt, eine ausgeliehene oder in Verwahrung gegebene Sache länger behält, als er soll, steht so wie der Empfänger einer Leistung auf eine Nichtschuld. Er ist zur Rückgewähr verpflichtet, weil er ohne Rechtsgrund besitzt, sei es, daß die vorenthaltene Sache wie bei Leihe und Verwahrung fremd im sachenrechtlichen Sinn war, sei es, daß sie ihm wie beim Darlehen nicht mehr zusteht und für die Römer daher gleichfalls aes alienum, ‚fremdes Geld‘,55 war.56
53 Entgegen d’Ors, SZ SZ 74 (1957) 73, 76, 82 f. ist ihre Gruppe daher keineswegs heterogen. 54 Diesen Zusammenhang deckt Kaser, Das altrömische Jus (1949), S. 286 ff. auf. 55 Vgl. D 50.16.213.1 Ulp 1 reg: ‚Aes alienum‘ est, quod nos aliis debemus: ‚aes suum‘ est, quod alii nobis debent. 56 Insofern richtig d’Ors, SZ 74 (1957) 73, 84 ff. und Magdelain, Le consensualisme dans l’édit du préteur, S. 103, die im Vertrag nicht den eigentlichen Haftungsgrund für die obligationes re contractae erkennen wollen.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht
Sind die Realverträge des römischen Rechts Instrumente zur Rückgewähr und Abwehr einer ungerechtfertigten Bereicherung, liegt nahe, sie als Ausprägung eines antiken Vertragsschemas anzusehen, wie es vor allem das Vertragsrecht im griechischen Rechtskreis bestimmte: 57 Diesem war die Vorstellung einer Verpflichtung aus Leistungszusage fremd. Ihre Funktion übernahm die ‚Zweckverfügung‘, eine wirkliche oder auch nur fiktive Zuwendung des einen Vertragspartners an den anderen, die im Fall seines vertragswidrigen Verhaltens als rechtsgrundlos zurückgefordert werden konnte. Der rechtsfolgenbewehrte Teil des griechischen Schuldvertrags beschränkte sich damit auf die Bestimmung der Vermögensgegenstände, deren Herausgabe der Vertragspartner, der Opfer einer Vertragsverletzung des anderen war, beanspruchen konnte. Da sie dem Schuldner vom späteren Gläubiger wirklich überlassen worden waren oder zumindest als von ihm überlassen angesehen wurden, war die aus dem Vertrag entspringende Verpflichtung stets auf Rückgewähr eines Gegenstands gerichtet, der dem Gläubigervermögen zugerechnet und diesem zu Unrecht vorenthalten wurde.
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Im griechischen Rechtskreis diente diese Konstruktion auch und vor allem der Sanktion von Austauschverträgen, bei denen als Folge der Nichterfüllung eines Vertragspartners entweder die wirkliche Vorleistung der anderen Seite oder eine fiktive Zuwendung zurückverlangt wurde, die sich an dem Wert der ausgebliebenen Gegenleistung orientierte. Dem gleichen Schema unterlagen im klassischen römischen Recht noch die schon erwähnten 58 Innominatrealkontrakte: Wer aufgrund einer unklagbaren Vereinbarung im Vertrauen auf den Erhalt einer Gegenleistung einem anderen etwas zugewendet hatte, konnte seine Vorleistung bei Ausfall der Gegenleistung mit der condictio zurückfordern, weil der Verbleib beim Empfänger unberechtigt war. Bei den eigentlichen Realverträgen ist ein Austauschverhältnis nach griechischem Muster allenfalls insofern denkbar, als beim Darlehen die Zuwendung eines höheren als des tatsächlich ausbezahlten Kreditbetrags fingiert wurde. Eine solche Praxis ist nicht auszuschließen, aber nicht belegt und anders als im griechischen Recht auch keineswegs unumgänglich, weil das römische Recht mit der Stipulation von vornherein über ein Mittel verfügte, Gegenleistungen wie Darlehenszinsen oder ein Verwahrungsentgelt klagbar zu machen. Die Rezeption des griechischen Vertragsmodells konnte sich daher auf die freigiebigen Verhältnisse des zinslosen Darlehens, der Leihe und der unvergüteten Verwahrung beschränken. Die gewöhnlich mit der Freundschaftspflicht beantwortete 59 Frage nach dem Grund für die Unentgeltlichkeit dieser Verträge ist daher von vornherein falsch gestellt: Es gibt keinen Grund dafür, daß diese Verträge unentgeltlich waren, sondern nur dafür, daß man das griechische Vertragsschema lediglich für die Rückgewähr einsetzte. Wollte man nicht zu einer Fiktion greifen,
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57 Dessen Struktur haben Pringsheim, The Greek Law of Sale (1950), S. 245 ff. und vor allem H. J. Wolff, Die Grundlagen des griechischen Vertragsrechts, SZ 74 (1957) 26 ff. aufgedeckt. Zur Wirkung des griechischen Vertragsrechts auf die Philosophie Aristoteles’ Harke, Vorenthaltung und Verpflichtung (2005), S. 11 ff. 58 S.o. 1. 59 So unlängst noch Salazar Revuelta, La gratuidad del mutuum en el derecho romano (1999), S. 41ff., 91ff. mwN. Jan Dirk Harke
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konnte bloß die Rückgabe einer schon erfolgten Leistung begehrt werden; und die Fiktion einer weiteren Leistung erübrigte sich wegen der Möglichkeit einer Stipulation.60 5.
Die Stipulation: Verpflichtung aus Rechtsfolgenanordnung
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Anders als die Realverträge, deren Muster sich auf drei Konstellationen der Sachüberlassung beschränkt, läßt sich die Stipulation nicht als Vertragstyp bezeichnen. Wegen ihrer Definition durch die Abschlußform und der Unbestimmtheit ihres Gegenstands ist sie vielmehr selbst ein ganzes Vertragsrecht, das jeden denkbaren Leistungsaustausch und jede einseitige Verpflichtung erfaßt. Sie ist Grundform der verpflichtungsbegründenden Leistungszusage und zugleich das Instrument, von dem die Römer zunächst exklusiven und umfassenden Gebrauch machten, um die Vereinbarung einer Leistung mit Haftung zu bewehren.61 Daß sie heute nicht mehr als solches wahrgenommen wird, vielmehr vor allem als Mittel erscheint, um Ansprüche aus anderen Verträgen leichter durchsetzbar zu machen oder durch Bürgschaftsübernahme abzusichern, liegt nur an der späteren Einführung klagbarer Konsensualverträge. Ohne sie hätte die Stipulation auch im klassischen römischen Recht ihre Bedeutung als umfassendes Verpflichtungsinstrument bewahrt, das allen erdenklichen Leistungsvereinbarungen rechtliche Absicherung verleihen kann.
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Eigenheit der Stipulation und zugleich der Grund für ihre Ergänzung durch die Konsensualverträge war neben ihrer Formgebundenheit vor allem die Pflicht zur Präzision der ausbedungenen Leistung: Im Wortlaut des Stipulationsversprechens hatte der zugesagte Leistungsinhalt genauso zu erscheinen, wie er später einzuklagen war. Das Übereignungsversprechen, das durch Klage auf dare oportere einer bestimmten Sache durchgesetzt werden sollte, mußte auf dare oportere dieser Sache lauten; und auch das Versprechen, das die Übereignung einer nur der Gattung nach bestimmten Sache oder eine Handlung des Schuldners haftungsbewehren sollte, hatte (obwohl die Klagformel auf quidquid dare facere oportet lautete) die zugesagte Leistung genau zu benennen. Die Parteivereinbarung mußte also, modern gesprochen, schon einen vollstreckungsfähigen Inhalt haben und verlangte den Kontrahenten die Aufstellung eines präzisen Rechtsfolgenprogramms ab.62 6.
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Die Konsensualverträge: Verpflichtung aus Bestimmung des Geschäftsgegenstands
Die entscheidende Erleichterung, die der Rechtsverkehr durch die Konsensualverträge erfuhr, bestand demnach nicht in der Überwindung der leicht einzuhaltenden Stipulationsform, sondern vielmehr in der Befreiung von dem Zwang, sich auf kon-
60 Daher kann entgegen Fögen, Rg 6 (2005) 84, 87 Fn. 20 auch keine Rolle spielen, daß man fremdnützigen Versprechen keine bindende Wirkung zumessen wollte. 61 Pringsheim, L’origine des contrats consensuels, in: ders., Gesammelte Abhandlungen (1961), Bd. 2, S. 179, 189. Entgegen Fögen, Rg 6 (2005) 84, 86 war vor der Einführung der Konsensualverträge also nicht „wenig eingeschlossen und sehr viel ausgeschlossen“. 62 Vgl. auch Harke, Unmöglichkeit und Pflichtverletzung: Römisches Recht, BGB und Schuldrechtsmodernisierung, JbJZivRWiss 2001, S. 29 ff.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht
krete Rechtsfolgen festzulegen. Die weite Klageformel des bonae fidei iudicium, mit dem alle Konsensualverträge ausgestattet waren, nötigte den Richter nicht zur Entscheidung über eine bestimmte Leistung. Sie erlaubte ihm vielmehr, das Leistungsprogramm selbst festzulegen, indem er das Verhalten der Parteien auf seine Vereinbarkeit mit Treu und Glauben prüfte.63 Die Parteien waren zu jedem Handeln und Unterlassen verpflichtet, das die bona fides unter Vertragspartnern gebot, und hafteten, wenn ihr tatsächliches Verhalten hinter deren Vorgaben zurückblieb.64 Die Anforderungen an den Vertragsschluß sanken so erheblich. Statt sich auf bestimmte Rechtsfolgen einigen zu müssen, konnten sich die Kontrahenten auf die Bestimmung des Geschäftsgegenstands beschränken. Besonders deutlich kommt dies in den Einleitungssätzen der Kapitel über die einzelnen Konsensualverträge in Gaius’ Institutionenlehrbuch zum Ausdruck: Der Kaufvertrag ist darin von der Vereinbarung eines Kaufpreises, die Verdingung von der Einigung über Mietzins oder Arbeitslohn, die Gesellschaft von der Bestimmung ihres Geschäftsbereichs, der Auftrag von der des zu besorgenden Geschäfts abhängig gemacht: (139) Emptio et venditio contrahitur, cum de pretio convenerit … (142) Locatio autem et conductio similibus regulis constituitur; nisi enim merces certa statuta sit, non videtur locatio et conductio contrahi. … (148) Societatem coire solemus aut totorum bonorum aut unius alicuius negotii, veluti mancipiorum emendorum aut vendendorum. … (155) Mandatum consistit, sive nostra gratia mandemus sive aliena; itaque sive ut mea negotia geras sive ut alterius mandaverim, contrahitur mandati obligatio …65
Will man in diesem Schema eine Systematik ausmachen, muß man bei der Gesellschaft ansetzen. Sie ist im römischen Recht anders als heute nicht auf den Begriff der Förderung eines gemeinsamen Zwecks festgelegt. Wie Gaius’ Beispiele möglicher Gesellschaftsformen zeigen, ist die societas viel konkreter als die Einigung über eine gemeinnützige Geschäftsführung definiert.66 So ergänzt sie sich mit dem Auftrag, der in der Vereinbarung einer fremdnützigen Geschäftsführung besteht, und der negotiorum
63 Kaser, SZ 59 (1939) 52, 69. 64 Daß hierin und nicht in der Gewinnung einer ethischen Grundlage die Bedeutung des Verweises auf die bona fides lag, nimmt zu Recht Wieacker SZ 80 (1963) 1, 32, 34 an. Ähnlich Watson, TR 32 (1964) 245, 249, der glaubt, die Klagen aus dem konsensualen Kauf hätten zunächst dazu gedient, die von den Stipulationsverpflichtungen gelassenen Lücken zu füllen. 65 „Ein Kaufvertrag ist geschlossen, sobald man sich über den Preis einig ist … (142) Eine Verdingung wird nach ähnlichen Regeln begründet; nur wenn ein Entgelt festgesetzt ist, ist eine Verdingung zustande gekommen. (148) Eine Gesellschaft gehen wir gewöhnlich entweder zum ganzen Vermögen oder zum Betrieb eines Handelsgeschäfts wie zum Kauf und Verkauf von Sklaven ein. … (155) Ein Auftrag kommt zustande, wenn wir jemanden entweder in unserem eigenen oder im fremden Interesse mit einem Geschäft betrauen; daher wird eine Verpflichtung aus Auftrag begründet, wenn ich dir aufgebe, meine oder die Geschäfte eines anderen zu führen …“ 66 Grundlegend Wieacker, Das Gesellschafterverhältnis des klassischen Rechts, SZ 69 (1952) 302ff. Neuerdings auch Harke, Societas als Geschäftsführung und das römische Obligationensystem, TR 73 (2005) 43 ff. Jan Dirk Harke
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gestio, der unbeauftragten Geschäftsbesorgung, die zur gleichen Zeit oder wenig später als die Konsensualverträge mit einem bonae fidei iudicium ausgestattet worden ist 67 und sogar von den spätklassischen Juristen zuweilen noch contractus genannt wird.68 Alle diese Geschäftsbesorgungsverhältnisse sind unentgeltlich, nicht nur der Auftrag und die Geschäftsführung ohne Auftrag, sondern auch die Gesellschaft, deren Mitglieder zwar durchaus zum eigenen Vorteil, aber nicht tätig werden, um Leistungen auszutauschen. Da ferner die Schenkung im klassischen römischen Recht überhaupt nicht als Schuldvertrag angesehen wurde, erfassen societas, mandatum und negotiorum gestio den gesamten Bereich unentgeltlicher Schuldbeziehungen. Sie machen sogar die älteren Realverträge, die alle Platz im mandatum haben, überflüssig und formen damit ein abschließendes Teilsystem für alle Verträge und vertragsähnlichen Konstellationen jenseits der Vereinbarung eines Leistungsaustauschs.
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Daß dieser mit den beiden verbleibenden Konsensualverträgen auf bestimmte Typen, nämlich Kauf, Miete, Pacht, Dienst- und Werkvertrag, beschränkt war, ist erst das Produkt der späteren Zerlegung der Verdingung (locatio conductio) in die vier modernen Formen der Sachüberlassung und Arbeitsleistung. Zwar haben auch die römischen Juristen schon besondere Regeln für einzelne Konstellationen der locatio conductio ausgebildet.69 Sie haben insbesondere den heute Werkvertrag genannten Fall der Zusage eines Arbeitserfolgs von der Vereinbarung über einfache Arbeitsleistung unterschieden, die jetzt Dienstvertrag heißt, und die Überlassung einer beweglichen Sache oder eines städtischen Grundstücks zum Gebrauch von der Überlassung eines landwirtschaftlichen Grundstücks zur Fruchtziehung gesondert. Gerade der zuletzt genannte Anwendungsfall der locatio conductio zeigt jedoch, wie weit deren Potential reicht. Statt den Verpächter, den die Römer locator nannten, einfach zur Grundstücksüberlassung und den Pächter, der in Rom conductor hieß, auf die Zahlung des Pachtzinses zu verpflichten, entwickelten die römischen Juristen für die Überlassung landwirtschaftlicher Grundstücke ein kompliziertes Regime: 70 Der conductor schuldete außer der Zinszahlung noch die ordnungsgemäße Bewirtschaftung der Pacht-
67 Ihm ging allerdings entgegen Magdelain, Le consensualisme dans l’édit du préteur, S. 185 ff. wohl eine actio in factum für die spontane Prozeßvertretung voraus; vgl. Lenel, Das edictum perpetuum (3. Aufl. 1927), S. 102, Seiler, Der Tatbestand der negotiorum gestio im römischen Recht (1968), S. 316 ff. und Finazzi, Ricerche in tema di negotiorum gestio I. Azione pretoria ed azione civile (1999), S. 421 ff. Eine umgekehrte Entwicklung nimmt jetzt Cenderelli, La negotiorum gestio I. Struttura, origini, azioni (1997), S. 140 ff. an. Für die Datierung des bonae fidei iudicium will Kreller, Das Edikt de negotiis gestis in der Geschichte der Geschäftsbesorgung, FS Koschaker, 1939, Bd. 2, S. 193, 196, seine Nichterwähnung in de officiis 3.70, Finazzi, S. 167 ff. Ciceros Rede Pro Quinctio 61 fruchtbar machen, so daß die Einführung der Klage erst in Ciceros Schaffenszeit fiele. Ich halte diese Schlußfolgerungen nicht für zwingend und die Ähnlichkeit der Klage aus negotiorum gestio mit den übrigen bonae fidei iudicia für einen starken Hinweis auf ihr höheres Alter. 68 Vgl. die Äußerung des an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert wirkenden Paulus in D 3.5.15 (7 Plaut). 69 Zur Unterscheidung der Anwendungsfälle der locatio conductio durch Labeo in D 7.8.12.6 Ulp 17 Sab Fiori, La definizione della locatio conductio (1999), S. 174. 70 Hierzu eingehend Harke, Locatio conductio, Kolonat, Pacht, Landpacht (2005), S. 9 ff.
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sache,71 der locator neben ihrer Überlassung noch einen mäßigen Fruchtziehungserfolg: Da er stets in den Genuß des Sacherhalts durch Bewirtschaftung kam, mußte er bei außergewöhnlichen Erntefehlschlägen auf einen dem Minderertrag entsprechenden Teil des Pachtzinses verzichten.72 Möglich wurde diese Kombination von Überlassungs- und Arbeitsvertrag, die weniger dem Pachtvertrag im heutigen Sinn als vielmehr einem Betriebsführungsvertrag entspricht, deshalb, weil die Rollen von geldund sachleistender Partei im Rahmen der locatio conductio nicht festgelegt waren: Der locator war in den miet- und dienstvertraglichen Konstellationen der Vertragspartner, der durch Gebrauchsüberlassung oder Arbeit die Sachleistung erbrachte und vom conductor die Geldleistung erhielt. Beim Werkvertrag war es dagegen der conductor, der die Ausführung der Sachleistung übernahm und den locator so zur Erbringung der Geldleistung verpflichtete. Bei der Überlassung landwirtschaftlicher Grundstücke schließlich finden wir die Geldleistung zwar einseitig zugewiesen, die in Grundstücksüberlassung und -bewirtschaftung bestehende Sachleistung aber auf beide Seiten verteilt. Die hierin zum Ausdruck kommende Flexibilität der locatio conductio offenbart, daß sie statt Vertragstyp vielmehr ein umfassendes Gebilde zur Bewältigung jeglichen Austauschs von Geld- und Sachleistung war. Daß sie in der römischen Rechtspraxis keine hervorragende Rolle spielte, lag allein an zwei externen Faktoren: 73 Zum einen kam der freien Lohnarbeit nur eine untergeordnete wirtschaftliche Bedeutung zu, weil Arbeitsleistungen überwiegend von Sklaven erbracht und die artes liberales genannten höheren Dienste aus Anstandsgefühl nicht in den Austauschverkehr einbezogen, sondern freiwillig zu honorieren waren. Zum anderen war aus dem Anwendungsbereich der locatio conductio der Austausch von dauerhafter Sachherrschaft gegen Geld ausgenommen und einem anderen contractus, der emptio venditio, vorbehalten. Diese ist im Unterschied zur locatio conductio ein regelrechter Vertragstyp, nämlich ein weitgehend unflexibles, von archaischen Vorstellungen auf ein bestimmtes Leistungsbild festgelegtes Schuldverhältnis. Ihr Fortwirken zeigt sich in den zahlreichen Eigenheiten des römischen Kaufs, die in der modernen Forschung mit den Begriffen „Veräußerungscharakter“ 74 oder „Barkaufprinzip“ 75 belegt werden: Daß der römische Käufer die Preisgefahr schon ab Vertragsschluß trug,76 der Verkäufer im Gegenzug wie ein Sachentleiher für die Bewachung (custodia) der Kaufsache einzustehen hatte,77 daß dem Käufer ihre Früchte schon ab Vertragsschluß gebührten,78 der Ver-
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76 77 78
D 19.2.25.3 Gai 10 ed prov. D 19.2.15.2-5, 7 Ulp 32 ed. Vgl. Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), S. 568f. So Ernst, Periculum emptoris, SZ 99 (1982) 216, 244 im Anschluß an Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts (8. Aufl. 1900), § 390, Bd. 2, S. 616. So Kaser, Das römische Privatrecht, S. 547, J. G. Wolf, Barkauf und Haftung, TR 45 (1977) 1, 13f., ders., Per una storia della emptio venditio: l’acquisto in contanti quale sfondo della compravendita romana, IVRA 52 (2001) 29 ff. D 18.6.8pr. Paul 33 ed. D 18.6.3 Paul 5 Sab. D 22.1.4.1 Pap 27 quaest.
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käufer aber nicht zur Eigentumsverschaffung, sondern lediglich zur Verstattung des ungestörten Besitzes verpflichtet war 79 – all dies findet seinen Grund darin, daß die Kaufsache ab Vertragsschluß schon dem Vermögen des Käufers zugerechnet wurde. Die emptio venditio war damit kein reiner Distanzkauf, sondern lediglich ein in mancherlei Hinsicht, aber keineswegs vollständig gestreckter Barkauf. Ihre Atavismen sind historisch ohne weiteres dadurch zu erklären, daß es schon lange vor Einführung der Klagen aus dem konsensualen Kauf, ja sogar schon vor den Zwölftafeln ein mancipatio genanntes Ritualgeschäft 80 gab, das in klassischer Zeit reine Verfügungsfunktion und eigentumsübertragende Wirkung hatte, ursprünglich aber ein Barkauf gewesen sein muß.81 Das Fortleben dieses vertraglichen Urgesteins in der Barkaufstruktur der späteren emptio venditio hat diese zu einem Vertragstyp mit vielen Eigenheiten gemacht, der den Blick für die Systematik der Konsensualverträge verstellt:
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Erkennt man in der emptio venditio keine systemtragende Schöpfung, vielmehr nur eine der Tradition geschuldete Ausnahme aus dem Anwendungsbereich der für den Leistungsaustausch eigentlich allein zuständigen locatio conductio, fügen sich die Konsensualverträge zu einem geschlossenen Entwurf, der nahezu die gesamte Breite vertraglicher Verpflichtungen überspannt: Auf der einen Seite stehen die Geschäftsführungsverhältnisse: Gesellschaft, Auftrag und Geschäftsführung ohne Auftrag, die den Bereich der unentgeltlichen Schuldverhältnisse abdecken, auf der anderen die locatio conductio, die für den Leistungsaustausch zuständig ist und auf alle Vereinbarungen paßt, bei denen eine Sach- gegen eine Geldleistung umgesetzt wird. Heraus fallen aus diesem System neben den der emptio venditio zugewiesenen Kaufverträgen lediglich die archaischen Tauschgeschäfte nach dem Muster: ‚do ut des, do ut facias, facio ut des, facio ut facias‘. Daß sie außerhalb des klassischen Vertragsschemas durch eine Kondiktion wegen Zweckverfehlung sanktioniert wurden, stellt nicht den Befund eines umfassenden Systems der Konsensualverträge in Frage, zeigt aber, daß es moderner als die Rechtspraxis war, die auf den primitiven Tauschhandel nicht verzichten wollte. 7.
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Ergebnis
Bei näherem Hinsehen erweisen sich sowohl das herabsetzende Urteil über das römische Vertragsschema als auch das herkömmliche Bild vom Typenzwang im römischen Vertragsrecht als korrekturbedürftig: Erkennt man, daß Real-, Verbal- und Konsensualverträge nicht Elemente eines einheitlichen Ganzen, vielmehr zeitlich und sachlich voneinander getrennte Phänomene sind, kann man gleich drei Systeme ausmachen, die jeweils den Anspruch haben, die gesamte Breite vertraglicher Schuld-
79 D 19.4.1pr. Paul 32 ed. Vgl. zur fehlenden Übereignungspflicht Harke, Si error aliquis intervenit, S. 199 f. 80 Zu seiner Struktur J. G. Wolf, Funktion und Struktur der mancipatio, Mélanges Magdelain (1998), S. 501ff. 81 Pringsheim, L’origine des contrats consensuels, in: ders., Gesammelte Abhandlungen (1961), Bd. 2, S. 179, 189 ff., der in der Umstellung von wirklicher Preiszahlung auf deren Andeutung im Ritual einen Schritt in Richtung auf den konsensualen Kauf sieht.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht
beziehungen zu erfassen: Das Realvertragsmuster ist zwar im römischen Recht nur für unentgeltliche Überlassungsverhältnisse fruchtbar gemacht, hat aber, wie das griechische Vertragsrecht zeigt, das Potential, sämtliche freigiebigen und Austauschbeziehungen zu regeln, indem es den Ausfall der erwarteten Leistung mit einem Anspruch wegen Vorenthaltung eines tatsächlich oder auch nur fiktiv zugewendeten Gegenstands sanktioniert. Daß dieses Regelungsmodell im römischen Recht nicht über Darlehen, Leihe und Verwahrung hinausging und im übrigen außerhalb des Vertragsschemas bei den Innominatrealkontrakten wirkte, liegt am höheren Alter der verbalen Stipulation, die nicht nur potentiell, sondern wirklich den gesamten Kreis möglicher Leistungszusagen abdeckte. Als inhaltlich unbestimmter, nur durch seine Form definierter Vertrag ließ sich mit ihrer Hilfe jede denkbare Leistungszusage klagbar machen, sofern sich die Parteien nur auf eine präzise Rechtsfolgenanordnung festlegen konnten. Diese unnötig zu machen und durch eine Einigung über den Geschäftsgegenstand zu ersetzen war der entscheidende Vorzug der Konsensualverträge, die ihrerseits ein Regelungsschema für nahezu den gesamten Bereich vertraglicher und vertragsähnlicher Schuldbeziehungen bereithielten: Die unentgeltlichen Beziehungen wurden durch die drei Geschäftsführungsverhältnisse aus Gesellschaft, Auftrag und negotiorum gestio abgedeckt, die Austauschvereinbarungen vom Kaufvertrag und der Verdingung. Diese ist ein umfassendes Gebilde, das jeden Austausch von Sachund Geldleistung einschloß, sofern es nicht dem an archaischen Vorbildern orientierten Kaufvertrag zugewiesen war. Eine Lücke ließen die Konsensualverträge bloß für den atavistischen Austausch von Sach- gegen Sachleistung. Von einem regelrechten Typenzwang läßt sich demnach weder bei den Konsensual-, noch bei den Verbal- oder Realverträgen sprechen. Vertragsfreiheit ist in den letzten beiden Fällen vollständig durch inhaltsneutrale Bindungsmuster, bei den Konsensualverträgen weitgehend durch starke Abstraktion des möglichen Geschäftsinhalts gewährleistet. Hat man den Römern gleichwohl bislang das Prinzip vertraglicher Inhaltsfreiheit abgesprochen, liegt dies allein daran, daß man nach einem System des Vertragsrechts gesucht und dieses nicht gefunden hat. Ein System gab es aber nicht. Es gab drei.
II.
Auslegung im römischen Vertragsrecht
1.
Quod actum est und der Gegensatz von verba und voluntas
Das herkömmliche, wiederum nahezu unumstrittene Bild von der römischen Vertragsauslegung ist geprägt von den weitaus ergiebigeren Quellen zur Testamentsinterpretation.82 Diese ist ihrerseits durch den Gegensatz von verba und voluntas, von objektiv verstandenem Testamentswortlaut und individueller Absicht des Testators, gekennzeichnet. Das Begriffspaar: verba – voluntas, findet sich zuweilen auch in Aus82 Vgl. die Darstellungen bei Kaser, Das römische Privatrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), S. 236, Honsell/Mayer-Maly/Selb, Römisches Recht (4. Aufl. 1987), S. 87 ff., Zimmermann, The Law of Obligations, S. 622 ff. Jan Dirk Harke
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1. Teil: Grundlagen
sagen der klassischen Juristen zum Vertragsrecht, vor allem in dem bekannten Ausspruch des Spätklassikers Papinian, der Vorbild für § 133 BGB geworden ist: In conventionibus contrahentium voluntatem potius quam verba spectari placuit.83
Isoliert betrachtet, legt diese Äußerung einen Gleichlauf von Vertrags- und Testamentsauslegung nahe. Dies würde bedeuten, daß es in beiden Fällen um die Ermittlung der typischen Bedeutung des Geschäftswortlauts und der individuellen Vorstellung der Erklärenden sowie um die Entscheidung über den Vorrang zwischen beiden geht. Mag dieses Schema auch auf die Testamentsauslegung passen, trifft es das Vertragsrecht doch nur sehr eingeschränkt. Die Frage nach dem Verhältnis von Wortlaut und Parteivorstellung läßt sich sinnvoll nur bei formbedürftigen Verträgen wie bei der Stipulation stellen. Ebenso wie im Testamentsrecht steht der Rechtsanwender hier vor dem Problem, ob der Autor einer Erklärung seiner eigenen Vorstellung in einer dem Formgebot genügenden Weise Ausdruck verliehen hat. Bei Verträgen, die keinem Formzwang unterliegen, besteht dagegen von vornherein kein Anlaß, jenseits des Geschäftswortlauts liegende Vorstellungen der Parteien zu vernachlässigen, sofern sie entweder unstreitig oder nachgewiesen sind. In den Aussagen der römischen Juristen kommt dies in der Formel vom Vorrang des quod actum zum Ausdruck. Der Hochklassiker Pomponius stellt es dem quod dictum gegenüber und befindet, daß ihm im Verhältnis zu diesem der Vorrang gebühre: in emptis enim et venditis potius id quod actum, quam id quod dictum sit sequendum est …84
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Da quod actum nichts weiter als ‚Vereinbarung‘ bedeutet, ist es ebenso wie diese ein schillernder Begriff, der in den römischen Quellen sowohl für den einfachen Wortlaut einer vertraglichen Bestimmung als auch für ihren typischen Sinn oder ihr Gegenteil 85: die konkrete Parteivorstellung, stehen kann. In der modernen Forschung wird quod actum zuweilen als ein Mittel der Auslegung angesehen.86 Instrument konnte die konkrete Einigung der Parteien jedoch wiederum nur bei der formbedürftigen Stipulation sein, wo sie der Kontrolle diente, ob die mündliche Abschlußform eingehalten war. 87 So macht der Spätklassiker Papinian die Wirksamkeit eines strafbewehrten Gestellungsversprechens ohne Datumsangabe davon abhängig, ob die Parteien ein Treffen zu einem bestimmten oder zu einem beliebigen Zeitpunkt gemeint haben. In diesem Fall stimmen quod actum und Geschäftsformel überein, in jenem fallen sie auseinander, ist die Stipulation nichtig:
83 D 50.16.219 Pap 2 resp („Bei Verträgen ist anerkannt, daß der Wille der Vertragsparteien mehr Beachtung findet als der Wortlaut der Vereinbarung.“) 84 D 18.1.6.1 Pomp 9 Sab („Bei Kaufverträgen achten wir mehr auf das, was wirklich vereinbart worden ist, als auf das, was gesagt worden ist.“) 85 Diese Bedeutungsvarianz verkennt Pringsheim, Id quod actum est, SZ 78 (1961) 1 ff. 86 Wieacker, SZ 83 (1966) 438 f., Horak, Rationes decidendi (1969), S. 194 f., Honsell/MayerMaly/Selb, Römisches Recht (4. Aufl. 1987), S. 89 f., Zimmermann, The Law of Obligations, S. 633 f. 87 Hierzu Harke, Si error aliquis intervenit, S. 296 ff.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht D 45.1.115pr. Pap 2 quaest Ita stipulatus sum: ‚te sisti in certo loco: si non steteris, quinquaginta aureos dari spondes?‘ si dies in stipulatione per errorem omissus fuerit, cum id ageretur, ut certo die sisteres, imperfecta erit stipulatio. … quod si ab initio id agebatur, ut quocumque die sisteres et, si non stetisses, pecuniam dares, quasi quaelibet stipulatio sub condicione concepta vires habebit, nec ante committetur, quam fuerit declaratum reum promittendi sisti non posse.88
Außerhalb der förmlichen Verträge war quod actum dagegen niemals Mittel, sondern entweder das Ergebnis der Auslegung 89 oder sein Gegensatz. Bezeichnete es das Auslegungsresultat, war es die typische Bedeutung einer vertraglichen Vereinbarung,90 wie ihn beispielsweise der Frühklassiker Proculus für eine Pacht mit Inventarüberlassung zum Schätzwert ermittelt. Obwohl er seine Lösung nicht durch Rücksicht auf die konkrete Parteivorstellung, sondern aus einem Vergleich zur Mitgiftbestellung und demnach aus hergebrachter Vertragspraxis gewinnt, beruft er sich auf das quod actum der Parteien:
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D 19.2.3 Pomp 9 Sab Cum fundus locetur, et aestimatum insturumentum colonus accipiat, Proculus ait id agi, ut instrumentum emptum habeat colonus, sicuti fieret, cum quid aestimatum in dotem daretur.91
Stand quod actum im Gegensatz zum Auslegungsergebnis, bezeichnete es statt dessen die konkrete Vorstellung der Parteien, die, sofern unstreitig oder erweislich, dem typischen Verständnis einer Vereinbarung vorging.92 Ein gutes Beispiel hierfür bietet die Entscheidung des republikanischen Juristen Servius zu dem Fall eines Kaufs von Bäumen, die in den nächsten fünf Jahren auf einem bestimmten Grundstück geschlagen werden. Die Frage, ob hiervon auch die gefallenen Früchte erfaßt sind, will Servius vorrangig nach dem quod actum beurteilt wissen und nur dann, wenn dieses in obscuro ist, mit Hilfe der Unterscheidung beantworten, ob die Früchte zum Zeitpunkt der Fällung noch am Baum hängen: D 18.1.80.2 Labeo 5 post a Iav epit Silva caedua in quinquennium venierat: quaerebatur, cum glans decidisset, utrius esset. scio Servium respondisse, primum sequendum esse quod appareret actum esse: quod si in
88 „Ich habe mir wie folgt versprechen lassen: ‚Versprichst du, dich an einem bestimmten Ort einzufinden und, falls du dich nicht stellst, fünfzig Golddenare zu zahlen?‘ Ist die Erwähnung eines Datums in dem Versprechen versehentlich unterblieben, während vereinbart war, daß du dich an einem bestimmten Tag stellten solltest, ist das Versprechen ungültig … Ist aber von vornherein vereinbart worden, daß du dich an irgendeinem Tag stellen und Geld zahlen sollst, falls du dich nicht stellst, ist das Versprechen ebenso wie ein bedingtes gültig und verfällt nicht eher, als nicht offenbar wird, daß sich der Schuldner nicht stellen kann.“ 89 So teilweise richtig Gandolfi, Studi sull’ interpretazione degli atti negoziali, S. 118 ff. 90 Vgl. Harke, Si error aliquis intervenit, S. 285 ff. 91 „Wird ein Grundstück verpachtet und erhält der Pächter das Inventar zum Schätzwert, so ist nach Proculus vereinbart, daß der Pächter das Inventar gekauft hat, wie es geschieht, wenn etwas zum Schätzwert als Mitgift gegeben wird.“ 92 Ausführlich Harke, Si error aliquis intervenit, S. 291 ff., 299 ff. Jan Dirk Harke
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1. Teil: Grundlagen obscuro esset, quaecumque glans ex his arboribus quae caesae non essent cecidisset, venditoris esse, eam autem, quae in arboribus fuisset eo tempore cum haec caederentur, emptoris.93
Die von Servius vorgeschlagene Lösung entspricht dem typischen Sinn des Geschäfts, dessen Gegenstand ja erst durch die Baumfällung bestimmt wird. Gleichwohl muß sie der konkreten Parteivorstellung weichen, falls diese unstreitig oder nachgewiesen ist. Ihr Vorrang ist außerhalb der förmlichen Verträge völlig selbstverständlich. 2.
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Auslegungsregeln
War mit quod actum die konkrete Parteivorstellung als Gegensatz zum Ergebnis der Auslegung gemeint, muß diese notwendig auf den objektiv-typischen Geschäftsinhalt gerichtet sein. Eine konkret-individuelle Auslegung, wie sie den römischen Juristen in der modernen Forschung nicht selten attestiert wird,94 kann es jenseits der formbedürftigen Verträge gar nicht gegeben haben. Wo keine Bindung an eine bestimmte Geschäftsformel bestand, richteten sich die römischen Juristen stets zunächst einmal nach dem individuellen Zweck, den die Parteien mit ihrer Vereinbarung unstreitig oder erwiesenermaßen verfolgt hatten. Nur wenn er im Dunkeln blieb, entschied die Auslegung, die zwangsläufig ohne die streitbefangenen und nicht erweislichen Parteiansichten auskommen mußte. Die Maßstäbe, an denen sich die römischen Juristen bei der Vertragsinterpretation orientierten, konnten demnach allein mos und consuetudo, Sitte und Brauch, sein: D 21.1.31.20 Ulp 1 ed aed cur Quia adsidua est duplae stipulatio, idcirco placuit etiam ex empto agi posse, si duplam venditor mancipii non caveat: ea enim, quae sunt moris et consuetudinis, in bonae fidei iudiciis debent venire.95
Rücksicht auf die Umstände des Vertragsschlusses nahmen die römischen Juristen dabei nur insofern, als sie den Vertrag nicht von vornherein an allgemeingültigen Kriterien des Handelsverkehrs oder der Rechtsdogmatik maßen, sondern, falls möglich, nach der an seinem Abschlußort gängigen Geschäftspraxis beurteilten:
93 „Es kam das in fünf Jahren zu schlagende Holz zum Verkauf. Es wurde gefragt, wem die herabgefallenen Eicheln gehören. Ich weiß, daß Servius zur Antwort gegeben hat, man müsse zunächst dem folgen, was vereinbart worden sei. Bleibe dies unklar, gehören die Eicheln, die von den noch nicht gefällten Bäumen herabgefallen sind, dem Verkäufer, und die, die zu der Zeit an den Bäumen hingen, als diese gefällt wurden, dem Käufer.“ 94 Kaser, Das römische Privatrecht (2. Aufl. 1971), S. 235, Honsell/Mayer-Maly/Selb, Römisches Recht (4. Aufl. 1987), S. 89 f., Zimmermann, The Law of Obligations, S. 632 f. 95 „Da die Stipulation des doppelten Kaufpreis (wegen eines Rechtsmangels der Kaufsache) ständig vorgenommen wird, ist die Ansicht herrschend, daß auch aus dem Kauf geklagt werden könne, falls der Verkäufer eines Sklaven keine Sicherheit in Höhe des Doppelten geleistet hat. Was Sitte und Gebräuchen entspricht, ist nämlich von Klagen auf Treu und Glauben erfaßt.“
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht D 50.17.34 Ulp 45 Sab Semper in stipulationibus et in ceteris contractibus id sequimur, quod actum est: aut, si non pareat quid actum est, erit consequens, ut id sequamur, quod in regione in qua actum est frequentatur.96
Eine aus diesem Rahmen fallende Auslegungsregel ist die unrömisch sogenannte interpretatio contra proferentem, die für ein Verständnis gegen die Auffassung des Klauselverwenders sorgte. Im klassischen römischen Recht galt sie keineswegs allgemein, sondern lediglich für die vom Verkäufer formulierten Zusatzklauseln zu einem Kaufoder Mietvertrag (leges dictae). Ihre Besonderheit bestand darin, daß sie vom Konsenserfordernis ausgenommen, ihr Inhalt auch im Fall einer Meinungsverschiedenheit allein der Vorstellung des Verkäufers oder des Vermieters entnommen wurde.97 Als Korrektiv diente die gegenläufige Auslegung zugunsten des Käufers oder Mieters, die den Verkäufer oder Vermieter zwang zu beweisen, was er sich im Zeitpunkt des Vertragsschlusses mit der umstrittenen Klausel gedacht hatte. Ein ähnlicher Mechanismus muß ursprünglich ebenfalls bei der Stipulation gegolten haben, wurde hier aber frühzeitig beseitigt. Auch im Kauf- und Mietrecht kam die verwenderfeindliche Auslegung in klassischer Zeit nur noch dann zum Zuge, wenn sich nicht schon mit Hilfe der Geschäftspraxis ein bestimmtes Klauselverständnis als wahrscheinlicher Gegenstand einer übereinstimmenden Parteivorstellung ermitteln ließ. So erklärt sich die geringe praktische Bedeutung der interpretatio contra proferentem, die Überbleibsel eines eigenwilligen und überholten Mechanismus der vertraglichen Inhaltsbestimmung war und, wenn überhaupt, dann lediglich subsidiär zum objektiv-typischen Verständnis einer Vertragsbestimmung zum Zuge kam 98.99 3.
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Funktion der Auslegung
Aufgabe der Vertragsauslegung war die Auflösung der Beweisaporie und die Zuweisung der Beweislast im Streitfall: 100 Der Kontrahent, dessen Auffassung sich mit dem typischen Verständnis einer Vereinbarung deckte, war des Nachweises enthoben, daß sie auch die gemeinsame Vorstellung der Parteien bei Vertragsschluß traf. Er obsiegte schon dann, wenn sein Gegner mit dem Beweis einer abweichenden Parteivorstellung
96 „Immer beachten wir bei Stipulationen und anderen Verträgen, was vereinbart worden ist, und, wenn dies nicht erhellt, ist folgerichtig, daß wir uns danach richten, was in dem Gebiet, in dem die Vereinbarung getroffen wurde, üblich ist.“ 97 Dies zeigt D 18.1.34pr. Paul 33 ed; vgl. dazu Harke, Si error aliquis intervenit, S. 85 ff. 98 Im Ergebnis ebenso Gandolfi, Studi sull’ interpretazione degli atti negoziali, S. 398 ff., ähnlich Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen, S. 689. Anders Krampe, Die ambiguitas-Regel: Interpretatio contra stipulatorem, venditorem, locatorem, SZ 100 (1983) 185, 224, 227, der von einer kasuistischen Anwendung der interpretatio contra proferentem ausgeht, und Honsell, Ambiguitas contra stipulatorem, FG Kaser, 1986, S. 73, 75 ff., der an ihren sakralrechtlichen Ursprung glaubt und sie schon im klassischen Recht für obsolet hält. 99 Daß sich in den römischen Quellen keine Spuren einer parteibezogenen, nämlich schuldnerschützenden Auslegung finden lassen, zeigt eingehend Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen, S. 505 ff. 100 Ausführlich Harke, Si error aliquis intervenit, S. 327 ff. Jan Dirk Harke
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1. Teil: Grundlagen
scheiterte. Ein Beispiel hierfür bietet die Lösung, mit der der Spätklassiker Paulus ein von dem Frühklassiker Labeo aufgeworfenes Fallproblem versah: War ein Sklave verschifft worden und während des Transports gestorben, entschied über den Anspruch des Reeders auf die zugesagte Vergütung, ob diese für die Aufnahme des Sklaven im Schiff oder seine Ankunft am Zielhafen geschuldet, die Vereinbarung also Miet- oder Werkvertrag war. Paulus macht dies von quod actum abhängig, nimmt aber für den Fall, daß sich die individuelle Parteivorstellung nicht ermitteln läßt, einen Mietvertrag und demnach an, daß der Reeder bloß die Aufnahme des Sklaven auf dem Schiff zu beweisen hat: D 14.2.10pr. Lab 1 pith a Paul epit Si vehenda mancipia conduxisti, pro eo mancipio, quod in nave mortuum est, vectura tibi non debetur. PAULUS: immo quaeritur, quid actum est, utrum ut pro his qui impositi an pro his qui deportati essent, merces daretur: quod si hoc apparere non poterit, satis erit pro nauta, si probaverit impositum esse mancipium.101
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Die zweite Funktion, die der Vertragsauslegung zukam, ist in der modernen Forschung schon mit dem Begriff ‚Konservationsprinzip‘ belegt, aber als eigenständiges Auslegungskriterium mißverstanden worden.102 Der Geschäftserhalt war nicht Maßstab,103 sondern Effekt einer Vertragsauslegung, die vorgab, welchen objektiven Inhalt eine Vereinbarung hatte und so dem Vertragspartner, der seine abweichende Meinung nicht als Gegenstand einer übereinstimmenden Parteivorstellung nachweisen konnte, auch den Beweis aufbürdete, daß er sich in einem vertragshindernden Irrtum befunden hatte.104 Der hierdurch als bloß vermeintlich erwiesene Konsens war für die römischen Juristen nicht positiv festzustellende Voraussetzung eines vertraglichen Anspruchs, wurde vielmehr unterstellt und war von dem Kontrahenten, der sich geirrt hat, durch den Nachweis einer Meinungsverschiedenheit zu widerlegen.105 Der objektive Vertragsinhalt, der ohne Rücksicht auf die streitbefangenen Ansichten der Parteien durch Auslegung ermittelt wurde, setzte sich ansonsten als mutmaßlicher Gegenstand der gegenseitigen Parteivorstellung und einer als wirksam angesehenen Vereinbarung durch.
101 „Hast du einen Sklaventransport übernommen, wird dir für den Sklaven, der auf dem Schiff gestorben ist, kein Lohn geschuldet. PAULUS: Vielmehr ist danach zu fragen, was vereinbart worden ist, ob nämlich der Lohn für die Sklaven zu entrichten ist, die auf dem Schiff aufgenommen worden sind, oder für die, die zum Zielhaften gebracht worden sind: Sollte sich dies nicht ergeben, genügt es für den Reeder, wenn er beweist, daß der Sklave auf dem Schiff aufgenommen worden ist.“ 102 Gandolfi, Studi sull’ interpretazione degli atti negoziali, S. 367 ff. 103 Zweifel bekundet hieran auch Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen, S. 622, 714, 727 ff. 104 Ausführlich Harke, Si error aliquis intervenit, S. 310f., 323 ff., 330 ff. 105 Eingehend Harke, Si error aliquis intervenit, S. 23ff.
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§ 2 System und Auslegung im klassischen römischen Vertragsrecht
4.
Ergebnis
Die römische Vertragsinterpretation, die gewöhnlich vorschnell mit der Testamentsauslegung gleichgesetzt und so auf den Gegensatz von objektivem Wortlautverständnis und subjektiver Auslegung nach der Parteivorstellung getrimmt wird, kannte in Wahrheit nur einen Maßstab: den Verkehrsbrauch. Er gab den typischen Sinn einer Vereinbarung vor, der den konkreten Parteivorstellungen außerhalb der förmlichen Verträge theoretisch unbedingt nachgeordnet war. Weichen mußte er ihnen im Einzelfall freilich erst, wenn sie unstreitig oder nachgewiesen waren. Die Beweislast für einen vom objektiven Sinn abweichenden Geschäftsinhalt traf die Partei, gegen die das Auslegungsergebnis sprach. Dieses hatte die Vermutung für sich, vom Konsens der Parteien bei Vertragsschluß getragen zu sein, und zwang daher den Kontrahenten, der den Beweis einer abweichenden Vorstellung beider Parteien nicht führen konnte, auch dazu, einen etwaigen Irrtum nachzuweisen. Die Auslegung wirkte so geschäftserhaltend.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert Christian Baldus*
Übersicht . . . .
Rn. 1– 9 1 2– 5 6– 9
II. Römische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normbildung und interpretatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Aussagen der klassischen Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10–16 10–12 13–16
III. Hermeneutische Positionen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spätes Gemeines Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik . . . . . . . . . . . . . . 3. Überblick zu den Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17–46 17 18–23 24–26 27– 46
IV. Deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert 1. Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick zu einzelnen Autoren . . . . . . . . 3. Grundlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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47–67 47 48–63 64–67
. . . . . . . . . . . . . . .
68–76
I. Einführung . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . 2. Rechtsvergleichender Überblick 3. Zum Folgenden . . . . . . . . .
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V. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert
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VI. Überschneidungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Folgerungen für das Gemeinschaftsprivatrecht
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
77–79 80–89
Literatur: Alpa, Guido, La cultura delle regole. Storia del diritto civile italiano, Roma/Bari 2000; Aubry, C./Rau, C., Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae, 4. Aufl. Paris 1869; Baldus, Christian, Maxime post constitutionem quae hoc induxit: Vorüberlegungen zur historischen Auslegung bei den römischen Juristen, in: Studi in memoria di Gennaro Franciosi, Napoli 2006 (im Druck); Baldus, Christian/Vogel, Friederike, Méthodologie du droit privé communautaire: problèmes et perspectives quant à l’interprétation littérale et historique, Annuaire
* Unter Mitarbeit von Magnus Dorweiler, Dr. iur. (Heidelberg), Rechtsreferendar in Frankenthal, und Lea Ziegert, Wiss. Hilfskraft am Institut, derzeit Paris. Die Nachweise beschränken sich auf ein Minimum; sie sind hinsichtlich älterer Werke nicht den allgemeinen Zitierregeln des Bandes angepaßt. – Die Darstellung versteht sich als vorläufige Skizze.
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Christian Baldus
§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert de droit européen 3 (2005/2006), im Druck; Baldus, Christian/Vogel, Friederike, Gedanken zu einer europäischen Auslegungslehre, in: Wallerath (Hrsg.), FS Krause, Berlin 2006, im Druck; Gény, François, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif, 2. Aufl. Paris 1919; Huber, Ulrich, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1–17; Klatt, Matthias, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation, Baden-Baden 2004; Meder, Stephan, Mißverstehen und Verstehen, Tübingen 2004; Rückert, Joachim, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984; Schiavone, Aldo, Ius, Torino 2005; Schröder, Jan, Analogie in der juristischen Methodenlehre der frühen Neuzeit, SavZRG – Germ. Abt. – 1997, 1–55; Schröder, Jan, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule, München 2001; Schröder, Jan, Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850, in: ZNR 24 (2002) 52–64; Schröder, Jan, Gab es im deutschen Kaiserreich einen Gesetzespositivismus?, in: Baumann/von Dickhuth-Harrach/Marotzke (Hrsg.), FS Otte, München 2005, S. 571–586; Vacca, Letizia, La „svolta adrianea“ e l’interpretazione analogica, in: Nozione formazione e interpretazione del diritto dall’età romana alle esperienze moderne. Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo, Napoli 1997, S. 441–479; von Savigny, Friedrich Carl, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, hrsg. und eingeleitet von Aldo Mazzacane, Frankfurt a.M. 1993; von Savigny, Friedrich Carl, System des heutigen römischen Rechts, Band I (Berlin 1840); Zachariae, C. S., Cours de Droit Civil Français, t. premier – Traduction par Aubry et Rau, Paris 1839; Zachariä, Karl Salomo, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts, Meissen 1805; Zachariä, Karl Salomo, Handbuch des Französischen Civilrechts. Erster Band, 4. Aufl. Heidelberg 1837.
I.
Einführung
1.
Problemstellung
Der folgende Text orientiert sich an einem zentralen Problem der heutigen juristischen Methode und fragt nach dessen geschichtlichen Hintergründen: nach der Abgrenzung von Auslegung und Analogie. Zentral ist diese Abgrenzung für die Gegenwart aus verfassungsrechtlichen Gründen: Der Richter soll auf seine Funktion als Rechtsanwender beschränkt werden, er soll sich nicht zum Gesetzgeber aufschwingen dürfen; andererseits müssen auch solche Fälle entschieden werden, deren Lösung nicht eindeutig aus dem Gesetz folgt. Das Gesetz nimmt für sich potentielle Vollständigkeit in Anspruch, es verspricht umfassenden Rechtsschutz. Es ist daher erforderlich, auch solche Fälle zu entscheiden, deren Lösung nicht eindeutig aus dem Gesetzeswortlaut folgt; nur sieht die Rechtsordnung einen Mechanismus vor, der eine spezifische Kontrolle über die richterliche Entscheidungsfindung ermöglichen soll. Ein solcher methodologischer Mechanismus wird weder durch ein noch so präzise gefaßtes gesetzliches System entbehrlich, noch haben sich Versuche prozeduraler Bindung über die Pflicht zur Rückfrage etwa bei einer Gesetzgebungskommission (référé législatif ) bewährt 1.
1 Das beginnt bereits bei Justinian (unten Fn. 21). Zum référé législatif zuletzt Meder, JZ 2005, 477–484, 480 f.; zur Blütezeit des Glaubens an den Wert von Gesetzeskommissionen vgl. Alvazzi del Frate, L’interpretazione autentica nel XVIII secolo (2000); ders., Giurisprudenza e référé législatif in Francia nel periodo rivoluzionario e napoleonico (2005). Christian Baldus
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1
1. Teil: Grundlagen
2.
Rechtsvergleichender Überblick
2
Die kontinentalen Rechtsordnungen nennen diesen Mechanismus Analogie oder auch „analog(isch)e Auslegung“. Ersteres Konzept ist im deutschen Rechtskreis verbreitet, letzteres im romanischen; und 1958 konnte man alle Rechtsordnungen der soeben gegründeten EWG diesen beiden Rechtsfamilien zuordnen. Daher liegt eine spezifische Prägung des acquis communautaire aus diesen Traditionen nahe. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, diese Technik von der schlichten Auslegung abzugrenzen; eine Abgrenzung, die vom jeweiligen Verständnis des Rechtssystems und der Auslegungsmethode geprägt ist.
3
Nach der im deutschen Rechtsraum heute dominierenden Sicht sieht der Abgrenzungsversuch wie folgt aus: Das – potentiell vollständige – systematisch gesetzte Recht bildet den Regelfall der Norm, der Richter schafft kein Recht; die Analogie operiert in der Gesetzeslücke. Neuerer deutscher Tradition entspricht es, die Auslegung diesseits, die Analogie jenseits der sog. Wortlautgrenze anzusiedeln und beide scharf zu trennen, neuerer französischer hingegen, eine interprétation par analogie von anderen Formen der Auslegung zu unterscheiden.
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Beiden Traditionen gelingt die Abgrenzung schlecht. Die Wortlautgrenze bereitet der deutschen Rechtskultur praktische wie theoretische Probleme; im romanischen Denken sind bereits die Grundkategorien der Unterscheidung streitig. Und doch beobachtet man namentlich in Deutschland mit besonderer Skepsis, wie Auslegung und Rechtsfortbildung beim EuGH ineinanderfließen (oder man flüchtet sich gleich in ein angloamerikanisch geprägtes, für den Kontinent nicht passendes Konzept der Rechtsfortbildung). So ist zu prüfen, welche geschichtlichen Umstände das jeweilige Verständnis der Normanwendung prägen. Wir werden sehen, daß deutsche wie französische Sicht auf Vorstellungen der juristischen Neuzeit zurückgehen, grob vereinfacht: die deutsche auf das frühe 19. Jh., die französische auf die davor liegenden Jahrhunderte. Keine von beiden folgt im Ansatz dem römischen Verständnis, wiewohl beide zahlreiche Versatzstücke der römischen Tradition verwerten. Diese Distanz zur römischen Methodentradition ist leicht zu erklären: Das römische Recht kreist nicht – wie die heutigen kontinentalen Rechte – um das Gesetz in einer äußerlich systematisierten Rechtsordnung. Vielmehr steht das innere System im Vordergrund, entstanden namentlich aus der Gutachtertätigkeit der Juristen. Deshalb stellen sich in Rom andere Methodenfragen als heute in den römisch geprägten Privatrechtssystemen. Aber auch in die Zukunft führt kein gerader Weg: Beide kontinentalen Traditionslinien sind national gewachsen und daher auch mit den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts überfordert. In der Integrationsgemeinschaft Europas passen einige Systemvoraussetzungen nicht mehr, die auf nationaler Ebene noch im 19. Jahrhundert realisierbar schienen.
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Die englische Tradition, weniger systemorientiert und stärker jurisprudentiell geprägt, weist einige Parallelen zur römischen auf und hat sich auch genetisch nicht so isoliert von Kontinentaleuropa entwickelt, wie man lange glaubte 2; neuerdings zeigt 2 Grundlegend Zimmermann, ZEuP 1993, 4 –51. Umfassend zu unserem Problem nunmehr Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent. Eine verglei-
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
sich Konvergenz in Methodenfragen; in historischen Zusammenhang mag England aber beiseite bleiben, soweit es um die Frage geht, welche Vorstellungen die Juristen der entstehenden EWG seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts prägen konnten. Eine weitere Überlegung kommt hinzu: Auslegung und Analogie hängen auch vom Grad der äußeren Systematisierung ab. Der Schritt von der lediglich inhaltlich strukturierten, wertungssensiblen und diskussionsoffenen Kasuistik, vom inneren System, zur Schaffung einer subsumtionsfähigen Formalstruktur ist dem Kontinent gelungen, dem englischen Recht bislang nur in Teilen. Es verbleibt damit – bei oft großem Pragmatismus der einzelnen Lösung – auf einer Entwicklungsstufe, die gewisse strukturelle Parallelen zum römischen Recht aufweist, verbunden freilich mit historischen Besonderheiten inhaltlicher Art, die einer transparenten Systembildung entgegenstehen. Den auf dem Kontinent gelungenen Schritt rückgängig zu machen, verspricht keinerlei Vorteil 3. Man mag also kasuistische Momente dort aufnehmen, wo sie passen: bei den großen Streitfragen, deren Lösung auch der kontinentale Jurist nicht einem rein deduktiv begriffenen System entnehmen will, bei denen in der Tat jedes Instrument transparenter Wertung willkommen ist. Das bedeutet übrigens auch, daß man den reichen Schatz römischrechtlicher Erfahrungen nicht ignorieren sollte, der hinter den kontinentalen Gesetzbüchern steht. Unter diesem Vorbehalt und mit Blick auf die spezifischen historischen Determinanten der englischen Auslegungslehre 4 konzentrieren die folgenden Ausführungen sich auf die kontinentale, klassischchende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen (2001); vgl. noch Fn. 4. 3 Vgl. freilich Meder, JZ 2005, 477–484, 483: Das Fortleben von Juristenrecht im common law wirke sich unter den Bedingungen von Globalisierung und Funktionswandel des Staates günstig aus. 4 Am Ausgang der Divergenz steht bekanntlich der Umstand, daß in einem richterrechtlich geprägten System gesetzliche Festlegungen (als ausnahmsweise Äußerungen des souveränen Parlamentsgesetzgebers) ursprünglich eng und nicht teleologisch ausgelegt wurden. Hier fand der Satz statuta sunt stricte interpretanda, entwickelt für eine ganz andere historische Situation, eine neue Bedeutung. Freilich hat sich die englische Rechtsordnung teleologischen Erwägungen geöffnet, nicht zuletzt unter dem Einfluß des Gemeinschaftsrechts. Wohin dieser Prozeß führt, ist noch nicht abzusehen. Für eine Bestandsaufnahme vgl. MacCormick/ Summers, Interpreting Statutes (1991); Manchester/Salter/Moodie, The Dynamic of Precedent an Statutory Interpretation (2. Aufl. 2000); Kramer, Konvergenz und Internationalisierung der juristischen Methode, in: Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), 34 ff.; an neueren Entscheidungen vgl. namentlich Pepper v. Hart ([1993] 1 All E.R. 42; unter Aufgabe der exclusionary rule, so daß Erklärungen bei der parlamentarischen Beratung nunmehr verwertet werden können) und dazu Manchester/Salter/Moodie 58–76. Parallele Entwicklungen zeigt die Vertragsauslegung (für eine Darstellung der Diskussion über den shift of interpretation vgl. McKendrick, Contract Law, 5. Aufl. 2003, 202 ff.). Einen analytischen Überblick zur Analogie mit Bezügen zur Judikatur des EuGH gibt Langenbucher, Argument by Analogy in European Law, 57 Cambridge Law Journal 1998, 481–521. Vergleichend aus italienischer Sicht Ferreri, Canoni inglesi di interpretazione dei testi scritti: Un colloquio tra civil law e common law, in: Scintillae iuris. Studi in memoria di Gino Gorla, t. I (Milano 1994) 586 –605. Insgesamt läßt sich eine gewisse Methodenkonvergenz beobachten: So wie die kontinentale Rechtswissenschaft den Erkenntniswert richterlicher Kasuistik höher schätzt als früher, so öffnet sich die englische einer Zweckorientierung; vgl. Kramer (wie vor) passim. Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
systembildende Tradition 5 – zumal zu erwarten steht, daß die englische Tradition sich gerade dann in diese systematische Linie stellen wird, wenn ihre Begriffe besondere Bedeutung für das Gemeinschaftsprivatrecht erlangen sollten 6. 3.
Zum Folgenden
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Die historisch-vergleichende Umschau kann hier nur punktuell vertieft werden. Es geht für die Zwecke der europäischen Methodenlehre auch nur in zweiter Linie darum, von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat festzustellen, welche Methodentraditionen die Integration beeinflussen. Zunächst ist – wie schon angedeutet – nach den großen Linien zu fragen, die seit Gründung der Gemeinschaft im Hintergrund der Rechtsanwendung stehen, auch wenn die Differenzierungen und Überschneidungen des 20. Jahrhunderts vieles modifiziert haben; dies sind einerseits die deutsche Pandektenwissenschaft, andererseits die vom Code Civil geprägte Rechtskultur. Das bedeutet zeitliche Beschränkungen des Untersuchungszeitraumes ebenso wie inhaltliche Schnitte: daß diese beiden Traditionen nicht bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt werden, aber auch, daß die Wege zwischen den gemeinsamen römischen Wurzeln und der Kodifikationsbewegung um 1800 nicht nachgezeichnet werden können; schließlich, daß manche wissenschaftliche Bewegungen und Rechtsquellen, die für die spätere Entwicklung in einzelnen Staaten Bedeutung erlangen sollten, nicht zu diskutieren sind. Für eine umfassende Bestandsaufnahme, die alle diese Lücken nicht aufwiese, namentlich die nationalen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts erfaßte und systematisierte, fehlt es überdies an hinreichenden Vorarbeiten; darauf ist gegen Ende zurückzukommen.
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Im Kern geht es jedenfalls für jede Tradition um einen Transparenzmechanismus, der die Debatte, namentlich eine Überprüfung durch die Obergerichte und gegebenenfalls durch den Gesetzgeber fördert: Der Richter soll offen sagen, daß und warum er weiter geht als der Gesetzgeber 7. Modern gesprochen, muß er einen transparenten Diskussionsprozeß eröffnen, in dem die Richtigkeit seines Vorgehens besser überprüft werden kann als bei schlichter Subsumtion, namentlich durch den Gesetzgeber, der sodann souverän entscheiden kann, ob er die Ausdehnung der Rechtsfolge kodifikatorisch nachvollzieht oder ausdrücklich mißbilligt oder der richterlichen Rechtsfortbildung freien Lauf läßt. Heute (und auch in der Optik der Aufklärung) stellt sich eine scharfe Trennung von Auslegung und Analogie mithin als im Kern verfassungs-
5 Auch Manchester/Salter/Moodie (vorige Fn.) 77 betonen die Prägung des Luxemburger Argumentations- und Urteilsstils durch die sechs Gründerstaaten. 6 Dazu Schmidt-Kessel, § 17, Rn. 50 (problematisch). 7 Nicht notwendig: weiter als der historische Gesetzgeber. Methodisch lautet die Frage, ob die (planwidrige) Lücke historisch oder teleologisch zu bestimmen ist. Die besseren Argumente (namentlich: Kohärenz mit der Lehre von der Auslegung) sprechen für das teleologische Kriterium; vgl. Kramer, Methodenlehre, 168; Börsch, JA 2000, 117 ff.; deutlich positivistisch geprägte Orientierung am Willen des historischen Gesetzgebers in der österreichischen Tradition hingegen bei Rüffler, in: Jud u. a. (Hrsg.), Prinzipien des Privatrechts und Rechtsvereinheitlichung, JbJZ 2000, 111–149.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
rechtlich motiviert dar. Der Gesetzgeber sichert auf der Verfahrensebene sein Rechtssetzungsmonopol, indem er dem Richter Überschreitungen der Wortlautgrenze nur im gleißenden Licht der Analogieprüfung gestattet. Zur Verdeutlichung dieses Mechanismus scheint sich auf den ersten Blick die Wortlautgrenze durchaus anzubieten; allein die rechtstheoretischen Bedenken gegen sie sind alt (die Aussage, ein Wortlaut sei klar, ist selbst schon ein Auslegungsergebnis) 8. Im Gemeinschaftsrecht kommt die ungelöste, mit jeder Erweiterung zunehmende Problematik der Gleichberechtigung aller Amtssprachen hinzu 9, weiterhin die Forderung des EuGH, die Grenzen nationaler Methodenlehre auszuschöpfen, wo gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung erforderlich ist 10.
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Aus der Sicht eines Gesetzgebers, der gestalten will, bleibt ein Grundproblem: Es ist der Richter selbst, der entscheidet, ob er auslegt oder Analogieschlüsse zieht. Der Richter, jedenfalls das letztinstanzliche Gericht, hat, rechtstheoretisch gesprochen, die Anwendung der Metaregel in der Hand; ein noch so perfektes Gesetz kann ihn nicht völlig fesseln. Einer Entscheidung der letzten Instanz über die Zulässigkeit einer Analogie 11 kann der Gesetzgeber nur ex post entgegentreten – es sei denn, er führe den historisch mehrfach gescheiterten Mechanismus des référé législatif ein. Deshalb ist historisch zu beleuchten, ob die Erfahrungen der das Europarecht prägenden Rechtsordnungen dafür sprechen, den skizzierten Transparenzmechanismus gerade jenseits einer Wortlautgrenze anzusiedeln, oder ob sich Gründe dafür finden, die richterliche Auslegung, namentlich die teleologische, großzügiger zu definieren.
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8 Zur Problematik des sens clair bei Savigny vorab Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18– 24; vgl. in rechtstheoretischer Hinsicht Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004). Differenzierend Kramer, Methodenlehre, 47 ff. 9 Vgl. nur Baldus, GPR 2003/2004, 114 f.; weitere Nachweise zum Sprachenproblem bei Vogel, GPR 2005, 20f. sowie 120 f.; jetzt näher Baldus/Vogel, Méthodologie du droit privé communautaire, Annuaire de droit européen 3 (2005/2006), im Druck; dies., FS Peter Krause, im Druck. 10 Die Grenze richtlinienkonformer Auslegung wird von den methodischen Möglichkeiten des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsanwenders bestimmt. Es besteht lediglich eine Vorzugsregel. Das heißt: Richtlinienkonforme Auslegung ist nur insoweit möglich, als diese Methodenlehre es dem Richter erlaubt, auszulegen (und ggf., über Auslegung im deutschen Verständnis hinaus, Analogien zu ziehen), auch wenn das Europarecht weitergehende Ergebnisse verlangt; im Konfliktfall kann diese Grenze zur Staatshaftung führen. Vgl. aus der neueren Rechtsprechung etwa EuGH v. 5.10.2004, verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u. a., Slg. 2004, I-8835 und dazu namentlich Roth, § 14, Rn. 9–15, 27–33; Stotz, § 22, Rn. 31–38, in diesem Band, sowie die Anmerkung von Staffhorst in GPR 2005, 89 ff. 11 In diesem Zuammenhang erlangt die prozessuale Frage Bedeutung, ob die letzte Instanz nur kassieren oder auch in der Sache entscheiden, wenigstens aber inhaltliche Vorgaben machen kann. Dazu bereits – in Orientierung am französischen Modell – Savigny (u. Fn. 76). Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
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II.
Römische Tradition 12
1.
Normbildung und interpretatio
Das römische Recht kennt Gesetze, in der Republik als punktuell erlassene Volksgesetze (leges und plebiscita), dann als kaiserliche Normierungen durch den Senat (senatus consulta, orationes) oder als administrative bzw. richterliche Verfügungen (constitutiones). Seit frühester Zeit werden Normen ausgelegt, im einerseits formalistisch wirkenden, andererseits höchst kreativen Wege der interpretatio. Dominant ist in der Republik jedoch die schöpferische Rechtsfindung der Juristen in Privatgutachten (responsa) sowie der allmähliche Ausbau eines Rechtsbehelfssystems durch den Prätor, der in seinem Edikt einerseits vorhandene actiones 13 entwickelt, andererseits neue gibt. Wo eine ganz neue actio (noch) nicht gegeben werden soll, gewährt der Prätor bisweilen Rechtsbehelfe nach dem Vorbild (ad exemplum) eines anerkannten Rechtsbehelfs oder für den jeweiligen Sachverhalt (in factum). Hier liegt eine funktionelle Wurzel der Analogie, wenngleich die Römer eine entsprechende Theorie nicht entwickelten 14. Die actio ist zunächst Klage; da aber ein eigenständiges materielles
12 Zu den Grundlagen vgl. etwa Liebs, Römisches Recht (6. Aufl. 2004), S. 17–103; näher Kunkel /Schermaier, Römische Rechtsgeschichte (14. Aufl. 2005), namentlich § 2 (ab S. 31); in diesem Band Harke, oben, § 2, zu System und Auslegung im römischen Vertragsrecht (§ 2, systematischer, hier nicht näher zu diskutierender Entwurf zu Voraussetzungen und Leitlinien der Vertragsauslegung mwN zu Vor- und Parallelarbeiten des Verf.); zum gleichen Thema monographisch noch Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998). Die methodologische Entwicklung der römischen Rechtswissenschaft in politischem und verfassungsrechtlichem Kontext synthetisiert und diskutiert jetzt Schiavone, Ius (2005; Besprechung von Baldus in GPR 2006, im Erscheinen). Non vidi: A. Guzmán Brito, Historia de la interpretación de las normas en el derecho romano (Santiago de Chile 2000, in Europa kaum zu bekommen); dazu ausführlich Cuena Boy, Una storia dell’interpretazione, Index 2005, 7–77. 13 Actio bezeichnet neben der Klage auch den heutigen materiellen Anspruch in dem Sinne, wie Bernhard Windscheid ihn 1856 begründet hat (Windscheid, Die Actio des römischen Civilrechts, vom Standpunkte des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856) und wie er Eingang in § 194 BGB fand. Die Übersetzung mit „Klage“ vermeidet jedenfalls das Mißverständnis, es sei allein oder primär um dieses – modern gesprochen – materielle Moment gegangen. Zur Entwicklung nach wie vor grundlegend Kaufmann, JZ 1964, 482– 489. 14 Burdese, Diritto romano e interpretazione del diritto, in: Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo, 1997, S. 61, 70 (bezogen auf den sogleich zu besprechenden Gegensatz von verba und voluntas bei der Normauslegung in der Zeit des Prinzipats): „Quanto a interpretazioni che superano il testo letterale della legge in vista della sua ragionevole funzione, esse possono pervenire a riconoscerle una portata più ristretta ma di solito più estesa rispetto al significato letterale sino a ricorrere al procedimento analogico, che il pensiero romano utilizzava da antico tramite non solo interpretazioni giurisprudenziali ma anche interventi legislativi e pretori, pur non pervenendo a teorizzarlo o anche soltanto ad autonomamente qualificarlo.“ Burdese gelangt auch für das geltende Recht zu der Auffassung, eine qualitative Unterscheidung zwischen „interpretazione estensiva del dettato della norma e interpretazione analogica quale applicazione di una norma stabilita per un caso o materia a casi affini o materie analoghe“ sei ein Mythos: „Esista o meno un dettato normativo che imponga all’interprete il ricorso all’analogia, a quest’ultima è sempre inevitabile riferirsi, come avviene di fatto sinanco
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
Zivilrecht nicht existiert, entsteht die Zivilrechtsdogmatik im wesentlichen um das Edikt herum. Juristen sind typischerweise also nicht abhängig tätige, einer generell-abstrakten Gesetzgebung unterworfene Rechtsanwender, sondern Angehörige der Führungsschicht, die als Gutachter, Politiker, Berater mehr oder minder intensiv Rechtsfragen erörtern und fortentwickeln. Die oft zitierten rhetorischen Figuren von verba und voluntas, von mens und sententia legis (s. sogleich Rn. 13) sind dabei nach heute herrschender Auffassung nicht systematisch zu überhöhen: Wie so viele Versatzstücke aus der Philosophie und Rhetorik verwendet der römische Jurist – als wissenschaftlich denkender Praktiker – solche Figuren dort, wo sie ihm einer sinnvollen Fallösung dienlich scheinen, aber nicht als systematische Entscheidungsvorgabe. Das Recht entsteht solcherart als inneres System, als diskursive Ausarbeitung widerspruchsfreier Entscheidungs- und Argumentationszusammenhänge von Fall zu Fall; ein äußeres, formalisiertes System vermißt die Praxis nicht, und gerade der Gedankenreichtum des inneren Systems ist es, der sachlich bis heute das europäische Privatrecht prägt.
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Erst im Prinzipat werden beiden Formen jurisprudentieller Rechtsentwicklung systematisch Grenzen gezogen: Der Kaiser intensiviert die Normgebung, und er bindet die Gutachterjuristen an sich. Diese fahren in ihrer alten Methodik fort, räumen der kaiserlichen Autorität aber immer größeres Gewicht ein; und parallel verlagert sich die juristische Innovation immer weiter aus der Sphäre des – politisch nunmehr unbedeutenden – Prätors in die des Kaisers, der neue Verfahren und Zuständigkeiten schafft, wo es ihm opportun erscheint. Um das Jahr 130 kommt es zu einer Maßnahme des Kaisers Hadrian, die das Verhältnis von Norm und Anwendung nachhaltig prägen sollte 15: Er läßt – durch den Juristen Salvius Iulianus – das seit einiger Zeit schon erstarrte Edikt in endgültiger Form niederlegen. Derselbe Kaiser beschleunigt den Prozeß der Anbindung wichtiger Juristen an die Verwaltung; juristische Entscheidungsaufgaben werden immer weiter in kaiserlichen Behörden zentralisiert und diese mit den besten Juristen besetzt. So leiten die Juristen ihr politisches Gewicht nunmehr überwiegend vom princeps ab, und die kaiserliche Normsetzung kann nicht mehr lediglich als Teil eines insgesamt jurisprudentiellen Rechts behandelt werden 16.
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in ordine agli statutes nell’ambito dei sistemi di common law, in virtù di un principio di razionalità intesa quale coerenza del sistema normativo“ (S. 76). Das führt zum einen zur Rechtslage in den romanischen Ländern (zu Italien u. sub VI.), zum anderen auf die bekannte Frage, welche Argumentationsformen nur im formal geschlossenen System zulässig sind und welche auch dem offenen System eignen. 15 Zum Folgenden ausführlich Vacca, La „svolta adrianea“ e l’interpretazione analogica, in: Nozione formazione e interpretazione del diritto dall’età romana alle esperienze moderne. Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo, 1997, S. 441– 479. 16 Zu diesem Problemkreis vgl. nur Paricio, Valor de las opiniones jurisprudenciales en la Roma clásica (2001), namentlich S. 115–134 (= ders., De la justicia y el derecho, 2002, S. 189–207); für eine Gesamtschau Schiavone, Ius (2005); weiterhin Baldus, Maxime post constitutionem. Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
2.
13
Aussagen der klassischen Jurisprudenz
Aus dieser Zeit stammen einige Aussagen namentlich des Iulianus über Normsetzung und Normanwendung, die als repräsentativ für die klassische Vorstellung betrachtet werden dürfen. Mehrfach heißt es, ein Gesetz oder ein Senatsbeschluß könne nicht alle denkbaren Fälle erfassen; seit längerer Zeit schon gab man dem Sinn, der mens oder sententia, großes Gewicht bei der Normanwendung; und im 15. Buch seiner digesta trifft Julian eine Aussage, welche fast vierhundert Jahre später vom Kaiser Justinian an prominenter Stelle in das Corpus Iuris Civilis eingefügt werden sollte (D. 1,3,12): Non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iurisdictioni praeest ad similia procedere atque ius ita dicere debet. Die Gesetze und Senatsbeschlüsse können nicht alle Einzelfälle enthalten. Ist aber in einem Fall klar, was sie meinen, so muß derjenige, der der Rechtsprechung vorsteht, zum Ähnlichen fortschreiten und dementsprechend Recht sprechen.17
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An dieser Stelle wird deutlich, wie eng das – aus der rhetorischen Argumentationslehre bekannte – argumentum a simili mit der Frage nach dem Rechtssystem und mit derjenigen nach den Kompetenzen des Richters verbunden ist. Aber Julians Perspektive ist der modernen genau entgegengesetzt: Wo der Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts, insoweit aufgeklärten Denkmodellen folgend, überzogene Freiheit des Richters fürchtete und wo der heutige EG-Mitgliedstaat EuGH-Rechtsprechung angreift, weil er die Tragweite einer Richtlinie zu großzügig ausgelegt sieht, geht die Kritik jeweils von der Vorstellung eines vollständigen gesetzten Systems aus, das der Rechtsanwender im Regelfall lediglich zu konkretisieren habe. In Rom hingegen legt der kaiserliche Zugriff auf das Recht erst die Grundlagen für eine solche – im Kern positivistische – Vorstellung; er relativiert die alte Vorstellung, das Zivilrecht bestehe in sola prudentium interpretatione,18 und die Juristen seien conditores iuris. Dabei bleiben dem auslegenden Juristen erhebliche Freiräume, und auch methodische Regeln für das Vorgehen ad similia gibt Julian nicht vor. Entsprechende Probleme bereitet eine Qualifikation dieser und verwandter römischer Aussagen mit dem Begriff „Analogie“ 19,
17 Ähnliche Übersetzung bei Behrends/Knütel/Kupisch/Seiler, Corpus Iuris Civilis, II (1995) a.h.l.: „Es können nicht alle Fallvarianten einzeln von den Gesetzen oder Senatsbeschlüssen erfaßt werden; wenn aber deren Sinn und Zweck auf irgendeinen [neuen] Fall zutreffen, dann muß derjenige, der für die Rechtsprechung zuständig ist, zur Bildung einer analogen Regel fortschreiten und danach Recht sprechen.“ 18 D. 1,2,12 (Pomponius libro singulari enchiridii). Zum Begriff der interpretatio in diesem Text Nörr, in: Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW) II 15 (1976) 497–604, jetzt in aktualisierter italienischer Version: Pomponio o „Della intelligenza storica dei giuristi romani“. Con una „nota di lettura“ di Schiavone. A cura di Fino e Stolfi, in: Rivista di Diritto Romano 2002, estratto, S. 1–88 (30 ff.). 19 Vgl. nochmals Burdese (Fn. 14); näher Vacca, La „svolta adrianea“ e l’interpretazione analogica, in: Nozione formazione e interpretazione del diritto dall’età romana alle esperienze mo-
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
nicht nur deshalb, weil wir kein geschlossenes System finden. Den kaiserlichen Spitzenjuristen wird der belassene und unvermeidliche Freiraum schon deshalb genügt haben, weil sie der Macht nahe genug standen, um bereits die Normsetzung beeinflussen zu können 20. Zusammengefaßt: Die Tätigkeit der römischen Juristen wird erst im Prinzipat primär Rechtsanwendung, so wie die Rechtsquellen erst in dieser Zeit mehr oder minder einheitlich den Charakter zentraler Vorgaben annehmen. Zur Entwicklung einer geschlossen hieran orientierten Methodenlehre ist es bis zur Spätklassik nicht gekommen, und später erst recht nicht. Justinian nimmt das julianische Gedankengut zur Analogie zwar auf 21, aber in einer durchaus etatistisch zu nennenden Veränderung 22 und ergänzt um einen frühen référé législatif, dem ebenso wenig Erfolg beschieden war wie späteren Versuchen dieser Art 23.
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Die hier grundgelegten Gedanken prägen die spätere Begrifflichkeit, doch unterdes wandelte sich das Recht. In der Neuzeit wird das staatliche Gesetz zum Paradigma; um 1800 wünscht man das klare und systematische Gesetz herbei, schon weil das späte gemeine Recht mit seinen zahlreichen Rechtsquellen, Normenkomplexen und Zuständigkeiten gänzlich unübersichtlich geworden war 24. An dieser Stelle setzen unsere weiteren Betrachtungen an, im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und
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derne. Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo, 1997, S. 441, 444– 454. Dort wird auch deutlich, daß die romanische Rede von der „interpretazione analogica“ am Qualifikationsproblem kaum etwas ändert. Vgl. nur Franciosi, Manuale di storia del diritto romano (2. Aufl. 2001) S. 246 f.; zu Konsequenzen aus dieser Situation für die argumentative Verwertung von Kaiserkonstitutionen demnächst Baldus, Maxime post constitutionem quae hoc induxit. Constitutio Tanta § 18: „(…) non desperamus quaedam postea emergi negotia, quae adhuc legum laqueis non sunt innodata. si quid igitur tale contigerit, Augustum imploretur remedium (...) et hoc non primum a nobis dictum est, sed ab antiqua descendit prosapia: cum et ipse Iulianus (...) in suis libris hoc rettulit, ut, si quid inperfetum inveniatur, ab imperiali sanctione hoc repleatur. et non ipse solus, set et divus Hadrianus in compositione edicti et senatus consulto, quod eam secutum est, hoc apertissime definivit, ut, si quid in edicto positum non invenitur, hoc ad eius regulas eiusque coniecturas et imitationes possit nova instruere auctoritas. Die Erwähnung des Julian wird üblicherweise bezogen auf D. 1,3,11 (90. dig.): Et ideo de his, quae primo constituuntur, aut interpretatione aut constitutione optimi principis certius statuendum est. Man beachte freilich die Parallele von interpretatio und constitutio (nicht etwa eine Unterordnung der ersteren unter die kaiserliche Rechtsssetzung) sowie das komparativische certius; näher Vacca (Fn. 19) S. 456–459. Dazu sowie zu Unterschieden zwischen lateinischer und griechischer Fassung nochmals Vacca (wie vor) S. 475–479. Der référé ist angeordnet in der constitutio Tanta § 18 (remedium Augustum, s. o. Fn. 21), vgl. auch das sog. Kommentierungsverbot in § 21 (über dessen Tragweite Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte, 13. Aufl. 2001, S. 225 f.). Zur Aufklärung oben Fn. 1. Zum Verständlichkeitspostulat neuestens Meder, Rez. zu Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts. Studien der interdisziplinären Arbeitsgruppe Sprache des Rechts, Bd. 1 (2004), in: SavZRG – Germ. Abt. – 123 (2006), vorab veröffentlicht im Internet unter www.koeblergerhard.de.
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1. Teil: Grundlagen
dann zur gleichen Zeit in Frankreich, wo in Gestalt des Code civil von 1804 bereits eine für das ganze Jahrhundert stilbildende Kodifikation gelungen war.
III. Hermeneutische Positionen um 1800 1.
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Die frühe Pandektenwissenschaft läßt sich zeitlich in eine Umbruchphase der Auslegungslehre einordnen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte ein sehr weites Verständnis der Interpretation vorgeherrscht: Auslegung könne den Wortlaut erklären, ihn unter- oder überschreiten; eine den Wortlaut überschreitende (extensive) Auslegung könne aber auch über den konkreten Sinn des Gesetzes hinausgehen, wenn nur eine „ähnliche“ ratio zu ermitteln sei. Die Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund stieß ab dem späten 17. Jh. auf Ablehnung. Doch blieb eine Über- oder Unterschreitung des Wortlauts nach dem Sinn des jeweiligen Gesetzes zulässig, wobei man mit Thomasius nunmehr die „grammatische“ Auslegung (aus den Worten des Gesetzes) von der „logischen“ (aus anderen Umständen) unterschied 25. 2.
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Spätes Gemeines Recht und Naturrechtslehre
Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik
Es ist dann im wesentlichen der frühe Savigny, der die Auslegung in gewisser Weise, aber auch nur in gewisser Weise auf den Wortsinn beschränkt (und bei der Bestimmung des Ausmaßes dieser Beschränkung wie auch ihrer späteren Relativierung wirken sich maßgebliche Streitpunkte der neueren Savigny-Forschung aus): Er will den Gedanken des Gesetzgebers rekonstruieren. Interpretation in diesem Sinne ist „Reconstruction des Gedankens, welchen das Gesetz aussprechen soll, insofern dieser Gedanke aus dem Gesetz selbst unmittelbar erkennbar ist“ 26. Diese Erwägung ist näher zu betrachten und in ihren Zusammenhang einzufügen. Dabei haben wir die Umbruchsituation der Jahre um 1800 zu betrachten: Denkfiguren der Auslegung werden unter anderem in zweierlei Hinsicht abgelöst, einerseits hinsichtlich hermeneutischer Grundansätze 27, andererseits – aber in geringerem Maße, als der moderne Betrachter es erwartet – hinsichtlich der Kontrolle richterlichen Handelns.
25 Vgl. zu dieser Entwicklung und auch zum Folgenden Schröder, Recht als Wissenschaft (2001); kurz ders., ZNR 2002, 52–64; zum Fortleben dieser und anderer naturrechtlicher bzw. aufklärerischer Unterteilungsschemata (authentische, usuale, doktrinelle Auslegung, innerhalb der logischen die extensive und die restriktive) um die Mitte des 19. Jahrhunderts ders, Recht als Wissenschaft (2001) 226 ff. 26 von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (das wörtliche Zitat auf S. 90, vgl. schon 89: „Interpretation = Reconstruction des Gesetzes“). Zum „System“ s. u. Rn. 38–46. 27 Vgl. zum Folgenden in Auseinandersetzung mit einigen überkommenen Meinungen Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004). Teilweise andere Akzente etwa bei Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984) S. 353 f.: „Tendenzen wie Universalität, Gewißheit, Idealismus in den Voraussetzungen“ bezeichneten die hermeneutische Wende, in die Savigny einzuordnen sei. Auch die Abkehr von der Auslegung allein der
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
Die Hermeneutik der Aufklärung geht davon aus, daß der Sinn eines Textes prinzipiell erkennbar sei. Man müsse beispielsweise eine Rechtsnorm, wenn ihr Sinn dunkel sei, daraufhin untersuchen, was der Gesetzgeber habe sagen wollen 28, und zwar im Sinne einer Text und Ausleger verbindenden zeitlosen Vernunft; bei richtiger Anwendung der Auslegungsregeln lasse sich dieser Sinn erschöpfend bestimmen. Diese Position trägt in mancher Hinsicht noch Thibauts Theorie der logischen Auslegung 29 von 1799, weithin auch Zachariäs Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts 30 von 1805.
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Sie gerät ins Wanken unter dem Einfluß Kants, der die Rolle des erkennenden Subjekts im Erkenntnisprozeß betont31. Savigny, wiewohl nicht mehr der Aufklärung, sondern der Romantik zuzurechnen, nimmt diese Einsicht auf und setzt sie in eine neue Hermeneutik auch der Rechtswissenschaft um: Jede Norm ist in ihrem Zusammenhang auslegungsfähig, vollständiges Verstehen nicht möglich 32. Daher bekämpft Savigny noch 1840 den „fast allgemein herrschende[n] Begriff der Auslegung als einer
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„dunklen“ Stellen wird nicht im Sinne allgemeinerer Unsicherheit, sondern größerer Sicherheit gedeutet: „Die Ergebnisse dieses Verfahrens erhalten denn auch die Würde einer ganz anderen, besseren Gewißheit als das frühere Deuten dunkler Stellen. Sie haben Teil an der notwendigen und objektiven Qualität des Gegenstandes Recht. Schwierigkeiten werden als subjektive oder bloß positive Hindernisse gedeutet, die an der prinzipiellen Eindeutigkeit und Gewißheit nichts ändern“ (S. 351; Hervorhebungen im Orig.). Auch wegen dieses subjektiven Ansatzes neigt die Aufklärung zur authentischen Auslegung und zum référé législatif: Meder (vorige Fn.) S. 20 f. Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (1799), namentlich § 9, S. 27– 46. Dazu auch Otte, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001) S. 191–201: Thibaut als dem mos geometricus verhafteter Gesetzespositivist (S. 193, 196 f.), der den tradierten Auslegungskategorien folgt (S. 192f.); freilich sieht auch er bereits die klaren Stellen für auslegungsfähig an (S. 194; Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, S. 19 Fn. 6, meint zur 2. Aufl. der „Theorie“ wohl dasselbe, obwohl er schreibt „dunkle“). Die extensive Interpretation wird insoweit eingeschränkt, als die beigezogenen Gründe aus dem Gesetz selbst erhellen müssen (S. 195). Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts (1805). Ihm zufolge können nur die dunklen Stellen ausgelegt werden (S. 160; weitere Stellen sind nachgewiesen bei Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004) S. 18 f. mit Fn. 6). Zur Charakterisierung Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 218, unter Hinweis darauf, daß Zachariae, insoweit modern, die Analogie von der „logischen“ Auslegung trennte – und damit „auf der Grundlage der alten Hermeneutik zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die neue exegetische Richtung“ kam. Auch dieser Faden ließe sich für Zachariaes Fortwirkung in Frankreich aufnehmen. Namentlich zum Einfluß der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 52–62. Den geistigen Hintergrund der neuen Lehre diskutiert Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 9–12, 28–62 u. ö. Seine Formulierung, für die moderne Hermeneutik sei das Verstehen die Ausnahme und das Mißverstehen die Regel, geht recht weit; vgl. differenzierend die Besprechung von Lege, JZ 2005, 566 f., 567. Stärker an den romantischen Wurzeln Savignys orientiert erklärt Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 211, die Erkenntnis, jede Norm sei auslegungsbedürftig: „Man entdeckt die historische Dimension der Auslegung, die Individualität jeder geschichtlichen Epoche und die Schwierigkeit, frühere Zeiten vor dem eigenen Erkenntnishorizont zu verstehen.“
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1. Teil: Grundlagen
Erklärung dun k l e r Gesetze“ 33: Dieser sei willkürlich und reduziere die Auslegung auf „die zufällige Natur einer bloßen Abhilfe von einem Übel, woraus von selbst folgt, daß sie in demselben Verhältnis entbehrlicher werden muß, als die Gesetze vollkommener werden“ 34; in Wahrheit solle sie auch bei „nicht mangelhaften, also nicht dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und ihrer Beziehungen (…) enthüllen“ 35.
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Auslegung ist demnach nicht ein festen Regeln unterworfenes Streben nach umfassender und abschließender Erklärung eines bestimmten Rechtssatzes. Vielmehr muß man sich in den Rechtssatz hineinversetzen, um seinen Inhalt so gut als möglich zu ermitteln. Dazu dienen Elemente, die bekannten Auslegungskanones 36, welche im Verbund anzuwenden sind, nicht als mechanisches und hierarchisches Schema. Es sind dies nicht die heute „kanonischen“ vier (Wortlaut, Geschichte, System, Telos), sondern Grammatik, Logik, Geschichte und System, wobei das historische Element präzise lediglich meint „den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen“37.
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Damit war der alte Schematismus gebrochen, aber kein neues, allseits anerkanntes Verfahren geschaffen. Das wird besonders deutlich an der bereits erwähnten Frage, ob auch klare Normen auszulegen seien oder nur „dunkle“ 38. Letztere Ansicht, also die sens clair-Regel, konnte sich in Deutschland im Ergebnis jedenfalls auf der rechtstheoretischen Ebene nicht durchsetzen; das mag auf Savignys Einfluß beruhen, auch wenn, wie sogleich zu zeigen sein wird, das Meinungsbild im 19. Jahrhundert alles andere als eindeutig war. Hingegen erhielt sie sich relativ unangefochten im französischen (und englischen) Recht, von wo sie in das internationale und europä-
33 Savigny, System I, S. 318. 34 Savigny, System I, S. 318. Vgl. noch die spitze Zusammenfassung S. 319: „Wenn man übrigens diese willkührliche Beschränkung der Auslegung auf dunkle Gesetze zusammenhält mit der oben aufgeführten Meynung, nach welcher wiederum sehr dunkle Gesetze durch Justinian der Auslegung entzogen seyn sollen (§ 48), so ergiebt sich daraus die sonderbare Folge, daß Gesetze weder zu klar noch zu dunkel seyn dürfen, daß sie sich vielmehr auf einem schmalen Raume mittelmäßiger Dunkelheit befinden müssen, um als Gegenstände der Auslegung gelten zu können.“ 35 Savigny, System I, S. 319. 36 Zu ihnen vgl. u. Rn. 28 ff.; weiterhin Huber, JZ 2003, 1–17. 37 Savigny, System I, S. 213 f., 214. Dahinter steht eine zeitbedingt andere Vorstellung vom Zweck des Gesetzes (aaO Fn. a) und der Rolle des Gesetzgebers als heute; jedenfalls geht es Savigny darum, die innere Seite des auszulegenden Textes und damit die Grammatik gegenüber der äußeren, gegenüber dem traditionell logisch genannten Element aufzuwerten (Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 214 f.). 38 Zur sens clair-Regel nochmals o. Fn. 8; in historischer Hinsicht weiterhin Schott in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 155–189.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
ische Recht gelangte 39. Deutlich wird die Unsicherheit aber auch an der gleichsam spiegelbildlichen Problematik, die im Zentrum unserer Betrachtungen stehen soll: wo nämlich die Auslegung endet, ob es extensive Auslegung in dem Sinne geben kann, daß der Wortlaut überschritten wird, inwieweit Analogien gezogen werden können, ob man diese als Auslegung oder als Rechtsfortbildung anzusehen haben. Die Leistungsfähigkeit des Wortlauts zeigt sich sozusagen an der unteren ebenso wie an der oberen Grenze der Auslegung: bei der Auslegungsbedürftigkeit „klarer“ Texte wie dort, wo die Auslegungstauglichkeit eines Textes angesichts weitgehender Auslegungsvorschläge mittels der „Wortlautgrenze“ bestimmt werden soll. In methodologischer Hinsicht ist das Problem dieser beiden Grenzen dasselbe: Ob man einen Text überhaupt interpretieren und ob man etwas Bestimmtes in ihn hineinlesen darf, das kann beides am Wortlaut nur dann gemessen werden, wenn dieses Kriterium wirklich einen sicheren Führer darstellt. Damit ist zugleich die heute praktisch und rechtspolitisch im Vordergrund stehende Frage berührt, wie weit die Handlungsmöglichkeiten des Richters gehen. Hier entscheidet Savigny, so darf man vermuten, politisch unter den Bedingungen des fortwirkenden aufgeklärten Absolutismus, der weitgehender Richterfreiheit eben mißtraute, philosophisch aber in dem Bewußtsein, daß es eben auch auf die Fähigkeiten des Interpreten ankomme. Daraus resultiert eine gewisse innere Spannung: Das Abgehen von der strikt regelgeleiteten Aufklärungshermeneutik und die Aufwertung der Rolle des Interpreten führten dazu, daß Savigny dem Wortlaut eine nur eingeschränkte Rolle bei der Abgrenzung verschiedener Formen richterlicher Rechtserkenntnis einräumte. Inwieweit diese Spannung dazu beigetragen hat, daß Savignys Auslegungslehre im ganzen 19. Jahrhundert umstritten blieb 40, ist hier nur anzudeuten. 3.
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Überblick zu den Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken
Festzuhalten bleibt, bevor einige Details erörtert werden, ein historisches Paradoxon: Savigny trägt dazu bei, daß der Wortlaut nur begrenzte Bedeutung hat; er unterminiert den Glauben an die sens clair-Regel und bezieht auch die „klaren“ Fälle in den Bereich des Auszulegenden ein. Andererseits trennt er Auslegung und Analogie. Damit bedurfte die Historische Schule eines Abgrenzungskriteriums; wir werden sehen, daß dies zunächst nicht etwa die Wortlautgrenze war. Eine Wortlautorientierung bei Savigny kann lediglich anhand bestimmter früher Texte konstruiert werden (s. sogleich); als „Wortlautgrenze“ faßt er selbst sie jedenfalls nicht. Auf der anderen
39 Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 17 f.; zum differenzierten Gebrauch der plain meaning rule in der Judikatur des IGH vgl. Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen (1998) S. 153–185, 175 u.ö. 40 Dazu sogleich. Auch in diesem Sinne haben wir es jedenfalls mit einem „langen 19. Jh.“ zu tun: Die vor Erlaß des BGB geführte Diskussion wirkte nach 1900 fort (was hier nicht verfolgt werden kann).
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1. Teil: Grundlagen
Seite bleibt die klassische, regelgeleitete Aufklärungshermeneutik in Deutschland präsent, was ihre Umsetzung in einzelne juristische Auslegungsregeln betrifft. Noch stärker lebt sie in Frankeich fort, wo man naturrechtliche und rationalistische Tradition in der Form fortführt, in der Zachariä rezipiert wird. Die letztgenannte Richtung aber – dies ist hervorzuheben – trennt nicht anhand einer Wortlautgrenze zwischen extensiver Auslegung und Analogie, obwohl sie, der älteren Hermeneutik folgend, klare Wortlaute für denkbar hält.
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Damit entsteht in der deutschen Historischen Rechtsschule eine bemerkenswerte methodische Unübersichtlichkeit und in Frankreich eine vergleichsweise einheitliche Auffassung zur Zulässigkeit der interprétation par analogie; das Aufkommen methodologischer Modernisierungsbewegungen in beiden Ländern ändert an diesem Befund für lange Zeit nichts: Die Freirechtsschule bleibt minoritär, die école de la libre recherche scientifique setzt sich durch, sieht aber gleichfalls kein Bedürfnis für eine strikt wortlautorientierte Trennung von Auslegung und Analogie. Diese Entwicklungen können hier, wie bereits gesagt, nicht bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt werden.
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Beide Rechtskulturen und damit Europa stehen weiterhin vor fortdauernden Anwendungsproblemen: Je weiter sich in Deutschland später die Lehre von der Wortlautgrenze durchsetzt, desto deutlicher stellt sich die – im Ansatz eben nicht gelöste – Frage, ob es einen klaren Wortlaut überhaupt geben könne; je mehr sich in Frankreich die Vorstellung verfestigt, es gebe analogische Interpretation, desto mehr fragt sich, warum und gegebenenfalls wie man diese von sonstigen Formen der Auslegung zu unterscheiden habe. Mit diesen Widersprüchen ging der Kontinent in die europäische Integration. Überspitzt ließe sich sagen: Wenn es in diesem Felde ein verbindendes Element der kontinentaleuropäischen Tradition gibt, dann ist es gerade die Unklarheit der Abgrenzung zwischen Auslegung und Analogie. Das heißt nicht, daß man eine klare Grenze nicht erstreben sollte, und zwar aus rechtsstaatlichen Gründen; es heißt aber, daß selbst dem 19. Jahrhundert, im Ausgangspunkt noch geprägt vom aufklärerischen Mißtrauen gegen den Richter und zugleich kulturelle Blütezeit eines gewissen Positivismus 41, das Problem dieser Grenze durchaus vor Augen stand 42 und daß die historische Erfahrung jedenfalls keine sichere Lösung für dieses Problem bereitstellt. Einige Grundzüge der Entwicklung sollen im folgenden dargestellt werden.
41 Freilich läßt sich kaum nachweisen, daß das späte 19. Jh. einen solchen Positivismus in dem Maße kannte, das zu unterstellen man aufgrund der allgemeinen geistesgeschichtlichen Entwicklung geneigt ist. Vgl. Schröder, in: FS Otte (2005), S. 571–586. 42 Wenig hilfreich zu alldem ist das dem Titel nach einschlägige Werk von Höltl, Die Lückenfüllung der klassisch-europäischen Kodifikationen (2005); vgl. die Besprechung von Baldus in SavZRG – Germ. Abt. – 2007, vorab zugänglich unter www.koeblergerhard.de.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
4.
Kernpunkte der Methodenlehre Savignys
Zachariä werden wir uns beim französischen Recht näher ansehen, denn dort hat er nachhaltigen Einfluß gehabt. Was Savigny angeht, unterscheidet man traditionell eine frühe Phase, gekennzeichnet durch die Marburger Methodologievorlesungen von 1802/1803, und die Hermeneutik im ersten Band des „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840; neuere Forschungen legen freilich die Annahme nahe, daß seine Gedanken sich substantiell nicht verändert haben.
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Savignys Auslegungselemente sind das grammatische, logische, historische und systematische (vgl. bereits Rn. 21). In der Methodenvorlesung 43 heißt es:
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Logischer Theil = genetische Darstellung des Gedankens den das Gesetz ausspricht. Grammatischer Theil = Darstellung des Mediums wodurch der Gedanke ausgesprochen worden. Historischer Theil = Darstellung des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung des Moments überhaupt, in welchen das Gesetz fällt (…) Beide lezte sind blos Bedingungen des ersten, welcher die eigentliche Interpretation unmittelbar enthält. Ferner: das Gesetz selbst soll objectiv seyn, d.h. es soll sich selbst aussprechen, also müssen alle Prämissen der Interpretation im Gesetz oder in allgemeinen Kenntnissen liegen, damit die Interpretation selbst allgemein und nothwendig sey. – Dadurch der [sc. zuvor eingeführte] Satz näher zu bestimmen: „man soll sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ – nämlich nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist.
Ähnlich, aber ohne das im soeben zitierten letzten Satz Betonte, schreibt Savigny im „System“ 44:
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„Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen, also irgend einen Gedanken (…) auszusprechen, wodurch das Daseyn jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrthum und Willkühr gesichert werde. Soll dieser Zweck erreicht werden, so müssen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständig auffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens.“
Die berühmte Darstellung der einzelnen Auslegungselemente nun lautet 45:
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„Das grammatisc h e Element der Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt. Es besteht daher in der Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze.
43 Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 89 f. 44 Savigny, System I, S. 212 f. 45 Savigny, System I, S. 213 f. Zum Kontext und zu dem, was bei der Diskussion dieses (gern isoliert oder jedenfalls unhistorisch gebrauchten) Passus zu bedenken ist, berechtigte Hinweise bei Rückert, in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laudenklos u. a., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997) S. 25 ff. Im übrigen ist die Rede von „Savignys vier Elementen“ in neueren Publikationen erstaunlich oft auf Wortlaut,
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1. Teil: Grundlagen Das logisc h e Element geht auf die Gliederung des Gedankens, also auf das logische Verhältniß, in welchem die einzelnen Theile desselben zu einander stehen. Das historisc h e Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen. Das system at isc h e Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (…). Dieser Zusammenhang, so gut als der historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt, und wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältniß dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, und wie es in das System wirksam eingreifen soll.
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Diese Elemente verstehen sich nicht im Sinne eines Gesamtkanons mit Ausschlußund Vorrangregeln 46, sondern im Sinne einzelner Kanones, mittels derer der Interpret sich in den Text hineindenkt. Das wird im „System“ 47 gleichfalls deutlich: „Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so daß nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.“
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„Nachvollziehen“ und „Rekonstruktion“ 48 bezeichnen also nicht den Versuch, den historischen Gedanken des Gesetzgebers im Sinne der subjektiven Auslegungstheorie 49 abschließend zu ermitteln, sondern sie sollen gerade eine zeitgemäße Norm-
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Geschichte, System und Telos im heutigen Sinne bezogen, was zeigt, daß nicht einmal die „beliebtesten Traditionszitate“, wie Rückert S. 25 sie treffend nennt, nachgelesen zu werden pflegen. Solche Regeln bekämpft Savigny (wohlgemerkt als eine seinerzeit herrschende Ansicht) für das Verhältnis von grammatischer und logischer Auslegung weiterhin im „System“ (I S. 319f.). Sein Grund gegen feste Rangregeln ist nach Rückert (Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, S. 352 f.) das Bemühen um ganzheitliche Erfassung des „einheitlichen Gegenstandes“ hinter konkreten Texten (oder einer bestimmten Textart), das durch textartspezifische Rangregeln gefährdet sei. Bei der Lektüre einiger späterer Autoren des 19. Jh. drängt sich freilich der Eindruck auf, daß eine „Gesamtbetrachtung“ aus weitaus prosaischerem Grunde postuliert wird: wegen der methodologischen Unsicherheit hinsichtlich einzelner Kriterien (u. Rn. 64). Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 236, sieht die Gleichwertigkeit des grammatischen Elements mit den anderen beim frühen Savigny gerade darin, daß eine Überschreitung des Wortlautes nicht in Frage gekommen sei. Savigny, System I, S. 215. Zum geistigen Hintergrund Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 24 –27. Ob man Savigny ihr zurechnen kann, ist str.; Nachweise zur Kontroverse und Argumente für die These, Savignys Ansatz könne sinnvoll weder subjektiv noch objektiv genannt werden, Christian Baldus
§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
anwendung ermöglichen. Deswegen handelt es sich auch nicht um eine subjektivhistorische Auslegung im heutigen Sinne 50; die historische Auslegung Savignys trägt einige der Funktionen, die wir heute der objektiv-teleologischen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegung zuweisen. Das leuchtet aus dem Grundanliegen der Historischen Schule unmittelbar ein: Geht es nicht darum, die Unübersichtlichkeit der bestehenden Rechtsquellen möglichst schnell und umfassend durch ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu beheben, sondern aus diesen überkommenen Quellen ein organisches Ganzes entstehen zu lassen, dann müssen sie durch geschichtlich bewußtes Durchdenken für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Den teleologischen Rückgriff auf die ratio legis hält Savigny nicht für ein Mittel der Auslegung, sondern für eine Korrektur des Auslegungsergebnisses im engeren Sinne, wo das Gesetz sonst „unbestimmt“ bleibe. Ist auf diesem Wege nichts zu ermitteln, so ist die Analogie zulässig, nicht aber die gesetzesüberschreitende „extensive Auslegung“. Diese These läßt sich zunächst aus der Mitschrift zur Methodenvorlesung rekonstruieren, die wir Jakob Grimm verdanken 51:
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„Was ist für den Fall Rechtens, wenn die Gesetzgebung über einen einzelnen Punkt schweigt? Es ist kein einziger möglicher Fall bestimmt in der Gesetzgebung enthalten, sondern jeder muß erst unter eine höhere Regel subsumiert werden. Hat aber eine solche Subsumtion nicht statt, so ist zu unterscheiden zwischen Zivil- und Kriminalrecht. a) Im Zivilrecht. Hier muß offenbar die Regel vom Juristen künstlich aufgesucht werden, wonach der Fall entschieden wird, und zwar teils durch bloße Folgerung aus einer ganz allgemeinen Regel, teils kann sich in der Gesetzgebung eine spezielle Regel finden, die einen ähnlichen Fall bestimmt. Diese reduziert man nun auf eine höhere Regel und entscheidet nach dieser (höheren) dann den gegebenen nicht entschiedenen Fall. Dies heißt das Verfahren durch Analogie, das sehr nahe an die vorhin getadelte Operation grenzt. Allein bei der falschen wird von außen etwas hinzugetan, hier aber die Gesetzgebung aus sich selbst ergänzt.“
Damit sind zwei Punkte genannt, die vorsichtig in die Richtung einer Art von Wortlautgrenze deuten, wohlgemerkt für ein „Gesetz“, das im Regelfall das römische war: Daß das Gesetz nach der Methodenvorlesung „sich selbst aussprechen“ soll, daß „man sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ soll, „nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist“, setzt ebenso eine semantische Grenze
bei Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984) S. 354ff.; weiterhin ders., in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laudenklos u. a., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 49 u. ö.; Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 225, 242; jüngst Meder (wie vorige Fn.), S. 124–129: Ausgelegt werde bei Savigny das Gesetz zu dem Zweck einer Konkretisierung des gesetzgeberischen Gedankens für die Gegenwart (126). 50 Vgl. nochmals Huber JZ 2003, 1–17; Meder (wie vor) S. 124. Zur weiteren Entwicklung der historischen Auslegung (vor allem der zeitgenössischen Gesetze) vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 232f. 51 von Savigny, Juristische Methodenlehre, nach der Ausarbeitung des Jakob Grimm hrsg. von Wesenberg (1951), S. 41. Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
der Normaussage voraus wie der Gedanke, daß das Gesetz auch schweigen kann. Mit der Rede vom „Schweigen“ des Gesetzes ist immerhin gesagt, daß es ein solches Schweigen identifizierbar geben kann – und daß es nicht Aufgabe des Interpreten sein kann, das beharrlich schweigende Gesetz mit allen Mitteln zum Reden zu bringen.
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Daß die Grenze der Auslegungskunst aber gerade im Sinne der Lehre vom Wortlaut (im heute diskutierten Sinne) grammatisch zu bestimmen sei, ist nicht gesagt; es folgt auch nicht daraus, daß später im „System“ (auf dieses ist sogleich zurückzukommen) das grammatische Element als „die Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze“ bestimmt wird 52: Der Begriff der „Sprachgesetze“ ist weiter als der des „Wortlauts“; überdies unterfällt auch das grammatische Element der genannten Metaregel, der zufolge eine Zusammenschau aller Kanones erforderlich ist und Vorrang eines Elements nicht angenommen werden kann. So tendieren neuere Forschungen, gerade unter Einbeziehung auch des späteren Savigny, zu einigen Relativierungen: Es gehe um den (in sich wiederum schwankend bestimmten) Gedanken, nicht um den Begriff; und Savigny diene die Wortlautgrenze nur zur Abgrenzung der Auslegung „von der gänzlich offenen Fortbildung des Rechts“ 53. Darauf wird zurückzukommen sein.
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Um so mehr fragt sich, wo dann die Grenzen der Analogie liegen sollen. Dieses Institut hatte bemerkenswerte Veränderungen durchgemacht 54: Das 16. und 17. Jahrhundert kennt die Analogie der Sache nach im Rahmen der juristischen Topik, als Ähnlichkeitsschluß, verwendet den Begriff analogía aber nicht in diesem Sinne. Mit dem Niedergang der Topik als wissenschaftlicher Methode im 17. und 18. Jahrhundert geht diese Zuordnung des Ähnlichkeitsschlusses verloren; er überlebt diesen Niedergang als einziger Topos, den die Juristen noch akzeptieren. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekommt er auch den Namen Analogie, jedoch ohne sachlichen Unterschied zur „ausdehnenden Auslegung“. Erst indem man zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit beginnt, den sprachlich möglichen Sinn als Grenze der Auslegung zu identifizieren, kann sich der Analogieschluß als definierter Bestandteil des juristischen Methodeninstrumentariums jenseits dieser Grenze etablieren. Zuerst wird überhaupt eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie eingeführt, oft mit Andeutungen, die bereits in die Richtung der Wortlautgrenze weisen, oft auch unter Kritik an den bisherigen Kategorien der restriktiven, deklarativen und extensiven Auslegung oder daran, daß diese Kategorien nicht entschlossen genug beseitigt würden; dann wird die Wortlautgrenze als maßgeblich identifiziert. Dieser Prozeß aber findet, wie zu zeigen sein wird, jedenfalls bei den Pandektisten noch nicht seinen Abschluß.
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Savigny fördert diese Entwicklung; und er bemüht sich im „System“ auch um die Bestimmung einer Grenze der Analogie. Diese ist systematisch aus dem positiven Recht
52 Savigny, System I, S. 214. 53 So Klatt, Theorie der Wortlautgrenze, S. 41– 45. 54 Zum Folgenden ausführlich Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 1997, 1–55.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
zu bestimmen: Analogie ist nur in Gesetzeslücken möglich, und das Ergebnis darf anderen Normen nicht widersprechen 55. Fraglich ist, welche Tragweite dieser Ansatz in erst entstehenden Systemen hat: Setzt er Vollständigkeit des Systems voraus? Oder ist lediglich Widerspruchsfreiheit unter den vorhandenen Systemelementen verlangt? 56 Diese Frage stellte sich im frühen 19. Jahrhundert, das darüber stritt, ob genug System für eine Kodifikation existiere; aus vergleichbaren Gründen ist ihr für das Gemeinschaftsprivatrecht nachzugehen: Auch hier entsteht ein System; aber anders 57 als das von Savigny gemeinte und konstruierte System ist es bereits nach seinem eigenen Selbstverständnis noch fragmentarisch. Es wird ergänzt durch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, die aber kompetenzrechtlich gegen einen unbeschränkten Zugriff des Gemeinschaftsprivatrechts abgesichert sind; es kann nicht – wie Savignys „heutiges römisches Recht“ – einen vorhandenen und zugriffsfähigen umfassenden Normenbestand durch Auslegung und Systembildung in ein geschlossenes Ganzes überführen. Ob unter diesen Bedingungen die strenge Theorie von der (planwidrigen) Lücke als Voraussetzung der Analogie ebenso paßt wie im mitgliedstaatlichen Recht 58, ist aus modernrechtlicher Sicht fraglich; und ebenso fraglich ist, ob Savigny die Frage bejaht hätte. Hingegen paßt das Kriterium des Widerspruchs zur vorhandenen Norm als Grenze der Analogie möglicherweise bereits im (noch) fragmentierten Gemeinschaftsprivatrecht. Das kann hier nicht vertieft werden. Kommen wir auf die hier im Vordergrund stehende Frage nach der technischen Abgrenzung von Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert zurück. An der Unzulässigkeit extensiver Auslegung (im Sinne einer Korrektur des gesetzlichen Gedankens) hält Savigny dem Grundsatz nach auch im „System“ fest 59. Freilich grenzt er nicht primär nach dem Wortlaut ab, sondern maßgeblich nach dem Grund des Korrektur-
55 Savigny, System I, S. 294: „(…) das ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf dem inneren Zusammenhang des Rechtssystems“; vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004), S. 155ff., und zum Systemdenken bereits aufgrund der Methodologievorlesungen Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 1997, 1, 45. 56 Diesen Aspekt betont – in Kenntnis des von Savigny selbst verwendeten Lückenbegriffs – Meder (wie vor), wo er am Sinn der Unterscheidung zwischen gesetzesimmanenter und gesetzesübersteigender Rechtsfortbildung zweifelt: Savignys Gedanken harmonierten mit heutigen Mindermeinungen, welche die Analogie aus der Rechtsfortbildung aussondern und letzteren Begriff auf Entscheidungen contra legem beschränken wollen; „Kriterien für das Vorliegen einer Rechtsfortbildung würden nicht Lücke oder Analogie, sondern die Relationen von Kontrarität und Kontradiktion bieten“ (S. 156). 57 Vgl. nochmals Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 1997, 1, 45. 58 Dafür prononciert Neuner, unten § 13. 59 So knapp Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004) S. 137 gegen eine verbreitete Meinung, vgl. für diese etwa Bühler, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001) S. 331. Die Gründe hierfür sieht Meder darin, daß Savigny einerseits über die Analogie alle erforderliche Freiheit geschaffen und andererseits den Versuch unternommen habe, Kritik an den weiten Grenzen seiner Auslegungslehre vorzubeugen, indem er eine gesetzeskorrigierende Auslegung als solche nicht mehr zugelassen habe. Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
bedarfs. Daß dies zu mannigfachen Abgrenzungsproblemen führt, sieht Savigny selbst sehr deutlich. In § 37 heißt es zur „Auslegung mangelhafter Gesetze“ abschließend 60: „Ist nun also der specielle Gesetzgrund zur Berichtigung des Ausdrucks zulässig, der generelle unzulässig, so muß zugleich daran erinnert werden, daß es zwischen diesen beiden Arten von Gründen keine scharfe Gränze giebt (§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die sich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Auslegung zweifelhaft, und die Unterscheidung derselben von Fortbildung des Rechts schwierig werden. Dagegen ist es durchaus keinem Zweifel unterworfen, daß das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere Werth des Resultats (§ 35), auf die Erkenntnis und Verbesserung des unrichigen Ausdrucks niemals angewendet werden darf. Denn es ist einleuchtend, daß darin nicht eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, sondern eine versuchte Verbesserung des Gedankens selbst, enthalten seyn würde. Dieses kann als Fortbildung des Rechts heilsam seyn, von einer Auslegung kann es nur den Namen an sich tragen.“
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An anderer Stelle 61 formuliert er die Gegenposition so: Ausdehnende oder einschränkende Auslegung sei „eine Berichtigung des wirklichen Gedankens (…) durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das Gesetz hätte enthalten können“; dies unter ausdrücklicher Abstraktion vom realen Bewußtsein des realen, personifizierten Gesetzgebers 62: „Dabey ist es gleichgültig, ob der Gesetzgeber mit Bewußtseyn einen logischen Fehler gemacht hat, oder ob er nur versäumte, an die consequenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch man ihn jetzt berichtigt; in welchem letzterem Falle man also voraussetzt, er würde unfehlbar eben so verfügt haben, wenn man ihn nur auf diese Consequenzen aufmerksam gemacht hätte.“
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Das aber sei unzulässige, dem Ausleger als solchem, namentlich dem Richter nicht gestattete Rechtsfortbildung, eine „Gränzverwirrung zwischen wesentlich verschiedenen Thätigkeiten“ 63 – Savigny freilich lehnt sie wiederum nicht wegen einer Überschreitung der Wortlautgrenze ab, sondern wegen eines Übergriffs auf den Gesetzesinhalt. Hingegen setzt er den „bloßen Buchstaben“ mit dem „Schein des Gesetzes“ gleich 64. Damit ist die Grenze von Auslegung und Analogie ausdrücklich nicht über den Wortlaut bestimmt. Darin liegt eine Akzentverschiebung gegenüber den frühen Ausführungen zur Methodenlehre, freilich keine so radikale Wende, wie oftmals behauptet worden ist 65.
60 Savigny, System I, 240. Daß durch die Möglichkeit, einen unrichtigen Ausdruck im Wege der Auslegung zu korrigieren, die Abgrenzung von Auslegung und Analogie bei Savigny wieder unsicher wurde, betont Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 221. Vgl. zur Struktur der Ausführungen im „System“ Rückert, in: ders. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Laudenklos u. a., Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997) S. 47ff. 61 Savigny, System I, S. 321. 62 Savigny, System I, S. 321. 63 Savigny, System I, S. 322. 64 Savigny, System I, S. 322. 65 Dazu nur Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984) S. 356ff.: Die Auslegungslehre im „System“ sei als Fortführung und Entfaltung der älteren Ansätze zu verstehen, zwar mit Akzentverschiebungen, dies aber auch mit Blick auf
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
Die Analogie nun läßt Savigny zu einmal als Schaffung eines dem positiven Recht bislang unbekannten Instituts, zum anderen
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„und viel häufiger, wenn in einem schon bekannten Rechtsinstitut eine einzelne Rechtsfrage neu entsteht. Diese wird zu beantworten seyn nach der inneren Verwandtschaft der diesem Institute angehörenden Rechtssätze, zu welchem Zweck die richtige Einsicht in die Gründe der einzelnen Gesetze (§ 34) sehr wichtig sein wird“ 66.
Freilich: Für Savigny ist „analogische Rechtsfindung“ nicht gleichbedeutend mit Rechtsfortbildung, sondern „Anstoß zur Fortbildung des Rechts, z.B. durch Gesetzgebung, in welchem Fall sie mit größerer Freyheit geübt werden kann“ 67. Die Abgrenzung zur Auslegung ist fließend, aber wiederum in anderem Sinn und anderer Begrifflichkeit als heute: Unmittelbar im Anschluß heißt es „Sie kann aber auch vorkommen (so wie wir sie hier betrachten) als eine Art reiner Auslegung, etwa indem einem Richter zuerst das neue Rechtsverhältnis oder die neue Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt wird.“ 68
Es versteht sich, daß von diesem Ausgangspunkt die Kategorien andere sein müssen als bei der modernen Dichotomie von Auslegung diesseits, Analogie jenseits der Wortlautgrenze. Vielmehr unterscheidet Savigny, wie gesehen, danach, ob ein unrichtig gewählter Ausdruck aus dem „wirklichen Gedanken“ des Gesetzes korrigiert wird (ausdehnende Auslegung) 69 oder ob eine Lücke vorliegt, so „daß es an dem wirklichen Gedanken irgend eines leitenden Gesetzes gänzlich fehlt, und wir suchen uns über diesen Mangel durch die organische Einheit des Rechts hinweg zu helfen“ 70: nämlich anhand von „solchen Bestandtheilen der Rechtstheorie (…), die selbst schon auf dem künstlichen Wege der Abstraction entstanden waren“ 71. Wir befinden uns also, modern gesprochen, im Felde der Gesamtanalogie, getragen vom Systemgedanken.
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Die Wurzeln dieser Konzeption können hier weder in philosophischer 72 noch in historischer Hinsicht ausgeleuchtet werden. Savigny selbst nimmt „die Römer“ zunächst
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die veränderten politischen Verhältnisse: Der im „System“ verstärkte Rekurs auf den „Gedanken“ des Gesetzes habe der Sicherung von Auslegungsfreiheit gedient; ein Bedürfnis danach, Kritik an den Gesetzen gerade auf methdologischem Wege zu bekämpfen, habe Savigny in den 1830er Jahren nicht gesehen. Savigny, System I, S. 291. Savigny, System I, S. 291 f. Savigny, System I, S. 292. Eine allgemeine Regel des Inhalts, nach dem Grund des Gesetzes sei zwar eine Ausdehnung, aber keine Einschränkung zulässig, bekämpft Savigny als nicht begründbar (System I, 321 f.). Savigny, System I, S. 293. Savigny, System I, S. 292. Vgl. nochmals Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 94 f. u. ö. Savigny, System I, S. 291, Fn. (a), beruft sich für „das eigentliche Wesen der Analogie“ auf „Stahl Philosophie des Rechts II.1. S. 166“ (= F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, II, 1833; non vidi). Meder, aaO S. 155, bemerkt zu Recht, dieser Hinweis bedürfe genauerer Überprüfung (vgl. auch den Nachweis bei Meder, aaO S. 170).
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1. Teil: Grundlagen
für seine Begriffsbildung in Anspruch, nennt insoweit freilich keine Juristen73. Er äußert sich dann durchaus traditionell zur Unzulässigkeit der Analogiebildung aufgrund von Ausnahmesätzen74 und kommt von hier aus auf die Römer zurück, denen er einleitend bescheinigt, sie hätten „von der Ergänzung des Rechts durch Analogie sehr richtige Ansichten, nur unterscheiden sie in der Anwendung derselben nicht überall die Fortbildung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieser Vermischung werden die Gründe weiter unten angegeben werden“ 75.
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Diese „Gründe“ sieht Savigny darin, daß die Auslegungspraxis der römischen Juristen nicht immer auf der Höhe ihrer eigenen Theorie gewesen sei 76. Die Erklärung hierfür sei wiederum wörtlich wiedergegeben77, weil sie einerseits durchaus sensibel die Besonderheiten Roms aufnimmt, andererseits modernes Kompetenzdenken rückprojiziert 78 und schließlich das historische Selbstverständnis Savignys erkennen läßt: „[Die Praxis der römischen Juristen] geht oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wahren Fortbildung des Rechts an. Insbesondere geben sie ausdehnende Erklärungen aus dem Grund des Gesetzes, die nicht blos den Ausdruck berichtigen, sondern das Gesetz selbst verbessern sollen, was also nicht mehr Auslegung ist (…) Diese Widersprüche erklären sich aus der eigenthümlichen Stellung der Römischen Juristen, welche allerdings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in ihre Hände legte, als dieses bey uns angenommen werden kann (§ 19). (…) Indessen mögen auch schon die alten Juristen selbst die unsichere Gränze erkannt haben, die dadurch zwischen ihrem eigenen Beruf, und den Befugnissen des Prätors oder gar des Kaisers entstehen mußte; so scheint es zu erklären, wenn sie es in manchen Stellen unbestimmt lassen, ob eine Erweiterung des Rechts durch sie selbst, oder vielmehr durch den Prätor oder Kaiser zu bewirken sey. – Aber selbst abgesehen von dieser größeren Freyheit, die den Römischen Juristen, in Vergleichung mit den unsrigen, eingeräumt war, hatten sie auch ausgedehntere Mittel der Auslegung, indem sie der Entstehung ihrer Rechtsquellen so nahe standen, also unmittelbar wissen konnten, wie mancher an sich
73 Savigny, System I, wie vor: Varro, Gellius, Isidor – also immerhin Personen, die zwar keine iuris prudentes im üblichen Sinn waren, aber doch juristische Interessen kultivierten. 74 Savigny, System I, S. 293. 75 Savigny, System I, S. 294 f. 76 Aus der heutigen Sicht des römischen Rechts als einer hochentwickelten Kasuistik mit innerem System und wenig Theorie wirken derartige Aussagen merkwürdig, gerade wenn sie von einem so vorzüglichen Kenner der Quellen wie Savigny kommen. Hier zeigt sich eben die spezifische Perspektive des 19. Jahrhunderts, die weit über Savigny hinaus wirkte und die zu streng dekontextualisierender Lektüre pandektistischer Texte zwingt, wenn man etwas anderes sucht als die Perspektive dieser Zeit, namentlich Erkenntnis über antikes Recht. Pandektistische Texte sagen in aller Regel mehr über das BGB aus, das dann auf ihrer Grundlage entstanden ist, als über die römische Antike, auf die sie sich beziehen. Zu modernen Sichtweisen der römischen Auslegungslehre vgl. nochmals Baldus, Vertragsauslegung (1998), und Harke, oben, § 2. 77 Savigny, System I, S. 297 ff. 78 Zu der inneren Spannung zwischen dem ius der Juristen und bewußter Rechtsgestaltung durch – modern gesprochen – verfassungsrechtliche Instanzen in Rom vgl. nochmals Schiavone, Ius, passim.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert nicht hinreichend bestimmte Ausdruck gemeint war, und in welchem Sinn er gleich von seinen Urhebern angewendet wurde.79 – In allen diesen Beziehungen stehen wir anders als sie, besonders wenn wir nicht unsere einheimischen Gesetze, sondern die uns so fern stehenden Justinianischen auszulegen haben. Unsere Lage ist darin ungleich schwieriger; aber hier (…) ist die durch die Schwierigkeit gebotene Anstrengung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die Gränze wahrer Auslegung ist dadurch unter uns zu einer schärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den Römern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht auferlegt war.“
Im folgenden geht es namentlich um den référé législatif bei Justinian 80. Savigny sucht also in den römischen Quellen das, was seine Zeit beschäftigt; und dort sucht oder findet er einiges zum „Zweifel“ als Voraussetzung für die Pflicht zur Anfrage an den Kaiser, aber nichts zur Wortlautgrenze 81. Die aus moderner Sicht naheliegende Verbindung von Richterbindung und Glauben an den Wortlaut ist bei ihm gedanklich vorgezeichnet, aber jedenfalls nicht zu Ende geführt. Das erspart ihm auch einige Probleme dieser Verbindung.
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So läßt sich resümieren: Die Rechtsfortbildung ist auch nach dem späten Savigny in gewissen Grenzen gestattet 82, nur unterscheidet er sie nicht nach dem Wortlautkriterium von der Auslegung. Es gibt also in der deutschen Rechtswissenschaft keine einheitlich in die Richtung dieses Kriteriums weisende Tradition; und, wie wir sehen werden, auch in der französischen nicht. Hier liegt ein historischer Grund dafür, daß es vermutlich nicht gelingen wird, die auf eben dieser Unterscheidung beruhende deutsche Methodenlehre zur Gänze nach Luxemburg zu „exportieren“ 83 – auch wenn die Rahmenbedingungen sich seit den Zeiten Friedrich Carls von Savigny verändert haben. Denktraditionen haben ihr Eigengewicht und wirken bisweilen auch „unterirdisch“ fort 84.
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79 Das hiermit aufgeworfene Sachproblem darf als bislang ungelöst gelten; einige Hinweise bei Baldus, Maxime post constitutionem. 80 An späterer Stelle nimmt Savigny den Gedanken des référé in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Hinsicht nochmals auf und leitet aus den Abgrenzungsproblemen zwischen „reiner Auslegung und eigentlicher Fortbildung des Rechts“ her, es sei „wünschenswerth, daß irgend eine hoch stehende Gewalt vorhanden sey, in welcher beide Befugnisse vereinigt angetroffen werden“; Ansätze hierfür bieten ihm zeitgenössisch die Cour de Cassation (vgl. u. Fn. 148), historisch „der Prätor und die Juristen“ (also kumuliert). 81 Der Gemeinschaftsrechtler liest mit einem gewissen Vergnügen die Ausführungen zur Spannung zwischen Vorlagepflicht und Überlastung der Entscheidungsinstanzen: „Geist und Kenntnis werden bei dem Richter, dem die Auslegung gestattet ist, nicht einmal das Bedürfnis einer Anfrage entstehen lassen. In Justinians Reich mögen sich die Richter, denen er die Auslegung verboten hatte, durch Gedankenlosigkeit und Willkühr geholfen haben, ohne zu häufigeren Anfragen zu schreiten, als der Kaiser zu erledigen im Stande war“ (Savigny, System I, S. 309ff., 309). 82 Vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 94 f. 83 Zugespitzt zum Problem – auch in Reaktion auf die Diskussionen der hier dokumentierten Tagung – Köndgen, GPR 2005, 105. 84 Diese Erfahrung hat Knütel in die Metapher vom „Gitter“ der Kodifikationen gebracht, durch das alles hindurchfließe, was die neuen Normen aufzufangen nicht geeignet seien; in ähnlicher Richtung mit Nachweisen aus der neueren Literatur Meder, JZ 2006, 477, 482 f.
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IV.
Deutsche Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert
1.
Voraussetzungen
Die Entwicklung bis in die ersten Jahrzehnte des BGB ist unübersichtlich und kann hier nur im Überblick nachgezeichnet werden 85. Es entstehen zahlreiche Streitfragen, aber keine einheitliche Linie zu unserem Problem, schon gar nicht in dem von Savigny angeregten Sinne. Dabei schlägt sich auch der Umstand nieder, daß die Analogie erst im frühen 19. Jh. überhaupt ihren Platz außerhalb des üblichen Kanons der Argumentationsfiguren und jenseits der Auslegung zu finden beginnt 86. Zuerst wird überhaupt eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie eingeführt, oft mit Andeutungen, die bereits in die Richtung der Wortlautgrenze weisen 87, oft auch unter Kritik an den bisherigen Kategorien der restriktiven, deklarativen und extensiven Auslegung 88 oder daran, daß diese Kategorien nicht entschlossen genug beseitigt würden 89; aber erst allmählich wird die Wortlautgrenze als maßgeblich identifiziert 90. Bisweilen erscheinen die Kategorien auch nebeneinander. 2.
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Überblick zu einzelnen Autoren
Hufeland kennt die Wortlautgrenze 91 und ausdrücklich diesseits derselben die drei Arten der Auslegung 92. Sachlich folgt daraus für ihn die Ablehnung jenes Terminus, der in manchen romanischen Rechten bis heute existiert:
85 Vgl. zunächst Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 218 ff. Im übrigen sei der Verweis auf eine spätere Publikation gestattet. Dort werden inbesondere zeitgenössische Spezialschriften zu diskutieren sein, die nicht rechtzeitig zu beschaffen bzw. auszuwerten waren; vgl. etwa (non vidi) W. F.Clossius, Hermeneutik des R.R. im Grundrisse (Leipzig 1831); Lang, Beiträge zur Hermeneutik des römischen Rechts (Stuttgart 1857). Weitere Hinweise bei Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 217 f. Aufschluß verspricht auch die neuere Sekundärliteratur zu einzelnen Pandektisten; vgl. nur Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid (1989); Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004); Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004). 86 Oben Rn. 36 und nochmals Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 1997, 1, 35–39. 87 Vgl. etwa Gönner, Deutsches Staatsrecht (1805) 23 (zur Analogie: „der Rechtssatz darf weder geradehin noch mittelbar in dem Gesetze schon liegen“). 88 Hingegen trägt noch deutlich später und in strafrechtlichem Zusammenhang Binding keine Bedenken, die Analogie nach gemeinem Recht für grundsätzlich zulässig zu halten und für die Anwendung des StGB eine Umgehung des Analogieverbotes „optima fide durch sog. ausdehnende Auslegung“ zu empfehlen: Binding, Handbuch des Strafrechts, Erster Band (1885), S. 218ff. (219). 89 Vgl. etwa Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 71–75 (zu Adolph Dieterich Weber, non vidi); günstiger zu Thibaut: S. 75 f. 90 So etwa bei Schoemann (vorige Fn.), S. 85 (wörtliches Zitat sogleich im Sachtext). 91 „Keine Auslegung kann über den Wortverstand hinausgehen, den nemlich die gesetzliche Vorschrift in ihrer jetzigen Stelle und Verbindung haben kann“: Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, I (1808), S. 23. 92 AaO S. 24: „Alle Auslegung (…) kann nach verschiedenen Graden des Umfangs, den der gewöhnliche Wortverstand hat, ausdehnend, bloss erklärend, oder einschränkend seyn“ (dort
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert „Die Ausdehnung 93 ist nie Auslegung; eins widerspricht dem anderen geradezu. Darum heben in dem so verstandenen Ausdruck ausdehnende Auslegung (sc. über die „mögliche Bedeutung der gesetzlichen Worte hinaus“) Beiwort und Hauptwort sich gegenseitig auf; es ist die reinste contradictio in adjecto.“ 94
Dem folgen alsbald weitere Autoren, teils unter Berufung auf andere 95, teils unter Hervorhebung der Neuigkeit, die in ihrer Lehre liege 96. Da zugleich ein – wenngleich nicht abschließendes 97 – System des positiven Rechts postuliert wird, findet die Analogie nunmehr ihre Grundlage in logischen, nicht mehr in hermeneutischen Erwägungen 98.
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Freilich: Das sozusagen staatsrechtliche Moment, der Wunsch nach Kontrolle des Richters, nenne man dieses Moment nun positivistisch99, gewaltenteilend oder
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Verweis auf Zachariä und Thibaut). Hufeland begründet dieses Nebeneinander später ausführlich aus der Mehrdeutigkeit der Worte: Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, I (1814), S. 62ff. Unterschieden von der ausdehnenden Auslegung innerhalb des Wortsinnes, die beibehalten wird: Lehrbuch (vgl. Fn. 91 f.) 24 (Nr. 36, unter Bezug auf Thibaut und Zachariae); Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, I (1814), S. 63. Hufeland, Geist (vorige Fn.), S. 64. Der Sache nach, ausgehend von der in claris-Regel, Schweppe, Das römische Privatrecht in seiner heutigen Anwendung, Erster Band (4. Aufl. 1828), S. 36 ff. (S. 37: „jetzt ist man ziemlich allgemein damit einverstanden, daß die wahre Interpretation auf Ausmittlung dessen, was der Gesetzgeber dachte, zu beschränken sei“); auch begriffliche Trennung nach dem „möglichen Wortsinn nach dem weitesten oder engsten Gebrauche“ bei v. Wening-Ingenheim, Lehrbuch des Gemeinen Civilrechts, Band 1 (München 1822), S. 29 (unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Hufeland und Schweppe); beide mit römischen Quellen, die dem einen oder anderen procedere zugeordnet werden. Vgl. Schaffrath, Theorie der Auslegung constitutioneller Gesetze (Leipzig 1842), S. 24 f.: „Auch bei der Ausle g u n g eines Gesetzes darf man daher die Gründe und Mittel derselben oder der Erkennbarkeit des Willens der gesetzgebenden Gewalt nur aus dem G es et z e s elbst schöpfen. Diese nothwendige Begrenzung der Auslegung übergehen nicht nur fast alle Lehrer der Auslegung der Gesetze, sondern es verletzen sie auch alles Ausleger derselben. Alle, außer T hibaut (not. 1.) bemühen sich nur die principia cognoscendi, die Gründe und Mittel der Auslegung zu h ä u f e n , aber nicht, sie zu begrenz en“. (Der Verweis auf Thibaut führt zu dessen Theorie der logischen Auslegung von 1806, § 9.13, S. 27– 41.) Im folgenden erklärt Schaffrath die Materialien für lediglich bestätigenden Wertes (S. 37 f.) und setzt sich mit denjenigen römischen Quellen auseinander, die üblicherweise für eine nicht strikt an den verba orientierte Auslegung herangezogen wurden (S. 42 f.). Nahezu alle relevanten Autoren des 19. Jahrhunderts lassen namentlich das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle zu. Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 1997, 34 –38, 45–54 (namentlich zur Rolle Hufelands, Savignys und Kants; dazu jetzt näher Meder, Mißverstehen und Verstehen, passim). Vgl. etwa Hufeland (Geist, Fn. 93) S. 184 f. zur Analogie als zulässigem, von der Auslegung streng zu trennendem Mittel der „Ausdehnung“. Mit dem (jungen) Savigny und dem (späten) Hufeland ist es der „Wortverstand“, der die Grenze der Auslegung zieht, und das System, das den nunmehr hierdurch abgezirkelten Bereich der Analogie ausfüllt. Differenzierungen bei Schröder, in: FS Otte (2005), S. 571–586.
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1. Teil: Grundlagen
etatistisch, wird erstaunlich selten angesprochen. Immerhin finden wir bei Schoemann100 1806 die Sätze: „Nicht dem individuellen Gutdünken des vom Staate niedergesetzten Richters, sondern dem Urtheile der gesetzgebenden Gewalt, in so ferne es der Constitution seiner Rechte gilt, ist der Staatsbürger unterworfen: was der Gesetzgeber ausspricht, das ist die objectiv erkennbare Stimme des Staates und aller einzelnen Mitglieder desselben, durch deren Representanten verkündet. Diese alleingebietende Stimme der Regentschaft wird und kann nur vermittelst angenommener und ausgesprochener Sprachzeichen objectiv und sicher erkennbar seyn (…) Demnach besteht die Pflicht des interpretirenden Richters ausschliesslich in der Reconstruction des von der Gesetzgebung ausgesprochenen Gedanken; und der darin begriffenen verkündeten Reg e l; der Begriff der I n t e r p re t at i o n lösst sich also in die n a c k t e En t wic k lu n g der g e se t z lich en Vo r s ch r i f t , so wie diese o b j ek tiv ausge sp ro c h e n ist, auf … Es folgt hieraus von selbst, dass es keine logische der grammatischen contradistinguierte Interpretation, keine Extensiv- keine Restrictiv- auch keine Interpretation nach dem Grunde des Gesetzes gibt.“
Und weiter: „Die möglichste Sicherheit der Rechte der Unterthanen ist Hauptzweck, auf welchen eine gute Gesetzgebung mittelbar berechnet sein muß: darum kann allein die ausgesprochene Absicht des Gesetzgebers gesetzliche Norm seyn, aber keineswegs der Beweggrund, wenn er gleichwohl ausgesprochen ist, und eine andere, etwa weitere oder engere Absicht des Gesetzgebers, als die vermittelst der Sprachzeichen ausgesprochene ist, ahnen lassen dürfte.“ 101
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Diese Position scheint geradewegs zur heutigen Betonung der Wortlautgrenze zu führen. Sie bleibt anscheinend jedoch isoliert. Das mag auch mit dem übermächtigen Einfluß Savignys zusammenhängen: Dieser schließt die von ihm selbst in den Methodenvorlesungen andeutungsweise geöffnete Tür zu einer Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung nach der Wortlautgrenze im „System“ wieder. Dazu seien noch einige Bemerkungen angeschlossen. Freilich: Dogmengeschichtliche Kausalitäten bleiben im einzelnen zu überprüfen, und dafür genügt auch ein lückenloser Zitatnachweis nicht; wer Savigny positiv erwähnt, kann seine ganz eigenen Gründe gehabt haben, ihm zu folgen; wer ihn ausdrücklich ablehnt, kann auf anderem Wege zu verwandten Lösungen gekommen sein; und auch wer ihn nicht zitiert, hat ihn doch gewiß gelesen.
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Daß Savigny im „System“ die ausdehnende Auslegung akzeptiert, sahen wir bereits. In dieser Optik dient Analogie der Lückenfüllung; sie wird verstanden als „das Verhältniß der durch dieses Verfahren gefundenen Rechtssätze zu dem gegebenen positiven Recht“, durch die „wir jede wahrgenommene Lücke auszufüllen haben“102. Damit freilich muß Savigny Auslegung im engeren Sinne und „Auslegung vermittelst der
100 Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 78 f. Unterstreichungen im Original gesperrt. 101 Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 84 f. Unterstreichungen im Original gesperrt. 102 Savigny, System I, S. 291.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
Analogie“ 103 voneinander abgrenzen; und hier kommt (auch der Sache nach) keine Wortlautgrenze zu Hilfe: Den Unterschied sieht Savigny im „wirklichen Gedanken“ des Gesetzes. Bei der ausdehnenden Auslegung berichtige der Jurist den „unrichtig gewählten Ausdruck eines Gesetzes aus dessen wirklichen Gedanken“, bei der Analogie fehle es an einem solchen Gedanken104. Die Unterscheidung bezieht sich also auf die voluntas, nicht auf die verba legis. Das stößt, wie vielfach beobachtet worden ist, auf theoretische wie praktische Bedenken105. Dennoch wurde Savignys Unterscheidung von Auslegung im engeren Sinne und „Auslegung vermittelst der Analogie“ vielfach aufgegriffen und weitergeführt, sowohl bei späteren Autoren der deutschen Pandektistik als auch im Ausland 106. Die folgende Übersicht kann nur diesen Aspekt hervorheben; eine systematische Untersuchung hätte ihn in sonstige Spannungsfelder einzubetten, die bei Lektüre der pandektistischen Werke deutlich werden: Manche argumentieren stärker historisch und zum römischen Recht, andere mehr aus dem im 19. Jh. entstehenden System und auch zur Auslegung neuer Gesetze; manche lehnen sich (unter dem Schlagwort vom Willen des Gesetzgebers 107) stärker an die Rechtsgeschäftslehre an 108, andere mehr an öffentlich-rechtliche Erwägungen; viele bringen Detailkorrekturen an der überkommenen Terminologie an, bleiben aber dem traditionellen Schema der Auslegungsformen (grammatisch, logisch usw.) 109 in unterschiedlicher Genauigkeit treu, bisweilen in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Savigny. Auch das strenge oder billige Recht wird erörtert, weiterhin die Frage, ob die Analogie nicht ein Drittes sei, ein Phänomen zwischen Auslegung und Anwendung; und es erscheint die Spannung zwischen Richterbindung und Verbot der Rechtsverweigerung. Eine solche systematische Lektüre hätte namentlich neuere Forschungsergebnisse zur Rechtsquellenlehre der
103 Savigny, System I, S. 293. 104 Savigny, System I, S. 292 f. Zu der Frage, was der Rekurs auf den Gedanken rechtspolitisch bedeute, s. nochmals Rückert (Fn. 65). 105 Vgl. nur Chanos, Begriff und Geltungsgrundlagen der Rechtsanalogie im heutigen juristischen Methodenstreit (1994), S. 21 f. 106 Zu Frankreich und Italien s.u. V., VI. 107 Daß hinter diesem Schlagwort um die Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist keine kohärente Theorie steht, zeigt Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 224 f. 108 Die Quellen legen hier eine gewisse Vorsicht nahe, wie beispielsweise von Keller durchaus sah: Pandekten. Aus dem Nachlasse des Verf. hrsg. von Emil Friedberg (1861) § 14, S. 26 Fn. 1 (zu D. 33,10,7,2; Cels. 19. dig.). Weniger vorsichtig sind dann manche Stimmen kurz nach Erlaß des BGB. Bei Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte (2. Aufl. 1906), S. 85, steht der schöne Satz: „Wenn es sich um die Auslegung von Willenserklärungen des Gesetzgebers handelt, so spricht man von ausdehnender Auslegung und von Analogie (…)“. Für ein Beispiel ausführlicher Begründung dieser Parallelität vgl. Hölder, Kommentar zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1900), Einl. S. 16 ff., 20 (gegen die Unterscheidung von ausdehnender Auslegung und Analogie nach einer Wortsinngrenze); zu § 133, 299f. 109 Eine weitere mit der unsrigen verbundene Frage ist die, ob man die logische Auslegung auch bei grammatischer Eindeutigkeit, also immer verlangt. Das bejahen von den im Folgenden Zitierten etwa Baron und Dernburg. Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
Pandektenwissenschaft und zu den realen historischen Grundlagen des Schlagworts von der „Begriffsjurisprudenz“ 110 beizuziehen.
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Die von Savigny postulierte Art der Trennung zwischen Analogie und Auslegung vertritt auch Göschen111; hingegen läßt Erxleben112 eine Berichtigung des Wortinhalts zu113 und hebt eine der römischen Lehre von der Auslegung der Rechtsgeschäfte114 entlehnte Formulierung hervor, die auch bei Puchta115 später eine prominente Position einnimmt: „Und läßt sich zwar die Abweichung des Wortsinns von dem Willen des Gesetzes sicher erkennen, ist aber dieser Wille im Inhalt des vorhandenen Quellencomplexes nirgends in solcher Weise zum Vorschein gekommen, daß er rechtlich berücksichtigt werden kann, so gilt das Wort des Gesetzes nicht, weil es dem Willen des Gesetzgebers nicht entspricht, eben so aber auch der Wille nicht, weil er entweder überall nicht oder doch nicht in genügender Weise objectiv erkennbar geworden ist, und kann folgeweise das Gesetz selbst keine Anwendung finden.“ 116
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Ebenso bleiben bei der überkommenen Einteilung der Auslegungsformen und der Zulässigkeit einer „ändernden“, „korrigierenden“ usw. Auslegung Mühlenbruch117, Arndts118 und Dernburg 119. Weitere Mittelpositionen finden sich etwa bei Baron120, Brinz 121 und Vangerow122. Selten nur wird das Wortlautproblem übergangen123.
110 Vgl. nur Haferkamp und Henkel (jeweils: Fn. 85); Rückert, Rechtsgeschichte 2005, S. 122– 139, 127–138. 111 Vorlesungen über das gemeine Civilrecht von Göschen. Aus dessen hinterlassenen Papieren hrsg. von Erxleben, Erster Band (1838) §§ 20, 22 (S. 67–70, 75– 80). Bemerkenswert ist, daß Göschen nur in diesem Punkte Thibaut kritisiert (S. 69 f.); generell wird das überkommene Schema der Auslegungsformen ausführlich referiert, aber punktuellen Einwänden gegenübergestellt. 112 Gegenüber der auf Göschens Vorlesungen zurückführenden Darstellung (vorige Fn.) deutlich verändert; Erxleben, Einleitung in das römische Privatrecht (1854) § 14 (S. 50–56). 113 Wie vorige Fn., S. 53. 114 D. 34,5,3 (Paul. 14. quaest., Text nach Mommsen/Krüger): In ambiguo sermone non utrumque diximus, sed id dumtaxat quod volumus. itaque qui aliud dixit quam vult, neque id dicit quod vox significat, quia non vult neque id quod vult, quia id non loquitur. Zur ambiguitas vgl. in der neueren Romanistik zuletzt Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen, 1998, 683–693; monographisch Krampe, Die Unklarheitenregel, 1983; ders. SavZRG – Rom. Abt. – 1983, 185–228; neuestens Staffhorst, Die Teilnichtigkeit von Rechtsgeschäften im klassischen römischen Recht (2006) S. 89. 115 Unten Rn. 57 f. 116 Erxleben, Einleitung in das römische Privatrecht (1854), S. 54. 117 Mühlenbruch’s Lehrbuch des Pandecten-Rechts (…), 4. Aufl. hrsg. von Madai, Erster Theil (1844), § 53, S. 129 ff. (authentische, Usual- und doctrinelle Interpretation); § 58, S. 136 ff. (grammatische Interpretation als Grundlage, dem entschiedenen Willen des Gesetzgebers gegenüber aber nachrangig); jeweils ausgehend von der Notwendigkeit, dunkle Stellen auszulegen; vgl. auch § 60 (S. 139 ff.) zur grammatischen Auslegung, § 64 (S. 147 f.) zur Analogie; letztere in der Bearbeitung von Madais auch unter Verweis auf Savigny erläutert. 118 Arndts (später: A. Ritter von Arnesberg), Lehrbuch der Pandekten, 6. Aufl. 1868 (vgl. noch die 10. und 11. Aufl., 1879/1883, jeweils besorgt von Pfaff und Hofmann), § 7, S. 8. Savignys Hermeneutik wird gleichwohl in Bezug genommen: § 6 Anm. 4 (S. 7 in der 6. Aufl.). 119 Dernburg, Pandekten, Erster Band (1884; vgl. von den weiteren Auflagen noch die 2. von
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
So läßt sich die Hauptlinie der frühen Pandektenwissenschaft möglicherweise dahingehend lesen, Ergebnisse jenseits des Wortsinns seien zwar möglich, aber nicht mehr als Auslegung, sondern als systemgetragene Analogie – dies jedoch nur solange, als nicht die neuerliche Erweiterung des Auslegungsbegriffs (soweit man hier eine echte Zäsur zwischen frühem und spätem Savigny sehen will) eine solche Unterscheidung
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1888), §§ 34f., 38, S. 73 ff., 84 f.: Dernburg argumentiert nicht zuletzt aus dem Geltungsgrund des jeweils angewandten Rechts; Auslegung nach dem Sinn entspreche der aequitas, solche nach dem Wort dem ius strictum; extensive Auslegung sei unterstellte Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens, Analogie neues Recht. Ausdrücklich wendet sich Dernburg freilich gegen Windscheids (unten näher zu besprechende) Vorstellung, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeintlichen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigiren“ (S. 77, vgl. Fn. 11; etwas milder die 2. Aufl. von 1888, S. 77, unter Hinweis auf Kohler, und unverändert die 7. Aufl. 1902 sowie die 8. von 1911, fortgeführt von Sokolowski). Bei der Analogie wird namentlich der Systemgedanke betont (S. 84). Baron, Pandekten (3. Aufl. 1879, vgl. auch die 9. Aufl. 1896) § 6, S. 15–19: Man solle den Begriff „auslegen“ verwenden, weil „interpretieren“ römisch auch die Analogie umfasse; grammatische und logische Auslegung (diese bezogen auf Geschichte, Savigny, System I und Zweck der Normen) seien stets zu verbinden, die logische Auslegung finde also immer statt, und im Konfliktfall setze sich die logische als „Prüfstein der grammatischen“ durch. Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erster Band (2. Aufl. 1873) §§ 28 ff., 32 (S. 117–123, 124– 129): Unzweideutige Gesetze auszulegen sei „bloße Schularbeit“, die Einteilung in grammatische und logische Auslegung eine „Vermengung der Auslegung und Anwendung, dazu von Anlaß und Mittel“; die (sogenannte) extensive Auslegung sei analoge Rechtsanwendung, die restriktive Korrektur (S. 119), letztere von der Auslegung unterschieden und ausnahmsweise bei einem „logischen Fehlgriff“ des Gesetzgebers zulässig (S. 122 f.). Hinsichtlich der analogischen Schlußfolgerung (Interpretation, nicht Auslegung) betont Brinz die Generalisierung des analog anzuwendenden Satzes gegenüber der bloßen Ähnlichkeit; nicht erfaßt sind der absichtlich (dann arg. a contrario) und der versehentlich (dann Korrektur) zu eng gefaßte Satz; den Begriff der Lücke lehnt Brinz ab (S. 127 ff.). von Vangerow, Leitfaden für Pandekten=Vorlesungen, Erster Band (1848; vgl. auch Lehrbuch der Pandekten, Erster Band, 7. Aufl., Neuausg., 1876, gleiche Paragraphenzählung), §§ 24 f., S. 37–44: Thibaut fasse die Auslegung zu weit, Hufeland zu eng; maßgeblich sei der Wille des Gesetzgebers; die Auslegung beginne bei der grammatischen, wenn aber der wirkliche Wille aus den Worten des Gesetzes nicht ermittelbar sei, dann komme man zur logischen; hier läßt Vangerow neben der deklaratorischen und restriktiven die extensive zu, wenn der Gesetzgeber sich „ungenauer Weise zu eng ausgedrückt“ habe; hingegen sei ein „von dem möglichen Wortsinn ganz verschiedenes Resultat“ nicht zulässig (S. 42, 40). Gegen Hofacker (nur für die interpretatio extensiva sei ein gleicher, für die Analogie hingegen ein lediglich ähnlicher Gesetzesgrund zu verlangen) läßt Puchta die Analogie nur bei Gleichheit der Gründe zu (S. 43). Savignys Vier-Elemente-Lehre hält Vangerow mit einigen anderen für überflüssig, weil logisches, historisches und systematisches Element nichts anderes seien als logische Auslegung im überkommenen Sinne (7. Aufl. S. 51). Nur Andeutungen finden sich bei Keller, Pandekten (1861) – der übrigens in der Bestimmung der Auslegungsformen als grammatisch, logisch, systematisch und historisch strikt Savigny folgt und die rechtspolitische Skepsis gegenüber der Richterfreiheit erwähnt, S. 26 f. –; ebensowenig festzulegen ist die (gründlich überarbeitete) Neuauflage von Lewis (1866), vgl. § 15 S. 41.
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wiederum weniger dringlich erscheinen ließ 124. Wie sich dies im einzelnen zum Rekurs auf den „Willen des Gesetzgebers“ verhielt, wie dabei Methode und Rechtspolitik zusammenspielten, kann hier wiederum nicht vertieft werden, zumal dieser Wille in unterschiedlichem Maße durch personalisierende Formulierungen bezeichnet wurde, so daß bisweilen Assoziationen zur rechtsgeschäftlichen Auslegung aufkommen konnten125.
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Die weiteren Autoren des 19. Jahrhunderts fügen dem bisher Dargestellten wenig Neues hinzu. Das gilt selbst für Puchta. Er betont im Rahmen seiner Rechtsquellenlehre 126, für „das gesetzliche Recht“ sei „das bedeutendste Erkenntnismittel das Wort, in welches es gefaßt, die Urkunde, in welcher es niedergelegt ist“, und weiter: „(…) der Sinn muß aus den Worten genommen werden können, er muß diesen gemäß seyn, denn Gesetz ist der in Worten ausgesprochene Wille des Gesetzgebers. Würde sich ergeben, daß der Gesetzgeber etwas ganz anderes gewollt, als was er ausgesprochen hat, so würde sein Wille nicht gelten, weil er nicht ausgesprochen ist, und die Worte nicht, weil sie den Willen des Gesetzgebers nicht enthalten“ 127.
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Grammatische und logische Interpretation sind nach Puchta nicht trennbar 128. Die antipositivistische Grundhaltung ist mit Händen zu greifen, und so zeigt sich:
124 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 239 f. mwN zum zeitgenössischen Meinungsbild; auch zu Puchta (sogleich). 125 Vgl. nochmals Schröder, Recht als Wissenschaft, 2001, S. 224 f. Ausdrücklich parallelisiert etwa Brinz (Lehrbuch der Pandekten, 1873) § 29, S. 120. Ohne solche Parallelsetzung, gleichwohl personalisierend, behandelt Regelsberger, Streifzüge im Gebiet des Zivilrechts (in: Festgabe der Göttinger Juristen-Fakultät für Jhering, 1892, Ndr. 1970), S. 52 die Frage (im Zusammenhang der analogen Ausdehnung von ius singulare, auch in Auseinandersetzung mit Savigny): Das Ergebnis der ausdehnenden Auslegung sei vom „Schöpfer des Gesetzes als Inhalt gewollt (…) Sie weist nach, dass bloss eine Unvollkommenheit im Ausdruck vorliegt. Die Analogie geht davon aus, dass sich der Gesetzgeber der grösseren Tragweite seiner Anordnung nicht bewusst war und sie folglich nicht gewollt hat. Jene schreitet nur über den Buchstaben, diese über den Willen des Gesetzes hinaus. Darum ist Analogie Anwendung, nicht aber Auslegung des Gesetzes.“ 126 Zu dieser zuletzt Haferkamp und Henkel (jeweils wie Fn. 85). Angesichts der Rolle, die Puchta Gewohnheitsrecht und Wissenschaft zuwies, bereitete es ihm selbstverständlich keine Probleme, dem geschriebenen Gesetz relativ enge Schranken zu ziehen. Deswegen ist seine Aussage mit Vorsicht zu verwerten: Für ihn waren Auslegung und Analogie des postiven Rechts eben nicht die einzigen Mittel zur Rechtsgewinnung (vgl. auch die folgenden Fn.). 127 Cursus der Institutionen von Puchta, Erster Band (1841) S. 40 f.; dort S. 37 die drei Rechtsquellen: unmittelbare Volksüberzeugung, Gesetzgebung, Wissenschaft. Die Wissenschaft erscheint hier nicht als (bloße) Quelle von Erkenntnissen über mögliche Analogien. Vielmehr: „Auch das Gewohnheitsrecht und das gesetzliche, in den Rechtssätzen nämlich, die einer inneren Begründung fähig sind, müssen diese durch die Wissenschaft erhalten; wir werden durch diese Behandlung erst, wodurch wir uns der inneren Gründe bewußt werden, des richtigen Verständnisses des unmittelbaren Volksrechts und der Gesetze sicher“ (S. 45). 128 Puchta (Cursus der Institutionen I, 1841), S. 42, freilich mit der Einschränkung, daß die sens clair-Regel richtigerweise besage, bei Identität von Wortlaut und Sinn dürfe von dem so gewonnenen Ergebnis nicht abgewichen werden.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
Auch und gerade wer in der Pandektistik nicht an das Gesetz als primäres Mittel rechtlicher Steuerung glaubte 129, beschränkte sehr wohl die Tragweite der Wortlautauslegung. Wie Puchta sich genau die Analogie vorstellte, namentlich im Verhältnis zum System- und zum Konsequenzgedanken, wird in der Spezialliteratur noch erörtert 130. Josef Kohler behält die Kategorien der restriktiven und extensiven Auslegung bei und zieht dem Wortlaut weite Grenzen131, unterscheidet Auslegung im allgemeinen aber scharf von der Analogie als „Neubildung auf Grund von Rechtsprincipien, welche ihrerseits allerdings aus dem Gesetze abstrahirt sind“ 132.
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Insgesamt jedoch schlägt jedenfalls seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Pendel gegenüber jener Wortlautorientierung zurück, die man in der Methodenvorlesung angedeutet sehen mag. In Savignys „System“ finden wir schon wieder einen recht großzügigen Umgang mit den Grenzen der Auslegung 133; und so bleibt es im wesentlichen bis zu Windscheid, in dessen Pandekten eine wirklich exakte Grenzziehung nicht auszumachen ist. Einiges spricht dafür, eben in der Zwiespältigkeit der Auslegungslehre des späten Savigny einen maßgeblichen Grund dafür zu sehen, warum sie nicht vollständig rezipiert wurde 134 und warum seine Großzügigkeit im Umgang mit dem Gesetzeswortlaut eher Anklang fand als sein Begriff der Interpretation135 – in anderen Worten: warum Savigny auch in Deutschland hier nicht so stark prägen konnte wie in vielen anderen Feldern.
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Bei Windscheid finden wir, wie so oft, die meisten Traditionen der Pandektenwissenschaft gebündelt, freilich unter geringem argumentativem Aufwand und in geradezu auffälligem Bemühen darum, nichts Neues zu schaffen: Die grammatische Auslegung ist die „auf die Sprachgesetze gegründete“, ihr steht die logische gegenüber 136. Die logische Auslegung hat eine gegenüber der grammatischen berichtigende Funktion (als einschränkende, ausdehnende, abändernde Interpretation). Hier nun sieht sich
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129 Vgl. noch den Hinweis bei Puchta (Cursus der Institutionen I, 1841), S. 40, es sei „eine bloße Illusion, wenn man geglaubt oder behauptet hat, das Recht bloß dadurch, daß es in die Form von Gesetzen gebracht wird, gewisser, unbestrittener, und für Jedermann erkennbarer zu machen“. 130 Vgl. Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004), S. 86–106 (die Aussagen S. 99 zum antiken Juristenrecht, in dessen Tradition Henkel Puchta sieht, S. 97 ff., wären weiter zu diskutieren; ebenso S. 158 zur Regel ambiguitas contra stipulatorem). Umfassend auch zum Kontext Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004), S. 205, 222–230, 306 ff., 416 ff., 427– 433; 361–368 u. ö. zur zentralen Abweichung von Savigny: Puchta privilegierte den Willen des historischen Gesetzgebers. 131 Kohler, Ueber die Interpretation von Gesetzen, in: GrünhutsZ 13 (1886) 1, 42– 47. 132 Kohler (wie vor), S. 48 f.; sodann (bis S. 56) zu fehlerhaft gezogenen Analogien. 133 Oben Rn. 33ff., 38. 134 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 222. 135 Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 223. 136 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 51; 54: „Eine jede Auslegung, welche über das durch Anwendung der Sprachgesetze gefundene Resultat hinausgeht, pflegt man eine log i s c h e zu nennen“. Christian Baldus
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Windscheid der zeitgenössischen Streitfrage gegenüber, ob eine abändernde Auslegung überhaupt zulässig sei, wiewohl die Worte des Gesetzgebers sich mit dem Sinn nicht deckten; und er greift Puchtas oben erwähnte Formulierung 137 auf, um eine nicht ganz klare Mittelposition einzunehmen: „Nur muß, was die abändernde Auslegung angeht, die Beschränkung hinzugefügt werden, daß auch sie, in gleicher Weise wie dieß die einschränkende und ausdehnende Auslegung thut, den Ausdruck des Gesetzgebers immer nur in dieser oder jener einzelnen Beziehung verbessern kann; entsprechen die von dem Gesetzgeber gebrauchten Worte dem Sinne, welchen er hat ausdrücken wollen, überhaupt nicht, so gilt zwar nicht, was er gesagt hat, weil er es nicht hat sagen wollen, aber auch nicht, was er hat sagen wollen, weil er es nicht gesagt hat.“ 138
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Was „überhaupt nicht entsprechen“ bedeutet, sagt Windscheid nicht. Er führt aber im Anschluß aus, „die höchste und edelste Aufgabe der Auslegung“ sei es, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen“; das sei Auslegung und als solche zulässig, weil nur ausgesprochen werde, was der Gesetzgeber „selbst ausgesprochen haben würde, wenn er auf die Punkte, welche er sich nicht zum Bewußtsein gebracht hat, aufmerksam geworden wäre“, immer unter der Voraussetzung, daß „in der vom Gesetzgeber abgegebenen Erklärung, wenn auch kein vollständig entsprechender Ausdruck seines eigentlichen Gedankens, doch jedenfalls ein Ausdruck überhaupt gefunden werden kann“139. Die hypothetische Erwägung zum „Bewußtsein“ des Gesetzgebers jedenfalls gleicht auffällig derjenigen, die Savigny im „System“ bekämpft hatte 140.
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Daß dieses Vorgehen von der zuvor beschriebenen logischen Auslegung nicht klar abzugrenzen sei, sagt Windscheid selbst141. Daß man es nach anderer Meinung auch als (Gesetzes-)Analogie bezeichnen könne142, referiert er ohne weitere Kritik als „Ausdehnung des Gesetzes wegen Gleichheit des Grundes“, den man auch Prinzip nennen könne 143. Dann erst und getrennt hiervon, nämlich bei der Rechtsanalogie, erscheint die Gesetzeslücke als Analogievoraussetzung 144.
137 Zitiert ist Puchta hier nicht. 138 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 53. Naheliegenden Verbindungen zur Rechtsgeschäftslehre ist hier nicht nachzugehen. 139 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 54. Wiederum stellt sich die Frage nach rechtsgeschäftlichen Parallelen (etwa im Sinne einer „Andeutungstheorie“). 140 Oben Rn. 38 f. 141 Wie vor, S. 55: „(…) die Frage: hat der Gesetzgeber nicht gesagt, was er hat sagen wollen, oder hat er nicht gedacht, was er hat denken wollen? wird sehr häufig nicht mit Sicherheit beantwortet werden können.“ In Fn. 2 folgen Beispiele. 142 Die Rechtsanalogie bespricht er im folgenden § 23. 143 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 56. 144 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 23, S. 57. Das späte 19. Jahrhundert streitet gerade im hier berührten Feld intensiv über Begriffe; vgl. im Zusammenhang des ius singulare über den „ganz unglückliche[n] Ausdruck ,Gesetzesanalogie‘“ Eisele JhJb 1885, 119, 124 f.; der Angriff richtete sich vor allem gegen Wächter, dessen Gegenüberstellung von Rechts- und Gesetzesanalogie sich jedenfalls begrifflich durchsetzen sollte (vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft (2001) S. 255).
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
3.
Grundlinien
Lassen sich Grundlinien identifizieren? Die überkommenen Kategorien von grammatischer und logischer, deklaratorischer, extensiver und restriktiver Auslegung werden bei den meisten Autoren beibehalten. Savignys vier Kategorien werden nur von einigen Autoren rezipiert, von anderen ausdrücklich abgelehnt und von wieder anderen in das alte Schema eingebaut. In der Frage, ob ein eindeutiges Ergebnis der Wortlautauslegung die logische entbehrlich mache oder gar verbiete, nimmt die Zustimmung zu Savignys These vom Miteinander aller Methoden im Laufe der Zeit zu, zumeist unter Hinweis auf die begrenzte Leistungsfähigkeit der Sprache. Das ist ein weiteres Indiz für die Unsicherheit in der Wortlautfrage: Wo präzise Kriterien nicht gewonnen werden können, flieht der Jurist gern in eine „Gesamtbetrachtung“. Die Abgrenzung zwischen ausdehnender Auslegung und Analogie wird oft diskutiert, orientiert sich aber nur bei wenigen an einer Wortlautgrenze. Eher wird zunächst abgehandelt, was extensive Interpretation sei, und sodann die Analogie als Ähnlichkeitsschluß eingeführt. Verbreitet ist die Formulierung, bei der Analogie gehe der Rechtsanwender auch über den Willen des Gesetzgebers hinaus. In einem Wort: Es zeigt sich ein dogmatisch nicht überzeugend bewältigtes Nebeneinander von ausdehnender Auslegung und Analogie.
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Die Vorstellung, eine strenge und rechtssichere Abgrenzung zwischen beiden Phänomen sei prägend für die deutsche Rechtskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, trifft also nicht zu; auch nicht für jene Mehrheitsströmung, die es ausdrücklich ablehnte, den Richter im Sinne der Freirechtsschule weithin von der Normbindung freizustellen.
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Die strenge Betonung des Unterschiedes von Auslegung und Analogie setzt sich erst unter dem BGB wirklich durch, und auch dies nicht ohne Debatten. Die frühen Lehrbücher und Kommentare können an dieser Stelle ebensowenig verfolgt werden 145 wie der Beitrag der Freirechtsschule zu unserem Problem. Das RG, um nur die frühe Praxis kurz zu skizzieren, hat sich gelegentlich zum Problem geäußert, schon vor
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145 Hier besteht Forschungsbedarf, ebenso wie zu den zeitgenössischen Versuchen, die dogmatischen Umbrüche von 1900 durch vergleichende Untersuchungen zu bewältigen, aber auch zu beeinflussen. Dazu ist am Heidelberger Institut eine Datenbank im Aufbau. Die Lehrbuchliteratur reflektiert die kodifikationsbedingten Veränderungen durchaus, ändert deshalb aber nicht notwendig ihre methodischen Kategorien; vgl. statt aller Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts (1900), S. 96–108. Noch Enneccerus schreibt, nach Warnungen vor „Wortinterpretation und Formalismus“ (S. 113): „Die Analogie unterscheidet sich begrifflich scharf von der ausdehnenden Auslegung. Diese stellt nur den Gedanken des Gesetzes gegenüber dem zu engen Ausdruck dar; die Analogie dagegen entwickelt den Gedanken weiter, sie ist eine Fortbildung des Rechts in der vom Zwecke eingeschlagenen Richtung. Im Einzelfalle wird freilich oft zweifelhaft bleiben, ob es sich noch um ausdehnende Auslegung oder schon um Analogie handelt“ (Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Einleitung, Allgemeiner Teil, 12. Bearbeitung 1928, S. 117). Die Kommentatoren beschränken sich bisweilen im wesentlichen auf allgemeine Bemerkungen und Verweisungen (so die Einleitung zum Planck’schen Kommentar, 4. Aufl. 1913, S. XLIVff.). Christian Baldus
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1900. So lehnt RG, 28.4.1882, II. 135/81, RGZ 7, 62 (64) die Anwendung einer patentrechtlichen Norm auf einen nicht geregelten Fall ab; nicht unter Hinweis auf die Wortlautgrenze, sondern auf den Ausnahmecharakter der Norm. RG, 9.10.1888, III. 94/88, RGZ 21, 185 (187) verlangt ohne weitere Problematisierung für die Gesetzesanalogie „die wesentliche Gleichheit des vom Gesetze entschiedenen Falles (…) mit dem, auf den dasselbe zur analogen Anwendung kommen soll“. RG, 2.2.1889, I. 332/88, RGZ 24, 45 (49 f.) betrifft Konkursrecht, also eine relativ junge Norm gesetzten Rechts, und hier die Frage einer Gleichstellung von Sicherungsübereignung und (geregeltem) Pfandrecht, also ein Umgehungsproblem; das RG äußert sich in untypischer Breite und Grundsätzlichkeit zu den Grenzen gesetzlicher Konkretisierung 146, zieht hieraus aber keine abstrakten Schlüsse für die Technik der analoge Rechtsanwendung.
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Savignys Gedanken werden mithin erst im 20. Jahrhundert in gewisser Weise zu Ende gedacht (wie es auch in anderen Feldern geschehen ist); mit allen Folgeproblemen, deren bekanntestes die Frage ist, wie denn eine – einmal akzeptierte – Wortlautgrenze rechtslogisch und rechtspraktisch zu bestimmen sei. Wo und wie genau möglicherweise die vorsavigny’sche Hermeneutik fortwirkt, ist hier nicht zu behandeln.
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Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert
Unter dem Code civil kam es zunächst zu einer Neuorientierung der Rechtswissenschaft. Man spricht traditionell von der école de l’exégèse, welche das gesamte 19. Jh. beherrscht und einem sowohl ahistorischen als auch antisystematischen Legalismus gehuldigt habe. An der Richtigkeit dieses Bildes bestehen mittlerweile erhebliche Zweifel 147; für unsere Zwecke ist jedenfalls wichtig, daß in die Hochzeit der exegeti146 „Es ist eine für den Gesetzgeber nicht erfüllbare Aufgabe, jedes allgemeine Gesetzesprinzip mit solcher Klarheit in einem Satze auszusprechen, daß sich aus diesem Satze durch einfache Schlußfolgerung die Konsequenzen für alle besonders gearteten, von dem betreffenden Prinzipe beherrschten Fälle entwickeln lassen. Es ist ferner nicht die Aufgabe des Gesetzgebers, für jedes sich gestaltende Lebensverhältnis eine besondere Norm zu setzen. Es ist schließlich nicht des Gesetzgebers Sache, an alle juristisch-technisch möglichen Formen zu denken, vermöge welcher (einer Rechtsprechung,welche an dem Buchstaben des Gesetzes haftet, gegenüber) die Ziele des Gesetzes vereitelt werden könnten. Es ist vielmehr Sache der Jurisprudenz und vor allem Pflicht der (die Jurisprudenz mit unmittelbar in die Lebensverhältnisse eingreifender Kraft bethätigenden) Judikatur die (nicht in einer allgemeinen Norm konzentriert in dem Gesetze ausgesprochenen) Grundprinzipien des Gesetzes zu Tage zu fördern und auf die im Leben hervortretenden, im Gesetze nicht besonders hervorgehobenen, unter das betreffende Prinzip fallenden Fälle anzuwenden, namentlich aber nich[t] zu dulden, daß im öffentlichen Interesse wurzelnde Rechtsprinzipien in ihrer lebendigen Wirkung, sei es absichtlich vereitelt, sei es auch nur objektiv gelähmt werden durch Rechtsakte, welche (trotz Verschiedenheit in der juristisch-technischen Form) im wesentlichen dasselbe sach l i c h e Resultat (in bezug auf die bestimmten für die Erreichung der Ziele des Gesetzes relevanten Beziehungen für das praktische erzeugen, gegen welche (…) das Gesetz Verbote gerichtet hat (…)“. 147 Grundlegend Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (1991), aktualisiert
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
schen Schule ein zentraler Transfer aus der deutschen Rechtswissenschaft fällt, nämlich die Übersetzung des Handbuches zum französischen Zivilrecht von Zachariä von Lingenthal durch Aubry und Rau (1. Auflage 1838), aus der Schritt für Schritt das stilprägende Lehrbuch der Epoche wurde. Zachariä hatte auch im Handbuch im wesentlichen die seinerzeit (jedenfalls vor Savigny) üblichen Kategorien übernommen: grammatische und logische Auslegung, letztere in der bekannten Dreiteilung148. Er grenzt dann zwar formal von der Analogie ab, nicht aber nach dem Kriterium einer Wortlautgrenze: „Ausdehnende Auslegung“ soll auch die Anwendung des Gesetzes seinem Grunde nach, über den „Wortverstand“ hinaus, sein; doch wird begrifflich unterschieden 149:
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Ein Anderes ist es, die Gesetze auslegen, ein Anderes, aus ihnen die Folgerungen ziehn, die sich aus denselben entweder unmittelbar oder mittelst eines Schlusses ableiten lassen; – so oft auch Beides verwechselt worden ist. (…) Der Schluss der Analogie. Was die Gesetze für einen bestimmten Fall verfügen, ist auch für andere diesem ähnliche Fälle anwendbar. Jedoch wird zur Anwendbarkeit dieses Schlusses nicht nur eine vollkommene Aehnlichkeit der Fälle, sondern auch das vorausgesetzt, dass die Verfügung nicht von den allgemeinen Grundsätzen des Rechts (nicht a jure communi) abweiche.
Es folgt eine Auflistung der weiteren „Schlüsse“ (argumentum a contrario, „a majori ad minus“ usw.)150. Diese Formulierung spiegelt in der Sache noch die Auslegungslehre des 18. Jahrhunderts: Analogie als ein Topos unter vielen.
und synthetisiert in: ders., RTD civ. 2000, 1–24; weitere Nachweise bei Kaiser, Rückwirkender Vermögensübergang? (2005), S. 169 f., namentlich: Gläser, Lehre und Rechtsprechung im französischen Zivilrecht des 19. Jahrhunderts (1996). Klassische Darstellung in deutscher Sprache: Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung I (1975) ab S. 425; S. 435ff. die These, es sei die positivistische Tradition Frankreichs gewesen, die eine Rezeption pandektistischer Neuerungen verhindert habe; S. 453: nach der école [de la libre recherche] scientifique „gelten die im kontinentalen Recht, insbesondere auch im deutschen, klassischen methodischen Regeln der ausdehnenden und einschränkenden Auslegung, der Analogie und der Restriktion“; S. 464: Analogie als „allgemeines Denkverfahren der libre recherche“, vgl. noch S. 466; 471 f.: Der späte Gény habe den pandektistischen Auslegungskanon im wesentlichen übernommen, die Genealogie des Kanons bedürfe näherer Erforschung; S. 494ff. zum Verhältnis Ihering/Gény. – Die Jubiläumsliteratur zum bicentenaire 2004 ist unter methodengeschichtlichen Aspekten noch nicht ausgewertet; Sammelbesprechung zu dieser Literatur von Andrés Santos in Vorbereitung für GPR 2007. 148 Das kann hier ebensowenig vertieft werden wie einzelne Berührungspunkte mit Savigny. Auch Zachariä begreift die Auslegung als ars: „Die Auslegung führt den Nahmen einer Kunst, weil sie sich unmittelbar auf die Praxis bezieht“ (Versuch S. 5). – Savigny seinerseits verweist zum französischen Recht auf das Verbot des déni de justice (art. 4 CC) und problematisiert insbesondere die zeitgenössische Diskussion um die Kompetenzgrenzen der Cour de Cassation: Savigny, System I, S. 326 ff. (dies wird später Jhering aufgreifen, vgl. Rückert, Rechtsgeschichte 2005, S. 122–139, 137 f.); zu Abweichungen im rheinischen Recht 328 f. Zum Problem und seinem Hintergrund, dem Verbot des arrêt de règlement (art. 5 CC), jetzt einige Hinweise bei Höltl, Lückenfüllung, S. 155 ff., 198 ff. 149 Zachariä, Handbuch des Französischen Civilrechts. Erster Band (4. Aufl. 1837), S. 85. 150 Die anderen in Stichworten (vgl. S. 86 f.): 2. exceptio firmat regulam in casis non exceptis. exceptio est strictissimae interpretationis; 3. Strafgesetz als Ausnahme in diesem Sinne (in Christian Baldus
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In der Folgezeit bleibt die französische Fassung und dann Fortentwicklung von Aubry und Rau dicht an Zachariäs Vorgabe 151. Aubry et Rau übernehmen ab der ersten Auflage 152 und auch noch 1869 153 die Kategorien von grammatischer und logischer, erläuternder, ausdehnender und beschränkender Auslegung, wobei sie die anderen logischen Topoi in der Gliederung sogar noch näher an die Analogie heranrücken.
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Alldem ist in der ersten Auflage die sens clair-Regel vorgeschaltet 154, in späteren auch die Unterscheidung von gesetzgeberischem Gedanken und (präzisem, aber sachlich unvollkommenem) Ausdruck: Auslegung gebe es nicht nur bei unklarem Normtext, sondern auch, wenn „cette rédaction, quoique présentant un sens nettement déterminé, n’exprime pas exactement la pensée du législateur“ 155. Damit kann die Wortlautgrenze, obwohl es einen sens clair geben soll, auch eine Trennung von Auslegung und Analogie nicht leisten. „Il ne faut pas confondre, comme on le fait si souvent, l’interprétation de la loi avec les conséquences qui en découlent, soit immédiatement, soit par le moyen de l’argumentation. Les principaux raisonnemens à l’aide desquels on fait ressortir les conséquences d’une loi sont: 1° Celui de l’analogie. Les règles que la loi n’a établies que pour un cas déterminé, sont applicables à tous les cas analogues ou semblables, pourvu qu'il s’agisse de dispositions qui ne soient pas contraires aux principes de droit commun.“ 156
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dubio pro reo, Fn. 8); 4. arg. e contrario; qui dicit de uno, negat de altero; 5. arg. a maiore ad minus und umgekehrt; 6. ubi lex non distinguit, neque interpretis est distinguere. Die deutsche Ausgabe entwickelt sich geringfügig weiter: Als einen schlechten Ausdruck für die Anwendung des Gesetzes seinem Grunde nach bezeichnet Zachariä-Crome in der 8. Aufl. (S. 129) die „Analogie im weiteren Sinne“; die Analogie hingegen sei einer der Schlüsse, die „mangels besonderer unzweideutiger Verfügungen“ in Betracht kämen, und sie verlange vollkommene Ähnlichkeit der Fälle sowie Nichtabweichung von allgemeinen Grundsätzen. Soweit ersichtlich, war noch keine Differenzierung in diesem Sinne in der 7. Aufl. angelegt (diese hrsg. von Dreyer, Erster Halbband, 1886, vgl. S. 107). Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier (1839). Traduction par Aubry et Rau (1839) § 40, S. 79: „Il ne faut pas confondre, comme on le fait si souvent, l’interprétation de la loi avec les conséquences qui en découlent, soit immédiatement, soit par le moyen de l’argumentation. Les principaux raisonnemens à l’aide desquels on fait ressortir les conséquences d’une loi sont: 1° Celui de l’analogie. Les règles que la loi n’a établies que pour un cas déterminé, sont applicables à tous les cas analogues ou semblables, pourvu qu’il s’agisse de dispositions qui ne soient pas contraires aux principes de droit commun.“ Es folgt (bei Zachariä noch als eigener Punkt abgetrennt, s.o.) übergangslos die Regel exceptio firmat regulam …, sodann als Nr. 2 das arg. a contrario. Aubry/Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4. Aufl. 1869) § 40, S. 130; und nahezu unverändert noch die Bearbeitung von Bartin, Droit civil français, t. premier (6. Aufl. 1936) § 40, S. 244 f. Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier (1839). Traduction par Aubry et Rau (1839) § 40, S. 78, in zurückhaltender Formulierung: Es habe schon (logische) Auslegung stattzufinden, aber „Les expressions de la loi sont-elles claires, on ne doit pas s’écarter du sens qu’elles présentent.“ Aubry/Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4. Aufl. 1869) § 40, S. 129. Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier (1839). Traduction par Aubry et Rau (1839) § 40, S. 79.
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§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
Soweit hier also Abweichungen vom Modell Zachariäs festzustellen sind, gehen diese jedenfalls nicht in die Richtung einer Abgrenzung nach dem Wortlaut, so wie sie zur gleichen Zeit rechts des Rheins immerhin denkbar geworden war.
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Als sich in Frankreich eine freiere Auslegungsmethode durchsetzte, die von Raymond Saleilles und François Gény begründete école de la libre recherche scientifique, eine entfernte Verwandte der Freirechtsschule 157, da postulierte diese neue Richtung ebenfalls keine Wortlautgrenze.
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„La plupart de nos auteurs français placent ces deux procédés [sc. analogie proprement dite und interprétation extensive de la loi] sur la même ligne. Or, cette confusion même décèle suffisamment, dans notre méthode traditionnelle, cette idée, résultant invinciblement de son postulat essentiel sur la plénitude a priori de la législation écrite (…), savoir que l’analogie ne peut être légitimée et pratiquée que comme un mode d’interprétation pure de la loi; idée, qu l’on expliquerait sans doute au moyen de la supposition, que le législateur, en consacrant une règle légale sur le fondement de telle raison juridique (ratio juris), aurait, par la même, approuvé toutes les conséquences de cette raison se retrouvent en d’autres cas; ce qui précisément correspond à l’induction fondamentale del’analogie.“158 „(…) raisonner par analogie du droit écrit, c’est emprunter à celui-ci un élément positif, que le jurisconsulte emploie, suivant les inspirations de sa pensée propre, pour le faire servir à des constructions indépendantes.“159
Vielmehr nahm Gény die Spätpandektistik für seine eigene Lehre in Anspruch: Auch die deutsche Wissenschaft habe die Lehre vom „caractère mixte“ der Analogie zwischen Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung weithin aufgegeben; auch sie begreife nunmehr das positivrechtliche System als „fait social“, für dessen Lückenfüllung der Normtext nur ein „objektiver Anhaltspunkt“ sei 160.
75
Das Ergebnis: In Frankreich vermochte sich eine strikte Richterbindung über die Wortlautgrenze auch später nicht zu etablieren, sehr wohl aber eine interprétation par analogie. Damit haben wir eine grundsätzliche Parallelität von deutscher und französischer Rechtsentwicklung im späten 19. Jahrhundert, die erst im 20. Jahrhundert abbricht, weil die deutsche Wissenschaft und Praxis – in Abwendung von Windscheid – nunmehr mit der Wortlautgrenze Ernst zu machen sucht. Zu diesem Zeitpunkt aber rezipierte Frankreich nicht mehr so viel deutsche Dogmatik, als daß jene neuerliche Wendung mitvollzogen worden wäre; und damit ging das Europa der Sechs methodologisch gespalten in die fünfziger Jahre. Eine Theorie der Wortlautgrenze freilich, die in irgendeiner europäischen Rechtsordnung in größerem Umfang historisch erprobt gewesen wäre, gab es nicht.
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157 158 159 160
Vgl. Fn. 147. Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif (2. Aufl. 1919), S. 308. Gény, wie vor, S. 314. Gény, wie vor, S. 312.
Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
VI. Überschneidungsbereiche 77
Die aufgestellten Thesen lassen sich dort überprüfen, wo pandektistische Theorie auf französischen Gesetzestext traf 161. Italien ist der historisch erste Überschneidungsbereich, der auch als erster nachkodifiziert hat, und zwar unter maßgeblichem Einfluß pandektistisch denkender Romanisten. Die Lehrbuchliteratur unterscheidet traditionell nach der Person des Interpreten interpretazione dottrinale, giudiziale, autentica; nach den Methoden interpretazione letterale (nach dem Wortlaut) und logica (nach der voluntas legis und unter Heranziehung von Geschichte und System); nach dem Ergebnis interpretazione dichiarativa, estensiva, restrittiva. Wir finden also ein recht getreues, wenngleich auch anhand neuerer Ansätze diskutiertes Abbild der gemeinrechtlichen, spätpandektistischen und dann französischen Doktrin. Die Analogie wird von der erweiternden Auslegung unterschieden, aber nach welchen Kriterien, ist kontrovers162.
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Die Gründe dafür, daß die italienische Theorie bei der Abgrenzung von Auslegung und Analogie nicht – wie in anderen Zusammenhängen – zu einer Synthese pandektistischen und romanischen Denkens gelangt, führen wiederum in die Rezeption der Pandektenwissenschaft: Der Wortlautansatz, so wird vertreten, hätte der kreativen Funktion im Wege gestanden, mittels derer es dem Richter ermöglicht werden sollte, gesellschaftliche Erwartungen an das Recht zu realisieren163. Freilich läßt sich beobachten, daß die Pandektenrechtsrezeption den ursprünglich dominanten französischen Einfluß auch in der Methodenlehre weit zurückgedrängt hat, so weit, daß zur Zeit der Überwindung der école de l’exégèse in Frankreich der Blick bereits primär nach Deutschland ging, Saleilles und Gény erst mit großer Verspätung aufgenommen wurden. In Italien wurde namentlich die – wie gesehen, für unser Problem ambivalente – Auslegungslehre Windscheids rezipiert, und diese hinderte den Reformgesetzgeber nicht daran, an der Freiheit zur „logischen Auslegung“ festzuhalten. Im einzelnen wird Forschungsbedarf konstatiert164. Wie die Entwicklung im einzelnen auch verlaufen sei: Die italienische Lehre neigt dazu, die Auslegung weit zu fassen, möglicherweise deshalb, weil sie zwar einiges an pandektistischer Dogmatik übernommen
161 Allgemein zu diesem – für das Europäische Privatrecht – sehr aufschlußreichen Überschneidungsphänomen der Tagungsband von Baldus und Müller-Graff (Hrsg.), Wege zur Konkretisierung von Generalklauseln: Was leistet die deutsche Wissenschaft vom Europäischen Privatrecht? (München 2006) sowie die Berichte zum Trentiner Kolloquium „Agere in rem – Eigentumsschutz in Kontinentaleuropa: Theorie und Praxis“ von 2004 (Tagungsband erscheint voraussichtlich 2007 oder 2008): Giebel, ERPL 2005, 603–609; Roland, ZEuP 2006, 199ff., Staffhorst, SavZRG – Rom. Abt. – 123 (2006), 533 ff. 162 Vgl. nur Majello, Interpretazione dei testi normativi, in: Bessone (a cura di), Istituzioni di diritto privato (7. Aufl. 2000), cap. IV, S. 41– 48 (42); Guastini, L’interpretazione dei documenti normativi, in: Trattato di diritto civile e commerciale già diretto da Cicu/Messineo/ Mengoni, continuato da Schlesinger (2004). 163 Vgl. Petrillo, La decisione giuridica. Politica, ermeneutica e giurisprudenza nella teoria del diritto di Emilio Betti (2005). 164 Vgl. ausführlich Alpa, La cultura delle regole (2000), namentlich S. 110–173.
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Christian Baldus
§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
hat, nicht aber die mit dem rechtspolitischen Hintergrund der deutschen Pandektistik durchaus vereinbare Sorge vor allzu großer Richterfreiheit. Für alle drei hier kursorisch betrachteten Rechtskulturen gilt: Eine Methodengeschichte, die systematisch die rechtspolitischen, vor allem verfassungspolitischen Auffassungen der einzelnen Autoren in Beziehung zu ihren rechtstheoretischen Grundannahmen setzt, und dies möglichst noch überprüft an einzelnen Privatrechtsfragen, ist bislang nur in Teilen geschrieben. Die Grundlagen hierzu werden in den letzten Jahren aber deutlich ausgebaut. Das läßt auch für die Möglichkeit hoffen, im nächsten Schritt Rezeptionsprozesse genauer zu verfolgen, um wenigstens für die wichtigsten kontinentalen Rechtsordnungen ermitteln zu können, welche historischen Verbindungen bis in die Gegenwart fortwirken und eine Art Substrat für den methodologischen acquis communautaire bilden. Daß eine solche genetische Betrachtung funktionell bedingte Entscheidungen des geltenden Gemeinschaftsprivatrechts als solche nicht präjudizieren kann, versteht sich; vielmehr muß eine historisch funktionell-vergleichende Betrachtung fragen, welche grundsätzlichen Rahmenbedingungen fortbestehen und welche sich geändert haben.
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VII. Folgerungen für das Gemeinschaftsprivatrecht Was sind nun die Möglichkeiten und Grenzen, welche die Rechtsgeschichte aufzeigen kann? Das läßt sich nur sagen, wenn man die Besonderheiten des Gemeinschaftsprivatrechts bestimmen kann. Es bedarf zwar wie jedes Element des Gemeinschaftsrechts einer Kontrolle der Kompetenzgrenzen auf methodischem Wege. Doch passen mindestens vier Paradigmen nicht, die für ein Zivilgesetzbuch des 19. Jahrhunderts selbstverständlich zugrundegelegt wurden und die in unterschiedlicher Weise für das Analogieproblem herangezogen zu werden pflegen. Alle vier Unterschiede folgen aus Struktureigenschaften des Europarechts; lediglich ihre mögliche Relativierung ist spezifisch privatrechtlich zu bestimmen.
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– Erstens stellt das Gemeinschaftsrecht kein prinzipiell geschlossenes System dar, sondern eine funktionelle Normierung zur Erreichung jener Ziele, die die EG als Zweckverband funktioneller Integration auf spezifisch privatrechtlichem Wege verfolgt. Noch existiert kein System des Gemeinschaftsprivatrechts, das den mitgliedstaatlichen vergleichbar wäre.
81
– Zweitens kennt die Gemeinschaft Funktionentrennung, aber keine Gewaltentrennung oder -teilung im mitgliedstaatlichen Sinne. Auch dies resultiert aus ihrem Charakter als Zweckverband. – Drittens ist ein „gesetzgeberischer Wille“, wie er mehr oder minder personalisierend auch in Ausführungen zu Auslegung und Analogie zu erscheinen pflegt, im Gemeinschaftsrecht noch schwieriger zu bestimmen als sonst 165. 165 Näher Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), im Druck. Allgemein auch zum Folgenden u. §§ 11, 22; namentlich zu Wortlaut und System § 17, Rn. 30–33, 41, 47–51. Christian Baldus
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1. Teil: Grundlagen
– Viertens wird das Wortlautproblem auf europäischer Ebene ganz anders praktisch als im Binnenraum der Mitgliedstaaten: Theoretisch sind alle Wortlaute gleichermaßen zu beachten, praktisch kann kein europäischer Rechtsanwender eine nennenswerte Zahl der Amtssprachen auch nur lesen166. Damit wird ein Rückgriff auf die „Wortlautgrenze“ illusorisch.
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Einige dieser Punkte werden mit fortschreitender Integration an Bedeutung verlieren. Namentlich ist eine systematische Verdichtung gerade in Kernbereichen des Privatrechts im Gange. Andere Probleme aber werden bestehen bleiben, etwa das Nebeneinander verschiedener auslegungserheblicher Wortlaute.
83
Liegt die Lösung nun zwischen diesen Traditionen, jenseits von ihnen oder sozusagen hinter ihnen? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man passende Elemente sucht und zusammenstellt. Rechtsfortbildung unbeschränkt in die Hand des Richters zu legen, ist im Europarecht aus Kompetenzgründen nicht akzeptabel. Das gilt auch für das Gemeinschaftsprivatrecht. Man mag auch einen in Verordnung und Richtlinie ausgedrückten Volkswillen 167 gegen die Judikative schützen wollen, im Vordergrund steht aber, daß diese Gesetzgebungsakte beim jeweiligen Stand der Integration die jeweilige Funktionszuweisung an die Gemeinschaft als Zweckverband bezeichnen; jenseits dieser Grenze liegen Residualkompetenzen der Mitgliedstaaten und – im Privatrecht – umfangreiche Restbestände autonom entwickelter Systeme, die nicht gestört werden sollen. Damit scheiden methodische Lösungen aus, die speziell für richterrechtliche Systeme entwickelt wurden.
84
Daraus resultiert zugleich eine differenzierte Einschätzung des römischen Rechts: Es ist der Hintergrund, vor dem alle untersuchten Mitgliedstaaten ihre Methodenlehre entwickelt haben und ohne den man sie nicht versteht; es hat andererseits durch die nationalen Kodifikationsprozesse seine im Kern richterrechtliche Struktur verloren und lediglich seine Wertentscheidungen und Denkfiguren in die modernen Gesetze gerettet. Vieles spricht dafür, daß die Ambivalenzen der pandektistischen Methodenlehre gerade mit der Fortgeltung von ius commune neben zeitgenössischem Gesetzesrecht in Deutschland zu tun haben, und hier könnte auch ein Grund dafür liegen, daß bestimmte Entwicklungen erst im 20. Jahrhundert stattfanden, so die Durchsetzung der sog. Wortlautgrenze. Römisches Recht als jurisprudentielle Ordnung steht also (hier in der bekannten Parallele zum englischen) dem Grundsatz nach außerhalb einer gemeinsamen Methodentradition für die heute sachgerechte Anwendung positiven Gesetzesrechts, so zentral es für viele Norminhalte auch ist; es bildet insoweit eher einen (hilfreichen) Kontrast als ein Modell. Allenfalls ließe sich erwägen,
166 Vgl. nochmals Baldus/Vogel, Méthodologie du droit privé communautaire, Annuaire de droit européen 3 (2005/2006), im Druck; dies., FS Peter Krause, im Druck. 167 Die Debatte um die Existenz eines europäischen Volks mag hier beiseite bleiben, wegen ihrer Unübersehbarkeit und wegen ihres aus privatrechtlicher wie aus historischer Sicht eher theoretischen Charakters. Es gibt jedenfalls mehr als einen Mitgliedstaat, der vergleichbare Definitionsprobleme im Inneren kennt – was auch immer beim gegenwärtigen Stand der Integration das Innere sei.
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Christian Baldus
§ 3 Auslegung und Analogie im 19. Jahrhundert
ob in der Unzugänglichkeit der Erwägungen des historischen Gesetzgebers – cum grano salis – eine Parallele zwischen gemeinschaftsrechtlicher Auslegung und Reflexion der Pandektisten liegt: Schon letztere mußten System bilden, ohne sicher sagen zu können, was mit der Norm subjektiv intendiert gewesen war. Inwieweit die Untersuchung römischen Rechts schließlich geeignet ist, den Umgang mit dem neuen Richterrecht der Gemeinschaft zu fördern, bleibt gleichfalls zu untersuchen. Es geht jedenfalls nicht um eine Entwicklung von der Herrschaft des Gesetzes hin zu derjenigen der Kasuistik. Zwar zeigt sich in Europa rechtsvergleichend eine Konvergenz, praktisch wie theoretisch; zwar öffnen sich die kontinentalen Rechtsordnungen auch theoretisch für den Gedanken des Richterrechts, und die englische geht mit dem steigenden Anteil an Gesetzesrecht in steigendem Maße teleologisch um; die Tendenz im Gemeinschaftsprivatrecht ist aber nicht die zu einer Auflösung strikter Normbindung in Fallrecht. Im Gegenteil: Waren bislang punktuelle legislatorische Eingriffe mit ebenso punktueller Rechtsprechung zum Einfluß des Primärrechts auf das nationale Privatrecht zu koordinieren, wird nunmehr zunehmend die systematische Leistungsfähigkeit als Qualitätsfaktor des Privatrechts erkannt, als Mittel zur Herbeiführung allseitigen Interessenausgleichs auch in nicht eindeutig geregelten Fällen.
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Damit scheidet ein Rückgriff auf solche Regeln aus, die für primär jurisprudentiell geprägte Rechtsordnungen entwickelt wurden. Römische wie englische Elemente wird man nur punktuell verwerten können, zumal für die römische Dogmatik bereits eine umfassende Systematisierung etwa in Gestalt des BGB vorliegt.
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So muß man dem EuGH eines bescheinigen: Seine vielgescholtene Tendenz dazu, ohne theoretische Grundlegung bisweilen näher am Normtext zu bleiben, bisweilen weiter über ein enges Wortverständnis hinauszugehen, ist nicht so schlecht, wie es die verengte Perspektive der jeweiligen nationalen Tradition erscheinen läßt. Der Vertrag gibt wenig vor, das Zusammenströmen verschiedener Traditionen in Luxemburg begünstigt eine gewisse Flexibilität. Vieles spricht dafür, daß das teleologische Moment weiter an Bedeutung gewinnen wird; vieles auch dafür, daß speziell im sich verdichtenden Gemeinschaftsprivatrecht die systematische Auslegung jenen Rang erreichen wird, der für das kontinentale Zivilrecht typisch ist; schwer zu beurteilen ist die Zukunft der historischen Auslegung, wie auch immer man diesen Begriff zu verstehen habe.
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Die Wortlautgrenze, so und wo es sie denn gab, ist im Europarecht schon lange gefallen. Das wird deutlich an Entscheidungen des EuGH, in denen nebeneinander von „dem Wortlaut“ und von Divergenzen verschiedener Sprachfassungen die Rede ist. Ob das rechtstheoretisch oder praktisch-dogmatisch zu begrüßen sei, mag hier offenbleiben. Rechtshistorisch wird man sagen: Die Hermeneutik des frühen 19. Jahrhunderts hat die Dogmatik ungemein angeregt. Daß sie aber speziell in Deutschland zu einer Theorie der Wortlautgrenze geführt hat, das ist eine Sonderentwicklung. Alle guten Erfahrungen mit dem didaktischen und rechtspolitischen Wert einer Suche nach „dem Wortsinn“ ändern nichts an dem geschichtlichen Befund, daß es sich hier um einen Sonderweg handelt, der sich selbst im einigermaßen gesetzesgläubigen späten 19. Jahrhundert nicht durchzusetzen vermochte. Diejenige römisch-pandektistische Tradition hingegen, die Rezeption gefunden hat und die große Teile
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1. Teil: Grundlagen
Westeuropas verbindet, beurteilt das Verhältnis von Auslegung und Analogie weitaus großzügiger.
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Ohne Zweifel bedarf die gemeinschaftsrechtliche Normanwendung methodischer Kontrolle, wenngleich in anderer Weise als die innerstaatliche Rechtsanwendung. Dafür kann man System und Telos heranziehen, vielleicht auch die Gesetzgebungsgeschichte, wie auch immer zu verstehen. Der sogenannte klare Wortlaut aber ist wohl nicht mehr als eine praktische Leitlinie für den Regelfall und ein Topos, der auch Mißbräuchen zugänglich ist. Die europäische Rechtsgeschichte verlangt es nicht, auf ihn zurückzugreifen; eher mahnt sie zur Vorsicht. Was sie quer durch die Epochen verlangt hat, das ist ein Rechtsanwender, der offenlegt, wovon er spricht, wenn er die sententia legis anruft. Ob er richtig gesprochen hat, das entscheidet sich maßgeblich nach der Vereinbarkeit seiner Lösung mit anderen Normen: eine gut römische, eine savignyanische Erwägung, und auch eine für das sich verdichtende System des Gemeinschaftsprivatrechts.
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Christian Baldus
§ 4 Die Rechtsvergleichung Andreas Schwartze
Übersicht I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Herkömmliche Rechtsangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuartige Regelungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
. . . . .
. . . . .
Rn. 1–5
. . . . .
6–20 7–9 10–20 13–17 18–20
III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH . . . . . . . . . . 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte . . . . . .
21–34 23–29 30–34
IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissenschaftliche Projekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Juristische Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35–41 36–38 39–41
V. Zusammenfassung – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42–44
Literatur: Berger, Klaus Peter, Vom praktischen Nutzen der Rechtsvergleichung – Die „internationalbrauchbare“ Auslegung nationalen Rechts, in: Klaus Peter Berger/Werner F. Ebke/Siegfried Elsing/Bernhard Großfeld/Gunther Kühne (Hrsg.), Festschrift für Otto Sandrock zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2000, S. 49–64; Bleckmann, Albert, Die Rolle der Rechtsvergleichung in den Europäischen Gemeinschaften, ZvglRWiss 1976, 106–124; Flessner, Axel, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Grundmann, Stefan/Riesenhuber, Karl, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Kötz, Hein, Alte und neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, 257–264; Kropholler, Jan, Internationales Einheitsrecht – Allgemeine Lehren, Tübingen 1975, S. 254–258, 278–285; Lutter, Marcus, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; Mansel, Heinz-Peter, Rechtsvergleichung und europäische Rechtseinheit, JZ 1991, 529–534; Odersky, Walter, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, ZEuP 1994, 1–4; Schroeder, Werner, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180–186; Schulze, Reiner, Vergleichende Gesetzesauslegung und Rechtsangleichung, ZfRV 1997, 183–197; Strömholm, Stig, Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung – Theoretische Möglichkeiten und praktische Grenzen in der Gegenwart, RabelsZ 56 (1992), 611–623.
Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
I.
Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode
1
Auf den ersten Blick scheint es keinen Zweifel zu geben, daß die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht eine bedeutende Rolle spielt. Die Relevanz dieser Methode fällt besonders ins Auge, wenn man die nebeneinander stehenden nationalen Privatrechtssysteme in Europa, insbesondere in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), betrachtet, die seit jeher reichhaltiges Material für die vergleichende Rechtswissenschaft geliefert und sich auch mittels deren Unterstützung gegenseitig befruchtet haben.1 Aber ähnliches gilt auch für das Europäische Privatrecht im engeren Sinne, nämlich für die privatrechtlichen Regeln der Europäischen Gemeinschaft (EG),2 die zum einen nicht unberührt von den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten im „rechtsleeren Raum“ entwickelt werden können – vielmehr finden sich dort regelmäßig Bezüge zu den verschiedensten nationalen Bestimmungen, die manchmal bis zu einer Übereinstimmung im Wortlaut gehen – 3 und die zum anderen auf die innerstaatlichen Privatrechte zurückwirken. Das läßt darauf schließen, daß zumindest bei der Entstehung, vermutlich dann aber auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts die privatrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis genommen und aus gemeinsamen, übergreifenden Perspektiven – hier: des Gemeinschaftsrechts – betrachtet werden, wie es die vergleichende Methode verlangt.4 Inwieweit eine wertende Betrachtung der vorgefundenen Lösungsmöglichkeiten, die nach überwiegender Auffassung einen weiteren Bestandteil der Rechtsvergleichung bildet,5 die Entscheidungen über konkrete Regelungen des Europäischen Privatrechts oder deren Auslegung beeinflußt, kann dagegen nur für den jeweiligen Einzelfall festgestellt werden.
2
Allerdings besteht insoweit kein grundlegender Unterschied zur Entwicklung in den mitgliedstaatlichen Privatrechten, denn auch dort wurde – und wird – die Rechtsvergleichung unabhängig vom Einfluß der europäischen Integration sowohl bei der Gesetzgebung 6 wie in der Rechtsprechung 7 zur Unterstützung herangezogen. 1 Zu diesen Rezeptionsvorgängen etwa Rainer, Europäisches Privatrecht (2002), S. 69 ff.; Glendon/Gordon/Osakwe, Comparative Legal Traditions (1994), S. 54 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung (1972), Bd. II, S. 412 ff. 2 Diese sollen im folgenden in Anschluß an Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 31 f., als „Europäisches Privatrecht“ bezeichnet werden. Flessner, JZ 2002, 14, 15, bezeichnet es als „Gemeinschaftsprivatrecht“. 3 So etwa Art. 2 lit. d Alt. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, der vor allem mit nordischen Kaufgesetzen übereinstimmt, Schwartze, Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf (2000), S. 98 f.; vgl. auch Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 Rn. 34. Zu einem Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht Lutter, JZ 1992, 593, 609. 4 Damit beginnt nach allgemeiner Ansicht erst die eigentliche Rechtsvergleichung, vgl. etwa Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 43; ähnlich Constantinesco, Rechtsvergleichung (1972), Bd. II, S. 277ff. 5 So Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 46; a.A. Rabel, in: Rabel/Leser (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze (1967), S. 3. 6 Zur Nutzung durch den deutschen Gesetzgeber Drobnig/Dopffel, RabelsZ 46 (1982), 253 ff.; Drobnig, RabelsZ 50 (1986), 610 ff. 7 Zur Verwendung in der deutschen Rechtsprechung Aubin, RabelsZ 34 (1970), 458 ff.; Rein-
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Andreas Schwartze
§ 4 Die Rechtsvergleichung
Diese Hilfsfunktion wird allgemein sogar als eigentliche Aufgabe der „angewandten“ oder „legislativen“ Rechtsvergleichung angesehen, welche die in erster Linie zweckfreier Erkenntnis dienende „wissenschaftlich-theoretische“ Rechtsvergleichung für die Praxis nutzbar macht.8 Während jedoch auf nationaler Ebene der Vergleich mit ausländischen Regelungen Reformen im Sinne einer inhaltlichen Weiterentwicklung des geltenden Rechts – sei es durch den Gesetzgeber oder den rechtsfortbildenden Richter – dient (Regelungsziel), dürfte für die Europäische Gemeinschaft die Rechtsvergleichung als Ausgangspunkt für die Zusammenführung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unter einem „gemeinsamen Dach“ im Vordergrund stehen (Harmonisierungsziel).9 Besonders deutlich wird dies bei der Rechtssetzung der Gemeinschaft, wo im Bereich des Privatrechts die bislang noch dominierende Rechtsangleichung gerade auf die Nivellierung von Unterschieden zwischen den nationalen Regelungen abzielt.
3
Damit besitzt die Rechtsvergleichung für die Erarbeitung des Europäischen Privatrechts bislang eine ganz ähnliche Funktion wie in anderen Gebieten der Rechtsvereinheitlichung: So wurde mit Hilfe rechtsvergleichender Studien zunächst im Gefüge der neu gebildeten Nationalstaaten ein wesentlicher Teil der Bausteine zusammengetragen, welche für die Errichtung der Kodifikationsgebäude verwendet wurden,10 später sind dann auf dem Fundament derartiger Untersuchungen zu den nationalen Rechten wiederum internationale Einheitsrechte gegründet worden.11 Bei der Rechtsanwendung muß insbesondere ein unterschiedliches Verständnis internationalen Einheitsprivatrechts in den beteiligten Rechtsordnungen durch eine „autonome“, vom jeweiligen nationalen Recht unabhängige und daher andere Rechte mit einbeziehende Auslegung verhindert werden, ebenso wie für das Europäische Privatrecht eine einheitliche Anwendung zu sichern ist.
4
Allerdings werden die mit der Verwendung der rechtsvergleichenden Methode im Gemeinschaftsrecht, speziell auf dem Gebiete des Privatrechts, verbundenen Fragen
5
8 9
10 11
hart, FS Juristische Fakultät Heidelberg (1986), S. 599 ff.; Mansel, JZ 1991, 529, 529 f.; rechtsvergleichend Drobnig/van Erp, The Use of Comparative Law by the Courts (1999). Für das komparative Sichten zur Gewinnung von „europäisch vertretbaren“ Lösungen Flessner, JZ 2002, 14, 19f. Vgl. nur Brand, JuS 2003, 1082, 1084; Rösler, JuS 1999, 1084, 1087 f.; Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung (2004), S. 310 ff. Damit wird allerdings weder ausgeschlossen, daß Regelungen ohne Vorbild in einem der Mitgliedstaaten neu entwickelt werden, noch daß Reformgesichtspunkte ebenfalls eine Rolle spielen. Zur Unterscheidung von Harmonisierungsfunktion und Regulierungsfunktion bei der Rechtsangleichung bereits Schwartze, Deutsche Bankenrechnungslegung nach Europäischem Recht (1991), S. 115; ähnlich unterscheidet in Regelungs- und Angleichungszweck Riesenhuber, unten, § 11 Rn. 42. Etwa für das schweizerische ZGB durch Huber in seinem „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“, 4 Bände (1886–1893). Am prominentesten dürften die Vorarbeiten von Rabel, Das Recht des Warenkaufs I und II (1936, 1958), für das Einheitliche Kaufgesetz (EKG) und damit auch für das nachfolgende UN-Kaufrecht sein. Allgemein zum Einfluß der Rechtsvergleichung auf die Rechtsangleichung Strömholm, RabelsZ 56 (1992), 611 ff.
Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
bisher kaum grundlegend behandelt.12 In den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern zum Europarecht finden sich nur wenige Hinweise,13 in den Werken zum Europäischen Privatrecht wird das Thema zwar angerissen, aber meist nur kurz erörtert.14 Auch in die Literatur zu Methodenfragen hat es bislang noch wenig Eingang gefunden.15 Ich werde daher im folgenden versuchen, den Einsatz der Rechtsvergleichung sowohl bei der Herausbildung des Europäischen Privatrechts (unten II.) wie auch bei dessen Anwendung (unten III.), darüber hinaus ergänzend im Bereich von Forschung und Lehre auf diesem Gebiet (unten IV.), möglichst umfassend darzulegen und die damit verbundenen Problemlagen herauszuarbeiten. Zum Schluß soll deutlich gemacht werden, inwieweit die Rechtsvergleichung im Europäischen Privatrecht methodisch eine besondere Stellung einnimmt bzw. worin diese besteht (unten V.).
II.
6
Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht
Der Einfluß der rechtsvergleichenden Methode auf die Rechtssetzung im Bereich des Europäischen Privatrechts ist bisher wissenschaftlich fast nicht thematisiert worden, während ihr Einfluß auf die Auslegung16 immerhin ein wenig mehr Beachtung gefunden hat. Das liegt sicherlich zum Teil daran, daß die Vorgehensweise der Legislative in Ausbildung und Praxis unterbewertet wird und sich die juristische Methode auf die Arbeit mit gegebenen Regelungen konzentriert. Inwieweit die Rechtsvergleichung bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts eingesetzt werden kann, hängt jedoch zum Teil von ihrer Rolle bei der Rechtssetzung ab, so daß auch mit Blick auf die in der Praxis als wichtiger angesehenen Probleme der Interpretation und Fortbildung des Europäischen Privatrechts der Bereich der Entstehung der Regelungen zunächst zu untersuchen ist.
12 Dies kritisiert schon Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106. 13 Unter Bezug auf die Verflechtung von innerstaatlichem Recht und Gemeinschaftsrecht allein zur Auslegung etwa Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 47; Oppermann, Europarecht, § 8 Rn. 22; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EGV Rn. 15; Thun-Hohenstein/Cede/ Hafner, Europarecht (2003), S. 77; speziell zum Verwaltungsrecht: Streinz, Europarecht, Rn. 178; zu den Grundrechten von der Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 63. 14 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 47–51, 71; bei der Auslegung nur kurz Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 143, etwas häufiger im Zusammenhang mit der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze aaO 1. Teil Rn. 184, 187, 189, 191; in Bezug auf die Hilfe bei der Kommentierung Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 65–75. Ähnlich wenig findet sich zu konkreten Gemeinschaftsrechtsakten, z. B. Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 Rn. 12, Art. 8 Rn. 6. 15 Sehr kurz bei Zippelius, Methodenlehre, S. 58; Pawlowski, Methodenlehre, S. 117 Rn. 227; etwas mehr bei Kramer, Methodenlehre, S. 229–233 zur Lückenfüllung, sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 385–387 zur Rechtsgewinnung, S. 461–463 zur Auslegung. Daher neuestens das Plädoyer für eine gemeineuropäische Methodenlehre, Vogenauer, ZEuP 2005, 234 ff. 16 Dazu unten Rn. 21 ff.
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Andreas Schwartze
§ 4 Die Rechtsvergleichung
1.
Primärrechtliche Ebene
Im EG-Vertrag selbst sind auch mit Mühe Regelungen mit privatrechtlichem Inhalt nur schwer zu entdecken, vielleicht einmal abgesehen vom Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft (Art. 81 ff. EG), welches unmittelbar in die Wirksamkeit privater Verträge über konkretes Marktverhalten eingreift.17 Die vier Grundfreiheiten sowie die Kompetenznormen für die Rechtsangleichung, wie Art. 94 und 95 EG oder Art. 44 Abs. 2 lit. g EG, wirken dagegen allenfalls mittelbar auf das Privatrecht ein, indem sie die Grundlage für eine negative 18 oder aber eine positive Harmonisierung privatrechtlicher Vorschriften bieten, selbst jedoch keine inhaltlichen Vorgaben für diesen Bereich enthalten.
7
Damit verbleiben im Primärrecht allein die allgemeinen Rechtsgrundsätze, welche die Bestimmungen des EG-Vertrages dort ergänzen, wo dieser Lücken aufweist. Ausdrücklich erfolgt ein Verweis auf derartige gemeinsame Prinzipien nur für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft (Art. 288 Abs. 2 EG), aber der Europäische Gerichtshof ergänzt auch in anderen – allerdings wie bei den Grundfreiheiten meist nicht privatrechtlich gelagerten – Fällen das unvollständige Primärrecht unter Berufung auf Art. 220 Abs. 1 EG.19 Um in allen Mitgliedstaaten vorfindbare Grundregeln für eine bestimmte Fragestellung zu ermitteln, müssen sämtliche nationalen Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft daraufhin untersucht werden.20 So hat der EuGH, immerhin im weiteren Bereich des Schadensersatzrechts, die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber ihren Bürgern aufgrund einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts unter anderem mit dem Verweis auf die allgemeinen Haftungsgrundsätze in den nationalen Rechtsordnungen begründet.21 Welcher Rechtssatz dann aus den vorgefundenen Regelungen abzuleiten ist, bleibt allerdings der Bewertung durch den EuGH überlassen, die er an den Aufgaben und Zielen der Gemeinschaft ausrichtet. Damit nimmt er eine rechtsvergleichende Analyse 22 vor, was dazu führt, daß nicht ein bloßer gemeinsamer Nenner gesucht wird: Konkret hält der EuGH in
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17 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 33, der außerdem noch das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EG hinzurechnet. 18 Vom EuGH für das Privatrecht bisher abgelehnt, EuGH v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I-107; EuGH v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009; dazu Foglar-Deinhardstein, ZfRV 2005, 22 ff. 19 Daig, FS Zweigert (1981), S. 401, nennt hier als weitere Beispiele die Frage, was unter einem „Gericht“ iSv Art. 177 EGV (jetzt Art. 234 EG) zu verstehen ist, oder wann eine Willenserklärung als zugegangen gilt. Vgl. auch Schulze, ZfRV 1997, 183, 188; ders., ZEuP 1993, 442, 454 f. 20 Zu dieser Lückenfüllungsfunktion der Rechtsvergleichung bereits Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 109 f. 21 „… eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsatzes, daß eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht …“, EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29; vgl. dazu Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 22 Sog. „wertende“ Rechtsvergleichung, wie sie sich vor allem im Bereich der Grundrechte herausgebildet hat; dazu näher Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1.Teil Rn. 184 ff. Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
der eben erwähnten Entscheidung kein Verschulden für erforderlich, obwohl diese Voraussetzung in vielen Mitgliedstaaten für die Staatshaftung verlangt wird.23
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Abgesehen vom dargestellten engen Bereich der ausschließlichen Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaft führt die vergleichende Ermittlung privatrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze jedoch nicht zu eigenständigem Gemeinschaftsrecht,24 sondern kann nur bei der Anwendung und Auslegung bestehender Rechtsakte helfen.25 Im Bereich der Primärrechtssetzung hat die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht daher nur geringe Bedeutung. 2.
Sekundärrechtliche Ebene
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Das Europäische Privatrecht im oben beschriebenen Sinne beruht bisher fast ausschließlich auf Rechtsakten des sekundären Gemeinschaftsrechts, vor allem auf Richtlinien und Verordnungen. Die Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Internationalen Privat- und Prozeßrechts, deren Abschluß im EG-Vertrag vorgesehen ist (Art. 293 EG), vor allem das Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ)26 sowie das ehemalige Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ),27 bilden eine Ausnahme: Bei ihnen handelt es sich um völkerrechtliche Verträge, die jedoch eng mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpft sind (wie sich insbesondere an der durch gesonderte Rechtsakte begründete Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung dieser Instrumente zeigt). Sie werden allerdings nach der Erweiterung der Gemeinschaftskompetenzen durch Art. 65 EG Schritt für Schritt als Verordnungen in das Sekundärrecht überführt.
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Mittels dieser Rechtsakte agieren die zuständigen Gemeinschaftsorgane bisher ähnlich wie nationale Gesetzgeber, indem sie bindende Regelungen für privatrechtliche Beziehungen aufstellen (unten a).
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Vor allem im Bereich des Vertragsrechts, aber in Ansätzen ebenso im Gesellschaftsrecht (etwa bei der Koordinierung der nationalen Corporate Governance-Kodizes durch ein europäisches Forum sowie bei der Bereitstellung eigenständiger europäischer Gesellschaftstypen), ist jedoch mittlerweile eine neuartige Strategie der Kommission zu erkennen, mit der sie sich aus der Rolle eines klassischen Rechtssetzers zurückzieht: Nach ihrem Aktionsplan zum Vertragsrecht 28 soll in Zukunft auf die herkömmliche Rechtsangleichung weitgehend verzichtet werden, vielmehr werden 23 Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 24 So dezidiert Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 182, Rn. 187 ff.; ähnlich Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 25 Dazu unten Rn. 23 ff. 26 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 Nr. C 27/34. 27 Übereinkommen von Brüssel über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 Nr. C 27/1. 28 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, weitergeführt in KOM (2004) 651 endgültig.
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Andreas Schwartze
§ 4 Die Rechtsvergleichung
Regelungssysteme in Aussicht gestellt, an denen sich die privaten Parteien orientieren sollen (gemeinsamer Referenzrahmen) oder vermittels derer sie ihre vertraglichen Beziehungen gestalten können (optionelles Instrument). Damit operiert die Gemeinschaft wie „Formulierungsagenturen“ (formulating agencies), etwa UNIDROIT oder die International Chamber of Commerce (ICC), welche ohne legislative Befugnis im internationalen Wirtschaftsrecht den Akteuren einheitliche Bestimmungen an die Hand geben (unten b). Der Einfluß der Rechtsvergleichung soll für diese beiden unterschiedlichen Arten der Rechtssetzung im Europäischen Privatrecht getrennt dargestellt werden. a)
Herkömmliche Rechtsangleichung
Üblicherweise wird dem Entwurf eines Rechtsaktes der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Privatrechts eine – regelmäßig eher kurz gehaltene – Bestandsaufnahme vorausgeschickt, in der die Regelungen des betroffenen Sachgebiets in den Mitgliedstaaten dargestellt werden. Teilweise geschieht dies im Rahmen eines „Grünbuchs“, mit dem das Bedürfnis einer Maßnahme auf Gemeinschaftsebene begründet werden soll (so etwa zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 29 oder zur Umwelthaftungsrichtlinie,30 im Zivilprozessrecht zum Mahnverfahren,31 sehr viel detaillierter rechtsvergleichend sind dagegen die Berichte zum EuGVÜ 32 sowie zum EVÜ 33 verfaßt). Damit wird auch bereits eine wichtige Funktion dieser Art der Darstellung der verschiedenen Rechtsordnungen deutlich: Mit den dort angeführten Regelungsunterschieden in den Rechten der Mitgliedstaaten werden negative Auswirkungen auf den Binnenmarkt verbunden, so daß eine rechtsangleichende Maßnahme zumindest sinnvoll erscheint und insoweit die Voraussetzungen der Kompetenzgrundlagen, etwa der Art. 95, 44 Abs. 2 lit. g, 293 EG, als gegeben angesehen werden können.34 Zur Rechtfertigung der Harmonisierung reicht jedoch regelmäßig das Aufzeigen von Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsordnungen aus, ohne daß es einer vertieften inhaltlichen Bewertung
29 Grünbuch der Kommission v. 15.11.1993 über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst, KOM(93) 509 endg. 30 Grünbuch der Kommission v. 14.3.1993 über die Sanierung von Umweltschäden, KOM (1993) 47 endg. 31 Grünbuch der Kommission v. 20.12.2002 über ein Europäisches Mahnverfahren und über Maßnahmen zur einfacheren und schnelleren Beilegung von Streitigkeiten mit geringen Streitwert, KOM(2002) 746 endg., S. 53 ff.; dazu der Vorschlag v. 25.5.2004 zu einer entsprechenden Verordnung, KOM(2004) 173 endg. 32 Bericht von Herrn P. Jenard zu dem Übereinkommen v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1979 Nr. C 59/1 (Jenard-Bericht). 33 Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von Herrn Mario Giuliano, Professor an der Universität Mailand, und Herrn Paul Lagarde, Professor an der Universität Paris I, ABl. 1980 Nr. C 282/1 (Giuliano-LagardeBericht). 34 Ähnlich Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 116 ff., der für die Rechtsangleichung allerdings den Nachweis verlangt, daß zumindest in einem Mitgliedstaat bereits eine Regelung vorhanden sein müsse. Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
dieser Regelungsdifferenzen bedarf.35 Damit kommt es auf einen als wesentlich angesehenen Bestandteil der Rechtsvergleichung gar nicht mehr an, sondern es bleibt bei der bloßen Darstellung unterschiedlicher Bestimmungen. Außerdem genügt in der Regel eine Gegenüberstellung der Gesetzeslage im Sinne einer Normenvergleichung, ohne daß noch auf Unterschiede in Rechtsprechung oder Rechtspraxis einzugehen ist. Schließlich ist auch die Auswahl der Rechtsordnungen begrenzt: Sie beschränkt sich auf die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, weil nur sie für die Frage des Regelungsbedarfs ausschlaggebend sind. Diese letztlich aufgrund der begrenzten Einzelermächtigung des Gemeinschaftsgesetzgebers notwendige Methode der Kompetenzbegründung erfordert daher nur eine reduzierte Art der Rechtsvergleichung.
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Eine weitere Funktion der Rechtsvergleichung bei der Angleichung des Privatrechts durch die Gemeinschaft könnte in der Orientierung der zu erlassenden Bestimmungen an in einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen bestehen. Dies entspräche der klassischen Verwendung komparativer Studien bei der Rechtssetzung sowohl für Reformen auf nationaler Ebene 36 wie bei der Schaffung internationalen Einheitsrechts.37 Ebenso wenig wie staatliche Gesetzgeber und internationale Regelsetzer ist die Gemeinschaft jedoch gehalten, ihre Rechtsvorschriften an denen von Mitgliedstaaten auszurichten. Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Privatrechten können vielmehr auch dadurch entschärft oder ausgeglichen werden, daß in sämtlichen Rechtsordnungen völlig neuartige Bestimmungen eingeführt werden.
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Andererseits muß sich die Gemeinschaft bei der rechtsvergleichenden Ermittlung einer angemessenen Problemlösung im Bereich des Rechtsangleichungsakts nicht auf die Rechtslage in den Mitgliedstaaten beschränken, sondern kann auch „externe“ Regelungen berücksichtigen (so etwa bei der Abstimmung der europäischen Rechnungslegungsstandards mit den International Accounting Standards durch die IAS/IFRSVerordnung38 sowie die Änderung der Jahresabschluß-Richtlinien39 oder bei den vom US-amerikanischen System beeinflußten Überlegungen zum zukünftigen Kapitalschutz im Gesellschaftsrecht 40) – immer vorausgesetzt, ihre Rezeption führt nicht zu Friktionen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, deren negative Folgen die positiven Wirkungen der Rechtsangleichung überwiegen.
35 Allenfalls muß noch festgestellt werden, ob das Ausmaß der Unterschiede die Gemeinschaftsziele in dem Maße beeinträchtigt, daß ein Tätigwerden auf EG-Ebene erforderlich ist. 36 So etwa bei der Erarbeitung des niederländischen „Nieuw“ Burgerlijk Wetboek, vgl. Hondius, AcP 191 (1991), 378, 394 f. 37 Dazu bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 254 ff. 38 Verordnung 1606/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 Nr. L 243/1. 39 Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2003 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG, 86/635/EWG und 91/674/EWG über den Jahresabschluß und den konsolidierten Abschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, von Banken und anderen Finanzinstituten sowie von Versicherungsunternehmen, ABl. 2003 Nr. L 178/16. 40 Aktionsplan „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ v. 21.5.2003, KOM(2003) 284 endg., S. 21.
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Andreas Schwartze
§ 4 Die Rechtsvergleichung
Interessanterweise legt die Gemeinschaft ihre aus den Mitgliedstaaten übernommenen Anregungen für Harmonisierungsnormen weniger offen, als dies bei nationalen Gesetzgebungsprojekten oder Entwürfen internationalen Einheitsrechts der Fall ist.41 Anscheinend soll vermieden werden, daß die jeweilige Vorbildrechtsordnung als Grundlage für die Auslegung herangezogen wird und auf diese Weise das Gemeinschaftsrecht von einzelnen Mitgliedstaaten geprägt wird. Das wäre mit der Vorstellung einer „autonomen“ Rechtsordnung auf der Ebene der EG nicht vereinbar.42 Vielfach wird allerdings von außen, d.h. durch Wissenschaft und Praxis, versucht, das Ausmaß der Übereinstimmung von Gemeinschaftsbestimmungen mit – meist nationalen – Vorschriften mit Hilfe der Rechtsvergleichung zu ermitteln: So wird etwa der Klauselrichtlinie ein prägender Einfluß des – mittlerweile in das BGB überführten – deutschen AGB-Gesetzes zugeschrieben, insbesondere beim Prinzip der Überprüfung von mißbräuchlichen Klauseln in jedem Zivilverfahren sowie bei der Ausrichtung dieser Kontrolle an Treu und Glauben.43
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Sichtbar wird eine Verwendung rechtsvergleichender Methoden bei der herkömmlichen Rechtsangleichung daher meist ausschließlich in den zur Rechtfertigung der Harmonisierungsziele vorgenommenen Zusammenstellungen der Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, während ihr Einfluß auf die Inhalte und damit auf die Regelungsziele der Rechtsakte im Einzelnen erst nachträglich durch vergleichende Analysen zu entschlüsseln versucht wird.
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b)
Neuartige Regelungsinstrumente
Im Aktionsplan für „ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht“ werden die dort vorgeschlagenen Maßnahmen der Gemeinschaft soweit es den Inhalt, also das Regelungsziel betrifft, erstmals offen auf eine breite rechtsvergleichende Grundlage gestellt.44 So sollen als „Basisquellen“ für den gemeinsamen Referenzrahmen „die geltenden nationalen Rechtsordnungen“ herangezogen werden.45 Dazu scheinen auf den ersten Blick nur die der Mitgliedstaaten zu gehören, denn als Ziel wird unter anderem ein „gemeinsamer Nenner“ ins Auge gefaßt. Zumindest der Vergleich mit „geeigneten Drittstaaten“ wird jedoch ebenfalls angeregt, da eine Annäherung der Vertragsrechte
41 So auch Lutter, JZ 1992, 593, 602. 42 Davon abgesehen wäre es wohl auch politisch unklug, zumindest vor Verabschiedung der Rechtsakte die inhaltliche Nähe zum Recht bestimmter Mitgliedstaaten deutlich zu machen, da dies unter Umständen Abwehrreaktionen der übrigen, die weniger erfolgreich waren, zur Folge haben könnte. Ähnlich Schulze, ZfRV 1997, 183, 189. 43 Daneben wird aber auch die französische Herkunft einiger Vorschriften vermutet, wie etwa beim Merkmal des erheblichen Ungleichgewichts, vgl. Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (AGBRL) Vorbem. Rn. 32. Zum Einfluß des UN-Kaufrechts auf die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie etwa Grundmann, AcP 202 (2002), 40 ff. 44 So auch Schmidt-Kessel, unten, § 17 Rn. 46, der von einer rechtsvergleichenden „Großstudie“ spricht. 45 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 63. Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
auch im Verhältnis zu diesen bezweckt wird.46 Außerdem soll es nicht beim bloßen Normenvergleich bleiben, vielmehr ist ausdrücklich auch „die Rechtsprechung der nationalen Gerichte … und die bestehende Vertragspraxis“ zu berücksichtigen.47 Schließlich wird der Vergleichsraum über die traditionelle Rechtsvergleichung hinaus vergrößert, indem Einheitsprivatrecht, sowohl in Form vorhandener Gemeinschaftsregelungen wie auch internationaler Instrumente, etwa das UN-Kaufrecht, mit einzubeziehen ist,48 welches seinerseits wiederum auf rechtsvergleichenden Erwägungen beruht. Dabei wird wohl auch erwartet, daß Regelungen des internationalen Einheitsrechts aufgrund ihres neutralen Charakters den Mitgliedstaaten akzeptabel erscheinen,49 jedoch könnten die in ihnen enthaltenen Einflüsse aus Rechtsordnungen außerhalb der Gemeinschaft das Gegenteil bewirken.50 Nach dem Aktionsplan wird jedenfalls gegenüber der bisherigen Rechtsangleichung der Einfluß der – vergleichenden – Rechtswissenschaft erheblich vergrößert, denn deren Forschungstätigkeiten sollen mit einbezogen und wirtschaftlich gefördert werden.51 Dazu hat wohl auch beigetragen, daß die zunächst auf akademische Initiative hin geleisteten Vorarbeiten bereits umfangreiche Ergebnisse hervorgebracht haben.52
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Für das im Aktionsplan langfristig in Aussicht gestellte „optionelle Instrument“, eine von den Parteien wählbare, neben die mitgliedstaatlichen Regelungssysteme tretende zusätzliche Vertragsordnung, wird eine mögliche Hilfestellung der Rechtsvergleichung bei der inhaltlichen Erarbeitung nicht näher beschrieben. Da es jedoch auf dem gemeinsamen Referenzrahmen aufbauen soll,53 wird die dort eingesetzte vergleichende Methode in diesem Bereich weitergehend genutzt.
20
Vergleicht man den beschriebenen komparativen Aufwand für die neuartigen Regelungsinstrumente im Vertragsrecht – zum Gesellschaftsrecht finden sich diesbezüglich keine näheren Angaben – mit dem früher eher reduzierten Einsatz der Rechtsvergleichung bei der herkömmlichen Harmonisierung, dann wird dieser nun für das gesamte Gebiet des Vertragsrechts anscheinend als lohnend angesehen, während ihn die Gemeinschaft in der Vergangenheit bei den überschaubaren Einzelregelungen eher
46 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 62. 47 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 63. 48 Nachweis wie vorige Fn. Dafür plädiert schon Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 257f., sofern ein vergleichbarer sachlicher (oder räumlicher) Bereich gegeben ist. 49 So Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 60. 50 Auch die Modernität des Einheitsrechts, Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 60, ist relativ: Immerhin gibt etwa das UN-Kaufrecht von 1980 den Stand der Rechtsvergleichung vor mittlerweile mehr als dreißig Jahren wieder. 51 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 66 ff., vgl. zum Vorangehenden auch KOM (2004) 651 endgültig, S. 12. 52 Im Einzelnen dazu unter Rn. 36 ff. 53 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1, Ziff. 95.
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§ 4 Die Rechtsvergleichung
gescheut hat. Die neue Strategie bei der Entwicklung des Europäischen Privatrechts dürfte daher dazu führen, daß die Bedeutung der Rechtsvergleichung in diesem Prozeß zunimmt.
III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht Während die Verwendung rechtsvergleichender Ansätze im Rahmen der Privatrechtssetzung der Gemeinschaft bisher in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden hat, scheint die „rechtsvergleichende Auslegung“ etwas mehr Interesse zu wecken. Dies mag – wie oben bereits erwähnt – daran liegen, daß die Tätigkeit der Gerichte, die regelmäßig Normen interpretieren und damit laufend auf die Rechtsordnung einwirken, aus Sicht von Praxis und Lehre als wichtiger angesehen wird als der meist nur in größeren Abständen erfolgende Eingriff des Gesetzgebers.
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Da die Auslegung und Fortbildung des primären Gemeinschaftsrechts 54 anderen Prinzipien folgt als die des auf sekundären Rechtsakten beruhenden Europäischen Privatrechts, wird hier nur letztere, d.h. im wesentlichen die Interpretation von Richtlinien und Verordnungen mit privatrechtlichem Inhalt, auf ihren rechtsvergleichenden Hintergrund hin untersucht. Die Auslegungshoheit auch für diese Normen des Gemeinschaftsrechts liegt letztlich beim EuGH, weshalb dessen Tätigkeit zunächst behandelt wird (unten 1.). Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben ebenfalls Europäisches Privatrecht anzuwenden und auch eigenständig auszulegen, solange sie diesbezüglich keine Zweifel haben, die sie gemäß Art. 234 EG dem EuGH vortragen müßten. Darüber hinaus sind sie aber allein für das auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende – in der Regel nach dessen Vorgabe angeglichene – jeweilige nationale Recht zuständig, bei dessen Anwendung die Rechtsvergleichung ebenfalls zum Einsatz kommen könnte (unten 2.).
22
1.
Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH
Bezieht sich der EuGH als Maßstab für seine Entscheidung auf ein nationales Recht, was nur dann möglich ist, wenn das anzuwendende Gemeinschaftsrecht im Ausnahmefall auf diese Rechtsordnung verweist,55 dann geht er keineswegs rechtsvergleichend vor, denn er stellt nicht mindestens zwei Regelungen einander gegenüber, um ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Vielmehr wendet er, ähnlich wie ein nationaler Richter aufgrund einer Anordnung durch eine Verweisungsnorm des Internationalen Privatrechts, von vornherein eine bestimmte Rechtsordnung an.
23
Auch wenn der EuGH unterschiedliche Sprachfassungen eines Rechtsakts zur Interpretation bestimmter Begriffe heranzieht, liegt darin keine Rechtsvergleichung,
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54 Dazu Pechstein/Drechsler, unten § 8. 55 Vgl. dazu Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 706 ff.; Riesenhuber, unten, § 11 Rn. 4. Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
denn es handelt sich ja um ein und dieselbe Regelung in gleichermaßen verbindlichen Versionen. Damit ist aus den verschiedenen Sprachen zunächst der genaue, „eigentlich“ beabsichtigte Wortlaut zu ermitteln,56 der dann zum Gegenstand weiterer Auslegung wird. Wenn allerdings die Begriffe jeweils unter Zuhilfenahme der Rechtsordnungen analysiert werden, denen sie entstammen, liegt eine Art indirekte Rechtsvergleichung vor.57 Rein linguistische Vergleiche wird man dagegen regelmäßig weiterhin der Auslegung nach dem Wortlaut zuordnen.58
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Damit bleibt – wenn man von der oben bereits erörterten Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze absieht, welche als Lückenschließung der Rechtssetzung zugeordnet wurde – die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den EuGH, um im Rahmen der gemeinschaftsautonomen Auslegung Erkenntnisse über mögliche Interpretationsvarianten des Europäischen Privatrechts zu gewinnen59 und vor allem die privatrechtliche Argumentationsbasis zu verbreitern. Dies ist deshalb erforderlich, weil der EuGH sich bei der Auslegung des EG-Rechts traditionellerweise ganz überwiegend an der Sichtweise des institutionellen Europarechts, im Bereich des Europäischen Privatrechts bisher vor allem an den Zielen des Binnenmarktes sowie der damit verbundenen Rechtsangleichung, kurz: dem Harmonisierungsziel, orientiert. Die in Rede stehenden Rechtsakte, also derzeit – abgesehen von den gemeinschaftsnahen Übereinkommen – Richtlinien oder Verordnungen, bezwecken jedoch daneben immer auch eine inhaltliche, genuin privatrechtliche Problemlösung im Sinne eines Regelungsziels.60 Daher sind Rechtsmeinungen und Streitpunkte aus dem von der Anpassung betroffenen Rechtsgebiet in die Auslegung mit einzubeziehen, um die Sachfragen angemessen zu klären. Während auf EG-Ebene derzeit vor allem eine übergreifende privatrechtliche Systematik fehlt, bieten die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich einen reichen Fundus, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Diese Art der Rechtsvergleichung ist jedoch auf die jeweils verwendete Auslegungsmethode abzustimmen.
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Im Rahmen der historischen Auslegung einer Richtlinie oder Verordnung könnten etwa die privatrechtlichen Anwendungserfahrungen aus denjenigen Mitgliedstaaten berücksichtigt werden, bei denen bereits vor Erlaß des Gemeinschaftsrechtsakts
56 Lutter, JZ 1992, 593, 599, sieht darin bloße Textkritik. Vgl. auch Martiny, ZEuP 1998, 227, 239ff. 57 Schulze, ZfRV 1997, 183, 190. Häberle, JZ 1989, 913, spricht insoweit von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode. 58 Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 720 f., Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 46. So auch Riesenhuber, unten § 11 Rn. 15 ff.; ebenso bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 266 ff. 59 Bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533, als Inspirationsfunktion bezeichnet. Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (2000), S. 98, spricht von der horizontalen Funktion einer „komparativen Dogmatik“. 60 So steht etwa bei der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie neben der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt (BE 3) als Harmonisierungsziel die Stärkung des Vertrauens sowie ein Mindestmaß an Schutz für den Verbraucherkäufer (BE 5, 7) als Regelungsziel. Vgl. auch oben Rn. 3.
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§ 4 Die Rechtsvergleichung
ähnliche Bestimmungen galten; 61 dies darf jedoch keinesfalls dazu führen, daß auf längere Sicht eine national geprägte Interpretation der gemeinschaftsrechtlichen Regelung nach bestimmten Vorbildern festgeschrieben wird, denn dies widerspräche dem bereits erwähnten autonomen Charakter des Gemeinschaftsrechts.62 Für die systematische Auslegung, die sich ansonsten meist auf benachbartes Gemeinschaftsrecht – hier: andere Richtlinien im Bereich des Privatrechts – bezieht, könnten etwa zusätzlich die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Kommission als Hilfsmittel herangezogen werden, wodurch die darin eingeflossene Rechtsvergleichung nutzbar gemacht würde.63 Auch wenn diese principles (noch) 64 kein Gemeinschaftsrecht darstellen, bieten sie, in Anlehnung an die US-amerikanischen Restatements, ein privatrechtliches Argumentationsreservoir, welches leichter als die nationalen Rechtsordnungen zugänglich ist. Ebenso wie Regelungsentwürfe 65 ergänzen sie andere Auslegungsmittel. Auch im Europäischen Privatrecht könnten damit Lücken geschlossen werden, wie es Art. 1: 101 Abs. 4 PECL grundsätzlich vorsieht.66
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Ob darüber hinaus speziell bei der Auslegung von Richtlinien durch den EuGH im Wege der teleologischen Auslegung eine Einbeziehung des von den Mitgliedstaaten in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung angeglichenen nationalen Rechts – einschließlich der jeweiligen Rechtsprechung und Lehre – sinnvoll ist,67 dürfte zweifelhaft sein. In diesem Fall bestünde nämlich die Gefahr, daß die Auslegung der Richtlinie, an deren Inhalt die mitgliedstaatlichen Rechte auszurichten sind,68 von den Umsetzungsregeln in den Mitgliedstaaten beeinflußt wird. Dieser Zirkelschluß ist jedoch zu vermeiden.
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Festzuhalten bleibt, daß die Auslegungsmethoden in unterschiedlichem Maße Raum für eine Unterstützung durch die Rechtsvergleichung bieten, deren Anwendung in den Entscheidungen des EuGH jedoch nur selten offen gelegt wird.69 Allerdings ist
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61 Dies ist jedenfalls dort möglich, wo die Bestimmung, die Modell gestanden hat, hinreichend eindeutig zu erkennen ist, dazu oben Rn. 16. Für das UN-Kaufrecht wird unter diesen Umständen eine derartige nationale Einfärbung der Interpretation als Ausnahme von der autonomen Auslegung angeregt, Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 10. 62 Schulze, ZfRV 1997, 183, 189; Lutter, JZ 1992, 593, 601 f. Vgl. auch Riesenhuber, unten, § 11 Rn. 4ff. 63 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 45. Ebenso Berger, FS Sandrock (2000), S. 60 f., zur Verwendung der UNIDROIT-Principles. 64 Inwieweit sie bei der Erarbeitung des Gemeinsamen Referenzrahmens bzw. des optionellen Instruments nach dem Aktionsplan, dazu oben Rn. 18 ff., verwendet werden, ist noch nicht absehbar. 65 Dazu Riesenhuber, unten, § 11 Rn. 28 f. 66 Auch wenn in erster Linie an Lückenfüllung in einem nationalen Recht gedacht ist, von Bar/ Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002), S. 89 f. 67 So Lutter, JZ 1992, 593, 604. 68 Siehe dazu unten Rn. 30 ff. 69 Vgl. Iglesias, NJW 1999, 1, 8; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533; Everling, ZEuP 1997, 802, der auf deutlichere Hinweise in den Schlußanträgen der Generalanwälte verweist. Ein Beispiel bieten die Schlußanträge des Generalanwalts Tizzano v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Simone Leitner, Slg. 2002 I-2631, Rn. 40 – 42, wo recht pauschal die Entwicklung in den Mitgliedstaaten zum Ersatz entgangener Urlaubsfreude verglichen wird. Andreas Schwartze
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1. Teil: Grundlagen
auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts das Gemeinschaftsorgan, hier der EuGH, nicht verpflichtet, rechtsvergleichende Analysen vorzunehmen. Insofern besteht kein Unterschied zu den nationalen Gerichten, die bei der Auslegung ihres heimischen Rechts daran ebenso wenig gebunden sind. 2.
Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte
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Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt das oben zum EuGH Ausgeführte. Die Anwendung des an die Vorgaben vor allem von Richtlinien angepaßten innerstaatlichen Rechts, bei dem es sich ebenfalls um Europäisches Privatrecht, allerdings in nationalem Gewande, handelt, steht jedoch allein den heimischen Gerichten zu, weshalb dieser Teil ihrer Tätigkeit hier getrennt zu untersuchen ist.
31
Einhelligkeit besteht darüber, daß das vom Gemeinschaftsrecht beeinflußte nationale Privatrecht bei der Rechtsanwendung anders zu behandeln ist, als die allein auf innerstaatliche Erwägungen gegründeten Rechtssätze. Dies beruht auf der Fortwirkung der europäischen Vorgaben im nationalen Recht.70 Damit wird es erforderlich, einer national geprägten Anwendung und Auslegung des gemeinschaftsrechtlich angeglichenen Rechts entgegenzuwirken und zu einer möglichst einheitlichen Interpretation innerhalb der EG zu gelangen. Dazu kann vor allem ein Vergleich mit der Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten zu deren auf demselben Rechtsakt der Gemeinschaft beruhenden Umsetzungsbestimmungen beitragen71. Eine derartige „Beobachtung“ parallel ergangener Entscheidungen wird deshalb im internationalen Einheitsrecht vielfach durch spezielle teleologisch geprägte Auslegungsregeln angeregt. So verlangt etwa Art. 7 Abs. 1 CISG unter anderem, bei der Interpretation des Übereinkommens „seine einheitliche Anwendung … zu fördern“, wozu in erster Linie die Aufdeckung möglicher abweichender Auslegung durch die Ermittlung ausländischer Rechtsprechung beiträgt.72 Auch im europäisch verankerten Einheitsrecht wird dieser Grundsatz etwa in Art. 18 EVÜ für die Auslegung des Europäischen Vertragskollisionsrechts ganz ähnlich formuliert und verstanden,73 ebenso in den Europäischen Vertragsgrundregeln (Art. 1 : 106 Abs. 1 S. 2 PECL).74 Wenn auch in den EG-Richtlinien entsprechende Anweisungen fehlen, so verlangt der Vorrang des selbstverständlich einheitlich anzuwendenden Gemeinschaftsrechts eine entsprechende rechtsvergleichend ausgerichtete Interpretation für das angeglichene Privatrecht der Mitgliedstaaten.75 70 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, unten § 14. 71 Zudem können auf diese Weise mögliche Umsetzungswidersprüche des eigenen Rechts aufgedeckt werden, vgl. Gebauer, in: Gebauer/Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2005), S. 101 f. 72 Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 17; Staudinger-Magnus, Art. 7 CISG Rn. 21; Kramer, Methodenlehre, S. 232. 73 Zur rechtsvergleichenden Orientierung an ausländischer Rechtsprechung etwa Rummel-Verschraegen, ABGB (Bd. 2, 3. Aufl. 2004), Art. 18 EVÜ Rn. 13. 74 Inhaltlich übereinstimmend Art. 1.6. UP. 75 Dafür auch Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kötz, JZ 2002, 257, 258; Mansel, JZ 1991, 529, 531;
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Andreas Schwartze
§ 4 Die Rechtsvergleichung
Für den Vergleich heranzuziehen sind allerdings allein die Rechtsordnungen, für die eine einheitliche Auslegung verlangt wird, also die EG-Mitgliedstaaten (einschließlich wohl auch der EWR-Staaten).76 Diese haben in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung ihr nationales Recht angeglichen, so daß jeweils erkennbar wird, wie ihre Gesetzgeber und Gerichte die Zielvorgaben der Gemeinschaft verstehen. Dafür ist es allerdings erforderlich, den Gerichten die notwendigen Informationen über ausländische Gerichtsentscheidungen zugänglich zu machen. Der Aufbau entsprechender Datenbanken, ähnlich wie zum UN-Kaufrecht CLOUT oder UNILEX, steht jedoch noch am Anfang.77 Auch die aufbereitende Literatur fehlt bisher nahezu vollständig, da die Kommentare zu den nationalen Umsetzungsregelungen kaum auf ausländische Entscheidungen zu parallelen Normen in den anderen Mitgliedstaaten eingehen.
32
Inwieweit eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte bezüglich dieser Art der Rechtsvergleichung angenommen werden kann, ist wie regelmäßig bei Auslegungsfragen nur schwer zu bestimmen: Zumindest sollte eine Auseinandersetzung mit dem Richtlinienverständnis in anderen Mitgliedstaaten erkennbar werden, die Bewertung unterliegt dagegen dem Ermessen der Richter. Natürlich besteht keine Bindung an die Entscheidungen ausländischer Gerichte, man sollte ihnen allerdings eine nicht unerhebliche persuasive authority zumessen.78
33
Da der Bestand des Europäischen Privatrechts in den letzten Jahren zugenommen hat, dürfte vor allem bei den Gerichten der Mitgliedstaaten die Zahl der Entscheidungen zum umgesetzten Recht ansteigen. Damit müßte auch die Bedeutung der rechtsvergleichenden Methode bei der Anwendung dieser Regelungen zunehmen.
34
IV.
Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht
Im Bereich der Wissenschaft tritt der bislang erörterte Anwendungsbezug der rechtsvergleichenden Methode in den Hintergrund. Dort dient sie weniger als Hilfsmittel, vielmehr erfüllt sie vor allem ihre primäre Funktion, die Erkenntnisse über rechtliche Normen zu bereichern und die Vielfalt möglicher Regelungsmodelle zu veranschau-
Gruber, ZVglRWiss 2002, 42; weitergehend Odersky, ZEuP 1994, 1, 3 f. Zum dadurch entstehenden Aufwand skeptisch Berger, FS Sandrock (2000), S. 60. 76 Die Schweiz oder andere, etwa osteuropäische, Staaten, in denen Gemeinschaftsrecht teilweise freiwillig übernommen wird („autonomer Nachvollzug“, dazu etwa Schnyder, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs [2006], S. 206.), sind aus dieser Perspektive nicht in die rechtsvergleichenden Überlegungen mit einzubeziehen. 77 Eines der ersten Projekte dieser Art stellt die „JURE Database – JUrisdiction and the Recognition and Enforcement of judgments in civil and commercial matters“ zur EuGVVO, http://ec.europa.eu/comm/justice_home/fsj/civil/recognition/jure/ (zuletzt aufgesucht am 29.8. 2006), dar, an der der Verfasser als zuliefernder Experte für österreichische Entscheidungen mitwirkt. 78 Ähnlich für das UN-Kaufrecht Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 24. Andreas Schwartze
89
35
1. Teil: Grundlagen
lichen.79 Dadurch eignet sie sich besonders für die juristische Ausbildung,80 wo sie allerdings wiederum eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt und ihre praktische Verwertung dominiert. Beide Aspekte, Forschung wie Lehre, wirken sich im Gegenzug auf die zuvor dargestellte Rechtssetzung und Rechtsanwendung aus, soweit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung wahrgenommen werden und die rechtsvergleichend ausgebildeten Juristen ihre erworbenen Kenntnisse anwenden. In welchem Maße dies für das Europäische Privatrecht gilt, soll daher ergänzend dargestellt werden. 1.
Wissenschaftliche Projekte
36
Es drängt sich der Eindruck auf, daß in den letzten Jahren die wissenschaftlich fundierte Rechtsvergleichung mit Bezug zum Europäischen Privatrecht einen starken Aufschwung erlebt hat. Das liegt sicherlich daran, daß eine ganze Anzahl unterschiedlicher Forschungsgruppen oder akademischer Netzwerke gebildet wurden, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Materie befassen: 81 Neben der bereits Anfang der Achtziger Jahre von Ole Lando (Kopenhagen) gegründeten, aber erst etwa zehn Jahre später an die Öffentlichkeit getretenen82 „Commission on European Contract Law“ beschäftigen sich sowohl die „Academia dei Giusprivatisti Europei“ unter dem Vorsitz von Giuseppe Gandolfi (Pavia) wie auch die von Stefan Grundmann (Berlin) geleitete „Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht (SECOLA)“ mit den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten. Ein breiteres Gebiet bearbeiten sowohl die durch Christian von Bar (Osnabrück) geführte „Study Group on a European Civil Code“ mit ihren mittlerweile sieben Untergruppen (einschließlich des in Innsbruck beheimateten Restatement-Projekts zum Versicherungsvertrag) wie die von Hans Schulte-Nölke (Bielefeld) koordinierte „Acquis Group“, die sich am geltenden Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft ausrichtet. Weitere derartige think tanks befassen sich mit dem Deliktsrecht („European Centre of Tort and Insurance Law – ECTIL“, geleitet von Helmut Koziol, Wien), dem Verfahrensrecht (Storme-Kommission, mittlerweile unter der Obhut von UNIDROIT) oder generell mit dem „Common Core of European Private Law“ (Mauro Bussani/Ugo Mattei, Trento).
37
Allen diesen Gruppen ist gemeinsam, daß sie dezidiert rechtsvergleichend arbeiten, einige vorwiegend (Acquis Group) oder teilweise (SECOLA) innerhalb des von der Gemeinschaft erlassenen Privatrechts. Ebenfalls sämtliche Initiativen haben bereits umfangreiche Ergebnisse vorgelegt oder planen dies in naher Zukunft, wobei sowohl Regelungstexte entstanden sind – am bekanntesten bisher die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Gruppe – wie auch monographisch-deskriptive Untersuchungen. In nächster Zeit könnte es allerdings notwendig werden, die zwar personell teil-
79 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 14. 80 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 20; vgl. auch Brand, JuS 2003, 1083, 1084. 81 Dazu auch Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481, 483 f., sowie ausführlich Riedl, Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa (2004), S. 161 ff. 82 Lando, RabelsZ 56 (1992), 261 ff.
90
Andreas Schwartze
§ 4 Die Rechtsvergleichung
weise verknüpften aber inhaltlich unabhängig voneinander operierenden Einheiten zu koordinieren oder zumindest die Früchte ihrer Arbeit zu konsolidieren.83 Auf jeden Fall steht schon bisher umfangreiches rechtsvergleichendes Material zur Verfügung, welches von Rechtssetzung und Rechtsprechung sowohl auf Gemeinschaftsebene als auch in den Mitgliedstaaten, aber ebenso von Rechtsanwendern wie etwa Vertragsparteien, verwendet werden kann. In dem Maße, in dem dieses Angebot genutzt wird, steigt auch die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Weiterentwicklung des Europäischen Privatrechts. Der Aktionsplan der Kommission zum Vertragsrecht, in dem die Einbeziehung der Europäischen Vertragsgrundregeln vorgesehen ist und dessen Ausführung zum gewichtigen Teil der „Study Group“ übertragen wurde, zeigt einen gangbaren Weg auf, die Vorteile einer wissenschaftlich fundierten Rechtsvergleichung umfassend auszuschöpfen – auch wenn viele der oben erwähnten Ressourcen dabei noch ungenutzt bleiben. 2.
38
Juristische Ausbildung
Eine ähnliche Entwicklung wie in der rechtsvergleichenden Forschung deutet sich in den juristischen Studiengängen an: Auf der Grundlage der vermehrt erscheinenden rechtsvergleichend angelegten Lehr- und Handbücher, vom „Europäischen Vertragsrecht“ (Kötz/Flessner) 84 über das „Europäische Obligationenrecht“ (Ranieri) 85 bis hin zum „Ius Commune Casebook – Contract Law“ (Beale u.a.) 86, wird eine Einbeziehung der verschiedenen Privatrechte der Mitgliedstaaten im Sinne eines „gemeineuropäischen Privatrechts“ in die Veranstaltungen zum innerstaatlichen Recht erleichtert. Auf diese Weise gelangt die Rechtsvergleichung aus der Abgeschiedenheit der Wahl- oder Nebenfächer in das Zentrum des Rechtsunterrichts.
39
Darüber hinaus wurden bereits Studiengänge entwickelt, in denen die Grundlagen auch des Privatrechts ohne Beschränkung auf eine bestimmte nationale Rechtsordnung vermittelt werden, wie etwa das Beispiel der von Bremen, Oldenburg sowie Groningen getragenen „Hanse Law School“ 87 zeigt. Ähnlich wie in den USA wird in diesem Programm nicht mehr ein regionales (dort: Bundesstaaten-, hier: Mitgliedstaaten-)Recht gelehrt, sondern es werden die wesentlichen Elemente der europäischen Rechtsordnungen übergreifend dargestellt 88.
40
83 So für die Privatrechtsvereinheitlichung allgemein bereits Kramer, JBl. 1988, 477, 487. 84 Bisher nur Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Band I: Abschluß, Gültigkeit und Inhalt des Vertrages – Die Beteiligung Dritter am Vertrag (1996). 85 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht – Ein Handbuch mit Texten und Materialien (2003). 86 Beale/Kötz/Hartkamp/Tallon, Cases, Materials and Text on Contract Law (2002). In der gleichen Reihe van Gerven/Larouche/Lever, Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Tort Law (1998), sowie Beatson/Schrage, Cases, Materials and Text on Unjustified Enrichment (2003). 87 Das Programm findet sich unter http:/www.rug.nl/ocasys/rechten/vak/showpos?opleiding=361, zuletzt aufgesucht am 29.8.2006. 88 Befürwortend etwa Werro, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 119. Andreas Schwartze
91
1. Teil: Grundlagen
41
Auch auf diesem Feld, der Vermittlung des Europäischen Privatrechts, ist damit zu erwarten, daß die Bedeutung der Rechtsvergleichung zunimmt.
V.
Zusammenfassung – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum
42
Die bisher vorgenommene Einschätzung der Bedeutung der Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht, nach der diese insgesamt eher zunimmt, basiert auf der derzeitigen Situation, in der sich eine gemeinsame europäische Rechtsordnung noch im Werden befindet – wenn dieser Prozeß anscheinend auch zunehmend an Dynamik gewinnt. Geht man davon aus, daß in der EG mehr und mehr einheitliches Recht entsteht, bis diese Entwicklung irgendwann einmal an ihr Ende kommt, dann sinkt allerdings die Relevanz eines Vergleichs nationaler Rechtsordnungen innerhalb der Gemeinschaft, weil es dafür zunehmend weniger Material gibt sowie ein geringeres Bedürfnis besteht. Ähnlich wie früher zwischen den nationalen Rechtsordnungen nach der jeweiligen internen Vereinheitlichung durch die Zivilrechtskodifikationen Rechtsvergleichung betrieben wurde, könnte jedoch für den Vergleich mit außerhalb der EG bestehenden Privatrechten ein Bedürfnis entstehen.
43
Zumindest im Vertragsrecht, aber wohl auch im Gesellschaftsrecht, erscheint es nach der „Wende“ hin zu freiwilligen statt verpflichtenden Gemeinschaftsregelungen jedoch eher wahrscheinlich, daß in vielen Bereichen neben den derzeit 25 nationalen Regelungssystemen ein weiteres, europäisches Normengefüge dauerhaft etabliert wird. Auch für die Wahl zwischen diesen Rechtsordnungen müssen deren Vor- und Nachteile im Einzelfall verglichen werden, wodurch sich der Rechtsvergleichung ein zusätzliches Arbeitsfeld erschließt.
44
Letztlich ist aber festzuhalten, daß die Anwendung der Rechtsvergleichung – abgesehen vom Ausnahmebereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze 89 – in keinem der betrachteten Gebiete vorgeschrieben wird. Vielmehr hängt ihr Einsatz davon ab, daß die jeweiligen Nutzer (Gesetzgeber, Richter, Praktiker, aber auch Wissenschaftler, Studierende und Lehrende) sich von ihr Vorteile versprechen. Daher kann die Bedeutung dieser Methode auch im Bereich des Europäischen Privatrechts langfristig nur schwer abgeschätzt werden.
89 Siehe oben Rn. 8.
92
Andreas Schwartze
§ 5 Die ökonomische Theorie Christian Kirchner
Übersicht I. Problemstellung und Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rn. 1–5
II. Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6–9
III. Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10–14
IV. Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts . . . . . . 2. Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze . . . . . 1. Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas 2. Methodische Defizite von Wirkungsanalysen . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
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. . . .
20–24
. . . .
25–31 25–27 28–30 31
VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen . . . . . . . . 1. Hypothesenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable . . . . . . . . . . . . 3. Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen) 4. Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable . . . . . . . . . . . . . . 5. Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen . . . . . . . . 6. Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens . . . . . . . . . . . . . 7. Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis . . . . . . 8. Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes .
. . . . . . . . .
32–41 32 33 34 35–36 37 38 39–40 41
VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
42–44
Christian Kirchner
. . . .
18–19
. . . .
VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz a) Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie . c) Unterschiedlicher normativer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . .
15–24 15–17
. . . . . . . .
45–58 45
. . . . .
46–48 49–58 49 50–53 54–58
. . . . .
. . . . .
. . . . .
93
1. Teil: Grundlagen IX. Zwischenfazit: eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . X. Legislative Rechtsfortbildung: der Beitrag der ökonomischen Theorie 1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positive Analyse von Normsetzungsverfahren . . . . . . . . . . . 3. Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht . . 4. Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren . . . . . .
. . . . .
60–69 60–62 63 64–68 69
XI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
. . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
59
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94
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
I.
Problemstellung und Gang der Darstellung
Die Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft 1, gerichtet auf Integration. Europäisches Gemeinschaftsrecht ist damit vornehmlich Integrationsrecht. Es zielt auf die ökonomische, politische, rechtliche und soziale Integration der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Im Vordergrund steht die Realisierung des europäischen Binnenmarktes 2, also eine ökonomische Zielsetzung.
1
Diese ökonomische Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts sollte sich in einer ‚europäischen Methodenlehre‘ widerspiegeln. Das zentrale methodische Problem einer Integration der ökonomischen Theorie bei der Fortentwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts scheint dort zu liegen, wo Auslegung des Rechts übergeht in judikative Rechtsfortbildung. Der Streit, ob und wie zwischen Normauslegung durch Gerichte und judikativer Rechtsfortbildung zu unterscheiden sei3, ist hier nicht aufzugreifen. Es steht außer Frage, daß sowohl der Europäische Gerichtshof wie auch das Gericht Erster Instanz Rechtsfortbildung betreiben, indem sie Primär- und Sekundärrecht der Gemeinschaft auslegen. Insbesondere die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs war und ist treibende Kraft im europäischen Integrationsprozeß.4
2
Die von den Gerichten verwendeten Auslegungsmethoden sind ein wichtiger Faktor für die Rechtsfortbildung des europäischen Gemeinschaftsrechts. Sie steuern bis zu einem gewissen Grad Richtung und Geschwindigkeit der judikativen Rechtsfortbildung. Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen steht deshalb die These, daß die gegenwärtig von den Gerichten angewandten und in der Literatur diskutierten Interpretationsmethoden Defizite aufweisen und daß diese darin begründet liegen, daß bisher die ökonomische Theorie in unzureichendem Maße Eingang in die Interpretationsmethodik gefunden hat. Dann gilt es in einem zweiten Schritt zu klären, wie eine Integration ökonomischer Ansätze in Interpretationsmethoden, die für die Fortentwicklung des europäischen Gemeinschaftsrechts verwendet werden, zu erfolgen hat. Dabei ist entscheidend, welcher ökonomische Ansatz sich für eine solche Integration eignet. Zu trennen sind dabei positive und normative ökonomische Theorie. Während die erste als Realwissenschaft Wissen über Funktionszusammenhänge zwischen Änderungen rechtlicher Regelungen und den dadurch bewirkten Folgen (Wirkungsanalyse) produzieren kann, fragt die normative Theorie nach der wünschbaren Gestaltung rechtlicher Regelungen.
3
1 Vgl. Hallstein, in: Oppermann/Hallstein (Hrsg.), Europäische Reden (1979), S. 109; ders., Die Europäische Gemeinschaft (1979), S. 51–57; Zuleeg, NJW 1994, 545; Pernice, in: Zuleeg (Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas (2003), S. 56 ff.; Mayer, in: Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft (2003), S. 429–487. 2 Kirchner, in: Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 398 f., 413– 415. 3 Vgl. zu diesem Streit: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 618–621; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 796–820; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 253–257. 4 Vgl. für viele Streinz, Europarecht, Rn. 494. Christian Kirchner
95
1. Teil: Grundlagen
4
Neben die skizzierten methodischen Fragen der judikativen Rechtsfortbildung europäischen Gemeinschaftsrechts treten solche der legislativen Rechtsfortbildung, also der Gesetzgebung. Der Beitrag der Ökonomik beruht hier auf der Tatsache, daß es sich bei ihr um eine individualistische Gesellschaftswissenschaft handelt, die nicht von Interessen von Kollektiven ausgeht, sondern von Individualinteressen. Deshalb wird nicht auf das ‚Gemeinschaftsinteresse‘ oder auf ‚nationale Interessen‘ abgestellt, sondern auf die Interessen der Bürger. Dies hat weitreichende Konsequenzen für methodische Fragen der legislativen Normsetzung. Im Vordergrund der hier angestellten Überlegungen stehen allerdings methodische Fragen der judikativen Rechtsfortbildung.
5
Wenn nach einer ‚ökonomischen‘ Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht gesucht wird, geht es nicht um eine radikale Abkehr von herkömmlichen Interpretationsmethoden, sondern um ihre sinnvolle Fortentwicklung. Dabei wird es erforderlich sein, im ständigen Perspektivenwechsel – nämlich einmal aus der rechtswissenschaftlichen, dann aus der wirtschaftswissenschaftlichen Sichtweise – die derzeit bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht vorherrschende teleologische Interpretationsweise zu analysieren, zu kritisieren und fortzuentwickeln. Entscheidend für das Gelingen eines derartigen Unterfangens ist nicht nur eine kritische Analyse traditioneller rechtswissenschaftlicher Methodik, sondern ebenso eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen theoretischen Ansätzen der Ökonomik. Der Schwerpunkt dieser Auseinandersetzung wird dabei auf den Unterschieden zwischen dem neoklassischen wohlfahrtstheoretischen und dem institutionenökonomischen Ansatz liegen. Dies ist dann auch die Grundlage für die Frage, wie sich die ökonomische Theorie für eine europäische Methodenlehre der legislativen Normsetzung fruchtbar machen läßt. Es ist innerhalb der Institutionenökonomik weiter zu differenzieren. Dabei gelangt die Subdisziplin Konstitutionenökonomik (ökonomische Theorie der Verfassung, constitutional economics) in den Blick, aus deren Perspektive sich Gesetzgebungsfragen oftmals grundlegend anders darstellen als in rechtswissenschaftlichen Ansätzen.
II.
Grundüberlegungen zur Integration ökonomischer Theorieansätze in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen
6
Rechtliche Regelungen, besonders solche des europäischen Gemeinschaftsrechts, werden zielgerichtet eingesetzt, um bestimmte Zwecke – etwa die Realisierung des europäischen Binnenmarktes – zu erreichen. Ist im konkreten Fall zu entscheiden, wie solche Regelungen anzuwenden sind, können unterschiedliche Interpretationsvarianten zu einem je verschiedenen Zielerreichungsgrad führen. Dann liegt es nahe, der Variante den Vorzug zu geben, bei der die Zielerreichung besser gewährleistet erscheint.
7
Um eine gehaltvolle, nachprüfbare Aussage darüber machen zu können, wie sich verschiedene Interpretationsvarianten auf die Zielerreichung auswirken (vergleichende Wirkungsanalyse), ist es erforderlich, realwissenschaftlich vorzugehen. Da rechtliche Regelungen an Menschen adressiert sind und ihre Wirkung über Anreize und Sank-
96
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
tionen entfalten, sie damit Einfluß auf soziale Interaktionen nehmen, erscheint es geraten, auf eine Sozialwissenschaft zuzugreifen, die es erlaubt, im Sinne einer positiven Analyse die erforderlichen gehaltvollen, nachprüfbaren Aussagen zu generieren. Die Ökonomik ist diejenige Sozialwissenschaft, die in ihrer positiven Variante Aussagen darüber generiert, wie menschliche Akteure unter Knappheitsbedingungen in der sozialen Interaktion auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen reagieren. Sie verwendet für solche positiven Analysen einen Satz von Annahmen (ökonomisches Paradigma): eigennutzorientiertes Rationalverhalten individuell handelnder Akteure. Setzt man das methodische Instrumentarium der Ökonomik ein, um zu klären, welche unterschiedlichen Wirkungen aus der Wahl unterschiedlicher Interpretationsvarianten folgen (Folgenberücksichtigung), so sind die gewonnenen Aussagen für die Interpretation rechtlicher Regelungen deshalb von Wert, weil der Zusammenhang zwischen Interpretation und Normzielerreichung erhellt wird. Der ökonomische Ansatz wird also im Rahmen einer folgenorientierten Norminterpretation eingesetzt.5
8
Während die Integration ökonomischer Ansätze der positiven Theorie in Interpretationsansätze rechtlicher Regelungen sich damit zuerst einmal recht einfach darstellt, erweist sich eine Integration normativer Ansätze erheblich schwieriger. Es geht darum, wie ökonomische Ansätze im Rahmen rechtlicher Güterabwägungen fruchtbar gemacht werden können. Hier ist die Wahl des ökonomischen Theorieansatzes deshalb von zentraler Bedeutung, da ein auf das Ziel der effizienten Ressourcenallokation gerichteter Ansatz sich nur schwer in normative rechtswissenschaftliche Ansätze einfügen läßt. Ob dieses Problem mit einem normativen Ansatz, der nach Lösungen sucht, die seitens der Regelungsadressaten als zustimmungsfähig erachtet werden (hypothetischer Konsens), lösbar ist, bedarf der sorgfältigen Prüfung.
9
III. Grundüberlegungen zur am Normzweck ausgerichteten Interpretationsmethode rechtlicher Regelungen In der herkömmlichen Methodendiskussion der Rechtswissenschaft steht der Zusammenhang zwischen Normziel und Interpretation im Zentrum der teleologischen Interpretationsmethode.6 Schließt diese vom Normzweck auf die angemessene Interpretation, so verwendet sie das Zweck-Mittel-Paradigma.7 Sie arbeitet mit der These, daß die Interpretation ein relevanter Faktor für die Erreichung des Normzwecks ist.
5 Vgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 605–609; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 172, 227–236; Rottleuthner, Wissenschaften und Philosophie als Basis der Jurisprudenz (1980), S. 27ff.; Kirchner, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, S. 33; Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung; Wälde, Juristische Folgenorientierung (1979). 6 Vgl. für viele: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 600–603; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 435–463; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 222–227; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 7 Zum Zweck-Mittel-Paradigma: Streit, Theorie der Wirtschaftspolitik (2005), S. 270; Mertens/ Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht, S. 46 f. Christian Kirchner
97
10
1. Teil: Grundlagen
Unterschiedliche Interpretationsvarianten stellen Mittel dar, die im Rahmen des Zweck-Mittel-Verhältnisses unter dem Gesichtspunkt einer möglichst genauen Zielerreichung eingesetzt werden.
11
Dann geht es um zwei Probleme: (1) Mögliche methodische Defizite des ZweckMittel-Paradigmas, (2) Qualität der Analyse, ob und wieweit unterschiedliche Interpretationsvarianten sich zur Erreichung des Normzwecks eignen (Wirkungsanalyse).
12
Bezüglich der Verwendung des Zweck-Mittel-Paradigmas wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls wie in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion auf die in der Ökonomik vorgebrachten methodischen Einwände eingegangen wird.
13
Bezüglich der vorzunehmenden Wirkungsanalyse ist entscheidend, daß synthetischnomologische, also empirisch gehaltvolle, nachprüfbare Aussagen darüber gemacht werden können, wie sich unterschiedliche Interpretationsvarianten für die Zielerreichung eignen. Die Qualität dieser – positiven – Aussagen ist zentrales Element bei der Verwendung einer teleologischen Methode der Norminterpretation. Sie wiederum hängt vom verwendeten methodischen Ansatz ab.
14
Die zwei möglichen Schwachpunkte des skizzierten methodischen Vorgehens liegen zum einen in möglichen Defiziten des Zweck-Mittel-Paradigmas, zum anderen im für die Wirkungsanalyse gewählten theoretischen Ansatz.
IV.
Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts: Implikation für die Methodik der Interpretation
1.
Ökonomische Zielorientierung europäischen Gemeinschaftsrechts
15
Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft 8 stellt in der Präambel, in Art. 2 und 3 maßgeblich auf wirtschaftliche Zielsetzungen ab. Die Tätigkeit der Gemeinschaft erschöpft sich allerdings nicht darin. Dennoch ist unverkennbar, daß die wirtschaftliche Integration das Herzstück der europäischen Integration ist.9 Die Durchsetzung der Grundfreiheiten (Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Niederlassungsfreiheit) zusammen mit dem am Binnenmarktziel orientierten Harmonisierungsprogramm (Art. 94, 95 EG) stellen sich ökonomisch als Instrumente der Integration der früher voneinander getrennten und gegeneinander abgeschotteten nationalen Märkte der Mitgliedstaaten dar.
16
Die Richtlinie gem. Art. 249 Abs. 3 EG ist das wichtigste Instrument der Harmonisierung des Rechts der Mitgliedstaaten. Sie legt die Ziele verbindlich fest, überläßt den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist, jedoch die Wahl der Form und der Mittel. Das hat zur Konsequenz, daß – unabhängig von der Detailliertheit der Regelungen der Richtlinie, die den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten stark einschränken kann –
8 ABl. Nr. C 325/33. 9 Kirchner, in: Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 398 f., 413–415.
98
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
die Richtlinie entweder in ihren Regelungen explizit die Ziele nennt oder diese in den Erwägungsgründen aufführt.10 Sowohl das Primärrecht der Gemeinschaft wie auch das Sekundärrecht sind also stark ökonomisch zielorientiert. Der Grund dafür liegt darin, daß die Konstruktion der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, später der Europäischen Gemeinschaft, so angelegt war, daß rechtliche Instrumente in Gestalt von Zweckprogrammen eingesetzt werden, um das wirtschaftliche Integrationsziel zu erreichen. Die Europäische Gemeinschaft ist deshalb Rechtsgemeinschaft, um Wirtschaftsgemeinschaft zu werden. Das muß sich auf den spezifischen Charakter der zielgerichtet eingesetzten rechtlichen Regelungen auswirken. 2.
17
Methodische Implikationen der ökonomischen Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts
Die ökonomische Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts erfordert ein besonderes Zusammenwirken zwischen europäischem Gemeinschaftsrecht auf der einen Seite und dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Dies ist durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gekennzeichnet 11, der damit gerechtfertigt wird, daß andernfalls das Integrationsziel verfehlt würde. Für die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bedeutet der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, daß sie (1) Gemeinschaftsrecht in einer Art und Weise umzusetzen haben, daß die (gemeinschaftsrechtlich definierte) Zielerreichung gewährleistet ist, (2) die Interpretation des in nationales Recht umgesetzten Gemeinschaftsrechts sich an der gemeinschaftsrechtlich definierten Zielsetzung orientiert, und (3) der nationale Gesetzgeber keine Regelungen erläßt, die dem Gemeinschaftsrecht entgegenstehen oder dessen Wirkung behindern. Damit werden für Gebiete, die der gemeinschaftsrechtlichen Regelung unterworfen sind, enge Grenzen für eine nationale Rechtsfortbildung seitens der Mitgliedstaaten gesetzt. Das gilt sowohl für die legislative wie für die judikative Rechtsfortbildung. Für letztere ist mit dem Vorabentscheidungsverfahren des Art. 234 EG nicht nur eine spezifische Verfahrensnorm für die Behandlung von Auslegungsproblemen umgesetzten Gemeinschaftsrechts geschaffen worden, sondern auch eine Kompetenznorm für den Europäischen Gerichtshof. Er hat es in der Hand, über seine Judikatur in Vorabentscheidungen die Zielerreichung des Gemeinschaftsrechts zu sichern. Das gilt nicht nur für Sekundärrecht der Gemeinschaft, sondern auch für Primärrecht, soweit nämlich nationales Recht der Mitgliedstaaten mit diesem Primärrecht kollidiert.
18
Ist es sowohl Aufgabe der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten wie auch des Europäischen Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz, bei der Rechtsfortbildung von
19
10 Vgl. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-684 Rn. 22; EuGH v. 19.11. 1996 Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 13; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 156; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531. 11 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251; vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 168–225; Mayer, in: Schuppert u.a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 458–462; Alter, Establishing the Supremacy of European Law (2001). Christian Kirchner
99
1. Teil: Grundlagen
Gemeinschaftsrecht die Zielorientierung der betreffenden Regelungen nicht nur zu beachten, sondern sie zum Leitstern der Interpretation zu machen, so muß sich dies in der gewählten Interpretationsmethode niederschlagen. 3.
Methodische Antworten in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur
20
Die in den Vorabschnitten dargelegte Problematik schlägt sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und in der Literatur nieder. Die Problemlösungen unterscheiden sich zwar in Nuancen, sind aber im Ansatz sehr wohl vergleichbar. Es wird eine Interpretationsmethode gewählt, die auf die Zielsetzung der Norm abstellt (teleologische Interpretationsmethode).12 Daneben wird auf die systematische Interpretationsmethode abgestellt 13 sowie auf die dynamische.14
21
Nach der teleologischen Interpretationsmethode wird die Auslegung gesucht, die am besten dem Normzweck entspricht.15 Entscheidend ist dann zuerst, wie der Normzweck zu bestimmen ist. Während in der Methodendiskussion in Deutschland 16 weithin im Sinne einer objektiv-teleologischen Interpretationsmethode auf die Position des objektivierten Gesetzgebers abgestellt wird,17 wird für die Auslegung europäischen Gemeinschaftsrechts darauf verwiesen, daß die Integration ein fortschreitender Prozeß sei und deshalb dieser Dynamik auch in der Interpretation Rechnung zu tragen sei, also eine ‚dynamische Interpretation‘ im Sinne integrationsfördernder Lösungen zu suchen seien; dieser Gedanke wird mit dem Grundsatz verbunden, die Auslegung habe der Norm praktische Wirksamkeit zu verleihen (effet utile).18
12 Vgl. EuGH v. 26.2.1975 – Rs. 67/74 Bonsignore ./. Oberstadtdirektor der Stadt Köln, Slg. 1975, 297 Rn. 5; EuGH v. 14.2.1980 – Rs. 84/79 Meyer Uetze ./. Hauptzollamt Berlin-Packdorf, Slg. 1980, 291 Rn. 5 ff.; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 202–230; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 37; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 335; Lutter, JZ 1992, 593, 602 f.; Menzel, in: Paschke (Hrsg.), Deutsches und internationales Wirtschaftsrecht (1998), S.60–62; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration, S. 57; Streinz, Europarecht, Rn. 498. 13 Vgl. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 177–201; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 34–36; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 531; Zuleeg, EuR 1969, 97, 102 f. 14 Vgl. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 213–216; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Zuleeg, EuR 1969, 97,105f. 15 Vgl. für viele: Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 600–603; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 435–463; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 222–227; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 16 Kritisch insbes. Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 717–730. 17 Vgl. Kirchner, in: Hof/Schulte (Hrsg.), Wirkungsforschung zum Recht III, S. 34. 18 Vgl. Bleckmann, NJW 1982, 1180; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 208–211; Everling, JZ 2000, 217, 223; Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, Rn. 355.
100
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
Allerdings wird dem entgegengehalten, daß mit der Einführung des Subsidiaritätsprinzips keineswegs einseitig auf eine fortschreitende Integration hinzuarbeiten sei, daß vielmehr ein Ausgleich zwischen den Interessen an der europäischen Integration und den Interessen der Mitgliedstaaten zu suchen sei.19 Damit eröffnen sich für denjenigen, der eine Norm des Gemeinschaftsrechts auslegt und fortentwickelt, weite Spielräume, da nunmehr mit der Gewichtung der Interessen – entweder mehr Integration oder mehr Regelungskompetenz auf der Mitgliedstaatenebene im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – der Norminterpret in der Lage ist, mit der Wahl des Normzwecks das Ergebnis der Auslegung zu steuern. Es besteht die Gefahr einer tautologischen Argumentation.
22
Die Gefahr tautologischer Argumentation ist ein Defizit der objektiv-teleologischen Interpretationsmethode nicht nur bei ihrer Anwendung auf die Auslegung des europäischen Gemeinschaftsrechts. Dieses Defizit ist immer dort besonders groß, wo entweder mit inkonsistenten Zielkatalogen gearbeitet wird, wo aufgrund politischer Abstimmung die Ziele als Formelkompromisse formuliert sind oder wo besonders unbestimmte Zielsetzungen gewählt wurden, um der Entwicklung der Regelungsmaterie durch die Rechtsprechung keine zu engen Grenzen abzustecken. An diesen drei Beispielen zeigt sich, daß die Wahl der Interpretationsmethode ein entscheidender Faktor für die Abgrenzung der Gewalten Legislative und Judikative ist. Wird auf den objektivierten Normzweck einer Regelung für deren Interpretation abgestellt, so kann die Legislative gleichsam Normsetzungsbefugnis auf die Judikative verlagern. Umgekehrt kann die Judikative, insbesondere, wenn sie Argumente einer ‚dynamischen‘ Interpretation verwendet, ihren eigenen Rechtsfortbildungsspielraum autonom erweitern. Ohne wertend beurteilen zu wollen, ob die Entwicklung im europäischen Gemeinschaftsrecht positiv oder negativ zu sehen ist, kann jedenfalls festgestellt werden, daß die Rolle des Europäischen Gerichtshofs als ‚Motor der Integration‘ 20 auf die ‚dynamische‘ Interpretationsmethode zurückzuführen ist, die dieser in wichtigen Urteilen herangezogen hatte.21
23
Die in der rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion erörterten Defizite der objektiv-teleologischen Interpretationsmethode blenden zwei wichtige weitere methodische Defizite aus, nämlich die methodische Angreifbarkeit des Zweck-Mittel-Paradigmas und die Gefahr des Verzichts auf vergleichende Wirkungsanalysen unterschiedlicher Interpretationsvarianten.
24
19 Vgl. Zuleeg, EuR 1969, 97, 104. 20 Vgl. für viele Streinz, Europarecht, S. 21 f. 21 Vgl. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 213–216; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Zuleeg, EuR 1969, 97, 105 f. Christian Kirchner
101
1. Teil: Grundlagen
V.
Methodische Defizite herkömmlicher Ansätze
1.
Methodische Defizite des Zweck-Mittel-Paradigmas
25
Das Zweck-Mittel-Paradigma22 ist ein Optimierungsprogramm. Es fragt alternativ, welches bestmögliche Ziel mit einem gegebenen Mitteleinsatz erreicht werden kann, oder wie ein gegebenes Ziel mit einem minimalen Mitteleinsatz erreicht werden kann. Damit ist es Ausdruck der ökonomischen Zweckrationalität im Sinne von Max Weber.23 Es war und ist ein in der Theorie der Wirtschaftspolitik viel verwendetes Paradigma. Das liegt schon deshalb nahe, weil es auf der Linie einer normativen Ökonomik liegt, die ihre Aufgabe darin sieht, Beiträge zur Überwindung oder Linderung der Ressourcenknappheit zu leisten. Jede Vergeudung von Ressourcen widerspricht diesem Ziel. Also geht es im Sinne des auch als ‚ökonomisches Prinzip‘ bezeichneten Paradigmas um sparsame Ressourcenverwendung. Ein gegebenes Ziel ist also mit einem minimalen Ressourceneinsatz zu erreichen. Dann sind diese Ressourcen so einzusetzen, daß keine Allokation denkbar ist, bei der ein besseres Ergebnis (output) erzielt werden könnte (effiziente Ressourcenallokation). Zwischen Zweck-MittelParadigma, ökonomischem Prinzip und effizienter Ressourcenallokation besteht also sowohl methodisch wie wertungsmäßig ein Gleichklang.
26
Ohne hier auf die methodischen Defizite des Ziels der Allokationseffizienz einzugehen, können gegen das Zweck-Mittel-Paradigma drei grundsätzliche Einwände formuliert werden.24 (1) Die Konzentration auf die Zweck-Mittel-Problematik klammert die Zieldiskussion weitgehend aus; es wird axiomatisch argumentiert. (2) ‚Nebenwirkungen‘ der eingesetzten Mittel werden entweder nicht in Rechnung gestellt oder allenfalls als Störfaktoren gesehen. Es geht dabei um die nicht intendierten Handlungsfolgen im Hayekschen Sinne 25, die ein erhebliches Problem für den zweckrationalen Einsatz von Instrumenten zur Steuerung sozialer Interaktionen darstellt. (3) Die Wechselwirkungen zwischen Mitteln und Zwecken werden systematisch ausgeblendet. Damit geraten Zirkularitäten zwischen Mitteln und Zwecken nicht in den Blick.
27
Solange das Zweck-Mittel-Paradigma auf der Ebene einer Common Sense-Argumentation eingesetzt wird, fallen die genannten Defizite nicht weiter ins Auge. Das bedeutet aber nicht, daß sie deshalb hinzunehmen wären. Eine Auswahl von Mitteln im Sinne des Optimierungsprogramms des Zweck-Mittel-Paradigmas kann damit zur Folge haben, daß die Diskussion verkürzt geführt wird und das normative Fundament – nämlich das ökonomische Prinzip – nicht tragfähig ist. Diese gravierende Problematik wird in der rechtswissenschaftlichen Diskussion der objektivteleologischen Interpretationsmethode nicht angesprochen.
22 Zum Zweck-Mittel-Paradigma Nachweise oben in Fn. 7. 23 Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1990), S. 13. 24 Zur Kritik des Zweck-Mittel-Schemas vor allem: Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln (1980). 25 Hayek, Freiburger Studien (1969), S. 97.
102
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
2.
Methodische Defizite von Wirkungsanalysen
Um beurteilen zu können, ob und welche Probleme in Bezug auf Wirkungsanalysen im Rahmen der teleologischen Interpretationsmethode auftreten, ist zuerst kurz zu skizzieren, wie solche Wirkungsanalysen durchzuführen wären, bewegte man sich streng auf dem Boden des Zweck-Mittel-Paradigmas und dem ‚klassischen‘ Kanon der rechtswissenschaftlichen Auslegungsmethoden. Es wären dann in einem ersten Schritt mit Hilfe des Instrumentariums der Wortauslegung und der systematischen Auslegung diejenigen Interpretationsvarianten herauszufiltern, die juristisch-dogmatisch als Lösungen in Betracht kommen.26 Dadurch wird der Möglichkeitsraum für Rechtsfortbildung über Rechtsauslegung aus juristisch-dogmatischer Sicht abgesteckt. Übertragen in eine demokratietheoretische Argumentation geht es um ein Legitimationsproblem, nämlich das Abstecken der Grenzen der Rechtsetzung durch die Judikative, die ihre Legitimation – und damit auch ihre Unabhängigkeit – aus ihrer Funktion als Rechtsanwenderin des von der Legislative gesetzten Rechts zieht. Die Diskussion um diese Grenzen wird streitig geführt.27 Dem ist hier aber nicht nachzugehen. Denn auf dem Gebiet des europäischen Gemeinschaftsrechts wird eine Rechtsfortbildungskompetenz des Europäischen Gerichtshofs heute weitgehend akzeptiert, aber in den Grenzen, die durch die ‚klassischen‘ Interpretationsmethoden gezogen werden, zu denen auch Wortlautauslegung und systematische Auslegung zählen.
28
Sind die ‚möglichen‘ Interpretationsvarianten bestimmt, ist in einem zweiten Schritt – sofern man unterstellt, daß Einigkeit bezüglich des Regelungszieles besteht, – zu klären, welche dieser Varianten sich als für die Zielerreichung am geeignetsten erweist. Für die verschiedenen Interpretationsvarianten sind Prognosen erforderlich, welche Auswirkungen tatsächlich zu erwarten sind. Es geht nicht um Sollensaussagen, sondern um Ist-Aussagen. Die Aussagen sind, sollen sie wissenschaftlich nachprüfbar sein, als falsifizierbare Hypothesen zu formulieren. Werden sie falsifiziert, etwa durch wissenschaftliche Urteilsanalysen, können sie in dieser Form nicht mehr als Fundament der Auslegung verwendet werden. Im Lichte dieser Anforderungen an Wirkungsanalysen im Rahmen der Normauslegung nach der teleologischen Interpretationsmethode lassen sich zwei Anforderungen formulieren, die an diese Analysen zu stellen sind: (1) Es sind vergleichende Wirkungsanalysen zu erstellen, da es um den relativen Grad der Zielerreichung geht. (2) Die verwendeten Annahmen und die Methodik sind offenzulegen, damit eine Falsifizierung der gewonnenen Hypothesen möglich ist.
29
Vor dem Hintergrund dieser Skizze einer modellhaften Anwendung der teleologischen Interpretationsmethode wird deutlich, wo in der Realität mögliche Defizite liegen: (1) Es wird nur auf eine Interpretation abgestellt, ohne den Möglichkeitsraum
30
26 Vgl. Kirchner/Koch, Zeitschrift für Sozialwissenschaften, 11 (1989), S. 120–124. 27 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 223; Hillgruber, in: Danwitz u. a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit (1993); Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535; Ott, EuZW 2000, 293–298. Christian Kirchner
103
1. Teil: Grundlagen
der Interpretationsvarianten abzustecken. Eine vergleichende Wirkungsanalyse wird dann unmöglich. (2) Es werden Annahmen und Methodik des Vorgehens nicht offengelegt. (3) Es werden Aussagen in einer Weise formuliert, daß sie nicht falsifiziert werden können. 3.
31
Zwischenfazit
Bei der Interpretation europäischen Gemeinschaftsrechts wird der Funktionszusammenhang zwischen ökonomischer Zielsetzung der Norm und der Wahl der angemessenen Interpretation gesehen. Die verwendete Methodik weist aber zwei grundlegende Defizite auf: (1) Das zur Anwendung gelangende Zweck-Mittel-Paradigma eröffnet unkontrollierte Spielräume und führt zu zirkulären Argumentationen. (2) Die in der teleologischen Interpretationsmethode durchzuführenden vergleichenden Wirkungsanalysen weisen erhebliche methodische Mängel auf.
VI. Ein ökonomischer Ansatz für vergleichende Wirkungsanalysen 1.
32
Für die Auslegung rechtlicher Regelungen, die auf ökonomische Zielsetzungen gerichtet sind, liegen Wirkungsanalysen nahe, die sich des Instrumentariums der ökonomischen Theorie bedienen, die zu Hypothesen über die erwarteten Wirkungen der Auslegung führen. Wenn es etwa darum geht, welche Interpretationsvariante zu einer deutlicheren Reduktion von Transaktionskosten führt, die wiederum Voraussetzung für eine schnellere Realisierung des europäischen Binnenmarktes ist, sind Hypothesen über die erwarteten ökonomischen Wirkungen der betreffenden Interpretationsvarianten aufzustellen. 2.
33
Unabhängige und abhängige ,ökonomische‘ Variable
Die Art von Hypothesenbildung für die Interpretation rechtlicher Regelungen liegt auf der Ebene dessen, was ökonomische Theorie üblicherweise leistet, wenn sie fragt, wie sich die Änderung einer unabhängigen Variablen (etwa der Zinssatz, zu dem die Zentralbank Wechsel ankauft – Diskontsatz) auf abhängige Variablen auswirkt (etwa die prozentuale Änderung der Anlageinvestitionen). Unabhängige Variablen werden auch als Restriktionen (constraints) oder Sanktionen (sanctions) oder Anreize (incentives) bezeichnet. Man kann bei der Änderung unabhängiger Variablen auch von einer Änderung des Anreiz-/Sanktionssystems sprechen. Allgemeiner ist im umfassenden Sinne von Änderungen von Restriktionen die Rede. 3.
34
Hypothesenbildung
Wirkungsweise der Änderung von Restriktionen (unabhängigen Variablen)
Verändern sich Restriktionen (unabhängige Variable), führt dies zu Verhaltensänderungen bei den Adressaten dieser Restriktionen, also bei denen, deren Anreiz-/Sanktionssystem verändert wird. Im Beispiel der veränderten Höhe der Anlageinvestitionen werden diejenigen, die Investitionsentscheidungen zu treffen haben, die veränderten
104
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
Restriktionen in ihr Entscheidungskalkül aufnehmen. Die Folge ist eine Änderung sozialer Interaktionen. Insofern ist Ökonomik eine Sozialwissenschaft.28 4.
Rechtliche Regelungen als unabhängige Variable
Bei der Änderung der unabhängigen Variable ist es nicht ausschlaggebend, ob diese auf natürliche Ursachen zurückzuführen ist (etwa eine Erwärmung infolge einer Klimaänderung), ob sie auf administrativen Maßnahmen beruht (etwa Änderung des Diskontsatzes durch die Zentralbank) oder ob es sich um Änderungen im rechtlichinstitutionellen Rahmen der betreffenden Volkswirtschaft handelt (etwa um eine Änderung im Außenhandelsrecht, durch welche Handelsschranken gesenkt werden). Unterscheidet man – wie dies in modernen ökonomischen Abhandlungen getan wird 29 – zwischen der Handlungsebene und der Ebene der Handlungsbedingungen, so sind es Änderungen auf der Ebene der Handlungsbedingungen, die als ökonomische Variable von Interesse sind, wenn der ökonomische Ansatz auf Fragen der Gestaltung der Rechtsordnung bezogen werden soll. Es ist von daher problemlos möglich, Änderungen rechtlicher Regelungen als ‚ökonomische‘ Variable zu behandeln, bzw. sie als Variable in Untersuchungen zu behandeln, in denen der ökonomische Theorieansatz verwendet wird. Das ist nicht eine Neuerung, die erst mit der Entwicklung der Ökonomischen Analyse des Rechts (economic analysis of law) entdeckt worden ist.30 In der Außenhandelstheorie wurden Änderungen im Außenhandelsrecht, etwa die Einführung oder Abschaffung von Zöllen oder Einfuhrkontingenten, in der Wettbewerbstheorie Änderungen kartellrechtlicher Regelungen als ‚ökonomische‘ Variable behandelt. Änderungen rechtlicher Regelungen können solche legislativer Art (etwa Gesetzesänderungen) oder judikativer Art (richterliche Rechtsfortbildung) sein.
35
Handelt es sich bei der betreffenden unabhängigen Variablen um eine rechtliche Regelung – oder eine Interpretationsvariante einer solchen –, so fragt ein ökonomischer Ansatz, welche Verhaltensänderungen beim Regelungsadressaten durch eine Änderung der Variablen bewirkt werden. Daß diese Art der Herangehensweise an die Analyse von Rechtsänderungen in der Rechtswissenschaft keineswegs unbekannt ist, zeigt die Lehre von der Generalprävention im Strafrecht. Dort wird mit der Hypothese gearbeitet, daß ein Zusammenhang zwischen der rechtlich angeordneten Sanktion und dem Verhalten potentieller Straftäter besteht.31
36
28 Homann/Suchanek, Ökonomik, S.29–31; Frey, Ökonomie ist Sozialwissenschaft. 29 Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 37f. 30 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 45 ff.; Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1901). 31 Vgl. Kirchner, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen (1999), S. 108ff. Christian Kirchner
105
1. Teil: Grundlagen
5.
37
Im ökonomischen Theorieansatz ist entscheidend, daß bei der Untersuchung der Abhängigkeit einer Variablen von Änderungen einer anderen Variablen – einer Restriktion – nicht gleichzeitig andere Faktoren geändert werden, die Einfluß auf das Ergebnis haben. So ist von der Konstanz der Präferenzen der handelnden Akteure im Zeitraum, auf den sich die Untersuchung bezieht, auszugehen.32 Man kann den ökonomischen Ansatz deshalb als eine Untersuchung von Handlungsänderungen aufgrund der Änderungen von Anreizen und Sanktionen bei konstanten Präferenzen begreifen. 6.
38
Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens
Will man Aussagen zur Auswirkung der Änderung unabhängiger Variablen – nämlich von Restriktionen – auf abhängige Variable machen, so setzt dies voraus, Verhaltensannahmen zu machen, wie die Betroffenen reagieren. Es ist eine allgemeine Annahme darüber erforderlich, wie Menschen Entscheidungen treffen, wenn sich Anreize oder Restriktionen ändern. Die Ökonomik unterscheidet sich von anderen Sozialwissenschaften dadurch, daß sie Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens einführt.33 Es wird davon ausgegangen, daß Akteure auf Änderungen von Anreizen und Sanktionen so reagieren, daß sie sich an ihrer individuellen Wohlfahrt, ihrem Nutzen, orientieren. Eine Entscheidung soll dann als rational gelten, wenn sie entsprechend diesem Nutzenkalkül gefällt wird. Entscheidend ist der individuelle Nutzen.34 7.
39
Änderung von Restriktionen bei Konstanz der Präferenzen
Methodologischer Individualismus/Prinzipal-Agent-Verhältnis
Die ökonomische Theorie ist den individualistischen Theorieansätzen zuzurechnen. Als handelnde Akteure werden die einzelnen Entscheider begriffen (methodologischer Individualismus).35 Das erlaubt es, wenn Gruppen von Akteuren handeln, die etwa in einem Staat oder einer Unternehmung organisiert sind, zwischen den Kollektiv- und den Individualentscheidungen zu trennen und das Zustandekommen von Kollektiventscheidungen aus Individualentscheidungen zu analysieren. Das spielt eine große Rolle, wenn innerhalb der Gruppe eine Delegation von Entscheidungsbefugnissen stattfindet, verbunden mit einer Informationsasymmetrie. Dann ist für die resultierende Kollektiventscheidung das Verhältnis zwischen Delegieren-
32 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 4; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 27. 33 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 27f.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3. 34 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3. 35 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 6; Homann, Die Interdependenz von Zielen und Mitteln (1980), S. 70 f.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 26; Mack, Ökonomische Rationalität (1994), S. 40–43; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 3; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 28.
106
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
dem (principal, Prinzipal) und Geschäftsführer (agent) entscheidend (PrinzipalAgent-Verhältnis).36 Der individualistische Ansatz der ökonomischen Theorie erlaubt eine Verbindung mit solchen rechtswissenschaftlichen Ansätzen, die davon ausgehen, daß rechtliche Regelungen ihre – steuernde – Wirkung über von Rechtsänderungen induzierte Verhaltensänderungen entfalten. Die erwähnte Lehre von der Generalprävention im Strafrecht ist ein Beispiel für die Verwendung eines solchen individualistischen Ansatzes. Ein anderes Beispiel im Privatrecht betrifft die verhaltenssteuernde Wirkung zivilrechtlicher Haftung.37 8.
40
Wirkungsanalyse auf der Grundlage des ökonomischen Theorieansatzes
Werden Wirkungsanalysen im Rahmen der Interpretation rechtlicher Regelungen, die auf ökonomische Zielsetzungen ausgerichtet sind, mit Hilfe des ökonomischen Ansatzes durchgeführt, heißt dies, (1) daß von der Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens der Regelungsadressaten ausgegangen wird, (2) daß als handelnde Akteure auf die einzelnen Adressen abgestellt wird, nicht auf Kollektive, und (3) daß die Wirkung der Wahlentscheidung zwischen verschiedenen Interpretationsvarianten auf Veränderungen der sozialen Interaktion der Regelungsadressaten beruht. Werden auf der Grundlage dieses methodischen Ansatzes Hypothesen über die Wirkungen der Interpretationsvarianten entwickelt, erfolgen diese als sogenannte Wenn-DannAussagen. Wenn Interpretationsvariante A gewählt wird, folgt Wirkung X, wenn Interpretationsvariante B gewählt wird, folgt Wirkung Y. Aus diesem Nebeneinander zwischen zwei Wirkungsanalysen wird dann eine vergleichende Wirkungsanalyse, wenn die Hypothesen so umformuliert werden, daß nunmehr auf die Wirkung in Bezug auf eine bestimmte Zielsetzung abgestellt wird. Dann lassen sich beide Hypothesen dergestalt verknüpfen, daß nunmehr eine Hypothese wie folgt gefaßt werden kann: Wenn Interpretationsvariante X – und nicht Interpretationsvariante Y – gewählt wird, verbessert/verschlechtert sich der Grad der Zielerreichung in Bezug auf Ziel Z. Eine solche Hypothese beruht auf einer Analyse, die breiter angelegt war, also nicht nur auf die Frage der Zielerreichung des Zieles Z gerichtet war. Das ist deshalb wichtig, da in der Wirkungsanalyse auch andere Wirkungen der untersuchten Interpretationsvarianten Gegenstand der Analyse gewesen sind. Im Zweck-Mittel-Paradigma ist von ‚Nebenbedingungen‘ die Rede. Verläßt man dieses Paradigma, geht es schlicht um unterschiedliche Wirkungen, die teils intendiert, teils nicht intendiert sind. Nun liegt aber eines der grundlegenden Probleme beim Versuch, Verhalten über Recht zu steuern, in den nicht intendierten Nebenwirkungen. Es muß sich aber
36 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 69–76; Fama, Journal of Political Economy, Bd. 88 (1980), S. 288 ff.; Jensen/Meckling, Journal of Financial Economics, Bd. 3 (1976), S. 305 ff.; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 30 f., 173–182; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 102–104. 37 Vgl. Kirchner, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen (1999), S. 108ff.
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41
1. Teil: Grundlagen
keineswegs um nicht ‚intendierte‘ Nebenwirkungen handeln; es kann sich auch um solche Nebenwirkungen handeln, die zwar bekannt sind, die aber aus dem Entscheidungskalkül des Rechtsetzers ausgeblendet waren. Dies ist etwa bei ‚Nebenfolgen‘ sektorspezifischer Regulierung der Fall, die sich aus der Tatsache ergeben, daß einmal aufgebaute Bürokratieapparate nur schwer wieder abzuschaffen oder zu redimensionieren sind.
VII. Integration des ökonomischen Ansatzes in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz 42
Gilt es, eine Wirkungsanalyse auf der Grundlage der ökonomischen Theorie, wie sie im Vorabschnitt eingeführt worden ist, in den rechtswissenschaftlichen Interpretationsansatz zu integrieren, sind zwei Probleme zu lösen: (1) Die Common-Sense-Analyse konventioneller Prägung ist durch eine ökonomische zu ersetzen. (2) An die Stelle des Zweck-Mittel-Paradigmas muß das Paradigma einer umfassenden vergleichenden Folgenabschätzung treten.
43
Wird die konventionelle Common-Sense-Analyse durch eine ökonomische ersetzt, bedeutet dies – wie betont – nicht einen einfachen Austausch eines Ansatzes durch einen anderen. Die rechtswissenschaftliche Interpretation als solche ist gestuft durchzuführen. Zuerst sind die juristisch-dogmatisch möglichen Interpretationsvarianten herauszufiltern. Erst dann können diese einer vergleichenden ökonomischen Wirkungsanalyse unterzogen werden.
44
Schwieriger gestaltet sich der Verzicht auf das Zweck-Mittel-Paradigma, dessen Optimierungsprogramm auf den ersten Blick einleuchtend und überzeugend erscheint, dessen methodische Mängel dann aber so gravierend sind, daß zwei radikale Änderungen geboten erscheinen. Die erste betrifft die Festlegung des Normziels, die sich als geeignet erwiesen hat, den – nicht überprüfbaren – Spielraum des Interpreten erheblich auszuweiten. An die Stelle der Festlegung des Interpreten auf eine eindeutige Zielsetzung der Norm hat eine Diskussion der Zielproblematik zu treten. Diese kann aber erst sinnvoll erfolgen, wenn die gegebenenfalls unterschiedliche Wirkungsweise verschiedener Interpretationsvarianten geklärt worden ist. Das hat zur Konsequenz, daß die Fragerichtung geändert wird. Es ist nicht vom Zweck auf die Mittel zu schließen. Vielmehr ist die Zieldiskussion im Lichte der Ergebnisse der vergleichenden Wirkungsanalyse zu führen. Werden in dieser Wirkungsanalyse, wie im Vorabschnitt betont, auch die nicht intendierten oder nicht in den Blick genommenen Wirkungen erfaßt, läßt sich die Zieldiskussion erheblich differenzierter führen. Dann können Ziele stärker ausdifferenziert werden, Nebenbedingungen und Kosten der Zielerreichung erörtert werden. Nicht intendierte Nebenwirkungen stellen sich oftmals als Sonderkosten der Zielerreichung ein. Wie normativ mit dem Problem umzugehen ist, das darin begründet liegt, daß Wechselwirkungen zwischen Zweck und Mitteln nicht zu verhindern sind, kann erst geklärt werden, wenn feststeht, auf welchen ökonomischen Ansatz zuzugreifen ist. Denn es macht einen Unterschied, ob in einem wohlfahrtsökonomisch ausgerichteten ökonomischen Ansatz die Zweck-
108
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
Mittel-Diskussion mit Blick auf das Ziel effizienter Ressourcenallokation geführt wird oder ob in einem institutionenökonomischen Ansatz die normative Richtschnur der hypothetische Konsens ist.
VIII. Wahl des ökonomischen Ansatzes 1.
Vorüberlegungen
Für eine ökonomische Herangehensweise an rechtliche Fragestellungen kommen verschiedene ökonomische Ansätze in Betracht. Hinter dem Begriff law and economics, wohl am neutralsten als ‚Rechtsökonomik‘ übersetzt,38 verbergen sich unterschiedliche ökonomische Ansätze.39 Einigkeit herrscht nur insoweit, daß das ökonomische Paradigma (Annahme der Ressourcenknappheit und eigennutzorientierten Rationalverhaltens, methodologischer Individualismus) zur Anwendung zu gelangen habe und daß die Ökonomik als Disziplin nicht von ihrem Gegenstandsbereich her – also der Ökonomie – zu definieren sei, sondern von ihrer Methodik her, und daß sie deshalb eine Wissenschaft der sozialen Interaktionen sei. Vertreter anderer Sozialwissenschaften, die sich mit dieser extrem weiten Definition der Ökonomik einer Methodenkonkurrenz ausgesetzt sehen, bezeichnen diese Expansion der Ökonomik als ‚ökonomischen Imperialismus‘ 40 Es ist eben diese Expansion der Ökonomik, die es erlaubt, Probleme, die bisher ausschließlich im Rahmen der Rechtswissenschaft untersucht worden sind, ökonomisch anzugehen. 2.
45
Ökonomische Analyse des Rechts: Verwendung des neoklassischen Ansatzes
Der Begriff economic analysis of law, zumeist übersetzt als ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ (ÖAR) 41, hat in den Vereinigten Staaten von Amerika nach den grundlegenden Werken von Calabresi 42 und Coase 43 dann unter dem Einfluß des Werkes von Richard Posner mit dem gleichnamigen Titel 44 seinen Siegeszug angetreten.45
38 Vgl. Weigel, Rechtsökonomik (2003); zur terminologischen Auseinandersetzung: Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts. 39 Vgl. zur terminologischen Auseinandersetzung: Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5f. 40 Vgl. Brenner, Journal of Legal Studies, 9 (1980), S. 179ff.; Hirshleifer, American Economic Review, Bd. 75 (1985), 53; Kirchgässner, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 7 (1988), S. 128ff.; Radnitzky/Bernholz (Hrsg.), Economic Imperialism: The Economic Approach Applied Outside the Traditional Area of Economics (1986). 41 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 5 f. 42 Vgl. Calabresi, Yale Law Journal, 70 (1961), S. 499 ff. 43 Coase, Journal of Law and Economics, 3 (1960), 1 ff. (deutsch in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129–183); vgl. zum sog. Coase Theorem: Coase, The Firm, the Market and the Law, S. 157–185; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 113–116. 44 Posner, Economic Analysis of Law. 45 Vgl. Schanze, in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 1ff. Christian Kirchner
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1. Teil: Grundlagen
Die ‚ökonomische Analyse‘ von Richard Posner basiert auf einem preistheoretischen Fundament, wie es vornehmlich an der University of Chicago in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts vertreten wurde. Dieses wiederum ist Teil des neoklassischen Theorieansatzes, der seinerseits utilitaristische Wurzeln hat. Für die Verwendung eines solchen Ansatzes für rechtliche Fragestellungen sind zum einen die verwendeten Annahmen – insbesondere die Annahme eigennutzorientierten Rationalverhaltens – zum anderen die normative wohlfahrtsökonomische Ausrichtung – also die Ausrichtung am Ziel der Allokationseffizienz – relevant. Aus kontinentaleuropäischer rechtswissenschaftlicher Sicht sind beides Faktoren, die einen solchen Ansatz für Fragen der rechtswissenschaftlichen Interpretation unbrauchbar erscheinen lassen.46 Für die Entwicklung von Fallrecht durch Gerichte in den Vereinigten Staaten von Amerika stellt sich das Methodenproblem völlig anders.47 Darauf ist hier nicht weiter einzugehen.
47
Unabhängig davon, wie die Brauchbarkeit eines neoklassischen ökonomischen Ansatzes für die Behandlung rechtlicher Fragestellungen eingeschätzt wird, ist entscheidend, ob in der Ökonomik selbst dieser Ansatz der Kritik ausgesetzt ist. Dann wäre es nämlich interessant, ob diese intradisziplinäre Auseinandersetzung aus Sicht der Rechtswissenschaft, die Interpretationsmethoden entwickelt, von Interesse ist.
48
Kritik am Ansatz der neoklassischen Wirtschaftstheorie ist von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik geübt worden und wird weiterhin geübt.48 Die Kritik der positiven Theorie der Neoklassik setzt an der Rationalitätsannahme an sowie an der Nichtberücksichtigung oder nicht ausreichenden Berücksichtigung von Transaktionskosten und der Tatsache, daß Information systematisch unvollkommen ist.49 An der normativen Theorie wird auf Probleme des intersubjektiven Nutzenvergleichs hingewiesen, die eine Bestimmung eines Wohlfahrtsoptimums nach dem Kaldor-HicksKriterium nicht zulassen und damit das Ziel der Allokationseffizienz als nicht sinnvoll erscheinen lassen.50 Es ist interessant, daß die genannten Kritikpunkte von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik vorgebracht worden sind. Dies ist eine neue ökonomische Teildisziplin, die selbst neoklassische Wurzeln hat. Der Verhandlungsansatz, den Ronald Coase als Kritik an der Wohlfahrtsökonomik von Pigou entwickelt hat – der fälschlicherweise oftmals als Coase-Theorem bezeichnet wird – basiert seinerseits auf der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Er greift allerdings auch
46 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 331; differenzierend: Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533 f.; Laudenklos, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 291; Pawloswski, Methodenlehre für Juristen, S. 13; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 305. 47 Vgl. Schanze, in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 1 ff.; Kirchner, International Review of Law and Economics, Bd. 11 (1991), 277. 48 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 13–16, 542, 570–572. 49 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 4, 192 f.; Voigt, Institutionenökonomik, S. 29–31; Williamson, Die ökonomischen Institutionen des Kapitalismus (1990), S. 50 ff.; Wolff, in: Korff u. a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik (1999), S. 113. 50 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 25–28; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 160–170.
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§ 5 Die ökonomische Theorie
darüber hinaus, indem er die Annahme verwirft, beim intervenierenden Staat seien Informationen kostenlos vorhanden, und indem er explizit Transaktionskosten in die Analyse einbezieht.51 In der Folge hat sich die Neue Institutionenökonomik – die sich explizit vom ‚alten‘ Institutionalismus unterscheidet52, konsequenter von den Annahmen der Neoklassik gelöst. 3.
Ökonomische Theorie des Rechts: Institutionenökonomischer Ansatz
a)
Vorüberlegungen
Die Kritik am neoklassischen Theorieansatz seitens der Vertreter der Neuen Institutionenökonomik – und damit auch an der Ökonomischen Analyse des Rechts – ist Ausgangspunkt für eine neue ökonomische Herangehensweise an rechtliche Problemstellungen. Verwendet man statt des neoklassischen Paradigmas das institutionenökonomische und entwickelt die ‚Ökonomische Analyse des Rechts‘ zur ‚Ökonomischen Theorie des Rechts‘53, kann es gelingen, damit einen interdisziplinären Ansatz zu schaffen, der zum einen ein methodisch verbessertes ökonomisches Paradigma bereitstellt und der zum anderen besser mit rechtswissenschaftlichen Ansätzen kompatibel ist.54 b)
49
Annahmen der Institutionenökonomik in der positiven Theorie
Es sind insbesondere drei Unterschiede auf der Ebene der Annahmen, die für die Neue Institutionenökonomik in ihrer positiven Variante im Vergleich zur Neoklassik kennzeichnend sind: (1) die Annahme beschränkter Rationalität, im Unterschied zur Annahme vollständiger Rationalität, (2) die Annahme systematisch unvollkommener Information und (3) die Annahme der Existenz positiver Transaktionskosten.55
50
Die Annahmen, die in der Neuen Institutionenökonomik verwendet werden, unterscheiden sich auch deshalb von denen der Neoklassik, weil mit dem Ausgreifen der Ökonomik in Gegenstandsbereiche, die vormals von anderen Sozialwissenschaften monopolisiert worden waren, die teils sehr rigiden Annahmen der Neoklassik, deren zentraler Gegenstandsbereich lange Zeit Transaktionen auf Märkten gewesen waren, nicht durchhalten ließen. Die Neue Institutionenökonomik hat den Gegenstandsbereich der Disziplin ausgeweitet, indem sie sanktionsbewehrte allgemeine Regelungen, die zur Steuerung und Kanalisierung sozialer Interaktionen eingesetzt werden
51
51 Coase, Journal of Law and Economics, Bd. 3 (1960), S. 1 ff., deutsch in: Assmann/Kirchner/ Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129–183. 52 Vgl. Hutchison, Journal of Institutional and Theoretical Economics, Bd. 140 (1984), S. 20 ff.; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 164; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 45–49. 53 Vgl. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 7–10. 54 Anwendungsbeispiele: Kirchner, FS Beisse (1997), S. 267; ders., FS Schmidt (1997), S. 33; ders, FS Kilian (2004), S. 103. 55 Vgl. Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 2–13; Voigt, Institutionenökonomik, S. 26–31; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 12–21. Christian Kirchner
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1. Teil: Grundlagen
oder diesen Effekt haben, zu ihrem Untersuchungsobjekt gemacht hat, nämlich Institutionen.56 Sanktionsbewehrte rechtliche Regelungen stellen dann eine Unterkategorie von Institutionen dar und werden damit zum Gegenstand institutionenökonomischer Untersuchungen.
52
Geht die Ökonomik über das Untersuchungsfeld der marktlichen Transaktionen und weitet es auf das Feld sozialer Transaktionen aus, so gerät die Verhaltensannahme vollständiger Rationalität, nämlich des maximierenden, egoistischen Menschen (REM) 57 unter Druck. Für die Untersuchung marktlicher Transaktionen kann das Festhalten an der REM-Annahme trotz Einwänden seitens der empirischen Verhaltensforschung 58 gerechtfertigt werden,59 nicht aber für die Untersuchung sozialer Interaktionen jenseits von Märkten.60 Dann erscheint es sinnvoll, die Annahme eingeschränkter Rationalität (bounded rationality) heranzuziehen.61
53
Die Institutionenökonomik fragt nach der Entstehung, der Änderung und der Wirkung von Institutionen.62 Dann fallen Wirkungsanalysen rechtlicher Regelungen in ihren Fokus, damit auch Wirkungsanalysen von Interpretationsvarianten rechtlicher Regelungen. Daß es sich bei der Fortentwicklung rechtlicher Regelungen – etwa im Prozeß der judikativen Rechtsfortbildung – um Suchprozesse unter der Bedingung unvollkommener Information handelt, ist evident. Ein ökonomischer Ansatz, der vollständige Information unterstellte, wäre schlecht geeignet für die Analyse derartiger Entwicklungen. Daß die Wirkung unterschiedlicher Gestaltung von Institutionen maßgeblich von der Höhe der jeweils anfallenden Transaktionskosten abhängt und daß diese deshalb ein relevanter Faktor für ökonomische Wirkungsanalysen sind, ist heute ebenfalls evident.63 Von daher erscheint ein ökonomischer Ansatz, der die Annahme systematischer unvollkommener Information und der Existenz positiver Transaktionskosten einführt, für die Wirkungsanalysen von Interpretationsvarianten rechtlicher Regelungen besser geeignet, als ein neoklassischer Ansatz, der mit rigideren Annahmen arbeitet.
56 Eichberger, Grundzüge der Mikroökonomik (2004), S. 6 –8; Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 23; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 7 f.; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 32– 41. 57 Vgl. Mack, Ökonomische Rationalität (1994), S. 30–35; Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 62–68. 58 Vgl. Kahnemann, Journal of Institutional and Theoretical Economics, 150 (1994), S. 18 ff.; dazu: Kirchner, Journal of Institutional and Theoretical Economics, 150 (1994), 37 ff. 59 Vgl. Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 364–374; Kirchgässner, Homo Oeconomicus. 60 Kirchner, in: Haft u. a. (Hrsg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, S. 445 ff. 61 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 331; differenzierend: Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533 f.; Laudenklos, in: Rückert (Hrsg.), Fälle und Fallen der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 291; Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, S. 13; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 305. 62 Vgl. grundlegend: Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik; Voigt, Institutionenökonomik (2002). 63 Dazu bereits: Coase, Economica, 4 (1937), S. 386ff.; zum Stand der modernen Literatur: Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 12–16; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 30f.; Eichberger, Grundzüge der Mikroökonomik (2004), S. 36–48.
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§ 5 Die ökonomische Theorie
c)
Unterschiedlicher normativer Ansatz
Die normative Variante der Neuen Institutionenökonomik 64 unterscheidet sich von der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik zuerst dadurch, daß sie keine intersubjektive Vergleichbarkeit von Nutzen voraussetzt und deshalb weder mit dem KaldorHicks-Kriterium arbeitet noch auf die Zielsetzung der Allokationseffizienz abstellt. Normativer Fixpunkt ist also nicht die Herstellung eines Wohlfahrtsoptimums für eine bestimmte Gruppe von Akteuren (etwa bezogen auf die Einwohner eines Landes und damit auf die Volkswirtschaft), sondern der sogenannte normative Individualismus.65 Damit werden mögliche Probleme einer Integration des ökonomischen Ansatzes in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze zumindest reduziert. Ein Gegeneinander von ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Effizienz‘ 66 scheidet dann aus. Es fragt sich dann aber, wie die Institutionenökonomik normativ vorgeht und wie sich dies auf ihre Integration in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze auswirkt.
54
Die normative Institutionenökonomik baut im Gegensatz zur Wohlfahrtsökonomik mit ihren utilitaristischen Wurzeln auf einem vertragstheoretischen Fundament auf.67 Sie fragt danach, auf welche Regeln des Zusammenlebens sich individuelle Akteure in freier Entscheidung einigen können, wenn sie jeweils nicht wissen, in welcher konkreten Situation sie sind (Schleier des Nichtwissens).68 Es gilt dann, Lösungen zu finden, bei denen sich unter dieser Annahme des Nichtwissens alle besser stehen. Im Unterschied zum Kaldor-Hicks-Kriterium geht es also nicht um ein Abwägen zwischen den Gewinnen der Gewinner und den Verlusten der Verlierer, das voraussetzt, daß intersubjektive Nutzenvergleiche möglich sind. Die Grenzlinie für Lösungen ist in der Institutionenökonomik durch die Frage gekennzeichnet, ob jemand einer Lösung auch unter der Bedingung zustimmen könnte, wenn er möglicherweise zu den Verlierern gehörte. Es werden also mögliche Gewinne und mögliche Verluste individuell gegeneinander abgewogen. Das setzt voraus, daß solche normativen Überlegungen auf dem Fundament sorgfältiger positiver Analysen durchgeführt werden müssen, in denen zu klären ist, wie es um die Wirkung alternativer Lösungen bestellt ist. Der Ansatz schließt damit die Suche nach solchen Lösungen ein, die Kooperationsgewinne versprechen. Es geht also nicht darum, eine bestimmte Lösung ökonomisch zu bewerten, sondern um eine vergleichende Analyse alternativer Gestaltungsmöglichkeiten.
55
64 Vgl. Pies, Normative Institutionenökonomik; ders., in: Leipold/Pies (Hrsg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik – Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven (2000). 65 Buchanan, Constitutional Political Economy, 1 (1990), S. 1 ff.; Homann/Kirchner, Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 14 (1995), S. 195; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.) Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 166; Mack, Ökonomische Rationalität (1994), S. 91–101; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 163f. 66 Dazu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip. 67 Vgl. Homann, in: Korff u.a. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bd. 2, S. 60; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130–138; Kirchner, in: Schuppert/Neidhardt (Hrsg.) Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, S. 167. 68 Vgl. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, S. 20; Pies, Normative Institutionenökonomik, S. 130–138; Voigt, Institutionenökonomik (2002), S. 254–259. Christian Kirchner
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1. Teil: Grundlagen
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Wendet man diesen institutionenökonomischen Ansatz auf rechtswissenschaftliche Interpretationsmethoden an, wird man im Ausgangspunkt festzustellen haben, daß es im ersten Schritt – soweit es um Wirkungsanalysen geht – nicht um normative Fragen geht, sondern daß hier allein die positive Analyse zum Zuge kommt. Dann taucht aber im zweiten Schritt das Problem auf, welche Schlußfolgerungen aus der durchgeführten vergleichenden Wirkungsanalyse für die Interpretation der auszulegenden Norm zu ziehen sind.
57
Da die vergleichende Wirkungsanalyse, die mit Hilfe des institutionenökonomischen Instrumentariums durchgeführt worden ist, ein klareres Bild vermittelt als eine Common-Sense-Analyse, lassen sich für die verschiedenen Interpretationsvarianten die jeweiligen Kosten in Gestalt von ‚Nebenwirkungen‘ genauer erfassen. Die Frage lautet dann nicht mehr, ob eine Interpretationsvariante schon deshalb den Vorzug verdient, weil sie eine möglichst genaue Zielerreichung verspricht. Es ist vielmehr zu fragen, ob angesichts der abzuschätzenden Nebenwirkungen eine Interpretationsvariante gegenüber einer anderen zu bevorzugen ist, die möglicherweise geringere Nebenwirkungen aufzuweisen hat. Diese Art der normativen Herangehensweise läßt sich bruchlos mit einer rechtswissenschaftlichen Güterabwägung verbinden. Der Vorteil der ökonomisch normativ angeleiteten Abwägung besteht nun darin, daß nicht abstrakt Interessen und/oder Ziele abzuwägen sind, sondern gefragt wird, wie sich die Abwägung aus der Sicht der Regelungsadressaten darstellt. Dieser Unterschied zwischen einer abstrakten und einer konkret individualistischen Güterabwägung ist für das europäische Gemeinschaftsrecht deshalb anzuraten, da das Gemeinschaftsrecht sich eben nicht als Völkerrecht an die Vertragschließenden wendet, sondern als supranationales Recht direkt an die Bürger. Also sind bei Interessenabwägungen die Interessen dieser Bürger maßgeblich. Dann wird deutlich, daß es beim europäischen Gemeinschaftsrecht nicht einfach um ein Maximum an Integrationswirkung geht, sondern um den Grad an Integration, der aus Sicht der Bürger eine Nutzensteigerung darstellt. Wird ein Mehr an Integration durch eine größere Bürgerferne, durch ein Weniger an demokratischer Kontrolle erkauft, so kann der resultierende Nettonutzen für den betroffenen Bürger auf Null schrumpfen oder sogar negativ ausfallen.
58
Für einen ökonomischen Interpretationsansatz für das europäische Gemeinschaftsrecht ist also auch die normative Institutionenökonomik relevant. Im Unterschied zum neoklassischen Theorieansatz geht es nicht um das Ziel der effizienten Ressourcenallokation, das möglicherweise querliegt zu juristischen Wertungen, sondern um einen Perspektivenwechsel in der erforderlichen Güterabwägung. Statt daß auf allgemeine Interessen abstrakt abgestellt wird, wird nach der Auswirkung der Wahl zwischen verschiedenen Interpretationsvarianten auf das Wohl der Regelungsadressaten abgestellt. Dann wird also nicht mehr zwischen dem Integrationsziel der Gemeinschaft und der Bewahrung nationalstaatlicher Souveränität der Mitgliedstaaten abgewogen, sondern es wird gleichsam durch diese Formeln hindurchgeschaut und auf die dahinter liegenden individuellen Interessen der Akteure abgestellt.
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§ 5 Die ökonomische Theorie
IX. Zwischenfazit: eine institutionenökonomische Interpretationsmethode für das europäische Gemeinschaftsrecht Soll die für die judikative Rechtsfortbildung des europäischen Gemeinschaftsrechts gewählte Interpretationsmethode geeignet sein, der ökonomischen Zielorientierung der Regelungsmaterie gerecht zu werden, sind Korrekturen an der am Normzweck orientierten teleologischen Interpretationsmethode erforderlich. Das in der herkömmlichen Methodik verwendete Zweck-Mittel-Paradigma ist durch eine umfassende Folgenabschätzung unterschiedlicher Interpretationsvarianten abzulösen, in der die Wechselwirkung zwischen Normzweck und der als Mittel eingesetzten Norminterpretation zum Tragen kommt. Die dazu durchzuführenden Wirkungsanalysen der zuvor anhand der Wortauslegung und der systematischen Auslegung selektierten Interpretationsvarianten sind mit Hilfe des institutionenökonomischen Ansatzes durchzuführen. In der rechtswissenschaftlich erfolgenden Güterabwägung zwischen den zur Wahl stehenden Interpretationsvarianten sind sowohl der Zielerreichungsgrad als auch ‚Nebenwirkungen‘ der in Betracht kommenden Interpretationsvarianten einzubeziehen. Es ist keine allgemeine abstrakte Interessenabwägung vorzunehmen. Vielmehr ist darauf abzustellen, wie die Regelungsadressaten durch unterschiedliche Interpretationsvarianten betroffen werden (individualistische Abwägungsperspektive).
X.
Legislative Rechtsfortbildung: der Beitrag der ökonomischen Theorie
1.
Vorüberlegungen
Die legislative Rechtsfortbildung des europäischen Gemeinschaftsrechts erfolgt in einem äußerst komplexen Verfahren, in dem verschiedene Organe der Gemeinschaft zusammenwirken.69 Prägend ist die Dichotomie zwischen der Vertretung der Interessen der Mitgliedstaaten im Ministerrat und der Vertretung der Interessen der Gemeinschaft durch Kommission und Parlament. Geht es um die ökonomische Zielorientierung des Gemeinschaftsrechts, also um Wirtschaftspolitik in Gestalt der Fortentwicklung des rechtlich-institutionellen Rahmens der Gemeinschaft, sieht es so aus, als ob nationale Interessen und Gemeinschaftsinteressen im Rahmen des Normsetzungsverfahrens zum Ausgleich zu bringen seien. Dann ließe sich die These aufstellen, daß am Ende ein Kompromiß zwischen ökonomischen Interessen der Mitgliedstaaten und denen der Gemeinschaft resultiere, gleichsam als Vektor in einem Kräfteparallelogramm. Der Beitrag einer ‚europäischen Methodenlehre‘ zu dieser Art der legislativen Normsetzung beträfe dann verschiedene Fragenkreise: – Entwicklung einer Methodik der Normsetzung in einem Verfahren, das auf der einen Seite ein doppelstufiges ist (Gemeinschaftsebene, Ebene der Mitgliedstaaten),
69 Vgl. Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht, S. 61–63; Mayer, in: Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 448–450; Streinz, Europarecht, S. 190–199. Christian Kirchner
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in dem aber auf der anderen Seite der Ministerrat eben nicht als Vertretung der Mitgliedstaaten fungiert, sondern als Organ der Gemeinschaft, – Entwicklung von Kriterien für den Ausgleich von nationalen Interessen und Gemeinschaftsinteressen, – Entwicklung von Kompetenzregeln, die dem spezifischen Charakter des Gemeinschaftsrechts als eigenständiger supranationaler Rechtsordnung gerecht werden, – Entwicklung von Verfahrensregeln, die trotz der Komplexität des Verfahrens die Funktionsfähigkeit der Legislative gewährleistet.
61
Die genannten Methodenprobleme überlagern sich und beleuchten zum Teil unterschiedliche Aspekte ein und desselben Problems. In der Praxis ergeben sich insbesondere Herausforderungen durch die Einführung sogenannter Komitologieverfahren, in denen staatliche Organe (mit abgeleiteter demokratischer Legitimation) mit Expertengremien in einer Art und Weise zusammenarbeiten, daß die Rechtsfortentwicklung stark von diesen Expertengremien gesteuert wird.70 Die methodischen Probleme solcher – die Rechte der (demokratisch legitimierten) Legislative aushöhlenden – Normsetzungsverfahren sind Punkt (4) des oben aufgeführten Methodenproblemkatalogs zuzuordnen.
62
Geht es um den Beitrag der ökonomischen Theorie für eine europäische Methodenlehre, ändert sich die Sichtweise. Die angesprochenen Methodenprobleme erscheinen in einem anderen Licht, wenn nicht von ‚nationalem Interesse‘ und ‚Gemeinschaftsinteresse‘ ausgegangen wird, sondern von Individualinteressen, wie dies im ökonomischen Ansatz durch den methodologischen und den normativen Individualismus geboten ist. Dem ist in drei Fragenkomplexen nachzugehen: (1) Positive Analyse von Normsetzungsvorhaben (Folgenabschätzung), (2) Normative Fragestellung aus Sicht der Institutionenökonomik und (3) ökonomische Problematik von Komitologieverfahren. 2.
63
Positive Analyse von Normsetzungsverfahren
Ein zentrales Problem der Normsetzung auf Gemeinschaftsebene ist das der nicht intendierten Nebenwirkungen. Indem die Diskussion auf den Ausgleich zwischen Gemeinschaftsinteresse und nationalen Interessen fokussiert wird, geraten Nebenwirkungen legislativer Akte aus dem Blick. Dies ist dann der Fall, wenn nach einer Deregulierung nationaler Regulierung eine Reregulierung auf europäischer Ebene einsetzt – etwa im Bereich der Regulierung der Telekommunikationsmärkte – und zu diesem Zwecke eine umfassende gemeinschaftsrechtliche Regulierung, durchzuführen entweder durch Organe der Gemeinschaft oder durch nationale Behörden, entworfen und umgesetzt wird.71 Die Folgekosten der Regulierung sowohl bezüglich der direkten
70 Vgl. den Beschluß des Rates v. 28.6.1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse (Komitologie-Beschluß), ABl. 1999 Nr. L 184/23. 71 Vgl. Kirchner, in: Neumann/Weigand (Hrsg.), The International Handbook of Competition (2004), S. 315ff.
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§ 5 Die ökonomische Theorie
Regulierungskosten wie insbesondere der indirekten Kosten sind ein entscheidender Faktor, will man die ökonomische Wirkungsweise der neuen Regulierung umfassend erfassen. Die Aufgabe der Ökonomik besteht hier in einer überprüfbaren Folgenabschätzung der legislativen Vorhaben, in denen insbesondere den ‚Nebenwirkungen‘ Beachtung geschenkt wird. Diese können etwa in einer Verlangsamung der technologischen Innovation durch Überregulierung bestehen. Der Unterschied zwischen einer neoklassischen Wohlfahrtsökonomik und der Institutionenökonomik liegt darin, daß die erstere oft vorschnell zu Effizienzanalysen übergeht, in denen nicht oder schwer meßbare Größen ausgeblendet werden. Im Fall der Folgenabschätzung einer Überregulierung heißt dies, daß zwar die direkten Kosten der Regulierung berücksichtigt werden, auch die kurzfristig einsetzenden Marktwirkungen, nicht aber die mittel- und langfristigen Auswirkungen auf die technologische Entwicklung. Wird in einer institutionenökonomischen Analyse darauf abgestellt, wie die Regelungsadressaten von einer legislativen Maßnahme betroffen sind, ist ein Ausblenden langfristiger Wirkungen – auch wenn sie schwer quantitativ faßbar sind – nicht systemgerecht. Die Scheinpräzision der wohlfahrtsökonomischen Analyse wird dann zwar aufgegeben. Die entscheidenden Faktoren für die Beurteilung einer legislativen Maßnahme werden aber besser erfaßt. 3.
Normative Fragestellung aus institutionenökonomischer Sicht
Wird in normativen Erwägungen nicht auf das ‚Gemeinschaftsinteresse‘ und das ‚nationale Interesse‘ abgestellt, sondern statt dessen auf Individualinteressen der Regelungsadressaten, ist das nicht nur für die im Vorabschnitt behandelte Folgenabschätzung legislativer Akte relevant, sondern für die Art der Normsetzung, insbesondere für Fragen der Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaftsebene und der nationalen Ebene.
64
In einer ökonomischen Herangehensweise an Normsetzungsprobleme ist das Prinzipal-Agent-Verhältnis zwischen dem Bürger als Prinzipal und den verschiedenen an der Normsetzung beteiligten ‚Geschäftsführer‘ (agents) zentral. Aus Sicht der Bürger als Prinzipalen besteht die Gefahr, daß aufgrund vorhandener Informationsasymmetrien und von Kontrollkosten die Entscheidungen der Geschäftsführer von den Präferenzen der Prinzipale abweichen (Präferenzkosten). Die Präferenzkosten lassen sich reduzieren, wenn die Kontrolle verstärkt wird; dann steigen aber die Kontrollkosten (Agenturkosten, agency costs). Normsetzung auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft impliziert dann aus dieser ökonomischen Perspektive, die in der Subdisziplin Konstitutionenökonomik (constitutional economics)72 der Institutionenökonomik
65
72 Vgl. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie (2006), S. 39–54; Brennan/Buchanan, Die Begründung von Regeln (1983); Buchanan, Constitutional Political Economy, 1 (1990), 1ff.; Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent (1990); Feldmann, Eine institutionalistische Revolution?, S. 53–56; Homann, in: Korff u. a., Handbuch der Wirtschaftsethik, 2 (1999), S. 50; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 23–25; Mueller, Constitutional Democracy (1996); Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 43. Christian Kirchner
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behandelt wird, zwei grundlegende Probleme. (1) Die Verlagerung von Normsetzungskompetenzen auf die Ebene der Gemeinschaft bringt auf der einen Seite Integrationsvorteile (Größenvorteile, Transaktionskostenreduzierung, etc.), auf der anderen Seite kann es aber zu erheblichen Steigerungen von Präferenz- und Agenturkosten kommen. (2) Durch Verlagerung von Normsetzungskompetenz auf die Gemeinschaftsebene wird Einfluß auf den legislatorischen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten genommen.
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Probleme steigender Präferenz- und Agenturkosten leiten sich nicht allein aus einer Verlagerung von Normsetzungskompetenzen auf die Gemeinschaftsebene ab. Sie sind auch eine Funktion der gewählten Normsetzungsverfahren. In dem Maße, in dem diejenigen, die maßgeblichen Einfluß auf die Normsetzung haben, einer demokratischen Verantwortlichkeit (accountability) entzogen werden, steigen Präferenz- und Kontrollkosten. Es geht nicht allein um die Unmöglichkeit der demokratischen Abwahl von Entscheidungsträgern, sondern auch um die Komplexität von Verfahren, die zu einer solchen Kostensteigerung führt.
67
Die Frage, ob und wie Normsetzung auf Gemeinschaftsebene legislatorischen Wettbewerb zwischen den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beeinflußt, hängt davon ab, ob im Top-down-Ansatz oder im Bottom-up-Ansatz gearbeitet wird.73 Im Topdown-Ansatz erfolgt die Rechtsvereinheitlichung und/oder Rechtsangleichung von oben, also durch Normsetzungsorgane der Gemeinschaft. Im Bottom-up-Ansatz wird von seiten der Bürger – also von unten – Druck auf die Normsetzung der Mitgliedstaaten entweder durch Entscheidungen auf Gütermärkten oder durch Rechtswahlentscheidungen ausgeübt. Das Gemeinschaftsrecht schafft die Grundlage eines solchen Wettbewerbs, wenn es mit Hilfe der Grundfreiheiten eine Wahlfreiheit für diese Entscheidungen eröffnet. Ein Beispiel ist die freie Produktwahl auf Grund der Warenverkehrsfreiheit, von der Druck auf die Mitgliedstaaten bezüglich ihrer produktbezogenen Regulierung ausgeht. Ein anderes Beispiel ist die freie Wahl des Staates der Inkorporierung einer Gesellschaft unabhängig davon, wo ihr Sitz ist (Wettbewerb der Gesellschaftsrechtsordnungen).74
68
Mit Hilfe – insbesondere – institutionenökonomischer Untersuchungen läßt sich die tatsächliche Wirkung des legislatorischen Wettbewerbs abschätzen. Damit leistet die Ökonomik einen relevanten Beitrag für die Normsetzungsfragen auf Gemeinschaftsebene.
73 Vgl. Grundmann, ZGR 2001, 783, 806 f.; Kirchner, in: Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, S. 405f.; Siems, Die Konvergenz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre (2005), S. 474–497. 74 Vgl. Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003); Heine/Kerber, European Journal of Law and Economics, 13 (2002), 47 ff.; Grundmann, ZGR 2001, 783; Kirchner, FS Immenga, S. 607.
118
Christian Kirchner
§ 5 Die ökonomische Theorie
4.
Ökonomische Problematik von Komitologieverfahren
Aus ökonomischer Perspektive geht es bei Komitologieverfahren auf der einen Seite um Vorteile, die sich aus der größeren Sachnähe und Expertise der Normsetzungsorgane ableiten, und auf der anderen Seite um steigende Präferenz- und Agenturkosten, die dadurch bedingt sind, daß Komitologieverfahren darauf angelegt sind, die Mitglieder der Expertengremien einer demokratischen Verantwortlichkeit nicht auszusetzen.75 Ökonomische Analysen von Komitologieverfahren sind also geeignet, Nebenwirkungen solcher Normsetzungsverfahren aufzuzeigen, die in rechtswissenschaftlichen Untersuchungen nicht in den Blick geraten. Dies ist dann für eine normative Beurteilung solcher Verfahren relevant.
69
XI. Ausblick Die Bedeutung der ökonomischen Theorie für eine europäische Methodenlehre weist verschiedene Facetten auf. Neben der Integration des institutionenökonomischen Ansatzes in rechtswissenschaftliche Interpretationsansätze ist es vor allem der Perspektivenwechsel in der legislativen Normsetzung, der eine europäische Methodenlehre bereichern kann. Indem konsequent individualistisch vorgegangen wird (methodologischer und normativer Individualismus), wird die vom Völkerrecht geprägte Perspektive, in der es um nationale, supranationale und internationale Interessen geht, relativiert. Die besondere Qualität des europäischen Gemeinschaftsrechts als einer eigenständigen Rechtsordnung schlägt sich methodisch darin nieder, daß gleichsam durch das nationale Interesse der Mitgliedstaaten und das Gemeinschaftsinteresse durchgegriffen wird und direkt das Individualinteresse der Bürger in Bezug genommen wird. Geht man methodisch so vor, so führt die Methodendiskussion zu Veränderungen im Verständnis des europäischen Gemeinschaftsrechts und damit in den Gestaltungsanforderungen an diese Rechtsmaterie. Ziel ist dann nicht Wohlfahrtsmaximierung durch Integration, sondern die Gestaltung einer Rechtsordnung, die den Präferenzen der Bürger als Regelungsadressaten entspricht.
75 Kirchner/Schmidt, in: Nobel (Hrsg.), International Standards and the Law, S. 67. Christian Kirchner
119
70
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht Jens-Uwe Franck
Übersicht I. Ökonomische Theorie und Ausgestaltung von Privatrechtsregeln . . . . . . . . . II. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz
. . . . . . . . . .
Rn. 2–7 8–15
III. Ökonomische Denkmuster als Schlüssel zum Verständnis der Grundfreiheitendogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16–22
IV. Ökonomische Argumente und Auslegung privatrechtlicher Richtlinien . . . . . .
23–30
V. Zur Wahl des Regelungsinstruments
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31–34
VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Literatur: Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, 2. Auflage Tübingen 1998; Franck, Jens-Uwe, Bessere Kreditkonditionen für Verbraucher durch mehr Regulierung?, ZBB 2003, 334–342; Grundmann, Stefan, Methodenpluralismus als Aufgabe, RabelsZ 61 (1997), 423–453; Grundmann, Stefan/Riesenhuber, Karl, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Binnenmarkt, Tübingen 2002; Kirchner, Christian, Ökonomische Theorie des Rechts, Berlin/ New York 1997; Molle, Willem, The Economics of European Integration, 4. Auflage Aldershot u.a. 2005; Ott, Claus/Schäfer, Hans-Bernd (Hrsg.), Vereinheitlichung und Diversität des Zivilrechts in transnationalen Wirtschaftsräumen, Tübingen 2002; Schäfer, Hans-Bernd/Ott, Claus, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 4. Auflage Berlin/Heidelberg/New York 2005; Van den Bergh, Roger, Wer schützt die europäischen Verbraucher vor dem Brüsseler Verbraucherschutz? Zu den adversen Effekten der europäischen Richtlinien zum Schutze des Verbrauchers, in: Claus Ott/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuereung und Kooperation im Zivilrecht, Tübingen 1997, S. 77–106; Varian, Hal R., Intermediate Microeconomics, 6. Auflage New York/London 2003.
1
Die Frage nach dem Wert ökonomischer Erkenntnisse für das Recht beschäftigt die Wissenschaft vom Recht seit geraumer Zeit. Im folgenden soll aufgezeigt und anhand von Beispielen veranschaulicht werden, worin ihr Nutzen besonders für das Europäische Privatrecht erblickt werden kann und wo „Einbruchstellen“ für ökonomisches Gedankengut 1 zu verorten sind.
1 Im folgenden wird unspezifisch von „ökonomischen“ Erkenntnissen etc. gesprochen. Zur
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Jens-Uwe Franck
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
I.
Ökonomische Theorie und Ausgestaltung von Privatrechtsregeln
Schon im Grundsatz kann nicht ernstlich angezweifelt werden, daß es sinnvoll ist, Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften bei der Gesetzgebung zu beachten. Dies gilt insbesondere dann, wenn Privatrecht mit dem Ziel gesetzt wird, die Funktionsfähigkeit von Märkten zu sichern und damit eine effiziente Ressourcenallokation zu ermöglichen. Letzteres läßt sich auch allenthalben für die wirtschaftsrechtliche Regulierung auf europäischer Ebene konstatieren. Evident ist dies zunächst für das Kartellrecht, das darauf ausgerichtet ist, kompetitive Marktstrukturen zu gewährleisten. Hierdurch soll verhindert werden, daß sich Monopole bzw. Kartelle durch eine Reduzierung des Outputs auf Kosten der Marktgegenseite eine Monopolrendite sichern und hierbei Abnehmer vom Zugang zu Gütern ausschließen.2 Lauterkeitsrecht und Kapitalmarktrecht wollen das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Märkte schützen, indem sie das Marktverhalten reglementieren. In diesen Fällen sind Märkte bzw. das Verhalten von Marktteilnehmern Gegenstand von Rechtssetzung. Betroffen ist damit ein originärer Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften. Hier erscheint es deshalb besonders naheliegend, daß ökonomische Erkenntnisse ein wichtiges Hilfsmittel für die Ausformung von Rechtsregeln sein können.
2
Freilich steht es prinzipiell im Ermessen des Gesetzgebers, welchen Stellenwert er ökonomischen Überlegungen beimißt. Maßgebliches Argument hierfür ist im deutschen Recht, daß das Grundgesetz die Wirtschaftsordnung nicht auf eine Marktwirtschaft festlege; deshalb könne erst recht nicht die Rede davon sein, daß der Gesetzgeber dazu verpflichtet sei, die Rechtsordnung auf ein Effizienzziel hin auszurichten.3
3
Diese Argumentation läßt sich nicht auf die europäische Ebene übertragen. Wie etwa Art. 4 Abs. 1, 98 und 105 Abs. 1 EG zeigen, prägen „offene Märkte“ und „freier Wettbewerb“ als Ordnungsprinzipien die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft. Jedoch folgt hieraus nicht, daß die Wirtschaftspolitik auf eine Maximierung der sozialen Wohlfahrt ausgerichtet sein müßte. Zudem steht der Wirtschaftsverfassung eine Palette weiterer Gesetzgebungsaufträge gegenüber, etwa in der Sozial-, Kultur-, Gesundheits- Verbraucher- und Umweltpolitik, die offensichtlich nicht unmittelbar mit Effizienzüberlegungen verknüpft sind. Der EG-Vertrag verpflichtet den Gemeinschaftsgesetzgeber deshalb nicht generell dazu, das Gemeinschaftsrecht an einem ökonomischen Effizienzziel auszurichten. Umgekehrt setzt allerdings das höherrangige Recht, also insbesondere die Grundrechte oder Verfassungsprinzipien (z.B. das Sozialstaatsprinzip), dem Regelgeber Grenzen bei der Berücksichtigung von Effizienzüberlegungen; 4 das gilt auf europäischer Ebene gleichermaßen wie für das nationale Recht.
4
Frage, welchen Ansatzes wirtschaftswissenschaftlicher Forschung es bedarf, damit diese für das Recht von Nutzen sein kann, siehe den vorstehenden Beitrag Kirchners, § 5 Rn. 45–59. 2 Varian, Intermediate Microeconomics, S. 419–429. 3 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 443–445. 4 Hierzu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 445–449. Jens-Uwe Franck
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1. Teil: Grundlagen
5
Diese allgemeinen Überlegungen lassen sich für die Rechtsetzung im Privatrecht der Europäischen Gemeinschaft weiter präzisieren, insoweit diese sich auf die Binnenmarktkompetenz der Art. 94 bzw. 95 EG stützt. Diese Gesetzgebung muß deshalb primär dem Ziel verpflichtet sein, der Integration der Märkte zu dienen. Zentrales Anliegen der Binnenmarktintegration wiederum ist es, die soziale Wohlfahrt in der Europäischen Gemeinschaft zu steigern. Beredtes Zeugnis hierfür legt der im April 1956 vorgelegte Spaak-Bericht 5 ab, der das Konzept der wirtschaftlichen Integration vorbestimmte, wie es schließlich mit den Römischen Verträgen 1957 beschlossen wurde.6 Im Spaak-Bericht wird die Schaffung des Gemeinsamen Marktes als Maßnahme angesehen, um einen großen Wirtschaftsraum aufzubauen, „in dem die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geschaffen werden, die – gestützt auf die Einheit mächtiger Produktionskräfte – eine fortlaufende wirtschaftliche Ausweitung, größere Sicherheit gegen Rückschläge, eine beschleunigte Hebung des Lebensstandards und die Entwicklung harmonischer Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten zum Ziele haben wird.“7
6
Der Binnenmarkt ist danach primär als Instrument anzusehen, um den Wettbewerbsdruck in der Gemeinschaft zu erhöhen, wovon sich die Konstrukteure des Gemeinsamen Marktes eine höhere ökonomische Effizienz und mehr Wohlstand erhofften.8 Hieraus folgt, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen der Binnenmarktgesetzgebung dazu aufgerufen ist, Regulierung nach Effizienzgesichtspunkten auszurichten. Daß sich der europäische Regelgeber auch dieser Verpflichtung bewußt ist, wird an den Begründungen zu Rechtsakten erkennbar, die sich auf die Binnenmarktgesetzgebungskompetenz stützen. Paradigmatisch hierfür steht die zweite Begründungserwägung zur Marktmißbrauchsrichtlinie,9 wo es heißt: „Ein integrierter und effizienter Finanzmarkt setzt Marktintegrität voraus. Das reibungslose Funktionieren der Wertpapiermärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Märkte sind Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand.“
5 Regierungsausschuß, eingesetzt von der Konferenz von Messina, Bericht der Delegationsleiter an die Außenminister, MAE 120 d/56 (korr.), Brüssel, den 21. April 1956 (im folgenden: Spaak-Bericht). 6 Einer Kommission unter Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak war die Aufgabe übertragen worden, mögliche Wege einer weiteren wirtschaftlichen Integration zu prüfen. Dies war notwendig geworden, nachdem 1955 die Konferenz von Messina die Unstimmigkeiten über diese Frage unter den sechs Mitgliedstaaten der Montanunion deutlich gemacht hatte. Der Spaak-Bericht, der empfahl, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und eine Europäische Atomgemeinschaft zu gründen, wurde im Mai 1956 von den Außenministern auf der Konferenz von Venedig angenommen und bildete die Grundlage für die Verhandlungen über die Vertragstexte. Zu Entstehungsgeschichte und Bedeutung des SpaakBerichtes ausführlich Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1982), S. 135–268. 7 Spaak-Bericht, Erster Teil, Einleitung, S. 15. 8 Vgl. Molle, The Economics of European Integration, S. 13–42. 9 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmißbrauch), ABl. 2003 Nr. L 96/16.
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Jens-Uwe Franck
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
Der Gemeinschaftsgesetzgeber ist im Rahmen der Binnenmarktgesetzgebung dazu aufgerufen, sich zu vergewissern, ob eine Regelung tatsächlich wohlfahrtsfördernd wirken wird. Bei marktregulierenden Eingriffen durch Privatrecht ist etwa im Vorhinein zu klären, ob zum einen ein regulierungsbedürftiges Problem vorliegt oder ob nicht die bestehenden Marktmechanismen hinreichend sind. Zum anderen muß geprüft werden, ob die vorgesehenen Regelungsinstrumente geeignet sind, den definierten Problemen auf effiziente Weise entgegenzuwirken.10 Ein instruktives Beispiel für einen Fall, bei dem die Europäische Kommission eben dies versäumt hat, bildet der (ursprüngliche) Vorschlag aus dem Jahre 2002 für eine Richtlinie zur Reform des Verbraucherkreditrechts,11 der zwischenzeitlich von der Kommission aus gutem Grund erheblich überarbeitet worden ist.12 Denn eine Überregulierung des Kreditmarktes wirkt letztlich kontraproduktiv für die Wohlfahrt der Verbraucher, die Darlehen nachfragen und deren Interessen eigentlich geschützt werden sollen.13
II.
7
Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz
Erst die Eignung, Märkte zu integrieren und hierdurch ihre Effizienz zu stärken, wirkt nach dem Konzept, das Art. 95 EG zugrunde liegt, kompetenzbegründend.14 Ob eine Harmonisierungsmaßnahme, die typischerweise ein Mehr an (einheitlicher) Regulierung mit sich bringt, auch tatsächlich Wohlfahrtsgewinne verspricht, muß deshalb ein wichtiges Kriterium bei der Frage sein, ob die Gemeinschaft sich auf die Binnenmarktkompetenz stützen kann.
8
Andererseits entzieht eine mangelnde Berücksichtigung der Auswirkungen auf die soziale Wohlfahrt für sich einer Harmonisierungsmaßnahme nicht die Kompetenz des Art. 95 EG. Das wird vor allem an der Regelung des Art. 95 Abs. 3 EG deutlich. Dem Gesetzgeber bleibt bei der Frage, welche Maßnahmen er als geeignet ansieht, um die Integration des Binnenmarktes voranzutreiben, ein weiter Ermessensspielraum um sonstige Ziele wie Gesundheitsschutz, Sicherheit, Verbraucherschutz oder Umweltschutz zu berücksichtigen.
9
Die Auswirkung einer Harmonisierungsmaßnahme auf die soziale Wohlfahrt ist aber jedenfalls ein wichtiger Prüfstein, um die rechtspolitische Überzeugungskraft einer gesetzgeberischen Initiative, die sich auf Art. 95 EG stützt, bewerten zu können.
10
10 Vgl. etwa zur Regelung von Informationsdefiziten Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 218–223. 11 Vorschlag v. 11.9.2002 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit (Verbraucherkreditrichtlinie), KOM(2002) 443 endg., ABl. 2002 Nr. C 331 E/200. 12 Änderungen in KOM(2004) 747 endg. 13 Eingehend hierzu Franck, ZBB 2003, 334. 14 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Jens-Uwe Franck
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1. Teil: Grundlagen
Dies kann am Beispiel der Tabakwerberichtlinie 15 verdeutlicht werden.16 Die Richtlinie beschränkt die Werbung für Tabakerzeugnisse in erheblichem Maße, sie verbietet insbesondere die Werbung in der Presse (Art. 3) sowie die Rundfunkwerbung (Art. 4).17 Im Schrifttum wird der Tabakwerberichtlinie weithin die Kompetenzgrundlage abgesprochen.18 Im Kern wird dies damit begründet, daß die Richtlinie faktisch die Binnenmarktintegration kaum verbessere. Sachlich sei sie vielmehr vom Ziel des Gesundheitsschutzes dominiert. Darin liege aber eine Umgehung des Art. 152 Abs. 4 lit. c EG, der jegliche Harmonisierung zum Schutze und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit ausschließt.
11
Ökonomische Argumente können die Ansicht begründen, daß die Tabakwerberichtlinie nicht überzeugend auf Art. 95 EG gestützt werden kann: Die Beschränkung der Tabakwerbung läßt im ganzen kaum Wohlfahrtsgewinne durch eine Förderung der Binnenmarktintegration erwarten. Zwar ist es denkbar, daß der freie Verkehr insbesondere von Zeitungen oder Zeitschriften durch unterschiedliche nationale Regelungen über die Tabakwerbung beschränkt wird. Doch sind die damit verbundenen konkreten Wohlfahrtsnachteile wohl eher gering, bedenkt man, daß Printmedien typischerweise ohnehin auf Grund der Sprachbarrieren und ihres thematischen Zuschnitts nur einen geringen Bruchteil ihres Umsatzes durch grenzüberschreitenden Absatz erzielen.
12
Erhebliche Wohlfahrtsnachteile drohen freilich dadurch, daß die Richtlinie dem Markt für Tabakprodukte mit der Presse- und Rundfunkwerbung ein zentrales wettbewerbsstrategisches und transparenzförderndes Instrument entzieht und damit ganz erheblich die Funktionsfähigkeit des Marktes für Tabakprodukte einschränkt. Die Tabakwerberichtlinie wirkt damit in einer Art und Weise, die dem intendierten Wirkungsmechanismus der Binnenmarktintegration entgegensteht.
13
Man mag demgegenüber einwenden, daß die Beschränkung der Tabakwerbung zu einem Rückgang des Tabakkonsums führen werde, was wiederum mit Wohlfahrtsgewinnen verbunden sei. Dafür spricht, daß der Konsum von Tabakprodukten 15 Richtlinie 2003/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.5.2003 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. 2003 Nr. L 152/16. Zur Regulierung der Tabakwerbung siehe Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 95 f., 266–269. 16 Die gleichnamige Vorgängerrichtlinie 98/43/EG, ABl. 1998 Nr. L 213/9, die jegliche Absatzförderung von Tabakprodukten untersagte und die der europäische Gesetzgeber auch auf Art. 95 EG gestützt hatte, wurde vom EuGH wegen mangelnder Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt, EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Leitsatz 3; zu diesem Urteil etwa Calliess, Jura 2001, 311; Götz, JZ 2001, 34; Hervey, CMLR 2001, 1421; Hilf/Frahm, RIW 2001, 128; Stein, EWS 2001, 12; Usher, CMLR 2001, 1519. 17 Die Fernsehwerbung wird bereits durch Art. 13 der Richtlinie 89/552/EWG des Rates v. 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 1989 Nr. L 298/23, verboten. 18 Siehe etwa Dauses, EuZW 2001, 577; Görlitz, ZUM 2002, 97; ders, EuZW 2003, 485; Oppermann, ZUM 2001, 950; Schwarze, ZUM 2002, 89; Wägenbauer, EuZW 2001, 450. Demgegenüber sieht der Generalanwalt Philippe Léger die Voraussetzungen des Art. 95 EG als erfüllt an, Schlußanträge v. 13.6.2006 – Rs. C-380/03 Deutschland ./. Parlament und Rat.
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Jens-Uwe Franck
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
gesundheitsschädlich, potentiell sogar lebensgefährlich ist und damit gesellschaftliche Kosten verursacht, da Humankapital vernichtet wird und den sozialen Sicherungssystemen durch die Behandlungskosten und Beitragsausfälle hohe Kosten entstehen. Zu bedenken sind andererseits Einsparungen insbesondere in der Renten-, aber auch in der Krankenversicherung aufgrund der geringeren Lebenserwartung von Rauchern. Der angedeutete Einwand der Wohlfahrtsgewinne durch Antitabakpolitik vermochte jedoch aufgrund mehrerer grundsätzlicher Überlegungen nicht zu überzeugen. Zum ersten ist schlicht zu entgegnen, daß es um Wohlfahrtsgewinne durch Gesundheitsschutz ginge, nicht aber durch Binnenmarktintegration. Hierfür fehlt dem europäischen Rechtsetzer indes die Kompetenz. Zum zweiten ist der Gesetzgeber – angesichts der beschriebenen Zielsetzung des Art. 95 EG und angesichts der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung – aufgerufen, alle marktkonformen Regulierungsmaßnahmen auszuschöpfen, bevor er auf ein umfassendes Tabakwerbeverbot zurückgreift. Durch Anti-Rauch-Kampagnen und durch die Etikettierungsvorschriften der Tabaketikettierungsrichtlinie wird bereits kontinuierlich auf die gesundheitlichen Risiken, die mit dem Rauchen verbunden sind, hingewiesen.19 Nichtraucher können durch Rauchverbote am Arbeitsplatz, in Restaurants, an öffentlichen Plätzen etc. geschützt werden. Den Schutz Minderjähriger können Vertriebsverbote und Werbebeschränkungen gewährleisten. Negative externe Effekte auf Grund der erhöhten Kosten für das Gesundheitswesen können durch die Tabaksteuer aufgefangen werden.
14
Zu bedenken sind schließlich auch die Grenzen der Wirkung von Werbebeschränkungen bzw. sogar mögliche kontraproduktive Effekte, die erst bei ökonomischer Analyse verständlich werden. Eine empirische Studie zu verschiedenen gesetzgeberischen Initiativen gegen das Rauchen und insbesondere auch zum Advertising Ban, mit dem amerikanisches Bundesrecht 1971 die Radio- und Fernsehwerbung für Zigaretten verbot,20 hat einerseits gezeigt, daß die Werbung die Nachfrage nach Zigaretten nur gering beeinflußt und deshalb ein Werbeverbot auch nur einen statistisch fast irrelevanten Rückgang der Nachfrage verursachte. Andererseits ist aber die Nachfrage nach Zigaretten sehr preiselastisch. Da die Werbeverbote eine Kostenersparnis für die Produzenten bedeutete, ermöglichten sie ihnen, die Preise für Zigaretten zu senken. Dies erklärt, warum der Advertising Ban nach dem in der Studie verwendeten Regressionsmodell zu einem Anstieg im Zigarettenkonsum führte. Sehr zweifelhaft ist deshalb, ob ein Werbeverbot tatsächlich ein geeignetes Mittel im „Kampf gegen den Tabakkonsum“ darstellt. Angesichts der hohen Preiselastizität der Nachfrage wäre eine Steuererhöhung jedenfalls ein deutlich effektiveres Mittel.21
15
19 Empirische Studien haben gezeigt, daß der Tabakkonsum gesenkt werden kann, klärt man über die Gesundheitsschäden des Rauchens auf, Schneider/Klein/Murphy, 24 J. Law & Econ. (1981), 575. Insbesondere wurde nachgewiesen, daß Werbespots gegen Zigaretten das Rauchen bei Teenagern signifikant reduzieren können, da die Präferenzen in dieser Gruppe noch weniger stark ausgeprägt sind, Lewitt/Coate/Grossman, 24 J. Law & Econ. (1981), 545. 20 Schneider/Klein/Murphy, 24 J. Law & Econ. (1981), 575, 599. 21 Van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung, S. 97. Jens-Uwe Franck
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1. Teil: Grundlagen
III. Ökonomische Denkmuster als Schlüssel zum Verständnis der Grundfreiheitendogmatik 16
Die konstatierte Ausrichtung des Binnenmarktes auf eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt setzt sich in den Grundfreiheiten fort, die als rechtliches Instrument zur Förderung der Integration der Märkte zu verstehen sind. Verschiedene dogmatische Entwicklungen zu den Grundfreiheiten sind ohne Rückgriff auf ökonomische Erwägungen kaum erklärbar. Instruktiv hierfür ist die Keck-Rechtsprechung, wonach bestimmte nationale Bestimmungen, die Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, grundsätzlich nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sind.22 Der Gerichtshof hatte hiermit ein Kriterium zur Einschränkung des Tatbestandes des Art. 28 EG postuliert, dessen Ausformung und Begründung der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft einige Rätsel aufgab.
17
Schnell wurde klar, daß eine schematische, rein begriffliche Abgrenzung der produktvon den vertriebsbezogenen Regelungen zum einen teilweise schwer durchzuführen sein würde und zum anderen in vielen Fällen nicht zu überzeugenden Abgrenzungen führen konnte. So stellen Werbeverbote im Grundsatz bloße Verkaufsmodalitäten dar.23 Befindet sich die Werbung indes auf dem Produkt, handelt es sich um eine produktbezogene Regelung.24 Zudem war der Formulierung des EuGH zu entnehmen, daß es weiterhin einen Bestand nationaler Regelungen geben konnte, die zwar begrifflich als Verkaufsmodalitäten verstanden werden konnten, trotzdem aber als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit zu werten waren. Dies hat den Raum geöffnet für zwei ökonomisch begründete Argumentationslinien, um die Keck-Rechtsprechung zu rationalisieren und zu operationalisieren.
18
Eine erste Argumentation betont, daß es Ziel der Warenverkehrsfreiheit sei, den Zutritt auf andere mitgliedstaatliche Märkte nicht zu erschweren.25 Davon ausgehend sollen aber nationale Maßnahmen nicht an den Grundfreiheiten zu messen sein, die nach erfolgtem Marktzutritt lediglich die Modalitäten des Wettbewerbs regeln und auch faktisch die grenzüberschreitend gehandelten Waren nicht anders betreffen als die Waren, die rein inländisch vertrieben werden. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten beschränken danach die Warenverkehrsfreiheit, wenn sie den Marktzutritt erheblich erschweren.
19
Hierunter können vor allem Regeln fallen, die die Absatzförderung für bestimmte Produkte verbieten. Denn neu auf einen Markt drängende Erzeugnisse sind in viel größerem Maße auf Werbung und andere Maßnahmen der Absatzförderung
22 EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 23 EuGH v. 15.12.1993 – Rs. C-292/92 Hünermund u.a., Slg. 1993, I-6787 Rn. 21–24 (Werbeverbot für apothekenübliche Produkte außerhalb von Apotheken); EuGH v. 9.2.1995 – Rs. C-412/93 Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179 Rn. 21–24 (Verbot der Fernsehwerbung für eine bestimmte Form des Vertriebs von Kraftstoff). 24 EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 11–14. 25 Schwarze-Becker, Art. 28 EG Rn. 49; Ehlers, Jura 2001, 482, 485.
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Jens-Uwe Franck
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
angewiesen als die etablierten inländischen Erzeugnisse, mit denen die Verbraucher bereits vertraut sind. Diese Argumentation übernahm der EuGH in der GIP-Entscheidung, in der er urteilte, daß das nahezu vollständige Verbot der Absatzförderung für alkoholische Produkte in Schweden – obwohl es sich nur um eine Verkaufsmodalität handelte – eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellte, die allerdings rechtfertigungsfähig war.26 Eine Erschwerung des Marktzutritts ist gleichfalls zu konstatieren, wenn eine nationale Regelung eine Absatztechnik für eine Produktgruppe untersagt. Folgerichtig qualifizierte der Gerichtshof auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln, die in Deutschland nur in Apotheken verkauft werden durften, als eine Maßnahme gleicher Wirkung iSv Art. 28 EG, obgleich es sich auch hier begrifflich lediglich um eine Verkaufsmodalität handelte.27
20
Eine zweite dezidiert ökonomisch begründete Argumentationslinie hebt hervor, daß Unternehmen von der Binnenmarktintegration profitieren sollen, indem sich für sie Größenvorteile und Synergieeffekte (economies of scale and scope) ergeben sollen. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten können indes verhindern, daß ein Produzent die Kostenvorteile, die ein einheitlicher Binnenmarkt mit sich bringen soll, auch durch eine einheitliche Marketingstrategie umsetzt. Dementsprechend wird unter dem Stichwort des Euro-Marketing argumentiert, daß vertriebsbezogene Regelungen auch nach der Keck-Rechtsprechung in den Tatbestand des Art. 28 EG fallen, wenn ein Anbieter durch sie gezwungen ist, eine einheitlich für mehrere Länder oder sogar den gesamten Binnenmarkt konzipierte Marketingstrategie zu ändern, ihm dadurch Anpassungskosten entstehen und deshalb der gemeinschaftliche Warenverkehr gestört wird.28
21
Dieses Argument der Ermöglichung einer einheitlichen Marketingstrategie durch die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH im Urteil Douwe Egberts berücksichtigt. Dort wurde entschieden, daß das belgische Verbot der Werbung für Lebensmittel mit Bezugnahmen auf das „Schlankerwerden“ und „ärztliche Empfehlungen“ eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des freien Warenverkehrs darstelle, weil es die Aufgabe eines Werbesystems verlangt, welches der Anbieter für besonders wirksam hält.29
22
26 EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 GIP, Slg. 2001, I-1795 Rn. 18–25; zuvor bereits EuGH v. 9.7.1997 – verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95 De Agostini und TV-Shop, Slg. 1997, I-3843 Rn. 42 f. Siehe auch Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 174 f.; Grabitz/HilfLeible, Art. 28 EG Rn. 30; Stein, EuZW 1995, 435, 436. 27 EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-322/01 Deutscher Apothekerverband ./. DocMorris und Jaques Waterval, Slg. 2003, I-14887 Rn. 55–76. 28 Ausdrücklich unter Hinweis auf den Aspekt der economies of scale Ackermann, RIW 1994, 189, 194; s. im übrigen Leible/Sosnitza, K&R 1998, 283, 287 mwN; Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EG Rn. 28; Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 164 ff.; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S.102, stellt darauf ab, ob durch die mitgliedstaatlichen Normen „Werbung oder andere wichtige Vertriebsparameter in ihrem Kern“ beschränkt werden. 29 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-239/02 Douwe Egberts, Slg. 2004, I-7007 Rn. 52; zu dieser Entscheidung Knopp/Grieb, ZLR 2004, 611–618. Jens-Uwe Franck
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1. Teil: Grundlagen
IV.
Ökonomische Argumente und Auslegung privatrechtlicher Richtlinien
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Scheint also die Berücksichtigung ökonomischer Argumente bei der Gesetzgebung und bei der Auslegung der Grundfreiheiten dem Grunde nach jedenfalls kaum problematisch, so ist doch schwieriger zu beurteilen, inwieweit Effizienzüberlegungen als Auslegungskriterium für das Sekundärrecht heranzuziehen sind. Ökonomische Überlegungen für die Auslegung fruchtbar zu machen ist dann überzeugend, wenn sich dies dem Willen des Gesetzgebers bzw. dem Ziel und dem Zweck der interpretationsbedürftigen Norm entnehmen läßt. Ökonomische Argumente dienen so als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung.30
24
Die Tatsache, daß sich ein Rechtsakt auf die Binnenmarktkompetenz stützt, ist für sich zu unspezifisch, um darin eine Anordnung der Berücksichtigung ökonomischer Argumente bei der Auslegung erkennen zu können. Anhaltspunkte hierfür müssen sich unmittelbar aus dem jeweiligen Rechtsakt ergeben. Eine Besonderheit des europäischen Privatrechts besteht aber darin, daß nicht nur Bereiche wie etwa das Kartelloder Kapitalmarktrecht – bei denen das auf der Hand liegen mag – als Regeln zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Märkte anzusehen sind, sondern daß diese Zielstellung auch den wesentlichen Bestand des europäischen Vertragsrechts prägt.31 Hieraus kann vielfach die Legitimation hergeleitet werden, wirtschaftstheoretische Überlegungen auch zur Auslegung heranzuziehen.
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Dies mag anhand einer Auslegungsfrage zur Ausgestaltung des Widerrufsrechts in Art. 6 der Fernabsatzrichtlinie32 verdeutlicht werden. Wird den Abnehmern ein Widerrufsrecht eingeräumt, so wird ihnen damit eine erweiterte Möglichkeit gegeben, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und noch (nachträglich) für ihre vertragliche Entscheidung zu berücksichtigen. Der europäische Regelgeber sah das Widerrufsrecht als Instrument zur Überwindung von Informationsasymmetrien an, um so den Fernabsatz als Absatztechnik zu unterstützen und ein Marktversagen infolge von strukturellen Informationsasymmetrien zu verhindern.33
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Grundgedanke der Regelung ist es also, daß ein funktionsfähiger Fernabsatzmarkt wohlstandsfördernd sei und daß ein Widerrufsrecht grundsätzlich ein nützliches
30 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Näher hierzu etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 450ff.; Grundmann, RabelsZ 66 (1997), 423, 430–443; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 29–31. 31 Grundmann, NJW 2000, 14, 17. 32 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 Nr. L 144/19. 33 Bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz liegen die Informationsnachteile der Abnehmer auf der Hand. Beim Absatz etwa über Kataloge oder das Internet können Güter, die im Ladengeschäft erworben als Suchgüter zu qualifizieren wären, über deren Qualität sich die Abnehmer also mit nur geringem Aufwand durch bloßes Betrachten oder einfaches Ausprobieren informieren können, die Eigenschaften von Erfahrungsgütern annehmen, deren Qualität sich erst nach Vertragsschluß erschließt, nämlich nachdem der Abnehmer das Produkt zugeschickt bekommen hat, vgl. Begründungserwägung 14 Fernabsatzrichtlinie; Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 288–290; Rekaiti/Van den Bergh, 23 JCP (2000), 371, 380.
128
Jens-Uwe Franck
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
Instrument sei, die Funktionsfähigkeit des Fernabsatzmarktes zu gewährleisten. Der Ausgestaltung der Fernabsatzrichtlinie ist jedoch auch zu entnehmen, daß der Regelgeber für bestimmte Konstellationen davon ausging, daß Wohlfahrtsnachteile durch die Einräumung eines Widerrufsrechts gegenüber den Vorteilen überwiegen würden. Dies kann vor allem bei relativ hohen Transaktionskosten für die Ausübung des Widerrufsrechts oder bei hohen Kosten aufgrund möglichen opportunistischen Verhaltens der Abnehmer der Fall sein.34 Diese Kosten fallen zwar beim Händler an, können von diesem aber über die Preise an die Verbraucher weitergegeben werden. Angesichts des überwiegenden Risikos opportunistischen Verhaltens steht Verbrauchern deshalb etwa nach Art. 6 Abs. 3 Sps. 4 Fernabsatzrichtlinie bei „Verträgen zur Lieferung von Audio- oder Videoaufzeichnungen oder Software, die vom Verbraucher entsiegelt worden sind“ kein Widerrufsrecht zu. Es soll verhindert werden, daß Kunden sich das jeweilige Medium bestellen, um es dann zu kopieren und anschließend den Vertrag zu widerrufen.
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Der Wortlaut des Tatbestands scheint für die Anwendung der Ausnahmeregelung vorauszusetzen, daß die Waren bei Verkauf versiegelt waren.35 Folge einer solchen Auslegung wäre, daß der Anbieter sich nicht vor opportunistischem Verhalten schützen kann, wenn keine Versiegelung möglich ist. Die Ausnahmevorschrift würde etwa nicht für Verträge über Software oder Filme anwendbar sein, die direkt aus dem Internet heruntergeladen werden. Bestünde hier aber stets ein Widerrufsrecht des Verbrauchers, belastete dies die Funktionsfähigkeit dieses Marktes wohl erheblich und könnte dazu führen, daß letztlich keine Filme etc. im Downloadverfahren angeboten werden.36
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Möglich ist es allerdings auch, Art. 6 Abs. 3 Sps. 4 Fernabsatzrichtlinie so zu verstehen, daß für ursprünglich versiegelte Waren die Entsiegelung eine zusätzliche Voraussetzung dafür ist, daß die Ausnahmeregelung eingreift, im übrigen aber bei den genannten Produkten ein Widerrufsrecht generell nicht besteht. Diese Interpretation ist vorzugswürdig, weil nur sie den aufgezeigten ökonomischen Wertungen, wie sie sich auch der Regelgeber des Widerrufsrechts zu eigen gemacht hat, zum Durchbruch verhilft. Ein Widerrufsrecht soll eben dann nicht gewährt werden, wenn hiervon keine Wohlstandsgewinne zu erwarten sind.
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Das Auslegungsbeispiel verdeutlicht, daß der Mehrwert eines Rückgriffs auf ökonomische Überlegungen darin bestehen kann, daß hierdurch das zugrundeliegende
30
34 Neben der im folgenden diskutierten Regelung des Art. 6 Abs. 3 Sps. 4 läßt sich diese Wertung u. a. auch Art. 6 Abs. 3 Sps. 2, 3 und 6 Fernabsatzrichtlinie entnehmen, näher hierzu Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 293–296. 35 So unter Hinweis auf die Eindeutigkeit des Wortlauts und die Notwendigkeit einer restriktiven Auslegung von Ausnahmevorschriften Grabitz/Hilf-Micklitz, Bd. III A 3 Rn. 96. 36 Nach Palandt-Heinrichs, 62. Aufl. (2003), § 312d Rn. 10, soll dies durch die Anwendung des § 312d Abs. 3 BGB (bei dem Hinweis auf Abs. 2 in der Kommentierung handelt es sich wohl um ein redaktionelles Versehen) verhindert werden können, der Art. 6 Abs. 3 Sps. 1 Fernabsatzrichtlinie umsetzt. Dies scheitert indes daran, daß ein Film dadurch, daß man ihn über das Internet kauft und herunterlädt, nicht zu einer Dienstleistung wird. Jens-Uwe Franck
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1. Teil: Grundlagen
gesetzgeberische Konzept in seiner Tragweite deutlich wird und durch die Auslegung fortgesetzt werden kann. Die Überzeugungskraft von Auslegungsergebnissen, die sich im wesentlichen auf eine teleologische Interpretation stützen, kann hierdurch entscheidend verstärkt werden.
V.
Zur Wahl des Regelungsinstruments
31
Ein spezifisch gemeinschaftsrechtliches Anwendungsfeld für ökonomische Überlegungen bietet schließlich die Frage nach dem optimalen Regelungsinstrument. Denn dem Gemeinschaftsgesetzgeber steht zur Förderung der Integration der Märkte nicht nur die Möglichkeit der Rechtsharmonisierung zur Verfügung, sondern er kann den Binnenmarktakteuren auch ein supranationales Instrument zur Verfügung stellen, das neben die nationalen Instrumente tritt. Hierin liegt die Option, die schlagwortartig als Erhalt eines „Wettbewerbs der Privatrechtsordnungen“ beschrieben wird.37
32
Ökonomische Argumente spielen eine wichtige Rolle, um die Vor- und Nachteile zentraler gegenüber dezentraler Regulierung erkennen und abschätzen zu können. Einheitliche Regulierung in einem Gemeinsamen Markt wird gemeinhin mit zwei Vorteilen verknüpft: 38 Zentrale Lösungen können externe Effekte über die Grenzen einzelner Regelgeber hinweg vermeiden und Kosten sparen, da Skalenerträge besser ausgenutzt und Transaktionskosten gespart werden können.
33
Dem stehen jedoch Vorteile dezentraler Regelungen gegenüber. Erstens: In einem zu regulierenden Gebiet gibt es regional unterschiedliche Präferenzen in der Bevölkerung und unterschiedliche äußere Bedingungen. Eine zentrale Lösung kann immer nur eine „durchschnittliche“ Lösung sein. Dezentrale, räumlich differenzierte Regelungen können dagegen effizientere Lösungen finden, die heterogenen Präferenzen besser gerecht werden. Zweitens belassen dezentrale Regelungskompetenzen die Möglichkeit zu parallelen Experimentierungsprozessen. Durch die Beschränkung auf eine zentrale Regulierungsinstanz verzichtete man auf einen Wettbewerb der Regulierungsideen und damit auf den Wettbewerb als Mittel, neues Wissen zu generieren und zu verbreiten.39 Drittens schließlich ist zu berücksichtigen, daß Regulierung stets 37 Grundlegend: Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen. 38 Zu den Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Regulierung Gatsios/Holmes, Regulatory competition, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law (1998), Bd. 3, S. 273; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts (2000), S. 84; Woolcock, in: McCahery u. a. (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298. 39 Grundlegend für diesen Ansatz einer evolutorischen Marktprozeß- und Wettbewerbstheorie von Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968). Für den verfassungsrechtlichen Rahmen des Gemeinschaftsrechts wird konstatiert, daß er sich schlecht dafür eigne, Rechtsvereinheitlichungs- und -angleichungsprozesse als „offene Lernprozesse“ zu gestalten, Kirchner, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts (2000), S. 109. Zur Bedeutung des Lern- und Suchpotentials durch den Wettbewerb zwischen Vertragsrechtsordnungen Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118f.
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Jens-Uwe Franck
§ 6 Zum Nutzen der ökonomischen Theorie für das Europäische Privatrecht
durch Repräsentanten erfolgt und damit das Problem einhergeht, daß Regelgeber u.U. einzelne Gruppen auf Kosten der Allgemeinheit begünstigen (sog. rent-seekingProblem). Bei einer weitgehend dezentralen Entscheidungsfindung werden Macht und Einfluß einzelner Regelgeber begrenzt, zudem sehen sie sich einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt. Das vermindert die Risiken des rent-seeking-Problems. Ob zentralen Lösungen oder einem Markt für Regulierungsideen der Vorzug zu geben ist, läßt sich nicht generell beantworten, sondern bedarf einer Analyse im Einzelfall. Diese Diskussion hat dadurch an Aktualität gewonnen, daß die Schaffung eines optionalen Europäischen Vertragsrechtskodex als eine mögliche Variante für die Zukunft eines Europäischen Vertragsrechts und als Alternative gegenüber weiterer Rechtsharmonisierung im Raume steht.40 Etwas in den Hintergrund getreten ist hierbei, daß mit der Societas Europea bereits eine supranationale Rechtsform besteht, die – wenn auch nicht frei, sondern nur für bestimmte Konstellationen – neben den nationalen Rechtsformen für die Marktteilnehmer wählbar ist.41
34
VI. Zusammenfassung Ökonomischen Überlegungen kommt auf der europäischen Ebene eine gewichtige Rolle sowohl bei der Rechtsetzung zu, als auch der Auslegung und Fortbildung des Privatrechts. Die Binnenmarktintegration ist auf Wohlfahrtsgewinne ausgerichtet. Dies hat der europäischen Gesetzgeber insbesondere bei der Ausgestaltung von Privatrechtsregeln auf der Grundlage von Art. 95 EG zu berücksichtigen. Die vom EuGH entwickelte Grundfreiheitendogmatik ist geprägt von Überlegungen über Marktzutrittsschranken sowie Größenvorteilen und Synergieeffekten (economies of scale and scope). Privatrechtliche Richtlinien wirken in vielen Fällen marktunterstützend. In diesen Fällen ist es besonders angezeigt, bei der Auslegung auf ökonomische Argumente zurückzugreifen, um die intendierten Wirkungen zu erreichen. Letztlich sind in einem Mehrebenensystem wie der Europäischen Gemeinschaft ökonomische Überlegungen auch maßgeblich für die Wahl des optimalen Regelungsinstruments.
40 Dazu etwa Basedow, ZEuP 2004, 1; Staudenmayer, ZEuP 2003, 828. 41 Siehe für ökonomische Überlegungen zur Rolle der Societas Europea neben den nationalen Gesellschaftsrechten Enriques, ZGR 2004, 735; Röpke/Heine, JbJZ 2004, 265. Jens-Uwe Franck
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35
2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen § 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Johannes Köndgen
Übersicht I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . 2. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts . . . . . a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: Von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vom klassischen zum „regulativen“ Privatrecht – und wieder zurück? . . . II. Das Primärrecht: Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Privatrechts . . . . . . . 1. Geltungsvorrang der Grundfreiheiten vor dem nationalen Privatrecht? . . . . 2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion . . . . . . 1. Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . . aa) Richtlinien als „medialisierte“ Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung . . . . . . . . . . . . . b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts . . . . . . . . . . . . aa) Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung . . . . . . . . . . bb) Defizite bei den Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Erwägungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer b) Die Verordnung über die Societas Europea . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? . . . . . . . . . . 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts? . . . . . . . . . . . .
Rn. 1–20 1–9 10–20 11–15 16–20 21–27 22–24 25–27
. . . . . . . . . . . . . . .
28–48 28–43 28–32 29–31 32 33–38 34–35 36 37–38 39–43 44–48 45 46 47 48
IV. „Indirekte“ Wirkungen von Gemeinschaftsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49–51
V. Europäisches Soft Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitteilungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . . . . . a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission . . . b) Empfehlungen und Aktionspläne . . . . . . . . . . .
Johannes Köndgen
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52–59 52–54 52 53–54
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2. Teil: Allgemeiner Teil 2. „Expertenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. Lamfalussy-Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Koregulierung“: Codes of Best Practice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Résumé und Ausblick
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55–59 55–56 57–59 60–61
Literatur: Baldus Christian, Ein weiterer Schritt zur horizontalen Direktwirkung? – Zu EuGH, C-201/02, 7.1.2001 (Delena Wells), GPR 2003/2004, 124–126; Bast, Jürgen, Handlungsformen, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge, Berlin/Heidelberg 2003, S. 479–537; Bleckmann, Albert, Zur Funktion des Gewohnheitsrechts im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1981, 101–123; Bleckmann, Albert, Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Gerhard Lüke/Georg Ress/Michael R. Will (Hrsg.), Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatsintegration, Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco, Köln/Berlin/Bonn/München 1983, S. 61–81; Canaris, Claus-Wilhelm, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Hartmut Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht – Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 65. Geburtstags von Rainer Schmidt, Tübingen 2000, S. 29–67; Eilmansberger, Thomas, Zur Direktwirkung von Richtlinien gegenüber Privaten – Ist nach CIA, Unilever, Ingmar, Daehmpaehl, Ferreira und Heiniger jetzt alles ganz anders?, JBl 2004, 283–295 und 364–376; Heiderhoff, Bettina, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts – Insbesondere zur Reichweite europäischer Auslegung, München 2004; Jaensch, Michael, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Untersuchung der Verpflichtung von Privatpersonen durch Art. 30, 48, 52, 49, 73b EGV, Baden-Baden 1997; Joerges, Christian, Europäisierung als Prozeß: Überlegungen zur Vergemeinschaftung des Privatrechts, in: Stephan Lorenz/Alexander Trunk/Horst Eidenmüller/Christiane Wendehorst/Johannes Adolff (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 205–224; Langenbucher, Katja, Europarechtliche Methodenlehre, in: Katja Langenbucher (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, Baden-Baden 2005, S. 24–66; Riesenhuber, Karl/Domröse, Ronny, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a. –, RIW 2005, 47–54. Rechtsprechung: EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1; EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325; EuGH Urt. V. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995 I 4921; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723.
1
I.
Grundlagen
1.
Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre
Schon seit geraumer Zeit rechnet die Rechtsquellenlehre zu jenen Gebieten der allgemeinen Rechtstheorie, die als eher steril und langweilig gelten und in denen theoretischer Fortschritt nicht mehr stattfindet. Sogar das Prädikat, eine „Theorie“ zu sein, wird ihr verweigert; man beläßt sie auf dem Status einer Handvoll einfacher und praxistauglicher Definitions- und Systematisierungsregeln. Das provoziert geradezu die Grundsatzfrage: Wozu brauchen wir überhaupt eine Rechtsquellenlehre – von europäischer Rechtsquellenlehre ganz zu schweigen? Enthält die Rechtsquellenlehre denn irgendwelche Aussagen, die nicht ohnedies schon im Begriff des Rechts selbst
134
Johannes Köndgen
§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
aufgehoben sind? Und haftet sie nicht positivistisch-vordergründig an den Erscheinungsformen des Rechts, also an bloßen Oberflächenphänomenen? Bei näherem Hinsehen erweist sich denn auch, daß die herkömmliche Rechtsquellenlehre mindestens 1 vier ziemlich heterogene Grundfragen der Rechtstheorie zu beantworten sucht.
2
Die erste Frage gilt der Herkunft von Recht. Darauf gibt es (wiederum traditionell) zweierlei Antworten, eine rechtsphilosophische und eine rechtssoziologische. Die Philosophen haben sich auf eine vorpositive Naturordnung, auf eine imaginäre volonté générale, eine Grundnorm oder schlicht auf die Verwirklichung der „Rechtsidee“ berufen. Die Soziologen – allen voran Max Weber – bevorzugen eine genetische Perspektive und sehen Recht entweder aus Tradition, aus autoritativer Setzung oder aus richterlicher Praxis (Präjudizien) entstehen. Beide Antworten sind in Wahrheit (und jede auf ihre Art) nicht mehr und nicht weniger als Annäherungen an den Begriff des Rechts bzw. an die Theorie der Rechtsgeltung.
3
Ein zweites Thema der Rechtsquellenlehre ist die Abgrenzung der Rechtsquellen als Normen von anderen rechtserzeugenden Einzelakten wie Verwaltungsentscheidungen oder Verträgen, und zwar nach dem Kriterium der Allgemeinheit der Regelung.
4
Die dritte Fragestellung begreift Rechtsquellen nicht nur als Verhaltensgebote und als Teil der normativen Struktur der Gesellschaft, sondern als Rechtserkenntnisquellen.2 Rechtsquellen haben demnach immer zwei Adressaten. Als Verhaltensprogramm berechtigen oder verpflichten sie ein (privates oder öffentliches) Rechtssubjekt. Als materielles Entscheidungsprogramm steuern sie das Entscheidungsverhalten des Rechtsanwenders. Diese mehrdimensionale Geltung wird sich gerade für die Rechtsquellen des Europarechts als wichtig erweisen. Mit dem Blick auf den Rechtssatz als Entscheidungsprogramm berührt die Rechtsquellenlehre sich mit der Methodenlehre der Rechtsanwendung. Sie sondert die Rechtsquelle von anderen, nachrangigen Determinanten der Rechtserkenntnis wie etwa Gesetzesmaterialien oder dem Kanon der Auslegungselemente.
5
Aus dem so definierten Begriff der Rechtsquelle hat sich ein viertes Thema der Rechtsquellenlehre entwickelt. Es gilt jetzt, die Vielzahl vorfindlicher Quellen der Rechtsfindung definitorisch abzugrenzen und sie zugleich in ein hierarchisches System einzuordnen („Stufenbau der Rechtsordnung“).3 Wie schwierig dies im einzelnen ist, hat sich jüngst bei der Frage gezeigt, inwieweit die Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission (heute des EGMR) von der familienrechtlichen Judikatur deutscher Gerichte zu beachten ist.4 In Wahrheit handelt es sich hier aber nicht um eine originäre Fragestellung der Rechtsquellenlehre, sondern um ein Problem verfassungs- bzw. völkerrechtlicher Kompetenzabgrenzung.
6
1 Vgl. zu weiteren Fragestellungen etwa Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 64; Rüthers, Rechtstheorie, § 6. 2 Vgl. bereits Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und des Staates (1949), S. 116; neuerdings auch wieder Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 537 f. 3 Dazu statt vieler Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 272 f. 4 BVerfG, EuGRZ 2004, 741, mit Rezensionsaufsatz Cremer, EuGRZ 31 (2004), 683–700. Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
7
Angesichts der Abstraktionshöhe der meisten Theoreme der Rechtsquellenlehre möchte man vermeinen, daß diese sich in den luftigen Höhen der Rechtstheorie bewegt und der Rechtssetzungspraxis wenig zu sagen hat. Rechtsvergleicher wissen, daß dies ein Irrtum ist. Auch die Rechtsquellenlehre ist in weiten Bereichen durch nationalstaatliche oder zumindest rechtskreisspezifische und rechtskulturelle Eigenheiten geprägt, und sie ist als solche nicht nur Gegenstand der Theorie, sondern verbindliches normatives (Meta-)Programm. Die Eigenständigkeit der angelsächsischen 5 oder der französischen 6 Rechtsquellenlehre erbringt dafür schlagenden Beweis – von den Besonderheiten des Völkerrechts 7 ganz zu schweigen. Auch ein Beitrag zur Europäischen Rechtsquellenlehre wird deshalb nicht umhin können, unter Vermeidung jeglichen „methodologischen Nationalismus“ 8 von der Hypothese einer autonomen und originär europäischen Lehre auszugehen und deren Spezifika herauszuarbeiten.
8
Leicht haben es insoweit nur die Rechtsphilosophen, deren Suche nach den vorpositiven Quellen des Rechts immer schon transnational war und sich auch im europäischsupranationalen Raum zwanglos bewegen kann. Für erhebliche Irritationen, aber auch für durchaus neuartige Fragestellungen in der Rechtsquellenlehre sorgt hingegen der supranationale Charakter der Gemeinschaft. Die Produktion von Recht ist traditionell als nationalstaatliche Kompetenz begriffen worden. Im gemeinschaftsrechtlichen Kontext verliert das Konzept eines „Stufenbaus der Rechtsordnung“, welches im deutschen Inlandsrecht kaum noch ein Streitgegenstand ist, bereits hinsichtlich der Existenz einer „Grundnorm“ seine Tragfähigkeit: Die sog. „Handlungsformen“ des Art. 249 EG sind nämlich in ihrer Gesamtheit bereits abgeleitetes Recht – abgeleitet jedoch nicht aus einer Grundnorm „Verfassung“, sondern aus einem völkerrechtlichen Vertrag 9, dessen „Grundnorm“ nicht eine wie immer verstandene umfassende Rechtsidee, sondern der Integrationsauftrag ist. Die Binnenstruktur des Stufenbaus wird überdies nicht nur durch die Dichotomie (und Hierarchie) zwischen primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht, sondern auch durch die geradezu ahierarchische Mehrfachzuständigkeit gleichberechtigter Rechtssetzungsorgane 10 herausgefordert; eine weitere hierarchische Dimension tut sich auf in der Frage nach der Reichweite des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Mitgliedstaatsrecht.
9
Die Supranationalität des Gemeinschaftsrechts zwischen lediglich interstaatlicher Verbindlichkeit und Direktwirkung gegenüber dem Marktbürger hat in der europäischen Rechtsquellenlehre zu einer Differenzierung geführt, die der nationalen Rechts-
5 Repräsentativ Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1997); Stone, Legal System and Lawyers’ Reasonings (1964). 6 Dazu Sonnenberger, FS Lerche (1993), S. 548 ff. 7 Dazu zuletzt Tietje, Zeitschr. f. Rechtssoziologie 24 (2003), 27. 8 Davor warnt zuletzt wieder Joerges, FS Heldrich (2005), S. 206. Ein – vereinzelter – Vertreter dieser Richtung ist P. Kirchhof, DRiZ 1995, 253, 259; ders., JZ 1998, 965 Fn. 96. 9 Daß sich letzteres auch nach Ratifikation der „europäischen Verfassung“ nicht ändern wird, betont zu Recht D. Grimm, Der Vertrag: Die „europäische Verfassung“ ist keine echte Verfassung, FAZ v. 12.5.2005, Nr. 109, S. 6. 10 Hierzu vertiefend Bast, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2003), S. 503f., 512ff.
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Johannes Köndgen
§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
quellenlehre fremd ist. Bei der Frage der Rechtsgeltung bzw. -wirkung unterscheidet man zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „unmittelbarer Anwendbarkeit“.11 Erstere soll besagen, daß das Gemeinschaftsrecht gegenüber dem einzelnen Marktbürger ohne die Notwendigkeit eines mitgliedstaatlichen Vermittlungsakts wirkt; letztere hingegen soll den Mitgliedstaaten ein Anwendungsermessen wahren, welches nur dann einer unmittelbaren Anwendbarkeit weichen muß, wenn die Gemeinschaftsrechtsnorm einen subsumtionsfähigen Inhalt aufweist und keinerlei Vorbehalt zugunsten der Mitgliedsstaaten enthält. Aus rechtssoziologischer Sicht ist diese Unterscheidung eher künstlich, kann man sich doch eine Normgeltung ohne gleichzeitige allgemeine Anwendbarkeit schwer vorstellen. 2.
Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts
Über diese Grundfragen der europäischen Rechtsquellenlehre kann und muß sich ein Beitrag zu den Rechtsquellen des europäischen Privatrechts nicht mit letzter Verbindlichkeit äußern. Es kann andererseits aber auch nicht dabei bewenden, lediglich deskriptiv die verschiedenen Handlungsformen europäischer Rechtssetzung auf ihren privatrechtlichen Gehalt durchzudeklinieren. Fundamental für europäische Privatrechtsquellen sind vor allem zwei Einsichten. Beide sind nicht mehr unbedingt neu; und doch ziehen sie sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zu diesem Band. a)
10
Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: Von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“
In ihrer Doppelfunktion als berechtigende bzw. verpflichtende Rechtssätze und als Rechtserkenntnisquelle richten Rechtsquellen sich üblicherweise an zwei Adressaten: Für den Rechtsanwender bedeutet der Rechtssatz einen Anwendungsbefehl; für den oder die Normadressaten begründet sie ein Recht, eine Pflicht oder eine Verhaltensnorm. Normwirkungen zugunsten oder zulasten von Nichtadressaten sind die große Ausnahme (wenn man einmal von der banalen Einsicht absieht, daß, was man dem einen durch Normbefehl gibt, häufig einem anderen wegnimmt). Im europäischen Recht ist alles ganz anders. In keinem Rechtsgebiet ist so viel von Drittwirkung, von unmittelbarer oder mittelbarer Wirkung die Rede wie im Europarecht. Und doch schwingt auch im europäischen Begriff der Drittwirkung immer noch die Konnotation des Exzeptionellen mit. Woher dieses Paradox?
11
Die Erklärung liegt darin, daß die europäische Rechtsquellenlehre bis heute die Eierschalen der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre noch nicht ganz abgestreift hat. Wie im Völkerrecht waren auch in den Römischen Verträgen nur die einzelnen Mitgliedstaaten mit unbeschränkter Rechtssubjektivität – und mit deren vollen Konsequenzen – ausgestattet. Selbst die Grundfreiheiten waren eher ein Rechtssetzungsauftrag für die Mitgliedstaaten zur Herstellung des Binnenmarktes als ein subjektives Recht der Marktbürger. Deren Rechtssubjektivität erschöpfte sich in einigen eher kümmerlichen
12
11 Meinungsstand bei Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 37 ff., 48 ff. Leading Case ist EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 Rn. 25 f. Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
und eher als akzidentielle Sanktionsdrohungen für mitgliedstaatliche Rechtsverletzungen begriffenen Klagerechten vor dem EuGH 12. Die den Vorrang des Gemeinschaftsrechts prozessual sicherstellende Vorlagepflicht der nationalen Gerichte ist eine Verpflichtung der dritten Gewalt, kein Recht des privaten Klägers. Daß die Union als solche Adressat des europäischen Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, sein könnte, blieb ebenso einer viel späteren Einsicht vorbehalten wie daß der Marktbürger – oder wie man seit Nizza wohl sagen muß: der europäische citoyen – das zentrale Subjekt des europäischen Rechts und seiner Rechtsquellen ist.
13
Dies alles ist längst Geschichte, aber es darf immer noch daran erinnert werden, daß die vielstrapazierte Vokabel „Paradigmawechsel“ für diesen Wandel im europäischen Rechtsquellenverständnis nicht zu hoch gegriffen erscheint. Das erweist sich nicht zuletzt an einem Vergleich mit dem heutigen Rechtszustand in der WTO. Trotz alledem bedurfte es freilich noch eines weiteren und grundsätzlichen Schritts, um den Marktbürger nicht nur mit Rechtssubjektivität, sondern auch mit europäischer Privatrechtssubjektivität auszustatten. Lange Zeit erschöpfte sich die europäische Rechtssubjektivität des Marktbürgers darin, daß er sich gegen gemeinschaftswidriges Verhalten eines Mitgliedsstaates, insbesondere gegen Verletzungen der Grundfreiheiten, zur Wehr setzen konnte – ein sozusagen öffentlichrechtliches Verständnis 13, wissenschaftshistorisch nicht zuletzt dadurch erklärbar, daß die Spezialisten des Europarechts sich seinerzeit primär aus dem Lager der Öffentlichrechtler rekrutierten. Nur zögerlich setzte sich alsdann die Vorstellung durch, daß europäisches Recht auch im Privatrechtsverhältnis von Marktbürger zu Marktbürger unmittelbare Wirkung äußern könnte. Die beiden Marksteine der Entwicklung (auf die im Einzelnen noch einzugehen sein wird 14) sind heute bekannt: die unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis und die sog. Direktwirkung von Richtlinien.
14
Diese Multidirektionalität der Normgeltung gegenüber verschiedenen Adressaten mit je verschiedener Wirkung ist bei den Rechtsquellen des nationalen Rechts eher die Ausnahme; wir kennen sie dort aus der Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte, aber auch in Verbindung mit doppelseitigen Verwaltungsakten. Im Gemeinschaftsrecht ist die Multidirektionalität von Rechtsquellen zwar ebenfalls nicht der Regelfall, aber doch, und dies gerade mit der Expansion des Gemeinschaftsprivatrechts, ein ständig präsentes Phänomen.
15
In unserer rechtsquellentheoretischen und methodologischen Begrifflichkeit ist dieser Paradigmawechsel noch nicht ganz angekommen. Der EuGH selbst scheint die sog. unmittelbare Drittwirkung in erster Linie als Konsequenz des effet utile-Prinzips oder als einen Fall unzulässiger Berufung auf eigenes Fehlverhalten (in der Terminologie des Common Law: estoppel) zu verstehen15 – also wiederum nur als eine Art Reflex
12 Vgl. zum früheren Rechtszustand etwa noch von der Groeben/Thiesing/Ehlermann-Krück (1997), Art. 173 EGV Rn. 38 ff. 13 Zu einem Rückblick aus heutiger Sicht Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 29 ff. 14 Unten Rn. 25ff. und Rn. 37 f. 15 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 22.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
des im Grunde immer noch völkervertragsrechtlich begriffenen Gemeinschaftsrechts. Auch im Schrifttum zum Europäischen Privatrecht16 herrscht noch wenig terminologische Eindeutigkeit. Man spricht im selben Atemzug von „unmittelbarer Drittwirkung“, von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ im Privatrechtsverhältnis und eröffnet noch die weitere Dimension, daß Privatrechtssubjekte sich auf bestimmte Rechtssätze „berufen können“ 17. Für die Zwecke einer Europäischen Privatrechtsquellenlehre sind diese fein gesponnenen Differenzierungen wenig hilfreich. Der Terminus „Drittwirkung“ ignoriert, daß heute der Marktbürger das zentrale Rechtssubjekt des Gemeinschaftsrechts ist. Sein Recht, sich z.B. auf die Norm einer Richtlinie zu berufen, ist „eine Funktion der objektiven Geltung und Anwendbarkeit der in einer Richtlinienvorschrift angelegten Verpflichtung“ 18. In ihrer Konnotation des Ausnahmecharakters mag die Vorstellung einer Drittwirkung allenfalls noch für das Richtlinienrecht adäquat sein. Ansonsten geht die dynamische Entwicklung des Europäischen Privatrechts – dies liegt in der Natur der Sache – unaufhaltsam in die Richtung einer unmittelbaren Geltung gemeinschaftsrechtlicher Normen im Privatrechtsverhältnis. Dazu bedarf es nicht der Vorstellung einer vollendeten Staatlichkeit der Gemeinschaft, sondern nur des Ernstnehmens ihres freiheitssichernden Auftrages. Diese Entwicklung sollte sich auch in der Begrifflichkeit widerspiegeln. So wie wir im IPR immer schon mit Selbstverständlichkeit zwischen einseitigen und allseitigen Kollisionsnormen unterscheiden, sollte man auch in der europäischen Rechtsquellenlehre schlicht zwischen „Vertikalwirkung“ (Verhältnis Bürger zum Mitgliedstaat bzw. zur Union) und „Horizontalwirkung“ 19 (Privatrechtsverhältnis unter Marktbürgern) differenzieren. Das ist nicht bloß eine façon de parler, sondern auch rechtspolitisches Programm. b)
Vom klassischen zum „regulativen“ Privatrecht – und wieder zurück?
Der Begriff des Europäischen Privatrechts leidet in seinen Randzonen noch unter erheblichen Unschärfen. Sie beruhen auf der für das kontinentaleuropäische Recht (welches seinerseits in romanistischer Tradition steht) immer noch geradezu axiomatischen Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht.
16
Würden wir das klassische und immer noch verbreitete Privatrechtsverständnis zugrunde legen, dann gäbe es Europäisches Privatrecht allenfalls als Projekt – in Gestalt des European Civil Code 20. Dieses traditionelle Verständnis begreift nämlich Privatrecht 21 als den Inbegriff der Normen, die – im Regelfall als dispositives Recht – die Rechtsbeziehungen unter Privaten regeln. Die Funktion dieses Privatrechts ist, mit einem treffenden englischen Ausdruck, „facilitative“, d.h. es will den Marktbürgern die Ordnung ihrer privaten Beziehungen erleichtern, indem es jenen Regelungsmuster
17
16 17 18 19 20 21
Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 28–47. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 32. Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 288. In Anlehnung an Nicolaysens Begriff der „horizontalen Drittwirkung“, EuR 1986, 370 f. Dazu der Beitrag von Schmidt-Kessel, unten, § 17. Hier ausschließlich verstanden als privates Vermögensrecht, d.h. unter Ausschluß personenrechtlich gefärbter Regelungsbereiche wie dem Familien- und Erbrecht.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
bereitstellt, deren sie sich bedienen können oder auch nicht. Im Laufe der Zeit ist diesem klassischen Kernprivatrecht eine weitere Dimension zugewachsen, die man in den 1970er- und 80er-Jahren in Anknüpfung an Max Weber als „Materialisierung“ oder auch als „soziales Privatrecht“ zu bezeichnen pflegte und die heute, stark verkürzt, zumeist unter der Etikette „zwingendes Verbraucherrecht“ läuft. In der Ökonomie begreift man diese neue Dimension als regulierende Korrekturen des klassischen Privatrechts aufgrund von Marktversagen oder genauer: von Informationsasymmetrien 22. So weit, so bekannt.
18
Was an dieser Entwicklung eher unbemerkt blieb, sind ihre Konsequenzen für die tradierte Zweiteilung zwischen Öffentlichem und Privatrecht, mit der man sich nicht nur in Deutschland, sondern auch im Gemeinschaftsrecht so bequem eingerichtet hat.23 Ähnlich wie im Wirtschaftsrecht das Konzept der Regulierung die Grenzlinien zwischen Wettbewerbsfreiheit und Wirtschaftsverwaltung flüssig gemacht hat 24, so stellt in individualrechtlicher Perspektive ein „regulatives“ Privatrecht den traditionellen Gegensatz von privatautonomer Gestaltung und hoheitlichem Eingriff in Frage. Regulatives Recht ist längst zu einer intermediären Kategorie geworden, bei der die formale Zuordnung zum privaten oder zum öffentlichen Recht eher ein Produkt des Zufalls als von Systemgerechtigkeit ist.
19
Einige wenige Beispiele: Die sog. Wohlverhaltenspflichten der Wertpapierdienstleister stehen in einem öffentlichrechtlichen Gesetz, dem WpHG (§§ 31ff.). Inhaltlich sind sie aber altes Geschäftsbesorgungsrecht, also Privatrecht reinsten Wassers. Öffentlichrechtlich ist daran allenfalls, daß diese Pflichten weniger von den Zivilgerichten als von einer sachnäheren Regulierungsbehörde konkretisiert werden und daß ebendiese Behörde wegen eines zivilrechtlichen Sanktionsdefizits auch über die Einhaltung der Pflichten wacht. Das Gegenbeispiel: Die besonderen Pflichten beim Vertragsabschluß im Fernabsatz – übrigens ein Produkt des Gemeinschaftsrechts – „verschandeln“ seit 2002 das BGB (§§ 312c, 312e). Aber diese vorgeblichen Vertragspflichten ermangeln jeder spezifisch zivilrechtlichen Sanktion – etwa einer Erfüllungs- oder Schadensersatzklage.25 Im übrigen besteht auch der ganz überwiegende Teil der Arbeitsmarktregulierung aus zwingendem Vertragsrecht.26
20
Zurück zum Europäischen Privatrecht. Während wir im nationalen Privatrecht einen weiten Weg vom klassischen Privatrecht zu einer stetigen Expansion des regulativen Privatrechts gegangen sind, scheint die Entwicklung im Europäischen Privatrecht
22 Vgl. dazu nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, S. 341 f. 23 Vgl. aber von Wilmowsky, JZ 1996, 590. 24 Zum aktuellen Stand der Diskussion Basedow, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 15 ff.; vgl. auch daselbst, S. 322 f. 25 Nach h.L. soll die Versäumung dieser Pflichten auch keine Vertragsnichtigkeit zur Folge haben; vgl. nur Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, Kommentar zum BGB (2003), § 312c BGB Rn. 27 mwN; a.A. Reich, EuZW 1997, 581, 585. 26 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Basedow, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 322.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
geradezu entgegengesetzt zu verlaufen.27 Das gesamte Europäische Sekundärprivatrecht besteht bis heute fast ausschließlich aus regulativem Recht – von der Verbraucherkreditrichtline über die Klauselrichtlinie bis zur Fernabsatzrichtlinie. Diese Selektivität hat im wesentlichen kompetenzrechtliche Gründe.28 Erst in jüngster Zeit schickt sich die Union mit ihren Initiativen zu einem European Civil Code an, auch in der Domäne des klassischen Privatrechts zu kodifizieren. Nach unseren bisher gewonnenen Einsichten löst sich dieses scheinbare Paradox unschwer auf: Es reflektiert einmal mehr den Paradigmenwechsel von der Vertikalwirkung des Gemeinschaftsrechts zur Horizontalwirkung. Daß der Marktbürger gemeinschaftsweit ein einheitliches regulatorisches Schutzniveau erwarten darf und daß er diese Erwartung auch gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen kann, erschloß sich einem auf die Herstellung eines Binnenmarkts und auf ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes verpflichteten europäischen Gesetzgeber leichter als die Notwendigkeit, auch im Kernbereich der Privatautonomie für einheitliche und nach der Natur der Sache lediglich dispositive, d.h. lediglich wählbare Regelungsmuster Sorge zu tragen. Insofern ist das Europäische Privatrecht in der Tat auch eine Fragestellung der europäischen Rechtsquellenlehre.
II.
Das Primärrecht: Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Privatrechts
Ob und inwieweit die Grundfreiheiten eine multidirektionale Rechtsquelle sind – also mit Geltungsanspruch gegenüber der Union, den Mitgliedstaaten (als sog. Beschränkungsverbote bzw. Angleichungsgebote), im Vertikalverhältnis Staat–Bürger und schließlich im Horizontalverhältnis unter Bürgern –, dies zählt immer noch zu den umstrittensten Fragen der europäischen Rechtsquellenlehre. Für das Privatrecht geht es einerseits um die Unanwendbarkeit nichtdiskriminierender, aber grundfreiheitenbeschränkender Privatrechtsnormen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte; zum anderen um den Schutz Privater gegenüber freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Private. 1.
21
Geltungsvorrang der Grundfreiheiten vor dem nationalen Privatrecht?
Bei dem ersten Problemfeld stehen sich rechtsquellentheoretisch zwei Gegensatzpaare gegenüber: das Verhältnis lex inferior und lex superior (Stichwort: Vorrang des Gemeinschaftsrechts) und das Verhältnis von dispositivem und zwingendem Recht. Dabei müßten sich die Grundfreiheiten zumindest gegen freiheitenbeschränkende zwingende Privatrechtsregeln durchsetzen. Dies wird in der Tat von der wohl h.M. so gesehen.29 Andere meinen, auch das dispositive Recht einbeziehen zu sollen, weil
27 Eingehender hierzu der Beitrag von Grundmann, unten, § 10; vgl. auch Grundmann, JZ 1996, 274, 274 ff. 28 Zutreffend Joerges, FS Heldrich (2005), S. 218. 29 Meinungsstand bei Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts (2004), S. 22 ff. Johannes Köndgen
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22
2. Teil: Allgemeiner Teil
die Wahlfreiheit der Kontrahenten in der Praxis allenfalls als virtuelle Wahlmöglichkeit, nicht jedoch als aktuelle Entscheidungsmacht existiere. Die cause célèbre deutscher Autoren ist hierzu der § 489 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 4 BGB: der bis zu (bzw. maximal) 10-jährige Ausschluß der Schuldnerkündigung bei Festzinskrediten.
23
Die Beliebtheit dieser Vorschrift als Demonstrationsobjekt kommt nicht von ungefähr. Die Vorschrift ist nämlich, zum ersten, diskriminierend, weil sie zwar inländischen, nicht aber ausländischen öffentlichen Darlehensschuldnern erlaubt, erforderlichenfalls auch einmal für länger als 10 Jahre zu Festzinsen Kredit aufzunehmen. Sie kann, zweitens, nicht nur in Gestalt zu langfristiger Bindung die Verbraucherdarlehensnehmer benachteiligen, die trotz fallender Zinsen nur noch gegen eine saftige Vorfälligkeitsentschädigung aus ihrem Langfristkredit herauskommen; sie beeinträchtigt durch eine zu kurz bemessene Bindungsmöglichkeit auch die Privatautonomie insbesondere unternehmerischer Darlehensnehmer, die sich vermöge eines professionellen langfristigen Schulden- und Zinsenmanagements auch gerne einmal für 15 Jahre oder länger günstige Zinsen sichern würden. Und schließlich beschränkt § 489 Abs. 1 und Abs. 4 BGB die Produktgestaltungsfreiheit der Kreditwirtschaft, die ansonsten – auch grenzüberschreitend – durch kongruente Refinanzierung zinsgünstige Langfristkredite anbieten könnte, bzw. die ausländische 30 Institute daran hindert, ihre leichter kündbaren Kreditprodukte in Deutschland anzubieten. Gemeinschaftsrechtlich ist es sicherlich unbedenklich, wenn die Norm den Verbraucherschutz gegen die Kapitalverkehrs- oder auch die Dienstleistungsfreiheit des Kreditinstituts in Stellung bringt; ja, man mag sogar darüber streiten, ob sie in dieser Hinsicht durch Zulassung einer immerhin bis zu zehnjährigen Bindung noch zu wenig tut. Bei Darlehensverträgen mit unternehmerischen Kunden schränkt sie hingegen die Freiheiten beider Parteien ein; andererseits ist sie außerhalb des Verbraucherschutzes international wohl nicht zwingend.
24
Die Frage ist jedoch, ob die Antithese von zwingendem und dispositivem Recht überhaupt noch geeignet ist, hier als Grenze der Privatrechtsgeltung der Grundfreiheiten zu dienen. Übersetzt man, wie hier vorgeschlagen, „zwingendes“ in „regulierendes“ Privatrecht, dann liegt ohnedies die Gleichbehandlung solcher Normen mit öffentlichrechtlichen Regulierungen nahe. Das wird demnächst und konsequenterweise auch im Gesellschaftsrecht geschehen müssen, wenn Arbeitnehmer-, Minderheiten- und Gläubigerschutzrechte auf den Prüfstand der jüngst so stark aufgewerteten Niederlassungsfreiheit zu stellen sind. Was andererseits das dispositive Privatrecht anbelangt, so beachten wir heute stärker – und keineswegs nur im AGB-Recht – die Leitbildfunktion dispositiver Regeln. Auch dispositive Regeln reflektieren bestimmte Ordnungsvorstellungen des Gesetzgebers, mögen diese auch „weicher“ und ermessensabhängiger sein als beim regulierenden Recht. Auch dispositive Regeln können eine Kostenbelastung bedeuten und damit den Export erschweren; darüber hinaus handelt es sich hier zumeist um versteckte Kosten, die nicht ohne weiteres zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden. Hiernach wird man das dispositive Privatrecht
30 Z.B. französische.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
vom Geltungsanspruch der Grundfreiheit nicht a limine ausnehmen können. Im praktischen Ergebnis ist jedoch die Gefahr eines Konflikts mit den Grundfreiheiten, insbesondere angesichts einer reduzierten Verhältnismäßigkeitskontrolle, gering. 2.
Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis)
Nur in seinen Wettbewerbsregeln ist der EG-Vertrag unmittelbar an Privatrechtssubjekte, nämlich die Unternehmen adressiert, und nur hier beansprucht er unstreitig Geltung im Horizontalverhältnis. Was die Grundfreiheiten anbelangt, bietet der EuGH hier wenig Führung, da er im Bosman-Urteil 31 die Horizontalwirkung (in der herrschenden Terminologie: die unmittelbare Drittwirkung) der Freizügigkeit im Privatrechtsverhältnis zwischen Spieler und Verein bzw. Verband bejaht, hinsichtlich der anderen Grundfreiheiten aber tendenziell verneint hat; 32 gegenüber öffentlichen Unternehmen (Art. 86 Abs. 1 EG ) scheint der Gerichtshof die Horizontalwirkung im Einzelfall wiederum bejahen zu wollen 33.
25
Die Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung spiegelt sich wider in einer ausgeprägten Meinungsvielfalt im Schrifttum. Wir wollen uns auf die rechtquellentheoretischen Gesichtspunkte konzentrieren. Die schärfste Attacke auf die Horizontalwirkung im Privatrechtsverhältnis hat jüngst Canaris 34 geritten. Canaris argumentiert maßgeblich mit einem scheinbaren Parallelphänomen im deutschen Verfassungsrecht: der grundsätzlichen Ablehnung einer Drittwirkung der Grundrechte. Diese stützt sich bekanntlich zunächst auf eine systematische Auslegung: Da das Grundgesetz für einzelne Grundrechte (Art. 9 Abs. 3 S. 2) eine Drittwirkung ausdrücklich anordnet und auch der EG-Vertrag in Art. 86 Abs. 2 sich ausdrücklich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern unmittelbar an die „Unternehmen“ wendet, soll mit diesen Ausnahmeregeln jeweils der gesetzgeberische Wille, grundsätzlich keine Drittwirkung zuzulassen, erwiesen sein. Dieses Argument trägt nicht sehr weit. Abgesehen davon, daß das Grundgesetz in dieser Frage überhaupt keinen Argumentationswert hat und allenfalls schiefe Assoziationen provoziert, steht auch Art. 86 Abs. 2 EG unter den Normen des europäischen Wettbewerbsrechts, die von Anfang an eine Horizontalwirkung vorsehen, die aber durchaus auch den Mitgliedstaaten selbst Grenzen setzen, also ebenfalls multidirektional gelten. Größeres Gewicht hat schon das zweite Argument. Es basiert ebenfalls auf einer „inlandsrechtlichen Analogie“ zu den Grundrechten. Dort sind die Gesetzesvorbehalte in gleicher Weise an den einfachen Gesetzgeber adressiert wie die Rechtfertigungsgründe nach Art. 39 Abs. 3 EG an die Mitgliedstaaten. Es ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß sich auch Private im Zivilrechtskonflikt auf Gesichtspunkte wie Gesundheitsschutz, überindividuelle Interessen und sogar das
26
31 EuGH Urt. V. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921. 32 Detaillierte Analyse des Rechtsprechungsmaterials bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997), S. 33–69. 33 Auch hierzu zusammenfassend Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997), S. 189–226. 34 Canaris, in: Bauer/Czybulka/Kahl/Vosskuhle, Umwelt, Wirtschaft und Recht, S. 31–67. Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Verhältnismäßigkeitsprinzip berufen können. Schließlich trifft es auch nicht zu, daß privatautonomes Handeln nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen dürfe. Das ist zwar als Regelfall zutreffend, doch beweist die soziale Rechtfertigungsbedürftigkeit von Arbeitgeberkündigungen oder auch das Wohnraumkündigungsrecht, daß es hiervon Ausnahmen gibt. Zu achten ist freilich auf eine angemessene Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, die die Rechtfertigungsbedürftigkeit privatautonomer Entscheidung nicht zur praktischen Regel werden läßt.
27
Der stärkste Einwand gegen die Grundrechtsanalogie liegt indes in der unterschiedlichen Schutzfunktion von europäischen Grundfreiheiten und deutschen Grundrechten. Die Grundrechte sind historisch dem monarchischen oder dem Obrigkeitsstaat abgerungen und unter dem Vorzeichen des Sozialstaates um eine Teilhabefunktion ergänzt worden. Die Grundfreiheiten sind Marktfreiheiten, und Marktfreiheiten werden durch Teilnahme am Markt, im Wesentlichen durch Abschluß von Verträgen, ausgeübt. Union und Mitgliedstaaten kommt insofern primär eine Schutz- und Förderpflicht zu. Unleugbar hat diese historisch auch im Vordergrund gestanden, weil die Römischen Verträge erst einmal auf die Herstellung des gemeinsamen, später: des Binnenmarktes fixiert waren. Dieses Ziel ist inzwischen weitgehend erreicht, und die Grundfreiheiten haben heute eine gewichtige subjektivrechtliche Komponente. Der Marktbürger, der sich auf sie beruft, beruft sich letztlich auch auf seine Privatautonomie, und warum sollte er dazu nicht gerade im Privatrechtsverhältnis berechtigt sein?
III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion
28
1.
Richtlinien
a)
Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle
Wiederum kann es nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, allgemeine rechtsquellentheoretische Fragen des Sekundärrechts – z.B. Kompetenzfragen oder den Vorrang des Gemeinschaftsrechts oder die Vorwirkung von Richtlinien – anzusprechen. Wir können uns daher ohne weiteres der quantitativ und inhaltlich relevantesten Rechtsquelle von Sekundärprivatrecht, den Richtlinien zuwenden. Diese Erfolgsgeschichte im Privatrecht war den Richtlinien nicht an der Wiege gesungen. Sie ergingen zunächst nur in jenem engeren Bereich der Regulierung, den man früher Wirtschaftsverwaltungsrecht nannte. Gerade ihre spezifisch rechtsquellentheoretische Struktur machte sie aber auch höchst geeignet als Instrument privatrechtlicher Rechtssetzung. aa)
29
Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung
Ihrer ursprünglichen Konzeption nach waren Richtlinien überhaupt keine Rechtsquellen. Dafür fehlte es ihnen schon an einem konstitutiven Definitionsmerkmal aller Normen: der Allgemeinheit. Formal-konstruktiv gesehen waren sie nichts weiter als ein einmaliger Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten mit einem mehr oder weniger großen Ermessensvorbehalt, in staatsrechtlichen Begriffen: delegierte Normsetzung.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
Diese – herkömmlich aus Art. 249 Abs. 3, 10 EG begründete 35 – Delegation ist freilich kaum vergleichbar etwa mit der Verordnungsermächtigung unter dem Grundgesetz. Selbst wenn Richtlinien sich mit bloßen Mindestharmonisierungen, das heißt mit einer geringeren Regelungsdichte, begnügen, ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber weitgehend nur Ausführungsorgan, dem allenfalls im Randbereich noch Regelungsspielräume verbleiben. Insofern konnte man die Richtlinien schon lange, bevor man ihre sog. Direktwirkung entdeckt hat, als „mediatisierte“ Rechtssetzung bezeichnen.36 Doch kann auch diese für die Rechtsquellenlehre neuartige Qualifikation die Geltungs- und Anwendungsprobleme von Richtlinien nicht konsistent erklären. Zwei Beispiele: Mit dem Konzept der „mediatisierten“ Rechtssetzung ist ein Begriff dafür gefunden, daß Richtlinien über das Durchführungsgesetz allgemeine und rechtsgestaltende Wirkung äußern; nicht dagegen, daß Richtlinien auch den mitgliedstaatlichen Richter binden sollen. Adressat einer Rechtsquelle ist zwar nicht nur, wer aus einer Norm berechtigt oder verpflichtet wird (d.h. der mitgliedstaatliche Gesetzgeber), sondern auch der Rechtsanwender. Aber Rechtsanwender in Bezug auf Richtlinien ist unmittelbar nur der EuGH, der die korrekte Umsetzung prüft, nicht der nationale Richter, der das Ausführungsgesetz unabhängig und mit seinem nationalen Methodeninstrumentarium anwendet. Mehr noch: Mangels Allgemeinheit des Rechtsakts waren Richtlinien zunächst überhaupt nicht auf „Anwendung“ angelegt. Geändert hat sich dies nicht nur mit der „Entdeckung“ der – ausnahmsweise – unmittelbaren Wirkung von Richtlinien37, sondern auch mit dem Gebot an den nationalen Richter, richtlinienkonforme Rechtsfindung zu betreiben 38. Die offenkundige Verwischung der theoretischen Grenzen zwischen Rechts-(Richtlinien-)geltung und Rechtsanwendung wird hier durch den Kunstgriff verschleiert, daß der Umsetzungsauftrag nicht nur den Gesetzgeber, sondern „sekundär“ auch die anderen Staatsgewalten und damit namentlich die Judikative verpflichte.39
30
Auch gegenüber der sogenannten Direktwirkung von Richtlinien bei versäumter oder fehlerhafter Umsetzung gerät die traditionelle Rechtsquellenlehre in Erklärungsnotstand. Das „Umschlagen“ der konkret-individuellen Umsetzungsverpflichtung des Gesetzgebers in einen abstrakt-generellen Geltungsbefehl läßt sich dort rechtfertigen, wo infolge eines inhaltlich unbedingten und hinreichend bestimmten Richtlinientextes der mitgliedstaatliche Gesetzgeber keine eigenen Gestaltungsspielräume mehr hat. Gleichwohl wird, um im tradierten Paradigma zu bleiben, auch die Direktwirkung
31
35 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 36 Von Richtlinien als einer „Hintergrundrechtsordnung“ des Privatrechts spricht Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts (2004), S. 39. 37 Dazu sogleich unter Rn. 37 f. 38 Dazu in diesem Band grundlegend der Beitrag von W.-H. Roth, unten § 14; einige Bemerkungen auch noch unten Rn. 49 ff. 39 Zuletzt EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48. Zur Systematik der Umsetzungspflichten zusammenfassend Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
immer noch als „sekundäre Pflicht“ des Mitgliedstaates begriffen.40 Das klingt auch in der Rechtsprechung des EuGH an.41 Die direkte Berechtigung Privater erfolgt nicht um ihrer selbst willen und als „gesetzliches“ subjektives Recht, sondern nur als reflexhafte Begünstigung, die den effet utile der Richtlinie sozusagen im Wege der Naturalrestitution gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat herstellen soll. bb)
32
Daß Richtlinien bisher nur partikulare, fragmentarische oder gar nur punktuelle Rechtssetzung produziert haben, ist ein vielbeschriebenes Phänomen 42, hat jedoch keine prinzipiellen Gründe. Es ist eher einer gewissen Kurzatmigkeit des europäischen Rechtssetzungsprozesses geschuldet. In manchen Regelungsbereichen ist es geradezu zur Übung geworden, einer ersten fragmentarischen Regelung 10 Jahre später eine Richtlinie mit durchaus kodifikatorischem Anspruch nachzuschieben; so geschehen etwa im Investmentrecht 43 oder (hier allerdings noch nicht abgeschlossen) im Konsumentenkreditrecht.44 Freilich ist im fragmentarischen Charakter vieler Richtlinien die Ursache für die Probleme überschießender Umsetzung zu suchen. b)
33
Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts
Die Unvollkommenheit der Richtlinie als Rechtsquelle spiegelt sich auch im Privatrecht wieder. Sie hat zum Teil durchaus segensreiche Wirkungen geäußert, etwa vermöge der Methode der Mindestharmonisierung (nachfolgend aa)), aber auch Defizite hinterlassen, z.B. bei den Sanktionen (bb)) und der „asymmetrischen“ Direktwirkung nach versäumter oder fehlerhafter Umsetzung (cc)). Einiges aus diesem Problemfeld wird Thema des Beitrages zur Europäischen Gesetzgebungslehre sein, so daß ich mich hier kurz fassen kann. aa)
34
Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung
Mindestharmonisierung statt Vollharmonisierung
In der Frage Mindest- oder Vollharmonisierung verfolgt die europäische Gesetzgebung keine klare Linie. Lange Zeit wurde, vor allem im Verbraucherrecht, auf Mindestharmonisierung gesetzt. Hingegen strebt die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen wieder eine Vollharmonisierung an, ebenso wie der vorläufig zu Grabe getragene Vorschlag einer 2. Verbraucherkreditrichtlinie.45 Manche hochtechnischen Regulierungsprojekte wie etwa die Umsetzung der international verein-
40 Zuletzt wieder Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47. 41 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103 mwN. 42 Statt vieler Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts (2004), S. 40. 43 Die (erste) Investmentfondsrichtline 85/611/EWG stammt aus dem Jahr 1985, die wesentlich detaillierteren Änderungsrichtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG folgten erst am 13.2. 2002. Dazu Köndgen/Schmies, WM-Sonderbeilage 1/2004, 2, 3 f. 44 Vgl. Hoffmann, BKR 2004, 308 ff. 45 Zum derzeitigen Stand der Richtliniengebung vgl. Hoffmann, BKR 2004, 308 ff.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
heitlichten Eigenkapitalstandards für Kreditinstitute („Basel II“) kann man sich überhaupt nur als Vollharmonisierung von hoher Regelungsdichte vorstellen. In diesem Bereich werden die Instrumente Richtlinie und Verordnung nahezu auswechselbar. Im Privatrecht erweist sich der Verzicht auf eine zu hohe Regelungsdichte vorerst 46 eher als Vorteil. Er beläßt den Mitgliedstaaten die Chance, die Regelungsziele der Richtlinie in ihr nationales dogmatisches System und ihre eigene Fachbegrifflichkeit einzufügen. So konnte etwa der deutsche Transformationsgesetzgeber der Überweisungsrichtlinie seine eigene – freilich weitgehend mißratene – Dogmatik des Giround Überweisungsvertrages überstülpen (§§ 676a ff. BGB). Auf der anderen Seite wollen die Sanktionen nach der Überweisungsrichtlinie partout nicht in unser System der Vertragsverletzungen bzw. des Aufwendungsersatzes passen. Daß im übrigen auch Mindestharmonisierung nicht immer die – wenigstens als Postulat festzuhaltende – Einheit der Rechtsordnung garantieren kann, zeigt sich etwa daran, daß wir heute im BGB zwei begrifflich identische, aber sachlich denkbar verschiedene Widerrufsrechte (§ 147 BGB einerseits, § 357 BGB andererseits) vorfinden. bb)
Defizite bei den Sanktionen
Richtlinien sind auch darin unvollkommene Rechtssätze, daß sie selten Sanktionen vorsehen. Damit sie keine vollkommen zahnlosen Tiger bleiben, versucht man, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verhängung effektiver Sanktionen auf das Prinzip des effet utile zu stützen.47 Nur einige im engeren Sinne vertragsrechtliche Richtlinien wie die Überweisungs- und die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sehen genau umschriebene Sanktionen vor. Und es ist kein Zufall, daß es dann sogleich zu Friktionen mit dem nationalen Recht kommt. Um nochmals das Beispiel der Überweisungsrichtlinie zu zitieren: Dort sind Zahlungspflichten der säumigen Bank, die man bisher als Aufwendungsersatz begriffen hatte, zu Schadensersatzpflichten ohne Verschulden geworden (§§ 676b f. BGB) – im deutschen Schuldrecht nach wie vor eine Systemwidrigkeit (arg. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276 Abs. 1 BGB). Nicht zuletzt vom zivilen Sanktionsrecht her hat denn auch das Projekt einer Europäischen Zivilrechtskodifikation starken Auftrieb erhalten. cc)
35
36
Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme
Gerade bei der Direktwirkung von Richtlinien hat die Differenzierung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „unmittelbarer Anwendbarkeit“ von Gemeinschaftsrecht 48 Bedeutung. Die Geltung gegenüber dem Einzelnen ist auf Umsetzungsdefizite (versäumte oder fehlerhafte Transformation) beschränkt, aber wird dann durch den
46 D.h. vor der Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches, dazu noch unten Rn. 47. 47 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155, 210; Streinz, FS Everling (1995), S. 1502–1504; Zuleeg, JZ 1994, 1; Stationen der Rechtsprechung sind EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891ff.; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edis, Slg. 1998, I-4951; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u.a., Slg. 2000, I-3201. 48 Bereits oben, Text bei Fn. 11. Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
effet utile auch gefordert.49 Zur Wahrung des mitgliedstaatlichen Transformationsermessens muß die unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift ferner inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert sein.50 Für Richtlinien mit privatrechtlichem Inhalt scheidet eine Direktwirkung ferner aus, wenn die Richtlinie nur Pflichten des Einzelnen begründet (sog. Belastungsverbot) oder im Horizontalverhältnis zwischen zwei Individuen Anwendung finden soll.51 Diese Komplementarität von Rechten und Pflichten beider Parteien ist im Privatrechtsverhältnis bzw. bei privatrechtlichen Richtlinien geradezu typischerweise gegeben. So löst etwa ein von der Richtlinie eingeräumtes Widerrufsrecht des Konsumentenkreditnehmers beim Kreditgeber eine entsprechende Belehrungspflicht und eine Verpflichtung zur Mitwirkung an der Rückabwicklung des Vertrages aus.52 Eine Horizontalwirkung läßt sich dann – und begrenzt auf den Fall fehlerhafter Umsetzung – allenfalls noch durch eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts erreichen.53
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Freilich sind in der neuesten Rechtsprechung hinsichtlich des Ausschlusses horizontaler Direktwirkung Aufweichungstendenzen zu erkennen.54 Namentlich das EuGHUrteil in der Rechtssache Wells 55 wird in der Literatur z.T. als Tendenzwende gedeutet.56 Dort hatte sich im Ausgangsverfahren ein Grundstückseigentümer gegen die Umweltbehörde gewandt, die richtlinienwidrig 57 ohne vorige Umweltverträglichkeitsprüfung den Betrieb eines Steinbruchs auf einem Nachbargrundstück genehmigt hatte. Der EuGH stellte zur Frage der Drittwirkung klar: „Bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter, selbst wenn sie gewiss sind, [rechtfertigen] es nicht, dem Einzelnen das Recht auf [die] Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat zu versagen“ 58. Augenscheinlich ging es in diesem Fall eines öffentlichrechtlichen Dreiecksverhältnisses sowohl um vertikale Direktwirkung gegenüber der Behörde wie auch um horizontale Direktwirkung unter den Grundstücksnachbarn. Diese Konstellation gilt weithin als unproblematisch.59 Sie läßt sich aber unschwer ins Privatrecht übertragen, wenn der Kläger etwa nicht
49 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rn. 12. 50 Ständige Rechtsprechung; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. Aus der neuesten Literatur statt vieler Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 286 ff. 51 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325. Aus der Literatur statt vieler Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 825. 52 Zu diesem Beispiel ausführlich Stamm, ZBB 2005, 35, 38; neuestens EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 sowie EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273, m. Anm. Ehricke, ZBB 2005, 443. 53 Dazu noch unten, IV, Rn. 49 ff. 54 Überblick über die jüngste Rechtsprechung bei Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 284 f. 55 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 = DVBl. 2004, 370 m. Anm. Kerkmann, 1288 ff. 56 Baldus, GPR 2003/2004, 124 ff. 57 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985 Nr. L 175/40. 58 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 57. 59 Vgl. etwa Stuyck, CMLR 1996, 1261; Craig/de Burca, EU Law (3. Aufl. 2003), S. 222.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
die Behörde, sondern den Steinbruchbetreiber mit einer auf richtlinienwidriges privates Umweltrecht gestützten actio negatoria belangen würde. Ob auch gegenüber solch „regulativem“ Privatrecht das Belastungsverbot Bestand haben kann und ob bloße nachteilige „Auswirkungen“ wirklich anders zu behandeln sind als „Verpflichtungen“,60 muß derzeit noch als offen gelten. c)
Die Bedeutung der Erwägungsgründe
In der Richtliniengebung sind die gesetzgeberischen Erwägungsgründe integraler Bestandteil des Gesetzgebungsdokuments und werden gemeinsam mit diesem amtlich publiziert. Wiederum ein Phänomen, welches uns aus der deutschen61 Rechtsquellenund Methodenlehre nicht bekannt ist. Und wiederum sollten wir uns hüten, uns diesem Phänomen unbefangen mit den vertrauten inlandsrechtlichen Kategorien zu nähern.
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Unbezweifelbar scheint allerdings, daß das Problem eher in der Methoden- (genauer: der Rechtsanwendungs-)lehre als in der Rechtsquellenlehre zu verorten ist; denn nicht um die Bedingungen der Normentstehung und Normwirkung geht es, sondern um Normanwendung. Um ihrerseits eine selbständige Rechtsquelle darzustellen, fehlt es den Erwägungsgründen bereits an der notwendigen Bestimmtheit und an dem normtypischen Konnex von Tatbestand und Rechtsfolge. Es ist daher wohl unstreitig, daß aus den Erwägungsgründen selbst dann keine Rechte des Bürgers hergeleitet werden können, wenn der verfügende Teil ausnahmsweise Direktwirkung äußert.62 Andererseits sind die Erwägungsgründe augenscheinlich mehr als einfache Gesetzesmaterialien, die traditionell vor allem die historische und die sog. subjektiv-teleologische Interpretationsmethode anleiten. Gesetzesmaterialien – dies zeigt bereits ihre separate Veröffentlichung außerhalb des Gesetzblatts – stehen im Rang immer unter dem verabschiedeten Normtext. Sie sind nicht Auslegungsgegenstand, sondern nur Auslegungshilfe. Außerdem gehen sie zeitlich der Verabschiedung des Normtextes voraus, und deshalb kann sich kein Interpret ganz sicher sein, daß die in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Zielprojektionen der Gesetzesverfasser auch tatsächlich Eingang in das Gesetzeswerk gefunden haben.
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Hingegen haben die Erwägungsgründe Teil an der Autorität und Dignität des publizierten Normtextes. Sucht man tatsächlich einmal nach nationalrechtlichen Vorbildern, dann käme man wohl am nächsten in Gestalt der in der Schweizer Gesetzgebungslehre und -praxis sogenannten Zweckartikel. Diese werden üblicherweise einem Gesetzeswerk als Artikel 1 vorangestellt und fixieren in bewußt pauschalen Formulierungen die – mit Ernst Steindorff 63 zu sprechen – „Politik des Gesetzes“ 64.
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60 Zweifelnd insoweit Baldus, GPR 2003/2004, 124, 125. 61 Anders etwa im spanischen Recht, wo die Gesetzesbegründung Teil der amtlichen Veröffentlichung ist. 62 GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Tz. 77. 63 Steindorff, FS Larenz I (1973), S. 217. 64 Vgl. als Beispiel nur Art. 1 des schweizerischen Börsen- und Effektenhandelsgesetzes (BEHG): „Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb von Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Auch der deutsche Wirtschaftsgesetzgeber bedient sich zunehmend dieser Technik.65 Von diesen Zweckartikeln unterscheiden sich die Erwägungsgründe primär durch einen höheren Detaillierungsgrad – der zum Teil so weit geht, daß im normativen Teil der Wortlaut des entsprechenden Erwägungsgrundes praktisch dupliziert wird.
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Welche Wirkungen kommen also den Erwägungsgründen im Rechtsanwendungsprozeß zu? Die Antwort, daß sie eines unter mehreren Auslegungselementen sind, ist ebenso richtig wie banal, denn diese Wirkung teilen sie mit normalen Gesetzesmaterialien. Was sie von letzteren unterscheidet, ist zunächst ihre prominentere Stellung im Mix der Auslegungselemente, also bei der Methodenwahl. Während die historische Interpretation anhand der Materialien nur eines der klassischen Auslegungselemente ist, welches überdies mit zunehmendem Alter eines Gesetzes immer mehr an Gewicht verliert, ist ein Erwägungsgrund das primäre policy statement des Richtliniengebers und als solches die Richtschnur für jede teleologische Interpretation.66 Das gilt für die teleologische Extension genauso wie für die teleologische Restriktion und Reduktion. Aber während das teleologische Argument ansonsten in dem Sinne „frei“ ist, als es einen Focus für allgemeine Vernünftigkeits-, Effizienz- oder auch schlichte Praktikabilitätserwägungen bildet 67, ist die „erwägungsgrundkonforme“ Auslegung des Richtlinientextes striktes Gebot für den Anwender.68 „Anwender“ in diesem Sinne ist offenkundig nicht nur der umsetzende Mitgliedstaat und der über die pflichtgemäße Umsetzung wachende EuGH, sondern auch der nationale Richter, der sein eigenes Recht richtlinienkonform auslegt 69.
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Als offen gelten muß die sich geradezu aufdrängende Frage, ob Erwägungsgründe auch die Basis für Analogieschlüsse bilden können. Das wird nach derzeitigem Stand der EuGH-Rechtsprechung noch klar zu verneinen sein. Der EuGH mag die Analogie (die bei uns als das Virtuosenstück der Rechtsanwendung gilt) jedenfalls im Richtlinienrecht 70 bekanntlich nicht.71 Das hat er etwa in der Frage erkennen lassen, ob die Schutzzwecke der Verbraucherkreditrichtlinie auch für denjenigen einschlägig sind, der sich für einen Verbraucherkredit verbürgt.72 Ein Grund für diese Enthalt-
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Börsen sowie den gewerbsmäßigen Handel mit Effekten, um für den Anleger Transparenz und Gleichbehandlung sicherzustellen. Es schafft den Rahmen, um die Funktionsfähigkeit der Effektenmärkte zu gewährleisten.“ Etwa in § 1 des Investmentgesetzes von 2003. Exemplarisch die Schlußanträge von GA Jacobs v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Tz. 39 ff. Anschaulich Gast, Juristische Rhetorik (3. Aufl. 1997), S. 170 ff. Vgl. als jüngste Illustration (wenn auch im Ansatz problematisch) EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-183/00 Gonzalez Sánchez, Slg. 2002, I-3901 Rn. 3, 24, 25 (Erwägungsgrund 1 zur Produkthaftungsrichtlinie). Dazu noch später unten Rn. 49 ff. Zur Analogie im – eher kodifikatorischen – Verordnungsbereich vgl. EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Tz. 12–30. Dieser Befund auch schon bei Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts (2004), S. 185. EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741. Der Gerichtshof spricht hier nicht einmal die Möglichkeit einer Analogie an. Immerhin der Sache nach werden im
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
samkeit liegt auf der Hand. Angesichts des immer noch fragmentarischen Charakters des Richtlinienrechts erweist sich schon das Auffinden einer „planwidrigen“ Lücke als problematisch. Des weiteren respektiert der EuGH die Prärogative des Richtliniengebers und verlegt sich in Zweifelsfällen lieber auf eine extensive teleologische Auslegung. So hat das Gericht in der Rechtssache Dietzinger die vom Richtlinienwortlaut nicht mehr gedeckte Erstreckung des Haustürwiderrufsrechts auf Bürgschaften von Verbrauchern nicht mit einem Analogieschluß, sondern mit einer fragwürdigen Wortlaut- und teleologischen Interpretation gerechtfertigt.73 2.
Verordnungen
Die Handlungsform der unmittelbar geltenden und unmittelbar anwendbaren Verordnung nach Art. 249 Abs. 2 EG hat der Europäische Privatrechtsgesetzgeber bisher relativ selten gewählt. Für die Methode der Privatrechtsgesetzgebung galt bisher: nicht Rechtsvereinheitlichung (durch Verordnung), sondern lediglich Rechtsangleichung (durch ausfüllungsbedürftige Richtlinien) ist das Generalziel. Alle Anwendungsfälle privatrechtlicher Verordnungen sind überdies nicht ganz unproblematisch. a)
Die Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer
Mit der Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro von 200174 erstrebte die Kommission eine Angleichung des Gebührenniveaus im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr an das sehr viel niedrigere Niveau im Inlandsverkehr. Da jahrelange politische Appelle an die Kreditwirtschaft, kostengünstigere internationale Zahlungsverkehrsleistungen anzubieten, nichts gefruchtet hatten, griff man zur Verordnung und dekretierte identische Gebühren für Inlands- und Auslandszahlungsverkehr in Euro 75. Man darf diese Verordnung insofern als einen Sündenfall ansehen, als sie zwar durch das Binnenmarktziel gedeckt ist, aber als Preisregulierung in den sensiblen Kernbereich der Privatautonomie eingreift. Da die Institute auch nach der Verordnung frei sind, das inländische Preisniveau anzuheben, besteht allerdings keine absolute Preisfixierung nach dem Muster staatlicher Gebührenordnungen. b)
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Die Verordnung über die Societas Europea
Die rechtliche Ausgestaltung der Societas Europea ist von Anfang an als Verordnung76 geplant gewesen, da das politische Ziel die Bereitstellung einer einheitlichen
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Rahmen der teleologischen Auslegung Analogiemöglichkeiten geprüft in den Schlußanträgen von GA Léger v. 28.10.1999 – Rs. C-208/99 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741 Tz. 52ff. Im Ergebnis drängte sich freilich eine analoge Anwendung der Verbraucherkreditrichtlinie nicht auf. EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 17 ff. Verordnung (EG) Nr. 2560/2001/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12. 2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 Nr. L 344/13. Art. 3 VO 2560/2001/EG. Verordnung (EG) Nr. 2157/2001/EG des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 Nr. L 294/1.
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gemeinschaftsweiten Organisationsform war. Als Konsequenz politischer Kompromisse in der langen Entstehungsgeschichte der Verordnung gerieten jedoch zahlreiche Wahlrechte in das Regelwerk und führten letztlich zur Aufgabe des Ziels einer strikt einheitlichen Organisationsstruktur. Nicht anders als bei einer richtlinienförmigen Regelung wurden deshalb mitgliedstaatliche Ausführungsgesetze notwendig, um die von der Verordnung eröffneten Wahlrechte zu implementieren. Die unmittelbare Anwendung der Verordnung ist dadurch erheblich eingeschränkt.77 Die Arbeitnehmermitbestimmung wurde sogar gänzlich in eine Richtlinie ausgelagert78. c)
47
Ein Europäisches Vertragsgesetzbuch als Verordnung? 79
Die bislang praktizierte Art der Privatrechtsvereinheitlichung durch punktuell regelnde und ausfüllungsbedürftige Richtlinien gilt heute nicht mehr als der Weisheit letzter Schluß.80 Das Projekt eines Europäischen Vertragsgesetzbuches nimmt, nach drei Mitteilungen der Kommission 81, Gestalt an. Geplant ist derzeit ein Common Frame of Reference mit „offener Textur“, also eine Kodifikation auf der Ebene allgemeiner Prinzipien des allgemeinen Vertragsrechts und der praktisch wichtigsten Vertragstypen.82 Auch hier stellt sich die Frage des geeignetsten Regelungsinstruments. Die Verwirklichung in einer Richtlinie würde offenkundig den erwünschten Vereinheitlichungseffekt nicht herstellen können. Ein „Restatement of Contracts“ nach USamerikanischem Vorbild paßt eher in eine Fallrechtsordnung denn als Instrument der Angleichung nationaler Kodifikationen.83 Die Präferenzen liegen derzeit bei einer Verordnung oder auch einer bloßen Empfehlung (model code) – wobei die allgemeinverbindliche Verordnung einer Empfehlung nach einer entsprechenden Experimentierphase auch nachfolgen könnte.84 Untypisch wäre eine Verordnung allemal: Sie soll
77 Zu den hieraus resultierenden Detailfragen vgl. etwa J. Wagner, NZG 2002, 985, 985 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 51 ff. 78 Richtlinie 2001/86/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 Nr. L 294/22. 79 Die Thematik wird hier nur vollständigkeitshalber gestreift; vgl. im übrigen Schmidt-Kessel, unten, § 17. 80 Vgl. etwa Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 77, 78, 82 ff. 81 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., ABl. 2001 Nr. C 255/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“, ABl. 2003 Nr. C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, „Europäisches Vertragsrecht und die Revision des aquis: der Weg nach vorne“, KOM(2004) 651 endg. (Oktober 2004). 82 Den derzeitigen Stand zusammenfassend Editorial, CMLR 2005, 1, 1ff. 83 Auf diesen fundamentalen Unterschied weist zu Recht Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 85 f., hin. 84 Vgl. Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., ABl. 2001 Nr. C 255/1 Rn. 62 ff.; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat, „Europäisches Vertragsrecht und die Revision des aquis: der Weg nach vorne“, KOM(2004) 651 endg. (Oktober 2004) Rn. 92.
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§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
keinen hohen Detaillierungsgrad aufweisen und lediglich Prinzipien regeln; und sie soll auf absehbare Zeit ein „optionales“ Instrument bleiben, das die Parteien positiv wählen (opt-in-Lösung) oder dessen Anwendung sie ausschließen müssen (opt-outLösung). Als Methode optimaler Vereinheitlichung kann dies nur funktionieren, wenn für die die Prinzipien konkretisierende Judikatur eine grenzüberschreitende Präjudizienbindung vorgesehen wird. 3.
Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts?
Der Rückgriff auf mitgliedstaatenübergreifende Rechtsgrundsätze hat bisher seinen Hauptort im EU-Verfassungsrecht, insbesondere (vor Nizza) im Bereich der Grundund Menschenrechte sowie der Staatszielbestimmungen, und zwar unter Rekurs auf die „gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten“.85 Im Privatrecht wird die Suche nach „gemeinsamen Lösungen“ in Gestalt gemeineuropäischer Rechtsprinzipien vor allem von jenen propagiert, die das Projekt eines „European Civil Code“ derzeit für illusorisch halten.86 Ausdrücklich autorisiert ist die Geltung solcher Prinzipien in Art. 288 Abs. 2 EG für den Bereich der außervertraglichen Staatshaftung, konkretisiert durch die Francovich-Rechtsprechung.87 Einer auf der Verletzung von Gemeinschaftsrecht (z.B. Kartellrechtsverstößen) beruhenden „gemeineuropäischen“ Deliktshaftung unter Privaten ist der EuGH hingegen nicht näher getreten.88 Im übrigen hat er sich nur auf sehr hoch generalisierte Prinzipien wie das Vertrauensprinzip (principle of legitimate expectation), Treu und Glauben (good faith) oder venire contra factum proprium (estoppel) gestützt.89 Zum Inhalt des deliktischen Schadensersatzes ist auf das schadensrechtliche Bereicherungsverbot und auf das Mitverschuldensprinzip rekurriert worden.90
IV.
48
„Indirekte“ Wirkungen von Gemeinschaftsrecht: primärund sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts
Von den Grundlagen der primärrechtskonformen und der richtlinienkonformen Auslegung ist an anderer Stelle in diesem Band zu reden.91 Hier interessiert nur der eigenartige theoretische Status dieses Methodeninstruments im Grenzgebiet zwischen Rechtsgeltung (Rechtsquellenlehre) und Rechtsanwendung (Methodenlehre).
85 Resümierend Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 825 f. 86 Vgl. etwa van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 101f. 87 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich, Slg. 1991, I-5357. 88 Zu den Gründen van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 109 f. In der Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, hat der EuGH lediglich gefordert, daß es überhaupt ein privatrechtliches remedy geben müsse. 89 Rechtsprechungsübersicht bei Usher, ERPL 1993, 109, 113 f. 90 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rz. 30, 31 ff. 91 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, unten, § 14; zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, unten, § 9. Johannes Köndgen
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Im neueren Schrifttum gewinnt eine differenzierende Perspektive Zulauf. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung gilt als Konsequenz des Primats des Gemeinschaftsrechts. Damit wird sie als Geltungsproblem, oder genauer: als Kollisionsregel zugunsten eines Vorrangs höherrangigen Rechts begriffen, der sich bei Unmöglichkeit primärrechtskonformer Auslegung sogar in der Nichtanwendung gemeinschaftswidrigen nationalen Rechts äußert.92 Man mag hier von Geltungsvorrang oder von „derogatorischem“ Vorrang sprechen.93 Hingegen soll es bei der richtlinienkonformen Auslegung lediglich um einen „interpretatorischen“ Vorrang 94 gehen, weil dem Richtlinienrecht im Gegensatz zum Primärrecht nur ganz ausnahmsweise unmittelbare Wirkung zukommt 95 und die richtlinienkonforme Auslegung Anwendung und Interpretation des nationalen Rechts bleibt.
51
Gegen diese Differenzierung ist, soweit sie als rein analytische verstanden wird, nichts einzuwenden. Thematisiert man die Vorrangfrage hingegen von den jeweiligen Rechtswirkungen der die konforme Anwendung determinierenden Normen, dann ist die Unterscheidung, und dies wohl im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung des EuGH 96, erheblich zu relativieren. Ähnlich wie im nationalen Recht der verfassungskonformen Auslegung kommt auch der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (in beiden Varianten) ein besonderer Rang unter den übrigen Auslegungsinstrumenten zu. Während die Methodenwahl unter den übrigen Instrumenten relativ frei ist und allenfalls schwache Vorrangregeln anerkannt werden 97, ist der mitgliedstaatliche Richter zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung verpflichtet, wann immer die Auslegung der nationalen Norm nach dem nationalen Methodenprogramm zu einer Divergenz vom Gemeinschaftsrecht führen würde. Wichtiger noch als diese methodische Vorrangregel ist aber ein Zweites. Die einzelnen Instrumente des nationalen Methodenkanons – und damit auch die Wahl unter ihnen – sind relativ ergebnisoffen. Hingegen ist mit der Entscheidung für gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung das Ergebnis der Rechtsfindung bereits weitgehend präjudiziert, da die Auslegung einem Optimierungsgebot hinsichtlich des Zwecks der Richtlinie unterworfen ist 98. Gewiß steht auch hier zwischen Methodenwahl und Ergebnis der Rechtsfindung noch einmal ein „mediatisierender“ Interpretationsvorgang. Das ändert aber nichts daran, daß das Gemeinschaftsrecht dabei Teil des materiellen Entscheidungsprogramms ist und daß das Gemeinschaftsrecht auch hier eine partielle Nichtanwendung des
92 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29. 93 Letztere Vokabel bei Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 64 ff. Zu den Verfechtern dieser Differenzierung zählen der Sache nach auch Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 774 f.; Riesenhuber/ Domröse, RIW 2005, 47, 49; W.-H. Roth, unten, § 14. 94 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 47, 64 ff.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 95 Bereits oben Rn. 37 f. 96 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 97 Vgl. etwa Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 377 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 450 ff., 487 ff. 98 So ausdrücklich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113.
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nationalen Rechts – Nichtanwendung des nach nationalem Methodenprogramm maßgeblichen Inhalts – zur Folge hat. Dieser Anwendungsvorrang geht bei manchen Autoren so weit, daß sie unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine gemeinschaftsrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem postulieren.99
V.
Europäisches Soft Law
1.
Mitteilungen und Aktionspläne
a)
„Interpretative“ Mitteilungen der Kommission
Richtlinieninterpretierende Mitteilungen der Kommission – zum Teil auch „Leitlinien“ genannt – finden sich vor allem im öffentlichen Recht, wo sie mit den Verwaltungsvorschriften des deutschen Rechts verglichen werden.100 Wie diese haben sie allgemeine Geltung und werden von den Adressaten faktisch auch befolgt.101 Im Privatrecht haben sie bisher keine Bedeutung. Sie wären auch gerade dort problematisch, weil sie die Ausfüllungsspielräume der Mitgliedstaaten beschneiden würden. Die Kommission ist selbst weder Gesetzgeber, der sein eigenes Werk „authentisch“ interpretieren könnte102, noch Regulierungsbehörde, die mit der Konkretisierung einer Rechtsquelle betraut ist. Wo Richtlinien nur den Charakter von Rahmenregelungen haben, wird zu ihrer Konkretisierung denn auch zunehmend der Weg über sog. Ausführungsrichtlinien (als delegierte Rechtssetzung) beschritten.103 b)
52
Empfehlungen und Aktionspläne
Empfehlungen kommt nach Art. 249 Abs. 5 EG keine Verbindlichkeit zu. Trotzdem ist es gerechtfertigt, sie als eine Quelle von soft law zu begreifen, weil der EuGH von den Mitgliedstaaten und ihren Organen verlangt, Empfehlungen zwar nicht zu „befolgen“, aber sie doch zu „berücksichtigen“, d.h. sich damit auseinanderzusetzen und die Nichtbefolgung ggf. zu begründen.104 Im Europäischen Privatrecht wird gegenwärtig darüber nachgedacht, das geplante Europäische Vertragsgesetzbuch durch Empfehlung eines model code in Kraft zu setzen.105
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Aktionspläne – aus dem Privatrecht zu nennen der ambitionierte Financial Services Action Plan von 2002 sowie der Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht106 –
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99 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 f., 53; für die Gegenposition mwN Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 291. 100 Vgl. nur Bast, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2003), S. 497. 101 Vgl. nur BGH, NJW-RR 2004, 689 – „Leitlinien“ zur Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikalverträge Nr. 2790/99 v. 22.12.1999. 102 Auf diesen Fall beschränkt mit Recht Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 56 die Verbindlichkeit auslegender Erklärungen als authentische Interpretation. 103 S. nachfolgend Rn. 55 f. 104 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. 322/88 Grimaldi, Slg. 1989, 4407 Rn. 18. 105 Bereits oben Rn. 47. 106 Oben Fn. 81.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
sind nicht einmal eine „weiche“ Rechtsquelle. Sie begründen allenfalls eine lose Selbstbindung der Kommission, eine bestimmte Arbeitsagenda abarbeiten zu wollen. 2.
„Expertenrecht“
a)
Delegation auf Fachleute: Ausführungsrichtlinien unter dem sog. Lamfalussy-Prozeß
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Der Lamfalussy-Prozeß ist eine für bank- und kapitalmarktrechtliche Richtliniengesetzgebung eingeführte Erweiterung und Verfeinerung des sog. Komitologieverfahrens107. Rechtsquellentheoretisch handelt es sich um eine mehrstufige Rechtssetzungsdelegation, bei der der Richtliniengeber nur noch Grundprinzipien fixiert, die Ausformung der (in der Regel überaus technischen) Details der Kommission (de facto: der zuständigen Generaldirektion) überträgt, die sich ihrerseits wieder auf den Rat und die Empfehlungen eines Expertengremiums, des Committee of European Securities Regulators (CESR), stützt.108 Das mag man als Expertenrecht nach dem topdown-Schema bezeichnen. Nach dem down-top-Schema wird hingegen bei dem sog. Basler Eigenkapital-Akkord verfahren. Hier haben zunächst die Experten des bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ, BIS) angesiedelten bankaufsichtsrechtlichen Ausschusses das Sagen, dessen Ergebnisse dann weitgehend unverändert in eine europäische Richtlinie umgesetzt werden.109
56
Es ist kein Zufall, daß diese Formen von Expertenrecht sich bisher nur im Bank- und Kapitalmarktaufsichtsrecht etablieren konnten. Und es gehört keine Sehergabe zu der Prognose, daß sie im Europäischen Privatrecht keine Rolle spielen werden. Ihre Vorzüge erweisen sie, wo es hochtechnische und hochkomplexe Sachverhalte wie Eigenkapitalvorschriften oder Börsenkursmanipulation zu regeln und diese Regeln an sich rasch ändernde Rahmenbedingungen anzupassen gilt.110 Beides trifft auf das Privatrecht schwerlich zu. Auf das „klassische“ Privatrecht ohnedies nicht, denn dieses strebt traditionell und aus guten Gründen ein hohes Generalisierungsniveau seiner Regeln an. Aber auch nicht auf das regulative Privatrecht, weil auch hier noch „in dubio pro libertate“ gilt und der Gesetzgeber zumeist erst bei Versagen privater Selbstregulierung nachsteuert. Die typische Erscheinungsform des Expertenrechts im Privatrecht sind darum die sog. Kodizes. b)
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„Koregulierung“: Codes of Best Practice
Ihre Herkunft haben die Kodizes, auch Codes of Best Practice genannt, in den angelsächsischen Ländern, und dort wieder primär im britischen Bank- und Finanzmarktrecht. Und alles, was vom Finanzplatz London kommt und einen englischen Namen
107 Zu letzterem statt vieler Streinz-Gellermann, vor Art. 250 EGV Rn. 19ff. Speziell zur Normsetzung im Kapitalmarktrecht Schmolke, NZG 2005, 912 ff. 108 Zu den hier nicht weiter interessierenden Einzelheiten Zimmer, BKR 2004, 421. 109 Einzelheiten bei Köndgen, in: Basedow u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 43f. 110 Eingehender hierzu Köndgen, AcP 206 (2006), 477 ff.; 481 ff.
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Johannes Köndgen
§ 7 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
trägt, wird im Standortwettbewerb bereitwillig aufgenommen. In Deutschland hat bekanntlich der Corporate Governance-Kodex für börsennotierte Aktiengesellschaften eine erstaunliche Karriere gemacht. Im Gemeinschaftsrecht finden wir bisher erst einen Anwendungsfall: den „Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite“ (2001) 111. Die Entwicklung dieses Kodex ist von der Kommission angeregt, begleitet und in Form einer Empfehlung „begrüßt“ worden. Seine Verbindlichkeit beruht einzig auf einer Selbstverpflichtung der europäischen Dachverbände des Hypothekarkreditgewerbes, die diese Selbstverpflichtung „nach unten“ an ihre Mitgliedsverbände bzw. -institute weitergeben. Die Notifizierung der Selbstverpflichtung erfolgt unmittelbar bei der Kommission. Der faktische Umsetzungsgrad ist mit 90 % recht hoch, allerdings gibt es in einigen wenigen Mitgliedstaaten Ausreißer, insbesondere in Frankreich und Spanien. Die Kommission selbst sieht den Kodex als ein wichtiges Pilotprojekt an.
58
Unstreitig ist zunächst: Kodizes passen nicht in den Katalog der Handlungsformen in Art. 211, 249 EG. Die Kompetenz der Kommission, nach Art. 211 EG Empfehlungen auszusprechen, deckt nicht den Fall richtlinienvertretender privater Normsetzung. Kodizes sind auch nicht mit anderen Formen von soft law, wie dem Komitologieverfahren, vergleichbar. Sie sind andererseits nicht schlichte Selbstregulierung, da sie im Einvernehmen zwischen Kommission und Fachverbänden entwickelt, angewendet und evaluiert werden. Die Kommission selbst bezeichnet sie als „Koregulierung“ und scheint diesen Modus der Rechtssetzung für zukunftsfähig zu halten.112 Da der Hypothekarkreditkodex ohne Zweifel richtlinienvertretend ist, die Mitwirkung der Gemeinschaft aber nur über die Kommission erfolgt, stellt sich offenkundig das Problem der parlamentarischen Verantwortlichkeit.113 Letzteres könnte wohl durch eine entsprechende Information des Parlaments entschärft werden.114 Wegen des richtlinienvertretenden Charakters ist aber darüber hinaus nach der Sicherstellung des effet utile, also nach hinreichender Sanktionierung, zu fragen. Der Kodex selbst überträgt die Compliance-Kontrolle den nationalen Beschwerde- und Ombudsmannstellen. Die Kommission überwacht seine Anwendung, freilich nicht durch Prüfung einzelner Kreditinstitute, sondern nur als allgemeine Effektivitätskontrolle. Dies fällt hinter die Sanktionen zurück, die z.T. im britischen System vorgesehen sind.115 Die ultimative Sanktionsdrohung bleibt demnach, den Richtlinienknüppel aus dem Sack zu holen und eine ineffektive Koregulierung durch ius strictum zu ersetzen.
59
111 Dazu ausführlicher Schmies, ZBB 2003, 277, 287 ff. 112 Vgl. Europäische Kommission, Weißbuch: Europäisches Regieren, KOM(2001) 428 endg., S. 6, 27f. 113 Schmies, ZBB 2003, 277, 280. 114 Auch hierzu die Vorschläge von Schmies, ZBB 2003, 277, 290. 115 Schmies, ZBB 2003, 277, 288.
Johannes Köndgen
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2. Teil: Allgemeiner Teil
VI. Résumé und Ausblick 60
Die nationale, traditionelle Rechtsquellenlehre hat infolge ihrer im wesentlichen formalen Regeln zur europäischen Rechtsquellenlehre bisher wenig beizusteuern. Auch in der Rechtsquellenlehre hat sich nämlich das supranationale Recht noch nicht hinreichend von den traditionellen Leitsternen des Völkerrechts und des nationalen Rechts emanzipieren können. Im Besonderen die Streitfragen um die europäischen Privatrechtsquellen lassen sich mit dem theoretischen und methodischen Instrumentarium der Rechtsquellenlehre nicht befriedigend lösen. Not tut daher eine autonome europäische Rechtsquellenlehre.
61
Auch wenn die zentrale Frage nach dem Geltungsradius des Europäischen Primärund Sekundärrechts sich zunächst als typisch rechtsquellentheoretische Problematik, nämlich als solche des Stufenbaus der Rechtsordnung, präsentieren mag: die Würfel fallen ganz woanders und gehorchen sehr viel elementareren und wertungsgeladenen Prinzipien. Letztlich geht es um die altbekannten Grundsatzprobleme und Antinomien des Privatrechts, nämlich um Markteffizienz und Marktversagen, um Privatautonomie und staatliche Regulierung, um unternehmerische Freiheit und Verbraucherschutz, um Selbstverantwortlichkeit und Paternalismus.
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Johannes Köndgen
Abschnitt 2 Primärrecht § 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Matthias Pechstein/Carola Drechsler
Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rn. 1–2
II. Rechtliche Unterscheidung zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht . . . . . 1. Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsnatur des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3–9 4–6 7–9
I. Einleitung
III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Europarecht . . . . . . . . . . . . . .
10–13
IV. Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen . 2. Einzelne Auslegungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rechtsvergleichende Methode . . . . . . . . . . . . . 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . .
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14–40 15–16 17–38 18–22 23–27 28–31 32–33 34–38 39–40
V. Auslegungsmethoden im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK . . . . . . . . a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK . . . . . . . a) Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsvergleichende Auslegung . . . . . . . . . . . . 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander . . . . .
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41–54 42–44 45–49 46 47 48–49 50–53 51 52–53 54
VI. Rechtsfortbildung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55–60
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61–63
VIII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64–66
VII. Ausblick
Literatur: Bernhardt, Wilfried, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozessrecht im EWG-Vertrag, Berlin 1987; Bleckmann, Albert, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bleckmann, Albert (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1986, Köln/Berlin/Bonn/München, S. 105–112; Bleckmann, Albert, Zu den Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, S. 1177–1182; Buck, Carsten, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt a.M. 1998; Dederichs, Mariele, Die Methodik des EuGH. Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, BadenBaden 2004; Everling, Ulrich, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, S. 217–227; Pescatore, Pierre, Recht in einem mehrsprachigen Raum, ZEuP 1998, S. 1–12; Peters, Anne, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, Berlin 2001; Schroeder, Werner, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, S. 180–186; Schübel-Pfister, Isabel, Sprache und Gemeinschaftsrecht. Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof, Berlin 2004. Rechtsprechung: EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053.
I.
Einleitung
1
Auslegung als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“ 1 erfolgt mit unterschiedlichen Methoden, welche auch nebeneinander angewandt werden können. Für das Recht der Europäischen Union und dasjenige der Europäischen Gemeinschaft bieten sich zur Auslegung der Vertragsnormen drei verschiedene Methodengrundsätze an. Während einmal von den für das Völkerrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen ausgegangen werden könnte, könnte auch auf die nationalen Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden, aber auch auf spezielle europarechtliche Grundsätze. Grundsätzlich werden auch bei der Interpretation der Rechtsnormen im Europarecht die bekannten Auslegungsmethoden angewandt. In erster Linie finden die teleologische 2, die systematische 3 und die grammatikalische 4 Methode Anwendung. Anders als im nationalen Recht hat die historische Methode für die Auslegung des europäischen Primärrechts nur sehr eingeschränkte Bedeutung. Dies geht auf die Besonderheiten der Rechtsnatur des Gemeinschafts- und Unionsrechts zurück, auf welche im folgenden einzugehen sein wird.
2
Zunächst werden die Besonderheiten des Europarechts, mit der Unterteilung in einen intergouvernementalen und einen supranationalen Bereich, dargestellt. Sodann werden für beide Bereiche die angewandten Auslegungsmethoden im Primärrecht dargestellt. Neben den bekannten Auslegungsmethoden und ihren Besonderheiten soll die Rechtsfortbildung im Primärrecht dargestellt werden. Die Rechtsfortbildung selbst 1 So Savigny, zitiert nach: Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 42. 2 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 3 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 (AETR); EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 15 (Defrenne III). 4 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11 f.; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 14, 15.
160
Matthias Pechstein/Carola Drechsler
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
wird zwar teilweise als Auslegungsmethode angesehen, sie geht aber über eine Auslegung des geltenden Rechts hinaus, indem dieses „fortgebildet“ wird. Insoweit handelt es sich nicht um eine Auslegungsmethode. Da der Rechtsfortbildung im Europarecht jedoch eine besondere Bedeutung zukommt, wird sie in einem selbständigen Teil behandelt. Zum Abschluß folgt ein Ausblick auf den „Verfassungsvertrag“.
II.
Rechtliche Unterscheidung zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht
Welche Auslegungsmethoden Anwendung finden, richtet sich nach der Rechtsnatur der Rechtsordnung und den für die Auslegung zuständigen Organen. Für die Auslegung von Völkerrecht gelten andere Grundsätze und Normen als für die Auslegung von nationalem Recht. Das Völkerrecht ist getragen von den Grundsätzen der staatlichen Souveränität und der Gleichheit der Staaten. Insoweit sind vor allem der teleologischen Auslegung von Anfang an Grenzen gesetzt. Von wesentlicher Bedeutung ist daher, in welchen Rechtskreis die einzelnen Rechtsordnungen einzuordnen sind. Das Gemeinschaftsrecht und das Unionsrecht stellen keine einheitliche Rechtsordnung dar, vielmehr bilden sie zwei zugleich getrennte und verbundene Rechtssysteme mit gravierenden Unterschieden. Das Recht der Europäischen Union setzt sich aus drei Säulen zusammen, dem Recht der Europäischen Gemeinschaften (Gemeinschaftsrecht) und den intergouvernemental organisierten Säulen, GASP und PJZS (Unionsrecht). Während das Gemeinschaftsrecht eine eigenständige Rechtsordnung darstellt, ist die Rechtsnatur des Unionsrechts umstritten.5 Unstreitig ist keine der beiden Rechtsordnungen eine nationale oder mit einer nationalen Rechtsordnung vergleichbar. Beide Rechtsordnungen basieren auf völkerrechtlichen Verträgen und werden durch völkerrechtliche Verträge, wie u.a. den Vertrag von Nizza und – evtl. – den Entwurf für einen Verfassungsvertrag, weiterentwickelt. 1.
3
Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts
Es ist davon auszugehen, daß zumindest das Gemeinschaftsrecht (erste Säule) sich zu einer eigenständigen supranationalen Rechtsordnung sui generis entwickelt hat. Denn allein von der Entstehungsgeschichte einer Rechtsordnung, der Gründung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, kann nicht endgültig auf ihre Rechtsnatur geschlossen werden. Entscheidend für die Rechtsnatur einer Rechtsordnung ist die Struktur derselben.6 Für das Gemeinschaftsrecht ergeben sich in diesem Gesamtzusammenhang im Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Verträgen folgende Besonderheiten: Zwar gilt weiterhin auch im Gemeinschaftsrecht das Prinzip der Souveränität der Staaten, dieses ist für die Bereiche, in denen von den Mitgliedstaaten Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen wurden, jedoch eingeschränkt. Auch das dem Völkerrecht innewohnende Konsensprinzip liegt dem Gemeinschaftsrecht jedenfalls bei der Sekundärrechtsproduktion nicht zugrunde. Vielmehr gilt in den meisten 5 Siehe dazu ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 56 ff., 193 ff. 6 Streinz, Europarecht, Rn. 109. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
161
4
2. Teil: Allgemeiner Teil
Tätigkeitsfeldern im Rat das Mehrheitsprinzip, für die Primärrechtsänderung dagegen bleibt es bei dem Erfordernis der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Dies führt dazu, daß Gemeinschaftsrechtsakte auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates erlassen werden können und dieser Mitgliedstaat trotz Gegenstimme zum Vollzug des Rechtsaktes bzw. zur Umsetzung des Rechtsaktes verpflichtet ist, die Verträge selbst dagegen nur dann geändert werden können, wenn alle Mitgliedstaaten die beabsichtigten Änderungen ratifizieren.
5
Weiterhin stellt das Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten weitgehend unmittelbar geltendes Recht dar.7 Es besitzt Vorrang vor dem nationalen Recht, wobei es sich um einen Anwendungsvorrang,8 nicht aber um einen Geltungsvorrang handelt.9 Diese beiden Grundsätze, unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten und Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht, bilden die zentralen Elemente der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung, die lediglich im Wege der Vertragsänderung aufgehoben werden könnten. Die Gemeinschaftsrechtsordnung verfügt ihrer Natur entsprechend über ein eigenes, nach autonomen Grundsätzen zu behandelndes „Verfassungssystem“.10 Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gilt auch gegenüber später ergangenem nationalen Recht. Daher gilt der Grundsatz lex posterior derogat legi priori im Verhältnis zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht nicht. Später ergangenes – oder auch spezielleres – nationales Recht bricht Gemeinschaftsrecht demnach nicht. Neben dem Anwendungsvorrang und der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts stellt auch die weitgehende Rechtssetzungsbefugnis der Gemeinschaftsorgane eine Besonderheit im Vergleich zu sonstigen völkerrechtlichen Verträgen und Institutionen dar. Eine weitere Besonderheit des Gemeinschaftsrechts ergibt sich aus dem Anwendungsvorrang und der unmittelbaren Geltung für die Bürger der Mitgliedstaaten. Sie können aus dem Gemeinschaftsrecht unmittelbar einklagbare Rechte ableiten oder daraus verpflichtet werden.
6
Insoweit handelt es sich bei dem Gemeinschaftsrecht weder um eine nationale noch um eine klassische völkerrechtliche Rechtsordnung, vielmehr stellt sich das Gemeinschaftsrecht als eigenständige und bislang einmalige Rechtsordnung dar, die besonderen Grundsätzen folgt. Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts hat dies insoweit Bedeutung, als nicht allein nationale oder völkerrechtliche Grundsätze herangezogen werden können, denn sie würden der Rechtsnatur des Gemeinschaftsrechts als Integrationsrechtsordnung nicht gerecht werden. Die letztlich verbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist gemäß Art. 220 EG dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft übertragen; das völkerrechtliche Prinzip der autonomen Vertragsinterpretation durch die Vertragsstaaten ist somit durchbrochen. 7 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos ./. Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 1, 25. 8 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269–1271. 9 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 17/18 (Simmenthal II). 10 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 131.
162
Matthias Pechstein/Carola Drechsler
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
2.
Rechtsnatur des Unionsrechts
Die Struktur der Europäischen Union wird zumeist mit einem Tempelmodell erklärt. Dabei stellt die Europäische Union das Dach über drei Säulen dar. Grundlage und erste Säule der Europäischen Union sind die Europäischen Gemeinschaften. Sie werden ergänzt durch die zweite und dritte Säule, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Polizeiliche und Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Anders als die Europäischen Gemeinschaften, welche supranational organisiert sind, sind die GASP und die PJZS intergouvernemental – die Mitgliedstaaten sind insoweit Kompetenzträger geblieben – und damit in erster Linie nach völkerrechtlichen Grundsätzen gestaltet. Entscheidungen in diesen Bereichen können nicht nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, sie unterliegen dem völkerrechtlich geltenden Konsensprinzip. Auch Art. 23 Abs. 2 EU bildet insoweit keine Ausnahme, da der Rekurs auf die Einstimmigkeit im Europäischen Rat erhalten bleibt. Eine Verpflichtung gegen den Willen eines Mitgliedstaates ist daher hier nicht möglich.11 Der Integrationsstand in der Europäischen Union wird aber insgesamt als höher eingestuft, als der in internationalen Organisationen übliche, insbesondere unterliegen alle drei Säulen dem Kohärenzgebot zur Vermeidung unabgestimmter, widersprüchlicher und einander konterkarierender Maßnahmen.12
7
Aufgrund dieser Besonderheiten und einer fehlenden endgültigen Feststellung dazu im Unionsvertrag ist die Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union umstritten.13 Für eine völkerrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit spricht die Möglichkeit des Beitritts zur Europäischen Union, ein alleiniger Betritt zu den Europäischen Gemeinschaften ist aufgrund des Art. 49 EU nicht mehr möglich.14 Andererseits wurden der Europäischen Union selbst keine Kompetenzen übertragen. Eine Übertragung von Kompetenzen erfolgte nur auf die Europäischen Gemeinschaften, die von den Säulen GASP und PJZS betroffenen Bereiche stehen kompetentiell weiterhin den Mitgliedstaaten zu, nicht aber der Europäischen Union, so daß es an einer die Rechtspersönlichkeit rechtfertigenden „Ankerkompetenz“ fehlt.15 Der Unterschied der Ansichten hat für die anzuwendenden Methoden zur Auslegung des Unionsrechts jedoch keine Auswirkungen, insoweit kann die weitere Diskussion hier dahinstehen.
8
Für die Auslegung des Unionsrechts von besonderer Bedeutung ist jedoch, daß es, anders als das Gemeinschaftsrecht keine unmittelbare Geltung und auch keinen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht aufweist. Demnach ist eine Berechtigung oder Verpflichtung einzelner durch das Unionsrecht nicht möglich, es fehlt an der Durchgriffswirkung. Auch für das Unionsrecht kann demnach die alleinige Anwendung nationaler und völkerrechtlicher Auslegungsmethoden nicht ausreichend sein. Das Unionsrecht ist aber einer völkerrechtlichen Auslegung weit stärker zugänglich als
9
11 Art. 14, 15, 34 EU-Vertrag. 12 Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 130 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 121a. 13 Siehe dazu ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 1–164; v. Bogdandy/ Nettesheim, EuR 1996, 3 ff. 14 Streinz, Europarecht, Rn. 121b. 15 Streinz, Europarecht, Rn. 121b. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
das Gemeinschaftsrecht, weil es völkerrechtliche Strukturen aufweist, gleichwohl geht es aber auch über das „Normalmaß“ völkerrechtlicher Integration hinaus. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts ergeben sich weitere Unterschiede. Während gemäß Art. 220 EG der Europäische Gerichtshof für die Auslegung des gesamten Gemeinschaftsrechts und für die Gültigkeitskontrolle des Sekundärrechts uneingeschränkt zuständig ist, enthält der Unionsvertrag eine entsprechende Regelung nicht. Allein für enumerativ aufgezählte Bereiche des Unionsrechts ist der EuGH nach Art. 46 EU zuständig.16 Daraus folgt auch, daß eine Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH nur für diese enumerativ aufgezählten Bereiche möglich ist. Von besonderer Bedeutung ist insofern, daß das für die dritte Säule vorgesehene besondere Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 Abs. 1–4 EU keine Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung des Unionsprimärrechts vorsieht. Allenfalls implizit, nämlich bei der Aufbereitung der unionsprimärrechtlichen Maßstäbe für die Auslegung oder Gültigkeitskontrolle der in Art. 35 Abs. 1 EU genannten Unionssekundärrechtsakte kann er das Unionsprimärrecht auslegen. Darüber hinaus besitzen jedoch die Mitgliedstaaten die alleinige Auslegungszuständigkeit.
III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Europarecht 10
Im folgenden soll dargestellt werden, welche Methodengrundsätze im Europarecht Anwendung finden. Aufgrund der Besonderheiten der Unions- und Gemeinschaftsrechtsordnung kann nicht ausschließlich auf die nationalen Methodengrundsätze zurückgegriffen werden. Vielmehr ist im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts auf eine Kombination der nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätze und im Unionsrecht, aufgrund einer tiefergehenden Integration als in anderen völkerrechtlichen Verträgen, auf angepaßte völkerrechtliche Methodengrundsätze zurückzugreifen.
11
Für das Gemeinschaftsrecht ergibt sich diese Kombinationsverpflichtung nicht nur aus der eigenständigen Rechtsnatur, sondern auch daraus, daß die mitgliedstaatlichen Methodengrundsätze auf den anglo-amerikanischen, romanischen und mitteleuropäischen Rechtskreis zurückgehen17 und das Gemeinschaftsrecht allen drei Rechtskreisen gerecht werden muß. Die ausschließliche Anwendung einer einzelnen Methode könnte dies nicht leisten. Die alleinige Anwendung der völkerrechtlichen Methodengrundsätze würde den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts ebenfalls nicht gerecht werden, da deren prägende Maximen, die Souveränität der Staaten und die Gleichheit der Staaten, im Gemeinschaftsrecht nur eingeschränkt Anwendung finden.
12
Weiter ist die im Völkerrecht nur beschränkt anzuwendende dynamische Auslegung im Europarecht unverzichtbar. Ein Integrationsprozeß, wie er für die Gemeinschaft
16 Siehe dazu: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, S. 256 ff. 17 Vgl. dazu: Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 91–129.
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Matthias Pechstein/Carola Drechsler
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
vertraglich vorgesehen ist, kann ohne eine dynamische Entwicklung der entsprechenden Rechtsordnung nicht vorangetrieben werden. Insoweit bedarf es eigenständiger europäischer Methodengrundsätze,18 welche sich zwar an den nationalen und völkerrechtlichen orientieren können, allerdings an die Rechtsnatur des Gemeinschafts- und Unionsrechts angepaßt werden müssen. Als Ausgangspunkt für die Auslegung des Europarechts wird, wie in der völkerrechtlichen Methode und den nationalen Methoden, der Wortlaut einer auszulegenden Norm angesehen.19 Für das Gemeinschafts- und das Unionsrecht ergeben sich hinsichtlich ihrer Struktur und Natur unterschiedliche Gewichtungen in den anderen Auslegungsmethoden. So wird für das Unionsrecht eine engere Bindung an das Völkerrecht angenommen. Daraus folgend, finden auch die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden aus Art. 31ff. WVK Anwendung. Anders als das Unionsrecht, sieht der EuGH das Gemeinschaftsrecht nicht als Völkerrecht, sondern als autonome „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“,20 an, so daß auch die völkerrechtlichen Auslegungsregelungen nicht zwingend auf das Gemeinschaftsrecht angewendet werden müssen bzw. können. Insbesondere Grundsätze, wie die Respektierung der staatlichen Souveränität und damit die enge Auslegung staatlicher Verpflichtungen bei der Interpretation der entsprechenden Normen oder die Auslegung aufgrund einer späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) können für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht fruchtbar gemacht werden.21 Vielmehr werden angepaßte mitgliedstaatliche Auslegungsmethoden angewandt.22 Die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten sind ausschließlich an den Vertrag gebunden, insoweit kann eine nachträgliche Übung der Mitgliedstaaten nicht zur Interpretation des Vertragstextes herangezogen werden.
IV.
13
Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht
In der Anwendung der unterschiedlichen Methodengrundsätze ist nicht nur zwischen Gemeinschaftsrecht und Unionsrecht zu unterscheiden, sondern im Bereich des Gemeinschaftsrechts auch zwischen Primärrecht und Sekundärrecht. Der Gerichtshof wendet insoweit keine einheitlichen Auslegungsmethoden an. Zum Sekundärrecht sollen hier indes nur kurze notwendige Parallelen gezogen werden. Dabei wendet der Gerichtshof bei der Auslegung des Primärrechts eher objektive und bei der Auslegung des Sekundärrechts verstärkt subjektive Auslegungsmethoden an.23
18 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S.136 m.w.N. 19 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 137. 20 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos ./. Administratie der Belastingen, Slg. 1963, 1, 25. 21 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. 22 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. 23 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1178. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Eine primärrechtskonforme Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist auch nur bei untergeordnetem Recht möglich. Da das Unionsrecht dem Gemeinschaftsrecht nicht übergeordnet ist – das Tempel- oder Säulenmodell mit der Union als Dach könnte insofern zu Trugschlüssen Anlaß geben –, sondern als nachfolgende völkervertragliche Regelung zu den EG-Verträgen diesem rangmäßig gleichsteht, scheidet eine Auslegung des EG-Primärrechts am Maßstab des Unionsprimärrechts ebenso aus wie eine Auslegung des Unionsprimärrechts am Maßstab des EG-Primärrechts. Weiterhin findet eine historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur in sehr engen, noch aufzuzeigenden Grenzen statt, da die hierfür relevanten Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen nicht zugänglich sind und nach mittlerweile nahezu 50jähriger Geltung der Verträge auch notwendigerweise gegenüber den aktuellen Integrationsfragen in den Hintergrund treten müßten. Demnach sind bei der Auslegung des Primärrechts die historische Auslegung und die Auslegung anhand höherrangigen Rechts unerheblich. Anwendung finden in erster Linie die systematische und teleologische Auslegungsmethode. Hinsichtlich des Unionsrechts ist dagegen eine Methodendifferenz in Bezug auf das Unionsprimärrecht und das Unionssekundärrecht – vorbehaltlich der in Art. 35 EU vorgesehenen Gültigkeitskontrolle spezifischen Unionssekundärrechts der dritten Säule und damit dessen primärrechtskonformer Auslegung – nicht geboten, da es sich in beiden Fällen um spezifisches regionales Völkerrecht handelt. 1.
Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen
15
Anders als im Recht der Europäischen Union – hier führt der Unionsvertrag enumerativ und abschließend einzelne Bereiche bzw. Verfahren 24 auf, für die der EuGH zuständig ist – besteht für das Gemeinschaftsrecht eine obligatorische und weitgehend umfassende Zuständigkeit. Der EuGH ist gemäß Art. 220 EG für das gesamte Gemeinschaftsrecht zuständig,25 er proklamiert für sich selbst insoweit eine letztinstanzliche Auslegungsbefugnis.26 Wie allerdings der Begriff der Auslegung zu verstehen ist, insbesondere wie weit die Auslegung gehen darf, ist von ihm bislang nicht entschieden worden. Der Gerichtshof stellte bis jetzt nur das Ziel der Auslegung dar. In der Rechtssache 61/79 hat er ausgeführt: „[Durch die Auslegung] soll erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht werden …, in welchem Sinn und Tragweite die betroffene Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.27
16
Neben dem EuGH sind aber auch unterinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte und mitgliedstaatliche Verwaltungsbehörden berechtigt, das primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht verbindlich auszulegen. Dies folgt aus der fehlenden Pflicht dieser
24 Art. 46 EU-Vertrag. 25 A.A. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 220 EGV Rn. 2, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung berücksichtigt wissen will. 26 Streinz-Huber, Art. 220 EG Rn. 5. 27 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205 Rn. 16.
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Matthias Pechstein/Carola Drechsler
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
Gerichte und Behörden, Zweifelsfragen aus dem Gemeinschaftsrecht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.28 Sie sind aufgrund des Anwendungsvorrangs verpflichtet, unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen also täglich durch fast alle mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte ausgelegt werden. Dem EuGH kommt nur eine Art „letztinstanzliche Auslegungskontrolle“ zu. 2.
Einzelne Auslegungsmethoden
Im folgenden werden die einzelnen Auslegungsmethoden vor- und deren Anwendung durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft dargestellt. Dabei wird in erster Linie auf die teleologische und die systematische Auslegungsmethode eingegangen, weil diese beiden Methoden die weitgehendsten Folgen für die Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Normen aufweisen. a)
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Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung
Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der im einschlägigen Gesetzesblatt veröffentlichte Wortlaut der Norm. Mit der grammatikalischen Auslegung wird der allgemeine Sprachgebrauch erforscht und hinterfragt.29 Aus diesem allgemeinen Sprachgebrauch wird der mögliche Wortsinn und der Bedeutungsgehalt einer Norm ermittelt. Dieser Wortsinn und Bedeutungsgehalt wird sodann in die juristische Fachsprache „übersetzt“. Im Gemeinschaftsrecht besteht jedoch das Problem, daß die Normen in mehreren Sprachen abgefaßt sind und in allen Sprachfassungen verbindlich sind.30 Die Urfassung des EWG-Vertrages ist nach Art. 314 Abs. 1 EG nur in den Sprachen deutsch, französisch, italienisch und niederländisch verbindlich. Nach den Beitrittsverträgen ist der Text aber auch in allen anderen mitgliedstaatlichen Amtssprachen verbindlich (Art. 314 Abs. 2 EG).
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In der Praxis führen die unterschiedlichen Sprachfassungen des Primärrechts zu besonderen Schwierigkeiten. Jede dieser verbindlichen Sprachfassungen der Norm enthält Rechtsbegriffe aus den nationalen Rechtsordnungen. Diese weichen aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Rechtsbegriffe jedoch nicht unerheblich voneinander ab. Der Gerichtshof hat daher entschieden, daß jeder einzelne Rechtsbegriff in einem gemeinschaftsautonomen Sinne zu interpretieren ist.31 Dies bedeutet, daß ein verbindlicher Rückgriff auf vergleichbare mitgliedstaatliche Rechtsbegriffe nicht vorgenommen wird.32 Auch Verweisungen auf einzelne nationale Normen oder Begriffe werden vermieden, da eine einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts
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28 29 30 31 32
So auch: Schroeder, JuS 2004, 180, 181. Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 43. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 18. EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 EGKO ./. Produktschap, Slg. 1984, 107 Rn. 11. EuGH v. 22.11.1977 – Rs. 43/77 Industrial Diamond Supplies ./. Riva, Slg. 1977, 2175 Rn. 15 ff.; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 The Queen ./. Commissioners of Customs and Excise, Slg. 1998, I-1605 Rn. 30 (EMU Tabac u.a.).
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2. Teil: Allgemeiner Teil
geboten ist.33 In diesen Fällen definiert der Gerichtshof den Inhalt der einzelnen Begriffe in „apodiktischer Form“34 und demnach in einer Form der Rechtsschöpfung. Die Anwendung bestimmter Auslegungsmethoden ist hier selten erkennbar.35 Im Ergebnis kann dies dazu führen, daß Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und im nationalen Recht deutlich unterschiedlichen Gehalt erlangen können.36 Eine solche gemeinschaftsweit einheitliche Auslegung der Rechtsbegriffe ist jedoch geboten, da eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts ansonsten nicht gewährleistet werden kann. Jeder Mitgliedstaat könnte für sich selbst festlegen, wie ein Begriff auszulegen ist und so dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts seine Bedeutung nehmen.
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Aufgrund dieses Erfordernisses der gemeinschaftsautonomen Begriffsauslegung präzisierte der Gerichtshof für die Wortlautauslegung seine Auslegungsmethode dahingehend, daß er zunächst verschiedene Sprachfassungen vergleicht37 und bei sich widersprechenden bzw. widerstreitenden Sprachfassungen, nicht einer Sprachfassung den Vorzug gibt. Der Gerichtshof wendet bei der Bedeutungserkundung kein „Mehrheitsprinzip“ an. Er geht zwar von den einzelnen nationalen Bedeutungen der Rechtsbegriffe aus, wendet aber nicht automatisch diejenige an, welche die meiste Verbreitung in den nationalen Rechtsordnungen gefunden hat.38 Als Ansatzpunkt mag die Bedeutung in den nationalen Rechtsordnungen ausreichen, für die endgültige Bestimmung des Inhalts der Norm werden dann aber die systematische und die teleologische Auslegungsmethode herangezogen.39 Dies bedeutet aber auch, daß der allgemeine Aufbau und der Zweck der Regelung zu berücksichtigen sind.40
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Beispielhaft für eine gemeinschaftsautonome Auslegung ist die Auslegung des Begriffs „öffentliche Verwaltung“ in Art. 39 Abs. 4 EG. Die „öffentliche Verwaltung“ unterliegt als Ausnahme von der Regel nicht den Grundsätzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ ist im deutschen öffentlichen Dienstrecht sehr weit zu verstehen, während er im Gemeinschaftsrecht sehr eng ausgelegt wird. Gemeinschaftsrechtlich gehören nur solche Arbeitnehmer der „öffentlichen Verwaltung“ im Sinne von Art. 39 Abs. 4 EG an, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die
33 34 35 36 37 38 39 40
Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 42. Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1177. Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1177. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 19. EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11. EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 Van Landschoot ./. Mera, Slg. 1988, 3443 Rn. 18; EuGH v. 24.5.1988 – Rs. 122/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1988, 2685 Rn. 10, 11. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 18; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 28. EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 16.
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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.41 Dies bedeutet, daß auch das deutsche Beamtenrecht für EG-Staatsangehörige geöffnet werden mußte, da keineswegs alle Beamtenstellungen diesen Kriterien genügen. Demnach ist der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ im Gemeinschaftsrecht wesentlich enger zu verstehen als im deutschen Recht. Es handelt sich um eine gemeinschaftsautonome Auslegung eines auch national bekannten Rechtsbegriffs. Gleiches gilt in vielen anderen Fällen, etwa hinsichtlich des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ in Art. 30, 39 Abs. 3 und 46 EG und dem entsprechenden Begriff des deutschen Polizeirechts oder bezüglich des Begriffs der „juristischen Person“ in Art. 230 Abs. 4 EG. Die Gleichrangigkeit aller Sprachfassungen wird durch die Organe der Gemeinschaft durchbrochen. Interpretiert der Gerichtshof unbestimmte Rechtsbegriffe nicht gemeinschaftsautonom, sondern berücksichtigt die Sprachfassungen, so greift er nur auf einige wenige Sprachfassungen, wie die französische, englische und deutsche zurück.42 Dies ist insbesondere der alleinigen internen Arbeitssprache – französisch – des Gerichtshofes geschuldet.43 b)
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Systematische Auslegung
Mit der systematischen Auslegung wird die Funktion einer Norm im gesamten Normgefüge erforscht.44 Im Zusammenhang mit anderen Normen oder dem gesamten Gesetzestext wird die entsprechende Norm auf ihren Rechtsgedanken hin untersucht. Diese Auslegungsmethode geht davon aus, daß alle Rechtsnormen eines Vertragswerkes in einer Beziehung zueinander stehen. Ihnen kommt je eine eigene Bedeutung zu, die allerdings erst in einer umfassenden Betrachtung ihren endgültigen Gehalt bekommt. So sind bei der Auslegung einer Norm die Überschrift unter der sie zu finden ist, ihr Stand im gesamten Normgefüge und ihre eigene Funktion für das Vertragswerk zu berücksichtigen.
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Der Gerichtshof geht dabei von einer rationalen Gesetzesstruktur mit einem ihr innewohnenden Regel-Ausnahme-Verhältnis,45 einem allgemeinen und einem besonderen Teil im gesamten Vertrag 46 und einer Systematik der Überschriftenbildung 47 aus. Dabei sollen einzelne Vorschriften innerhalb eines Kapitels aufeinander Bezug nehmen, der jeweils erste Artikel eines Kapitels von grundlegender Bedeutung sein und die
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41 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1986, 2121, Rn. 27. 42 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. 43 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. 44 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 43. 45 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-351/89 Overseas Union Insurance u.a. ./. New Hampshire Insurance Company, Slg. 1991, I-3317 Rn. 16. 46 EuGH v. 23.2.1988 – Rs. 68/86 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1988, 855 Rn. 13. 47 EuGH v. 22.9.1998 – Rs. 187/87 Saarland u.a. ./. Minister für Industrie, Slg. 1988, 5013 Rn. 11. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
folgenden Artikel ausschließlich der Präzisierung des ersten Artikels dienen.48 Er nimmt für die Inhaltsbestimmung einer Norm demnach auch auf die dieser Norm vorangestellten Gesetzesabschnitte Bezug. So sind alle auf die Grundsätze – Erster Teil – folgenden Normen im Hinblick auf diese Grundsätze hin auszulegen.
25
Als Beispiel kann die Bestimmung des Inhalts der Dienstleistungsfreiheit herangezogen werden. Sie wird durch den Gerichtshof in einer Negativabgrenzung zu den bereits aufgeführten Grundfreiheiten, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit definiert.49 Nur bei dieser Auslegung kommt der Dienstleistungsfreiheit eine eigenständige Funktion zu und deckt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit den gesamten denkbaren Personenverkehr ab. Würde die Dienstleistungsfreiheit fehlen, könnte ein Teil des Personenverkehrs nicht unter die Regelungen des EG-Vertrages subsumiert werden. Das Gefüge ist also nur mit dieser Norm vollständig und aus dieser Überlegung heraus erhält sie ihren Inhalt. Weiterhin läßt sich an diesem Bespiel auch das Regel-Ausnahme-Verhältnis darstellen. Der Gerichtshof geht mit der systematischen Auslegung auch davon aus, daß im Vertrag grundsätzlich erst die Regel dargestellt wird, hinsichtlich der Dienstleistungsverkehrs also ihr Anwendungsbereich, und dann die Ausnahme, also die Ausgrenzung des Anwendungsbereiches hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung in Art. 39 Abs. 4 EG.
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Ähnlich ging der Gerichtshof in der Rechtssache AETR50 vor. Er verwies darin ausdrücklich auf die Systematik des Gemeinschaftsrechts und kam zu dem Schluß, daß für die Bestimmung der Gemeinschaftszuständigkeit zum Abschluß von Abkommen mit Drittstaaten auf „das allgemeine System des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Beziehungen zu dritten Staaten zurückgegriffen werden“ muß.51 Es fanden sich im EG-Vertrag zwar Regelungen zum Abschluß von Abkommen mit Drittstaaten und Kompetenzregelungen, diese mußten aber in das gesamte Gefüge des Vertrages eingebunden werden. Jeder Norm soll eine eigene Bedeutung zukommen, demnach ist der Bedeutungsgehalt einer Norm auch ihrem Stand im Vertrag entsprechend zu interpretieren.
27
Die systematische Auslegung des Gemeinschaftsrechts findet jedoch ihre Grenzen52 in den dem Vertrag zugrundeliegenden Leitlinien und Grundsätzen. So weicht der Gerichthof teilweise zugunsten der Rechtsgrundsätze effet utile und implied powers von einer bestehenden Systematik ab. Trotzdem kommt der systematischen Auslegung große Bedeutung für die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu, da sie ausschließlich auf den Vertrag und seine Struktur eingeht, also auf gemeinschaftsrechtliche Bedingungen ohne nationale Einflüsse.
48 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 179. 49 EuGH v. 30.4.1974 – Rs. 155/73 Sacchi, Slg. 1974, 409 Rn. 7/8. 50 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263ff. (AETR). 51 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 12 (AETR). 52 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Flaminio Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270.
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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
c)
Teleologische Auslegung
Der teleologischen Auslegungsmethode gemäß ist eine Norm nach dem mit ihr verfolgten Zweck zu interpretieren. Demnach ist diese Auslegungsmethode auf die Verwirklichung der Vertragsziele der Gemeinschaft gerichtet.53 Sie wird vom Gerichtshof häufig angewendet, da andere Auslegungsmethoden aufgrund der unterschiedlichen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Bedeutung von Rechtsbegriffen z.T. nur beschränkt Aufschluß über die Normen und deren gewollten Inhalt geben können. Der Gerichtshof interpretiert die Normen des Gemeinschaftsrechts in erster Linie im Hinblick auf die Vertragsziele der Gemeinschaft.54 Damit soll die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft gesichert werden. Ausdruck der Anwendung der teleologischen Auslegungsmethode in den Urteilen des Gerichtshofs ist die generell enge Auslegung von Ausnahmen im Gemeinschaftsrecht und die Anwendung der in den Grundsatzbestimmungen der Art.1–10 EG normierten allgemeinen Rechtsgrundsätze.55 Der Gerichtshof geht dabei auch davon aus, daß jede Norm so angelegt ist, daß sie ihr Ziel auch verwirklichen kann.56
28
Für eine teleologische Auslegung sind neben dem Ziel und Zweck der Norm die Sachgemäßheit der Regelung und die Verwirklichung des objektiven Zwecks des Rechts ausschlaggebend. Um die Ziele des Vertrages zu bestimmen, zieht der Gerichtshof in erster Linie die Positivliste der zu regelnden Politikbereiche des Art. 3 EG heran. Auf Art. 2 EG und dessen Aufgabenaufzählung greift der Gerichtshof dagegen nur sehr selten zurück. Dies ist wohl der sehr weiten und undeutlichen Formulierung dieses Artikels geschuldet, konkrete Ziele lassen sich nur schwer herauslesen.57 Das tragende Ziel der Gemeinschaft war und bleibt die Herstellung und der Ausbau eines gemeinsamen Marktes, demnach liegt hier auch der Tätigkeitsschwerpunkt der Gemeinschaft und ihrer Organe. Von diesem Ziel ist die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof geprägt. Soweit Art. 2 und 3 EG für die Auslegung herangezogen werden, wird der unverfälschte Wettbewerb als wichtigstes Ziel angesehen.
29
Neben der Orientierung an den Zielen des Vertrages wird die auszulegende Norm auch einer Funktionsanalyse unterzogen. Dabei bestimmt der Gerichtshof die Funktion der auszulegenden Norm im Gesamtgefüge des Vertrages. Zu berücksichtigen sind eine sinnvolle, bestimmungsgemäße und widerspruchsfreie Anwendung der Norm.58 So kann für die Berechnung von Zwangsgeldern keine den jeweiligen Staat wirtschaftlich gefährdende überhöhte Forderung gestellt werden. Dies würde dem Sinn
30
53 54 55 56
Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 27. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn. 20. Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 46. EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311. 57 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 204. 58 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 207.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
und Zweck des Vertrages zuwiderlaufen, da eine gemeinsame wirtschaftliche Funktionsfähigkeit erhalten bleiben soll. Da der Gerichtshof davon ausgeht, daß jeder Norm eine eigene Bestimmung und Funktion zukommt, muß sie so ausgelegt werden, daß sie ihr Ziel auch verwirklichen kann. Insoweit wendet der Gerichtshof für die Bestimmung der Sachgemäßheit einer Gemeinschaftsnorm den Rechtsgrundsatz des effet utile an. Den einzelnen Normen ist im Hinblick auf die Vertragsziele zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.59 So hat der Gerichtshof „im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts“ 60 unter anderem den Begriff des „Gerichts“ in Art. 234 EG dahingehend ausgelegt, daß auch ein Streitsachenausschuß einer Berufsorganisation als ein solches anzusehen ist. Nur mit dieser Auslegung des Begriffs „Gericht“ hat ein Vorlageverfahren Sinn und erfüllt sein Ziel hinsichtlich der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts.
31
Für die teleologische Auslegungsmethode sind bei der Auslegung des Sekundärrechts teilweise andere Ansatzpunkte heranzuziehen als im Primärrecht. Anders als im primären Gemeinschaftsrecht werden im Bereich des sekundären Gemeinschaftsrechts die Erwägungsgründe des jeweiligen Rechtsaktes für die teleologische Auslegung berücksichtigt. Erwägungsgründe zählen nicht zur Entstehungsgeschichte der Norm und fallen demnach auch nicht in den Bereich der historischen Auslegungsmethode. Sie sind Bestandteil des Rechtsaktes und sollen Aufschluß über die mit dem Rechtsakt verfolgten Ziele geben. d)
32
Historische Auslegung
Die historischen Auslegungsmethoden gehen von der geschichtlichen Entwicklung einer Rechtsnorm aus, dabei werden frühere ähnliche Gesetze und die Änderung solcher Normen berücksichtigt.61 Sowohl die subjektiv-historische als auch die objektiv-historische Auslegungsmethode haben für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur eine geringe Bedeutung. Dies wird auch im Zusammenhang mit einer Untersuchung, welche die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden für die veröffentlichten Entscheidungen des Jahres 1999 ermittelte, bestätigt.62 Mit der subjektiv-historischen Auslegungsmethode soll der wahre Wille des historischen Gesetzgebers erforscht werden, während mit der objektiv-historischen Methode die Funktion der Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses ergründet werden soll.63 Für eine historische Auslegung des Primärrechts ist schon deshalb kein Raum, da Verhandlungsprotokolle bzw. Entstehungsdokumente zu den Gründungsverträgen nicht zugänglich sind.64 Teilweise wurde in den Klagebegründungen von Seiten der Mitglied-
59 Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 14. 60 EuGH v. 6.10.1981 – Rs. 246/80 C. Broekmeulen ./. Huisarts Registratie Commissie, Slg. 1981, 2311 Rn. 16. 61 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 44. 62 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 118. 63 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 143. 64 Lecheler, Einführung in das Europarecht (2. Aufl. 2003), § 5, IV, 2.b., S. 141.
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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
staaten auf die amtlichen Begründungen und Erläuterungen der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente zu den Verträgen Bezug genommen. Diese Bezugnahme wurde vom Gerichtshof jedoch stets ignoriert.65 Viele der Normen des Gemeinschaftsrechts sind auch geprägt von politischen Entscheidungen und Kompromissen bei den Vertragsverhandlungen. Eine historische Auslegung unterläge insoweit auch politischen Zwängen und der Suche nach politischen Kompromissen, überdies dürften sich die Interessen der Mitgliedsaaten seither vielfach geändert haben. Sie würde dem Ziel einer zukunftsorientierten europäischen Integration durch eine Orientierung an der Vergangenheit daher widersprechen und die Dynamik des Gemeinschaftsrechts einschränken.66 Auch für die Auslegung von Sekundärrecht hat die historische Auslegung kaum Bedeutung. Sie wäre zwar faktisch möglich, da die Entwurfsprotokolle für Sekundärrechtsakte einsehbar sind.67 Der Gerichtshof berücksichtigt jedoch für seine Entscheidungen keine Dokumente, welche als Erklärungen im Rat zu Protokoll gegeben wurden, „wenn sie in den Rechtsvorschriften keinen Ausdruck gefunden haben.“ 68 Dies folgt aus dem Gedanken der Rechtssicherheit, da bis zur Änderung des Art. 207 Abs. 3 UAbs. 2 S. 3 EG durch den Amsterdamer Vertrag die Protokollerklärungen zu Abstimmungen im Rat nicht veröffentlicht wurden. Mit der Änderung sind diese Erklärungen zu veröffentlichen, insoweit könnte zukünftig die historische Auslegung an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig nimmt der Gerichtshof zwar Rückgriff auf die Begründungserwägungen zu den Rechtsakten, dies aber in erster Linie um den Sinn und Zweck der Vorschriften zu erforschen.69 e)
33
Rechtsvergleichende Methode
Die rechtsvergleichende Methode kann grundsätzlich nur als ergänzende Methode angewandt werden. Ihr kommt demnach auch nur eine untergeordnete Rolle zu. Wie bereits dargestellt, interpretiert der Gerichtshof Rechtsbegriffe gemeinschaftsautonom. Dies bedeutet im Ergebnis auch, daß die einzelnen verbindlichen Sprachfassungen miteinander verglichen werden. Aus diesem Vergleich filtert der Gerichtshof einzelne Übereinstimmungen heraus und stellt sie mit Sinn und Zweck der entsprechenden Vorschrift in Zusammenhang. Insoweit handelt es sich zwar methodisch nicht wirklich um eine Rechtsvergleichung, aber um eine Inhalts- und Sinnvergleichung, die zu einer Rechtsvergleichung führen kann.
65 EuGH v. 16.12.1960 – Rs. 6/60 Humblet ./. Belgischen Staat, Slg. 1960, 1163, 1194; EuGH v. 18.2.1970 – Rs. 38/69 Kommission ./. Italien, Slg. 1970, 47 Rn. 12, 13. 66 Schwarze-Schwarze, Art. 220 EG Rn. 28. 67 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-17/96 Badische Erfrischungs-Getränke ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1997, I-4617 Rn. 16. 68 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 u. C-292/94 Denkavit Internationaal u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 29. 69 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 148.
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35
Rechtsvergleichung wird nur insoweit unternommen, als geltendes Recht in unterschiedlichen Staaten und im Völkerrecht verglichen wird. Dabei handelt es sich aber nicht um den Vergleich einzelner Rechtsbegriffe, sondern um den Vergleich verschiedener Rechtsordnungen und -systematiken. Demnach muß einer Rechtsvergleichung grundsätzlich die Ermittlung fremden Rechts vorausgehen. Die Ermittlung des nationalen mitgliedstaatlichen Rechts führte im Ergebnis zu einem Vergleich der nationalen Rechtssätze, aus denen der Gerichtshof allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts entwickelt.70
36
Der Gerichtshof wendet bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, im Rahmen der teleologischen Auslegung auch Rechtsgrundsätze wie den effet utile einer Gemeinschaftsrechtsnorm an. Gemeinschaftsrechtsnormen müssen demnach so ausgelegt werden, daß sie ihre volle praktische Wirkung erzielen können.71 Insbesondere dieser Interpretationsansatz bewirkt vielfach eine Rechtsfortbildung.
37
Die wohl wichtigsten Entscheidungen des EuGH, welche durch eine rechtsvergleichende Auslegung geprägt sind, sind die Entscheidungen zu einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch.72 In keiner Vertragsbestimmung ist ein solcher Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten vorgesehen. Der EuGH weist insoweit jedoch auf den Grundsatz des effet utile hin sowie darauf, daß eine Handhabe Privater gegen einen die Gemeinschaftsrechtsnormen verletzenden Mitgliedstaat bestehen muß, da die Rechtsordnung ansonsten gravierende Lücken aufweisen würde. Nur mit einem solchen Staatshaftungsanspruch kann das Gemeinschaftsrecht umfassende Geltung und Wirksamkeit erlangen. Der Gerichtshof verweist für das Bestehen eines solchen Staatshaftungsanspruchs auf das grundsätzliche – nicht notwendig das legislative Unrecht erfassende – Bestehen von Staatshaftungsansprüchen in den einzelnen Mitgliedstaaten und das Bestehen solcher Ansprüche im Völkerrecht.73 Auch die EMRK geht in Art. 41 EMRK von der Verpflichtung zur Wiedergutmachung aus, wenn ein Staat gegen zwingende Normen der EMRK verstößt und dabei kausal einen Schaden verursacht. Der EuGH verbindet hier also einen rechtsvergleichenden Ansatz mit einer teleologischen Erwägung.
38
Auch andere Rechtsgrundsätze, wie Treu und Glauben und den Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat der Gerichtshof aus dem Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hergeleitet.
70 Bleckmann, Europarecht (6. Aufl. 1997), Rn. 78 ff. 71 EuGH v. 6.10.1970 – Rs. 9/70 Franz Grand ./. Finanzamt Traunstein, Slg. 1970, 825 Rn. 5 (Leberpfennig); EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 32. 72 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 ff.; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029ff. 73 EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29 ff.
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Matthias Pechstein/Carola Drechsler
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
3.
Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander
Hinsichtlich des Rangverhältnisses der einzelnen anwendbaren Auslegungsmethoden ergibt sich aus dem EG-Vertrag keine Regelung. Daher ist davon auszugehen, daß auch kein Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden besteht. Auch den Urteilen des EuGH ist ein entsprechendes Rangverhältnis nicht zu entnehmen. Vielmehr stehen die drei klassischen Auslegungsmethoden gleichberechtigt nebeneinander und werden vom Gerichtshof miteinander kombiniert und verknüpft. Wie bereits erwähnt, finden die historische, die grammatikalische und die rechtsvergleichende Auslegung aufgrund der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts jedoch nur sehr eingeschränkte Anwendung.74 Insbesondere die systematische und die teleologische Auslegungsmethode werden vom Gerichtshof in den meisten Fällen kombiniert, um die gefundenen Ergebnisse gegeneinander abzuwägen und ihre Plausibilität zu unterstützen. Eine trennscharfe Abgrenzung ist daher auch nicht immer möglich.
39
Bezüglich des fehlenden Rangverhältnisses bildet das Urteil in der Rechtssache Continental Can eine die Regel bestätigende Ausnahme. Darin räumt der Gerichtshof der teleologischen Auslegungsmethode zumindest vor der grammatikalischen Auslegung den Vorrang ein. Der Gerichtshof stellte in diesem Urteil die Vertragsziele des Art. 3 EG über den Wortlaut des Art. 86 EG (Art. 82 EG).75
40
V.
Auslegungsmethoden im Unionsrecht
Für die Methoden zur Auslegung des Unionsrechts ergeben sich ungleich größere Schwierigkeiten, will man diese der Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen. Bis zum evtl. Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa besitzt der Gerichtshof nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten im Bereich des Unionsrechts. Der EuGH kann nur in den engen Grenzen des Art. 46 EU, also für die GASP überhaupt nicht und für die PJZS nur im Rahmen des Art. 35 EU, tätig werden. Bislang liegen auch kaum einschlägige Urteile vor, denen bezüglich der Interpretationsmethoden auch nichts zu entnehmen ist.76 Ein Rückgriff auf die Auslegungsmethoden des Gemeinschaftsrechts wäre dabei jedenfalls insoweit unzulässig, als damit auf die Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts abgestellt wird (effet utile). Eine andere Interpretation würde den Vertragsbestimmungen des Unionsvertrages und dem Willen der Vertragsparteien widersprechen.77 74 A.A. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 66. Die Autorin hat die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden durch den EuGH für die im Jahre 1999 ergangenen Entscheidungen statistisch ermittelt und kommt zu dem Ergebnis, daß die grammatikalische Auslegungsmethode von den klassischen Auslegungsmethoden am häufigsten angewandt wurde. 75 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage Corporation and Continental Can Company ./. Kommission, Slg. 1973, 215 Rn. 22. 76 Vgl. EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-469/03 Miraglia (noch nicht in Slg.); EuGH v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345; EuGH v. 7.4.1995 – Rs. 167/94 Grau Gomis, Slg. 1995, I-1023. 77 Dazu siehe ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 50 ff. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
1.
Auslegung völkerrechtlicher Verträge
42
Anzuwenden sind im Unionsrecht, aufgrund der Struktur des Unionsvertrages und der Rechtsnatur des Unionsrechts, in erster Linie die Auslegungsmethoden für völkerrechtliche Verträge. Niedergelegt sind diese Auslegungsmethoden in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK). Die 1969 verabschiedete und 1980 in Kraft getretene WVK stellt ein Vertragswerk dar, welches teilweise bestehendes Völkergewohnheitsrecht kodifizierte und zumindest insoweit grundsätzlich auch für die Auslegung des Unionsrechts herangezogen werden kann. Maßgeblich für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind die Normen des Art. 31 und 32 WVK. Bei Art. 31 WVK handelt es sich um eine allgemeine Interpretationsregel, während Art. 32 WVK ergänzende Auslegungsmittel aufführt.
43
Zuständig für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages sind grundsätzlich die Vertragsparteien selbst. Diese können die Zuständigkeit aber auch unabhängigen Spruchkörpern übertragen. Bezüglich des Unionsvertrages ist dies durch Art. 46 EU für einige Bereiche hinsichtlich des EuGH erfolgt. Aufgrund des bereits erwähnten, auch im Unionsrecht geltenden Konsensprinzips, findet jedoch ansonsten die authentische Auslegung Anwendung (Art. 31 Abs. 3 lit. a) und b) WVK). Die Vertragsparteien können Übereinkünfte über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen treffen. Auch kann eine Interpretation durch eine spätere Übung der Vertragsparteien erfolgen.
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Geprägt ist die Auslegung völkerrechtlicher Verträge von der staatlichen Souveränität. Sämtliche die Vertragsparteien einengenden Verpflichtungen sind im Zweifel restriktiv auszulegen.78 Weiterhin ist vorrangig auf den übereinstimmenden subjektiven Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen, in dessen Rahmen sich aber auch der Effektivitätsgrundsatz entfaltet.79 Wie das Gemeinschaftsrecht ist jedoch auch das Unionsrecht auf eine dynamische Entwicklung gerichtet (vgl. Art. 1 Abs. 2, Art. 2 EU). Eine Auslegung des Unionsrechts, dominant orientiert am subjektiven Willen der Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ist vor diesem Hintergrund nicht voll umfänglich möglich, vielmehr müssen hier die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden dem Recht der Union und seinen Zielen angepaßt werden, wobei der Effektivitätsgrundsatz eine stärkere, wenngleich nicht seiner Rolle im Gemeinschaftsrecht vergleichbare Bedeutung erhält. 2.
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Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK
Aus Art. 31 WVK ergibt sich, daß grundsätzlich auch im Völkerrecht der Wortlaut einer Norm den Ausgangspunkt für jede methodische Vorgehensweise bietet. Dieser Wortlaut wird nach dem Ziel der Norm, dem Zusammenhang der Norm im gesamten Vertragswerk und ihrem Sinn (Gegenstand) und Zweck (object and purpose) interpretiert. Zum Gesamtwerk eines Vertrages gehören neben dem Vertragstext auch
78 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (3. Aufl. 2004), 1. Abschnitt, Rn. 124. 79 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), 3. Kapitel, § 11, Rn. 4, 16.
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Matthias Pechstein/Carola Drechsler
§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
die Präambel, die Anlagen und jede sich auf den Vertragstext beziehende Übereinkunft.80 a)
Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung
Hinsichtlich der Grundsätze einer Wortlautauslegung gilt im Völkerrecht nichts anderes als im Gemeinschaftsrecht. Es ist der allgemeine Sprachgebrauch zu erforschen und die Begriffe dementsprechend zu interpretieren. Für diesen allgemeinen Sprachgebrauch ist allerdings nicht der Zeitpunkt der notwendigen Interpretation entscheidend, sondern der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.81 Allein wenn der Wortlaut eindeutig und ihm eine unmißverständliche Bedeutung zu entnehmen ist, ist dieses Verständnis der Norm verbindlich.82 Im Bereich des Unionsrechts kann dieser völkerrechtliche Grundsatz des in claris non fit interpretatio aufgrund der außerordentlichen Vielfalt der unterschiedlichen verbindlichen Sprachfassungen (Art. 53 EU) und der damit oftmals fehlenden Eindeutigkeit des Wortlauts allerdings kaum Berücksichtigung finden.83 Auch besteht im Völkerrecht gemäß Art. 33 Abs. 1 WVK kein Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Vertrages, vielmehr sind alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich. b)
Systematische Auslegung
Neben der grammatikalischen Auslegungsmethode wird auch zur Interpretation völkerrechtlicher Verträge die systematische Auslegungsmethode angewandt, dies ist insbesondere bei mehrsprachigen Verträgen notwendig, um den Sinn und Zweck einer Norm zu erforschen. Die entsprechende Norm wird danach im Kontext der anderen Normen des Vertrages untersucht und in einen Zusammenhang gestellt. Aus diesem Zusammenhang wird der Sinn einer Norm deutlicher, in der Regel wird keine unabhängige, sich selbst genügende Norm in einen Vertrag aufgenommen, die Normen bauen vielmehr regelmäßig aufeinander auf. Insbesondere zur Vermeidung von Widersprüchen kann daher die systematische Auslegung hilfreich sein. c)
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Teleologische Auslegung
Neben der systematischen Auslegungsmethode, welche alle Normen eines Vertrages in einem Gesamtgefüge interpretiert, geht auch die teleologische Auslegung im Völkerrecht von den Zielen des Vertrages aus. Eine Norm ist im Zusammenhang mit dem Gesamtziel des Vertrages auszulegen. Dabei ist zu unterstellen, daß jede Norm ihren eigenen Sinngehalt hat, der für die Zielerreichung des Vertrages notwendig ist.
80 Graf Vitzthum, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht (3. Aufl. 2004), 1. Abschnitt, Rn. 123. 81 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), 3. Kapitel, § 11, Rn. 6. 82 Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, S. 58. 83 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 162. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Da grundsätzlich vom Wortlaut des Vertrages auszugehen ist, sind auch Ziel und Zweck eines Vertrages aus diesem selbst zu entnehmen.84
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Eine objektiv-teleologische Auslegung im Hinblick auf den Grundsatz des effet utile ist im Völkerrecht dagegen nur eingeschränkt möglich, nämlich soweit, wie sie die (festzustellende) subjektive Teleologie der Vertragsparteien nicht überschreitet. Eine derartige dynamische Interpretation, die auch weitgehende, bei Vertragsschluß unbedachte Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten bewirken kann, ist im Völkerrecht aufgrund der Staatensouveränität und deren gebotenem Schutz regelmäßig nicht möglich, auch wenn es insoweit Gegenbeispiele gibt.85 3.
50
Entsprechend Art. 32 WVK sind die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses ergänzende Mittel, um die sich aus der Auslegung anhand verschiedener Methoden ergebenden Bedeutungen einer Norm zu bestätigen. a)
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Historische Auslegung
Eine historische Auslegung findet demnach nur ergänzend statt. Bei multilateralen Verträgen, denen Staaten erst später beigetreten sind, sind die Entstehungsmaterialien nur dann zu berücksichtigen, wenn diese den später beitretenden Staaten vorher zugänglich gemacht wurden und von ihnen angenommen wurden.86 Die Vorarbeiten zum Vertrag von Maastricht sind zwar teilweise veröffentlicht und den Beitrittskandidaten zugänglich gemacht worden, sie sind bis jetzt vom Gerichtshof aber nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen worden. Dies könnte daran liegen, daß die Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen, also zum Abschluß der Verträge zu den Europäischen Gemeinschaften, nicht veröffentlicht wurden und daher auch nicht für eine Auslegung herangezogen werden können. Insoweit ist es möglich, daß der Gerichtshof auf eine historische Auslegung der Gründungsverträge generell verzichten möchte, zumal die historische Auslegungsmethode prinzipiell geeignet ist, den vom EuGH bislang gezeigten Willen zur Förderung der Integration durch eine teleologische Auslegung zu bremsen. b)
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Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK
Rechtsvergleichende Auslegung
Die Erkenntnis allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, soweit er nach Art. 46 EU zuständig ist, kann auch im Unionsrecht nur im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung erfolgen.87 Wie auch im Recht der Europäischen Gemeinschaften ist bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze der Europäischen Union eine
84 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), 3. Kapitel, § 11, Rn. 10. 85 Zu denken ist etwa an die Auslegung des Begriffs der „Bedrohung des Friedes“ in Art. 39 SVN durch den Sicherheitsrat, vgl. Fischer, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 15. Kapitel, § 60, Rn. 8. 86 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Kapitel, § 11, Rn. 18. 87 Streinz-Huber, Art. 220 EG Rn. 14.
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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
Orientierung an den völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen und völkerrechtlichen Methoden geboten. Hinsichtlich der zu vergleichenden Rechtsordnungen stellt sich für die Europäische Union die Frage, ob es sich ausschließlich um die Rechtsordnungen der Vertragsparteien handeln muß, oder ob auch andere repräsentative Rechtsordnungen für einen Vergleich herangezogen werden können. Für allgemeine universelle Rechtsgrundsätze mögen für den Rechtsvergleich auch repräsentative „dritte“ Rechtsordnungen herangezogen werden können, wobei der Feststellung der über die Vertragsstaaten hinausreichenden Geltung aber nur bestätigende Wirkung zukommen kann. Für die Entwicklung regionaler allgemeiner Rechtsgrundsätze sind jedoch ausschließlich die Rechtsordnungen der entsprechenden Region ausschlaggebend.88 Dies läßt sich für das Recht der Europäischen Union inzwischen auch dem EU-Vertrag selbst entnehmen, wenn Art. 6 EU für die geltenden und zu achtenden Grundrechte auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verweist. Ob die Rechtsgrundsätze allerdings allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sein müssen, oder ob es genügt, daß die Rechtsordnungen einem solchen Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen, ist strittig.89 Aufgrund des das Völkerrecht tragenden Grundsatzes der Gleichheit der Staaten wäre zu vermuten, daß ein Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen nur möglich ist, wenn die Rechtsgrundsätze in allen nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien gelten. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungsdichte in den einzelnen Rechtsordnungen kann aber wohl davon ausgegangen werden, daß es ausreicht, wenn über die Geltung in mehreren Rechtsordnungen hinaus die anderen Rechtsordnungen dem entsprechenden Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluß nicht, daß innerstaatliche Rechtsvorschriften den Inhalt und die Bedeutung der Normen des EU-Vertrages bestimmen können. Vielmehr trägt die Rechtsvergleichung nur dazu bei, den Sinngehalt entlehnter Rechtsbegriffe zu ergründen.90 4.
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Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander
Ähnlich wie im Gemeinschaftsrecht besteht auch im Unionsrecht kein Rangverhältnis zwischen den anzuwendenden Auslegungsmethoden. Weder der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch der WVK kann eine Entscheidung für den Vorrang der einen oder der anderen Auslegungsmethode entnommen werden. Es gelten einzig die bereits erwähnten Besonderheiten im Völkerrecht, wonach in erster Linie der subjektive Wille der Vertragsparteien zu erkunden ist. Die Anwendung der Auslegungsmethoden richtet sich nach diesem Grundsatz.
88 Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bleckmann (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105, 107. 89 Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Bleckmann (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 105, 107. 90 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EG Rn. 48. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
VI. Rechtsfortbildung 55
Führen die klassischen Auslegungsmethoden zu absurden91 oder willkürlichen92 Auslegungsergebnissen, so lehnt der Gerichtshof diese ab. Um zu einem vertretbaren Ergebnis zu kommen, unternimmt er in solchen Fällen oft eine Rechtsfortbildung. Eine solche richterliche Rechtsfortbildung stellt einerseits grundsätzlich ein aliud zur Auslegung dar, da es sich dabei um eine Fortbildung des geltenden Rechts handelt und gerade nicht um eine Auslegungsmethode, denn die Grenzen der Auslegung sind in diesen Fällen überschritten.93 Andererseits fällt gerade im primären Gemeinschaftsrecht mit einer sehr „ausdehnenden, teleologischen und am effet utile orientierten Auslegung“ 94 von oftmals tatbestandlich wenig konturierten Normen eine Abgrenzung zwischen teleologischer Auslegung und Rechtsfortbildung schwer. Auch die rechtsvergleichende Auslegung, welche insbesondere aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Rechtssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten im Europarecht Anwendung findet, geht teilweise in eine richterliche Rechtsfortbildung über. Voraussetzung für eine Rechtsfortbildung ist – wie bei der Analogie – eine planwidrige Regelungslücke, besteht diese, muß die Rechtsfortbildung zusätzlich durch besondere Funktionserfordernisse gerechtfertigt sein.95
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Für die Gemeinschaftsverträge, aber auch für die Ergänzungsverträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza ist anerkannt, daß sie so rudimentär und ausfüllungsbedürftig angelegt waren, daß ein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung und dynamischen Entwicklung von Anfang an bestand.96 Das Recht auf eine richterliche Rechtsfortbildung entnimmt der Gerichtshof der Formulierung des Art. 220 EG, wonach er selbst „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages“ sichern soll.97 Insoweit ist er nicht nur auf die Anwendung des Vertrages festgelegt, sondern auch auf das Recht selbst, wobei jegliche Erkenntnisquelle berücksichtigt werden kann und soll. Diese Interpretation unterstützt auch das Bundesverfassungsgericht. In seinem Maastricht-Urteil zieht es für eine mögliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofes Grenzen, welche auch den nationalen Verfassungsgerichten gesetzt werden.98 Danach müssen die Ermächtigungen hinreichend bestimmbar und das rechtsverbindliche Tätigwerden der Gemeinschaft vorhersehbar sein.99
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Die wohl wichtigsten Entscheidungen, welche von einer Fortbildung des Gemeinschaftsrechts getragen werden, hat der Gerichtshof in den Bereichen Grundfreiheiten, Grundrechte und dem gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch der Bürger
91 EuGH v. 13.2.1980 – Rs. 77/79 Damas ./. FORMA, Slg. 1980, 247 Rn. 10. 92 EuGH v. 14.7.1977 – Rs. 1/77 Bosch GmbH ./. Hauptzollamt Hildesheim, Slg. 1977, 1473 Rn. 4. 93 Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 50. 94 Everling, JZ 2000, 217, 218. 95 Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 96 Everling, JZ 2000, 217, 220. 97 Everling, JZ 2000, 217, 221. 98 BVerfGE 89, 155, 209. 99 BVerfGE 89, 155, 187.
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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
bei Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten getroffen. Diese Entscheidungen sind wegweisend für eine dynamische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gewesen und stellen heute anerkannte Grundpfeiler des Europarechts dar. Im Bereich der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof sehr früh anerkannt, daß die Normen über ihren eigentlichen Wortlaut hinaus interpretiert werden müssen, um den steigenden Anforderungen an den Binnenmarkt gerecht werden zu können.100 Der Gerichtshof verstand und interpretierte die Grundfreiheiten zunächst weitgehend als Diskriminierungsverbote im Sinne des auch im völkerrechtlichen Fremdenrecht bekannten Inländergleichbehandlungsgrundsatzes. Mit zunehmendem Handel und zunehmenden staatlichen Abgrenzungstendenzen sowie protektionistischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten mußte der Gerichtshof seine Interpretation verstärkt an den Zielen des Vertrags ausrichten. Dabei wendet er zwar auch die teleologische und systematische Auslegungsmethode an, gegen den z.T. eindeutigen Wortlaut konnten sie aber keine neuen Erkenntnisse bringen. Insoweit war der Gerichtshof im Sinne des Vertrages und seiner Ziele zu einer Rechtsfortbildung angehalten. Die Grundfreiheiten wurden daher verstärkt auch als Beschränkungsverbote interpretiert.101 Allein diese Interpretation wird den heutigen Anforderungen an einen gemeinsamen Binnenmarkt gerecht. Auch ist keiner der Mitgliedstaaten gegen diese Interpretation vorgegangen oder hat gar eine Vertragsänderung in diesem Bereich in den auf die Urteile folgenden Vertragsrevisionen gefordert. Ein Widerspruch dieser Interpretation zu dem Willen der Vertragsparteien läßt sich daher nicht feststellen.
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Eine ähnliche Entwicklung läßt sich beim Grundrechtsschutz beobachten. Enumerativ aufgezählte Grundrechte enthalten die Gemeinschaftsverträge und der Unionsvertrag nicht. Gleichwohl hat der EuGH eine Vielzahl von Grundrechten auf der Grundlage allgemeiner Rechtsgrundsätze, orientiert an der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, anerkannt und deren Inhalt selbständig entwickelt.102 Dies hat später Art. 6 Abs. 2 EU anerkannt und aufgenommen. Diese Grundrechte sind inzwischen in der Grundrechtscharta festgeschrieben worden, auch wenn diese noch keine Bindungswirkung hat und allenfalls bei Inkrafttreten des Verfassungsvertrags Rechtswirkung erlangen wird. Insofern hat die richterliche Rechtsfortbildung der Kodifizierung vorgearbeitet und diese geprägt.
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Anders als bei den Grundfreiheiten und den Grundrechten, welche in den Verträgen zumindest aufgeführt werden und vom Gerichtshof nur ausgefüllt wurden, hat er im Staatshaftungsrecht Rechtsfortbildung ohne eine textuelle Grundlage im Vertrag betrieben. Für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Gemeinschaftsrecht, soweit diese Verstöße Rechte von Bürgern betreffen, enthält der EG-Vertrag keinen Schadens-
60
100 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 837 Rn. 5. 101 EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 26; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, 5483 Rn. 17 (Daily Mail). 102 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder ./. Stadt Ulm, Slg. 1969, 419 Rn. 3, 4; EuGH v. 21.9.1989 – Rs. 46/87 u. 227/88 Hoechst AG ./. Kommission, Slg. 1989, 2859 Rn. 13; EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 Rn. 23. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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2. Teil: Allgemeiner Teil
ersatzanspruch. Aus dem Sinn und Zweck des Vertrages, dem anerkannten Vorrang des Gemeinschaftsrechts und dem Grundsatz des effet utile, hat der EuGH gefolgert, daß auch ein gemeinschaftsrechtlicher Schadensersatzanspruch besteht.103 Dieser wurde im Laufe der Zeit nicht nur für legislatives Unrecht anerkannt, sondern gilt inzwischen selbst für judikatives Unrecht.104
VII. Ausblick 61
Mit dem möglichen, zur Zeit jedoch sehr fraglichen Inkrafttreten des Vertrags über eine Verfassung für Europa105 würden sich die rechtlichen Unterschiede zwischen dem Unions- und Gemeinschaftsrecht so weitgehend ändern, daß insoweit eine kurze Darstellung notwendig erscheint. Die Europäische Union wird dem Verfassungsvertrag zufolge eine einheitliche Organisation mit einheitlichen Organen und Rechtspersönlichkeit unter Übernahme der Kompetenzen der EG sowie der Mitgliedstaaten in der dritten Säule sein. Dies wird dazu führen, daß eine Unterteilung in supranationale und intergouvernementale Bereiche – abgesehen von dem problematischen Stand der GASP und der Nichtaufnahme der EAG – grundsätzlich nicht mehr geboten ist. Dies hat auch Auswirkungen auf die Vorrangregelung, dem Unionsrecht wird umfassend Vorrang vor dem nationalen Recht eingeräumt (Art. I-10 I Verfassungsvertrag). Dabei kann diese Bestimmung jedoch allein nicht die aus den nationalen Verfassungen folgenden Grenzen eines Anwendungsvorrangs des neuen Unionsrechts beseitigen. Auch die Zuständigkeit des Gerichtshofes wird auf fast alle Bereiche des bisherigen Unionsrechts ausgeweitet (Art. I-28, III-258 ff. Verfassungsvertrag).106
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Für die weitere Entwicklung der Auslegung hat der Verfassungsvertrag insoweit Konsequenzen, als er eine neue Struktur für das Unions- und Gemeinschaftsrecht aufweist. So wird das bis jetzt nicht konsequent durchgehaltene System von Regel und Ausnahme wesentlich verbessert und den jeweiligen Titeln werden allgemeine Normen, welche für den gesamten Titel gelten sollen, vorangestellt. Diese neue Systematik des Vertrages kann dem Gerichtshof bei einer systematischen Auslegung des Unions- und Gemeinschaftsrechts hilfreich sein.
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Weiterhin ist in den letzten Jahren der EuGH in seiner Rechtsprechung dazu übergegangen vermehrt auf seine eigene Rechtsprechung zu verweisen.107 Es ist davon auszugehen, daß dieser Trend anhält. Mit der Verweisung auf seine frühere Rechtsprechung ersetzt der EuGH den klassischen Auslegungskanon. Damit erreicht der 103 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 31–36; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 28 f. 104 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler ./. Republik Österreich, Slg. 2003, I-10239 Rn. 51– 55. 105 Europäischer Konvent, Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, ABl. EG 2003, Nr. C 169, S. 1 ff. 106 Im Bereich der GASP bleibt jedoch eine Beschränkung bestehen, Art. III-282 Verfassung. 107 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 134.
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§ 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
Gerichtshof eine Arbeitsersparnis und eine kontinuierliche Rechtsfortbildung. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen nicht in jedem Verfahren neu entwickelt und definiert werden, sondern können mit den Verweisungen ohne neuerliche Begründungen übernommen werden.108 Die Verweisung auf die eigene Rechtsprechung beinhaltet den Vorteil, daß eine nachträgliche Kontrolle der eigenen Rechtsprechung erfolgt, aber auch eine Weiterentwicklung dieser. Im Ergebnis kann dies einer einheitlichen Rechtsordnung dienen.
VIII. Zusammenfassung Die vom Gerichtshof angewandten Auslegungsmethoden orientieren sich an den nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätzen. Aufgrund der „Eigenständigkeit“ der Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts werden diese Methoden der EG-Rechtsordnung jedoch angepaßt, so daß die unbesehene Übertragung der nationalen Methoden und der völkerrechtlichen Methode nicht möglich ist. Vielmehr haben einige Auslegungsmethoden aufgrund der Struktur der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer vertraglich angelegten spezifischen Integrationsdynamik keine Bedeutung, wie insbesondere die historische Auslegung. Andere Methoden, wie die teleologische Auslegung, haben im Gemeinschaftsrecht dagegen eine viel gewichtigere Bedeutung als im nationalen Recht. Dabei wendet der Gerichtshof nicht nur eine einzelne Auslegungsmethode an, sondern kombiniert verschiedene Methoden, wobei Ausgangspunkt in allen Fällen der Wortlaut der Norm in allen verbindlichen Sprachfassungen ist. Die angewandten Auslegungsmethoden dienen im Ergebnis der Einheitlichkeit der Anwendung und der Effektivität des Gemeinschaftsrechts.
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Hinsichtlich des Unionsrechts ist zu beachten, daß es eine deutlich stärker völkerrechtlich geprägte Rechtsnatur hat und dementsprechend den völkerrechtlichen Auslegungsregelungen, wie sie sich aus der Wiener Vertragsrechtskonvention ergeben, eine größere Bedeutung zukommt. Im Unionsrecht kommt es daher zunächst auf den subjektiven Willen der Vertragsparteien beim Vertragsschluß an. Da aber auch das Unionsrecht von einer eigenen Dynamik getragen ist, findet dieser Grundsatz wiederum nur eingeschränkt Anwendung und es ist ergänzend auf die systematische und teleologische Auslegung zurückzugreifen, wobei insbesondere die letztere im Völkerrecht ansonsten nur eine sehr geringe Bedeutung hat.
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Neben der Auslegung der Normen bildet der Gerichtshof, anders als die nationalen und internationalen Gerichte, verstärkt das Gemeinschaftsrecht fort. Dabei handelt es sich um eine über die Auslegung hinausgehende Rechtsinterpretation. Trotz der umstrittenen Bedeutung der Rechtsfortbildung kann davon ausgegangen werden, daß die vom Gerichtshof betriebene richterliche Rechtsfortbildung von den Verfassern der Verträge grundsätzlich gewollt war – zumindest in ihrer Gesamtheit nachträglich gebilligt wird – und die Dynamik des Gemeinschafts- und Unionsrechts mit trägt.
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108 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 42, 43. Matthias Pechstein/Carola Drechsler
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung Stefan Leible/Ronny Domröse
Übersicht I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung . . . . . II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Gemeinschaftsrecht . . . . . . . b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheitenund grundrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung . . cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung . . . . . (1) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts und die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . III. Die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . 1. Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Gemeinschaftsrecht . . . . . . b) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts
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Rn. 3–6 7–37 8–19 8 9 10 11 12 13 14–19 20–26 21 22–26
27–28 29–30 31–37 32–35 36–37
.
38–59
. .
39–41 39
.
40–41 42–49
Stefan Leible/Ronny Domröse
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? . . . . . . . . . . . . c) Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre . 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationales Recht des forum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Das primäre Gemeinschaftsrecht als Gegenstand der Konformauslegung? 1. Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . 3. National-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts . . . . . . . . . .
43–44 45 46–49 50–51 52–54 52 53–54 55–59 55–56 57–59 60–68 61–65 66 67–68
Literatur: Anweiler, Jochen, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997; Buck, Carsten, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1998; Ehricke, Ulrich, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts – Ein Beitrag zu ihren Grundlagen und zu ihrer Bedeutung für die Verwirklichung eines „europäischen Privatrechts“, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Metallinos, Alexander S., Die europarechtskonforme Auslegung, Münster/Hamburg 1994; Nettesheim, Martin, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 119 (1994), 261–293; Rüffler, Friedrich, Aspekte primärrechtskonformer und sekundärrechtskonformer Auslegung nationalen Lauterkeitsrechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, Baden-Baden 1999, S. 97–112; Zuleeg, Manfred, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, Baden-Baden 1999, S. 163–177. Rechtsprechung: EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477; EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223; EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof (noch nicht in Slg.).
Eine häufig praktizierte, in der juristischen Methodenlehre aber wenig beachtete Auslegungsmethode ist die primärrechtskonforme Auslegung. Dem deutschen Juristen ist sie strukturell nicht unbekannt, da sie an die verfassungskonforme Auslegung erinnert und wie diese eine Erscheinungsform einer allgemeinen hermeneutischen Regel ist, nach der rangniedere Normen im Einklang mit ranghöheren Normen Stefan Leible/Ronny Domröse
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1
2. Teil: Allgemeiner Teil
auszulegen sind.1 Da der EuGH den EG-Vertrag als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft qualifiziert,2 kann man in der Tat anstatt von primärrechtskonformer auch von (europa-) verfassungskonformer Auslegung sprechen.3
2
Bisweilen wird sogar angenommen, die Prinzipien der verfassungskonformen Auslegung ließen sich auf das Europarecht übertragen.4 Das geht freilich zu weit, da für beide Auslegungsmethoden teilweise unterschiedliche Regeln gelten. Der primärrechtskonformen Auslegung sind beispielsweise andere Grenzen gesetzt als der verfassungskonformen Auslegung (vgl. Rn. 55 ff.). Einige Gemeinsamkeiten lassen sich allerdings nicht leugnen.
I.
Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung
3
Gemeinsam ist beiden Auslegungsmethoden vor allem ihre Funktion. Ebenso wie der verfassungskonformen Auslegung 5 kommt der primärrechtskonformen Auslegung die Aufgabe zu, einen Normenkonflikt zwischen höherrangigem und niederrangigem Recht dergestalt aufzulösen, daß das niederrangige Recht nicht zu verwerfen ist. Grundsätzlich sind Widersprüche zwischen gemeinschaftsrechtlichen Normen unterschiedlichen Rangs durch Nichtig- bzw. Ungültigerklärung der niederrangigen Norm zu beseitigen, für die der Gerichtshof zuständig ist (Art. 230, 231 Abs. 1 EG bzw. Art. 234 Abs. 1 lit. b EG). Der Sache nach nichts anderes gilt für Widersprüche zwischen Normen des Gemeinschaftsrechts und des mitgliedstaatlichen Rechts. Die mitgliedstaatliche Norm, die gegen Gemeinschaftsrecht verstößt, ist zwar nicht nichtig, doch die innerstaatlichen Gerichte dürfen diese Norm nicht mehr anwenden (vgl. Rn. 58). Die primärrechtskonforme Auslegung erhält indessen die Geltung der Norm, die an und für sich im Widerspruch zum primären Gemeinschaftsrecht steht. Die Norm wird so interpretiert, daß sie mit den Geboten des primären Gemeinschaftsrechts vereinbar ist und deshalb nicht zu verwerfen ist. Die primärrechtskonforme Auslegung dient also der Normerhaltung. Diese Funktion unterscheidet die primärrechtskonforme Auslegung von den übrigen Auslegungskanones.
4
Ausgehend von ihrer Funktion ist der Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu bestimmen. Von primärrechtskonformer Auslegung sollte man immer nur dann sprechen, wenn eine primärrechtswidrige Auslegung möglich ist und es um die Entscheidung zwischen dieser und einer primärrechtskonformen Auslegungsvariante geht.6 Dieses Begriffsverständnis schließt nicht aus, daß man sich schon im 1 Vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung (1986), S. 20; s.a. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 82. 2 Vgl. z.B. EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 Les Verts, Slg. 1986, 1339 Rn. 23. 3 So z.B. BAGE 71, 56, 65; GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 OMEGA, Slg. 2004, I-9609 Tz. 57; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182. 4 So Engisch, Einführung in das juristische Denken (9. Aufl. 1997), S. 102 f. Fn. 50. 5 Vgl. z.B. Canaris, FS Kramer (2004), S. 148 ff.; Lüdemann, JuS 2005, 27, 28 f. 6 Zutreffend Canaris, FS Kramer (2004), S. 154 (für die verfassungskonforme Auslegung).
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Stefan Leible/Ronny Domröse
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
Auslegungsprozeß – im Rahmen der systematischen und teleologischen Interpretation – an den primärrechtlichen Geboten orientiert und primärrechtswidrige Auslegungsvarianten ausschließt, und nicht erst das Auslegungsergebnis am Maßstab des Primärrechts mißt. Verzichten sollte man auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung hingegen, wenn die auszulegende Norm nicht in den Anwendungsbereich des Primärrechts fällt (näher dazu Rn. 40 ff.). Den Maßstab der primärrechtskonformen Auslegung bildet das primäre Gemeinschaftsrecht. Nach dem Bezugspunkt im primären Gemeinschaftsrecht (Rn. 8, 39) können als Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung insbesondere die grundfreiheiten-, die (gemeinschafts-)grundrechts- und die rechtsgrundsatzkonforme Auslegung unterschieden werden. Nach der Provenienz der auszulegenden Norm kann man zwischen der primärrechtskonformen Auslegung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht und der primärrechtskonformen Auslegung von nationalem Recht differenzieren.7 Diese Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf die Grundlage und die Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutsam. Sie wird deshalb im Folgenden zugrunde gelegt.
5
Vom Begriff der primärrechtskonformen Auslegung erfaßt ist auch die Interpretation, die am primären Unionsrecht Maß nimmt. Erst kürzlich hat der EuGH entschieden, daß Rahmenbeschlüsse der EU (Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU) grundrechtskonform und die sie umsetzenden nationalen Regelungen rahmenbeschlußkonform auszulegen sind.8 Dieses Postulat, das man auf die übrigen Handlungsformen des sekundären Unionsrechts mutatis mutandis übertragen können wird, ist allerdings unmittelbar nur für die Auslegung strafrechtlicher Normen von Bedeutung. Denn das sekundäre Unionsrecht der dritten Säule dient der Angleichung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen in bestimmten Bereichen (Art. 29, 31 Abs. 1 lit. e EU). Zudem enthält der EU-Vertrag keine privatrechtsrelevanten Vorgaben, die bei der Auslegung des nationalen (Privat-)Rechts unmittelbar zu berücksichtigen wären. Die unionsprimärrechtskonforme Auslegung wird hier deshalb nicht erörtert.
6
II.
Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts ist eine Auslegungsregel, die ganz allgemein besagt, daß die Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts – z.B. einer Richtlinie –, die mit den Vorgaben des höherrangigen Primärrechts in Einklang steht, der Auslegung vorzuziehen ist, bei der die Vorschrift als mit dem Primärrecht unvereinbar eingestuft werden müßte.9 Diese Auslegungs7 Zur primärrechtskonformen Auslegung von Übereinkünften iSv Art. 307 EG vgl. EuGH v. 18.11.2003 – Rs. C-216/01 Budeˇjovicky´ Budvar, Slg. 2003, I-13617 Rn. 168–170. 8 EuGH v. 16.5.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 43 ff., 59. 9 Vgl. z.B. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn.13 ff.; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. 314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17. Stefan Leible/Ronny Domröse
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7
2. Teil: Allgemeiner Teil
regel hat der Gerichtshof jüngst im Urteil Werhof aus dem Grundsatz der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung abgeleitet.10 Zuvor hatte er diese Regel – anders als für das nationale Recht (Rn. 38) – nicht ausdrücklich anerkannt, ist aber in der Sache danach verfahren.11
8
1.
Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
a)
Die möglichen Bezugspunkte im primären Gemeinschaftsrecht
Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung im EG-Vertrag sind vor allem die Grundfreiheiten.12 Aber auch alle anderen Regelungen, wie z.B. Art. 10 EG,13 die Kompetenzgrundlagen 14 oder das Wettbewerbsrecht (Art. 81 ff. EG),15 können als primärrechtlicher Auslegungsmaßstab heranzuziehen sein. Außerdem ist das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen,16 zu denen insbesondere die Gemeinschaftsgrundrechte 17 zählen, und den primärrechtlichen Prinzipien auszulegen. Der EuGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob es mit Art. 3 Abs. 1 Betriebsübergangsrichtlinie 18 (BÜRL) vereinbar ist, wenn der nicht tarifgebundene Betriebserwerber an eine Vereinbarung zwischen dem tarifgebundenen Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer, nach der die jeweiligen Lohntarifverträge, an die der Betriebsveräußerer gebunden ist, Anwendung finden, in der Weise gebunden ist, daß der zur Zeit des Betriebsübergangs gültige Lohntarifvertrag Anwendung findet, nicht aber später in Kraft tretende Lohntarifverträge. Der Gerichtshof hat die Frage bejaht.19 Er stützt sich auf eine
10 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.) Rn. 32; näher dazu Rn. 20 ff. 11 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477 Rn. 21; EuGH v. 4.12. 1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn.17; EuGH v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 Neu, Slg. 1991, Slg. I-3617 Rn. 12; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9; EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, I-1651 Rn. 37; EuGH v. 5.6.1997 – Rs. C-105/94 Celestini, Slg. 1997, I-2971 Rn. 32. 12 Vgl. z.B. EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. 47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-352/95 Phytheron International, Slg. 1997, I-1729 Rn. 18. 13 EuG v. 18.9.1996 – Rs. T-353/94 Postbank ./. Kommission, Slg. 1996, II-921 Rn. 63. 14 Vgl. Rn. 35. 15 Etwa EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, 1651 Rn. 36–39. 16 Vgl. z.B. EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9 (Grundsatz des Vertrauensschutzes); EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, Slg. 2004, I-3219 Rn. 30 (Grundsatz der Rechtssicherheit). 17 Vgl. z.B. EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst, Slg. 1989, 2859 Rn. 12. 18 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 Nr. L 61/26. 19 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.) Rn. 31–37.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung primärrechtskonforme Auslegung von Art. 3 Abs. 1 BÜRL am Maßstab der negativen Vereinigungsfreiheit, die das Recht umfaßt, einer Gewerkschaft nicht beizutreten. Die Auslegung, die eine Bindung des Betriebserwerbers an künftige Kollektivverträge, denen er nicht angehöre, erlaube, könne sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigen. Die Bindung des Erwerbers hätte Folgen, die denen von Verträgen zu Lasten Dritter gleichkämen.20 Dementsprechend hat der Gerichtshof Art. 3 Abs. 1 BÜRL dahin ausgelegt, daß der Betriebserwerber nicht an künftige Kollektivverträge gebunden ist. So wird sein Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit umfassend gewährleistet.
b)
Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grundrechtskonforme Auslegung
Nicht immer orientiert der Gerichtshof die Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts am richtigen Bezugspunkt im Primärrecht. Das läßt sich am Beispiel der grundfreiheiten- und grundrechtskonformen Auslegung verdeutlichen. aa)
9
Bindung der Gemeinschaft an die Grundfreiheiten
Ziel der Grundfreiheiten ist die Beseitigung sämtlicher Hemmnisse, die den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Gemeinschaft behindern. Beschränkende Maßnahmen sind verboten, soweit sie nicht ausnahmsweise gerechtfertigt werden können. Regelungsadressaten dieses Verbots sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, nach verbreiteter, wenn auch unzutreffender Auffassung weiterhin Private.21 Darüber hinaus wird aber auch die Gemeinschaft durch die Grundfreiheiten gebunden.22 Denn nach Art. 3 Abs. 1 lit. c EG umfaßt ihre Tätigkeit „einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist“. Das nimmt sie in die Pflicht: 23 Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Gemeinschaft und ihre Organe haben den Freiheitsgehalt der Grundfreiheiten zu beachten.24 Diese Bindung spiegelt sich auch in
20 Vgl. GA Colomer, Schlußanträge v. 15.11.2005 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.) Tz. 52. 21 Vgl. zur Drittwirkung der Grundfreiheiten z.B. Canaris, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten; Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997); Remmert, Jura 2003, 13; W.-H. Roth, FS Everling (1995), Bd. II, S. 1231; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6. 22 Ausführlich dazu Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten (1995); Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers (1997). Aktueller knapper Überblick über den Meinungsstand bei Leible, ZGR 2004, 531, 539 ff. 23 Streinz-Streinz, Art. 3 EGV Rn. 10. 24 Vgl. z.B. EuGH v. 20.4.1978 – verb. Rs. 80 und 81/77 Commissionaires Réunies, Slg. 1978, 927 Rn. 35/36; EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13; EuGH v. 17.5.1984 – Rs. 15/83 Denkavit Nederland, Slg. 1984, 2171 Rn. 15; EuGH v. 9.8. 1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, Slg. 1994, I-3879 Rn. 11; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 36; EuGH v. 25.6.1997 – Rs. C-114/96 Kieffer und Thill, Slg. 1997, I-3629 Rn. 27; EuGH v. 14.7.1998 – Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
der primärrechtskonformen Auslegung potentiell freiheitsbeschränkender Maßnahmen der Gemeinschaft wider. bb)
11
Zahlreiche rechtsangleichende Akte des sekundären Gemeinschaftsrechts führen zu keiner abschließenden Harmonisierung, sondern schaffen lediglich Mindeststandards und gestatten den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Festhalten an oder die Einführung von neuen strengeren Standards (Mindestharmonisierung) 25. Derartige Ermächtigungsklauseln können nicht dahin ausgelegt werden, daß sie es den Mitgliedstaaten gestatten, Bedingungen vorzuschreiben, die den Bestimmungen des EGVertrages über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr zuwiderlaufen.26 Solche Ermächtigungsklauseln sind also stets primärrechtskonform dahin auszulegen, daß sie den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnen, Regelungen beizubehalten oder neu zu erlassen, die mit den Grundfreiheiten vereinbar sind. cc)
12
Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung
Der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung ist aber und selbstverständlich auch bei der Interpretation von Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts zu beachten, die den Mitgliedstaaten jeglichen Erlaß von Regelungen, die von den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben abweichen, verwehren, also zu einer Totalharmonisierung geführt haben.27 (1)
13
Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung
Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen
Eine Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die gemeinschaftliche Regelung überhaupt zu ihrer Beschränkung geeignet ist. Denn die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung reicht nur so weit, wie es überhaupt zu Konfliktsituationen kommen kann. Das ist aber bei diskriminierungsfreien Gemeinschaftsregelungen meist nicht der Fall. Scheidet z.B. eine Warenverkehrsbehinderung aufgrund der Beseitigung der Rechtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aus, ist die Gemeinschaftsregelung aus sich heraus und ohne Rückgriff auf die Art. 28 ff. EG auszulegen.28 Es besteht dann überhaupt kein Bedürfnis
25 26 27 28
Rs. C-284/95 Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I-4301 Rn. 63; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-341/95 Bettati, Slg. 1998, I-4355 Rn. 61; EuGH v. 13.9.2001 – Rs. C-169/99 Schwarzkopf, Slg. 2001, I-5901 Rn. 37; EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451 Rn. 47. Vgl. dazu Streinz-Leible, Art. 95 EGV Rn. 42 ff.; ausführlich Conrad, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2004); Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2001). EuGH v. 20.3.1990 – Rs. 21/88 Du Pont de Nemours Italiana, Slg. 1990, I-889 Rn. 17; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize Frères, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26. Zur Totalharmonisierung Streinz-Leible, Art. 95 EGV Rn. 29ff. Das übersieht – in anderem Zusammenhang – etwa EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451 Rn. 49.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
für eine grundfreiheitenkonforme Auslegung, da die Grundfreiheiten nur die Freiheit grenzüberschreitenden Wirtschaftens, nicht aber eine allgemeine Handlungsfreiheit garantieren sollen.29 (2)
Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung
Gleichwohl hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Gut Springenheide bei der Auslegung einer EG-Verordnung das zu Art. 28 ff. EG entwickelte Leitbild eines verständigen Verbrauchers ohne weitere Reflektion auf das Sekundärrecht übertragen, d.h. ohne näher zu prüfen, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber mit der in Frage stehenden Verordnung und der in ihr enthaltenen Vorschriften zum Täuschungsschutz nicht vielleicht einen über den verständigen Verbraucher hinausgehenden Schutz auch des flüchtigen Verbrauchers anstrebte.30 Ebenso ist er in der jüngst ergangenen Entscheidung Linhart und Biffl verfahren.31 Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde:
14
Gottfried Linhart, Geschäftsführer der österreichischen Colgate Palmolive GmbH, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien vom 22. Februar 1999 einer Verwaltungsübertretung schuldig erkannt, weil er es zu verantworten habe, daß diese Firma das kosmetische Mittel „Palmolive flüssige Seife Prima Antibakteriell“ mit der Angabe „Dermatologisch getestet“ auf der Verpackung in den Verkehr gebracht habe. Das verstieß gegen § 9 Abs. 1 lit. a öLMG. Danach ist es verboten, beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln, Verzehrprodukten oder Zusatzstoffen sich auf die Verhütung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Krankheitssymptomen oder auf physiologische oder pharmakologische, insbesondere jungerhaltende, Alterserscheinungen hemmende, schlankmachende oder gesunderhaltende Wirkungen zu beziehen oder den Eindruck einer derartigen Wirkung zu erwecken. Nach Auffassung von Herrn Linhart ist eine Auslegung des österreichischen Rechts, die zu einem Verbot der Verwendung der Bezeichnung „dermatologisch getestet“ führt, mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere den Vorgaben der Kosmetikrichtlinie,32 nicht vereinbar.
Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, daß bei der Etikettierung, der Aufmachung für den Verkauf und der Werbung für kosmetische Mittel nicht Texte, Bezeichnungen, Warenzeichen, Abbildungen und andere bildhafte oder nicht bildhafte Zeichen verwendet werden, die Merkmale vortäuschen, die die betreffenden Erzeugnisse nicht besitzen. Der EuGH betont zunächst, daß die Kosmetikrichtlinie zu einer abschließenden Harmonisierung der nationalen Bestimmungen über die Verpackung und Etikettierung kosmetischer Mittel herbeigeführt hat.33 Daher sind alle nationalen 29 Ausführlich zur Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten jüngst Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte (2004). 30 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657; kritisch dazu Leible, EuZW 1998, 528; Rüffler, WBl. 1998, 381, 383; ders., in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 97 ff. 31 EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart und Biffl, Slg. 2002, I-9375. 32 Richtlinie 76/768/EWG des Rates v. 27.7.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel, ABl. 1976 Nr. L 262/169; aktuelle Fassung in Winkel (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (Loseblatt, Stand Febr. 2006), Nr. 160. 33 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 24; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 23. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Maßnahmen in einem Bereich, für den auf Gemeinschaftsebene eine harmonisierte Regelung geschaffen worden ist, anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand der Art. 28 und 30 EG zu beurteilen.34 Entscheidend ist folglich die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie.
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Wer nun allerdings erwartet hätte, daß der EuGH infolgedessen Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie aus sich heraus auslegt, wird freilich enttäuscht. Der EuGH führt stattdessen weiter aus, daß Art. 30 EG den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, Beschränkungen des freien Warenverkehrs aufrechtzuerhalten, doch die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen ist, wenn Richtlinien der Gemeinschaft die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des konkreten Zieles, das mit dem Rückgriff auf Art. 30 EG erreicht werden soll, erforderlich sind.35 Ungeachtet dessen müßten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie den Art. 30 EG immanenten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.36 Unter Zugrundelegung dieser Prämisse hält der Gerichtshof das von ihm im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelte Leitbild des verständigen Verbrauchers auch für die Auslegung des Irreführungsbegriffs der Kosmetikrichtlinie für maßgeblich und gelangt daher zum Ergebnis, daß eine Irreführungsgefahr nicht besteht; denn die Angabe „dermatologisch getestet“ auf der Verpackung bestimmter kosmetischer Mittel wecke bei einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher allenfalls die Vorstellung, daß das Mittel einem Test zur Ermittlung seiner Auswirkungen auf die Haut unterzogen wurde, schreibe ihm aber keinesfalls Eigenschaften zu, die es nicht besitzt.
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Das kann jedoch nur im Ergebnis, nicht aber dogmatisch überzeugen. Wenn die Kosmetikrichtlinie, was außer Zweifel steht, zu einer abschließenden Harmonisierung geführt hat, sind Beschränkungen des freien Warenverkehrs nicht zu befürchten, sofern ihre Regelungen diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen.
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Hielte man bei der Auslegung von sekundärrechtlichen Vorschriften des Täuschungsschutzes wie Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie statt des im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelten Leitbilds des verständigen Verbrauchers das eines flüchtigen und unaufmerksamen Konsumenten für maßgeblich, weil etwa der Erwerber kosmetischer Mittel besonders schutzbedürftig ist, wäre damit eine Beschränkung der Grundfreiheiten nicht verbunden; denn gemeinschaftsweit würde der gleiche strenge Maßstab gelten. Das Inverkehrbringen mit „dermatologisch getestet“ bezeichneter Kosmetika wäre gemeinschaftsweit untersagt. Aufgabe der Grundfreiheiten ist aber nicht die
34 EuGH v. 23.11.1989 – Rs. 150/88 Parfümerie-Fabrik 4711, Slg. 1989, 3891 Rn. 28; EuGH v. 12.9.1993 – Rs. C-37/92 Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I-4947 Rn. 9; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99 DaimlerChrysler, Slg. 2001, I-9897 Rn. 32. 35 EuGH v. 19.3.1998 – Rs. C-1/96 Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251 Rn. 47; EuGH v. 25.3.1999 – Rs. C-112/97 Kommission ./. Italien, Slg. 1999, I-1821 Rn. 54. 36 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 27, EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 26.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
Beseitigung jeglicher Begrenzungen wirtschaftlicher Freiheit.37 Gesichert werden soll lediglich der Marktzutritt von Produkten, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht worden sind.38 Welche Waren und Wirtschaftsleistungen im europäischen Binnenmarkt überhaupt zulässig sind oder zulässigerweise verboten werden dürfen, ist eine den Verkehrsfreiheiten vorgelagerte Problematik. Sie muß daher im Rahmen einer „grundfreiheitenkonformen Auslegung“ außer Betracht bleiben. Folglich überzeugt es auch nicht, unter Hinweis auf eine mögliche unterschiedliche Handhabung des an sich einheitlichen Irreführungstatbestands Art. 28 ff. EG immerhin eine Maßstabsfunktion zuzuerkennen.39 Im Ergebnis ist den Ausführungen des EuGH gleichwohl zuzustimmen. Allerdings ist die Maßgeblichkeit des Leitbilds des verständigen Verbrauchers nicht die Folge einer Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie im Lichte der Grundfreiheiten, sondern im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte.40 Im Raume steht bei Etikettierungsvorschriften u.a. eine Verletzung des auch gemeinschaftsrechtlich garantierten Grundrechts der Berufsfreiheit,41 das die umfassende Gewährleistung der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit enthält.42 Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich sind u.a. nur dann zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind.43 Verhältnismäßig i.d.S. kann mangels besonders schutzbedürftiger Gruppen ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Produzenten und Vertreiber von Kosmetika aber nur sein, wenn er bei der Zulässigkeit des Verbots der Verwendung einer Bezeichnung auf das Verständnis abhebt, das diese bei einem „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“ hat. Denn die Grundfreiheiten und die Gemeinschaftsgrundrechte sollten ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schutzrichtung und der divergenten Interessenlage zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung kohärent ausgelegt werden.44 Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist daher im Rahmen sowohl der grundfreiheiten- als auch der grundrechtskonformen Auslegung von Irreführungsverboten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts von einem einheitlichen Verbraucherleitbild im oben skizzierten Sinne auszugehen. 37 Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 9; ebenso W.-H. Roth, in: FIW (Hrsg.), Marktwirtschaft und Wettbewerb im sich erweiternden europäischen Raum (1994), S.37 ff.; ders., FS Großfeld (1998), S. 944 ff. 38 Zur hier nicht zu diskutierenden Bedeutung der Wendung „in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht“ vgl. mwN Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 23. 39 So aber Streinz, JuS 2000, 807, 809 Fn. 10. 40 Allgemein zum Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten (2001); Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV (2004). 41 So explizit EuGH v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 24. 42 EuGH v. 19.9.1985 – verb. Rs. 63/84 u. 147/84 Finsider, Slg. 1985, 2857 Rn. 27; vgl. auch Ruffert, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2. Aufl. 2005), § 16 Rn. 9ff. 43 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, Slg. 1989, 2609 Rn. 18; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-280/93 Deutschland ./. Rat, Slg. 1994, I-4973 Rn. 90 ff.; vgl. dazu Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2. Aufl. 2005), § 14 Rn. 50 ff. 44 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 772. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
2.
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Worauf das Gebot primärrechtskonformer Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts beruht, ist noch nicht abschließend geklärt. a)
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Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Auf den ersten Blick mag es nahe liegen, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber, der eine ranghöhere Norm durchführt, sich an dieser ausrichtet 45 und deshalb eine Vermutung für die Primärrechtskonformität des sekundären Gemeinschaftsrechts spricht 46. In dieser Vermutung könnte ein Prinzip zum Ausdruck kommen, das eine primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts verlangt. Diese Überlegung ist freilich insofern angreifbar als die Existenz von Verfahren, die – wie die Nichtigkeitsklage (Art. 230, 231 EG) und das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 Abs. 1 lit. b EG) – eine Normverwerfung erlauben, Zeugnis dafür sind, daß die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ dem Gemeinschaftsgesetzgeber „mißtrauten“ und deshalb eine solche Vermutung gerade nicht zulassen. b)
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Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts und die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers
Näherliegend ist es, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung auf den Systemgedanken zu stützen.47 Dieser Gedanke beruht auf der zutreffenden Einsicht, daß Sekundär- und Primärrecht nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern eine Einheit,48 ein System aufeinander abgestimmter Entscheidungen bilden. Als Teil des Gemeinschaftsrechtssystems darf das Sekundärrecht nicht isoliert ausgelegt werden,49 vielmehr ist es „im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts“ 50, also auch des Primärrechts, zu deuten. Auf den Systemgedanken hat sich jetzt auch der EuGH berufen: Bei der Auslegung der Bestimmungen einer Richtlinie sei „dem Gedanken der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung Rechnung zu tragen, der verlangt, daß das
45 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1181; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998), S. 186; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 325. 46 Auch der Gerichtshof beruft sich mitunter auf die Rechtmäßigkeitsvermutung sekundären Gemeinschaftsrechts, allerdings nicht um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren, sondern um seine alleinige Befugnis zur Verwerfung sekundären Gemeinschaftsrechts argumentativ abzusichern, vgl. zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-475/01 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2004, I-8923 Rn. 18. 47 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194 („Systemgedanke und Autorität der Vertragsparteien“); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998), S. 186; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 220 EGV Rn. 20. 48 Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. September 1976 (1976), S. I–40. 49 EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62. 50 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20; ähnl. schon EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird.“ 51 Indessen reicht der Systemgedanke alleine nicht aus, um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren. Denn erstens ist dem Systemgedanken nur zu entnehmen, daß Widersprüche im System zu vermeiden sind, indem einzelne Normen im Lichte der Gesamtrechtsordnung möglichst systemkonform ausgelegt werden. M.a.W.: Der Systemgedanke verbietet eine Auslegung, die im Widerspruch mit dem Primärrecht steht (Verbot primärrechtskonträrer Auslegung), er gebietet jedoch nicht die primärrechtskonforme Interpretation.52 Und zweitens könnte man dem Systemgedanken auch dadurch ausreichend Rechnung tragen, daß man sekundärrechtliche Normen, die primärrechtswidrige Lösungen zulassen, als systemwidrig oder systemfremd einstuft und durch einschränkende Auslegung „isoliert“ 53 oder sogar verwirft.54
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Ganz ähnliche Erwägungen sprechen auch dagegen, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nur im Vorrang des Primärrechts bzw. im Stufenbau des Gemeinschaftsrechts zu verankern.55 Dem EG-Vertrag, vor allem Art. 230, 234 Abs. 1 lit. b EG und Art. 249 Abs. 1 EG („nach Maßgabe dieses Vertrags“), läßt sich entnehmen, daß sekundärrechtliche Normen im Rang unter dem primären Gemeinschaftsrecht stehen.56 In den Worten des Gerichtshofs ist der EG-Vertrag „Grundlage, Rahmen und Grenze“ 57 des auf ihn gestützten Rechts und die „Bestimmung eines Akts des abgeleiteten Rechts [kann] nach dem Grundsatz der Normenhierarchie keine Abweichung von einer Bestimmung des Vertrages gestatten.“ 58 Dem Vorrang des Primärrechts ist jedoch auch Genüge getan, wenn die sekundärrechtliche Norm für nichtig bzw. ungültig erklärt wird. Aus „rechtshygienischen“ Gründen mag es sogar wünschenswert sein, eine Norm, die eine primärrechtswidrige Auslegung zuläßt, aus der Rechtsordnung zu entfernen.59
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Eine tragfähige Grundlage gewinnt man, wenn man den Systemgedanken und den Vorrang des Primärrechts mit der Überlegung verknüpft, daß der primärrechtskonformen Auslegung die Funktion zukommt, den Gemeinschaftsgesetzgeber vor Übergriffen der europäischen Gerichte zu bewahren.60 Der Respekt vor der Rechtsetzungs-
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51 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.) Rn. 32. 52 Vgl. Michel, JuS 1961, 274, 275 f.; Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen (1973), S. 101. 53 In diesem Fall hat die vom Gerichtshof oft bemühte Regel, Ausnahmen seien eng auszulegen, ihre Berechtigung; vgl. auch Kramer, Methodenlehre, S. 187 f. 54 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 130–132; ders., FS Kramer (2004), S. 148. 55 So aber z.B. Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 10; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Streinz-Schroeder, Art. 249 Rn. 17. 56 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 308, 364; Streinz-Schroeder, Art. 249 Rn. 17. 57 EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7; EuGH v. 5.10.1978 – Rs. 26/78 Viola, Slg. 1978, 1771 Rn. 9/14. 58 EuG v. 28.3.2001 – Rs. T-144/99 Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter ./. Kommission, Slg. 2001, II-1087 Rn. 50; s.a. EuG v. 10.7.1990 – Rs. T-51/89 Tetra Pak, Slg. 1990, II-309 Rn. 25. 59 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456 f. 60 Ähnlich Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 49; s.a. Buck, Über die AuslegungsStefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
prärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, den vor allem das allgemeine Gebot der richterlichen Zurückhaltung, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 7 Abs. 1 S. 2 EG) und das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts der Judikative abverlangen, gebietet die Aufrechterhaltung des Sekundärrechts soweit wie möglich.61 Geht man weiterhin davon aus, daß auch im Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander ein Übermaßverbot gilt,62 dann verdient die primärrechtskonforme Auslegung den Vorzug, weil sie sich im Verhältnis zur Normverwerfung als weniger einschneidendes Mittel erweist, die Normverwerfung also nicht erforderlich ist.
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Bedarf das Sekundärrecht der Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung durch innerstaatliches Recht (angeglichenes Recht iwS), schützt das Gebot primärrechtskonformer Auslegung zugleich die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers und schont so die mitgliedstaatliche Souveränität. Denn die Verwerfung des Sekundärrechts hat zur Folge, daß der gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungsgrund für das angeglichene Recht entfällt und den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber jedenfalls dann zum Handeln zwingt, wenn der Gerichtshof die Rechtswirkungen des für nichtig erklärten Sekundärrechts nicht aufrechterhält (Art. 231 Abs. 2 EG) und der Verstoß gegen das Primärrecht auf das angeglichene Recht durchschlägt. In diesem Fall greift der Gerichtshof zwar nicht direkt in die Kompetenzen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers ein, weil die Verwerfung des Sekundärrechts nicht auch den innerstaatlichen Befehl zur Anwendung des angeglichenen Rechts außer Kraft setzt. Jedoch werden die auf Grund des für nichtig erklärten Rechtsakts erlassenen Vorschriften unanwendbar und sind vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aufzuheben oder zu korrigieren,63 da sie mit dem Primärrecht kollidieren und deshalb der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts eingreift. Indessen bleibt das angeglichene Recht anwendbar und der mitgliedstaatliche Gesetzgeber wird nicht mit Normkorrekturen behelligt, wenn sich das Sekundärrecht durch primärrechtskonforme Auslegung aufrechterhalten läßt. Der Gedanke der Souveränitätsschonung liegt freilich um so ferner, je mehr die Autonomie des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers durch detaillierte gemeinschaftsrechtliche Vorgaben eingeschränkt ist. Umgekehrt ist die Verwerfung des Sekundärrechts um so unangemessener, je mehr Spielraum es dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bei seiner Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung beläßt. Unabhängig davon, wieviel Gestaltungsfreiheit dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber verbleibt, läßt sich das Gebot primärrechtskonformer Auslegung insoweit auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie ergänzend auf Art. 10 EG stützen, der entgegen seinem Wortlaut auch Pflichten der EG und ihrer Organe gegenüber den Mitgliedstaaten begründet64. Der Gerichtshof ist dementsprechend verpflichtet, das Sekundär-
61 62
63 64
methoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998), S. 188; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 122, 325. Vgl. auch Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. September 1976 (1976), S. I– 41. Dazu, daß auch zwischen den Staatsfunktionen untereinander ein Übermaßverbot gilt, das die verfassungskonforme Auslegung stützt, Zippelius, FG 25 Jahre BVerfG (1976), Bd. II, S. 111; zust. Canaris, FS Kramer (2004), S. 152; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29. Vgl. Grabitz/Hilf-Booß, Art. 231 Rn. 6; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 231 Rn. 4. Vgl. Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EGV Rn. 14, 50 ff. mwN.
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Stefan Leible/Ronny Domröse
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
recht solange mittels primärrechtskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten, wie das nach Gemeinschaftsrecht möglich ist. 3.
Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre
Aus der Vorrangstellung des Primärrechts folgt, daß die primärrechtskonforme Auslegung Vorrang vor den übrigen Auslegungskriterien genießt. Von mehreren möglichen Interpretationen einer sekundärrechtlichen Regelung setzt sich in jedem Falle diejenige durch, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Eine Abwägung mit den gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten ist weder erforderlich noch zulässig, selbst wenn sie in ihrer Zahl und Stärke das primärrechtskonforme Auslegungskriterium überwiegen. Methodologisch ist die primärrechtskonforme Auslegung deshalb als interpretatorische Vorrangregel zu qualifizieren.65 Das bedeutet allerdings nicht, daß den übrigen Auslegungskriterien überhaupt keine Bedeutung zukommt. Zwar können sie das Auslegungsergebnis nicht mehr bestimmen, sie können es jedoch ggf. noch bekräftigen und ihm so eine noch größere Überzeugungskraft verleihen und die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung erhöhen. Außerdem übernehmen die übrigen Auslegungskriterien immerhin noch eine begrenzende Funktion, stecken sie doch den Bereich zulässiger Rechtsfindung ab.66
27
Im System der juristischen Methodenlehre hat die primärrechtskonforme Auslegung ihren Platz im Rahmen der systematischen und objektiv-teleologischen Auslegung.67 Daß es bei ihr nicht – wie bei der einfach-systematischen Auslegung – um eine Zusammenschau hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen geht, sondern Vorschriften abgeglichen werden, denen innerhalb derselben Rechtsordnung ein unterschiedlicher Rang zukommt, rechtfertigt es nicht, ihr eine andere Stellung – etwa neben den übrigen Auslegungskriterien – zuzuweisen.68
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4.
Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Vom Gebot primärrechtskonformer Auslegung erfaßt ist das gesamte abgeleitete Gemeinschaftsrecht.69 Dazu gehört das sekundäre Gemeinschaftsrecht, das neben 65 Grundlegend zu den Unterschieden von interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 64–67; ders., FS Kramer (2004), S. 143–146. 66 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 70 f.; ders., FS Kramer (2004), S. 145 f., 154. 67 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Für Erscheinungsform der systematischen Auslegung: Kutscher, in: Begegnung von Justiz und Hochschule am 27. und 28. September 1976 (1976), S. I–40; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 447f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63; Ahlt/Deisenhofer, Europarecht (3. Aufl. 2003), S. 59f. Für Anwendungsfall der teleologischen Auslegung Lutter, JZ 1992, 593, 603. 68 A.A. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 327 f. 69 EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.) Rn. 32. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Entscheidungen auch Rechtsakte, die nicht den in Art. 249 EG vertypten Rechtshandlungen zugeordnet werden können (z.B. wettbewerbsrechtliche Leitlinien), umfaßt. Zudem sind auch völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft mit Drittstaaten und internationalen Organisationen, die nicht zum Sekundärrecht gehören, sondern einen Zwischenrang zwischen jenem und dem Primärrecht einnehmen (arg. ex Art. 300 Abs. 6 und Abs. 7 EG), primärrechtskonform auszulegen.
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Zum abgeleiteten Gemeinschaftsrecht zählen auch die Normen, die auf sekundärem Gemeinschaftsrecht beruhen und seiner Durchführung dienen (sog. Tertiärrecht). Diese Normen stehen im Rang unter den Bestimmungen des Rechtsakts, von dem sie abgeleitet sind.70 Die Stufung der Gemeinschaftsrechtsordnung ist auch bei der Auslegung zu berücksichtigen. Dementsprechend ist z.B. eine Durchführungsverordnung, wenn möglich, so auszulegen, daß sie mit den Bestimmungen der Grundverordnung vereinbar ist.71 Die Grundverordnung ist ggf. ihrerseits primärrechtskonform auszulegen. Eine primärrechtskonforme Auslegung der Durchführungsverordnung verbietet sich, weil sonst der Regelungsabsicht des jeweils kompetenten Regelgebers nicht Rechnung getragen werden könnte. Nach diesen Vorgaben ist z.B. bei der Auslegung der in das Gemeinschaftsrecht inkorporierten internationalen Rechnungslegungsstandards zu verfahren. Die internationalen Rechnungslegungsstandards – International Accounting Standards (IAS) und International Financial Reporting Standards (IFRS) – werden vom International Accounting Standard Board (IASB), einem nicht staatlichen Regelgeber, herausgegeben und können von der Kommission im sog. Endorsementverfahren gemäß Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 IFRS-VO 72 übernommen werden. Die übernommenen Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung im Amtsblatt veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IFRS-VO). Durch die Übernahme werden die Rechnungslegungsstandards verbindliches Gemeinschaftsrecht, das von den Unternehmen anzuwenden ist, die ihre Abschlüsse gemäß Art. 4 IFRS-VO oder gemäß Art. 5 IFRS-VO iVm nationalem Recht nach internationalen Rechnungslegungsstandards zu erstellen haben. Bei den Kommissionsverordnungen handelt es sich um Durchführungsvorschriften iSv Art. 202 Sps. 3, 211 Sps. 4 EG. Sie sind deshalb am Maßstab der IFRS-VO – insbesondere dem True-and-fair-view-Prinzip (Art. 3 Abs. 2 IFRS) –, deren Durchführung sie dienen, auszulegen. Die IFRS-VO ist ggf. primärrechtskonform zu interpretieren.
5.
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Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Die Respektierung der Autorität des Gemeinschaftsgesetzgebers als tragender Begründungsansatz des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutet nicht, daß abgeleitetes Gemeinschaftsrecht um jeden Preis durch den Gerichtshof aufrechtzuer-
70 Vgl. EuGH v. 10.3.1971 – Rs. 38/70 Deutsche Tradax, Slg. 1970, 145 Rn. 10; EuGH v. 2.3. 1999 – Rs. C-179/97 Spanien ./. Kommission, Slg. 1999, I-1251 Rn. 20. 71 EuGH v. 24.3.1993 – Rs. C-90/92 Dr. Tretter, Slg. 1993, I-3569 Rn. 11; EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1996, I-3989 Rn. 52. 72 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 Nr. L 243/1.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
halten ist. Der primärrechtskonformen Auslegung sind Grenzen gesetzt. Wo diese Grenzen verlaufen, ist bislang wenig erörtert. a)
Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Allgemein anerkannt ist, daß Gesetze lückenhaft sein können und deshalb nicht alle Sachverhalte durch Auslegung zu lösen sind. Gemeinhin wird deshalb eine richterliche Rechtsfortbildung akzeptiert. Im Grundsatz ist das auch für das Gemeinschaftsrecht unbestritten, für das dem Gerichtshof die Befugnis zur Rechtsfortbildung zufällt.73
32
Grundsätzlich zulässig ist auch eine primärrechtskonforme Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts. Der EuGH hatte die Befugnis zur Rechtsfortbildung zunächst sogar an die Voraussetzung geknüpft, daß das sekundäre Gemeinschaftsrecht „eine Lücke enthält, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist“.74 Zu Recht hat der Gerichtshof diese Rechtsprechung aufgegeben. Denn selbstverständlich kann allein die Systematik und Teleologie des Sekundärrechts seine Fortbildung fordern.75
33
Da überwiegend Gleichheitsrechte (Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbote, allgemeiner Gleichheitssatz) den Bezugspunkt im Primärrecht bilden, ist eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung allerdings nur selten möglich. Verstößt sekundäres Gemeinschaftsrecht gegen ein Gleichheitsrecht, so ist es Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers, wie er den Verstoß behebt. Er kann die benachteiligte Person, Ware usf. in die begünstigende Regelung einbeziehen, die Begünstigung aufheben oder den Kreis der Begünstigten gänzlich anders definieren. Der Gerichtshof respektiert die Gestaltungsfreiheit des Gemeinschaftsgesetzgebers, indem er sekundäres Gemeinschaftsrecht insoweit nicht für ungültig bzw. nichtig erklärt, sondern – wie das Bundesverfassungsgericht in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses 76 – sich auf die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitsrecht beschränkt.77 Für die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung bedeutet das, daß sie
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73 Ausdrücklich akzeptiert von BVerfGE 75, 223, 241 ff. 74 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14; vgl. auch EuGH v. 11.7. 1978 – Rs. 6/78 Union Francaise de Cereales, Slg. 1978, 1675 Rn. 4; zust. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S. 318 f. 75 In diesem Sinne EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a., Slg. 2002, II-4945 Rn. 131–135; EuG v. 28.1.2004 – verb. Rs. T-142/01 und T-283/01 OPTUC, Slg. 2004, II-329 Rn. 76–92; EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, Slg. 2005, I-9611 Rn. 65, 68; s.a. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2655 Rn. 12–18; EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741 Rn. 18; GA Tizzano, Schlußanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, (noch nicht in Slg.) Tz. 42–45. 76 Vgl. z.B. BVerfGE 33, 303, 349. 77 Vorbildlich EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 13. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
grundsätzlich unzulässig ist, wenn mehrere Regelungsmöglichkeiten offenstehen, die alle mit dem Primärrecht vereinbar wären, da sie ebenso wie die Normverwerfung der Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers vorgreifen würde.78
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Als Mittel der Ausfüllung von Lücken im sekundären Gemeinschaftsrecht bieten sich – wie auch sonst – insbesondere der Analogieschluß und die teleologische Reduktion an. Der Analogieschluß kommt als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung immer dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht eine mit dem Primärrecht unvereinbare Lücke enthält, aber eine Regelung vorsieht, die zwar nicht nach ihrem Wortlaut, jedoch nach ihrem Sinn und Zweck angewandt werden kann, um die Lücke zu schließen und so den Primärrechtsverstoß zu vermeiden. Die primärrechtskonforme (teleologische) Reduktion des Sekundärrechts steht zu Gebote, wenn der Normtext verglichen mit der Teleologie des Primärrechts zu weit gefaßt ist. Der EuGH hat z.B. die analoge Anwendung einer Verordnungsbestimmung – hilfsweise – damit begründet, daß andernfalls „sogar angenommen werden [könnte], daß der Rat seine Verpflichtung aus Art. 51 des Vertrages, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen zu treffen, nicht vollständig erfüllt hat.“ 79 Enthält der EG-Vertrag eine Pflicht zur Rechtsetzung und hat der Gemeinschaftsgesetzgeber diese Pflicht unzureichend erfüllt, dann ist es – innerhalb der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung – in der Tat überzeugend, die Norm entsprechend anzuwenden, die der Gemeinschaftsgesetzgeber zur Erfüllung des Regelungsauftrags erlassen hat. Denn der Gemeinschaftsgesetzgeber könnte auch nicht mehr tun als die Regelung entsprechend zu erweitern. Das gilt in aller Regel auch, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber einer primärrechtlichen Schutzpflicht nicht hinreichend nachgekommen ist.80 Anders liegen die Dinge, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber überhaupt nicht rechtsetzend tätig geworden ist.81 Eine primärrechtskonforme Reduktion ist z.B. im Hinblick auf einige Regelungen der EuGVVO geboten. Aus dem Wortlaut einiger Regelungen läßt sich entnehmen, daß diese nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden (z.B. Art. 3 Abs. 1 EuGVVO), während in anderen Regelungen dieses den Anwendungsbereich der EuGVVO begrenzende Merkmal fehlt (z.B. Art. 16 Abs. 1 EuGVVO). Gleichwohl sollen nach h.M. auch diese Regelungen auf reine Inlandssachverhalte nicht anwendbar sein.82 Dafür stützt man sich ganz überwiegend auf die Erwägungsgründe der EuGVVO83.84 Indessen können weder diese im Rahmen der historischen Interpretation noch die übrigen Kanones diese Auslegung stützen. Methodologisch läßt sich das Erfordernis eines grenz-
78 Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 221 spricht in diesem Fall von „unausfüllbaren Lücken“. 79 EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8. 80 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 162. 81 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 220. 82 Kropholler, Europäisches Zivilprozeßrecht (8. Aufl. 2005), vor Art. 2 Rn. 6 f.; Staudinger, in: Rauscher (Hrsg.), Europäisches Zivilprozeßrecht (2003), Einl Brüssel I-VO Rn. 19; Thomas/ Putzo-Hüßtege, ZPO (27. Aufl. 2005), Vorbem EuGVVO Rn. 11; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 26 Rn. 10; anders Zöller-Geimer, ZPO (25. Aufl. 2005), Art. 2 Rn. 14. 83 Vgl. BE (2). 84 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht (3. Aufl. 2002), Rn. 239; Staudinger, in: Rauscher (Hrsg.), Europäisches Zivilprozeßrecht (2003), Einl Brüssel I-VO Rn. 19.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung überschreitenden Bezugs nur im Wege einer teleologischen (primärrechtskonformen) Reduktion dieser Regelungen erreichen: 85 Die Verordnung ist eine Maßnahme im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen iSv Art. 65 EG.86 Diese Bestimmung beschränkt die Rechtsetzungskompetenz der EG auf Maßnahmen mit grenzüberschreitenden Bezügen.87 Die Auslegung, die EuGVVO erfaße auch reine Inlandssachverhalte, ist dementsprechend nicht möglich. Die Regelungen der EuGVVO, die einen grenzüberschreitenden Bezug nicht vorsehen, sind in ihrem Wortlaut zu weit gefaßt und daher in primärrechtskonformer Weise zu reduzieren.
b)
Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Gemeinschaftsrechts
Das Gebot primärrechtskonformer Rechtsfindung darf nicht dazu führen, daß der Gerichtshof die gesetzgeberische Entscheidung durch seine eigene ersetzt.88 Eine Korrektur des Sekundärrechts mit Hilfe der primärrechtskonformen Rechtsfindung kommt nicht in Betracht, liefe dies doch auf eine Änderung ihres Inhalts hinaus. Diese ist jedoch der Legislative vorbehalten und nicht Aufgabe der Judikative.89 Der EuGH nimmt eine primärrechtskonforme Korrektur des Sekundärrechts denn auch nur dann vor, wenn es „mehr als eine Auslegung gestattet“.90 Die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung findet ihre Grenze im Verbot des contra-legem-Judizieres. Danach ist dem Gerichtshof eine Rechtsfindung verboten, die sich über den Wortsinn und den Zweck der sekundärrechtlichen Regelung hinwegsetzt; 91 je für sich bilden diese beiden Kriterien grundsätzlich keine unübersteigbare Hürde für den Richter.92
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Soweit eine Aufrechterhaltung der Norm mit den der Rechtsprechung zur Verfügung stehenden Mitteln nicht möglich ist, ist die Norm nichtig. Die Nichtigkeit ist vom EuGH festzustellen, entweder im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 230, 231 Abs. 1 EG) oder eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 234 Abs. 1 lit. b EG).93
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85 I.E. ebenso Staudinger, in: Rauscher (Hrsg.), Europäisches Zivilprozeßrecht (2003), Einl Brüssel I-VO Rn. 19, der dieses Ergebnis aber durch primärrechtskonforme Auslegung erreichen möchte. 86 S.a. BE (3). 87 Vgl. Streinz-Leible, Art. 65 EGV Rn. 22. 88 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S.194; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. 89 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Rn. 117. 90 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15. 91 Vgl. Bydlinski, in: Koller u.a. (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, S. 27ff.; ders., JBl. 1997, 617, 620; zust. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 92; anders Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 132. 92 Vgl. z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 12; GA Tizzano, Schlußanträge v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, (noch nicht in Slg.) Tz. 42–45; s.a. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 94 f. 93 Umstritten ist, ob der Gerichtshof auch im Verfahren nach Art. 68 Abs. 3 EG zur Normenkontrolle befugt ist (dafür Streinz-Weiß, Art. 68 EGV Rn. 18; dagegen Classen, EuR 1999, Beiheft 1, 73, 79; Lenz/Borchardt-Bergmann, Art. 68 EGV Rn. 4; Koenig/Pechstein/Sander, Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Durch die Normverwerfung kann freilich eine Lücke entstehen, die in primärrechtskonformer Weise – etwa in Analogie zu einer anderen Norm – geschlossen werden kann.
III. Die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts 38
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Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts hat der EuGH erstmals im Urteil Murphy ausdrücklich ausgesprochen. Der Gerichtshof stellte fest, daß es „Sache des nationalen Gerichts [ist], das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“ 94 Dieses Gebot wird gemeinhin akzeptiert. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, worauf seine Verbindlichkeit beruht, wie es sich zu den übrigen Auslegungskriterien verhält, wie weit es reicht und welche Grenzen ihm gesetzt sind. Bevor diese Fragen erörtert werden können, ist zu überlegen, inwieweit primäres Gemeinschaftsrecht überhaupt als Maßstab für die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts in Betracht kommt. 1.
Das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts
a)
Die möglichen Bezugspunkte im primären Gemeinschaftsrecht
Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung sind insbesondere die Grundfreiheiten, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, das Verbot der Entgeltdiskriminierung (Art. 141 EG) sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 12 EG). Das BAG hat z.B. im Hinblick auf einen Streit um die tarifgerechte Eingruppierung einer Arbeitnehmerin entschieden, daß Art. 119 EWGV (Art. 141 EG) erfordert, das Tatsbestandsmerkmal der „schweren körperlichen Arbeit“ in einem Tarifvertrag primärrechtskonform auszulegen und auf alle den Körper belastenden Umstände abzustellen, die bei Männern und Frauen in gleicher Weise zu körperlichen Reaktionen führen können.95 Eine grundfreiheitenkonforme Auslegung ist beispielsweise im Hinblick auf § 1 Abs. 1 UmwG geboten. Nach bisher h.M. können nur Rechtsträger mit Sitz im Inland umge-
EU-/EG-Prozessrecht [2. Aufl. 2002], Rn. 913). Im Rahmen einer Inzidentrüge nach Art. 241 EG erklärt der Gerichtshof die in dem anhängigen Rechtsstreit als rechtswidrig gerügte Vorschrift nicht für nichtig, sondern nur für unanwendbar (vgl. nur Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht [2. Aufl. 2002], Rn. 895). Soweit ein Rechtsakt in einem krassen Widerspruch zur Gemeinschaftsrechtsordnung steht, erklärt der Gerichtshof diesen nicht für nichtig, denn solche sog. Nichtakte sind ipso iure nichtig. Nichtigkeitsklage und Vorabentscheidungsverfahren sind mangels Klage- bzw. Vorlagegenstand unzulässig (vgl. dazu StreinzEhricke, Art. 230 EGV Rn. 10 mwN). 94 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. 95 BAGE 71, 56, 65 f.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung wandelt werden.96 Dementsprechend wäre z.B. die Verschmelzung einer englischen Ltd. auf eine deutsche AG nicht zulässig. Die Beschränkung der Umwandlungsfähigkeit auf Rechtsträger mit Sitz im Inland widerspricht indessen der Niederlassungsfreiheit (Art. 43, 48 EG). Das hat jüngst der EuGH im Urteil SEVIC bestätigt.97 Allerdings kann man § 1 Abs. 1 UmwG unschwer dahin grundfreiheitenkonform interpretieren, daß es für eine Umwandlung genügt, daß einer der beteiligten Rechtsträger seinen Sitz im Inland hat.98 Dementsprechend sind Umwandlungen von Gesellschaften mit Sitz in einem EG-Mitgliedstaat oder einem EWR-Vertragsstaat auf deutsche Gesellschaften grundsätzlich zulässig. Diese Auslegung trägt der Niederlassungsfreiheit ausreichend Rechnung und verhindert, daß § 1 Abs. 1 UmwG bzw. das primärrechtswidrige Erfordernis des Inlandssitzes unangewendet bleiben muß. Darüber hinaus verpflichtet die Niederlassungsfreiheit die mitgliedstaatlichen Gerichte, die Vorschriften, die für Umwandlungen von Rechtsträgern mit Sitz im Inland gelten, auf grenzüberschreitende Umwandlungen entsprechend anzuwenden.
b)
Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Gemeinschaftsrechts
Eine primärrechtskonforme Auslegung ist von Gemeinschaftsrechts wegen nur dann geboten, wenn das nationale Recht in den Anwendungsbereich des Primärrechts fällt.99 Deshalb ist mitgliedstaatliches Recht z.B. nur insoweit grundfreiheitenkonform auszulegen als ein (binnenmarkt-)grenzüberschreitender Bezug vorliegt. Denn auf rein innerstaatliche Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar.
40
Außerhalb seines Anwendungsbereichs kann das Primärrecht allerdings kraft nationalen Rechts bei der Auslegung zu berücksichtigen sein. Das ist zum einen dann der Fall, wenn das innerstaatliche Verfassungsrecht – wie z.B. in Österreich 100 – (gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstandende) umgekehrte Diskriminierungen verbietet. Insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz kann dann die Gerichte dazu verpflichten, von mehreren möglichen Auslegungen diejenige zu wählen, die primärrechtskonform wäre, wenn die zu interpretierende nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Primärrechts fallen würde. Insoweit handelt es sich aber nicht um primärrechtskonforme, sondern um (national-)verfassungskonforme Auslegung.101 Außerdem ist das Primärrecht bei der Auslegung zu beachten, wenn der nationale Gesetzgeber sein Recht freiwillig hieran angepaßt hat oder wenn eine Norm die Orien-
41
96 Vgl. dazu mwN Leible, in: Michalski (Hrsg.), GmbHG (2002), Syst. Darst. 2 Rn. 155 Fn. 411. 97 EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC, (noch nicht in Slg.) Rn. 11 ff. 98 Vgl. Kallmeyer, ZIP 1996, 535, 535; Kallmeyer-Kallmeyer, UmwG (2. Aufl. 2001), § 1 Rn. 13; Leible/Hoffmann, RIW 2006, 161, 164; zu den praktischen Folgen vgl. z.B. Teichmann, ZIP 2006, 355, 360f.; Geyrhalter/Weber, DStR 2006, 146, 148 ff. 99 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. 100 Vgl. öVfGH, EuGRZ 1997, 362; öVfGH, EuZW 2001, 219; öVfGH, VfSlg. 15.683/1999. 101 Vgl. z.B. OGH v. 12.11.1998 – 8 ObA 238/98b, SZ 71/192: Eine enge Auslegung des in § 1 östÖffnungszeitenG gebrauchten Begriffes „für den Kleinverkauf von Waren bestimmte Betriebseinrichtungen“ ist von Verfassungs wegen geboten, um eine sich ansonsten für den Versandhandel ergebende Inländerdiskriminierung zu vermeiden. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
tierung am Primärrecht ausdrücklich anordnet 102.103 Im übrigen kann sich der Rechtsanwender von den primärrechtlichen Wertentscheidungen – etwa bei der Auslegung von Generalklauseln – inspirieren lassen.104 Da jenseits des europarechtlich determinierten Anwendungsbereichs eine gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht besteht, kommt dem aus dem Primärrecht gewonnen Auslegungskriterium – anders als sonst (Rn. 50) – kein Vorrang vor den übrigen Kanones zu. Dementsprechend kann – nach Abwägung der Auslegungskriterien – auch der Deutung der Vorzug zu geben sein, die nicht primärrechtskonform wäre. Um diesen methodischen Unterschied auch terminologisch hervorzuheben, ist es ratsam, insoweit auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu verzichten und stattdessen – in Anlehnung an die bei der analogen Problematik der Auslegung richtlinienüberschießender Regelungen verwendete Begrifflichkeit105 – von quasi-primärrechtskonformer oder primärrechtsorientierter Auslegung zu sprechen. 2.
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Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts
Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts wird überwiegend auf Art. 10 EG gestützt.106 Auch der EuGH hat in seinen Entscheidungen vereinzelt Art. 10 EG zur Begründung herangezogen.107 Das mag daran liegen, daß der Gerichtshof von einem allgemeinen Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung ausgeht,108 der neben dem Primärrecht auch sekundäres Gemeinschaftsrecht als Auslegungsmaßstab für nationales Recht umfaßt. In der Tat ist dann der Gedanke
102 Beispielsweise war in § 23 RegE-GWB eine Anordnung zur – wie es in der amtlichen Überschrift heißen sollte – europafreundlichen Anwendung vorgesehen: „Die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts sind sind bei der Anwendung der §§ 1 bis 4 und 19 maßgeblich zugrunde zu legen, soweit hierzu nicht in diesem Gesetz besondere Regelungen enthalten sind.“ Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs sollte sich diese Regelung inbesondere bei solchen Wettbewerbsbeschränkungen auswirken, die allein dem innerstaatlichen Recht unterliegen (BT-Drs. 15/3640, S. 47. Der Vorschlag ist nicht Gesetz geworden. 103 Vgl. zu der vergleichbaren Problematik der überschießenden Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer, unten, § 15. 104 Vgl. z.B. BAGE 84, 344, 359; BGH, NJW 1999, 3552, 3554; BGH, NJW 2000, 1028, 1030. 105 Vgl. Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 915; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 106 Engisch, Einführung in das juristische Denken (9. Aufl. 1997), S. 102 f. Fn. 50; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 46; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 103; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (2001), S. 191; Streinz-Streinz, Art. 10 EGV Rn. 16; Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EGV Rn. 40; Calliess/ Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 114; Grabitz/Hilf-von Bogdandy, Art. 10 EGV Rn. 55. 107 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 32–35; EuGH v. 26.9. 2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 38–40; implizit EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 31–35. 108 Besonders deutlich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; GA Tizzano, Schlußanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 117.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
naheliegend, alle Spielarten der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (zusätzlich) auf die Loyalitätsverpflichtung als gemeinsame Basis zurückzuführen.109 Indessen bedarf es – wie auch sonst – keines Rückgriffs auf die lex generalis des Art. 10 EG, wenn sich eine andere, speziellere Legitimationsgrundlage finden läßt. a)
Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben
Primärrecht ist anders als die Richtlinie nicht auf Umsetzung in innerstaatliches Recht angewiesen. Es ist – wenn es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt – unmittelbar anwendbar. Ein Umsetzungswille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, der das Gebot primärrechtskonformer Auslegung stützen könnte, ist nicht vorhanden. Anders liegen die Dinge, wenn der Gesetzgeber – etwa infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs – innerstaatliches Recht an primärrechtliche Vorgaben anpaßt.
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So hat beispielsweise der deutsche Gesetzgeber § 116 S. 1 Nr. 2 ZPO a.F., der nur inländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen einen Anspruch auf Prozeßkostenhilfe einräumte und deshalb gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot und die Niederlassungsfreiheit verstieß,110 dahingehend geändert, daß ein solcher Anspruch auch ausländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen zusteht, die in einem anderen EG-/EWR-Mitgliedstaat gegründet und dort ansässig ist. Ein zweites Beispiel dafür, daß Primärrecht den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund einer nationalen Norm bilden kann, ist die Erfüllung grundfreiheitlicher Schutzpflichten durch den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber.111
Da in diesen Fällen ein Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erkennbar ist, die primärrechtlichen Vorgaben zu verwirklichen, könnte man die primärrechtskonforme Auslegung auf den „Umsetzungswillen“ stützen. Indessen sieht sich dieser Begründungsansatz – ebenso wie die Überlegung, den Geltungsgrund des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nur im Umsetzungswillen des Gesetzgebers zu sehen 112 – dem Einwand ausgesetzt, daß die gemeinschaftsrechtliche Dimension außer Acht bleibt, obwohl sie auch nach Anpassung des nationalen Rechts den Maßstab für die Beurteilung der Primärrechtskonformität des nationalen Rechts bildet.
109 In diesem Sinne Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 268; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 104; Zuleeg, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 163, 167; Groeben/ Schwarze-Zuleeg, Art. 10 EG Rn. 6; Schwarze-Hatje, Art. 10 EGV Rn. 29. 110 Vgl. BR-Drs. 267/04, S. 12 ff. Im Schrifttum wurde deshalb bereits vor der Änderung für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung plädiert, vgl. z.B. Heß, FS Jayme (2004), Bd. I, S. 345 Fn. 46; Rehm, in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2004), § 5 Rn. 137. 111 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 158. 112 Vgl. dazu Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 49–51. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
b)
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Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens?
Ob sich der Systemgedanke als Legitimationsgrundlage für das Gebot primärrechtskonformer Auslegung eignet, hängt letztlich davon ab, ob Gemeinschaftsrecht und nationales Recht als ein System gedacht werden können. Zweifel bestehen insoweit als jedenfalls der EuGH annimmt, es handele sich um „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“.113 Das schließt freilich nicht aus, daß über eine innerstaatliche Ermächtigungsnorm die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung begründet werden könnte. Die Pflicht zur Konformauslegung wäre das Ergebnis der Öffnung der nationalen Rechtsordnung für die supranationale Gemeinschaft und würde auf nationalem (Verfassungs-)Recht – in Deutschland auf Art. 23 GG iVm Art. 20 Abs. 3 GG – beruhen.114 Eine Vorrangregel zugunsten der primärrechtskonformen Auslegung (vgl. Rn. 50) ließe sich dann aber nicht annehmen. c)
Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität
46
Eine tragfähige Legitimation läßt sich aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht gewinnen. Kraft des Anwendungsvorrangs sind alle innerstaatlichen Organe befugt und verpflichtet, nationales Recht, das Gemeinschaftsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen. Dann müssen sie erst recht befugt und verpflichtet sein, nationales Recht primärrechtskonform auszulegen.115 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung ist damit eine Wirkungsform des Anwendungsvorrangs 116 und findet in ihm seine Grundlage.117 Die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 10 EG) kann damit allenfalls ergänzend zur Begründung herangezogen werden.
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Zudem kann man die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts mit der gebotenen Rücksichtnahme der Gemeinschaft und ihrer Organe auf die mitgliedstaatliche Souveränität – genauer: die Autorität des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers – begründen. Die primärrechtskonforme Auslegung vermeidet, daß der mitgliedstaatliche Gesetzgeber mit Normkorrekturen belästigt wird, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch die Gerichte erledigen können.118 Das haben die Gemeinschaftsorgane zu respektieren.
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Gegen diesen Ansatz ließe sich einwenden, daß von Gemeinschaftsrechts wegen gar kein Bedarf für eine primärrechtskonforme Auslegung besteht, weil sich unmittelbar anwendbares Primärrecht im Konfliktfall gegenüber nationalem Recht ohnehin
113 Vgl. nur EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 Kledingverkoopbedriif de Geus en Uitdenbogerd, Slg. 1962, 97, 110. 114 Zutreffend Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 184f. 115 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 213. 116 Vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EGV Rn. 27. 117 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 300; Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 174; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 118 S.a. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 631 f.; Frank, ZöR 55 (2000), 1, 32.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
durchsetzt und dadurch dem Anwendungsvorrang Rechnung getragen wird. So gesehen könnte dem Gemeinschaftsrecht nur ein Verbot primärrechtswidriger Auslegung, nicht aber ein Gebot primärrechtskonformer Auslegung entnommen werden.119 Dementsprechend wären die Ausführungen des EuGH (vgl. Rn. 38) so zu verstehen, daß er den mitgliedstaatlichen Gerichten nur die Möglichkeit der primärrechtskonformen Auslegung einräumt, sich aber allein nach nationalem Recht richtet, ob die Gerichte dazu auch verpflichtet sind. Für die deutschen Gerichte ergibt sich diese Pflicht aus ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Prinzip der Normerhaltung („favor legis“). Solange der semantische Entscheidungsspielraum der Norm eine primärrechtskonforme Deutung zuläßt, sind die Gerichte daran gehindert, diese unangewendet zu lassen.120 Indessen sprechen zwei Gründe dafür, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte (auch) kraft Gemeinschaftsrechts zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Erstens folgt aus dem Übermaßverbot, daß das Gemeinschaftsrecht nicht mehr einfordern kann als zu seiner Durchsetzung tatsächlich erforderlich ist. Verglichen mit der Normverwerfung ist die primärrechtskonforme Auslegung das weniger einschneidende Mittel; sie verdient deshalb den Vorzug. Und zweitens ist es – gerade im Privatrecht – denkbar, daß nur die primärrechtskonforme Rechtsfindung, nicht aber die Nichtanwendung des nationalen Rechts einen Zustand herstellen kann, der den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts genügt. Dann aber liegt es auch im Interesse der Gemeinschaft, daß das nationale Gericht von der primärrechtskonformen Rechtsfindung Gebrauch macht. 3.
49
Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre
Im Verhältnis zu den übrigen (nationalen) Auslegungskriterien kommt der primärrechtskonformen Auslegung Vorrang zu. Methodologisch handelt es sich bei ihr um eine interpretatorische Vorrangregel (vgl. Rn. 27). Läßt sich im nationalen Recht keine primärrechtskonforme Lösung finden, wandelt sie sich in eine derogatorische Vorrangregel, d.h. das Gemeinschaftsrecht verdrängt die primärrechtswidrige nationale Norm (s.u. Rn. 58 f.).
50
Die primärrechtskonforme Auslegung stellt – wie die richtlinienkonforme Auslegung 121 – einen eigenständigen Auslegungskanon dar. Das folgt schon daraus, daß die primärrechtskonforme Auslegung sich nicht in die herkömmlichen Kanones integrieren läßt. Anders als die primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts (Rn. 28) läßt sie sich insbesondere nicht als Erscheinungsform der systematischen Auslegung verstehen.
51
119 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269. 120 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269, der deshalb das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung auf Art. 10 Abs. 2 EG und auf das nationale Gebot der Normerhaltung stützt. 121 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 mwN. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
52
4.
Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts
a)
Nationales Recht des forum
Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung erstreckt sich auf das gesamte mitgliedstaatliche Recht, das in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt. Es erfaßt das Sach- und Kollisionsrecht. Auch Verfassungsrecht und der normative Teil von Tarifverträgen muß im Einklang mit Primärrecht interpretiert werden. b)
Nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten
53
Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung wirkt ubiquitär, d.h. sie bezieht sich nicht nur auf die lex fori, sondern auch auf das Recht anderer Mitgliedstaaten, denn der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts – auf dem das Gebot primärrechtskonformer Auslegung beruht (Rn. 46 ff.) – setzt sich auch gegenüber diesem durch.122 Damit korrespondiert zur Vermeidung von Kollisionen ihre Pflicht, das ausländische Recht bereits von vornherein primärrechtskonform zu interpretieren. Eines Rückgriffs auf Art. 10 EG bedarf es zur Begründung dieser Pflicht deshalb nicht. Darin unterscheidet sich die primärrechtskonforme von der richtlinienkonformen Auslegung, die nicht auf dem Anwendungsvorrang beruht, sondern auf der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten (Art. 249 Abs. 3 EG).123 Die Umsetzungsverpflichtung richtet sich allerdings an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten. Deshalb bezieht sich die Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung immer nur auf die lex fori. Allenfalls über Art. 10 EG ließe sich begründen, daß die Gerichte auch verpflichtet sind, das Recht eines anderen Mitgliedstaats richtlinienkonform auszulegen.124
54
Die primärrechtskonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats hat das Gericht nach den in diesem Staat maßgeblichen Methodenregeln vorzunehmen. Das schließt ggf. eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung des ausländischen Rechts ein. Läßt das ausländische Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung, so muß es unangewendet bleiben.125 Führt auch die Nichtanwendung des ausländischen Rechts nicht zu einem primärrechtskonformen Zustand, kann es ausnahmsweise zulässig sein, auf die lex fori zurückzugreifen.
122 GA Alber, Schlußanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 82–84. 123 W.-H. Roth, unten, § 14; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 52–62; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 29–32. 124 Vgl. zum Ganzen Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 640 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 47; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 878–880; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 187, 191 ff.; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191 f. 125 GA Alber, Schlußanträge v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 83 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 46. Vgl. zu den Folgen der Unanwendbarkeit nationalen Rechts Rn. 59.
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Stefan Leible/Ronny Domröse
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
5.
Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts
a)
Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts
Der EuGH verlangt von den nationalen Gerichten, daß sie das innerstaatliche Gesetz „soweit wie möglich“126 bzw. „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt“ 127 in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auslegen müssen. In diesem Verweis auf das nationale Recht kommt zum Ausdruck, daß der Gerichtshof die in den Mitgliedstaaten anerkannten Auslegungsmethoden respektiert. Dementsprechend variieren die methodologischen Grenzen der primärrechtskonformen Auslegung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat.
55
Zu den in der deutschen Methodenlehre anerkannten Rechtsfindungsmethoden gehört auch die Rechtsfortbildung. Deshalb müssen die deutschen Gerichte ggf. auch eine gesetzesimmanente Fortbildung des nationalen Rechts in Konformität mit Primärrecht in Betracht ziehen. Als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung kommen insbesondere der Analogieschluß und die teleologische Reduktion in Betracht.128
56
Beispielhaft für eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung ist § 239 Abs. 1 BGB, wonach ein zur Sicherheitsleistung Verpflichteter nur dann auf die Stellung eines Bürgen (§ 232 Abs. 2 BGB) ausweichen kann, wenn dieser seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hat, also ein „tauglicher“ Bürge ist.129 In anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Ansässige werden dadurch an einer Erbringung der Dienstleistung „Bürgschaft“ 130 gehindert. Gründe, die sich zur Rechtfertigung der Norm anführen lassen,
126 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2. 2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f. 127 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 128 Vgl. Rn. 35. 129 Dazu Ehricke, EWS 1994, 259; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 ff.; vgl. auch Reich, ZBB 2000, 177. 130 Das Stellen einer Bürgschaft weist zweifelsohne zahlreiche Dienstleistungselemente auf. Allerdings werden Bürgschaften auch in der „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG genannt, deren Begriffsbestimmungen des Kapitalverkehrs vom EuGH auch heute noch zur Auslegung des Art. 56 EG herangezogen werden (vgl. EuGH v. 16.3.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, 1661 Rn. 21). Jedoch sagt das allein noch nichts über die Zuordnung aus. Abzustellen ist bei Maßnahmen, die sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit beschränken können, vielmehr auf den Charakter der Beschränkung. Die Verpflichtung zur Stellung eines „tauglichen“ Bürgen beschränkt in erster Linie die Möglichkeit ausländischer Bürgen zur Erbringung ihrer Dienstleistung „Bürgschaft“. Die mit der Verpflichtung zur Wahl inländischer Bürgen verbundene Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit tritt dahinter zurück. Mit gleichem Ergebnis etwa Baldus, JA 1996, 894, 897; Ehricke, EWS 1994, 259, 260 f.; Fuchs, Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil sind nur in begrenztem Maße ersichtlich. Unbeachtlich ist jedenfalls der Einwand, der Gläubiger sei vor einer Vollstreckung im Ausland zu bewahren, da der Bürge leicht zu belangen sein müsse. Ein solches Vorbringen ist vom EuGH im Rahmen der zahlreichen Verfahren zur Ausländersicherheit stets mit dem Argument zurückgewiesen worden, daß mittlerweile sämtliche Mitgliedstaaten der EG zugleich Vertragsstaaten des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ; 131 bzw. – unter Ausnahme Dänemarks – der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung – EuGVVO 132) seien.133 Nach Auffassung des Gerichtshofs sind daher „die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen“.134 Daraus wird von einer Vielzahl von Stimmen gefolgert, daß sich Regelungen wie § 239 BGB, die sich auch in den Bürgschaftsrechten einiger anderer europäischer Staaten 135 finden, nicht rechtfertigen lassen und die Vorschrift dahingehend teleologisch zu reduzieren ist, daß ein allgemeiner Gerichtsstand innerhalb der EU genügt, unter „Inland“ also das „EU-Inland“ zu verstehen ist.136 Daß sich ein solches Ergebnis ohne gesetzgeberische Änderung des § 239 BGB in methodologisch zulässiger Weise durch eine teleologische Reduktion
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RIW 1996, 280, 283 f.; OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776; a.A. Calliess/Ruffert-Bröhmer, Art. 56 EGV Rn. 10; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 857 f.; OLG Düsseldorf, WiB 1996, 87; offen gelassen von OLG Koblenz, RIW 1995, 775. Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 (BGBl. 1972 II, 774) idF des 4. Beitrittsübereinkommens v. 29.11.1996 (BGBl. 1998 II, 1412). Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 Nr. L 12/1. Zwar erkannte der Gerichtshof an, daß „zwischen bestimmten Mitgliedstaaten tatsächlich die Gefahr [besteht], daß eine in einem Mitgliedstaat gegen Gebietsfremde ergangene Kostenentscheidung nicht oder zumindest sehr viel schwerer und unter höheren Kosten vollstreckt werden kann“ (vgl. EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-323/95 Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rn. 23; anders noch EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20), doch hob diese Aussage auf die seinerzeit noch unvollständige Ratifizierung des 4. Beitrittsübereinkommens zum EuGVÜ ab. Mittlerweile hat sich die Situation jedoch geändert, da nunmehr alle „Alt-EG-Mitgliedstaaten“ das 4. Beitrittsübereinkommen zum EuGVÜ ratifiziert haben und im Verhältnis der derzeit 25 EG-Mitgliedstaaten unter Ausnahme Dänemarks die EuGVVO gilt. Daß die Risiken einer Auslandsvollstreckung gegenüber einer reinen Inlandsvollstreckung, bei der es eines besonderen Vollstreckbarerklärungsverfahrens nicht bedarf, trotz EuGVÜ bzw. EuGVVO tatsächlich andere und durchaus höher sind, hat der Gerichtshof hingegen nie als Rechtfertigungsgrund gelten lassen (zur Kritik vgl. u.a. Mankowski, NJW 1995, 306, 308; Schack, ZZP 108 [1995], 47, 51 f.; Thümmel, EuZW 1994, 242, 244). Vgl. z.B. EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20. Diese Tendenz läßt sich im übrigen auch im Umkehrschluß aus EuGH v. 23.1.1997 – Rs. C-29/95 Pastoors und Trans-Cap, Slg. 1997-I, 285 Rn. 21 entnehmen. Ob diese Aussage den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird, erscheint freilich fraglich. Vgl. etwa Art. 2018 CC, Art. 1828 CC etc. und dazu Drobnig, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches (1999), S. 112. Vgl. z.B. Soergel-Fahse, BGB (13. Aufl. 1999), § 239 Rn. 4; AnwKomm-Fuchs, BGB (2003), § 239 Rn. 3; MünchKommBGB-Grothe, § 239 Rn. 1; Palandt-Heinrichs, § 239 Rn. 1; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 89; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 47; Staudinger-Werner, BGB (13. Aufl. 2004), § 239 Rn. 3. Stefan Leible/Ronny Domröse
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung der Norm erzielen läßt, sollte angesichts der voranstehenden Ausführungen zu Inhalt und Reichweite der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts außer Frage stehen.137 Zweifelhaft ist allein, ob es auch geboten ist. Das ist eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die der einer teleologischen Reduktion vorgeschaltet ist; denn erst wenn feststeht, was das Gemeinschaftsrecht überhaupt verlangt, wenn also der für die Auslegung des nationalen Rechts maßgebliche Rahmen abgesteckt ist, kann zu seiner primärrechtskonformen Auslegung übergegangen werden. Der EuGH geht zwar davon aus, daß die Voraussetzungen für die Vollstreckung von Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind, doch läßt sich Gleiches nicht vom Zivilprozeß als solchem behaupten. EuGVÜ und EuGVVO regeln insoweit lediglich Fragen der internationalen Zuständigkeit, nicht hingegen der Verfahrensausgestaltung. Normen zur Angleichung zivilprozessualer Vorschriften finden sich im gemeinschaftlichen Sekundärrecht nur äußerst selten.138 Eine Klage im europäischen Ausland ist auch heute noch ein mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenes Unterfangen. Man wird daher, wie es das OLG Hamburg getan hat,139 immerhin verlangen können,140 daß Bürgen aus anderen Mitgliedstaaten der EU sich wenigstens der internationalen Zuständigkeit eines deutschen Gerichts unterwerfen.141 Eine derart umfassende teleologische Reduktion von § 239 BGB, wie sie von der wohl h.M. befürwortet wird, ist daher nicht zwingend. Wie weit die Vorgaben des Gemeinschaftsrechts tatsächlich reichen, wäre freilich zunächst durch ein Vorabentscheidungsverfahren zu klären. Vergleichbare Probleme stellen sich bei der Auslegung und Anwendung von § 108 ZPO, und zwar bei Beantwortung der Frage, ob die Gerichte in den Fällen, in denen nach den Vorschriften der ZPO die Leistung einer Sicherheit vorgesehen ist, auch Bürgschaften von in anderen Mitgliedstaaten der EG ansässigen Bürgen zulassen können oder vielleicht sogar müssen.142
b)
Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts?
Anerkanntermaßen ist der Rechtsprechung ein contra-legem-Judizieren grundsätzlich verboten.143 Ob diese Grenze für die primärrechtskonforme Fortbildung nationalen Rechts gilt, ist zweifelhaft. Bedenkt man, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte gemeinschaftsrechtlich befugt und verpflichtet sind, nationale Normen unangewendet zu lassen, die Gemeinschaftsrecht widersprechen, dann erscheint es folgerichtig, daß sie sich über die lex lata hinwegsetzen können. Da die Gerichte eine primärrechtswid-
137 A.A. jedoch Bamberger/Roth-Dennhardt, BGB (2003), § 239 Rn. 2; vgl. auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 214. 138 Vgl. dazu auch Leible, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 55 ff. 139 OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776. 140 Und dies angesichts der Uneinheitlichkeit der Prozeßrechte der Mitgliedstaaten und der mit einer Klage im Ausland verbundenen Erschwernissen gemeinschaftsrechtlich auch dürfen. 141 Ebenso Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Musielak-Foerste, ZPO (4. Aufl. 2005), § 108 Rn. 9; Reich, ZBB 2000, 177, 180; a.A. Taupitz, FS Lüke (1997), S. 860. 142 Dem und insbesondere der Frage nach der Maßgeblichkeit von § 239 BGB für § 108 ZPO ist hier nicht nachzugehen. Vgl. dazu Fuchs, RIW 1996, 280; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 846 ff. jeweils mwN. 143 S. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
rige nationale Norm kraft eigener Zuständigkeit unangewendet lassen müssen, ohne daß es der Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf,144 besteht keine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Normderogation, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Auf der Grundlage des Anwendungsvorrangs ließen sich auch die weiteren Hürden für ein zulässiges contra-legem-Judizieren – die Prinzipien der Volkssouveränität und des (subjektiven) Vertrauensschutzes 145 – argumentativ überwinden. Andererseits darf nicht verkannt werden, daß die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem über den Anwendungsvorrang insoweit hinausgeht als der Richter einen Rechtssatz umbildet oder kreiert, wohingegen der Anwendungsvorrang nur bewirkt, daß ein Rechtssatz unangewendet bleibt. Hält man eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem für zulässig, wäre auch die Annahme, der EuGH respektiere die in den Mitgliedstaaten anerkannten Rechtsfindungsmethoden (vgl. Rn. 55), zu hinterfragen.
58
Soweit das nationale Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung (Auslegung und Rechtsfortbildung) läßt, muß es unangewendet bleiben.146 Anders als bei der verfassungskonformen Auslegung des nationalen Rechts bzw. der primärrechtskonformen Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts (Rn. 37) obliegt die Feststellung der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm indes nicht dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem EuGH, sondern dem Rechtsanwender.147 Er ist auch bei förmlichen Gesetzen verpflichtet, diese von Amts wegen unangewendet zu lassen, sofern nur so der unmittelbaren Wirkung des Primärrechts Rechnung getragen werden kann.148 Selbst das Vorlageverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG kommt insoweit nicht zum Tragen.149 Zwar ist ein Vorabentscheidungsverfahren nicht ausgeschlossen, doch kann sich sein Inhalt nur auf die Ermittlung des Inhalts der als Maßstab geltenden primärrechtlichen Norm, nicht aber der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit dieser erstrecken. In der Praxis läßt sich diese Beschränkung freilich durch eine geschickte Formulierung des Vorabentscheidungsersuchens umgehen.
59
Die Unanwendbarkeit des primärrechtswidrigen nationalen Rechts hat zur Folge, daß es lückenhaft wird.150 Die durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gerissene Lücke im nationalen Recht ist allerdings in primärrechtskonformer Weise zu schließen.
144 Vgl. z.B. EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 24; BVerfGE 31, 145, 174f. 145 Eingehend Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 140 ff. 146 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f.; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 147 Näher Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 100 ff. 148 Vgl. z.B. EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 31. 149 BVerfGE 31, 145, 174 f.; BVerfGE 82, 159, 181. 150 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 15.
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§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung Ebendies hat jüngst das BAG entschieden.151 Das BAG stellte fest, daß eine Bestimmung eines Tarifvertrages mit Art. 39 EG unvereinbar und deshalb unanwendbar ist. Die entstandene Regelungslücke könne und müsse unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Tarifvertragsparteien geschlossen werden. Auf diese Weise gelangte das Gericht zu einer den Anforderungen des Art. 39 EG genügenden Lösung. Die Möglichkeit einer grundfreiheitenkonformen Auslegung der Tarifnorm hat das BAG offengelassen, da diese zu demselben Ergebnis geführt hätte. Die Entscheidung zeigt, wie der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts mitgliedstaatliche Gerichte dazu verführt, sich voreilig von ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) loszusagen und gegen das Prinzip der Normerhaltung zu verstoßen.
IV.
Exkurs: Das primäre Gemeinschaftsrecht als Gegenstand der Konformauslegung?
Bisher ging es um die Frage, inwieweit das primäre Gemeinschaftsrecht als Maßstab für die Auslegung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts heranzuziehen ist. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob das primäre Gemeinschaftsrecht auch Gegenstand der Auslegung sein kann. 1.
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Primärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts
Theoretisch denkbar ist, daß Primärrecht selbst primärrechtskonform auszulegen ist. Diese Überlegung impliziert, daß innerhalb des Primärrechts Normenhierarchien bestehen 152 und es demzufolge primärrechtswidriges Primärrecht geben kann. Sie erinnert an die aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Diskussion, ob es verfassungswidriges Verfassungsrecht gibt.153
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Positivrechtlich läßt sich eine Abschichtung von „schlichtem“ und „höherrangigem“ Primärrecht nicht begründen. Der EuGH bezeichnet zwar gelegentlich einzelne Vertragsbestimmungen als „fundamentale Grundsätze“,154 jedoch nicht, um eine Rangabstufung nachzuweisen. Gegen eine Hierarchie im Primärrecht scheint zu sprechen, daß diese die Mitgliedstaaten ihrer Rolle „als Herren der Verträge“ entheben würde. Zudem wäre fraglich, wie der Gerichtshof Primärrecht kontrollieren kann, ist ihm doch nur die Aufgabe zugewiesen, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags zu sichern (Art. 220 Abs. 1 EG). Dementsprechend ist der Gerichtshof nur zur Überprüfung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts ermächtigt (Art. 230 Abs. 1, 234 Abs. 1 lit. b EG); für das primäre Gemeinschaftsrecht ver-
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151 BAG, DB 2005, 2248, 2249. 152 Näher dazu Heintzen, EuR 1994, 35–49; von Arnauld, EuR 2003, 191–216; Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht (2000), S. 80 ff. und passim. 153 Vgl. dazu Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen? (1951); beispielhaft für die Rechtsprechung BVerfGE 3, 225 ff. 154 EuGH v. 9.7.1997 – Rs. C-222/95 Parodi, Slg. 1997, I-3899 Rn. 21; EuGH v. 7.2.2002 – Rs. C-279/00 Kommission ./.Italien, Slg. 2002, I-1425 Rn. 33; EuGH v. 19.10.2004 – Rs. C-200/02 Zuh und Chen, Slg. 2004, I-9925 Rn. 31. Stefan Leible/Ronny Domröse
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2. Teil: Allgemeiner Teil
fügt er indessen nur über eine Auslegungskompetenz (Art. 68 Abs. 3, 234 Abs. 1 lit. a EG).155
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Zudem dürfte es nur in den wenigsten Fällen zu einer „echten“ Kollision primärrechtlicher Normen kommen und damit überhaupt Raum für eine primärrechtskonforme Auslegung bestehen. Wenn der Gerichtshof z.B. die Grundfreiheiten oder Wettbewerbsregeln im Lichte der allgemeinen Zielbestimmungen (Art. 2, 3 EG) interpretiert,156 so bedeutet das nicht, daß er jenen einen Vorrang vor den spezifischen Vertragsbestimmungen einräumt, sondern nur, daß er die Auslegung am Primärrechtssystem ausrichtet. Das aber ist nichts anderes als eine einfach-systematische bzw. teleologische Interpretation.157
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Ähnlich liegen die Dinge, wenn Grundfreiheiten mit Gemeinschaftsgrundrechten oder Gemeinschaftsgrundrechte mehrerer Grundrechtsträger miteinander kollidieren. Die kollidierenden Interessen sind nach dem aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Grundsatz der praktischen Konkordanz158 möglichst schonend auszugleichen.159 Der Sache nach handelt es sich hierbei um ein Optimierungsgebot und nicht um die Auflösung von Normkollisionen im Wege der rangkonformen Auslegung.
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Soweit primärrechtliche Normen tatsächlich einmal miteinander konfligieren und ein Vorrang einzelner Normen nachgewiesen werden kann, spricht nichts dagegen, die Grundsätze der primärrechtskonformen Auslegung des abgleiteten Gemeinschaftsrechts auf dieses Verhältnis zu übertragen. 2.
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Sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts
Unter normhierarchischen Gesichtspunkten etwas überraschend legt der EuGH mitunter das Primär- im Lichte des Sekundärrechts aus.160 Manche sprechen von einer sekundärrechtskonformen Auslegung des Vertragsrechts 161 oder einer umgekehrten Konformauslegung.162 So rekurrierte der Gerichtshof etwa zur Begründung einer unmittelbaren Drittwirkung der Art. 12, 49 EG unter anderem auf Art. 7 Abs. 4 der VO (EWG) 1612/68163, 164 oder legte den Begriff der Maßnahme gleicher Wirkung 155 Möglichkeiten der prozessualen Geltendmachung primärrechtswidrigen Primärrechts zeigt von Arnauld, EuR 2003, 191, 214 f. auf. 156 Vgl. z.B. EuGH v. 13.2.1979 – Rs. 85/76 Hoffmann-La Roche, Slg. 1979, 461 Rn. 125; EuGH v. 5.5.1982 – Rs. 15/81 Schul, Slg. 1982, 1409 Rn. 33. 157 S.a. Grabitz/Hilf-von Bogdandy, Art. 2 EGV Rn. 14; Streinz-Streinz, Art. 2 EGV Rn. 18. 158 Grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (19. Aufl. 1993), Rn. 317 ff.; beispielhaft für die Rechtsprechung BVerfGE 81, 278, 292. 159 In diesem Sinne EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, I-5659 Rn. 81; ebenso Jarass, EU-Grundrechte (2005), § 5 Rn. 34. 160 Beispiele bei Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 51; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 448 Fn. 23; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 328 ff. 161 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S.195. 162 Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 328. 163 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. 1968 L 257/2. 164 EuGH v. 12.12.1974 – Rs. 36/74 Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405 Rn. 20/24.
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Stefan Leible/Ronny Domröse
§ 9 Die primärrechtskonforme Auslegung
iSv Art. 28 EG – erstaunlicherweise sogar nach seinem wegweisenden Urteil Dassonville – im Lichte der Richtlinie 70/50/EWG 165 aus.166 Und in der Entscheidung Trummer und Mayer zog er sogar zur Konkretisierung des in Art. 56 EG enthaltenen Begriffs „Kapitalverkehr“ die im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG 167 enthaltene Nomenklatur für den Kapitalverkehr heran, obwohl diese Richtlinie noch auf der Grundlage von Art. 67 EWGV erlassen worden war, der durch Art. 56 EG fortgeschrieben und wesentlich verändert wurde.168 Letzteres mag man noch als eine Form der historischen bzw. genetischen Auslegung begreifen; schließlich ist kaum anzunehmen, daß mit der Umformung von Art. 67 EWGV bzw. 73b EGV a.F. zu einer „echten“ Grundfreiheit hinter dem bislang erreichten Stand zurückgeblieben werden sollte. Insgesamt begegnet die sekundärrechtskonforme Auslegung des Primärrechts jedoch Bedenken, stellt sie doch die Normhierarchie des Vertrages auf den Kopf.169 Dem läßt sich auch nicht entgegenhalten, die Berücksichtigung von Rechtsakten des Gemeinschaftsgesetzgebers, die der Konkretisierung und Ausfüllung von Vertragsnormen dienen, bei der Auslegung des Vertrages entspreche dem funktionellrechtlichen Grundsatz der richterlichen Zurückhaltung im Bereich der Rechtsetzung und -gestaltung.170 Gemäß Art. 234 EG obliegt die Auslegung des EG-Vertrags immer noch dem Gerichtshof. Er hat zu kontrollieren, ob die Gemeinschaftsorgane die ihnen gezogenen Kompetenzgrenzen nicht überschritten haben; und das bedingt – auch bei offenen Normen – eine primäre Ausfüllungszuständigkeit des Gerichtshofs als „Hüter des Rechts“. Wenn überhaupt, so ist ein Rekurs auf Sekundärrecht daher nur möglich, wenn er der Absicherung eines bereits selbständig mit Hilfe der klassischen Auslegungsmethoden gewonnenen Auslegungsergebnisses dient.171 Ein Beispiel hierfür findet sich in der EuGH-Entscheidung Antonissen: 172 „Diese Auslegung des EWG-Vertrags entspricht im übrigen der Auffassung der rechtsetzenden Organe der Gemeinschaft, wie sie sich aus den Bestimmungen zur Durchführung der Freizügigkeit, insbesondere den Artikeln 1 und 5 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) ergibt, die das Recht der Gemeinschaftsangehörigen, sich zur Stellensuche in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, und folglich auch das Aufenthaltsrecht dort voraussetzen.“
165 Richtlinie 70/50/EWG der Kommission v. 22.12.1969 über die Beseitigung bestimmter Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, ABl. 1970 Nr. L 13/29. Vgl. dazu auch Grabitz/Hilf-Leible, Art. 28 EGV Rn. 10f. 166 EuGH v. 12.10.1978 – Rs. 13/78 Eggers, Slg. 1978, 1935 Rn. 23. 167 Richtlinie 88/361/EWG des Rates v. 24.6.1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. 1988 Nr. L 178/5. 168 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661 Rn. 21. 169 Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S.197; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 335. 170 So aber Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 52; ähnlich z.B. Colneric, ZEuP 2005, 225, 229; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449. 171 Ebenso Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S. 198; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 336. 172 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 14. Stefan Leible/Ronny Domröse
215
2. Teil: Allgemeiner Teil
3.
National-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts
67
Im Schrifttum wird vereinzelt sogar angenommen, das primäre Gemeinschaftsrecht müsse auch national-verfassungskonform ausgelegt werden.173 Diese Pflicht wird teilweise positivrechtlich auf Art. 5 Abs. 2, 10 und 151 Abs. 1 und 4 EG sowie Art. 2 und 6 Abs. 3 EU gestützt.174 Zum Teil wird auf das „Kooperationsprinzip und die materielle Einheit des Rechts im europäischen Verfassungsverbund“ verwiesen.175
68
Die Annahme, das Gemeinschaftsrecht enthalte ein Gebot der national-verfassungskonformen Auslegung des Primärrechts, geht zu weit. Sie ist weder mit dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zu vereinbaren noch ist der Gerichtshof zur national-verfassungskonformen des Vertrages berufen (vgl. Art. 68 Abs. 3, 220 Abs. 1, 234 Abs. 1 EG). Der EuGH zieht zwar zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als Rechtserkenntnisquelle heran. Hierbei handelt es sich indessen nicht um eine national-verfassungskonforme Auslegung des Primärrechts, sondern um eine rechtsvergleichende Auslegung als Erscheinungsform der teleologischen Interpretation.
173 Friauf, AöR 85 (1960), 224–235; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 289 ff.; Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 50; s.a. Daig, AöR 83 (1958), 132, 154. 174 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 289 ff. 175 Grabitz/Hilf-Pernice/Mayer, Art. 220 EGV Rn. 50.
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Stefan Leible/Ronny Domröse
Abschnitt 3 Sekundärrecht § 10 Systemdenken und Systembildung Stefan Grundmann
Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rn. 1
II. Gesamtsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweiebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft 2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eckpunktemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Alternativmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modell der materiellen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit b) Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einführung zu den Einzelgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2–25 2–12 2–5 6–12 13–18 13–15 16–18 19–24 19–20 21–24 25
III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragsrechtsregulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht . . . . . . . . . . b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil . . . . . . . . . . . . . . . . c) Wettbewerb der Formen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . b) Überblick zu weiteren Systemgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften . . . b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen . . . . . . . a) Wettbewerb der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompatibilität der Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Grundmann
.
26–42
. . . . . . .
26–30 26–28 29–30 31–38 31–32 33–34 35–38
. . .
39–42 39–40 41–42
.
43–65
.
43–53 43–47
. . . . .
48–50 51–53 54–62 54–55 56–58
217
2. Teil: Allgemeiner Teil c) Generalisierbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59–62 63–65 66
Literatur: Grundmann, Stefan (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts-Gesellschafts-, Arbeits-, und Schuldvertragsrecht, Tübingen 2000; ders., Die Struktur des Europäischen Gesellschaftsrechts von der Krise zum Boom, ZIP 2004, S. 2401–2412; Grundmann, Stefan/Stuyck, Jules, An Academic Greenpaper on European Contract Law, Den Haag 2002; Jung, Peter, Der Beitrag des Europäischen Gesellschaftsrechts zum System des Gemeinschaftsprivatrechts, GPR 2004, S. 233–244; Riesenhuber, Karl, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, Berlin 2003.
I. 1
Einleitung
Dem Herausgeber liegt das Thema „Systembildung“ am Herzen, er hat es für das Europäische Vertragsrecht so durchdrungen, daß jede zukünftige Diskussion nur auf der Grundlage seiner Monographie geführt werden kann.1 Zuletzt hat er die bekannte Umschreibung des geltenden Europäischen Privatrechts – im Sinne eines Gemeinschaftsprivatrechts – als „pointillistisch“ 2 feinfühlig umgewertet: Bilder des Pointillismus, etwa eines Seurat, erschließen sich erst durch Zurücktreten, doch dann als höchst kunstvolle Ensembles.3 In der Tat kann die dogmatische Durchdringung des Regelbestandes eines Gebiets, der Nachweis relativ großer Stimmigkeit, hier auch nicht ansatzweise geleistet werden (vgl. oben, I. mit Fn. 1). Systembildung im Europäischen Privatrecht kann hier nur heißen: das Gesamtsystem beleuchten (unten II.) und dann zwei Teilgebiete gerade auch mit der Überlegung in den Blick nehmen, ob nicht gar über die Gebiete hinweg gemeinsame Strukturen zu sehen sind. Dafür erscheinen die beiden zentralen privatrechtlichen Organisationsformen – Vertrag und Gesellschaft –4 besonders prädestiniert (unten III. und IV.).
1 Riesenhuber, System und Prinzipien. Eigentlich liegt darin, wenn man die Bemühung um einen Gemeinsamen Referenzrahmen beim Wort nimmt, schon weit gehend die Antwort auf die dort gestellten Fragen. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht, ein Aktionsplan vom 12.2.2003, KOM(2003) 68 endg., ABl. 2003 Nr. C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen, KOM(2004) 651 endg.; für das zweite hier behandelte Teilgebiet, das Gesellschaftsrecht, zuletzt: Jung, GPR 2004, 233; in der Sache auch Grundmann, ZIP 2004, 2401. 2 Kötz, RabelsZ 50 (1986) 1, 5, dort natürlich kritisch gemeint. 3 Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322. 4 Grundlegend zur Alternative zwischen diesen beiden Organisationsformen: Coase, The Theory of the Firm, Economica 4 (1937), S. 386; Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law (1991), S. 8 f.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042; Hart, Firms, Contracts, and Financial Structure (1995), S. 6–8, S. 15–55. Beide schon als Hauptalternativen in den Blick genommen in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken.
218
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
II.
Gesamtsystem
1.
Zweiebenensystem
a)
Phänomen
Geht man vom äußeren System aus, so fällt zunächst auf, daß auch in den stark harmonisierten oder vereinheitlichten Gebieten zentrale und dezentrale (d.h. idR nationale) Regelung nebeneinander tritt und eng mit einander verwoben ist. Dafür hat sich der Begriff eines Zweiebenensystems eingebürgert, obwohl natürlich die Wahl nicht nur zwischen zentral und dezentral gesetzten Regelungskomplexen eröffnet sein kann, sondern zwischen verschiedenen dezentral gesetzten Regelwerken und auch Kombinationen derselben (etwa Ltd. & Co. KG). Ein Zweiebenensystem in diesem Sinne findet sich sicherlich in den Fällen des Vertrags- und des Gesellschaftsrechts (mit Kapitalmarktrecht).5
2
Zweiebenensysteme gibt es nicht nur in Europa, das Zweiebenensystem in Europa ist freilich doch von recht eigener Art. Charakteristisch ist hier, daß die Regeln, die auf zentraler Ebene gesetzt wurden, nicht ein Rechtsgebiet (weitgehend) erschöpfen, die Regeln, die auf dezentraler Ebene gesetzt wurden, dann ein anderes. Vielmehr wirken beide Ebenen regelmäßig auch in den einzelnen Fragen jeweils zusammen, etwa, wenn die Hauptversammlungszuständigkeit, wie häufig, in der Richtlinie vorgesehen wird, die Mehrheit aber im nationalen Recht, vielleicht wiederum mit einer Minimumregel in der Richtlinie, oder etwa, wenn das Bestehen eines Rückgriffsrechts in der Absatzkette in der Richtlinie vorgesehen wird, seine Abdingbarkeit jedoch und mögliche Ersatzinstrumente dem nationalen Recht überlassen werden, oder auch, wenn die Einbeziehung von AGBs den nationalen Rechten überantwortet wird, das Zentralkriterium für die Inhaltskontrolle in der Richtlinie zu finden ist, und der detaillierte Katalog mißbräuchlicher Klauseln dann in der Richtlinie als evtl. unverbindlicher „Hinweis“ formuliert wird, die Festlegung dann wieder dem nationalen Recht überlassen wird. Und genereller ist auf die regelmäßig bestehende Möglichkeit der Mitgliedstaaten hinzuweisen, strengeres Recht im Anwendungsbereich und sogar in den Regelungsfragen der Richtlinie zu erlassen.
3
Das Bild ist durchaus anders als etwa in den USA, in denen ebenfalls ein Zweiebenensystem zu finden ist. Der UCC als Modellgesetz ist doch immer eine Materie für nur eine Art Vertragsbeziehung – b2b – geblieben und stellt für diese inzwischen flächendeckend auch das Gliedstaatenrecht dar.6 Und im Gesellschaftsrecht ist prak-
4
5 Zu beiden Teilgebieten die Beiträge unten §§ 19 und 20. Eine Ausnahme bildet nur das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das von Anbeginn an für so wichtig gehalten wurde, daß es vor allem Europäisch verfaßt sein sollte, und das angesichts der de facto-Angleichung auch der nationalen Wettbewerbsrechte, wo sie noch Anwendung finden, in der Tat vor allem Europäisch ist. Für diesen letzten Schritt in Deutschland, vgl. die 7. GWB-Novelle, 2005; dazu etwa Bechtold, DB 2004, 235; Kahlenberg, BB 2004, 389. 6 Garner (Hrsg.), Blacks Law Dictionary, S. 1531 und bereits Mentschikoff, The Uniform Commercial Code, RabelsZ 30 (1966), 403. Stefan Grundmann
219
2. Teil: Allgemeiner Teil
tisch nur das Kapitalmarktrecht auf zentraler, d.h. Bundesebene geregelt, dann aber deutlich erschöpfender noch immer als in Europa.
5
Das Europäische Verschränkungsmodell ist sicherlich komplexer, zumindest theoretisch hat es jedoch auch Vorteile. Insbesondere erlaubt es, auch innerhalb einzelner Rechtsgebiete danach zu unterscheiden, bei welchen Regeln eine zentrale Setzung vorteilhafter ist, bei welchen eine dezentrale, also die Erkenntnisse der Föderalismustheorie („Wettbewerb der Regelgeber“) auch wirklich ernst zu nehmen.7 b)
Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft
6
Daß Vor- und Nachteile von zentraler und dezentraler Regelsetzung von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet divergieren, ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich sind die Vorteile zentraler Regelsetzung im Vertragsrecht ungleich eingängiger als etwa im Familienrecht. Umgekehrt sind die Nachteile zentraler Regelsetzung, wenn eine solche etwa in der Versteinerungsgefahr gesehen wird, offensichtlich größer in Rechtsgebieten, in denen zwingendes Recht vorherrscht, als in solchen, in denen das nicht der Fall ist.
7
Wie bereits ausführlich dargelegt, ist jedoch m.E. Gleiches innerhalb der Rechtsgebiete zu konstatieren.8 Und selbstverständlich wirken faktische Umstände bei der Bewertung mit, etwa die Frage, welche Professionalität die Entscheidungsträger haben und wer denn konkret die Entscheidungsträger sind, nach Meinung mancher auch, ob denn die jeweiligen Gesetzgeber durch Wahl ihres Rechts Steuereinkünfte generieren können oder nicht.9 Hingegen handelt es sich bei der Frage, ob denn Rechtswahlfreiheit besteht,10 nicht um solch einen die Bewertung beeinflussenden Umstand. Vielmehr ist Einräumung von Rechtswahlfreiheit ein Mittel zur Förderung dezentraler Regelsetzung, mit Einräumung einer solchen wird also eine Antwort auf die Ausgangs- und Hauptfrage gegeben. Wichtig ist jedoch, daß innerhalb jedes Rechtsgebiets die Vorteile oder die Nachteile zentraler Regelung für einen Teil der
7 Esty/Geradin, Journal of Economic Law 2000, 235, 240 f.; Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The new Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 1, S. 273–275; Häuser/ Hösli, Außenwirtschaft 46 (1991), 497; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 84–87 (in Englisch Kerber, Fordham Int’l LJ 23, 217); Siebert/Koop, Außenwirtschaft 45 (1990), 439; Woolcock, in: Bratton (Hrsg. u.a.), International Regulatory Competition and Coordination, S. 298 f. 8 Für das Vertragsrecht: Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; für das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht: Grundmann, in: Ferrarini u.a. (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro – Cross-Border Transactions, Listed Companies and Regulation, S. 561 = Grundmann, ZGR 2001, 783. 9 Merkt, RabelsZ 59 (1995) 543, 553 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im europäischen Binnenmarkt, 88 f. Für Delaware wird dies als maßgeblicher Systembaustein in den USA implizit oder explizit recht allgemein angenommen: bahnbrechend Winter, J.Leg.Stud. 6 (1977), 251; Romano, 1 J Law Econ Organ 1985, 225. 10 Bekanntlich lange Zeit im Europäischen Gesellschaftsrecht als gering eingestuft, vgl. Nachw. vorige Fn.; a.A. Grundmann, ZGR 2001, 783, 808 ff., 819 ff., 828 ff.
220
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
Regeln überwiegen und für einen anderen Teil geringer wiegen können und auch die Gesamtabwägung von Regel zu Regel desselben Rechtsgebiets verschieden ausfallen kann. Die Folge ist, daß etwa im Vertragsrecht für manche Regeln eine Harmonisierung zu begrüßen ist, für andere nicht. Und exakt dies entspricht bekanntlich der derzeitigen Praxis. Die Entscheidung zugunsten von Harmonisierung oder zuungunsten mag im Einzelfall verkehrt getroffen worden sein. Der Systemansatz ist jedoch zunächst einmal überzeugend (sieht man hier noch von Schwierigkeiten des Zusammenspiels beider Ebenen ab, die jedoch im bestehenden Gemeinschaftsrecht durchaus auch bedacht werden, vgl. unten).
8
Vergleichbares wird dann zu entscheiden sein, wenn ein Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex erlassen werden sollte. Dann stellt sich nicht nur die Frage, ob opt-in oder opt-out für die eine oder andere Regelgruppe oder Konstellation vorzugswürdig ist, sondern auch die Frage, ob manche Regelgruppen einheitlich sein müssen – im Europäischen Kodex ebenso wie in den wahlweise zur Verfügung stehenden Mitgliedstaatsrechten („Europe only“) – oder ob eine Regel auf zentraler Ebene eben nur im Europäischen Kodex zu finden ist, nicht auch in den alternativ zur Wahl stehenden Mitgliedstaatsrechten.11
9
Die wichtigsten Regelungsgruppen im Vertragsrecht, die unterschiedlich zu bewerten sind, sind m.E.: dispositive Normen, zwingende inhaltsgestaltende Normen und – zwischen beiden – zwingende, jedoch nur die Informationsweitergabe anordnende Normen (vgl. Nachw. Fn. 11). Während es offensichtlich erscheint, daß eine Vielzahl anderer Präferenzen und Experimentiermöglichkeiten bei zentraler Setzung von zwingenden inhaltsgestaltenden Normen ungleich stärker beschränkt werden als bei zentraler Setzung von dispositiven Normen, verdient die zentrale Setzung von zwingenden Informationsregeln eine besondere Bewertung: Hier ist die zentrale Setzung nicht so schädlich wie bei inhaltlich zwingenden Regeln, weil die Gestaltungsvielfalt im Inhaltlichen erhalten bleibt (und damit die Möglichkeit, heterogene Präferenzen zu bedienen und zu experimentieren); umgekehrt sind die Vorteile zentraler Setzung hier besonders groß, da diese u.a. auch in der Erleichterung der Information gesehen werden und hierfür ist Vergleichbarkeit – also die Setzung einheitlicher Standards – besonders wichtig.
10
Das Kollisionsrecht bildet in dieser Sicht eine Rahmenordnung – eine Verfassung –, mit der darüber entschieden wird, ob und in welchem Maße Privatrechtssubjekte einem einzigen Recht unterworfen werden oder Wahlfreiheiten haben … wobei auch bei Wahlfreiheit beispielsweise ein Mindestsockel allgemein verbindlich sein mag, also Wahlfreiheit mit Zwang zu einem Recht verbunden wird.
11
Noch weiter ginge eine Anerkennung aller Mitgliedstaatenrechte auf der Grundlage gegenseitigen (praktisch) unbegrenzten Vertrauens. Dies ist weitgehend der Zustand
12
11 Zu diesen Möglichkeiten: Basedow, ZEuP 2004, 1; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/ Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Müller, EuZW 2003, 683; Sinai, EBLR 15 (2004), 47. Stefan Grundmann
221
2. Teil: Allgemeiner Teil
im US-amerikanischen Gesellschafts- und auch Vertragsrecht. Die bisherigen Überlegungen sind jedoch geeignet, Zweifel zu säen, ob dies denn tatsächlich eine überlegene Lösung darstellen würde. Die Vorteile zentraler Regelsetzung könnten dann nämlich nicht mehr bewußt mit den Vorteilen von miteinander konkurrierenden Einzelrechten kombiniert werden. Gerade Letzteres scheint der interessante Punkt am Europäischen Systemansatz, der es verdient, intensiv fortgedacht zu werden. 2.
Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell
a)
Eckpunktemodell
13
Das zum Zweiebenensystem Gesagte legitimiert offensichtlich eine Lösung, in der auf zentraler Ebene nur Einzelfragen geregelt werden und zwar in jedem Rechtsgebiet bei gleichzeitiger Präsenz auch dezentraler Regelungen und Regelungsfelder. Dies kann mit dem Begriff eines Eckpunktemodells auf zentraler Ebene umschrieben werden. Verbreitet ist freilich für das Gemeinschaftsprivatrecht auch die Sicht, daß zwar in der Tat nur einzelne Punkte auf zentraler Ebene geregelt wurden, deren Auswahl jedoch nicht oder nur zufällig einer sinnvollen Strategie folgen. Ob diese Sicht zutrifft oder eine sinnvolle Auswahl an Eckpunkten getroffen wurde, kann – je nach Ansatzpunkt – eigentlich nur für jeden Rechtsakt oder gar jede Norm konkret diskutiert werden. Jedenfalls muß für eine einigermaßen konkrete Antwort auf die Ebene je eines einzelnen Rechtsgebiets heruntergestiegen werden (vgl. daher unten III. und IV., jeweils unter 1.). Und selbst dann sind durchaus unterschiedliche Antworten möglich: Man kann wiederkehrende Leitlinien herausarbeiten und darin dann legitimerweise System erkennen; unabhängig davon bleibt jedoch die Zuspitzung auf die (durchaus noch anders gelagerte) Frage interessant, ob denn gezielt jeweils in den Punkten harmonisiert wird, in denen sich zentrale Regelsetzung (nach den Erkenntnissen der Föderalismustheorie) besonders anbietet. Auch dann ist von System zu sprechen.
14
An dieser Stelle kann zunächst nur betont werden, daß Riesenhuber jedenfalls für das Vertragsrecht m.E. das nahezu flächendeckende Wiederkehren von Leitlinien, Modellen und Prinzipien eindrucksvoll belegt hat.12 Zugleich kann auch schon als Quintessenz vorweggenommen werden, daß m.E. in der Tat eine durchaus bewußte Verteilung zwischen zentraler und dezentraler Regelsetzung zu beobachten ist, die zudem zu einem Gutteil auch der Idee optimaler Nutzung von Vorteilen und Meidung von Nachteilen folgt.
15
Weiter muß an dieser Stelle bereits allgemeiner betont werden, daß die Frage, wann denn Zentralität der Regelsetzung funktional wichtig ist, auch im EG-Vertrag den zentralen Ausgangspunkt bildet. Dies ist jedenfalls auf der Primärrechtsebene so, denn diese Frage bildet das maßgebliche Kriterium für die Zuordnung von Kompetenzen sowohl in Art. 95 EG als auch in Art. 44 Abs. 2 lit. g EG, jeweils iVm Art. 5 Abs. 2 und 3 EG. Und dies sind die Kompetenzgrundlagen, auf denen das Europäische Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht, jedenfalls die Harmonisierung, ausschließlich gründet. Abgestellt wird in allen Kompetenzgrundlagen 12 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts.
222
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
darauf, daß zentrale Regelsetzung Skalenerträge aufgrund Vergrößerung der geographischen Betätigungsgebiete fördert und dies in spürbarer effizienterer Weise, als dies durch dezentrale Regelsetzung möglich wäre. b)
Alternativmodell
Zunehmend findet sich im Europäischen Recht ein Alternativmodell zum nationalen Recht. Zwei Formen sind zu beobachten (zur Durchführung im Vertrags- und Gesellschaftsrecht dann unten III. und IV. jeweils unter 2.).
16
Zunächst sind dies die Komplexe des Gemeinschaftsprivatrechts, die parallele Rechtsformen oder Regelwerke bereitstellen. Als erstes wurde an eine Europäische Aktiengesellschaft gedacht, damals in der Tat als voll ausformuliertes Modell.13 Bekanntlich ist die verabschiedete Fassung jedoch nur in Fragen der Gründung weitgehend vollständig, während sonstige Fragen weit überwiegend durch Verweis auf das Sitzstaatrecht geregelt werden und nur einige Eckpunkte wirklich Europäisch festgelegt werden.14 Deswegen wird die Societas Europaea (SE) vor allem als Instrument der (zweifelsfreien Durchführung einer) grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Fusion gesehen, weniger als echtes Alternativmodell. Deutlich dichter ist die Europäische Regelung noch bei der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), die freilich kaum Bedeutung erlangte und bei der man ebenfalls nicht ganz ohne Verweis auskam. Ein wirklich vollständiges Regelwerk wird dann jedoch für einen zukünftigen optionalen Vertragsrechtskodex gefordert. Und all dies ist und wäre durchaus anders als etwa aus dem US-amerikanischen Recht bekannt. Es geht hier gerade nicht um Modellgesetze, die, wie etwa beim UCC, ein (Mit-)Gliedstaat übernehmen kann oder nicht. Das Wahlrecht liegt bei den Parteien, die Wahlfreiheit wird kraft Europäischen Rechts begründet und zielt dann (auch) auf ein europaweit geltendes Regelwerk. Unterschiede im Ergebnis verbleiben freilich nur, wenn dem Regelwerk auch für den Inlandsfall Anwendbarkeit verliehen wird. Denn im grenzüberschreitenden Fall – in den USA im interstate-Fall – können Parteien auch ein Modellgesetz, das der einzelne (Mit-)Gliedstaat nicht übernommen hat, kraft Rechtswahl (kollisionsrechtlicher Parteiautonomie) zur Anwendung bringen … auch wenn der Fall primär Bezüge zum fraglichen Gliedstaat haben sollte.
17
Bei der zweiten Form ist der Einfluß des Gemeinschaftsrechts ein anderer, stärker vermittelt. Hier eröffnet das Gemeinschaftsrecht nur ein Wahlrecht. Grundlage sind
18
13 Vorschlag einer Verordnung des Rates für das Statut für Europäische Aktiengesellschaften vom 30.6.1970, ABl. 1970 Nr. C 124/1 = KOM(70) 600 endg.; Stellungnahmen ABl. 1974 Nr. C 93/22 (Europäisches Parlament), 1972 Nr. C 131/32 (Wirtschafts- und Sozialausschuß); ausführlich zu diesem Stadium: Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft. Angestoßen durch Sanders, AWD (RIW) 1960, 1 (auch verantwortlich für den Entwurf); Thibièrge, Le statut des sociétés étrangères, S. 270 ff., 360 ff.; Ulmer, Wege zu europäischer Rechtseinheit, Münchener Universitätsreden (14.11.1959), N.F. 26, S. 12. 14 Vor allem die Hauptversammlungskompetenz bei Satzungsänderungen und das Wahlrecht der Gesellschaft, das Leitungsorgan ein- oder zweistufig auszubilden. Zur Societas Europaea vgl. etwa Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 29; Hirte, NZG 2002, 1; Jannott/ Stefan Grundmann
223
2. Teil: Allgemeiner Teil
die Grundfreiheiten. Für das Gesellschaftsrecht bedeutete dies eine Revolution.15 Die Wahlfreiheit zielt dann jedoch auf ein Regelwerk nicht Europäischen Ursprungs, sondern in einem anderen Mitgliedstaat, etwa englisches Recht der Private Limited Company (Ltd.). Und dies ist in der Wirkung etwa der full faith and credit clause sowie der commerce clause im US-amerikanischen Verfassungs-, Handels- und Gesellschaftsrecht16 doch sehr weitgehend vergleichbar. Der Unterschied liegt vor allem darin, daß der jeweilige Mitgliedstaat auf Grund des Vorbehalts zwingender Gründe des Allgemeininteresses wohl doch noch (etwas) weitergehend die Möglichkeit hat, berechtigten Schutzinteressen, für die er sich einsetzt, die jedoch (noch) nicht auf zentraler Ebene geschützt werden, zum Durchbruch zu verhelfen.17
19
3.
Modell der materiellen Freiheit
a)
Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materieller Freiheit
Inhaltlich bildet das allgemeingültigste Systemprinzip im gesamten Europäischen Privatrecht wohl das, daß danach gestrebt wird, materielle – nicht nur formale – Freiheit möglichst weitgehend zu verbürgen. Damit steht das Europäische Privatrecht zwischen einem neoliberalen Grundansatz, soweit dieser freiheitserhaltende Regeln für weitgehend überflüssig hält, und interventionistischen Ansätzen, die verstärkt auf inhaltlich zwingende Vorgaben setzen. Grundidee hierbei ist, daß vor allem Informationsungleichgewichte ausgeglichen werden … dann aber die Verarbeitung und Nutzung der Information. Zentrales Instrument sind daher die Informationsregeln (näher unten III. und IV., jeweils unter 3.). Dies bedeutet mehrerlei: Daß das Modell auch Verlierer haben kann, wobei jedoch zu zeigen sein wird, daß Grenzen bei existentiellen Verlusten gezogen werden müssen und wurden (vgl. unten Beispiele); daß das Modell im Grundsatz durchaus auf Eigenverantwortung setzt und damit Chancen bei denen (auch etwa Verbrauchern) mehrt, die sich dem stellen; und daß das Modell sicherlich einem institutionenökonomischen Regulierungsansatz nahe steht, der – pragmatisch – sich nicht darauf beschränkt, die jeweils bestehenden Institutionen zu kritisieren, sondern auch als Voraussetzung für eine Änderung postuliert, daß eine bessere Alternative aufgezeigt wird, und der zugleich regulierende Eingriffe an mehrere Bedingungen knüpft, namentlich: daß Versagen oder suboptimale Wirkung des Marktmechanismus nachgewiesen sein müssen; und daß zugleich aufgezeigt werden muß, daß Regulierung wohl bessere Ergebnisse zeitigen wird als das Hinnehmen des suboptimalen Marktprozesses, mit anderen Worten: Daß auch ein gutes Mittel der
Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft (2005); Neye (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2005); Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2005). 15 Maßgeblich sind: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459; EuGH v. 5.11. 2002 – Rs. 208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 16 Zu diesen Schapiro/Buzbee, Cornell Law Review 88 (2003), 1199; Hay, RabelsZ 35 (1971), 429 (485–489). 17 Grundmann, ZGR 2001, 783, 802–805.
224
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
Regulierung mit genügend Sicherheit angenommen werden kann (trotz all der Probleme von Regulierung wie rent seeking oder Wissensproblemen beim Regulierer). Mit all dem wird auch der Aussage eine Absage erteilt, Europäisches Privatrecht sei systematisch überreguliert.18 Auch heute ist vor allem die Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt nicht wirklich in Frage gestellt, obwohl in der legislativen Praxis nicht mehr ein formaler Freiheitsbegriff zugrunde gelegt wird und dieser auch konzeptionell zu Recht kritisiert wird. Dies gilt gerade auch für das Europäische Vertragsrecht. Zu Recht: (1) Das Subsidiaritätsprinzip, radikal verstanden, gibt Entscheidungsmacht primär den Betroffenen selbst – den Vertragsparteien oder den Gesellschaftern oder anderen stakeholdern –, zumindest wenn diese die Entscheidungen sinnvoll treffen können und damit Dritte nicht belasten. Daher muß der Gesetzgeber zuvörderst versuchen, die Voraussetzungen für solches Handeln der Parteien herzustellen, und kann nur, falls dies nicht möglich ist, paternalistisch mit inhaltlich zwingendem Recht einschreiten und seine Entscheidung an die Stelle derjenigen der Parteien setzen. (2) Gesetzgeber sind keineswegs fähig, die große Bandbreite heterogener Präferenzen zu erkennen. Zentralistisches Planen hat sich im Praxistest als deutlich suboptimal erwiesen. Wettbewerb – vor allem Vertragsfreiheit – bildet offenbar in der Tat das mächtigste Entdeckungsverfahren.19 Die eigentliche Frage ist nicht, ob Vertragsfreiheit den Ausgangspunkt bildet und bilden soll, sondern, wie formal diese gefaßt werden darf und wie viel Materialisierung nötig ist, akzeptabel ist und gerechtfertigt werden kann. Vergleichbares gilt im Gesellschaftsrecht. b)
20
Beispiele
Der angedeutete Mittelweg zeigt sich vielleicht besonders plastisch an Beispielen. Diese sind Legion. Da das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen so offensichtlich der Idee einer materiellen Freiheit, d.h. einer Freiheit, die durch eine Marktordnung zu schützen ist, verpflichtet ist,20 und da die Fragen im Gesellschaftsrecht auf Grund der Vielzahl von betroffenen Interessen besonders komplex sind, sollen zwei Beispiele aus den zwei sonst wohl prominentesten Gebieten im Vordergrund stehen: aus dem Recht gegen unlauteren Wettbewerb und aus dem Vertragsrecht.
21
Im Recht gegen unlauteren Wettbewerb ist wohl kein Konzept so bekannt geworden und doch auch umstritten wie das Konzept des sog. „informierten“ Verbrauchers. Der EuGH entwickelte es zuerst im Grundfreiheitenbereich, vor allem in Cassis de Dijon,21 und rechtfertigte damit den Vorrang von Informationsregeln, wann immer sie Marktversagen ausräumen können. Er wandte es dann auch auf die Werbe-
22
18 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 511; vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000), 276. Zum immer wieder angenommenen Niedergang der Vertragsfreiheit: Atiyah, The Rise and Fall of the Freedom of Contract; vgl. auch Buckley (Hrsg.), The Fall and Rise of Freedom of Contract. 19 F. v. Hayek, in: ders., Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze, S. 249. 20 Grundlegend schon Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 278 (1. Aufl. 1952 S. 241ff.). 21 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 (Cassis de Dijon). Stefan Grundmann
225
2. Teil: Allgemeiner Teil
Richtlinie an:22 Ob Werbung irreführend ist, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont des „hinreichend informierten“ Verbrauchers („reasonably well-informed consumer“). Sehr zentral ging es um vergleichende Werbung. Will man sie untersagen – weil einige Verbraucher keine „hinreichende“ Sorgfalt aufbringen –, schließt man damit auch einen der Hauptinformationskanäle für alle anderen aus (wir nehmen Werbung wahr, lesen aber keine Instruktionen) und zudem ein wichtiges Instrument des Markteintritts für Neuankömmlinge. Ein Verbot wirkt also potentiell schädlich in informationeller und wettbewerblicher Hinsicht. Zentral ist also, daß jeder – auch der informierte Verbraucher – die Chance hat, seine Interessen einbezogen zu sehen. Drexl hat nämlich zu Recht herausgearbeitet, daß es bei diesen Fragen nicht nur und nicht einmal primär um den Interessenwiderstreit zwischen Unternehmen und (uninformierten) Verbrauchern geht, sondern auch zwischen Verbrauchergruppen, die die Freiheiten und Instrumente nutzen können (sie wollen ihr „wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht“ ausüben),23 und solchen, die dies nicht können. Dann stellt sich freilich die Folgefrage, ob es nicht problematisch ist, wenn manche Verbraucher in die Irre geführt werden, weil auf den Empfängerhorizont eines recht aufmerksamen Verbrauchers abgestellt wird, und zwar auch, wenn andere davon profitieren. Auf diese Frage ist differenziert zu antworten. Beschränkte Rationalität ist ein Nachteil auch sonst im Leben: bei der Suche nach guten Gelegenheiten (jenseits des Vertragsrechts), nach guten Jobs etc. Wenn also Vertragsrecht Verbrauchern hinreichende Anstrengungen und Kapazitäten abverlangt, schafft es nur eine Parallele zum sonstigen Leben … auch, um anderen die notwendigen Chancen zu eröffnen. Auch hier stellt sich wieder eine Folgefrage und zwar nach den Grenzen: Existiert ein „Sicherheitsnetz“ für diejenigen, die hierbei verlieren? Europäisches Vertragsrecht einschließlich seiner institutionellen Rahmenbedingungen scheint ein solches in der Tat bereitzustellen, zumindest im Ansatz – obwohl nicht alle Verbraucher in jeder Hinsicht geschützt werden. Diese „Sicherheitsnetze“ werden in der Debatte zu wenig beachtet: Jenseits eines „sozialen“ Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts – die beide noch weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen – handelt es sich vor allem um zwei Instrumente: Der EuGH zieht das Leitbild des „informierten“ Verbrauchers nicht allgemein heran, namentlich nicht, wo Gesundheit und Leben betroffen wären.24 Diese bilden ein zu wichtiges, „existentielles“ Gut, als daß auf den Schutz jedes Verbrauchers – auch bei beschränkter Rationalität – verzichtet werden könnte.
23
Existentielle Risiken ergeben sich jedoch teils auch aus finanziellen Verlusten – existentiell typischerweise erst, wenn nicht nur vorhandene Ressourcen verloren werden, 22 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl. 1984 Nr. L 250/17; Änderungen in ABl. 1997 Nr. L 290/18 (seitdem auch vergleichende Werbung); vgl. EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb ./. Clinique Laboratories and Estée Lauder, Slg. 1994, I-317, Leitsatz 2 und Rn. 18–21; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431, Leitsätze 1 und 2; krit. zum Konzept des „informierten“ Verbrauchers etwa: Weatherill, ERPL 1995, 307, 312–318. 23 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998). 24 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 29–31; EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart and Biffl, Slg. 2002, I-9375 Rn. 31 f.
226
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
sondern auch die Fähigkeit, zukünftig Einkünfte zu produzieren, verbraucht wird. Damit ist das vertragsrechtliche Beispiel angesprochen. Aus diesem Grunde ist nämlich Verbraucherkreditrecht so wichtig. Die Richtlinie von 1986 hat ein sehr wichtiges informationelles Instrument geschaffen, das die Konditionen im Zentralpunkt gut vergleichbar macht und auch die Gesamtbelastung in „guten Zeiten“, d.h. bei planmäßiger Erfüllung aufzeigt; weitere Regeln, d.h. ein Ausbau des bestehenden Netzes, erscheinen dennoch nötig.25 In einer anderen Hinsicht wurde das Sicherheitsnetz gegen existentiellen finanziellen Verlust auf EG-Ebene unlängst deutlich verstärkt: Die Verbraucherinsolvenz ist, obwohl sie im nationalen Insolvenzrecht fußt, europaweit anerkannt auf der Grundlage der EG-Insolvenz-Verordnung.26 Solchermaßen können finanzielle Risiken für Verbraucher zwar substantiell sein, sie sind jedoch nicht mehr (zeitlich) grenzenlos. Solche „Sicherheitsnetze“ und ein liberaleres Verbraucherrecht, in dem auch Verlustrisiken hingenommen werden, korrelieren. Die angedeutete Suche nach einem Mittelweg – weder formale Freiheit noch Intervention durch eine Vielzahl inhaltlich zwingender Regeln – ist jedoch viel allgemeiner zu konstatieren, einige charakteristische Beispiele können das noch weiter illustrieren: Einerseits wurde EG-Vertragsrecht überzeugend dahin verstanden, daß hier der Grundsatz eines caveat emptor abgelöst wurde durch einen Grundsatz des caveat praetor.27 Und der Kauf bildet noch immer den Vertragstyp mit Leitbildcharakter. Ebenso evident ist es, daß das Regime vorvertraglicher Information auf EG-Ebene ungleich weiter geht als traditionell in den nationalen Vertragsrechten.28 Umgekehrt ist EG-Vertragsrecht jedoch auch nicht intensiv interventionistisch verfaßt: Abgesehen von zwingenden Informationsregeln, die zwar den Vertrag vorbereiten, die eigentliche Gestaltungsfreiheit jedoch unberührt lassen, kennt es kaum (inhaltlich) zwingende Regeln, mit denen der Vertragsinhalt vorgegeben und die Parteiabrede ersetzt wird. Die eine große Ausnahme (bis 1999), das AGB-Recht, ist auch auf der Grundlage der (Informations-)Ökonomie gut begründbar (unten, Rn. 39f. mit Fn. 37).
25 Entweder könnte Kreditinstituten vorgeschrieben werden, die Folgen von Leistungsstörungen (etwa nach Scheidung oder im Falle von Arbeitslosigkeit) zu illustrieren, oder ihnen könnte sogar eine (Mit-)Verantwortung auferlegt werden in der Frage, ob denn der Kredit für den Kunden überhaupt tragbar ist. Vgl. zu diesen Überlegungen (im neuesten Änderungsvorschlag der EG-Kommission): Riesenhuber, ZBB 2003, 325 und Franck, ZBB 2003, 332. Außerdem müßten die Schutzinstrumente wohl doch auf grundpfandrechtlich gesicherte Kredite erstreckt werden. 26 Primär Art. 16, 17 und 25 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 Nr. L 160/1; vgl. Homann, System der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens und die Zulässigkeit der Einzelrechtsverfolgung. 27 Hedley, JBL 2001, 114, 123. Diese Entwicklung ist von der ökonomischen Theorie her durchaus zu begrüßen: Grundmann/Bianca-Gomez, Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/BiancaGrundmann, Art. 2 Rn. 4. 28 Vgl. etwa, für einen Vergleich mit dem italienischen Recht: Roppo, in: Grundmann/Schauer (Hrsg.), The Architecture of European Codes and Contract Law. Stefan Grundmann
227
24
2. Teil: Allgemeiner Teil
4.
25
Einführung zu den Einzelgebieten
Wenn das Gesagte für zwei Gebiete auf einen etwas niedrigeren Abstraktionsgrad hinunter gehoben werden soll, so bieten sich die zwei großen Organisationsformen des Privatrechts und privatwirtschaftlichen Handelns als besonders nahe liegend an, der Vertrag bzw. das Vertragsrecht und die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftsrecht, Austausch und Organisation, „Market and Firm“ (s.o. Rn. 1 mit Fn. 4). Näher ausgeführt wird jeweils: Daß der Harmonisierungsbestand zunehmend als flächendeckend zu sehen ist und zwar als ein System der Eckpunkte, daneben jedoch auch (in statu nascendi) jeweils als Quelle einer Europäischen Alternativform, die mit den nationalen in Wettstreit tritt und im Wettbewerb steht (jeweils 1.); daß dieser Bestand zunehmend als allgemeines Leitbild auch außerhalb seines Anwendungsbereichs verstanden wird und darauf geradezu angelegt ist (jeweils 2.); und daß inhaltlich überall das Informationsmodell als Hauptinstrument und -philosophie zu sehen ist. Ein Ausblick auf sonstige Hauptgedanken im jeweiligen Gebiet komplettiert dann jeweils der Überblick (insgesamt jeweils 3.).
III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht 1.
Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz
a)
Vertragsrechtsregulierung
26
Bis zur Verabschiedung der Kaufrechts-Richtlinie 1999 betraf Europäisches Vertragsrecht kaum den klassischen Kern nationalen Vertragsrechts, d.h. das dispositive (und teils zwingende) Recht zu der Frage, wie die Parteien wohl entschieden hätten, hätte ihnen die nötige Information vorgelegen und wäre der Wettbewerb unbeschränkt gewesen. Diese Normen versuchen primär den Konsens nachzubilden, zu dem die Parteien unter solch idealen Bedingungen gelangt wären.
27
Europäisches Vertragsrecht versuchte demgegenüber vor allem, diese beiden Bedingungen (wieder) herzustellen, deren Fehlen den Konsensmechanismus (mit „Richtigkeitsgewähr“) mehr oder weniger weit gehend versagen und im Extremfall Märkte zusammen brechen läßt: hinreichende Information und genügend Wettbewerb. Kirchner sprach früh und sehr plastisch von einer Vertragsrechtsgestaltung „von den Rändern her“.29
28
Im Vordergrund steht in der Tat der Abbau von Informationsproblemen, was gesondert auszuführen sein wird (unten Rn. 39 f.). Ein zweiter Komplex galt direkten und indirekten Wettbewerbsbeschränkungen, am evidentesten bei den Gruppenfreistellungsverordnungen, die wie Musterverträge für alle Unternehmen wirkten (und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch wirken), die von der Gruppenfreistellung Gebrauch machen wollten. Wettbewerbsbezug haben auch die Harmonisierungsakte
29 Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht, S. 106; dann ausführlicher Grundmann, ZHR 163 (1999), 635.
228
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
zum öffentlichen Auftragswesen und auch im Urheberrecht (vor allem Softwarefragen). Zuletzt besonders wichtig wurde der – ebenfalls weitgehend auf Wettbewerbsüberlegungen gegründete – Bereich der ehemals öffentlichen Unternehmungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse.30 b)
Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht
Klassisches Vertragsrecht in größerem Umfang findet sich im EG-Recht erstmals in der Kaufrechts- und E-Commerce-Richtlinie, d.h. seit 1999/2000. Es handelt sich um Fragen des Vertragsschlusses, der Vertragserfüllung und des Leistungsstörungsrechts, d.h. Fragen, für die Gesetzgeber versuchen, die Abrede nachzubilden, die die Parteien getroffen hätten, hätten sie einen „vollständigen“ Vertrag (vgl. oben) geschlossen. Daß es zu solchen Regeln so spät kam, überrascht zunächst einmal, weil sie das Herz jeden nationalen Vertragsrechts bilden. Die herkömmliche Erklärung geht dahin, daß Verbrauchervertragsrecht deutlich umfassender Behinderungen für grenzüberschreitende Angebote begründen kann, da es international zwingend wirkt (vgl. oben). So sehr dies im Ansatz überzeugt, ist freilich festzustellen, daß die Kaufrechts-Richtlinie doch auch nur den Verbraucherkauf erfaßt und dennoch in ihrem Gehalt allgemeines Kauf- und Leistungsstörungsrecht regelt. Die Entwicklung mag auch institutionell zu erklären sein. Die GD Binnenmarkt konzentrierte sich mehr auf Gesellschafts- und Finanzrecht und zeichnet allein für die E-Commerce-Richtlinie verantwortlich. Die GD Gesundheit und Verbraucherschutz schien zunächst nicht wirklich dazu berufen, ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln.
29
Die Lösungen, die sich in diesen beiden Richtlinien finden, können im vorliegenden Rahmen nicht diskutiert werden. Beide wurden ausführlich erörtert, häufig auch monographisch oder gar in Kommentaren beschrieben, ebenso das UN-Kaufrecht als Hauptmodell.31 Eine eigene Untersuchung wäre nötig, um darzustellen, warum die Kaufrechts-Richtlinie das wichtigste Modell für Erfüllung und Leistungsstörung im EG-Recht enthält, wie weit dieses Modell reicht und wo seine Lücken und Schwächen liegen. Entsprechendes gilt für die Frage, inwieweit die Kaufrechts- und E-Commerce-Richtlinie im Zusammenspiel in der Tat ein Europäisches Modell des Vertragsschlusses schufen.
30
Hier kann nur kurz angedeutet werden, welches wohl die Zentralfragen bei der Fortentwicklung dieses Bestandes sein werden:
30 Dazu zuletzt Rott, ERCL 1 (2005) 323–345. 31 Für eine Interpretation aus Effizienzüberlegungen heraus und für meine eigene Auslegung der Richtlinie vgl. vor allem Grundmann/Bianca-Gomez, Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, Art. 2 Rn. 4; Grundmann, AcP 202 (2002), 40 mwN. Zum UNKaufrecht vor allem: Honnold, Uniform Law for International Sales; Staudinger-Magnus, Wiener UN-Kaufrecht (CISG); Schlechtriem (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UNKaufrecht. Stefan Grundmann
229
2. Teil: Allgemeiner Teil
2.
Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit
Die Kernfrage geht m.E. dahin, ob der Gehalt beider Richtlinien (und anderer) verallgemeinert werden kann. Dies wirft einige Unterfragen auf: a)
Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht
31
Generalisierungsfähig in großem Stile ist der acquis communautaire nur, wenn Verbraucherrecht generalisierungsfähig erscheint. M.E. (vgl. letzte Fn.) ist dies in der Tat der Fall. Man könnte einfach darauf verweisen, daß die Kaufrechts-Richtlinie nicht wirklich Verbraucherrecht ist – nahezu alle Lösungen sind ja aus dem UN-Kaufrecht übernommen, das nur den zweiseitigen Handelskauf regelt – und daß die E-Commerce-Richtlinie ohnehin allgemein gilt. Unter den Hauptrichtlinien stellt sich daher die Frage nach der Generalisierbarkeit in ganzer Schärfe nur für die AGB-Richtlinie und hier optiert immerhin die damals vor allem vorbildliche Rechtsordnung, das deutsche Recht, weitgehend für eine Verallgemeinerung.
32
Allgemeiner jedoch ist zu betonen, daß Verbraucherrecht primär hinsichtlich der Informationsregeln erheblich von sonstigem Vertragsrecht abweicht und daß daher ein Gesetzbuch gruppenspezifisch wohl fast nur in diesem Bereich zu differenzieren hätte, manchmal auch (wenn Informationsregeln versagen) beim paternalistisch gesetzten Schutzstandard. Der Rest des Vertragsrechts, basierend auf Vorstellungen der iustitia distributiva und commutativa, ist allgemeiner Natur, nicht gruppenspezifisch. Verbrauchervertragsrecht und „sonstiges“ Vertragsrecht gemeinsam – integrativ – einzubringen, hätte weitere erhebliche Vorteile: Verbraucherrecht würde nicht marginalisiert, sondern in den Fokus der Dogmatik gerückt; und die Stellung der jeweiligen Regeln „Seite an Seite“ würde den Druck, Unterschiede stets zu überdenken und zu legitimieren, noch verstärken (Kohärenz der Wertung als Daueraufgabe). b)
Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil
33
Eine zweite Unterfrage ginge dahin, inwieweit denn vom besonderen Vertragsrecht auf das allgemeine geschlossen werden kann. Denn viele Harmonisierungsmaßnahmen sind sektor- oder doch vertragstypspezifisch. Da sich eine Europäische Rechtswissenschaft noch in statu nascendi befindet, sollte das System ohnehin zunächst für konkretere Fragen, d.h. ausgehend von speziellen Vertragstypen, geschaffen werden, um dann induktiv ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln.
34
Für die Antwort auf die Frage erscheinen zwei Punkte von vorrangiger Bedeutung: Das UN-Kaufrecht hat, obwohl es nur für das Kaufrecht formuliert wird, auch die Regelkataloge, die bisher im Allgemeinen Vertragsrecht entwickelt wurden,32 maßgeblich beeinflußt. Das wird in beiden Regelwerken selbst betont. Es liegt daher nahe,
32 UNIDROIT (Hrsg.), Principles of International Commercial Contracts, 1994, S. viii (nur Handelsverträge); Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Teile I (1996), II (1999) (dort S. XXXV) und III (2002) (alle Verträge); dazu u.a. Hesselink/de Vries (Hrsg.), Principles of European Contract Law; Zimmermann, ZEuP 2000, 391.
230
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
in der Tat für Verträge, die eine idealtypisch einmalig zu erbringende Leistung betreffen (sog. spot contracts), Kaufrechts-Richtlinie und UN-Kaufrecht sehr stark als Modell heranzuziehen. Umgekehrt ist es auch wichtig, das andere Extrem im Auge zu behalten. Dies sind die Langzeitverträge, häufig sehr komplex, regelmäßig vor allem mit Geschäftsbesorgungscharakter, häufig ein Netzwerk von Verträgen. Nur in diesem Spannungsverhältnis kann die Frage nach einer Übertragbarkeit von Wertungen aus dem acquis (Besonderen Teil im EG-Vertragsrecht) auf andere Verträge und die Generalisierbarkeit sinnvoll beantwortet werden. c)
Wettbewerb der Formen?
Wettbewerb der Formen – d.h. der Vertragsrechtwerke – existiert derzeit nur eingeschränkt. Natürlich ist eine Anlehnung an ausländische Modelle im Rahmen des inländischen zwingenden Rechts möglich. Dieses geht jedoch vor allem dort sehr weit, wo, wie in Deutschland, auch AGB im kaufmännischen Verkehr einer Inhaltskontrolle unterfallen. Eine Rechtswahl ist im rein inländischen Fall nicht möglich (Art. 3 Abs. 3 EVÜ).
35
Anders ist dies im grenzüberschreitenden Verkehr (Art. 3 EVÜ), freilich mit den bekannten Einschränkungen im Verbraucher- und Arbeitsvertragsrecht (Art. 5, 6 EVÜ) sowie zum Schutz von Allgemeininteressen (Art. 7 EVÜ). Und selbst im kaufmännischen Verkehr, der mit diesen Vorbehalten direkt nicht angesprochen ist, schränkt der EuGH die Rechtswahl ein, soweit Richtlinien den Schutz einer Vertragspartei bezwecken.33
36
Grenzüberschreitende Verträge sind wichtig, bilden jedoch selbst für Deutschland einen relativ kleinen Prozentsatz: ca. 20 %, rechnet man die Konzernbeziehungen heraus, in denen Streitigkeiten kaum einmal streng rechtlich durchgefochten werden, sogar wohl unter 10 %. Das ist anders als im Gesellschaftsrecht, wo die Wahl der ausländischen Rechtsform eben gerade auch bei Sitz im Inland eröffnet ist (dazu sogleich).
37
Ein vergleichbarer Wettbewerb der Rechtsformen wird erst durch einen optionalen Kodex eröffnet, der auch im Inlandsfall wählbar ist … wenn er nicht gar eines Tages als abwählbare Regel gelten sollte. Die Erfahrung mit dem UN-Kaufrecht sollte lehren, daß in der Tat conditio sine qua non für einen nennenswerten Erfolg – noch nicht notwendig hinreichende Bedingung – die Wählbarkeit solch eines Kodex auch im Inlandsfall ist.
38
33 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB, Slg. 2000, I-9305.
Stefan Grundmann
231
2. Teil: Allgemeiner Teil
3.
Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells
a)
Besonderes Gewicht des Informationsmodells
Inhaltlich ragt das Informationsmodell hervor.34
39
Das gilt bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.35
40
Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Die meisten vertragsrechtsbezogenen EG-Richtlinien (jedenfalls bis 1999) zielen auf den Abbau von Informationsproblemen:36 So die wichtigsten sektorspezifischen Akte, die Pauschalreise-, Timeshare- und (bisher) auch die VerbraucherkreditRichtlinie sowie – etwas weniger – die Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie (jetzt Finanzmärkte-Richtlinie), alle enthalten sie ganz überwiegend Informationspflichten vorvertraglich und in der Vertragsabwicklung; so auch die Richtlinien zu speziellen Absatztechniken – die Haustür- und die beiden Fernabsatz-Richtlinien –, die vor allem ein Widerrufsrecht geben. Dieses kann als Informationsinstrument verstanden werden: Dem Kunden soll die Informations- und Reflexionsmöglichkeit nachgereicht werden, die ihm durch Einsatz dieser speziellen Absatztechnik genommen wurde. Und auch die letzte verbleibende, nicht sektorspezifische Richtlinie (bis 1999), die AGB-Richtlinie, hat immerhin Informationsprobleme zum Gegenstand. Freilich ist der Ansatz ein anderer, da die Informationsasymmetrie hier als grds. nicht ausgleichsfähig eingestuft wird. Folglich sieht die Richtlinie nicht primär Informationspflichten vor, sondern legt – paternalistisch, inhaltlich zwingend – weitgehend den anzuwendenden Standard fest. Das Gesamtbild ist also geprägt von den vielen Richtlinien, die primär Informationsprobleme abbauen, Märkte also (bei Teilversagen) unterstützen sollen, indem die nötigen Informationsverhältnisse wiederhergestellt werden, dann aber die Vertragsfreiheit erhalten, und der einen, die den Markt substantiell korrigiert – mit weitreichenden Wirkungen: Da Verträge meist unter Verwendung von AGB abgeschlossen werden, herrscht sehr weitgehend „quasizwingendes“ Recht, beruhend auf paternalistischen Erwägungen (bei Setzung sehr enger Grenzen für privatautonome Gestaltung).37
34 Vgl. dazu vor allem (für das Vertragsrecht): Grundmann, JZ 2000, 1133; im „deutschen“ Markt aufgegriffen von: Schulze/Ebers/Grigoleit, (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire (2003). 35 Bahnbrechend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 (Cassis de Dijon). 36 Zwei Gesamtkommentierungen liegen vor: Quigley, European Community Contract Law; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ausführlichere Kommentare zudem in Grabitz/Hilf II. In diesen Werken Nachw. für alle im folgenden genannten Rechtsakte. 37 Hesselink, ERCL 2005, 44, 66–68. Zur Begründung (auch in der ökonomischen Theorie) für die Regulierungsnotwendigkeit in diesem Bereich: Adams, BB 1989, 781, 787; und Schäfer/ Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (2005), S. 478–480.
232
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
b)
Überblick zu weiteren Systemgedanken
Mit dem prägenden Charakter des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht gehen wichtige weitere grundlegende Systemgedanken einher. Diese seien hier nur angesprochen: 38 (1) Europäisches Vertragsrecht ist nicht als Verbrauchervertragsrecht konzipiert, sondern als Markt- oder Unternehmensaußenrecht, also mit dem Ziel, ungerechtfertigte (informationelle) Überlegenheit oder marktbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen auszugleichen bzw. zurückzudrängen. Hinzu tritt gänzlich allgemeines, d.h. nicht rollenspezifisch ausgebildetes Vertragsrecht, vor allem in der Kaufrechts-Richtlinie (oben Rn. 29 f. mit Fn. 31). Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß nicht auch Verbraucher – und sehr erheblich – vor den Folgen dieser Marktimperfektionen zu schützen sind. (2) Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung – d.h. Wahlrechte und die Tragung der Folgen ihrer Ausübung – sind ähnlich prägend. Dies muß nicht heißen, daß es keine Durchbrechung des pacta sunt servanda gäbe, gerade auch zugunsten des Verbrauchers.39 Diese sind jedoch eng umgrenzt, im Falle des recht kurz bemessenen Widerrufsrechts, wie gesagt, sogar eher nur als ein Instrument zum „Nachreichen“ der Informationsmöglichkeit zu verstehen, und jedenfalls nicht systemprägend. Ein dauerhaftes Recht zur Vertragsaufsage (jederzeitiges Kündigungsrecht) kennt fast nur das Verbraucherkreditrecht und auch dieses nur für ca. 10–20 % des Verbraucherkreditvolumens, insbesondere nicht beim grundpfandrechtlich gesicherten Kredit.
41
Ein letzter Vorbehalt: Eine zentrale Systemfrage wurde – mangels Möglichkeit einer ähnlich vogelflugartigen Antwort – gänzlich ausgeblendet: Diese (wichtige) Unterfrage ginge dahin, ob denn der acquis communautaire in sich überhaupt kohärent ist, vor allem: ob nicht für manche Regelkomplexe ein zu enger Anwendungsbereich gewählt wurde, etwa bei den Absatztechniken, und ob sich die in ihnen enthaltenen Regeln nicht teils widersprechen.40
42
IV.
Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht
1.
Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften
a)
Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften
Ausgangspunkt des Europäischen Gesellschaftsrechts war das Außenverhältnis. Schon die 1. Richtlinie brachte die Handelsregisterpublizität wichtiger Daten gegenüber dem Rechtsverkehr (für Zweigniederlassungen ergänzt durch die 11. Richtlinie), die nahezu unbeschränkte Vertretungsmacht der registrierten Organe nach außen 38 Näher zu ihnen: Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; Riesenhuber, ERCL 1 (2005) 297–322. 39 Vgl. Micklitz, ZEuP 1998, 253, der freilich zu sehr ein dem Verbraucher gegenüber gar nicht mehr bindendes Vertragsrecht annimmt (etwas mißverständlich mit dem Begriff eines „kompetitiven“ Vertragsrechts umschrieben). 40 Vgl. dazu nur Riesenhuber, System und Prinzipien, passim; ders., ERCL 1 (2005), 297–322. Stefan Grundmann
233
43
2. Teil: Allgemeiner Teil
und die sehr eingeschränkte Nichtigkeit der Organisation, Letzteres beides jeweils aus dem Handelsregister umfassend zu ersehen. All dies diente bereits der Ausgestaltung der Gesellschaft in einer Form, die Vertrauen bei Gläubigern, teils auch schon beim Anleger verbürgen sollte.
44
Daneben treten mit der 4., 7. und 8. Richtlinie Regeln zur Rechnungslegung im Einzelunternehmen, die Adaptionen für den Konzern und die Regelung über die Abschlussprüfer, die die Rechnungslegung zu testieren haben. Mit diesem Regelungsbestand aus vier Richtlinien wird angestrebt, daß europaweit eine als solche registrierte Kapitalgesellschaft dem Gläubiger als Schuldner erhalten bleibt (keine Nichtigkeit, keine Berufung auf fehlende Vertretungsmacht), über alle für eine Anspruchgeltendmachung weiter nötigen rechtlichen Verhältnisse ebenfalls (Register-) Transparenz und weitergehend über die wirtschaftliche Lage der Kapitalgesellschaft – zertifiziert – Transparenz hergestellt wird (Rechnungslegung). All dies ist im Wesentlichen eine auf Gläubigerschutz – also das Außenverhältnis – ausgelegte Regelung. Rechtlich wie wirtschaftlich sollte die Gesellschaft als Schuldner „sicherer“ oder zumindest transparenter erscheinen.
45
Das Außenverhältnis betrifft sonst noch die 12. Richtlinie, die die Möglichkeit der Haftungsbeschränkung auch auf Einmann-Unternehmungen erstreckt (primär für die GmbH, außerdem jedoch auf die Einmann-AG, soweit im nationalen Recht überhaupt zugelassen). Und auch die 2. Richtlinie, die einzige Richtlinie aus diesem Komplex, die allein für Aktiengesellschaften gilt, hat durchaus starke Bezüge zum Außenverhältnis, verbürgt sie doch, daß das Mindestkapital von 50.000 Euro und das gezeichnete Kapital einmal aufgebracht war und nicht zurückgezahlt wurde (wirtschaftliche Absicherung der AG als Schuldnerin).
46
Bedenkt man, daß die 6. Richtlinie ursprünglich die börsenrechtlichen Anforderungen regeln, also wiederum das Außenverhältnis gegenüber den Kapitalgebern betreffen sollte, zeigt sich, daß das Außenverhältnis – die Steigerung der Verläßlichkeit gegenüber Gläubigern, teils auch Anlegern – die Harmonisierungsüberlegungen seit Beginn dominierte. Nur die 3. und die 6. Richtlinie gelten ganz überwiegend dem Innenverhältnis, die 2. Richtlinie immerhin noch teilweise (vgl. unten Rn. 51ff.). Das Innenverhältnis ist demgegenüber nur sehr punktuell Gegenstand von Harmonisierung geworden. Der geplante allgemeine Rechtsakt hierfür, die 5. Richtlinie, wurde gerade nicht verabschiedet, der dahingehende Vorschlag zuletzt sogar formal zurückgezogen. Für das Innenverhältnis konzentriert sich das Europäische Recht auf die Strukturmaßnahmen, die den rechtlichen Rahmen fundamental verändern, sowie die Verbürgung der genannten „verfassungsmäßigen“ Aktionärsrechte (Gleichbehandlung, vor allem Quotenerhalt, vgl. unten Rn. 51ff.).
47
All diese Regeln gelten allein für Kapitalgesellschaften (diejenigen in der 2. Richtlinie gar nur für Aktiengesellschaften). Die Vergleichbarkeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten im Außenverhältnis wurde also bei diesen ungleich stärker als Voraussetzung für einen Binnenmarkt gesehen als bei anderen Gesellschaftsformen – aus zwei Gründen: Auf Kapitalgesellschaften entfallen ungleich größere Transaktionsvolumina, gerade auch grenzüberschreitende, so daß die Zahl der Fälle, in denen Rechtsunterschiede verunsichern und damit die grenzüberschreitende Transak-
234
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
tion behindern könnten, ungleich größer ist.41 Zudem geht es um die Gesellschaftsformen, bei denen die persönliche Haftung grundsätzlich ausgeschlossen ist, die jedoch zur erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit frei zugelassen sind. Bei Personengesellschaften ist Ersteres nicht oder nicht für alle Gesellschafter der Fall, bei anderen juristischen Personen ist Zweiteres nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall. Die Regelung gerade der Kapitalgesellschaften (in den Parametern des Außenverhältnisses) folgt also der Tatsache, daß das erwerbswirtschaftliche grenzüberschreitende Geschäft einerseits auf sie konzentriert ist, und (noch wichtiger) sie andererseits als einzige Unternehmensform unbeschränkt erwerbswirtschaftlich tätig werden dürfen, ohne daß eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten haftet. Um grenzüberschreitend „Vertrauen“ in den Vertragspartner zu verbürgen und dies recht flächendeckend, genügte die Harmonisierung allein des Kapitalgesellschaftsrechts (Außenverhältnis). b)
Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung
Konstatiert man demnach eine starke „Extrovertiertheit“ von Europäischem Gesellschaftsrecht, so liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auch über die Rolle des Europäischen Kapitalmarktrechts nachzudenken. Dies betrifft in besonderem Maße schon das äußere System.
48
Die Harmonisierungsdichte ist im Kapitalmarktrecht ungleich größer als im Gesellschaftsorganisationsrecht, ähnlich groß ist die Harmonisierungsdichte nur im Bilanzrecht. Das Europäische Gesellschaftsrecht prägt also auch ein intensiv kapitalmarktorientierter Ansatz – einer der wichtigen Beiträge vor allem des britischen, jedoch auch des französischen und belgischen Rechts. Ein Ziel oberster Priorität war es also, vor allem die für eine optimale, auch grenzüberschreitende Kapitalallokation notwendigen Strukturen weitestgehend europaeinheitlich zu schaffen. Zwar sind Deutschland und die südeuropäischen Mitgliedstaaten noch immer ungleich weniger kapitalmarktorientiert als Frankreich, Benelux und vor allem Großbritannien,42 selbst Deutschland hat jedoch heute ein ungleich stärker entwickeltes Kapitalmarktrecht als dies durch autonome deutsche Rechtsetzung zu erwarten war.
49
Die Systemfrage angesichts dieses dichten Harmonisierungsbestandes geht insbesondere dahin, in welchem Verhältnis es zum Europäischen Gesellschaftsrecht steht.43
50
41 Schon der 1. Erwägungsgrund der 1. Richtlinie hatte generell betont, daß Kapitalgesellschaften (auch GmbH) internationaler agieren. 42 Die italienischen und deutschen Gesellschaften nehmen nicht einmal halb so viel Eigenkapital an den europäischen Kapitalmärkten auf (18,95 %), wie es ihrem Anteil am europaweiten Bruttosozialprodukt entspräche (40 %); auch die französischen fallen ins untere Drittel, während britische Gesellschaften bei einem Beitrag von 11,2 % zum europaweiten Bruttosozialprodukt 35,49 % des Eigenkapitals aufnehmen: Wymeersch, in: Hopt (Hrsg. u.a.), Comparative Corporate Governance, S. 1155–1157. 43 Hierzu der Beitrag von Kalss, unten, § 20; sowie Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, §§ 18–21; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (2000); Moloney, EC Securities Regulation (2002); Weber, Kapitalmarktrecht. Stefan Grundmann
235
2. Teil: Allgemeiner Teil
M.E. kann Europäisches Kapitalmarktrecht nur als integrativer Teil des Europäischen Gesellschaftsrechts gesehen werden. Wenn in der Tat das Außenverhältnis von Kapitalgesellschaften so stark im Mittelpunkt steht, und wenn denn Kapitalgesellschaften durch den Faktor „Kapital“ besonders geprägt sind, ist Europäisches Gesellschaftsrecht sinnvoll nur unter Einschluß des Kapitalmarktrechts zu denken. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: beide Rechtsgebiete fußen in der gemeinsamen (speziell gesellschaftsrechtlichen) Kompetenzgrundlage des Art. 44 Abs. 2 lit. g EG; der EG-Gesetzgeber hat selbst mehrfach kapitalmarktrechtliche Richtlinien in den Kanon der numerierten gesellschaftsrechtlichen eingereiht (Börsen-Richtlinie, Übernahme-Richtlinie); immer wieder wird betont, daß in den Regelungen die Unterscheidung zwischen kapitalmarktorientierter AG und nicht kapitalmarktorientierter AG deutlich mehr Bedeutung hat als jede andere Unterscheidung, auch zwischen den Rechtsformen der AG und GmbH. Man muß nur an das Bilanzrecht (IAS-Verordnung) und das Übernahme-Recht denken. Die kapitalmarktorientierte AG ist so geradezu zu einer eigenen Rechtsform avanciert. Und äußerst wichtig: Für (Klein-)Aktionäre – und reflexartig für Vorstandsmitglieder – finden sich mit exit und voice zwei große Formen, wie sie auf Verhalten anderer Beteiligter reagieren: Innergesellschaftlich durch Ausübung von Mitverwaltungsrechten oder über einen Kauf bzw. Verkauf des Anteils. Nur in der Zusammensicht entsteht ein organisches (Gesamt-)Bild. Die starke Ausrichtung auf kapitalmarktrechtliche Instrumente trägt dazu bei, daß etwa für die Corporate Governance, den rechtlichen Rahmen der Entscheidungsfindung in (Publikums-)Gesellschaften, zunehmend angenommen wird, die Reaktionsmöglichkeiten auf Kapitalmärkten (externe Corporate Governance) trügen heute bereits überhaupt die stärksten Anreize für gutes Management in sich.44 c)
51
Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften
Immer wieder wird die Einschränkung des Anwendungsbereichs wichtiger Richtlinien auf die Aktiengesellschaft kritisch gesehen. In besonderem Maße gilt dies für die 2. Richtlinie, die Kapital-Richtlinie.45 Denn wenn diese vor allem Gläubigerschutz bewirken soll, ist kaum verständlich, warum sie nicht auch die GmbH erfaßt. Zu erklären ist die Einschränkung demgegenüber, wenn man in diesen Richtlinien vor allem das Anliegen verwirklicht sieht, denjenigen Gesellschaftern, die wie Gläubiger anonym und massenhaft einer Gesellschaft gegenüber treten, (und nur ihnen) wiederum einen Mindestsockel an Absicherung an die Hand zu geben. Und solche Gesellschafter kann es in allen Mitgliedstaaten auf Grund überall zu findender 44 Vgl. etwa, mit einer Trennung zwischen den Mitgliedstaaten, die eher auf externe Mechanismen setzen (neben der angloamerikanischen Welt am ehesten Frankreich) und denjenigen, die dezidiert mehr interne Mechanismen betonen (alle anderen, besonders Deutschland): Wymeersch, AG 1995, 299, 309–315. 45 Für diese etwa: Lutter, ZGR 2000, 1, 7 und 9 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht (2006), Rn. 50. Umgekehrt wird etwa in England kritisiert, daß es überhaupt die KapitalRichtlinie für Aktiengesellschaften gibt: Vgl. Modern Company Law – For a Competitive Economy – The Strategic Framework – A Consultation Document from the Company Law Review Steering Group, 2/1999, 21 f., 81 ff.; dazu etwa Sealy, Int’l Comp. Corp. LJ 2 (2000), 155; lesenswert Bachmann, ZGR 2001, 351, bes. 362 f.
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Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
(verschiedener) Ausgestaltungsvorgaben nur im Falle der Aktiengesellschaft geben.46 Dann wären die 2. Richtlinie (Kapital-Richtlinie), die 3. Richtlinie (Fusions-Richtlinie) und auch die Übernahme-Richtlinie als Richtlinien zu verstehen, die diese Mindestgarantien einheitlich für ganz Europa festlegen und solchermaßen europaweit Vertrauen begründen helfen, auf Grund dessen dann vertrauensvoll in Aktien nach ganz verschiedenen Rechten investiert werden kann. Man kann hier von Europäischen Verfassungsrechten für (Klein-)Aktionäre sprechen. Hinzu kommen natürlich die besonderen Kautelen des Kapitalmarktrechts, wenn die Anteile – wiederum nur Aktien – auf Kapitalmärkten gehandelt werden. Unter den substantiellen Regeln, die mehrheitsfest sind und als „verfassungsmäßige“ Garantien das Informationsmodell (vgl. oben Rn. 43ff. und vor allem unten Rn. 63ff.) komplettieren, steht zuvörderst eine Politik gegen Quotenveränderung. Durchgehend und in den verschiedensten Rechtsakten wird dem Aktionär seine Quote verbürgt: In jedem Fall soll er sie wertmäßig behalten, dies ist Mindestinhalt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 42 der 2. Richtlinie).47 In vielen Fällen soll sogar der Anteil selbst mit gleich bleibender Quote erhalten bleiben. Offensichtlich ist dies beim Bezugsrecht, das ebenfalls die 2. Richtlinie zumindest bei Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen vorsieht.48 Auch bei der Umstrukturierung in Form der Fusion (und Spaltung) bildet der Austausch gegen Anteile der übernehmenden Gesellschaft auf Europäischer Ebene das gesetzliche Modell, und ist eine nicht verhältniswahrende Bedienung der Aktionäre überhaupt nur bei der Spaltung vorgesehen – die auch dann nicht etwa dazu führt, daß der Aktionär den Wert seines Anteils unvollständig abgegolten erhielte, sondern nur dazu, daß ihm Aktien nicht mehr verhältniswahrend zugeteilt werden. Auch in der Übernahme-Richtlinie ist die Gleichbehandlung, d.h. die zumindest wertmäßige Gleichstellung der Aktionäre der Zielgesellschaft untereinander, einer der beiden Zentralinhalte und war schon seit einigen Jahren europaweit einheitlicher Standard, während sie in der Diskussion zum ersten Vorschlag in Deutschland doch noch als nachgerade revolutionierend empfunden wurde.49 Auch de facto darf also die Quote 46 Vgl. Übersicht zu diesen Mechanismen, die in der einen oder anderen Form in allen Mitgliedstaaten zu finden sind (Höchstgesellschafterzahlen, Verbote öffentlicher Angebote oder Erfordernis notarieller Beurkundung beim Anteilsverkauf im Falle der GmbH): Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 107. 47 Zu diesem Gebot BGHZ 120, 141, 150 f. (zur Richtlinie); grundlegend Lutter, FS Ferid, bes. S. 605–608; sowie Edwards, EC Company Law (1999), S. 56 (überragend wichtig); Kalss, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsprivatrecht – Teil 1: Gesellschaftsrecht, S. 215; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 325. 48 Dazu (und zu seinem Ausschluß) statt aller Bagel, Der Ausschluß des Bezugsrechts in Europa (1999); Kindler, ZGR 1998, 35; Wymeersch, AG 1998, 382. 49 Für die damalige Kritik vgl. vor allem Hopt, in: Balzarini u.a. (Hrsg.), I gruppi di società, Rivista delle società, S. 45 (S. 53 „major stumbling block“); früh ausführlich Assmann/Bozenhardt, in: Assmann u.a. (Hrsg.), Übernahmeangebote, S. 1; vgl. noch: Wymeersch, in: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance, S. 1196 f. (umstrittenste Regel); rechtsvergleichende Übersicht zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Übernahmerecht der Mitgliedstaaten (schon vor Verabschiedung der Richtlinie): De Beaufort, Les OPA en Europe; Baums/Thoma, Takeover laws in Europe (Gesetzestexte); Wymeersch, European Financial Services Law 3 (1996), 301 und 4 (1997), 2; ders., ZGR 2002, 520. Stefan Grundmann
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52
2. Teil: Allgemeiner Teil
nicht verändert werden. All dies stellt zugleich ein durchgängiges Minderheitsschutzmodell dar, das auf der Idee beruht, daß sich auch Kleinaktionäre in die Hände aktiverer professioneller oder beherrschender Aktionäre geben mögen, wenn sie sich zwar für die Strategie, die zum gemeinsamen Erfolg führen soll, in deren Hand geben müssen, stets jedoch ihren gleichen Anteil so gut wie möglich verbürgt sehen.
53
Das zweite Stück des Aktionärsschutzmodells („Verfassungsrechte“) hängt eng mit dem Informationsmodell zusammen; hier werden nicht mehr individuelle Rechte verbürgt, wohl aber kollektive Entscheidungsmacht: Im Europäischen Recht ist, wann immer es zu dieser Frage Regelungen entwickeln konnte, durchgängig zu beobachten, daß alle Strukturmaßnahmen und auch alle Satzungsänderungen, namentlich Kapitalmaßnahmen, unter den Vorbehalt eines Hauptversammlungsbeschlusses gestellt werden … und zwar bei allen strukturändernden Maßnahmen und auch beim Bezugsrechtsausschluß mit qualifizierter Mehrheit, so daß in diesen Fällen nicht nur die Entscheidungsmacht der Aktionäre, sondern auch ein kollektiver Minderheitenschutz europaweit verbürgt werden. Hinzuweisen ist namentlich auf Art. 25 Abs. 1, 29 Abs. 4, 5 und 40 der Kapital-Richtlinie (Kapitalmaßnahmen und Bezugsrechtsausschluß), zudem Art. 17, 19 Abs. 1 lit. a), Art. 7 und 5 f. der Fusions- und Spaltungs-Richtlinie (Strukturmaßnahmen-Grundmodell) und Art. 59 Abs. 1 der SE-Verordnung (Satzungsänderung), eigentlich auch Art. 9 der Übernahme-Richtlinie (Hauptversammlungsvorbehalt bei Abwehrmaßnahmen gegen das Angebot insgesamt). 2.
Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen
a)
Wettbewerb der Formen
54
Für das Europäische Gesellschaftsrecht wurde im letzten Jahrfünft der Wettbewerb prägend, teils der nationalen Rechtsformen untereinander, teils auch dies in grenzüberschreitenden Mischungen (etwa Ltd. & Co. KG), und teils der nationalen mit den Europäischen Rechtsformen. Der erste genannte Wettbewerb dominiert, vor allem auch deswegen, weil auch die Europäischen Rechtsformen, vor allem die Societas Europaea, im überwiegenden Teil der Rechtsfragen durch das nationale Recht des Sitzes geregelt werden. Abgesehen vom numerus clausus der Gründungsformen und der Gründung sind im Wesentlichen nur zwei Fragen von Gewicht vereinheitlicht: das Wahlrecht für die Struktur beim Leitungsorgan (wichtig für die Kompatibilität der Formen, dazu sogleich) und die zwingende Hauptversammlungskompetenz und -mindestmehrheit bei Satzungsänderungen. Die besondere Bedeutung der Europäischen Rechtsformen liegt deswegen wohl vor allem im Prestigefaktor und darin, daß mit ihnen ein Mittel zur Verfügung steht, das die identitätswahrende grenzüberschreitende Sitzverlegung und Fusion zweifelsfrei und weitgehend steuerneutral ermöglicht.
55
Die drei Ansatzpunkte für diesen im letzten Jahrfünft erheblich verstärkten Wettbewerb der nationalen oder teileuropäisierten Formen bilden: 50 (1) Die EuGH-Urteile
50 Näher etwa Grundmann, FS Raiser, S. 81–98; wichtig daher zunehmend die Handbücher zu ausländischen Gesellschaftsformen in Deutschland, vor allem Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2004); Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüber-
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Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
zur Niederlassungsfreiheit (Fn. 15), die im Wesentlichen eine Freiheit, das anwendbare Recht zu wählen, in binnenmarktgrenzüberschreitenden Verkehr aus der Niederlassungsfreiheit ableiten, eingeschränkt nur durch die Möglichkeit, daß nationales beschränkendes Recht auf (eng auszulegende) zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt werden kann (und nach manchen Autoren: Zusätzlich eingeschränkt im Falle von Wegzugsbeschränkungen); (2) die genannten Europäischen Gesellschaftsformen, bisher verfügbar für eine kleine Personenhandelsgesellschaft (EWIV), die Aktiengesellschaft (SE) und die Genossenschaft, alle nur teilvereinheitlicht; und die Bemühungen um eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden, identitätswahrenden Sitzverlegung und Fusion, die nunmehr die nationalen Formen erfassen sollen und zwar zunehmend eine ganze Reihe von diesen. b)
Kompatibilität der Formen
Ein Wettbewerb der Formen wird erheblich erleichtert, wenn auf Kompatibilität der Formen geachtet wird. So wird der Übergang von einer Rechtsform nach einem Recht zu einer nach einem anderen Recht erleichtert. Im Europäischen Gesellschaftsrecht ist ein Bemühen um solche Kompatibilität vielfach zu beobachten. Anschlußfähigkeit wird immer wieder gefördert. Zwei Beispiele mögen dies deutlich machen.
56
Das erste betrifft die Umstrukturierung einer Gesellschaft. Umstrukturierung bedeutet regelmäßig auch Wechsel des rechtlichen Kleides (Satzungsanpassung). Ändert sich jedoch schon die Grobstruktur, so erschwert dies zusätzlich die Strukturmaßnahme. Da die Hauptversammlung als Organ überall vorgegeben ist, ist zuvörderst an die Ein- oder aber Zweistufigkeit des Leitungsorgans zu denken, zumal die Wahl der einen oder anderen Form auch weitere Gestaltungsmöglichkeiten beeinflußt, etwa die Frage nach der unternehmerischen Mitbestimmung. Es lag daher nahe, für die Societas Europaea dem französischen Beispiel zu folgen und die Wahl zwischen beiden möglichen Strukturen des Leitungsorgans den Gesellschaften zu überlassen (Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-Statut). Und wenig später zog mit Italien ein weiterer großer Mitgliedstaat nach.51
57
Das zweite Beispiel betrifft die Strukturierung des Außenverhältnisses nach Europäischem Recht. Dies ist wichtig, da hier nach dem Gesagten ein Schwergewicht europäischer Harmonisierung liegt. Das Beispiel entstammt der 1. Richtlinie (PublizitätsRichtlinie) und betrifft die dort geregelte organschaftliche Vertretungsmacht. Nicht geregelt, also dem Variantenreichtum nationaler Rechte überlassen sind so zentrale Fragen wie die Organkompetenz oder die Frage nach den Grenzen der Vertretungsmacht im Innenverhältnis, nach Einzel- und Gesamtvertretungsmacht. Und doch ist die Regelung überall anschlußfähig. Hauptinstrument ist die Eintragungspflicht im
58
schreitende Gesellschaften. Nachweise für die im folgenden zitierten Rechtsakte etwa bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht. 51 Zu dieser (liberalen) Grundsatzentscheidung des SE-Statuts: Hommelhoff, AG 2001, 279, 282f.; Lutter, BB 2002, 1, 4; Schwarz, ZIP 2001, 1847, 1854. Das Wahlrecht war in Frankreich seit 1966 bekannt, hierzu und für Italien vgl. Hopt, ZGR 2000, 779, 815; Buse, RIW 2002, 676, 678. Stefan Grundmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Handelsregister: Ist Gesamtvertretungsmacht nicht eingetragen, kann der Dritte sich auf Einzelvertretungsmacht verlassen.52 Dies ist gut erkennbar, zugleich wird so jeder Gesellschaft doch ein Mittel an die Hand gegeben, Vorstandswillkür vorzubeugen. Daher muß umgekehrt nicht so weit gegangen werden, Beschränkungen im Innenverhältnis im Außenverhältnis weitgehend zum Tragen zu bringen – wie dies in allen Mitgliedstaaten außer Deutschland der Fall war. Vielmehr ist nur die Anmaßung einer Kompetenz, die dem Vorstand nach jeweiligem nationalen Recht auch abstraktgenerell nicht zustehen kann, für den Dritten schädlich.53 Und dies sind idR nicht viele Geschäfte und regelmäßig die gleichen, nämlich die Grundlagengeschäfte. In allen anderen Punkten schadet dem Dritten nur Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von Beschränkungen. c)
Generalisierbarkeit?
59
Die Frage der Generalisierbarkeit Europäischer Modelle als weitere Form der Ausstrahlwirkung wird demgegenüber für das Europäische Gesellschaftsrecht ungleich weniger diskutiert und gedacht als für das Europäische Vertragsrecht. Freilich ist auch diese Form der Ausstrahlwirkung an durchaus zentralen Stellen zu konstatieren.
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Für übertragbar erachtet wurde insbesondere das Handelsregisterrecht – Publizitätsinhalte, -instrumente und -wirkungen –, denn mit Ausnahme vor allem des Vereinigten Königreichs hat das Modell der 1. Richtlinie, das allein für Kapitalgesellschaften europäisch vorgeschrieben ist, sich in allen wichtigen Mitgliedstaaten zu einem allgemeinen Modell für alle Kaufleute oder zumindest alle Handelsgesellschaften fortentwickelt.
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Auch das Europäische Bilanz- und das Umwandlungsrecht haben vielfach weit über ihren Anwendungsbereich ausgestrahlt. In Deutschland wurde beispielsweise Zweiteres – bei eigenen starken Wurzeln – die Grundlage eines ungleich systematischer durchgeführten Umwandlungsrechts und -gesetzes.54 Und das Europäische Bilanzrecht führte zur Ausgliederung aus dem Aktienrecht und zur Entwicklung eines allgemeinen Bilanzrechts im Handelsgesetzbuch.
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Relativ wenig Vorbildwirkung entfalteten die genuin Europäischen Rechtsformen, auch die SE (noch) nicht. Freilich mag sich im Anschluß an Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 der SE-Verordnung ein Trend entwickeln, daß der Gesellschaft selbst ein Wahlrecht eingeräumt wird, ob sie denn ein ein- oder ein zweistufiges Leitungsorgan haben will (Fn. 49).
52 Vgl. EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga GmbH, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; zustimmend Fischer-Zernin, Der Rechtsangleichungserfolg der Ersten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EWG, S. 261. 53 Art. 9 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie … was freilich der EuGH in Rabobank verkannte, indem er dort eine Rechtsmißbrauchseinschränkung im Einzelfall zuließ: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211; vgl. für berechtigte Kritik Meilicke, DB 1999, 785, 786–788; Schmid, AG 1998, 127, 129–131. 54 Schön verschränkt sind beide dargestellt bei Hommelhoff/Riesenhuber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 259.
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Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
3.
Besonderes Gewicht des Informationsmodells 55
Inhaltlich ragt auch im Europäischen Gesellschaftsrecht das Informationsmodell hervor,56 fast noch offensichtlicher als im Vertragsrecht. Das gilt wiederum bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.57
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Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert wiederum der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. Nicht nur hat das Herzstück, das im Wesentlichen alle Gesellschaftsformen erfaßt, das Bilanzrecht, Informationsaufbereitung und -weitergabe zum Gegenstand. Vielmehr gilt gleiches auch für das Kapitalmarktrecht als das zweite Teilstück neben dem Organisationsrecht. Und selbst die Regelung von Umstrukturierungen ist vor allem informationsorientiert. Denn dies bedeutet stets, daß weitestmöglich auf autonome Entscheidung der Betroffenen gesetzt und diese – durch hinreichende Information – vorbereitet wird. Dabei wird Information in verschiedener Hinsicht „optimiert“. Im Recht der Umstrukturierung, für die die 3. Richtlinie das Modell bildet, sind alle wesentlichen Informationen sowohl zur Strukturmaßnahme insgesamt als auch zu den Auswirkungen auf den einzelnen Aktionär aufzubereiten und bestmöglich zugänglich zu machen, des Weiteren neutral und professionell zu überprüfen und trifft – auf dieser Grundlage – der Betroffene zuletzt selbst die Entscheidungen – jedenfalls im Kollektiv, denn die Hauptversammlungszuständigkeit wird garantiert, in vielen Fällen auch individuell, auf Grund eines Auskaufsrechts oder individueller Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Zusätzlich unterstützt wird die Informationsverläßlichkeit durch Haftungsregeln. Das Modell ist mit all diesen Elementen wiederzufinden im Bilanzrecht und im Kapitalmarktrecht, wobei für den Betroffenen teils auch noch gewährleistet wird, daß die Information für ihn zusätzlich individualisiert, bezogen auf seine Situation, aufbereitet wird (im Wertpapierhandel).58 Und auch in der Übernahme-Richtlinie ist die informationelle Vorbereitung der zwei wichtigsten Entscheidungen ausführlich geregelt: die Information zum Angebot, auf das durch individuelle Entscheidung zu antworten ist, und die Information
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55 Zu weiteren Systembausteinen und -charakteristika vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 31; ders., ZIP 2004, 2401; Jung, GPR 2004, 233. 56 Ausführlich Grundmann, FS Lutter, S. 61; ders., DStR 2004, 232; monographisch vor allem Grohmann, Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (im Erscheinen); Merkt, Unternehmenspublizität. 57 Für die Niederlassungsfreiheit und das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 34–38; auch EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 58 Zu dieser Optimierung der Information für den individuellen Anleger durch Einschaltung und Regulierung von Informationsintermediären: Gemberg-Wiesike, Wohlverhaltenspflichten beim Vertrieb von Wertpapier- und Versicherungsdienstleistungen, S. 94; Grundmann/ Kerber, in: Grundmann u.a. (Hrsg.) Party Autonomy and the Role of Information in the Internal Market (2001), S. 269–271 und 291; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999), S. 376–386. Stefan Grundmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
zur Übernahme insgesamt, auf die durch kollektive Entscheidung zu Verteidigungsmaßnahmen zu antworten ist.
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Auch die sonstigen Rechtsakte, insbesondere die 1. und auch die 2. Richtlinie, sind stark informationsorientiert (Fn. 53). Die 1. Richtlinie trägt nicht von ungefähr den Titel einer Publizitäts-Richtlinie. Und ist die Entscheidung einmal getroffen, so gehört ebenfalls zum Modell „informierte Entscheidung“, daß dieser idR sehr hohe Bestandskraft beigelegt wird: Die Nichtigkeit wird stark zurückgedrängt – sowohl in der 1. Richtlinie bei Gründung als auch in der 3. Richtlinie bei Umstrukturierung – und zudem wird eine weitere präventive (gerichtliche) Kontrolle vielfach vorgeschrieben. Rechtssicherheit ist gerade im grenzüberschreitenden Verkehr in der Tat von großer Bedeutung. Dieses Anliegen wird hier denn auch teils nochmals spezifisch bedient, etwa wenn die Europäische Fusionsregelung für internationale Sachverhalte die Nichtigkeitsgründe nochmals stärker eingrenzt.
V. 66
Ausblick
Das System des Europäischen Privatrechts entwickelt sich rasant. In den gut fünf Jahren, in denen der Begriff für das Europäische Privatrecht bisher positiv gedacht wird,59 hat sich unendlich viel ereignet: Das Kaufrecht als Kernstück im Europäischen Vertragsrecht wurde während der Laufzeit der damaligen Ringvorlesung gerade erst verabschiedet. Es folgten die verschiedenen Mitteilungen der Kommission, die Systematisierung zum zentralen Ziel erklärten (oben Rn. 1 mit Fn. 1). Der Prozeß zur Entwicklung eines Gemeinsamen Referenzrahmens hat viel, vielleicht das meiste damit zu tun.60 Riesenhuber schrieb die erste große Monographie, die das System „durchdekliniert“ (oben Rn. 1). Zunehmend entstehen Reihen von systematischen Lehrbüchern zum acquis. Im Gesellschaftsrecht wurde der Gesamtbestand erstmals von einer Expertengruppe flächendeckend durchleuchtet.61 Allein im deutschen Schrifttum entstanden drei Lehrbücher (Habersack, Schwarz, Grundmann). Mit der Societas Europaea ist endlich die große Alternativform zu den nationalen Rechtsformen geschaffen. Das Kernstück Bilanzrecht ist gänzlich neu, das gesamte Kapitalmarktrecht ebenfalls.
59 Beginnend wohl mit den Beiträgen zu: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken. 60 Zu diesem vgl. Schmidt-Kessel, unten, § 17. 61 High Level Group I/II, Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über die Abwicklung von Übernahmeangeboten vom 10.1.2002 und Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa vom 4.11.2002, abrufbar unter www.europa.eu.int/comm/internal_market/de/company (Jaap Winter [Vorsitzender], Jan Schans Christensen, José Maria Garrido Garcia, Klaus J. Hopt, Jonathan Rickford, Guido Rossi, Dominique Thienpont [Rapporteur]; Karel van Hulle [Sekretär]); dazu Stellungnahme der Group of German Experts on Corporate Law zum Konsultationsdokument der High Level Group of Experts on Corporate Law, ZIP 2002, 1310.
242
Stefan Grundmann
§ 10 Systemdenken und Systembildung
Systemdenken ist wichtiger denn je im Europäischen Privatrecht. Es ist nicht zuletzt auch die Grundlage für die zwei wohl wichtigsten Auslegungsmethoden, die systematische und auch in gewissem Maße die teleologische, und für die großen Fragen wie die Rechtsfortbildung und teils auch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine der spannendsten Fragen wird sein, ob die Europäische Privatrechtswissenschaft fähig ist, in den nächsten fünf Jahren System wirklich überzeugend für das moderne Vertragsund das moderne Gesellschaftsrecht zu schaffen, in geschriebener Form und nicht nur als Übernahme tradierter Systeme.
Stefan Grundmann
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67
§ 11 Die Auslegung Karl Riesenhuber
Übersicht I. Autonome Auslegung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Ziel der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kriterien der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die grammatikalische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wortlaut und Sprachenvielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Relativität der Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die historische und genetische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zugängliche Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen . . . . . . . . . d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ . . . . . . . . . . . . . e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regelungszweck und Angleichungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . . . . c) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung . . . . . . . . .
Rn. 4–8 9–12
. . . . . . . .
. . . . . . . .
13–46 14–21 14 15–20 21 22–29 22 23–27
. . . . . .
. . . . . .
28–29 30–39 31–32 33–35 36–37 38
. . . . .
. . . . .
39 40–46 40–42 43 44–46
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47–52
V. Einzelne Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „In dubio pro consumente“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53–66 54–60 61–66
IV. Rangfolge der Auslegungskriterien
Literatur: Anweiler, Jochen, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997; Aubin, Bernhard, Die Rechtsvergleichende Interpretation autonom-internen Rechts in der deutschen Rechtsprechung, RabelsZ 34 (1970), 458–480; Buck, Carsten, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt a.M./Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1998; Canaris, Claus-Wilhelm, Die Bedeutung allgemeiner Auslegungs- und Rechtsfortbildungskriterien im Wechselrecht – Zugleich eine Besprechung der Urteile des BGH vom 26.5.1986 II ZR 260/85 und vom 27.10.1986 II ZR 103/86 –, JZ 1987, 543–553; Canaris, Claus-Wilhelm, Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, demonstriert an Standardproblemen aus dem
244
Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung Zivilrecht, in: Volker Beuthien/Maximilian Fuchs/Herbert Roth/Gottfried Schiemann/Andreas Wacke (Hrsg.) Festschrift für Dieter Medicus, Köln, Berlin, Bonn, München 1999, S. 25–61; Cross, Rupert/Bell, John/Engle, George, Statutory Interpretation, 3. Auflage London/Dublin/ Edinburgh 1995; MacCormick, Neil D./Summers, Robert S., Interpreting Statutes – A Comparative Study, Aldershot/Brookfiled/Hong Kong/Singapore/Sydney 1991; Grundmann, Stefan/Riesenhuber, Karl, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Riesenhuber, Karl, Kein Zweifel für den Verbraucher, JZ 2005, 829–835; Schmidt, Marek, Privatrechtsangleichende EU-Richtlinien und nationale Auslegungsmethoden, RabelsZ 59 (1995), 569–597; Schulze, Reiner, Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, Baden-Baden 1999; Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Tübingen 2001; Weatherill, Stephen, Can There be Common Interpretation of European Private Law?, Georgia J.Int.Comp.L. 31 (2002), 139–166. Rechtsprechung: EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; EuGH v. 15.12. 1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211.
Im folgenden geht es um die Auslegung des Europäischen Privatrechts, allerdings nur mit Einschränkungen. Das gilt zunächst für den Gegenstand der Auslegung. Zum Europäischen Privatrecht gehören auch Regeln und Prinzipien des Primärrechts (i.e. § 7), man denke nur an das Kartellverbot des Art. 81 EG und das Prinzip der Vertragsfreiheit, das den Grundfreiheiten zugrunde liegt. Auslegung und Fortbildung des Primärrechts folgen indes teilweise besonderen Regeln, die bereits gesondert behandelt wurden (§ 8). Aber auch von den sekundärrechtlichen Rechtsakten werden im folgenden im wesentlichen nur Richtlinien und Verordnungen erörtert; die Auslegung von Entscheidungen, die auch im Privatrecht durchaus von Bedeutung sind, wird nicht erörtert.
1
Zweitens bleiben zwei Themen, die nach umstrittener Auffassung auch für die Auslegung von Bedeutung sind, an dieser Stelle unberücksichtigt: Die Rechtsvergleichung (§ 4) und die ökonomische Theorie (§§ 5, 6).1 Gesondert behandelt wird zudem die primärrechtskonforme Auslegung (§ 9).
2
Drittens schließlich geht es im folgenden ausschließlich um die Auslegung, nicht auch um die Konkretisierung von Generalklauseln (nachfolgend, § 12) oder die Rechtsfortbildung (nachfolgend, § 13). Das ist deswegen hervorzuheben, weil der EuGH – der französischen Tradition folgend – Auslegung und Rechtsfortbildung (sprachlich) nicht unterscheidet, sondern auch die Rechtsfortbildung als Auslegung bezeichnet.2
3
I.
Autonome Auslegung
Eine Vorfrage der Auslegung des Sekundärrechts – und damit zugleich weiter Teile des Europäischen Privatrechts – ist oftmals, ob eine Regelung oder ein Begriff gemeinschaftsautonom auszulegen 3 ist. Allerdings wird diese Frage teilweise schon in 1 Dazu an dieser Stelle nur die Hinweise von Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532–534; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 49 f. 2 Eingehend Baldus, oben § 3; Neuner, unten § 13 Rn. 2. S.a. Colneric, ZEuP 2005, 225, 230. 3 Dabei geht es nicht um die Autonomie der Auslegungsmethode, sondern um die Autonomie
Karl Riesenhuber
245
4
2. Teil: Allgemeiner Teil
den einzelnen Rechtsakten selbst deutlich beantwortet. Unzweifelhaft ist ein gemeinschaftsautonomes Konzept gewollt, wenn der Gesetzgeber einen Begriff in dem – weithin üblichen – Definitionsartikel selbst definiert hat.4 Und unzweifelhaft ist keine gemeinschaftsautonome Definition gewollt, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber für eine Definition auf das nationale Recht verweist. So sind etwa „Verbraucher“ und „Unternehmer“, wie sie in zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien definiert sind, gemeinschaftsautonome Begriffe, ebenso wie etwa der Garantiebegriff gem. Art. 1 Abs. 2 lit. e KGRL oder jener der „Massenentlassung“ in Art. 1 Abs. 1 lit. a MERL. Und umgekehrt verweisen die meisten arbeitsrechtlichen Richtlinien für die Begriffe „Arbeitnehmer“ oder „Arbeitnehmervertreter“ auf das nationale Recht, sie sind also nicht gemeinschaftsautonom auszulegen.
5
Daneben gibt es aber zahlreiche Begriffe, für die es weder eine eigene Definition noch eine Verweisung gibt, wie z.B. die Begriffe der „Entlassung“ und „Kündigung“ in der Massenentlassungsrichtlinie. Ob auch solche Begriffe gemeinschaftsautonom auszulegen sind, erörtert der EuGH in jüngerer Zeit ausdrücklich vorab. In der Tat ist die Frage keineswegs selbstverständlich zu bejahen.5 Beruht das Europäische Privatrecht – wie in weiten Teilen des Privatrechts ganz unvermeidlich der Fall – auf der Rechtstradition der Mitgliedstaaten, so könnten seine Regelungen auch als eine Verweisung auf die mitgliedstaatlichen Rechte oder das Recht eines Mitgliedstaats zu verstehen sein. Das könnte vor allem dann naheliegen, wenn ein Gemeinschaftsrechtsakt nach dem Vorbild einer mitgliedstaatlichen Regelung gestaltet wurde: Wenn die Handelsvertreterrichtlinie dem Vorbild des deutschen Rechts folgt, kann man erwägen, sie ebenso auszulegen.
6
Indes deutet schon die bloß vereinzelte Verweisung auf das nationale Recht darauf hin, daß eine Verweisung sonst nicht gewollt war. Liegt der innere Grund für solche Verweisung in den Grenzen der Rechtsangleichung, so bedeutet die Rechtsangleichung soweit sie reicht im Grundsatz auch, daß ein autonomes gemeinschaftsrechtliches Konzept geschaffen werden sollte. Wer angleichen will, muß einen Maßstab schaffen.6 Durch dynamische Verweisung auf den jeweiligen Stand der nationalen Auslegung würde das Gemeinschaftsrecht seine Autonomie preisgeben, bei statischer Verweisung auf den ursprünglichen Stand würde es versteinern. Darüber hinaus würde jegliche Verweisung den Grundsatz der Gleichberechtigung der Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten in Frage stellen. In einer Gemeinschaft Gleicher kann dieser gemeinsame Maßstab aber gerade nicht in einem der nationalen Rechte liegen. Sonst wären Angehörige des „vorbildlichen“ Landes bei Rechtssuche und rechtlicher Argumentation im Vorteil. In seinem Urteil vom 27.1.2005 im Fall Junk hebt der EuGH ebendies hervor. Es ging (insbesondere) um die Auslegung des Begriffs der „Entlassung“ in der Massenentlas-
der auszulegenden Regelung; treffend Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 80–86. 4 EuGH v. 14.5.1985 – Rs. 139/84 van Dijk’s Boekhuis, Slg. 1985, 1405 Rn. 16. 5 Dazu bereits Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 6 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 140, 143.
246
Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung sungsrichtlinie, den man in Deutschland aufgrund einer arbeitsmarktpolitisch verstandenen Zwecksetzung als „tatsächliche Beendigung“ auslegte. Ungeachtet der gewissen Anlehnung der Richtlinie an das Vorbild des deutschen Rechts legte der Gerichtshof die Regelung gemeinschaftsautonom aus: „Für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits muß also der Inhalt des Begriffes ,Entlassung‘ im Sinne der Richtlinie bestimmt werden. In Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie wird der Begriff „Massenentlassungen“ definiert, aber weder angegeben, welcher Umstand eine Entlassung bewirkt, noch insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verwiesen. Hierzu ist daran zu erinnern, daß die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Gleichheitssatz verlangen, daß Begriffe einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft autonom und einheitlich ausgelegt werden, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zweckes zu ermitteln ist. Der Begriff ,Entlassung‘ im Sinne der Artikel 2 bis 4 der Richtlinie ist daher in der Gemeinschaftsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen.“ 7
Der Gerichtshof geht demnach gleichsam von einer Vermutung für die autonome Auslegung aus („in der Regel“) 8 und begründet das mit den oben (Rn. 6) angestellten Erwägungen zur einheitlichen Anwendung und der Gleichbehandlung.9 Tatsächlich entspricht diese Vermutung dem Regelsachverhalt: Wenn jemand eine einheitliche Regelung schafft, dann will er sie normalerweise nicht zur Disposition der Unterworfenen stellen. Sofern er das aber will, wird (und muß) er diesen Willen klar hervorheben.
7
Allerdings kann sich eine Verweisung auf das nationale Recht auch ohne ausdrückliche Regelung ergeben. Das hat der EuGH v.a. dann angenommen, wenn eine einheitliche Begriffsbildung nicht möglich war 10 oder die bisher nur teilweise erfolgte Harmonisierung dies gebot11.12
8
7 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 27–30 (Nachweise weggelassen); dazu Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97–103. Ferner (auch zum sonstigen Sekundärrecht) EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-55/02 Kommission ./. Portugal, Slg. 2004, I-9387 Rn. 45; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 25, 28; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917, Rn. 43; EuGH v. 14.1.1982 – Rs. 64/81 Corman ./. Hauptzollamt Gronau, Slg. 1982, 13 Rn. 8. 8 Ebenso EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-357/98 Yiadom, Slg. 2000, I-9265 Rn. 26; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 19 („eigene, besondere Terminologie“); für das Primärrecht EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1953, 1, 25. 9 Selbst wenn eine Regelung den Zweck hat, vorbestehendes nationales Recht eines bestimmten Mitgliedstaats als richtlinienkonform abzusichern, hat der EuGH sie autonom ausgelegt und eine Auslegung mit Rücksicht auf die vorbestehende mitgliedstaatliche Regelung abgelehnt; EuGH v. 18.10.2001 – Rs. C-441/99 Gharehveran, Slg. 2001, I-7687 Rn. 21–28. 10 Etwa EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-369/90 Micheletti, Slg. 1992, I-4239 Rn. 10–15 (Staatsangehörigkeit); EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 14 (Erfüllungsort im Rahmen des EuGVÜ). Ein differenziertes Ergebnis begründet EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 25–27 für den Schadensbegriff, der in Eckdaten Karl Riesenhuber
247
2. Teil: Allgemeiner Teil
II.
Ziel der Auslegung
9
Es ist ein alter Streit, was das richtige Ziel der Auslegung ist: der subjektiv-historische Gesetzgeberwille oder der objektiv-geltungszeitliche Normzweck.13 Die aus der nationalen Methodenlehre bekannten Erwägungen gelten entsprechend für das Europäische Privatrecht.
10
Für die subjektive Theorie sprechen das Demokratieprinzip und der Gewaltenteilungsgrundsatz.14 Auch im Gemeinschaftsrecht sind Rechtsetzungsaufgabe und Rechtsprechungsaufgabe getrennt, man spricht vom „institutionellen Gleichgewicht“ der Organe.15 Damit bezeichnet der EuGH das in den Verträgen vorgesehene „System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft (…), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist.“ 16 Das institutionelle Gleichgewicht ist zwar nicht gleichbedeutend mit dem staatlichen Prinzip der Gewaltenteilung, da vor allem die Grenzlinie zwischen Legislative und Exekutive auf Gemeinschaftsebene nicht gleichermaßen scharf gezogen ist.17 Die Stellung des Gerichtshofs weist jedoch „recht deutliche staatstypische Parallelen“ auf,18 gerade auch darin, daß ihm die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ zukommt, aber grundsätzlich keine Rechtsetzungs-
11 12
13
14
15
16 17 18
von der Produkthaftungsrichtlinie vorgegeben wird, im einzelnen aber von den Mitgliedstaaten zu definieren ist. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 22–27 (jetzt freilich Art. 1 lit. d Betriebsübergangsrichtlinie). Eingehende Analyse der Rechtsprechung bei Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 475–503, der Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage der Unterscheidung von Verordnung und Richtlinie, der gewählten Kompetenzgrundlage, und der Unterscheidung von aktiver und reaktiver Rechtsangleichung entnehmen möchte. Eingehend Larenz, Methodenlehre, S. 32–35, 316–320. An der Differenzierung von Auslegungsmittel und Auslegungsziel zweifelnd Schroth, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 6.3.3.2 (S. 284); von der „Unbrauchbarkeit der ,subjektiven‘ und der ,objektiven Theorie‘ sprechen Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 442–444. Vgl. auch die (auch rechtsvergleichende) Übersicht bei Gruber, Die Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 86–108 (freilich allgemein für „internationales Einheitsrecht“). Neuner, unten, § 13 Rn. 18; ders., Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; für das nationale Recht Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 704–713. A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158 f. Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21–28; EuGH v. 29.10.1980 – Rs. 138/79 Roquette, Slg. 1980, 3333 Rn. 33; EuGH v. 5.5.1981 – Rs. 804/79 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045 Rn. 23; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 9/56 Meroni I, Slg. 1958, 9, 44; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 10/56 Meroni II, Slg. 1958, 51, 82. Calliess/Ruffert-Calliess Art. 7 EGV Rn. 7–15. EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21. Siehe nur Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 317–321. Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 7 EGV Rn. 7.
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Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung
kompetenz.19 Zu den „Leitprinzipien der Gemeinschaft und Union“ gehört aber auch das Demokratieprinzip (vgl. schon Art. 6 EU).20 Im Gesetzgebungsverfahren wird es durch das Parlament einerseits, aber auch durch die Vertreter im Rat andererseits verwirklicht, die in den Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sind.21 Wenn daher auch im Gemeinschaftsrecht Rechtsetzung und Rechtsprechung getrennt werden und es die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe ist, Recht zu setzen, dann muß man bei der Auslegung den subjektiven Gesetzgeberwillen ermitteln. Demgegenüber soll nach der objektiven Theorie die objektive Bedeutung der Normen ermittelt werden, so wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt darstellt.22 Sie stützt sich ihrerseits auf das – gleichfalls verfassungsrechtlich begründete – Gebot der Rechtssicherheit, das gebietet, das Vertrauen auf den veröffentlichten Wortlaut des Gesetzes (Art. 254 Abs. 1, 2 EG) zu schützen. Ein aus dem Wortlaut vielleicht nicht ersichtlicher und womöglich schwer zugänglicher Wille des Gesetzgebers könne daher nicht berücksichtigt werden. Zudem verlangten die sich andauernd ändernden tatsächlichen Verhältnisse und das sich ändernde Gesamtsystem des Rechts Berücksichtigung bei der Auslegung. Nicht zuletzt spricht auch die unvermeidliche Eigenständigkeit des Gesetzes, das sich mit der Anwendung weiterentwickelt, für die objektive Theorie.23
11
Bereits diese Begründungen deuten an, daß beide Lehren nicht in einem Verhältnis strenger Alternativität stehen, sondern sich durchaus ergänzen können („Vereinigungstheorie“).24 Mit Rücksicht auf die auch im Gemeinschaftsrecht fundamentalen Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung muß es allerdings im Ausgangspunkt um die Ermittlung des Gesetzgeberwillens gehen. Auch nach der Ansicht des EuGH, sind Vorschriften des Gemeinschaftsrechts „nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck“ auszulegen.25 Anders als im Primärrecht steht dem im Sekundärrecht regelmäßig nicht entgegen, daß dieser Wille nicht erkennbar sei: Entsprechend dem Begründungsgebot des Art. 253 EG sind die Rechtsakte mit (zunehmend eingehenden) Begründungserwägungen versehen und gibt es zudem aus dem Rechtsetzungsverfahren üblicherweise eingehende Begrün-
12
19 A.M. Borchardt, GS Grabitz, S. 39, der von einer „konkurrierenden Zuständigkeit“ von EuGH und Legislative zur Rechtsetzung spricht, die Kompetenz des Gerichtshofs dann aber – allerdings wohl nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstbeschränkung – auf Fälle beschränkt, in denen der Gesetzgeber „aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen“ keine Regelung vorgesehen hat. 20 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17. 21 BVerfGE 89, 155, 184–187. 22 Tendenziell etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428–436; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137–141. Kritisch besonders Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 806–815. 23 Larenz, Methodenlehre, S. 317 f. 24 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139 f.; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 49–51. 25 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 20.11.2001 Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
dungen zu Kommissionsvorschlägen und Änderungen im Gesetzgebungsverfahren (nachfolgend, Rn. 33). Diese Erwägungen schließen es indes nicht aus, Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse, vor allem aber auch des rechtlichen Umfeldes Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf das rechtliche Umfeld ist das nicht zuletzt wegen des in vielen Fällen real nachweisbaren, jedenfalls aber zu vermutenden „Systembildungswillens“ des Gesetzgebers 26 berechtigt (s. noch nachfolgend, Rn. 25). Allerdings ist der Gesetzgeberwille in der verhältnismäßig jungen Europäischen Privatrechtsordnung meist feststellbar und spielen zudem objektive Elemente in einer nur rahmenhaft ausgeformten Rechtsordnung keine gleichermaßen starke Rolle wie etwa im deutschen BGB.27
III. Kriterien der Auslegung 13
14
Nach der in Deutschland und auch in anderen Ländern weithin üblichen Einteilung kann man ungeachtet fließender Übergänge und teilweiser Überschneidungen vier Auslegungskriterien unterscheiden, die grammatikalische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.28 1.
Die grammatikalische Auslegung
a)
Ausgangspunkt für die Auslegung
In nahezu jeder Entscheidung gibt der EuGH zunächst die umstrittene(n) Norm(en) wörtlich wieder und beginnt die Auslegung, entsprechend „allgemein anerkannten Auslegungsprinzipien“, beim Wortlaut.29 Dabei ist nach unseren Vorüberlegungen (oben, I, Rn. 4–8) zunächst zu ermitteln, ob die Wortwahl autonom-gemeinschaftsrechtlich oder als Verweisung auf das mitgliedstaatliche Recht zu verstehen ist. Für ersteres spricht allerdings eine Vermutung (oben, Rn. 7). b)
15
Wortlaut und Sprachenvielfalt
Das wichtigste eigenständige Problem der Wortlautauslegung im Gemeinschaftsrecht bildet die Sprachenvielfalt.30 Die nunmehr 20 sprachlichen Fassungen von Gemein26 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 24; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 8 f. 27 S.a. Bleckmann, Europarecht (6. Aufl. 1997), Rn. 554. 28 Bankowski/MacCormick/Summers/Wróblewski, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 25–27; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 260 f.; Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law Parts 1 and 2, S. 109, Note 1; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 114–118; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, passim. Zu der auf Savigny zurückgehende Unterscheidung Baldus, oben § 3 Rn. 27–46. 29 EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/95 Sabèl, Slg. 1997, I- 6191 Rn. 18. 30 Es ist freilich schon aus mehrsprachigen nationalen Rechtsordnungen sowie dem internationalen Einheitsrecht bekannt; Neuner, unten § 13 Rn. 6; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 134.
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Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung
schaftsrechtsakten 31 sind grundsätzlich gleich autoritativ, so daß nicht eine Vorrang vor der anderen beanspruchen kann.32 Daher muß die Wortlautauslegung grundsätzlich alle sprachlichen Fassungen berücksichtigen.33 Im Verfahren vor dem EuGH erfolgt das öfter durch Erklärungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits von den jeweiligen Sprachfassungen ausgehen. Nicht selten erweist sich dabei, daß die gemeinschaftsrechtliche Rechtssprache nicht annähernd so ausgefeilt ist wie die nationale Rechtssprache.34 Diesem Defizit können auch die in den Rechtsakten üblichen Begriffsbestimmungen nicht vollständig abhelfen, da sie sich regelmäßig nur auf wenige tragende Konzepte beziehen, darüber hinaus aber weitere Begriffe und Regelungen autonom auszulegen sind (s.o. I, Rn. 4–8). In keinem Fall kann die Auslegung beim Wortlaut bereits stehenbleiben. Ergibt sich aus dem notwendigen Vergleich der sprachlichen Fassungen keine Divergenz oder lassen sich zumindest alle Fassungen in einem Sinne verstehen, so ist das zwar ein starkes Indiz für die vom Wortlaut nahegelegte Auslegung.35 Dieses Indiz ist aber noch anhand anderer Auslegungskriterien zu bestätigen (anders die sog. acte clair-Doktrin)36.37 Ergibt sich umgekehrt – wie praktisch nicht selten der Fall – eine Divergenz der Sprachfassung, so muß diese mit Hilfe anderer Auslegungsmittel aufgelöst werden.38
31 Im Primärrecht ist zusätzlich das Irische Amtssprache. 32 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18. Verordnung Nr. 1 des Rates zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft vom 15.4.1958, ABl.EG 1958, S. 385; BieberEpiney/Haag, Die Europäische Union, § 7 Rn. 53. S.a. Armbrüster, EuZW 1990, 246–248. Nicht unbedenklich ist daher der faktische Vorrang des Französischen als Arbeitssprache des Gerichtshofs, zumal wenn andere Sprachfassungen nur berücksichtigt werden, wenn Verfahrensbeteiligte (zufällig?) Divergenzen aufdecken; zur Praxis des EuGH Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. 33 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10–12; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 20.11.2001 – Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. 34 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 179 f. 35 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13–15. 36 In Richtung einer acte-clair-Doktrin weist etwa EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16, doch wird sie am Ende nicht übernommen, Rn. 20; eingehende Analyse der EuGH-Rechtsprechung bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. 1, S. 358–383. Gegen die acte clair-Doktrin etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 258; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 143–146. S.a. Baldus, oben § 3 Rn. 18–23. 37 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10–20 (Bestätigung des schon als „eindeutig“ erkannten Wortlauts durch systematische und teleologische Erwägungen); EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13–15. 38 EuGH v. 27.10.1977 – Rs. 30/77 Boucherau, Slg. 1977, 1999 Rn. 13/14; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Aannemersbedrijf Kraaijeveld, Slg. 1996, I-5403 Rn. 28; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 11–13; EuGH v.12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3–4; EuGH v. 20.11.2001 – C-268/99, Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil „Nach ständiger Rechtsprechung verbietet die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen auszulegen.“39
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Zuvor können sich allerdings schon aus dem Wortlaut Indizien für eine bestimmte Auslegung ergeben. Keine große Hilfe ist aber von der Untersuchung der Arbeitssprache des Gesetzgebers zu erwarten,40 der gelegentlich größeres Gewicht beigemessen wird 41. Das ist schon wegen der Gleichwertigkeit aller Sprachen problematisch, zudem deswegen, weil die Arbeitssprache im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oder in verschiedenen Gremien wechseln mag und endlich, weil sie nicht offiziell und nicht veröffentlicht ist.
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Fruchtbar machen kann man aber im Einzelfall den – auch im nationalen Recht anerkannten – grundsätzlichen Vorrang des spezifischen Gesetzessprachgebrauchs vor dem allgemeinen Sprachgebrauch.42 Verwendet eine sprachliche Fassung einen juristisch-technischen Begriff oder den spezifischeren oder präziseren Terminus, so kann diese Bedeutung vorzuziehen sein, wenn sich auch die anderen Sprachfassungen in diesem Sinne verstehen lassen.43 Bekannt ist etwa das primärrechtliche Beispiel der Auslegung von Art. 249 Abs. 3 EG: Entsprechend dem spezifischeren Wortlaut der romanischen Sprachen sind Ergebnisvorgaben in Richtlinien zulässig, nicht nur Zielvorgaben, auf die die deutsche Fassung hindeutet.44 Freilich hilft der technische Wortlaut nicht immer weiter. So definiert z.B. die englische Fassung der Massenentlassungsrichtlinie die Massenentlassung als dismissal, also mit dem normativen Begriff der Kündigung, die deutsche verwendet hingegen den (eher) deskriptiven Begriff der Beendigung. Für die Auslegung war dem Wortlaut indes nicht mehr als der Zweifel zu entnehmen, da die Regelung im übrigen zeigt, daß der Gesetzgeber die Begriffe (dismissal, Beendigung) nicht bewußt unterschieden, sondern allein aus Gründen sprachlicher Konvenienz verwandt hat.45
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Im Ergebnis führt die Ermittlung des Wortsinns meist nur zu einer Eingrenzung der möglichen Auslegungsergebnisse, wobei die Sprachenvielfalt verbunden mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Sprachen die Wortsinngrenze tendenziell erweitert. Aber auch ein (vermeintlich) eindeutiger Wortsinn bedarf der Bestätigung durch
39 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33 (Nachweise weggelassen). 40 Für das Gemeinschaftsrecht ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 139–142. 41 Vgl. Oppermann, Europarecht, Rn. 683 („begrenzte Hilfe“); das ist freilich vielleicht nur als empirischer Befund gemeint. 42 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 439 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 119–121; differenzierend Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 125–130. 43 Vgl. GA Lord Slynn, Schlußanträge v. 8.11.1984 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457, 459f., vom Gericht i.Erg. übernommen, vgl. aaO Rn. 13. 44 Gegen eine Beschränkung auf bloße Zielvorgaben schon H.-P. Ipsen, FS Ophüls (1965), S. 67, 73f.; heute unstr. 45 Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97, 98 f.
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§ 11 Die Auslegung
weitere Überlegungen. Die weitere Konkretisierung oder Bestätigung muß mit Hilfe anderer Kriterien gesucht werden. Kommt damit dem Wortlaut bei der Auslegung ein geringerer Grad der Steuerung zu als in einem einsprachigen Rechtssystem, so ist seine fundamentale Bedeutung doch nicht zu leugnen. Insbesondere ist auch im Gemeinschaftsrecht der Wortlaut die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.46 c)
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Relativität der Rechtsbegriffe
Im Gemeinschaftsrecht ist ebenso wie im nationalen Recht die Relativität der Rechtsbegriffe zu beachten: 47 Derselbe Begriff kann in verschiedenen Zusammenhängen Unterschiedliches bedeuten. Innerhalb des Europäischen Privatrechts ist das mit einer fortschreitenden Ausbildung auch des äußeren Systems (sogleich 2.) allerdings grundsätzlich nicht zu vermuten. Das Europäische Arbeits- und Gesellschaftsrecht sind bereits seit Längerem weitgehend durchstrukturiert, und auch im Europäischen Vertragsrecht hat die Kommission die Kohärenzaufgabe jetzt erkannt 48 und auch schon bei einzelnen Rechtsetzungsvorhaben im Ansatz aufgegriffen.49 In Einzelfällen haben dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsakten unterschiedliche Bedeutung. Zum Beispiel heißt der Reisende in der Pauschalreiserichtlinie „Verbraucher“, obwohl es nicht im technischen Sinne um einen Verbraucher als eine natürliche Person geht, die zu privaten Zwecken handelt. Und das Rücktrittsrecht der TimesharingRichtlinie ist der Sache nach ein Widerrufsrecht. 2.
Die systematische Auslegung
a)
Der sprachliche Bedeutungszusammenhang
Die Auslegung kann nicht bei einzelnen Wörtern stehenbleiben, sondern muß sie in dem Bedeutungszusammenhang sehen, in den sie der Gesetzgeber gestellt hat. Dabei geht es zuerst – in Fortsetzung der Wortauslegung – um die Berücksichtigung des sprachlichen Kontextes, in dem ein Ausdruck verwendet wird. Für die Auslegung eines Wortes ist der Satzzusammenhang, für das Verständnis eines Satzes der Textzusammenhang entscheidend. Das ist freilich noch keine systematische Auslegung, sondern Bestandteil der grammatikalischen Auslegung.
46 Näher Neuner, unten § 13 Rn 2 f. Zu den historischen Wurzeln näher Baldus, oben § 3 (selbst zweifelnd, Rn. 88). 47 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 f.; Wank, Die juristische Begriffsbildung, S. 110–122. S. schon Müller-Erzbach, JherJb 61 (1912), 343–384. 48 Eingehend Mitteilung der Kommission vom 11.7.2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg., bes. Rn. 34. 49 S. z.B. – freilich mit stärkerem Bezug zum inneren System – die Erklärung des Rates und des Parlaments zu Art. 6 Abs. 1 FARL, abgedruckt bei Schulze/Zimmermann, Basistexte zum Europäischen Privatrecht (3. Aufl. 2006), I.25 a.E. (S. 123); BE 11 EComRL. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
b)
Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang
23
Bei der eigentlichen systematischen Auslegung geht es darum, eine Rechtsnorm als Bestandteil eines (äußerlich und innerlich) geordneten Regelungsganzen zu verstehen und durch ihre Stellung in diesem System Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu ziehen. Das ist ungeachtet seines oft beklagten „pointillistischen“ oder „fragmentarischen“ Charakters auch im Europäischen Privatrecht möglich, zumal angesichts einer zunehmenden Regelungsdichte.50 Ganz selbstverständlich sind seine Regeln äußerlich geordnet, es kann ihnen aber auch eine innere Ordnung entnommen werden.51 Beachtet man zudem das der Rechtsangleichung zugrunde liegende Harmonisierungskonzept, so läßt sich das Europäische Privatrecht auch als (weitgehend) vollständig und nur in einzelnen Punkten lückenhaft (bzw. in Entstehung befindlich) verstehen.
24
Dementsprechend kann man zunächst die äußere Ordnung der Rechtsvorschriften in Rechtsakte, Abschnitte und Artikel für die Auslegung fruchtbar machen.52 Z.B. hat der EuGH die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 Betriebsübergangs-Richtlinie bedeute, daß auch vor dem Übergangszeitpunkt entstandene Ansprüche auf den Erwerber übergehen, mit zwei systematischen Erwägungen bejaht. Erstens deute die Ermächtigung der Mitgliedstaaten in UAbs. 2 darauf hin, wenn sie die Haftung des Veräußerers auch auf nachträglich entstandene Ansprüche erstrecken können. Zweitens spreche die Vorschrift des Absatz 3 a.F. (vgl. jetzt Absatz 4 lit. a) für dieses Ergebnis, die nur einzeln aufgezählte Fälle von der Übergangsanordnung ausnimmt.53
25
Schon die teleologische Auslegung ist berührt, wenn man das Verständnis einer Vorschrift mit Rücksicht auf das innere System ermittelt und dazu die Teleologie des Regelungsganzen und seine innere Ordnung durch Prinzipien berücksichtigt.54 Diese prinzipiell-systematische Auslegung 55 hat auch im Europäischen Privatrecht ihren
50 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 158–160. 51 Für das Vertragsrecht Riesenhuber, System und Prinzipien, passim. Die gemeinschaftsrechtliche Akzeptanz (besonders im Hinblick auf die common-law-Tradition) bezweifelnd Colneric, ZEuP 2005, 225, 230; Flessner, JZ 2002, 14, 15 f.; wohl auch Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252, 254. 52 Z.B. EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35; EuGH v. 11.11. 1997 – Rs. C-251/95 Sabel, Slg. 1997, I-6191 Rn. 20–24; EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 18–24 (Anwendbarkeit der 2. gesellschaftsrechtlichen Richtlinie auf Aktiengesellschaften des Banksektors). 53 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36f. Ferner z.B. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18–21 (Auslegung von Art. 44 Abs. 2 lit. g EG im Lichte des Art. 3 lit. h EG); EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, 2191 Rn. 15. 54 Beispielhaft EuGH v. 28.2.1980 – Rs. 67/79 Fellinger, Slg. 1980, 535 Rn. 7 f. Für das Primärrecht Bleckmann, Europarecht (6. Aufl. 1997), Rn. 547–549; für das nationale Recht Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht (1995); Larenz, Methodenlehre, S. 324. Daher ist es keineswegs erstaunlich, wenn gesagt wird, die systematische und die teleologische Auslegung gingen „untrennbar ineinander über“, Colneric, ZEuP 2005, 225, 227. 55 Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung (1995); Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 27.
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§ 11 Die Auslegung
Platz. Auch hier ist „jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“.56 Die Vielzahl der einzelnen Regeln steht nicht unverbunden nebeneinander, sondern ist vom Gesetzgeber als ein zusammenhängendes, nach Prinzipien geordnetes widerspruchsfreies Ganzes gewollt.57 Tatsächlich läßt sich ein Systembildungswille des Gesetzgebers zunehmend häufig nachweisen, ungeachtet der Tatsache, daß die Auswahl der Regelungsbereiche (Harmonisierungskonzept) 58 nicht auf die Schaffung eines im pandektischen Sinne vollständigen Zivilrechtssystems gerichtet ist.59 So hat die Kommission z.B. in den Erläuterungen des Vorschlags einer Verkäuferhaftung für vorvertragliche Angaben (immerhin) auf die innere Verbindung zur Bindung des Reiseveranstalters (Vermittlers) an Prospektangaben hingewiesen.60 Aber auch die Rechtsprechung begreift die verschiedenen Einzelrechtsakte auf dem Gebiet des Privatrechts als zusammengehöriges Ganzes.61
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Beispielhaft ist auch die Entscheidung Heininger, in der die Bundesrepublik vorgetragen hatte, die Regelung der Haustürgeschäfterichtlinie werde als lex generalis durch jene der Verbraucherkreditrichtlinie als lex specialis verdrängt; da aber die Verbraucherkreditrichtlinie ein Widerrufsrecht nicht vorschreibe, müsse es auch bei „an der Haustür“ geschlossenen Verbraucherkreditverträgen nicht vorgesehen werden. Wenn der Gerichtshof dem nicht gefolgt ist, so nicht deswegen, weil es den Systemgedanken als solchen abgelehnt hätte, sondern weil er die Schutzzwecke der Regelungen anders verstand, nämlich als komplementär.62
Wenn der EuGH bei der Auslegung zudem auf die „Ziele“ des Gemeinschaftsrechts hinweist, macht er deutlich, daß für die Auslegung nicht nur die äußeren, sondern vor allem die inneren Zusammenhänge von Bedeutung sind. Die Bedeutung der zugrundeliegenden Prinzipien für die Auslegung der Gemeinschaftsrechtsordnung hat der EuGH besonders in seinem EWR-Gutachten hervorgehoben. Darin hat er u.a. ausgeführt, daß Bestimmungen in einem völkerrechtlichen Abkommen, die mit solchen des EG-Vertrags wörtlich übereinstimmen, nicht notwendig gleich ausgelegt
56 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. Ferner EuGH v. 4.12. 1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18–21; vgl. auch EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 (AETR); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 22 f. Übersicht bei Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 240–251. 57 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 58 Zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Vertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 24–51; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 211–235; zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Arbeitsrecht Grundmann, GS Blomeyer (2004), S. 71–97. 59 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 55–58. 60 Vgl. Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 465. 61 Kürzlich EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 76 62 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 37–39. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
werden müssen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Zwecke unterschiedlich verstanden werden könnten.63 c)
Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen?
28
Die Rabobank-Entscheidung des EuGH64 hat die Frage aufgeworfen, ob auch Regelungsentwürfe im Rahmen der systematischen Auslegung berücksichtigt werden können.65 In dieser Entscheidung hat der EuGH angenommen, Art. 9 Abs. 1 Publizitätsrichtlinie (PublRL) 66 lasse nationale Vorschriften über die Begrenzung der Vertretungsmacht wegen Interessenkonflikts unberührt.67 Diese Auslegung findet das Gericht in Art. 10 Abs. 1 und 4 des Entwurfs für eine Strukturrichtlinie (E-StruktRL) 68 bestätigt. Denn nach diesen Vorschriften bedarf ein Vertrag der Gesellschaft, der die Interessen des Leitungs- oder Aufsichtsorgans berührt, zumindest der Genehmigung des Aufsichtsorgans (Art. 10 Abs. 1 E-StruktRL); der Mangel der Genehmigung kann Dritten entgegengehalten werden, die davon Kenntnis hatten oder haben mußten.69 Daß der Entwurf der Strukturrichtlinie für diesen Fall eine Regelung enthält, nimmt der Gerichtshof als ein Anzeichen dafür, daß die Kommission den Fall noch nicht als von der Publizitätsrichtlinie abgedeckt ansah, sondern ebenfalls davon ausging, die Regelung falle bislang in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten.
29
Um eine systematische Auslegung kann es sich bei dieser Begründung schon deswegen nicht handeln, weil ein Entwurf nicht Gesetz und damit nicht Bestandteil des Systems ist.70 Diese Einschränkung ist keineswegs nur formal gerechtfertigt, sondern auch in der Sache, weil dem Kommissions(!)-Entwurf nicht die demokratische Legiti63 Vgl. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 EWR-Abkommen, Slg. 1991, I-6079 Rn. 13–22 und 50f. Ferner EuGH v. 9.2.1982 – Rs. 270/80 Polydor, Slg. 1982, 329 Rn. 8, 14–20; EuGH v. 26.10.1982 – Rs. 104/81 Kupferberg, Slg. 1982, 3641 Rn. 30; EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-312/91 Metalsa, Slg. 1993, I-3751 Rn. 9–12; EuGH v. 12.12.1995 – Rs. C-469/93 Chiquita, Slg. 1995, I-4533 Rn. 52; EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 9 a.E. Dazu Epiney/Felder, ZVglRWiss 100 (2001), 425–447 (Systembindung im Grundsatz anerkennend, aber anders als der EuGH im EWR-Gutachten weitgehend für irrelevant haltend). 64 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211. 65 Eingehend zur Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 83–112 (der den hier erörterten Fall allerdings nicht der Vorwirkungsproblematik zuordnet, da erst ein Entwurf vorliegt; aaO S. 87 f.). 66 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 5.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. Nr. L 65 vom 14.03.1968, S. 8–12. 67 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 21–24. 68 Nachweise zu dem – mittlerweile zurückgezogenen – Richtlinienvorschlag bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 366, 404– 408. 69 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 25–27. 70 So unzweideutig EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 43. S.a. Neuner, unten § 13 Rn. 20.
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Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung
mation des verabschiedeten Rechtsakts (Richtlinie, Verordnung) zukommt. Wegen dieses Mangels demokratischer Legitimation läßt sich aus einem Regelungsentwurf in keinem Fall eine Veränderung des bestehenden Systems begründen.71 Richtlinienvorschläge können indes in einer schwächeren Weise zum Verständnis des gesetzten Rechts beitragen, und zwar gerade in der Form, wie sie der EuGH in der RabobankEntscheidung verwendet hat, nämlich als ergänzendes Argument zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses.72 Soweit der Regelungsentwurf nur von der Kommission kommt, hat er indes nicht das Gewicht einer authentischen Auslegung – die ja nur der Gesetzgeber selbst vornehmen könnte –, sondern nur die Bedeutung einer Stellungnahme der Kommission. 3.
Die historische und genetische Auslegung
Anders als im Primärrecht und entgegen mancher früheren Einschätzung 73 spielt auch die historische und genetische Auslegung im Europäischen Privatrecht eine zentrale Rolle, bei der es um die Vorgeschichte und die Entstehungsgeschichte geht. a)
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Der Gesetzgeber
Verfolgt die Auslegung – mit der Vereinigungstheorie (oben, Rn. 12) – im Grundsatz das Ziel, den Gesetzgeberwillen zu ermitteln, so ist zunächst zu bestimmen, wessen Wille maßgeblich ist. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber, das sind nur die Gesetzgebungsorgane, deren Zustimmung den Rechtsakt im konkreten Fall trägt.74 Verschiedene Organe sind hingegen lediglich anzuhören – Wirtschafts- und Sozialausschuß (WSA), teils auch das Europäische Parlament –; und auch die Kommission hat nur das Initiativrecht und die Möglichkeit, Vorschläge zurückzuziehen, ihre Vorschläge können im Gesetzgebungsverfahren beliebig verändert werden 75.
71 Zu weitgehend daher Schön, RabelsZ 64 (2000), 1, 7 f., der, unter der Voraussetzung, daß die Verabschiedung nicht schon durch „grundsätzliche Sachdifferenzen“ behindert wird, (wohl) auch Entwürfen „grundlegende Wertungen des Europäischen Gesellschaftsrechts … entnehmen“ möchte; so weit geht auch die Rabobank-Entscheidung nicht. S.a. das Beispiel aus der US-amerikanischen Rechtsprechung bei Munday, J.Crim.L. 65 (2001), 336, 342. 72 Ähnlich wohl EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 43 (im konkreten Fall das Gewicht des Arguments aus dem Vorschlag als gering veranschlagend); Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 35. 73 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 568, 582; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 33f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. 1, S. 356 f. 74 Überblick über die (Mit-)Entscheidungsrechte in den verschiedenen Rechtsetzungsverfahren Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S. 98–100. Zu Protokollerklärungen: EuGH v. 21.1.1992 – Rs. C-310/90 Egle, Slg. 1992, I-177 Rn. 12 (ergänzende Heranziehung zur Bestätigung); Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 451; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 63. 75 Eine Kompetenz zur „authentischen Interpretation“ des Sekundärrechts kann die Kommission daher auch nicht haben; methodisch nicht haltbar insoweit Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 75, zur Auslegung der Richtlinie 2000/43. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
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Indessen sind üblicherweise gerade (manchmal nur) die Vorschläge der Kommission eingehender begründet. Und auch die Stellungnahmen von Parlament und WSA enthalten öfter weiterführende Erläuterungen. Sofern die entscheidenden Organe diese Erwägungen in ihren Willen aufgenommen haben, können sie auch für die Auslegung herangezogen werden.76 Sofern Vorschläge bzw. Wünsche von Kommission, Parlament und WSA dezidiert 77 nicht übernommen wurden, kann sich daraus allenfalls (aber nicht zwingend) ein e contrario Argument ergeben.78 In dieser Weise hat der EuGH beispielsweise die Entstehungsgeschichte der Handelsvertreterrichtlinie berücksichtigt. Nach Vortrag der Kommission hatte der WSA im Gesetzgebungsverfahren die Einführung eines Handelsvertreterregisters vorgeschlagen, sich damit aber nicht durchgesetzt. Der Gerichtshof entnimmt dem, daß diese Frage daher der Disposition der Mitgliedstaaten überlassen bleiben sollte. Gleichzeitig zieht er diesen Umstand aus der Entstehungsgeschichte als „weitere Bestätigung“ seines Auslegungsergebnisses heran, die Registereintragung dürfe nicht Wirksamkeitsvoraussetzung für den Handelsvertretervertrag sein.79 Auf ähnliche Weise zieht der Gerichtshof die Entstehungsgeschichte für die Auslegung des Betriebsbegriffs in der Massenentlassungsrichtlinie heran. Daß die verabschiedete Fassung auf den „Betrieb“ abstellt, nicht mehr, wie noch der Vorschlag, auf das „Unternehmen“, sieht der EuGH als Bestätigung seiner Auslegung an, wonach es nicht darauf ankommt, ob die betroffene Einheit eine selbständige Leitung hat.80
b)
Zugängliche Materialien
33
Nach Art. 254 EG werden Verordnungen und Richtlinien unter Hinweis auf die ihnen zugrundeliegenden Vorschläge und Stellungnahmen dazu und mit einer Begründung veröffentlicht. Diese Unterlagen, insbesondere die Begründungserwägungen, die allen Rechtsakten vorangestellt sind, stehen für die Ermittlung des Gesetzgeberwillens in jedem Fall zur Verfügung. Und tatsächlich erschöpfen sich die Begründungserwägungen jüngerer Rechtsakte regelmäßig auch nicht (mehr) in einer bloßen Skizze der Regelungsinhalte, sondern geben sie auch weiterführende Hinweise.
34
Aber auch darüber hinaus besteht nach Art. 255 EG ein grundsätzliches Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Gemeinschaft.81 Infolge des durch den Amster76 S. z.B. GA Tizzano, Schlußanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 18; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 451 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 171–173. Enger Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 253 f. Für das nationale Recht zutr. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 93 f.; enger Larenz, Methodenlehre, S. 329. 77 Also nicht etwa nur „als selbstverständlich“. 78 Neben dem folgenden Beispiel etwa GA Tizzano, Schlußanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 18 („zur Bekräftigung“); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 49–52 (zur Form des Widerrufs); EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 5. 79 EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, I-2191 Rn. 11 und 16. 80 EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33. 81 Näher ausgestaltet durch Verordnung (EG) 1049/2001 vom 30.5.2001 über den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. Nr. L 145 vom 31.5.2001, S. 43–48. Für den Rat, s.a. Art. 207 Abs. 3 EG.
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Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung
damer Vertrag eingeführten Art. 207 Abs. 3 EG sind seit 2001 auch Dokumente des Rates zugänglich, wenn dieser als Gesetzgeber tätig geworden ist.82 Daher stellt sich die Frage, inwieweit weitere Unterlagen als Materialien für die historische Auslegung herangezogen werden können. Die entscheidende Grenze muß darin liegen, welche Dokumente veröffentlicht sind.83 Das folgt zum einen aus der Bindung an den Gesetzgeberwillen, dem neben der Setzung der Regeln auch freistehen muß zu entscheiden, inwieweit er diese konkretisiert – auch durch Erläuterungen.84 Soweit er auf eine Veröffentlichung der Materialien verzichtet, entspricht es seinem Willen, sie bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen.85 Der subjektive Wille wird auf diese Weise als nachrangig gegenüber einer objektivierten, autoritativen Festlegung der Ziele in der Präambel verstanden – wohl auch weil Kompromisse gefunden werden, diese jedoch die Auslegung nicht belasten sollen.86 Unveröffentlichte Materialien werden daher, auch wenn sie dem Gericht vorliegen, zu Recht für unverwertbar gehalten.87 Das gilt ungeachtet des Zugangsrechts des Einzelnen und des Vorlagerechts des EuGH (Art. 21 EuGH-Satzung). Sowohl das Rechtsstaatsprinzip, das insofern in Art. 254 EG ausgedrückt ist, als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, daß das Recht für die Rechtsunterworfenen vorhersehbar ist. Das ist gerade im Privatrecht als dem Handlungsrahmen für das Verhalten Privater von essentieller Bedeutung, da sie anfänglich Planungssicherheit benötigen, nicht nur nachträglich die Gewährung rechtlichen Gehörs. Das bestätigt auch das sog. intertemporale Recht – also die Regeln über das im Falle von zwischenzeitlichen Änderungen auf einen Vertrag anwendbare Recht –, denn danach regiert bei Gesetzesänderungen im Vertragsrecht grundsätzlich das bei Vertragsschluß geltende Recht.88
82 Art. 10 der Geschäftsordnung des Rates iVm Beschluß 2001/840/EG, ABl. L 313/40; dazu nur Streinz-Hummer/Obwexer, Art. 207 Rn. 59–73. Zur alten Rechtslage noch Lutter, JZ 1992, 593, 600. 83 Ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 173–177. Wohl weitergehend (Zugänglichkeit reicht) Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 14. 84 Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit leitet Neuner, FS Georgiades (2005), S. 1235, freilich eine „Pflicht zur hinreichenden Dokumentation der gesetzgeberischen Regelungsabsicht in flankierenden Protokollen“ ab; diese kann allerdings wohl nicht mehr als ein Minimum begründen. 85 Ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 174 f. 86 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, § 9 Rn. 21 (für das Primärrecht). 87 Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, § 9 Rn. 21; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 148; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64; Pechstein, EuR 1990, 249, 255 (anders nur für Verfahren zwischen EG-Organen und/oder Mitgliedstaaten, soweit diese Parteien auch unveröffentlichte Dokumente kennen). 88 Heß, Intertemporales Privatrecht (1998), S. 143–159, 504–507. Zum Prinzip des vertraglichen Vertrauensschutzes auch EuGH v. 6.2.1973 – Rs. 48/72 Brasserie de Haecht II, Slg. 1973, 77 Rn. 8–10/13. Karl Riesenhuber
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35
2. Teil: Allgemeiner Teil
c)
36
Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen
Kommt so den Begründungserwägungen eine zentrale Rolle bei der Ermittlung des Gesetzgeberwillens zu, so ist doch auf deren begrenzte Bedeutung hinzuweisen.89 Dazu hat Frau Generalanwalt Stix-Hackl in ihren Schlußanträgen v. 25.11.2003 Stellung genommen: „Diesbezüglich ist auf die beschränkte Wirkung von Erwägungsgründen im Allgemeinen hinzuweisen. Diese Wirkung reicht nicht so weit, daß ein einzelner aus einem oder mehreren Erwägungsgründen Rechte ableiten kann. Um Rechte einzelner zu begründen, bedarf es einer Bestimmung im verfügenden Teil der Richtlinie, die noch dazu die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung erfüllen muß.“ 90
37
Rechte müssen stets aus dem normativen Teil eines Rechtsakts abgeleitet werden. Eine Regelungsabsicht, die dort keinen Anhalt findet, kann man nicht berücksichtigten. Das hat zum Beispiel (gleichsam umgekehrt) für die Auslegung der AGB-Richtlinie Bedeutung. In deren normativen Teil sind keine Bereichsausnahmen für Arbeitsverträge und Verträge auf den Gebieten des Erb-, Familien- und Gesellschaftsrechts vorgesehen. Diese Bereichsausnahmen lassen sich nun nicht etwa unter bloßem Hinweis auf die – freilich ausdrückliche und ganz unzweideutige – Aussage in Begründungserwägung 10 S. 3 begründen, wonach diese Verträge ausgenommen sein sollten. Sie ist aber den Vorschriften von Art. 2 lit. b und c AGBRL zu entnehmen, da nach dem aus BE 10 S. 3 AGBRL erkennbaren Gesetzgeberwillen die ausgenommenen Verträge nicht als Verbraucherverträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern anzusehen sind.91
d)
38
Bezugspunkt historischer Auslegung könnte auch die Herkunft einer Regel aus dem Recht eines Mitgliedstaates sein (Bsp.: Vorbild des deutschen Rechts für die Handelsvertreter-Richtlinie oder die Massenentlassungsrichtlinie). Die Auslegung des „Vorbildrechts“ ist jedoch nicht autoritativ, soweit die oben (I, Rn. 4–8) erörterte Autonomie des Gemeinschaftsrechts reicht.92 Sie kann allenfalls Anhaltspunkte für eine mögliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben. e)
39
Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“
Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten
Umgekehrt kann bei einer Rechtsordnung, deren Zweck regelmäßig gerade in der Rechtsangleichung oder -vereinheitlichung besteht, die vorbestehende Regelungssituation in den Mitgliedstaaten für die Auslegung eine Rolle spielen. Das kommt im
89 Näher Köndgen, oben § 7 Rn. 39–43. Zu den Präambeln von EU-Vertrag und EG-Vertrag nur Streinz-Streinz, Präambel EUV Rn. 12–14, Präambel EGV Rn. 10–14. 90 GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02, Paul ./. Deutschland, Slg. 2004, I-9425 Rn. 132. 91 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 20. 92 Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, S. 236; Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; Lutter, JZ 1992, 593, 603; teils a.A. Daig, FS Zweigert (1981), 395, 409f. („implizite Verweisung“).
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§ 11 Die Auslegung
Rahmen der historischen Auslegung i.e.S. (im Gegensatz zur genetischen Auslegung) in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf einen spezifischen Mißstand reagiert hat oder von einer spezifischen Regelungssituation in den Mitgliedstaaten ausgegangen ist. Im Fall Siemens ./. Nold ging es u.a. um die Frage, ob Art. 29 Abs. 1 Kapitalrichtlinie (KapRL), der ein Bezugsrecht bei der Barkapitalerhöhung vorsieht, umgekehrt bedeutet, daß ein Bezugsrecht bei der Sachkaptialerhöhung auszuschließen sei. Der EuGH verneint das: Da ein Bezugsrecht für den „komplexen Sachverhalt“ der Sachkapitalerhöhung in den meisten Mitgliedstaaten unbekannt sei, habe der Gesetzgeber den Mitgliedstaaten freistellen wollen, auch für diesen Fall ein Bezugsrecht vorzusehen.93
4.
Die teleologische Auslegung
a)
Regelungszweck und Angleichungszweck
Weil Rechtsregeln dazu dienen, die Lebensverhältnisse in der Zukunft zu gestalten, kommt ihrem Regelungszweck für die Auslegung eine entscheidende Bedeutung zu.94 Zu ermitteln ist primär der historische Gesetzeszweck (oben, Rn. 12).95 Für ihn liefern im Europäischen Privatrecht vor allem die Begründungserwägungen Anhaltspunkte (Rn. 33).96 Zudem kann auch die vom Gesetzgeber gewählte Kompetenzgrundlage Aufschluß über das verfolgte Ziel geben.
40
Soweit es um den inhaltlichen Regelungszweck geht, darf man sich freilich nicht mit allgemeinen Zweckrichtungen begnügen, etwa „dem Verbraucherschutz“ oder „dem Arbeitnehmerschutz“ oder „dem Urheberschutz“. Diese generellen Schutzrichtungen sind für die teleologische Auslegung schon deswegen ungeeignet, weil sie völlig unspezifisch sind, so daß sie in vielen Fällen nicht einmal eine Richtung weisen: Dient es dem Verbraucherschutz, wenn man dem Fernabsatzerwerber oder dem Pauschalreisenden mehr Informationen gibt oder entsteht so nicht eine Informations-Überforderung? 97 Die erforderliche Bewertung von – z.B. – Verbraucher- und Unternehmerinteressen hat der Gesetzgeber im Europäischen Privatrecht regelmäßig differenziert vorgenommen.98 Für die teleologische Auslegung sind daher die spezifischen Zwecke
41
93 EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 18. 94 S. z.B. EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Honyvem, (noch nicht in Slg.) Rn. 17–22, 26. 95 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 159. 96 Z.B. EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 42; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-60 Rn. 13; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 12; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569 579 f. 97 S. nur Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, S. 518–530. 98 A.M. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 461–465 („Eindimensionalität“); auch die von ihm angedeutete Lösung, bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts das nationale Privatrecht mitzuberücksichtigen, ist bei einem autonomen Europäischen Privatrecht (oben Rn. 4–8) methodisch nicht tragfähig. Richtig ist allerdings, daß man bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts seinen fragmentarischen Charakter berücksichtigen muß; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 891. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
einzelner Regelungen herauszuarbeiten, z.B. der Zweck der Widerrufsrechte, die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Geschützten zu wahren.
42
Neben den inhaltlichen Regelungszwecken sind für die Auslegung subsidiär die formalen Regelungszwecke jeder Privatrechtsangleichung in der Europäischen Gemeinschaft zu berücksichtigen, nämlich die Rechtsvereinheitlichung,99 besonders die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen,100 und ihre Funktion zur Herstellung eines Binnenmarktes101. Insofern trifft zu, daß im Falle von Konflikten zwischen mehreren Regelungszwecken im Zweifel der integrationsfreundlichen Auslegung der Vorzug zu geben ist.102 Vermittelt über diesen allgemeinen Zweck der Privatrechtsangleichung kommt man so zu einer Auslegung privatrechtlicher Vorschriften nach den Zwecken des EG-Vertrags.103 Kann der historische Gesetzeszweck nicht sicher ermittelt werden, so ist der Zweck festzustellen, dem die Regelung nach objektiven Anhaltspunkten dient. Hier ist zur Zweckermittlung neben dem Wortlaut vor allem der äußere und innere Zusammenhang zu anderen Vorschriften festzustellen. Im Fall Haaga hatte der EuGH zu entscheiden, ob nach Art. 2 Abs. 1, 3 PublizitätsRichtlinie die Alleinvertretungsbefugnis des einzigen GmbH-Geschäftsführers in Deutschland im Handelsregister zu veröffentlichen ist, obwohl sie sich schon aus dem Gesetz ergibt. Der EuGH bejaht diese Frage vor allem deshalb, weil die gesetzliche Vertretungsbefugnis zwar in Deutschland bekannt sein mag, nicht aber interessierten Dritten anderer Mitgliedstaaten. Zweck der Publizitätsvorschrift sei aber gerade, Rechtssicherheit für interessierte Dritte aus anderen Mitgliedstaaten im gemeinsamen Markt herzustellen (Begründungserwägung 1 der Richtlinie und Art. 44 Abs. 2 lit. g EG).104
b)
43
Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts
Eine Besonderheit des Europäischen Privatrechts ist, daß es ein „Recht im Werden“ ist. Diese „Dynamik“ – der „Entwicklungsstand“ des Gemeinschaftsrechts – ist auch bei der Auslegung zu berücksichtigen.105 Auch insoweit ist allerdings zunächst vom Wortlaut der Regelung auszugehen. Soweit der Europäische Gesetzgeber bei einer späteren Ergänzung des Europäischen Privatrechts von der Möglichkeit keinen Gebrauch macht, die bestehenden Regeln zu ändern, ist das ein Anzeichen dafür, daß ihr Regelungsgehalt unverändert bleiben soll. Gerade eine am inneren System orientierte Auslegung kann aber dabei nicht stehenbleiben. Denn weil und soweit bei der
99 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6 (Rechtssicherheit und Rechtsklarheit als Angleichungszweck); Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 241f.; 258, 276 f.; Canaris, JZ 1987, 543, 549. 100 EuGH v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Rn. 21. 101 EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Clinique, Slg. 1994, I-317 Rn. 12 f. 102 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 580. 103 Aufgrund dieser bloß mittelbaren Wirkung haben die Vertragsziele daher nur geringere Bedeutung bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 457. 104 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; GA Mayras, ebd. S. 1214 f. 105 EuGH vom 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20: „[J]ede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [ist] … im Lichte … des Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“.
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§ 11 Die Auslegung
Auslegung einzelner Vorschriften auch die der Rechtsordnung als Ganzer zugrundeliegenden Prinzipien und ihr Ausgleich zu berücksichtigen sind, kann eine Neuregelung auch ohne Änderung des Textes der bestehenden Regelungen Einfluß auf deren Auslegung haben.106 Erscheint zum Beispiel eine Regelung zunächst als vielleicht systemfremde Ausnahme, so kann die Hinzufügung weiterer entsprechender Regelungen ergeben, daß der zugrunde liegende Regelungsgedanke damit vom Gesetzgeber zu einem allgemeinen gültigen Prinzip erhoben wird.107 Soweit der Wortlaut der Regelung das zuläßt, kann daher aufgrund nachträglicher Entwicklungen auch bei unverändertem Wortlaut eine andere Auslegung geboten sein. In der Rechtsprechung zum noch verhältnismäßig jungen Europäischen Privatrecht zeigen sich bislang, soweit ersichtlich, keine Beispiele für die Berücksichtigung dieser Dynamik bei der Auslegung. Anlaß für die Berücksichtigung von Systemveränderungen könnte sich aber z.B. ergeben, wenn die Verbraucherkredit-Richtlinie dahin ergänzt wird, daß unter ihren Schutz auch Existenzgründungsdarlehen fallen: Dann könnte im Interesse der Wertungseinheit auch die Entscheidung des EuGH im Fall Di Pinto zu überdenken sein, wonach ein Unternehmer auch dann nicht den Schutz der HaustürwiderrufsRichtlinie genießt, wenn er sein Unternehmen verkauft.108 Auch in dem (freilich primärrechtlichen) Fall El Corte Inglés ging es um Systemwandlungen. Allerdings verneinte der Gerichtshof die Frage, ob nicht aufgrund der Einführung von Art. 129 EGV (jetzt Art. 153 EG) verbraucherschützenden Richtlinien entgegen früherer Rechtsprechung unmittelbare Privatrechtswirkung beizulegen sei.109 Selbstverständlich kann allerdings eine Änderung des Regelungsbestandes keine Auslegung (oder Rechtsfortbildung) gegen den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen. Zu Recht hat daher der EuGH in der Rechtssache Schulte eine richterliche Ergänzung der Haustürgeschäfterichtlinie (HtWRL)110 um eine Regelung über verbunden Geschäfte abgelehnt: Während andere Richtlinien der Gemeinschaft, die die Interessen der Verbraucher schützen sollen, u.a. die Richtlinie 87/102, Vorschriften über verbundene Verträge enthalten, enthält die vorliegende Richtlinie (sc. die HtWRL) keine solche Vorschrift und bietet auch keine Grundlage für die Annahme, daß es stillschweigend derartige Vorschriften gibt.“111
c)
Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung
Besonders im Recht gegen den unlauteren Wettbewerb und in der Grundfreiheitenrechtsprechung wird in Entscheidungen öfter auf ein Verbraucherleitbild bezug genommen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht wird. Der Verbraucher wird verstanden als ein „durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher“.112 Daneben können auch andere Leitbilder eine Rolle Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 63 f., 67–72. Vgl. Zöllner, WM 2000, 1, 3 f. EuGH v. 14.3.1991 – Rs. C-361/89 Di Pinto, Slg. 1991, I-1189 Rn. 14–19. EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281 Rn. 15–21. Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 111 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 76. 112 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder ./. Lancaster, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; EuGH v. 12.3.1987 – 106 107 108 109 110
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44
2. Teil: Allgemeiner Teil
spielen, beispielsweise ein Unternehmerleitbild. Bei diesen Leitbildern handelt es sich um Kurzformeln, die die Rechtsanwendung erleichtern sollen, so wie sie in ähnlicher Weise auch im nationalen Recht verwendet werden, z.B. zur Konkretisierung eines Sorgfaltsmaßstabs. Die Leitbilder liegen auf einer mittleren Ebene zwischen Prinzipien und Regel (bzw. Tatbestandselement). Ihre Attraktivität für den Rechtsanwender rührt besonders daher, daß sie nicht „reine“ Prinzipien ausdrücken (z.B. Vertragsfreiheit oder Selbstverantwortung), sondern schon einen Prinzipienausgleich enthalten oder doch darauf hinweisen.
45
Auf diese Weise können Leitbilder eine zentrale Rolle bei der Auslegung spielen – und bedürfen daher der Rechtfertigung.113 Tatsächlich ist die Gefahr groß, daß der Rechtsanwender hier schlichtweg seine eigenen rechtspolitischen Vorstellungen in ein Leitbild projiziert. Daher muß etwa ein Verbraucherleitbild aus dem positiven Recht begründet werden.114 Der Grad der Selbstverantwortung kann nicht nach dem subjektiven Empfinden des einzelnen bestimmt werden, sondern muß aus dem Gesetz hergeleitet sein. Dabei ist zudem zu beachten, daß ein solches Leitbild für verschiedene Rechtsgebiete unterschiedlich ausfallen kann, – ganz entsprechend dem unterschiedlichen Gewicht, das einzelnen Prinzipien für einzelne Rechtsbereiche zukommt. Das Prinzip der Selbstverantwortung hat im Vertragsrecht anderes Gewicht als im Produkthaftungsrecht und dementsprechend müssen auch die aus dem Verbraucherleitbild abgeleiteten Verhaltensanforderungen unterschiedlich ausfallen.
46
Im Ergebnis bedeutet das, daß ein Leitbild als Kurzformel für die dahinterstehenden Prinzipien ein nützliches Hilfsmittel für die teleologische Interpretation sein kann. Aus dem Leitbild kann man indes nicht mehr herausholen, als man vorher hineingelegt hat. Aus einem Leitbild allein kann man Lösungen sowenig ableiten wie aus einem Begriff.
IV. 47
Rangfolge der Auslegungskriterien
Soll das Ergebnis der Auslegung nicht beliebig sein, so ist zu überlegen, in welchem Verhältnis die Auslegungskriterien stehen und ob einem Aspekt oder verschiedenen der Vorzug gebührt.115 Dabei geht es nicht nur um eine Reihenfolge des Vorgehens bei der Auslegung,116 sondern um eine Rangfolge für die Fälle, daß unterschiedliche
115 116
Rs. 178/84, Kommission ./. Deutschland, Slg. 1987, 1227 Rn. 31–36 (Reinheitsgebot); EuGH v. 7.3.1990 – Rs. C-362/88, GB-INNO, Slg. 1990, I-683 Rn. 13–19; EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93, Verein gegen Unwesen ./. Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 24; Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236–1241. Howells, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 118. Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 427; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 214 f. Zu pauschal daher Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 87, die ihr Verbraucherleitbild nicht näher begründet. A.M. Millett, Statute Law Review 1989, 163, 173; auch Zuleeg, EuR 1969, 97 99. Vornehmlich dazu verhält sich Kramer, Methodenlehre, S. 127–129.
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113 114
§ 11 Die Auslegung
Kriterien für unterschiedliche Ergebnisse sprechen.117 Zu diesem Thema – das mit den zuvor erörterten Fragestellungen des Ziels der Auslegung und der einzelnen Auslegungskriterien eng zusammenhängt – können hier nur einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden.118 Nicht mehr als eine pragmatische Faustregel ist die acte clair Theorie,119 nach der dem klaren Wortlaut Vorrang vor anderen Auslegungskriterien zukommen soll. Für das Europäische Privatrecht ist dieser Theorie indes nicht zu folgen (s. schon oben, Rn. 16): Einen völlig unzweideutigen Gesetzeswortlaut findet man bei der bestehenden Sprachenvielfalt praktisch nie und die Frage der Eindeutigkeit ist schon ein Auslegungsergebnis. Daher ist der Wortlaut allein nie ausreichend. Auch die Subsidiaritätsthese Bydlinskis gibt nur eine erste Handhabe: Von einem einfachen Auslegungskriterium (Wortlaut und Systematik) müsse der Rechtsanwender dann nicht zu einem schwierigeren (Geschichte) übergehen, wenn schon das einfachere zu einem auch teleologisch überzeugenden Ergebnis führt.120 Richtigerweise geht diese Regel indes über die acte clair-Theorie hinaus, da sie eine teleologische Absicherung verlangt.
48
Eine erste, weitgehend unumstrittene Vorrangregel folgt aus der Normenhierarchie, nämlich der Vorrang der primärrechtskonformen Auslegung.121 Von mehreren nach dem erkennbaren Gesetzgeberwillen möglichen Auslegungen gebührt derjenigen der Vorrang, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Diese Regel formuliert also keinen Vorrang einzelner Auslegungskriterien, sie kann nur einzelne der möglichen Auslegungsergebnisse ausschließen. Da das Primärrecht (bzw. Verfassungsrecht) nur die äußersten Grenzen setzt, folgt aus dieser Vorrangregel zumeist freilich keine definitive Entscheidung einer Auslegungsfrage.122
49
Zweitens entspricht es der auf dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip fundierten, im Grundsatz zu befolgenden subjektiven Theorie (Rn. 12), dem aus dem Gesetzeswortlaut erkennbaren subjektiven Willen des Gesetzgebers Vorrang zukom-
50
117 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, beschränken den Konfliktbegriff auf Fälle des „frontalen Gegensatzes“, der nicht vorliegt, wenn mehrere Auslegungskriterien (Konkretisierungselementen) neben einem gemeinsamen Schnittbereich der möglichen Auslegungsergebnisse noch andere, nicht gemeinsam begründbare Ergebnisse zulassen. Auch wenn ein Element unergiebig ist, liegt kein Konflikt vor. 118 Zum Diskussionsstand in der deutschsprachigen Methodenlehre Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 553–571; Canaris, FS Medicus, 25–61; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 205–224; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 192–197; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 433– 448; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 111–131; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Bd. 1, S. 390–393, 400–427. 119 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 79/77 Kühlhaus Zentrum, Slg. 1978, 611 Rn. 6. 120 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 556–558, 559; Canaris, FS Medicus, S. 34. Wohl einschränkend Kramer, Methodenlehre, S. 129. 121 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. Vgl. Leible/Domröse, oben § 9 Rn. 50 f. Wegen der Besonderheit des normhierarchischen Rangs unterscheiden Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, diesen Fall von den methodologischen Konflikten. 122 Weitergehend Leible/Domröse, oben § 9 Rn. 42–49.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
men zu lassen.123 Der aus dem Gesetz zumindest irgendwie erkennbare Wille des Gesetzgebers hat daher auch Vorrang vor objektiv-teleologischen oder teleologischsystematischen Erwägungen.124 Soweit es bei der systematischen Auslegung (auch) darum geht, den Forderungen nach Einheit und Folgerichtigkeit des Gesetzes zu genügen, kann sich diese Auslegung oft genug schon auf einen wahren oder zu vermutenden Gesetzgeberwillen berufen. Wenn indes ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, so geht dieser den Systemgeboten (bis zur Grenze der Willkür) vor.
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Die wohl bekannteste Vorrangregel ist – drittens –, daß der Zweck einer Regelung ihrem Wortlaut vorgeht.125 Sie ist darin begründet, daß gesetzliche Regelungen der Erfüllung von Zwecken dienen. Soll die Auslegung nicht zu einer „öden Buchstabenjurisprudenz“ 126 verkümmern, so versteht sich, daß der Rechtsanwender sich nicht mit den äußeren Anzeichen – Wortlaut und äußere Systematik – für den Bedeutungsgehalt begnügen kann, sondern versuchen muß, den Regelungszweck zu ermitteln und, soweit das im Rahmen der Auslegung und der zulässigen Rechtsfortbildung möglich ist, zu verwirklichen.
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Mit diesen Vorrangregeln sind indes nur die wichtigsten Fälle der möglichen Kollisionen von Auslegungsergebnissen durch Vorrangregeln gelöst. Die Auslegung ist nicht durch ein vollständiges System von Kollisionsregeln determiniert. In weiten Teilen kann die Auslegungslehre nur dazu dienen, die möglichen Auslegungsargumente aufzuzeigen und allgemeine Regeln aufzustellen, die für die Gewichtung der einzelnen Argumente im Einzelfall von Bedeutung sein können. Eine erschöpfende Aufzählung aller möglichen Gewichtungsregeln erscheint dabei allerdings nicht möglich, vielmehr zeichnet sich ab, daß die Auslegungsargumente außerhalb der Reichweite fester Vorrangregeln gemäß der Methode des beweglichen Systems je nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind.127
123 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 249 f. (Anm. 106b); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 112–114. 124 Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 122 f.; Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 132; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 9. 125 Siehe nur EuGH v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 Bayerische Hypotheken und Wechselbank ./. Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 19; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35 f.; s.a. Art. 1:106 Principles of European Contract Law und dazu Lando/ Beale, Principles of European Contract Law, S. 108 f.; Canaris, FS Medicus, S. 50–52; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 221 f.; Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 276. 126 Canaris, FS Medicus (1999), S. 34. 127 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 555 f.; Canaris, FS Medicus, S. 58 f.; Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung, S. 53.
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Karl Riesenhuber
§ 11 Die Auslegung
V.
Einzelne Auslegungsregeln
Zum Schluß sind zwei Auslegungsregeln zu erörtern, die (insbesondere) im Europäischen Privatrecht jetzt öfter erwähnt werden. Für das Verbraucher(vertrags)recht soll es nach Auffassung mancher eine Zweifelsregel in dubio pro consumente geben (1). Und ganz allgemein findet sich vor allem in der Rechtsprechung des EuGH die Regel, Ausnahmen seien „eng“ auszulegen (2). 1.
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„In dubio pro consumente“?128
Von manchen Autoren wird angenommen, verbraucher(privat)rechtliche Vorschriften seien „im Zweifel zugunsten des Verbrauchers“ auszulegen.129 Gleichsam verstärkend wird der Grundsatz lateinisch formuliert: in dubio pro consumente.130 Die primärrechtliche Begründung für den Auslegungsgrundsatz wird in der von Art. 95 Abs. 3 EG geforderten „Orientierung am hohen Schutzniveau“ gesehen,131 das von den Vertretern auch als „Zielvorgabe“ verstanden wird, die durch die Auslegungsmaxime zur Geltung gebracht werde.132 Die EuGH-Entscheidungen, aus denen der Grundsatz abgeleitet wird,133 sprechen ihn freilich nicht aus und sind mit herkömmlichen methodischen Mitteln begründet.
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In die Richtung einer solchen Zweifelsregel hatte allerdings GA Tizzano gewiesen:
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„Sodann weise ich speziell darauf hin, daß sich die Auslegung der Richtlinie an dem allgemeinen Kriterium auszurichten hat, wonach ihre Bestimmungen im Zweifelsfall am günstigsten für denjenigen auszulegen sind, der durch sie geschützt werden soll, also für den Verbraucher touristischer Dienstleistungen. Dies ergibt sich nicht nur aus der systematischen Analyse von Wortlaut und Zielsetzung der Richtlinie, sondern auch aus dem erwähnten Umstand, daß sie nach Artikel 100a [sc. Art. 95 EG] erlassen wurde, nach dessen Absatz 3 bei Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich des Verbraucherschutzes von einem hohen Schutzniveau auszugehen ist.“ 134
Eine solche Auslegungsregel ist aus mehreren Gründen abzulehnen. Sie ist von ihren Verfechtern schon nicht tragfähig begründet, wegen ihrer Unbestimmtheit 128 Dazu jetzt eingehend Riesenhuber, JZ 2005, 829–835; zust. Palandt-Heinrichs, BGB (65. Aufl. 2006), Einleitung Rn. 50a. 129 Tonner, EuZW 2002, 403 f.; Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht, S. 6 f. Offengelassen jetzt von EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 59–61. 130 Da das römische Recht einen Verbraucherschutz im modernen Sinne so wenig kannte wie das gemeine Recht, muß freilich die Suche nach einem treffenden lateinischen Begriff fruchtlos bleiben. In der Sache kann auch die lateinische Fassung dem Auslegungsgrundsatz keine größere Dignität verschaffen. Zur sprachlichen Fassung treffend Ademeit, JZ 2006, 557. 131 GA Tizzano, Schlußanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26. Andeutungsweise Tonner, EuZW 2002, 403 f. 132 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 7. 133 EuGH v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 Club-Tour, Slg. 2002, I-4051; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499. 134 GA Tizzano, Schlußanträge v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26; ders., Schlußanträge v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 21; GA Saggio, Schlußanträge v. 25.6.1998 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Tz. 17. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
unausführbar und zudem wegen ihrer Einseitigkeit mit einem differenzierten (Verbraucher-) Privatrecht unvereinbar.
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Sofern überhaupt eine Begründung für die Zweifelsregel gegeben wird, besteht sie allein in dem Hinweis auf Art. 95 EG. Aus welchen weiteren primär- und sekundärrechtlichen Regeln sich der Grundsatz „induzieren“ lassen soll, ist nicht klar. Art. 95 Abs. 3 EG bindet aber keineswegs die Gesetzgebung insgesamt, sondern schreibt nur vor, daß sie u.a. im Bereich Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau ausgehen soll. Das heißt indes nicht, daß dieses hohe Schutzniveau zwangsläufig auch im letztlich verabschiedeten Rechtsakt durchgesetzt sein müßte. Da zudem die Rechtsangleichung nach Art. 95 EG einen spezifischen Binnenmarktzweck verfolgen muß, kann der Verbraucherschutz in aller Regel nicht der einzige Zweck eines Angleichungsrechtsakts sein. Die Mindeststandardklauseln, die in den Verbraucherschutzrichtlinien oft enthalten sind, bestätigen das, liegt ihnen doch gerade die Annahme zugrunde, daß es noch Raum für einen weiteren Verbraucherschutz geben könnte.
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Hinzu kommt, daß „Verbraucherschutz“ viel zu vage ist, um eine Zweifelsregel sinnvoll zu unterfüttern (s.o. Rn. 41).135 Soll etwa im Zweifel die Auslegung regieren, die den im konkreten Fall betroffenen Verbraucher am besten schützt; das mag z.B. für eine Kollektivierung von Kosten in Form einer faktischen Zwangsversicherung sprechen. Oder soll es um den Schutz der Verbraucher als Gruppe gehen; dann mag eine individuelle Kostentragung vorzugswürdig sein. Diese Unbestimmtheit illustrieren bezeichnenderweise gerade die Fälle, die den Verfechtern Anlaß für den Grundsatz erschienen. Dort ging es nämlich ausgerechnet um die Auslegung der Pauschalreiserichtlinie, die nun gerade nicht den Verbraucher schützt, sondern jeden (Pauschal-) Reisenden, auch den Geschäftsmann, der etwa Tagung und Unterkunft gebucht hat.136 Ein Beispiel für die Schwierigkeit zu bestimmen, was pro consumente wirkt, sind die bereits erwähnten (oben Rn. 41) Informationspflichten.137 Ist es im Interesse des Verbrauchers, im Zweifel möglichst umfassend zu informieren oder müssen Informationsgegenstände wegen der beschränkten Informationsverarbeitungskapazität oder einer gewünschten Standardisierung (Herstellung der Markttransparenz) enumerativ beschränkt bleiben?
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Endlich würde aber eine einseitige Zweifelsregel zugunsten von Verbrauchern die Preisgabe einer differenzierten Rechtsetzung und Dogmatik bedeuten. Wenn das Verbraucherschutzrecht – wie wohl unbestritten der Fall – einen Ausgleich von Unternehmer- und Verbraucherinteressen darstellt, dann verträgt sich damit eine einseitige Begünstigung des Verbrauchers nicht wohl. Tatsächlich käme man auch nicht auf
135 Gegen die Anerkennung von Verbraucherschutz als Rechtsprinzip (auch) aus diesem Grunde Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 933 f. 136 Die Regelung ist daher nur formal dem Verbraucherschutzrecht zuzuordnen; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 185. 137 Auslegungszweifel kann es z.B. bei Art. 4 Abs. 2 PRRL geben; dazu Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 4.01 Rn. 18 einerseits und Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 485 andererseits.
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§ 11 Die Auslegung
den Gedanken, das Urheberrecht „im Zweifel für den Urheber“ auszulegen, das Arbeitsrecht „im Zweifel für den Arbeitnehmer“. In der Rechtsprechung ist ein Auslegungsgrundsatz „pro consumente“ soweit ersichtlich auch nicht tragend geworden.138 Im Fall Club Tour ging es um die Frage, ob der Begriff der Pauschalreise in Art. 2 Nr. 1 Pauschalreiserichtlinie (PRRL) auch die von einem Reisebüro auf Wunsch und gemäß den Vorgaben eines Verbrauchers organisierte Reise umfaßt. Der EuGH hat das bejaht und sich zur Begründung auf den Wortlaut und die Systematik der Richtlinie berufen. Art. 2 Nr. 1 PRRL ist unpersönlich formuliert und stellt nicht darauf ab, wer die Reiseleistungen gewünscht oder vorgegeben hat. Und nach Art. 4 Abs. 2 lit. a iVm Anhang lit. j PRRL gehören zu den in den Vertrag aufzunehmenden Angaben insbesondere auch „alle Sonderwünsche, die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und die beide Parteien akzeptiert haben“. Das läßt sich um die teleologische Erwägung, daß die Leistung des Reisebüros auch in diesem Fall in der Zusammenstellung geeigneter Bestandteile liegt. Einen Grundsatz in dubio pro consumente brauchte das Gericht nicht zu bemühen. Ein anderes Beispiel – das ebenfalls die Pauschalreiserichtlinie betrifft – zeigt, daß der Grundsatz eine differenzierte Rechtsetzung stören würde. Es ist umstritten, ob die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Leistungsstörungsregeln die Anzeigeobliegenheit des Verbrauchers (Art. 5 Abs. 4 PRRL) unter Berufung auf die Mindeststandardklausel des Art. 8 PRRL entfallen lassen können.139 Wer den bestehenden Zweifel pro consumente überwindet, bejaht die Frage ohne weiteres. Dagegen spricht indes sowohl der Wortlaut der Mindeststandardklausel, da der Wegfall einer Obliegenheit sprachlich keine „strengere Vorschrift zum Schutze des Verbrauchers“ ist. Vor allem aber würde auf diese Weise das von der Richtlinie konzipierte differenzierte Leistungsstörungsregime aus dem Gleichgewicht gebracht, so daß der Zweck der Regelung dagegen spricht.
Ein Auslegungsgrundsatz „im Zweifel für den Verbraucher“ ist daher nicht anzuerkennen. Nicht ausgeschlossen ist damit indes selbstverständlich, den Verbraucherschutzzweck einer Regelung bei der teleologischen Auslegung mitzuberücksichtigen. Dann freilich ist dieser Zweck in der vom Gesetzgeber konkretisierten Form zugrundezulegen, nämlich in seiner konkreten Ausformung (z.B. Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung) und unter Berücksichtigung etwaiger vom Gesetzgeber beachteter gegenläufiger Interessen. 2.
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Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen?
Eine aus dem nationalen Recht bekannte und alte Frage ist, ob Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen sind. So klar (jedenfalls) die deutschsprachige Literatur die pauschale Frage verneint,140 so persistent ist die bejahende Antwort in der Rechtsprechung des EuGH:141 singularia non sunt extendenda.142 Z.B. sagt er in der Entscheidung Heininger: 138 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 59–61. 139 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 795. 140 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 440; Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 66. S.a. Neuner, unten § 13 Rn. 37. 141 S. nur EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; EuGH v. 5.10. 2004 – verb.Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 67; EuGH v. 23.3.2006 – Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil „Dazu ist erstens festzustellen, daß Ausnahmen von gemeinschaftsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften nach ständiger Rechtsprechung eng auszulegen sind.“ 143
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Vor dem Bemühen des Gerichts, der Integration effektive Geltung zu verschaffen, ist diese Haltung verständlich.144 Dahinter dürfte die Annahme stehen, Ausnahmevorschriften seien Ausdruck dafür, daß das eigentliche Angleichungsziel schon im Gesetzgebungsverfahren durch Kompromisse eingeschränkt wurde. Um die Rechtsangleichung so weit wie möglich durchzusetzen, müßten die Ausnahmen daher möglichst beschränkt werden. Soweit freilich diese Überlegungen hinter der engen Auslegung von Ausnahmevorschriften stehen, geht es in Wahrheit gar nicht um den „Ausnahmecharakter“ der Vorschrift, sondern um ihre mangelnde teleologische Begründung. Die Vorschrift wird demnach nicht als Ausnahme eng ausgelegt, sondern als teleologische Verfehlung. Damit ist die richtige Richtung gewiesen: Auch Ausnahmevorschriften sind nach den herkömmlichen Methoden auszulegen. Dabei kann die Tatsache, daß es sich um eine Ausnahme von einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse oder von einer grundlegenden Regel handelt, für die (systematisch-) teleologische Bedeutung von entscheidendem Gewicht sein.145
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Will man die letztgenannte Erwägung berücksichtigen, daß eine Vorschrift von einem Grundsatz abweicht, so muß man freilich zuerst begründen, daß dies der Fall ist. Ob maW eine Regelung nicht nur formal, sondern auch in der Sache eine Ausnahme darstellt, ist zuerst im Wege der Auslegung zu beantworten.146 Nicht alles, was negativ formuliert ist, ist in der Sache eine Ausnahme. Vielmehr kann es sich um eine ergänzende Regelung handeln, durch die die Hauptregel erst ihren eigentlichen Sinn erhält. Zum Beispiel kann man streiten, ob der Gewährleistungsausschluß wegen anfänglicher Mangelkenntnis in Art. 2 Abs. 3 der Kaufgewährleistungsrichtlinie (KGRL) eine „Ausnahmevorschrift“ darstellt. Nach der Kommissionsbegründung dürfte das ungeachtet der negativen Formulierung („es liegt keine Vertragswidrigkeit vor, wenn …“) zu verneinen sein: „streng genommen“ liege „keine Vertragswidrigkeit vor, weil der Verbraucher die Sache in dem Zustand, in dem sie sich befindet, angenommen hat und die Sache damit sehr wohl vertragsgemäß ist“.147 In der Tat wird mit der Regelung ungeachtet ihrer
145 146 147
Rs. C-465/04 Hoyvem, (noch nicht in Slg.) Rn. 24; Colneric, ZEuP 2005, 225, 228. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH bei Schilling, EuR 1996, 44–57 (nur im Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung [„im Ganzen“] zustimmend, in der Sache aber differenzierte Begründungen fordernd); s.a. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 449 f., 456 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, S. 371–373. Zur Herkunft des Grundsatzes Knütel, JuS 1996, 768, 772. EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 31 (Nachweise weggelassen). Ferner etwa EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15. S.a. Schilling, EuR 1996, 44, 46 f. mit dem Hinweis, daß generell ein fundamentales Rechtsgut oder ein allgemeines Prinzip die enge Auslegung von Ausnahmen gebieten können. Das ist eine Form der prinzipiell-systematischen Auslegung, die auch sonst (nicht nur in Bezug auf Ausnahmen) Platz greifen kann; s. z.B. EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3–4. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 449 f. Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370. KOM(95) 520 endg, Begründung zu Art. 3 Abs. 1.
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§ 11 Die Auslegung technischen Gestaltung als Ausnahme, einem fundamentalen Grundsatz Rechnung getragen, nämlich dem Verbot des venire contra factum proprium.148 Die formal-technische Ausgestaltung als Ausnahme gebietet daher keineswegs eine „enge Auslegung“. Ebenso liegen die Dinge bei Art. 7 Produkthaftungsrichtlinie (PHRL), wonach sich der Hersteller von der Produkthaftung befreien kann, wenn er beweist, daß er das Produkt nicht in Verkehr gebracht hat. Die Vorschrift ist Ausdruck des Veranlasserprinzips, das der Produkthaftung nach der Richtlinie zugrunde liegt. Sie drückt den Grundsatz selbst aus und schränkt ihn nicht ein. Die negative Formulierung beruht nur auf der Beweislastverteilung. Für die vom EuGH zu beurteilende Frage, ob auch die krankenhausinterne Anwendung einer Spüllösung auf eine zu transplantierende Niere „Inverkehrbringen“ iSd Vorschrift darstellt, war schon aus teleologischen Gründen zu bejahen, einer „engen Auslegung“ der „Ausnahmevorschrift“ bedurfte es daher nicht.149
Gelegentlich stellt eine Vorschrift sowohl technisch, als auch im Hinblick auf den Hauptzweck einer Regelung eine Ausnahme dar, trägt sie aber ihrerseits einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse Rechnung. Auch dann kommt eine „enge“ Auslegung nicht in Betracht.
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Ein Beispiel ist die Beschränkung der Diskriminierungsverbote in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2004/113 auf „Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen“, Art. 3 Abs. 1. Diese Beschränkung ist technisch nicht als Ausnahme formuliert, doch könnte man sie so verstehen. Indes wird darauf hingewiesen, daß Diskriminierungsverbote selbst Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Privatautonomie sind, die Beschränkung also eine Bestätigung bzw. Erhaltung der Regel darstellt, keine Ausnahme.150 In der Tat weisen die Begründungserwägungen darauf hin, daß mit der „Ausnahme“ insbesondere zwei verfassungsrechtlich geschützte Rechte gewährleistet werden sollen, die Privatsphäre und die Vereinsfreiheit.151 Eine „enge“ Auslegung wäre daher zweckwidrig.
Aber auch wenn eine „echte“ Ausnahme vorliegt, ist diese nicht notwendig „eng“ auszulegen. Vielmehr muß es hier – wie allgemein – auf die Absicht des Gesetzgebers und die von ihm verfolgten Zwecke ankommen. Denn nicht jede Ausnahme ist mit dem eigentlichen Regelungsanliegen unvereinbar, manche wird von ihm sogar gefordert. Zum Beispiel mag man an die Ausnahmebereiche der Kaufgewährrichtlinie denken. Der Gesetzgeber hat u.a. Kaufverträge über Strom von der – den Anwendungsbereich mitbestimmenden – Definition „Verbrauchsgüter“ ausgenommen. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß insoweit besondere Vorschriften des Energierechts Anwendung finden können, vor allem aber die Gewährleistung in diesen Fällen keine erhebliche Bedeutung hat.152 Die Ausnahme stellt also den Regelungszweck in keiner Weise in Frage, im Gegenteil, sie bestätigt ihn. Gründe für eine „enge“ Auslegung sind von vornherein nicht ersichtlich.
148 Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 739–743. 149 Nur i.E. zutreffend daher EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15–18. 150 Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 78. 151 Riesenhuber/Franck, EWS 2005, 245 f. 152 Vgl. für die Entsprechenden Erwägungen bei Art. 2 lit. f CISG Staudinger-Magnus, Art. 2 CISG Rn. 50. Karl Riesenhuber
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2. Teil: Allgemeiner Teil
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Der Obersatz, Ausnahmen seien eng auszulegen, wird denn auch keineswegs in allen Fällen tragend. Das eingangs genannte Beispiel Heininger illustriert das. Dort ging es u.a. um die Frage, ob ein Realkreditvertrag durch den Ausnahmetatbestand für „Verträge über den Bau, den Verkauf und die Miete von Immobilien sowie Verträge über andere Rechte an Immobilien“ fällt. Der EuGH bezieht sich für die verneinende Antwort ohne Not auf den angeblichen Grundsatz enger Auslegung von Ausnahmen. War mit dem Realkreditvertrag ein Kreditvertrag bezeichnet, bei dem der Rückzahlungsanspruch durch eine dingliche Sicherheit gesichert ist, so fiel der Kreditvertrag schon nach dem Wortlaut nicht unter die Ausnahmevorschrift. Da zudem die grundpfandrechtliche Sicherung nicht (nach den nationalen Rechten aller Mitgliedstaaten) notwendig bedeutet, daß eine überlegte Vertragsentscheidung des Verbrauchers ermöglicht wird, beansprucht die Ausnahmeregelung auch teleologische keine Geltung.
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln Anne Röthel
Übersicht I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung . 1. Institutionelle Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH . . . . . . . . . . . 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz . . . a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht b) Rechtsangleichungsintention . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendung auf die Klauselrichtlinie . . . . . . . . . . . . III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH . . . 1. Océano . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Freiburger Kommunalbauten . . . . . . . . . 3. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung
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17–22 18 19 20–22
IV. Konkretisierung als Methodenproblem . . . . . . . . . 1. Methodische Modellvorstellung der Konkretisierung 2. Konkretisierung durch Auslegung i.e.S. . . . . . . . 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung . . . . . . . . . . . . a) Referenzordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prinzipien und Leitbilder . . . . . . . . . . . . .
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23–39 24–25 26–29 30–39 31–36 37–39
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40–41
V. Konkretisierung als Prozeß
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Rn. 3–6
Literatur: Basedow, Jürgen, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner, Köln 1996, S. 651–681; Brandner, Hans Erich, Beobachtungen und Lehren bei der Umsetzung von Verbraucherschutzrichtlinien für das deutsche Recht, in: Reiner Schulze (Hrsg.) Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, BadenBaden 1999, S. 131–142; Franzen, Martin, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, Berlin 1999, §§ 15, 16; Grundmann, Stefan/Mazeaud Denis (Hrsg.), General Names in European Contract Law, 2006; Klauer, Irene, General Clauses in European Private Law and „Stricter“ National Standards, European Review of Private Law 8 (2000), 187–210; Nassal, Wendt, Die Anwendung der EU-Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, JZ 1995, 689–694; Remien, Oliver, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; Roth, Wulf-Henning, Generalklauseln im Europäischen Privatrecht, in: Jürgen Basedow/Hopt, Klaus J./Kötz, Hein (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Drobnig, Tübingen 1998, S. 135–153; Röthel, Anne, Normkonkretisierung im Privatrecht, Tübingen 2004; dies., Mißbräuchlichkeitskontrolle nach der Klauselrichtlinie: Aufgabenteilung im supraAnne Röthel
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2. Teil: Allgemeiner Teil nationalen Konkretisierungsdialog, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, ZEuP 2005, S. 418–427; Wolff, Inke, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, Baden-Baden 2002. Rechtsprechung: EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941; EuGH v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403.
1
Die Konkretisierung von Generalklauseln nimmt traditionell eine Sonderstellung in Methodenfragen ein. Dies gilt auch für eine europäische Methodenlehre. Gemeinsam sind den nationalen Rechtsordnungen und dem Gemeinschaftsrecht auch die spezifischen gesetzgeberischen Gründe, aus denen sich eine Rechtsetzung mittels Generalklauseln empfiehlt: Einzelne Gegenstände der Rechtsetzung werden delegiert und damit richterlicher Einzelfallbeurteilung überlassen, zugleich werden Freiräume für Flexibilität und Wertungsoffenheit geschaffen. Aus diesen Gründen empfahlen sich Generalklauseln immer wieder den kontinentaleuropäischen Gesetzgebern,1 und auch der Gemeinschaftsgesetzgeber setzt inzwischen vermehrt auf solche ausfüllungsbedürftigen Begriffe. Prominentestes Beispiel für diese Rechtsetzungstechnik ist Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie.2
2
Diese Rechtsetzungstechnik wirft besondere Fragen auf, und zwar sowohl auf kompetentieller als auch auf methodischer Ebene.
I. 3
Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung
Die Forderung nach Methodengerechtigkeit ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck spezifischer Anforderungen der Gewaltenordnung. Auf der nationalen Ebene geht es dabei um das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: Je größer die Be-
1 Zur Funktion von Generalklauseln im europäischen Privatrecht Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 ff.; eingehend zu den konfligierenden Rechtsetzungsidealen Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit (2005). Eine Sonderstellung nimmt England ein; hierzu Kötz, in: Cane/Stapleton (Hrsg.), Essays in Celebration of John Fleming (1998), S. 243ff.; Teubner, The Modern Law Review 61 (1998), 11 ff.; Whittaker in: Grundmann/Mazeaud, S. 58 ff.; zum Begriff von „good faith“ im englischen Vertragsrecht siehe die Darstellung bei Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben (1999), S. 38 ff. mwN; zur Umsetzung der Klauselrichtlinie Beatson, ZEuP 1998, 957 ff.; mit Recht die Unterschiede betonend Sonnenberger, in: FS Odersky (1996), S. 703 ff. 2 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/25; siehe auch Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 Richtlinie 86/653/ EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend der selbstständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 Nr. L 382/17 (im folgenden Handelsvertreterrichtlinie). Weitere ausfüllungsbedürftige Begriffe enthalten Art. 6 Abs. 1 S. 2 („angemessene Vergütung“) sowie Art. 17 Abs. 2a (Anspruch auf einen der „Billigkeit“ entsprechenden nachvertraglichen Ausgleich) der Handelsvertreterrichtlinie. Jüngstes Beispiel ist Art. 3 Abs. 2 Fernabsatzrichtlinie für Finanzdienstleistungen, 2002/65/EG („Grundsatz von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr“). Weitere Beispiele in Fn. 47 f. sowie bei Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 401 ff.
274
Anne Röthel
§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
sorgnis um unzulässige Richtermacht ist, umso aufmerksamer wird auf die Methode der Jurisdiktion geschaut. Und umgekehrt werden sich methodische Anforderungen umso mehr verlieren, je größer der an die Rechtsprechung konzedierte Freiraum zu eigenständiger Rechtsgestaltung ist. So spiegeln sich in Methodenfragen stets auch und vielfach sogar in erster Linie kompetentielle Fragen. Dieses Wechselspiel von Kompetenz und Methode ist besonders sichtbar bei der Konkretisierung, d.h. der richterlichen Ausfüllung von Generalklauseln und normativ-unbestimmten Rechtsbegriffen. Wenn Konkretisierung heute beschrieben wird als gebundene Rechtsbildung 3, so kommt darin ein spezifischer Methodenpluralismus 4 zum Ausdruck: In der Konkretisierung verbinden sich die Methoden der gebundenen Rechtsentscheidung durch Auslegung mit den rechtsschöpferischen Methoden der Rechtsbildung. Dahinter steht die Vorstellung, daß mit konkretisierungsbedürftigen Begriffen Aufgaben der Rechtsbildung übertragen werden. Konkretisierungsbedürftige Normen sind also Delegationsnormen.
4
Diese gedankliche Folie der Delegation von Rechtsgestaltungsbefugnissen bezeichnet in vergleichbarer Weise auch die auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene mit der Konkretisierung verbundenen Zweifelspunkte. Während allerdings auf nationaler Ebene allenfalls die Zulässigkeit oder der Umfang einer mit ausfüllungsbedürftiger Rechtsetzung intendierten Delegation klärungsbedürftig sein mag, ist auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene die zentrale Frage im Umgang mit konkretisierungsbedürftigen Richtlinienbegriffen 5 nach wie vor eine andere: Sind die damit formulierten Gestaltungsaufträge an die Mitgliedstaaten oder an den EuGH adressiert? Dies wird vor allem in Deutschland 6 und in jüngerer Zeit namentlich mit Blick auf die Generalklausel aus Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie problematisiert.
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Der Problemzugriff erfolgt dabei unausgesprochen über die Kompetenzordnung. Dies entspricht der bereits angedeuteten Komplementarität von Methode und Kompetenz. Dieser Problemzugriff wird auch den weiteren Überlegungen zugrundegelegt. Zunächst sind daher Grundsatz und Grenzen der Konkretisierungskompetenz des EuGH zu klären (unten II. und III.), bevor in einem zweiten Schritt über die gemeinschaftlichen Konkretisierungsmethoden nachgedacht werden kann (IV.).
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3 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 124 ff. 4 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 125; für das europäische Privatrecht Flessner, JZ 2002, 14, 18ff.; allgemein Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423 ff.; kritisch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 24 ff.: Methodenpluralität als „Vehikel der Richterfreiheit“. 5 Im folgenden soll nur auf die Kompetenzproblematik der Richtlinien-Konkretisierung eingegangen werden, da für die Konkretisierung von Verordnungen die Konkretisierungskompetenz des EuGH geklärt sein dürfte; so auch W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. 6 So auch der Befund von Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 75. Anne Röthel
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2. Teil: Allgemeiner Teil
II. 7
Konkretisierung in der gemeinschaftlichen Kompetenzordnung
Ist Konkretisierung stets mehr oder weniger Rechtsgestaltung, so liegt in konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung eine Aufgabendelegation. Ungeschriebenen Aufgabenverschiebungen steht das Gemeinschaftsrecht mit gutem Grund ablehnend gegenüber,7 gehört es doch zu den Grundannahmen des Integrationsprozesses, daß die Kompetenzordnung auf einzelnen Aufgaben- und Befugniszuweisungen ruht. Die Gemeinschaft verfügt nicht über die für souveräne Staaten typische Allzuständigkeit,8 sondern bedarf ausdrücklicher Befugniszuweisungen (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung) und muß bei der Kompetenzausübung die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit achten.9 Konkretisierungsbedürftige Rechtsetzung ist also in die vorgegebene institutionelle Ordnung des Gemeinschaftsrechts einzufügen. 1.
Institutionelle Ordnung
8
Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz zwischen dem EuGH und den Mitgliedstaaten berührt sowohl die Verbandskompetenz als auch die Organkompetenz. Für das Kompetenzgefüge von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten bedeutet konkretisierungsbedürftige Aufgabenwahrnehmung aber eine schwächere Beanspruchung gemeinschaftlicher Rechtsetzungsbefugnisse als vollständig ausgeführte und insoweit „bestimmte“ Rechtsetzung. Daher erweisen sich insbesondere die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sogar als Fürsprecher geringerer Regelungsdichte und damit konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung.
9
Nicht so leicht läßt sich die Zulässigkeit einer ungeschriebenen Aufgabenzuweisung gerade an den EuGH begründen. Auch im Verhältnis der Gemeinschaftsorgane untereinander bedarf es konkreter Aufgabenzuweisungen. Es gilt abermals das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.10 Allerdings erweist sich die Konkretisierung bei institutioneller Betrachtung als integraler Bestandteil der dem EuGH zugewiesenen Befugnis zur Auslegung und Fortbildung des Sekundärrechts. a)
10
Auslegungsbefugnis des EuGH
Unabhängig davon, ob man Konkretisierung mehr als gebundene Rechtsentscheidung oder mehr als gestaltende Rechtsbildung versteht, läßt sich die Konkretisierung schon unter die dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zugewiesene Aufgabe fassen, über die „Auslegung“ der Handlungen der Organe zu entscheiden. Mit Recht wird Auslegung i.S. des Art. 234 Abs. 1 lit. b EG insoweit nicht 7 So Bleckmann, Europarecht (1997), Rn. 523; Oppermann, Europarecht, Rn. 661. 8 Siehe statt aller Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 5 EGV Rn. 12; Schwarze-Lienbacher, Art. 5 EGV Rn. 7; Streinz, Europarecht, Rn. 121 jeweils mwN. 9 Siehe statt aller Streinz, Europarecht, Rn. 145: Kompetenzausübungsschranken. 10 Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 7 EGV Rn. 16 f.; Schwarze-Hatje, Art. 7 EGV Rn. 43; großzügiger Everling, FS Ophüls (1965), S. 35: Ermächtigungen der Kommission durch den Rat wären auch ohne ausdrückliche Anordnung zulässig.
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
methodisch eng nach Art des Savigny’schen Kanons verstanden. Gerade in Methodenfragen verbietet sich eine unbefangene Gleichsetzung nationaler Vorstellungen mit gemeinschaftsrechtlichen Erwartungen. Die Eigengesetzlichkeit der gemeinschaftlichen Rechtsordnung mit ihren institutionellen Besonderheiten supranationaler Rechtsetzung sowie die in der Gemeinschaft zusammentreffenden Methodentraditionen der Mitgliedstaaten haben den EuGH von Beginn an vor die Aufgabe gestellt, eigenständig das nötige gemeinschaftsspezifische methodische Handwerkszeug zu entwickeln,11 zumal auch aus der Perspektive des deutschen Rechts die Abgrenzung zwischen Auslegung und Ausfüllung nicht immer trennscharf möglich ist.12 Der in Art. 234 Abs. 1 lit. b EG erteilte Auftrag zur „Auslegung“ ist daher mit Blick auf die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens zu entwickeln. Auslegung ist einerseits als Gegenbegriff zur Rechtsanwendung zu verstehen, die dem EuGH ohne Zweifel entzogen ist.13 Andererseits ist die Reichweite der dem EuGH mit Art. 234 Abs. 1 lit. b EG zugewiesenen Aufgabe anhand von Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens 14 zu bestimmen, also mit Blick auf das Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung.15 Auslegung i. S. des Art. 234 Abs. 1 lit. b EG umfaßt daher jede sachverhaltsgelöste, abstrakte Verdeutlichung von Inhalt und Bedeutung oder – so die Formulierung des EuGH – „Sinn“ und „Tragweite“ 16 des Gemeinschaftsrechts.17 In dieser weit gefaßten Auslegungsbefugnis ist bei institutioneller Betrachtung auch die Befugnis zur Konkretisierung enthalten.18
11 Zu den Kriterien der Auslegung des gemeinschaftlichen Sekundärrechts Riesenhuber, oben § 11 Rn. 13ff. 12 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 130 ff. 13 St. Rspr.; siehe etwa EuGH v. 28.3.1979 – Rs. 222/78 ICAP ./. Beneventi, Slg. 1979, 1163 Rn. 10ff.; EuGH v. 24.9.1987 – Rs. 37/86 Coenen ./. ONPTS and CNPRS, Slg. 1987, 3589 Rn. 8; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 31 ff.; hierzu Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 234 EGV Rn. 4; skeptisch zu dieser Grenzziehung zwischen Auslegung und Anwendung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 271 ff. 14 Dazu Oppermann, Europarecht, Rn. 757; Schwarze-Schwarze, Art. 234 EGV Rn. 2 f.; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 234 EGV Rn. 1. 15 Zu Inhalt und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens EuGH v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 Rheinmühlen Düsseldorf ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1974, 33 Rn. 2; EuGH v. 24.5.1977 – Rs. 107/76 Hoffmann La Roche ./. Centrafarm, Slg. 1977, 957 Rn. 5; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 7 sowie Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (1986), S. 15 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 175 ff.; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht (2002), Rn. 751 ff. 16 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Amministrazione delle finanze dello Stato ../. Denkavit Italia, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 17 Siehe nur Schwarze-Schwarze, Art. 234 EGV Rn. 17. 18 Statt vieler Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S. 60 f. Soweit ersichtlich, stellt allein Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536ff., die Konkretisierungsbefugnis des EuGH im Hinblick auf die institutionelle Aufgabenzuweisung des Art. 234 EG in Frage, und zwar mit dem Argument, bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen ließen sich Auslegung und Anwendung nicht voneinander unterscheiden. Anne Röthel
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2. Teil: Allgemeiner Teil
b)
11
Im übrigen ließe sich die institutionelle Organkompetenz des EuGH zur Konkretisierung – soweit sie nicht schon seiner Auslegungskompetenz zugeschlagen werden kann – jedenfalls auf die in Art. 220 EG verankerte Befugnis zur Rechtsfortbildung stützen,19 zumal der EuGH ohnehin nicht scharf zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet.20 Die grundsätzliche Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung steht heute außer Streit und gehört zur „Realität der Gemeinschaft“ 21. Aus institutioneller Perspektive läßt sich die Konkretisierung daher zum vertraglich gekennzeichneten Aufgabenbereich des EuGH zählen. 2.
12
Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH
Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz
Aus dieser institutionellen Möglichkeit einer Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH folgt aber nicht zwangsläufig, daß mit jedem ausfüllungsbedürftigen Rechtsakt auch eine solche Aufgabendelegation an den EuGH erfolgt. Diese Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Konkretisierungsakteuren und dem EuGH ist – für den Bereich des Privatrechts 22 – vor allem mit der Klauselrichtlinie in das wissenschaftliche Blickfeld gerückt und zum Gegenstand intensiver Befassung avanciert.23 Die dabei entstandene Kontroverse krankt allerdings daran,
19 Allgemein zur Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH Neuner, unten, § 13 Rn. 7 ff. Zur Konkretisierung als Bestandteil der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998), S. 60 f.: „Präzisierung“ von unbestimmten Rechtsbegriffen als „Auslegung im weiteren Sinne“; Calliess, NJW 2005, 929, 932; Dänzer-Vanotti, RIW 1992, 733, 737; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995), S. 133 ff.; Wank, FS Stahlhacke (1995), S. 638. 20 Eingehend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001), S. 394ff.; ders., ZEuP 2005, 234, 249 f.; siehe im übrigen Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 575ff., 604ff.; Hergenröder, FS Zöllner Bd. II (1998), S. 1153; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 57; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 291; kritisch Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 65 ff., 72. Siehe auch die Beiträge in Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsvergleichung in der Europäischen Rechtsgemeinschaft (2003). – Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH bei Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976), S. 105 ff. 21 So Everling, ZSchwR 1993, 337, 347; siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997), S. 35 ff.: richterliche Rechtsfortbildung als „Normalfall im Gemeinschaftsrecht“; hierzu im einzelnen Neuner, unten § 13 sowie Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 185ff. 22 Für das öffentliche Recht werden Fragen der Konkretisierung bislang mit anderem Akzent diskutiert; siehe etwa Bleckmann, RIW 1987, 929 ff. mit Blick auf die Beurteilungsspielräume nachgeordneter Behörden oder Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976). 23 Eine Konkretisierungskompetenz bejahend etwa Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1976), S. 60 f.; Basedow, FS Brandner (1996), S. 675, 680; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 7, 19; ders., NJW 2000, 14, 20; Heiderhoff, WM 2003, 509, 510 ff.; dies., Grundstrukturen des nationalen und des
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
daß zumeist eine generelle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz versucht wird. Dies ist aber nicht möglich. Auch wenn dem EuGH mit der Befugnis zu Auslegung und Rechtsfortbildung auch die Konkretisierung und damit ggf. auch die Schaffung neuer Maßstabsnormen zugewiesen werden kann, heißt dies nicht, daß sie ihm auch in concreto zugewiesen ist. Und umgekehrt ist es zwar richtig, daß eine Richtlinie auf bloße Rechtsangleichung 24 zielt und den Mitgliedstaaten typischerweise Gestaltungsfreiräume belassen soll.25 Doch folgt daraus genauso wenig wie aus dem Subsidiaritätsprinzip 26 oder der Einschätzung, daß gemeinschaftseinheitliche materielle Maßstäbe für die Konkretisierung nicht zur Verfügung stünden 27, per se die Unzulässigkeit einer Letztkonkretisierung durch den EuGH. Erforderlich ist vielmehr eine materielle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz.28 Maßstab kann nur die mit dem jeweiligen Rechtsakt im Einzelfall intendierte Rechtsangleichung sein.29
24 25
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28 29
europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 120 ff., 132 ff.; Joerges, ZEuP 1995, 181, 199f.; Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 131 ff.; dies., ERPL 8 (2000), 187 ff.; Leible, RIW 2001, 422, 426 f.; Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft (1999), S. 56 ff., 64; Reich, ZEuP 1994, 381, 391; Remien, ZEuP 1994, 34, 58f.; ders., RabelsZ 62 (1998), 627, 642 f.; ders., RabelsZ 66 (2002), 503, 517 ff., 520ff., 523; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff., 79 f.; Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 316ff. Kritisch hingegen Canaris, EuZW 1994, 417; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536ff.; ders., JbJZ 1997, S. 298 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 228f.; Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196; Palandt-ders., § 310 Rn. 25; Nassall, WM 1994, 1645 ff.; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544f.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. Differenzierend Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien. Canaris, EuZW 1994, 417; siehe auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544. W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 141 f.; ähnlich Canaris, EuZW 1994, 417 unter Hinweis auf die „Funktion der Richtlinie“; differenzierend zwischen Verordnung und Richtlinie auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229 und Bleckmann, RIW 1987, 929, 935. Nassall, JZ 1995, 689, 691; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Art. 3 Rn. 41; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 143 ff.; Schulze-Osterloh, ZGR 1995, 170, 179 f.; siehe auch die Argumentation von Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 204 ff. So Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196, vgl. auch Franzen, JbJZ 1997, S. 304 ff.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535f.; Nassall, WM 1994, 1645, 1651; ähnlich Staudinger-Schlosser (1998), Einl zum AGBG Rn. 33: Der Richtliniengeber habe gesehen, daß sich „eine europäisch einheitliche Bewertung von Klauseln beim gegenwärtigen Stand des Vertragsrechts in Europa nicht erreichen läßt.“ Genauso Joerges, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 216 Fn. 36: Der EuGH sei zur Konkretisierung ungeeignet, weil er die nötigen „Folgeerwägungen“ nicht anstellen könne. – Zu den materiellen Maßstäben der Konkretisierung noch eingehend unten, Rn. 23 ff. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff. Vgl. zum folgenden Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 495 ff.; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 524ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 ff.; Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 67 ff.; für Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie etwa Leible, RIW 2001, 422, 426; für die Produkthaftungsrichtlinie Schaub, ZEuP 2003, 562, 569 ff.
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a)
Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht
13
Anhaltspunkte für eine solche Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH kann schon der gewählte konkretisierungsbedürftige Begriff selbst geben. Wurde eine Generalklausel als umschreibende „Leerstelle“ für bestehende mitgliedstaatliche Regelungen gewählt, liegt darin eine Verweisung auf das nationale Recht, und die Befugnis zur Letztkonkretisierung ist den Mitgliedstaaten zugewiesen.30 Dies liegt nahe bei Begriffen, die wie die „öffentliche Ordnung“ auf spezifisch nationale Wertverwirklichungen verweisen.31 Im übrigen dürfte eine Verweisung auf die nationalen Rechtsordnungen – genauso wie im Umgang mit bestimmteren Begriffen 32 – eher die Ausnahme darstellen.33
14
Umgekehrt ist die Konkretisierungsaufgabe dem EuGH zugewiesen, wenn sich der Gemeinschaftsgesetzgeber zum Ziel setzt, die aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorschriften bestehenden Wettbewerbshemmnisse durch „Klarstellung von Rechtsbegriffen“ zu beseitigen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der E-commerce-Richtlinie 34.35 Die intendierte gemeinschaftseinheitliche „Klarstellung“ läßt sich nur auf gemeinschaftlicher Ebene, d.h. durch den EuGH bewerkstelligen.36
30 Zu den gesetzgeberischen Gründen für ausfüllungsbedürftige Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 sowie Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 59; mit Blick auf die Klauselrichtlinie Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. – Denkbar ist auch, daß eine Generalklausel aus politischen Gründen die einzige politisch durchsetzbare Lösung i.S. eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ darstellt; so Micklitz, ZEuP 1993, 522, 526 für die Klauselrichtlinie. Dies könnte als Argument für eine Konkretisierungskompetenz der Mitgliedstaaten gewertet werden. Dagegen spricht allerdings, daß schon im Gesetzgebungsverfahren die „wichtige Rolle“ des EuGH bei der Konkretisierung zur Sprache gekommen ist; siehe Remien, ZEuP 1994, 34, 58. 31 Vgl. Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 487; weitergehend bzgl. der „guten Sitten“ Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), S. 361 f. 32 Näher Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 478 ff. 33 Eindrücklich aus jüngerer Zeit EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29. Siehe allgemein Riesenhuber, oben § 11 Rn. 9ff.; Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 488; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 481 f. – Zu einem solchen Fall einer Verweisung siehe die Entscheidung EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 – zum Begriff des Schadens iSv Art. 7 lit. a der Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 Nr. L 210/29; aus dem Schrifttum für eine Auslegungsbefugnis des EuGH in diesem Zusammenhang etwa Magnus, JZ 1990, 1100, 1103; Wolf, FS Lange (1992), S. 786f. – Genauso für die parallele Fragestellung zum Schadensbegriff in Art. 5 der Pauschalreiserichtlinie Tonner, ZEuP 2003, 619, 627 ff.; a.A. Brüggemeier/Reich, WM 1986, 149, 151; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 511 ff. 34 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft im Binnenmarkt, ABl. 2000 Nr. L 178/1. 35 6. Begründungserwägung der Richtlinie 2000/31/EG, ABl. 2000 Nr. L 178/1. 36 Weitere Beispiele bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 365 ff.: „begriffsbezogene Argumente“.
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
b)
Rechtsangleichungsintention
Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Zielsetzung des Harmonisierungsaktes, wie sie sich anhand der beanspruchten Rechtsgrundlage 37 und den Erwägungsgründen 38 ablesen läßt. Ein Beispiel hierfür ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.39 Erklärtes Ziel der Richtlinie ist die „Gewährleistung eines einheitlichen Verbraucherschutz-Mindestniveaus“ (Art. 1 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie) 40. Dieses für privatrechtsangleichende Richtlinien typische Ziel verkörpert entscheidende Argumente zugunsten europäisch-einheitlicher Konkretisierung. c)
15
Anwendung auf die Klauselrichtlinie
Nach diesen Überlegungen muß auch die Konkretisierung der Generalklausel der Klauselrichtlinie in letzter Konsequenz dem EuGH zugewiesen sein. Die Erwägungsgründe beschreiben als Regelungsanlaß, daß die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Vertragsklauseln zwischen Warenverkäufern bzw. Dienstleistern einerseits und Verbrauchern andererseits, namentlich die Rechtsvorschriften über mißbräuchliche Klauseln, „beträchtliche Unterschiede“ aufweisen.41 „Um die Errichtung des Binnenmarktes zu erleichtern“,42 sollten „einheitliche Rechtsvorschriften“ 43 geschaffen werden. Die erstrebten Regelungsziele – Erleichterung der Absatztätigkeit von Verkäufern und Dienstleistern sowie Schutz der Verbraucher im grenzüberschreitenden Verkehr 44 – können aber nur erreicht werden, wenn die Klausel-Kontrolle soweit als möglich europäisch-einheitlich erfolgt.45 Sonst könnten sich Verbraucher bei grenzüberschreitenden Geschäften nicht darauf verlassen, nicht durch die Verwendung mißbräuchlicher Klauseln übervorteilt zu werden.46 Dies spricht für weit reichende Konkretisierungskompetenzen des EuGH.
37 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 496 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135, 148 f. 38 Zur Bedeutung der Begründungserwägungen für die Konkretisierung etwa Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 76ff.; allgemein zur Bedeutung für die Auslegung Riesenhuber, oben § 11 Rn. 36 f. 39 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 40 Siehe auch Begründungserwägung 5 der Richtlinie 1999/44/EG, ABl. 1999 Nr. L 171/12: „Schaffung eines gemeinsamen Mindestsockels“. 41 Begründungserwägungen 3 und 4 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 42 Begründungserwägung 6 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 43 Begründungserwägung 10 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 44 Siehe Begründungserwägungen 5 und 7 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 45 So Leible, RIW 2001, 422, 426; a.A. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 205, die aus Art. 5 Abs. 3 EG auch im Bereich der binnenmarktfinalen Rechtsangleichung eine Vermutung zugunsten nationaler Gestaltungsfreiräume folgert (S. 179); a.A. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 553, da er die Richtlinie der aktiven Rechtsangleichung zuordnet (aaO, S. 221 ff.). 46 Zu diesem Beispiel Leible, RIW 2001, 422, 426; vgl. auch Brandner, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 131, 136 im Hinblick auf die „Absichten und den Schutzgehalt“ sowie den „Geltungswillen“ der Richtlinie. Anne Röthel
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2. Teil: Allgemeiner Teil
III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH 17
Die bislang referierten Erwägungen sprechen gerade im Zusammenhang mit der Klauselrichtlinie für eine Kompetenz zur Letztkonkretisierung des EuGH. Umso größere Aufmerksamkeit gilt natürlich der Frage, wie sich der EuGH in dieser aufwändig geführten wissenschaftlichen Debatte positioniert. Allerdings existieren bislang kaum einschlägige Entscheidungen. Zur Konkretisierung der Treu und GlaubenGeneralklausel (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1) der Handelsvertreterrichtlinie sind gar keine Judikate ersichtlich, gleiches gilt für die zahlreichen normativ-unbestimmten Rechtsbegriffe der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 47 oder der Verbraucherkreditrichtlinie48. Und auch zur prominentesten sekundärrechtlichen Generalklausel – Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie – existieren bislang nur zwei Urteile, die sich speziell mit Fragen der Konkretisierung auseinandersetzen.49 Schon dieser Befund zeigt, daß so manche Aufgeregtheit und Sorge um eine hypertrophierende Konkretisierungsjudikatur des EuGH50 wohl unbegründet war. 1.
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Océano
In seiner ersten Entscheidung zur Konkretisierng von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie aus dem Jahr 2000 – „Océano“ 51 – hat der EuGH nicht nur die Vorlagefrage des
47 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12: Der Verkäufer kann die Nacherfüllung ablehnen, wenn sie „unverhältnismäßig“ ist (Art. 3 Abs. 3); die Nachbesserung muß innerhalb einer „angemessenen Frist und ohne erhebliche Unannehmlichkeiten für den Verbraucher erfolgen“ (Art. 3 Abs. 3 S. 3); der Verbraucher kann „angemessene Minderung“ verlangen (Art. 3 Abs. 5), und bei einer „geringfügigen Vertragswidrigkeit“ besteht kein Anspruch auf Vertragsauflösung (Art. 3 Abs. 6). 48 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 Nr. L 42/48: „angemessene Ermäßigung“ der Gesamtkosten des Kredits bei vorzeitiger Erfüllung (Art. 8 der Verbraucherkreditrichtlinie), „angemessener Schutz“ des Verbrauchers bei der Verwendung von Wechsel und Scheck (Art. 10 der Verbraucherkreditrichtlinie). 49 Siehe zum Folgenden die Urteile EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Daneben ergingen die Entscheidungen vom 7.5.2002 – Rs. C-478/99 – Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 insbes. Rn. 20ff. zur Rechtsnatur des Anhangs der Richtlinie 93/13/EWG als „Informationsquelle“ sowie die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 – Cofidis, Slg. 2002, I-10875 zur Zulässigkeit einer Ausschlußfrist für die Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Klausel. 50 Plastisch Lipp, NJW 2001, 2657, 2662; siehe auch Canaris, EuZW 1994, 417. In diese Richtung argumentierend auch GA Geelhoed, Schlußanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. 51 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 = NJW 2000, 2571 = ZEuP 2003, 141 m. Anm. Pfeiffer = DB 1999, 2056 m. Anm. Staudinger = EWiR 2000, 784 m. Anm. Freitag = JZ 2001, 245 m. Anm. Schwartze; hierzu Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 377 ff.; weitere Bespre-
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spanischen Instanzgerichts nach der Befugnis zur amtswegigen Mißbräuchlichkeitskontrolle einer Gerichtsstandsklausel, sondern darüber hinaus auch inhaltlich die Mißbräuchlichkeit der streitigen Klausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie bejaht.52 Dieses Judikat ist als deutliches Votum zugunsten einer gemeinschaftlichen Letztkonkretisierungsbefugnis gelesen worden.53 Mit Recht wurde dabei kritisiert, daß die Vorlagefrage eine inhaltliche Klauselbeurteilung eigentlich nicht erfordert hätte.54 Nach dieser Entscheidung lag die Annahme nahe, daß sich der EuGH eine weitreichende Konkretisierungskompetenz zuspricht und diese Kompetenz auch in Anspruch nehmen will und wird. In dieselbe Richtung wiesen die Ausführungen von Generalanwalt Saggio, der in seinen Schlußanträgen betont hatte, daß „die Beantwortung der Frage, ob eine Klausel … ‚mißbräuchlich‘ ist, nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie … erforderlich macht.“ 55 2.
Freiburger Kommunalbauten
Differenzierter entschied der EuGH auf Vorlage des BGH 56 in der Rechtssache Freiburger Kommunalbauten.57 Anders als in der Océano-Entscheidung nahm er nicht in der Sache zur Mißbräuchlichkeit der streitigen Vorauszahlungsklausel Stellung, sondern wies diese Beurteilung den nationalen Gerichten zu: Im Rahmen der mit Art. 234 EG übertragenen Befugnis zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts sei es Aufgabe des EuGH, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen, hingegen sei er nicht befugt, sich zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel zu äußern.58 Anderes gelte nur – so die klarstellenden Hinweise mit Seitenblick auf die OcéanoEntscheidung – wenn sich die Mißbräuchlichkeit einer Klausel ohne weitere Berück-
52 53
54
55 56 57
58
chungsaufsätze von Borges, RIW 2000, 933; ders., NJW 2001, 2061 ff.; Hau, IPRax 2001, 96; Leible, RIW 2001, 422; Whittaker, LQR 117 (2001), 215. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 24. So etwa Leible, RIW 2001, 422, 435 f.; Möllers, JZ 2002, 121, 125; kritisch Borges, NJW 2001, 2061, 2062; Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 209 f. Gegenstand der Vorlagefrage war nicht die Mißbräuchlichkeit der streitigen Gerichtsstandsvereinbarung, sondern die sachlich davor liegende Frage, ob sich ein Verbraucher auf die Mißbräuchlichkeit der Klausel berufen oder das angerufene Gericht die Mißbräuchlichkeit von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Kritisch Hakenberg, ZEuP 2001, 888, 901 f.; Schwartze, JZ 2001, 246, 248. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 18 (Hervorhebung nicht im Original). BGH, NJW 2002, 2816 (Leitsätze) = NZM 2002, 754; zum Vorlagebeschluß Heiderhoff, WM 2003, 509, 512ff. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 = ZEuP 2005, 418ff. mit Anm. Röthel; dazu Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 432 ff.; Freitag, EWiR 2004, 397ff.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470ff.; Markwardt, ZIP 2005, 152ff.; Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04; Wittwer, ELR 2004, 380 ff. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
sichtigung der Vertragsumstände und ihrer Auswirkungen im nationalen Recht feststellen lasse.59 3.
Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung
20
Aus diesem, wenn auch schmalem Rechtsprechungsbestand lassen sich zwei Grundannahmen für die Aufgabenwahrnehmung des EuGH bei der Konkretisierung gemeinschaftlichen Sekundärrechts herausschälen.
21
Die erste Grundannahme betrifft das Selbstverständnis des EuGH, ohne nähere Begründung zur Konkretisierung sekundärrechtlicher Generalklauseln befugt zu sein. So wenig der EuGH methodisch zwischen Auslegung und Rechts(fort-)bildung unterscheidet, so wenig kompetentielle Besonderheiten erkennt er Generalklauseln zu. Dies kommt auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten zum Ausdruck, wenn der EuGH betont, es sei seine Aufgabe, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen.60 Damit hat sich der EuGH auch nicht dem Votum von Generalanwalt Geelhoed angeschlossen, der verlangt hatte, daß der EuGH den Mitgliedstaaten keine ins Detail gehenden Vorgaben machen dürfe, weil sonst der Ermessensspielraum der nationalen Umsetzungsgesetzgeber unzulässig eingeengt werde.61
22
Hingegen sieht es der EuGH grundsätzlich nicht als seine Aufgabe an – und dies ist die zweite Grundannahme – die Kriterien der Mißbräuchlichkeitskontrolle auf die konkrete streitige Vertragsklausel anzuwenden. Konsequenterweise lehnt er auch jede Beurteilung tatsächlicher Umstände ab 62 und weist die Prüfung nationalen Rechts ebenfalls den mitgliedstaatlichen Gerichten zu.63 Daß der EuGH in der Rechtssache Océano auch die Mißbräuchlichkeit der streitigen Klausel entschieden hat, dürfte insgesamt also einen Sonderfall darstellen.64 Die Entscheidung über die Mißbräuchlichkeit einer Klausel soll vielmehr den mitgliedstaatlichen Gerichten vorbehalten bleiben, während die Aufgabe der abstrakt-generellen Verdeutlichung einer Generalklausel ausschließlich dem EuGH zugewiesen ist.
59 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 23. 60 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22; genauso etwa Palandt-Heinrichs, § 310 Rn. 25: Die Zuständigkeit des EuGH beschränkt sich auf die „Auslegung der in der Richtlinie verwandten Begriffe“. In diese Richtung weist auch die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 Cofidis, Slg. 2002, I-10875 Rn. 23, wo der EuGH sich auf „Tatbestandsmerkmale“ der Generalklausel bezieht. Diese Diktion läßt keine Unterschiede im Umgang zwischen bestimmteren und unbestimmteren Begriffen erkennen. 61 GA Geelhoed, Schlußanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 – Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 27. Mit Recht kritisch hierzu Markwardt, ZIP 2005, 152, 156. 62 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 63 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. Hierzu Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 64. 64 So etwa auch Palandt-Heinrichs, § 310 Rn. 25.
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
IV.
Konkretisierung als Methodenproblem
Nach diesen Vorüberlegungen zum Kompetenzgefüge zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten bleibt nun die Frage, auf welchem methodischen Weg der EuGH seine Konkretisierungsaufgabe erfüllt. 1.
23
Methodische Modellvorstellung der Konkretisierung
Aus der Perspektive des deutschen Rechts und der deutschen Methodenlehre läßt sich eine methodische Modellvorstellung entwickeln, bei der sich in der Konkretisierung die Methoden der Auslegung mit den Methoden der Rechtsbildung und Rechtsfortbildung verbinden. Dieses Changieren der Konkretisierung zwischen gebundener Rechtsentscheidung und gestaltender Rechtsbildung ist bereits angeklungen (oben I.). Danach sind im Wege der Auslegung die tatbestandlichen „äußeren“ Grenzen des konkretisierungsbedürftigen Begriffes aufzuzeigen, während die weitere Ausfüllung im Wesentlichen Rechtsgestaltung ist, die auf methodisch entsprechend weniger vorgezeichneten Bahnen verläuft.
24
Diese gedankliche Folie läßt sich allerdings nicht mit vergleichbarer Aussagekraft auf die Konkretisierung durch den EuGH übertragen, da der EuGH nicht trennscharf zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet.65 Genauso wenig läßt sich allerdings umgekehrt aus der Feststellung in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten, daß dem EuGH die Auslegung der allgemeinen Kriterien zugewiesen sei, folgern, daß der EuGH damit sein Konkretisierungsmandat auf die Verdeutlichung der „äußeren“ Grenzen der Generalklausel beschränken wollte. Vielmehr klingt darin an, daß der EuGH die Konkretisierungsaufgabe insgesamt als Auslegung zusammenfaßt, dabei aber offenbar größere methodische Freiräume für sich beansprucht.
25
2.
Konkretisierung durch Auslegung i.e.S.
Insbesondere zur Konkretisierung der Generalklausel der Klauselrichtlinie, aber auch im Hinblick auf andere Sekundärrechtsakte werden sich erste Anhaltspunkte der Konkretisierung schon aus den klassischen, vom EuGH verwendeten Auslegungsargumenten ergeben.66 Anzusetzen ist bei dem Wortlaut der Generalklausel 67 und ihrer systematischen Stellung innerhalb des Rechtsaktes.
26
Im Beispiel der Klauselkontrolle sind also zunächst sämtliche inhaltlichen Vorgaben, die die Richtlinie bietet – und dies sind nicht wenige – zusammenzutragen. Sie konturieren die äußeren Grenzen der Konkretisierung. Als mißbräuchlich soll eine Klausel gelten, die „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht“ (Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie). Die Rechtsstellung von Verbraucher und Unternehmer sind also in Verhältnis zueinander zu setzen. Methodisch
27
65 Siehe hierzu die Beiträge von Baldus, Riesenhuber und Neuner in diesem Band. 66 Näher zu den vom EuGH verwendeten Auslegungskriterien Riesenhuber, oben § 11 Rn. 47 ff. 67 Näher Riesenhuber, oben § 11 Rn. 14 ff., 22 ff. Anne Röthel
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2. Teil: Allgemeiner Teil
folgt daraus, daß die Konkretisierung und Anwendung der Generalklausel zur Methode der Abwägung leitet.68 Bestätigt wird dies durch die Erwägungsgründe, in denen die Mißbräuchlichkeit als „umfassende Bewertung der Interessenlagen der Parteien“ umschrieben wird. Eine solche Abwägung stellt auch den Kern der Argumentation des EuGH in der Océano-Entscheidung dar, wo er die Nachteile, die die Klausel für den Verbraucher erzeugt, den Vorteilen für den Gewerbetreibenden gegenübergestellt und allein hieraus die Mißbräuchlichkeit der Klausel gefolgert hat.69
28
Weitere Anhaltspunkte enthält Art. 4 Abs. 1 Klauselrichtlinie.70 Daraus ergibt sich das Erfordernis einer konkret-individuellen Klauselbeurteilung.71 Im Einzelnen obliegt die Beurteilung der konkreten Vertragsumstände allerdings – wie bereits erläutert – den nationalen Gerichten.72
29
Neben dem Wortlaut und der Systematik mißt der EuGH der Teleologie eine Richtlinie, wie sie sich an den Erwägungsgründen ablesen läßt, regelmäßig große Bedeutung bei.73 Dies wird auch für die Konkretisierung von Generalklauseln gelten. Mit Blick auf die Konkretisierung der Klauselrichtlinie finden sich in den Erwägungsgründen nicht nur der allgemeine Hinweis auf das Gebot der Interessenbewertung, sondern auch die Vorgabe, daß besonders „das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien“ zu berücksichtigen ist sowie der Umstand, „ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden.“ 74 3.
30
Maßstäbe der Rechtsgestaltung
Innerhalb dieser durch die Auslegung i.e.S. gezogenen Grenzen bedeutet Konkretisierung richterlich-autonome Maßstabsetzung. Diese Rechtsgestaltung ist nach unserer methodischen Vorstellung Rechtsbildung, wobei die Rechtsprechung weniger methodischen als legislatorischen Bindungen unterworfen ist, d.h. den Bindungen, denen auch der Gesetzgeber bei abstrakt-genereller Regelsetzung unterliegt.75 Mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht ist die wohl vordringlichere Aufgabe aber – zumal auch eine
68 Zur Konkretisierung durch Abwägung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 146ff. 69 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22 und 23. 70 Näher Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 65 ff.: „konkretisierende Kontrolltopoi“. 71 So auch Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 568 f.; ähnlich Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Vorbem Rn. 28; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 52 ff. 72 Siehe EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21; hierzu bereits oben Rn. 20 ff. 73 Siehe Riesenhuber, oben § 11 Rn. 39 f. sowie etwa Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10 ff., 15ff. 74 Begründungserwägung 16 der Richtlinie 93/13/EWG, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 75 Zu den legislatorischen Bindungen judikativer Normsetzung im Einzelnen Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 86 ff. (Sachrichtigkeit, Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Normenklarheit).
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
europäische Gesetzgebungslehre derzeit allenfalls in Konturen erkennbar ist 76 – die Verständigung darüber, woraus sich die materiellen Maßstäbe einer solchen Rechtsgestaltung durch den EuGH ergeben können. a)
Referenzordnungen
Solche materiellen Maßstäbe können sich vor allem aus Referenzordnungen ergeben. Aus der AGB-Kontrolle des deutschen Rechts kennen wir die Vorstellung, die gerichtliche Inhaltskontrolle am Referenzmaßstab des dispositiven Rechts auszurichten (§ 307 Abs. 2 BGB). Dahinter steht das Anliegen, die gerichtliche Konkretisierung in die geschriebene Rechtsordnung einzubinden und hieraus die maßgeblichen Wertungen zu extrahieren, die ihrerseits als Konkretisierungsmaßstab dienen sollen. Ganz allgemein geht es dabei um die Rückanbindung der Konkretisierung an übergreifende Wertvorstellungen, Leitbilder und Prinzipien. In diesem Streben nach „Rückanbindung“ verwirklichen sich die systematischen Ansprüche jeder Rechtsordnung.77 aa)
31
Erfordernis einer gemeinschaftsautonomen Referenzordnung
Ist die Konkretisierung einer sekundärrechtlichen Generalklausel aufgrund der Rechtsangleichungsintention dem EuGH zugewiesen, werden langfristig gemeinschaftsautonome Referenzmaßstäbe entstehen.78 Rein nationale Referenzordnungen – etwa das geschriebene Vertragsrecht eines Mitgliedstaates – scheiden regelmäßig aufgrund der Rechtsangleichungsintention des Sekundärrechtsaktes 79 als taugliche Referenzordnung aus. Da die Klauselrichtlinie eine gemeinschaftseinheitliche Klauselkontrolle intendiert, kann dieser Anspruch nur eingelöst werden, wenn die Beurteilung der Treuwidrigkeit anhand gemeinschaftseinheitlicher und daher gemeinschaftsautonomer Maßstäbe begründet wird.80 Dies deckt sich mit der Erkenntnis, daß nationale „Vorbildrechtsordnungen“ auch für die Auslegung eines Sekundärrechtsaktes allenfalls untergeordnete Bezugspunkte verkörpern.81
32
Dies heißt nicht, daß die nationalen Rechtsordnungen überhaupt keine Bedeutung für die Konkretisierung hätten.82 Bei der Klauselkontrolle werden sich die spezifischen Wirkungen einer Klausel vielmehr erst aus dem nationalen Rechtsumfeld
33
76 Ansatzpunkte bei Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), § 3. 77 Zu Systemdenken und Systembildung im Europäischen Privatrecht Grundmann, oben § 10; ders., Systembildung und Systemlücken; zur Anwendung des Systemgedankens auf das Europäische Privatrecht Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 52 ff., insbesondere zur Konkretisierung von Generalklauseln S. 74 ff.; kritisch Flessner, JZ 2002, 14, 15 f. 78 Zur Konkretisierung als Prozess noch unten Rn. 40 ff. 79 Hierzu bereits oben Rn. 12 ff. 80 Siehe nur Staudinger, DB 2000, 2058; a.A. Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Freitag, EWiR 2004, 397f.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478; Basty, DNotZ 2004, 767, 771: als „Vergleichsmaßstab“. 81 Siehe Riesenhuber, oben § 12 Rn. 38 mwN; ähnlich der Befund von Schwartze, oben § 4 Rn. 21ff. 82 In diese Richtung auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 511.
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ergeben. Diese Beurteilung hat der EuGH aber mit Recht den nationalen Gerichten zugewiesen.83 Daraus ergibt sich – was aus Gründen der Sachnähe auch einzig sinnvoll erscheint –, daß der EuGH im Rahmen seiner Zuständigkeit die generellen inhaltlichen Konkretisierungsmaßstäbe gemeinschaftsautonom entwickelt, während die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse, d.h. bei der Anwendung der abstrakten Vorgaben des EuGH auf die konkrete Klausel, in die Beurteilung auch das Umfeld des nationalen Rechts heranziehen müssen.
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Ähnlich ist für rechtsvergleichend entwickelte Referenzmaßstäbe 84 oder die gemeineuropäisch erarbeiteten principles 85 zu entscheiden. Gerade für die Konkretisierung von Treu und Glauben mag es nahe liegen, in erster Linie an die sichtbaren gemeinsamen Begriffstraditionen anzuknüpfen.86 Eine gewisse Rechtsvereinheitlichung könnte damit sicherlich geleistet werden. Doch können weder rechtsvergleichend noch gemeineuropäisch entwickelte Maßstäbe den Anspruch auf systematische Einbettung der Konkretisierung in die gemeinschaftliche Gesamtrechtsordnung einlösen.87
35
Dies gilt namentlich für die Konkretisierung der Generalklausel in Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie.88 Auch wenn das Konzept einer an Treu und Glauben ausgerichteten Klauselkontrolle nach ihrer rechtskulturellen Provenienz und inhaltlichen Konzeption Ausdruck einer gemeinsamen Entwicklungstendenz der Mitgliedstaaten ist 89, hat die Konkretisierung von Treu und Glauben i.S. der Klauselrichtlinie doch ausschließlich mit Blick auf genuin gemeinschaftsrechtliche Wertvorstellungen zu erfolgen.90 Dies entspricht der Erkenntnis, daß aus dem nationalen Recht bekannte
83 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. 84 Hierfür Remien, ZEuP 1994, 36, 61 f.; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Art. 3 Rn. 41f. mwN, der im übrigen auch auf das „in den Mitgliedstaaten vorhandene Entscheidungsmaterial“ zurückgreifen will (Rn. 65). Damit würde aber eine europäisch-autonome Konkretisierung im Ergebnis aufgegeben werden. – Zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsvergleichung siehe Schwartze, oben § 4. 85 Hierfür MünchKommBGB-Basedow 3 (1993), § 9 AGBG Rn. 6; Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732, 1738; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525; Leible, RIW 2001, 422, 426; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Wittwer, ELR 2004, 380, 384. – Siehe Art. 1:201, Art. 6:102 Principles of European Contract Law (sog. Lando-Principles); deutsche Fassung abgedruckt bei v. Bar/ Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002). Zur Einordnung der principles in die Rechtsquellentheorie Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung, S. 5, 15 ff.: Rechtserkenntnis- und Rechtsgewinnungsquelle. 86 Rechtsvergleichend Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law (2000). 87 Aus anderem Grund kritisch Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 658: Ein im Wege wertender Rechtsvergleichung ermittelter Mißbräuchlichkeitsbegriff führe zu einer „Maximum-Harmonisierung“. 88 Eindrücklich Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 636 ff. 89 Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Vorbem Rn. 32; siehe auch MünchKommBGBRoth (2003), § 242 BGB Rn. 140: Treu und Glauben als Europäisches Rechtsprinzip; für einen Überblick über den siehe Staudinger-Looschelders/Olzen (2005), § 242 Rn. 1080ff. sowie zum anglo-amerikanischem Rechtskreis Rn. 1108 ff. 90 Die Entwicklung eines eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Begriffs von Treu und Glauben im Gemeinschaftsrecht steht sicherlich erst an ihren Anfängen; so etwa Staudinger-Loo-
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§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
Begriffe im Gemeinschaftsrecht nicht notwendig denselben Bedeutungsgehalt haben.91 bb)
Sekundärrechtliche Referenzordnungen
Umso wichtiger sind daher die vom Gemeinschaftsgesetzgeber selbst mitgegebenen Referenzordnungen. Bislang einziges Beispiel für diese Regelungstechnik ist der Anhang zur Klauselrichtlinie.92 Hierauf hat sich auch der EuGH in der Océano-Entscheidung gestützt.93 Bei Licht besehen dürfte der Anhang derzeit die wichtigsten Anhaltspunkte für einen gemeinschaftsrechtlichen Treuemaßstab verkörpern.94 In vielen Klauseln kommt als Grundgedanke zum Ausdruck, daß solche Klauseln als rechtsmißbräuch zu bewerten sind, durch die der Unternehmer seine Rechtsstellung einseitig und zu Lasten des Verbrauchers verbessert.95 Aus einer Zusammenschau des Anhangs und Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie ergibt sich daher, daß Klauseln als mißbräuchlich anzusehen sind, die zu einer erheblichen Asymmetrie der Rechte und Pflichten zulasten des Verbrauchers führen.96 b)
Prinzipien und Leitbilder
Schließlich halten auch die gemeinschaftsrechtlichen Prinzipien und Leitbilder erste Eck- und Steuerungspunkte einer gemeinschaftlichen Referenzordnung für die Konkretisierung vor. Auch wenn sie keine „harten“ Maßstäbe verbürgen und regelmäßig in einem inneren Wechselspiel nach Art eines „beweglichen Systems“ 97 stehen, so garantieren sie doch die nötige wertungsmäßige Rückanbindung der Konkretisierung an die Gemeinschaftsrechtsordnung.
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schelders/Olzen (2005), § 242 Rn. 1137; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 123f.; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 572. So auch für Treu und Glauben W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, Bd. II (2000), S. 873. So auch Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 5 Rn. 61; Leible, RIW 2001, 422, 427: „Indizwirkung“; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 648. Zur Rechtsnatur des Anhangs EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 20 sowie EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 22. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22; denkbar wäre dies auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten gewesen; hierfür Wittwer, ELR 2004, 380, 384. So auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 512; skeptisch Freitag/Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478. – Für eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte Staudinger, DB 2000, 2058; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; vorsichtiger Schwartze, JZ 2001, 246, 248: „bloße Anregung“. Beispielsweise durch Einräumung einseitiger Änderungsbefugnisse (lit. j und k) sowie einseitiger Kündigungsrechte (lit. f und g). So auch Micklitz, ZfIR 2004, 613, 621. Begriff von Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht, Rede v. 22.11.1950, Graz; zur Rezeption dieses Gedankens bei Alexy und Dworkin u.a. sowie seiner Empfehlung als Methode des Europäischen Privatrechts Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; ders., JBl. 2003, 205, 206ff., 212; hierzu Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 252.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
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Dies gilt insgesamt für das europäische Vertragsrecht, dessen Prinzipien und Grundstrukturen sich nun sichtbar konstituieren.98 Auch wenn dem Gemeinschaftsrecht noch kein eigenständiges Prinzip von Treu und Glauben eigen ist,99 so deutet sich doch der Gedanke des Schutzes berechtigter Erwartungen als spezifisch gemeinschaftsrechtlicher Vertrauensgrundsatz an.100 Entsprechend der Regelungsintention von verbraucherschützenden Richtlinien kommt dabei dem Schutz der Verbraucher eine besondere Rolle zu, mag man auch einer pauschalierenden Zweifelsregel „in dubio pro consumatore“ skeptisch gegenüber stehen.101 Es ist also ein in besonderer Weise auf den Verbraucher ausgerichteter Vertrauensschutz,102 der sich als Grundlage für weitere konkretisierende Beurteilungsleitlinien im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 Klauselrichtlinie empfiehlt.103
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Ähnliche Steuerungspotentiale haben Leitbilder.104 Auch sie tragen dazu bei, die Wertungsgrundlagen und Zielsetzungen konkretisierungsbedürftiger Rechtsakte plastisch zu verdeutlichen.105 Sie bewegen sich auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau als Prinzipien und Rechtsgrundsätze und haben sich – beispielsweise im Lauterkeitsrecht 106 – gerade deshalb als besonders wirksam erwiesen. Dies setzt natürlich eine sorgsame, systemorientierte Begründung von Leitbildern aus dem positiven Recht voraus.107
V. 40
Konkretisierung als Prozeß
Konkretisierung hat aber nicht nur eine kompetentielle und eine methodische Seite, sondern auch eine ganz praktische und prozedurale: Konkretisierung ist ein Pro98 Siehe hierzu die Untersuchungen von Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004); Riesenhuber, System und Prinzipien. 99 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 410 ff. 100 Grundlegend Micklitz, ZEuP 1998, 253, 263 f.; siehe nun Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 338 ff.; kritisch H. Roth, JZ 1999, 529, 534 sowie W.-H. Roth, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 45 ff. 101 Näher Riesenhuber, oben § 11 Rn. 54 ff.; ders., Kein Zweifel für den Verbraucher, JZ 2005, 829; dazu die Erwiderungen von Rösler, JZ 2006, 400ff. sowie Tonner, JZ 2006, 402 ff. 102 Zur Rechtsangleichungsintention der Klauselrichtlinie bereits oben, Rn. 15. 103 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 345, 435; dies., WM 2003, 509, 512; genauso – wenn auch im Ergebnis kritisch – Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 569: „Unterlegenenschutz als Auslegungsleitlinie“; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 51 ff. 104 Zur Wirksamkeit von Leitbildern für die Konkretisierung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 401 ff.; siehe auch Riesenhuber, oben § 11 Rn. 44 ff.: Leitbilder als Hilfsmittel teleologischer Auslegung. 105 Für das Verbraucherleitbild der Klauselrichtlinie exemplarisch Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Vorbem. Rn. 24 ff. 106 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1. 1999 Rs. C-303/97 – Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; hierzu Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236ff. 107 So mit Recht die Mahnung von Riesenhuber, oben § 11 Rn. 45 f.
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Anne Röthel
§ 12 Die Konkretisierung von Generalklauseln
zeß.108 Für die Konkretisierung sekundären Gemeinschaftsrechts gilt, was dem Gemeinschaftsrecht insgesamt attestiert wird: Konkretisierung ist „Recht im Werden“ 109. Solche langfristigen und vor allem arbeitsteiligen 110 Rechtsetzungsprozesse sind auf Kommunikation und Kooperation angewiesen. Institutionelles Forum für den erforderlichen Konkretisierungsdialog ist das Vorabentscheidungsverfahren.111 Eine sinnvolle Gestaltung des Konkretisierungsprozesses erfordert auf Seiten der vorlegenden Gerichte die Auswahl sinnvoller und informativer Vorlagen und auf Seiten des EuGH eine gewisse Behutsamkeit im Umgang mit dem Konkretisierungsstand. Solange die Konturen der gemeinschaftsrechtlichen Konkretisierungsmaßstäbe noch weitgehend diffus sind, sollte der EuGH umso sorgfältiger darauf bedacht sein, mit dem Prozeßcharakter der Konkretisierung Maß zu halten. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus zu begrüßen, daß der EuGH mit seinem Urteil Freiburger Kommunalbauten einen zunächst eher zurückhaltenden Kurs bei der Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrags angedeutet hat.112 Die darin skizzierte Aufteilung der Konkretisierungsaufgaben ist nicht nur Ausdruck eines methodisch, kompetentiell und insoweit auch „ökonomisch“ sinnvollen Gefüges.113 Darüber hinaus garantiert sie, daß die richterliche Rechtsgestaltung ihren notwendigen Rückhalt im allgemeinen Integrationsprozess nicht verliert – und zwar nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die noch offenen methodischen Fragen.
108 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 167 ff., 381, 399 ff. 109 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 38 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 mwN. Zur „Dynamik“ des Gemeinschaftsrechts auch Riesenhuber, oben § 11 Rn. 43. 110 Vgl. Röthel, ZEuP 2005, 418, 424 ff. 111 Zum folgenden Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 381 ff. 112 Röthel, ZEuP 2005, 418, 425 ff.; siehe auch Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04: „ausgewogenes Bild“. 113 In diese Richtung auch GA Geelhoed, Schlußanträge v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29: „ökonomischer Gebrauch der Rechtsbehelfe“. Anne Röthel
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41
§ 13 Die Rechtsfortbildung Jörg Neuner Übersicht . . . .
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Rn. 1–6 2–3 4–5 6
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7–10 8 9 10
III. Die Schranken der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . 1. Die Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . a) Die kompetentielle Dimension . . . . . . . . . aa) Das institutionelle Gleichgewicht . . . . . . bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit b) Die inhaltliche Dimension . . . . . . . . . . . . aa) Die Wortsinngrenze . . . . . . . . . . . . . bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht . . . c) Die zeitliche Dimension . . . . . . . . . . . . . aa) Die Vorwirkung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bindung an das Präjudiz . . . . . . . . . . . . a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit . . . b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes . . . . .
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11–25 12–21 13–15 14 15 16–18 17 18 19–21 20 21 22–25 23 24–25
IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung . . . 1. Die Rechtsfindung praeter legem . . . . a) Die Lückenfeststellung . . . . . . . aa) Das externe System . . . . . . . bb) Das interne System . . . . . . . b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung aa) Der Gleichheitssatz . . . . . . . bb) Das Primärrecht . . . . . . . . . c) Die Grenzen der Lückenausfüllung . aa) Analogieverbote . . . . . . . . . bb) Unausfüllbare Lücken . . . . . 2. Die Rechtsfindung contra legem . . . . a) Die Feststellung der Nichtigkeit . . . b) Die Folgen der Nichtigkeit . . . . . c) Die Einzelfallgerechtigkeit . . . . . .
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26–43 27–39 28–30 29 30 31–36 32–33 34–36 37–39 38 39 40–43 41 42 43
V. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts . 2. Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts 3. Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts . II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 1. Die rechtsprechende Gewalt . . 2. Die gesetzgebende Gewalt . . . . 3. Die faktische Gewalt . . . . . .
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Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung Literatur: Anweiler, Jochen, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt a. M. u.a. 1997; Buck, Carsten, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt a.M. u.a. 1998; Dederichs, Mariele, Die Methodik des EuGH, Baden-Baden 2004; Dänzer-Vanotti, Wolfgang, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Ole Due, u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I, Baden-Baden 1995, S. 205–221; Everling, Ulrich, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Grundmann, Stefan/Riesenhuber, Karl, Die Auslegung des europäischen Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Hummer, Waldemar/Obwexer, Walter, Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat“ und wieder retour?, EuZW 1997, 295–305; Langenbucher, Katja, Vorüberlegungen zu einer Europarechtlichen Methodenlehre, in: Thomas Ackermann u.a. (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler, Stuttgart u.a. 1999, S. 65–83; Neuner, Jörg, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris, München 2002, S. 83–112; Schroeder, Werner, Das Gemeinschaftsrechtssystem, Tübingen 2002; Schulze, Reiner (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, Baden-Baden 1999; Schulze, Reiner/Seif, Ulrike (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, Tübingen 2003; Ukrow, Jörg, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, Baden-Baden 1995; Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, Tübingen 2001. Rechtsprechung: EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 6.11. 2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295; EuG v. 3.4.2003 – verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 Vieira und Vieira Argentina ./. Kommission, Slg. 2003, II-1209; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a. ./. Kommission, Slg. 2002, II-4945; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/ 98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 InterEnvironnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411; EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997.
I.
Grundlagen
Die gemeinschaftsrechtliche Methodenlehre ist ein Unterfall der allgemeinen juristischen Methodenlehre. Sie bildet zu den nationalen Methodenlehren kein aliud, sondern wird durch ihren speziellen Gegenstand in Form des Gemeinschaftsrechts geprägt. Demgemäß stellt sich auch im sekundären Gemeinschaftsrecht das Problem, ob der Richter an den Wortlaut des Gesetzes strikt gebunden ist oder dieses über den Normtext hinaus fortbilden darf. 1.
1
Zur Terminologie des Gemeinschaftsrechts
Nach dem überwiegenden deutschen Sprachgebrauch bildet der noch mögliche Wortsinn des Gesetzes die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.1 Diese terminologische Unterscheidung ist vor allem deshalb sachgerecht, weil dem Normtext eine limitierende Funktion zum Schutz der Rechtsunterworfenen sowie zur Wahrung
1 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 441, 467ff.; Kramer, Methodenlehre, S. 47 ff.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 90 ff. mwN. Jörg Neuner
293
2
2. Teil: Allgemeiner Teil
mitgliedstaatlicher Kompetenzen zufallen kann.2 Der Gerichtshof verwendet allerdings nicht den Begriff „Rechtsfortbildung“, sondern spricht im Anschluß an die französische Methodenlehre ganz pauschal von interprétation.3 Dies mag damit zusammenhängen, daß Französisch die Arbeitssprache des Gerichts bildet. Aber auch in der Sache ist die terminologische Gleichstellung nicht weiter schädlich, solange der Gerichtshof dem Normtext eine eigenständige Bedeutung im Rahmen der Gesetzesinterpretation beimißt.4 Die Kritik am Gerichtshof reduziert sich daher im wesentlichen auf den Vorhalt eines unpräzisen Sprachgebrauchs.
3
Präferiert man stattdessen die differenzierende deutsche Terminologie, ist verstärkt auf die Vermeidung begriffsjuristischer Fehlschlüsse zu achten. Diese Gefahr besteht insbesondere bei der Übertragung der klassischen „Dreistufensystematik“ 5 von Gesetzesauslegung, Gesetzesergänzung und unzulässiger Gesetzesderogation auf die gemeinschaftsrechtliche Methodik. Die Qualifizierung einer Rechtsprechung als Auslegung besagt nur, daß sie sich innerhalb des möglichen Wortsinns bewegt, ist aber noch kein hinreichender Legitimationsnachweis. Auch der Lückenbegriff ist eine bloße Umschreibung der Zulässigkeitskriterien praeterlegaler Rechtsfindung und ersetzt nicht die erforderlichen gemeinschaftsrechtlichen Wertungen. Ebenso bleibt das Dogma vom Verbot des contra-legem-Judizierens begründungsdefizitär,6 solange nicht die maßgeblichen Sachgesichtspunkte zugunsten einer Gesetzesbindung benannt werden. 2.
4
Zur Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts
Versucht man, die Voraussetzungen und Grenzen einer Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts näher zu bestimmen, ist zunächst der Begriff der „Autonomie“ von zentraler Bedeutung. Sowohl der Geltungsgrund 7 als auch die Auslegung 8 des Gemeinschaftsrechts werden vielfach mit dem Attribut „autonom“ gekennzeichnet,
2 Siehe speziell zur Erforderlichkeit der Wortsinngrenze im Gemeinschaftsrecht auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004), S. 25 f.; Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 3 Vgl. nur Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 289ff., 394f., 607; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 39; Wank, FS Stahlhacke (1995), S. 635 mwN. 4 Eine Auswertung aller im Jahr 1999 veröffentlichten Entscheidungen des EuGH hat ergeben, daß die grammatische Auslegung die zweithäufigste Argumentationsform (nach dem Verweis auf die frühere Rechtsprechung) darstellt; vgl. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 64 ff.; dies., EuR 2004, 345, 349 ff.; siehe zur Bedeutung des Normtextes ferner auch Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 168 ff. m.umf.N. 5 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung (1969), S. 221. 6 Siehe z.B. Calliess, NJW 2005, 929, 932. 7 Vgl. nur EuGH v. 21.5.1987 – Rs. 249/85 Albako, Slg. 1987, I-2345 Rn. 14; EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269 ff. 8 Vgl. EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; zuletzt EuGH v. 17.3.2005 – Rs. C-170/03 Feron, Slg. 2005, I-2299 Rn. 26.
294
Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
so daß es nahe liegt, die Fortbildungsoptionen des sekundären Gemeinschaftsrechts ebenfalls autonom, d.h. losgelöst von den mitgliedstaatlichen Standards, zu bestimmen. Diese Schlußfolgerung ist aufgrund des prinzipiellen Vorrangs sowie des besonderen Integrationstelos des Gemeinschaftsrechts im Ansatz zutreffend, doch sind einige Relativierungen veranlaßt. Als erstes ist in geltungstheoretischer Hinsicht hervorzuheben, daß das Gemeinschaftsrecht jedenfalls nach dem derzeitigen Legitimationsstand immer noch auf einem innerstaatlichen Anwendungsbefehl beruht,9 der seinerseits nach mitgliedstaatlichen Methodenstandards zu interpretieren ist. Zweitens ist in Bezug auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts signifikant, daß es eine separate „EU-Sprache“ nicht gibt.10 Der Gerichtshof muß deshalb die offiziellen Landessprachen gem. Art. 314 EG gleichwertig berücksichtigen und im Rahmen der grammatischen Interpretationsmethode einen entsprechenden Textvergleich vornehmen. Materiellrechtlich kommt als drittes hinzu, daß die Gemeinschaft in Art. 6 Abs. 1 EU die tradierten mitgliedstaatlichen Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit übernimmt, was sich ebenfalls auf die Kompetenzen der Judikative auswirkt. Die Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind also primär aus dem Gemeinschaftsrecht herzuleiten, doch es gibt Parallelen und Interdependenzen zu den Methodenstandards sowie zu den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen in den Mitgliedstaaten. 3.
5
Zur Besonderheit des Gemeinschaftsrechts
Aus methodischer Sicht weist das Gemeinschaftsrecht vor allem zwei Eigenarten auf: Zum einen die Mehrsprachigkeit und zum anderen die begrenzte Regelungskompetenz. Beide Phänomene sind allerdings nicht neuartig, sondern bekannte rechtstheoretische Herausforderungen. So wird das Problem der Mehrsprachigkeit bereits in Art. 33 Abs. 4 der Wiener Vertragsrechtskonvention angesprochen und stellt sich gleichermaßen in Nationalstaaten mit verschiedenen Amtssprachen, wie etwa der Schweiz.11 Konkurrierende Rechtsordnungen und deren interpretatorische Abgrenzung sind ebenfalls kein Novum. Aus der Geschichte ist nur an das Verhältnis des ius commune zum Statutarrecht zu erinnern.12 Ein aktuelles Beispiel bildet der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern gem. Art. 72, 74 GG. Mit der Diskussion über die Möglichkeiten einer Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts betritt man also kein methodisches „Neuland“, sondern kann auf breite rechtstheoretische Vorarbeiten aufbauen.
9 Vgl. näher Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 174 ff.; siehe zur aktuellen Diskussion auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 229 ff. 10 Siehe hierzu auch Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 44 f. 11 Siehe z.B. Kramer, Methodenlehre, S. 68 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 136ff., 150ff.; Schubarth, LeGes 2001, S. 49 ff., der die Mehrsprachigkeit als „große Chance“ und „echte Bereicherung“ betrachtet und betont, daß „sprachliche Minderheiten (nicht) ignoriert werden“ (aaO, S. 49). 12 Siehe näher Schröder, Recht als Wissenschaft (2001), S. 19 ff., 67 ff., 157 ff. mwN. Jörg Neuner
295
6
2. Teil: Allgemeiner Teil
II. 7
Ebenso wie die nationalen Gerichte ist auch der Gerichtshof prinzipiell zur Rechtsfortbildung legitimiert.13 1.
8
Die rechtsprechende Gewalt
Die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung folgt sowohl aus den überlieferten Grundsätzen des Art. 6 Abs. 1 EU als auch aus der speziellen Regelung des Art. 220 EG, wonach die „Wahrung des Rechts“ dem Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz obliegt.14 Flankierend dazu ist auf die entsprechende Intention der Gründungsmitglieder zu verweisen 15 und hervorzuheben, daß das etablierte Richterrecht für die heutigen Beitrittskandidaten gem. Art. 2 Abs. 1 Sps. 5, Art. 3 Abs. 1, Art. 43 Abs. 1 lit. c EU zum verbindlichen acquis communautaire zählt.16 An Überzeugungskraft verliert hingegen der Hinweis auf den dynamisch-evolutionären Integrationsansatz des EG-Vertrages,17 da die Funktionsfähigkeit der Union mittlerweile als gesichert erscheint.18 2.
9
Die Befugnis zur Rechtsfortbildung
Die gesetzgebende Gewalt
Obgleich die Befugnis des Gerichtshofs zur Fortbildung des Rechts weitgehend anerkannt ist,19 folgt hieraus keine gesetzgeberähnliche Kompetenz. Wie insbesondere die Art. 220 ff. EG belegen, beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung.20 Funktionell ist kennzeichnend, daß der Gerichtshof über kein eigenes Initiativrecht verfügt 21 und auf den Dialog mit den Verfahrensbeteiligten angewiesen ist. Institutionell fehlt den Richtern eine unmittelbare demokratische Legitimation 22 und organisatorisch die Ausstattung, um legislative Aufgaben wahrnehmen zu können. Zu einer Rechtsetzung in Form abstrakt-genereller Regelungen ist der Gerichtshof somit nicht berufen.
13 Zur nationalen Rechtslage siehe näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 47 ff. mwN. 14 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 221; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91ff.; siehe zudem unten bei Rn. 40. 15 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 67 mwN. 16 Vgl. Stellungnahme der Kommission v. 19.1.1972, ABl. 1972 Nr. L 73/3; Ott, EuZW 2000, 293ff. mwN. 17 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296 mwN. 18 Vgl. auch Streinz, ZEuS 2004, 387, 412; Nessler, RIW 1993, 206, 213. 19 Siehe z.B. auch BVerfGE 75, 223, 242 ff. 20 Siehe dazu auch Everling, RabelsZ 50 (1986), 193, 208; Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 297; Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 213. 21 Siehe näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 172. 22 Vgl. nur Everling, JZ 2000, 217, 221.
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Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
3.
Die faktische Gewalt
Trotz dieser grundsätzlichen Begrenzung der richterlichen Kompetenz auf die Einzelfallentscheidung entfaltet die Judikatur des Gerichtshofs im Rechtsleben eine sehr breite Wirkung und bildet eine faktische Rechtsquelle. Die Unionsbürger orientieren sich an den Urteilen des Gerichtshofs und erwarten Rechtssicherheit durch eine Gleichbehandlung ähnlicher Fälle.23 Der Gerichtshof hat deshalb verallgemeinerbare Rechtsregeln auf einer „mittleren Abstraktionshöhe“ zwischen Norm und Fallentscheidung zu formulieren.24 Um legitime Kontinuitätserwartungen der Rechtsunterworfenen nicht zu enttäuschen, sind auch gelegentliche obiter dicta zulässig. Im Grundsatz ist jedoch allein über den anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Angesichts dieser regelmäßigen Beschränkung auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung besteht für nachfolgende Verfahren auch keine strenge Präjudizienbindung im Sinne der stare decisis-Doktrin, zumal sonst für jede Rechtsprechungsänderung ein aufwendiges Gesetzesänderungsverfahren 25 nötig wäre.26
10
III. Die Schranken der Rechtsfortbildung Ungeachtet seiner prinzipiellen Kompetenz zur Rechtsfortbildung unterliegt der Gerichtshof im Regelfall der Bindung an das Gesetz. Darüber hinaus können auch Präjudizien die Entscheidungsfreiheit des Gerichtshofs einschränken. 1.
Die Bindung an das Gesetz
Die Gesetzesbindung hat eine kompetentielle, eine inhaltliche und eine zeitliche Dimension. a)
12
Die kompetentielle Dimension
Kompetentiell ist kennzeichnend, daß der Gerichtshof nicht nur an die Entscheidungen des Gemeinschaftsgesetzgebers gebunden ist, sondern zugleich auch dessen beschränkte Regelungszuständigkeit berücksichtigen muß. aa)
11
13
Das institutionelle Gleichgewicht
Das Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ bildet das gemeinschaftsrechtliche Pendant zur klassischen Gewaltenteilung.27 Es legt das Kompetenzgefüge der 23 Hinzu kommt eine Begründungspflicht; vgl. näher Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 116 f., 141ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 175ff. mwN. 24 Vgl. Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien (1986), S. 123ff.; Schulze/Seif, in: dies. (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 8. 25 Siehe zu den besonderen gemeinschaftstypischen Schwierigkeiten einer Gesetzesänderung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 585 ff. 26 Vgl. Seif, FS Schlüchter (2002), S. 137 f.; siehe zudem auch unten bei Rn. 23. 27 Vgl. EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-345/00 FNAB u.a., Slg. 2001, I-3811 Rn. 41 f.; EuGH v. 22.5. 1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21 ff.; zu den Unterschieden Jörg Neuner
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14
2. Teil: Allgemeiner Teil
Gemeinschaftsorgane untereinander fest und wirkt sich zugleich auf die Freiheit der Unionsbürger sowie den Einflußbereich der Mitgliedstaaten aus. Für die dritte Gewalt folgt aus dem Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“, daß sowohl der Ermessensspielraum der Verwaltung zu respektieren ist,28 als auch die Entscheidungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, da letzterer sonst als Rechtsbildungsinstanz funktionslos bliebe. bb)
15
Im Unterschied zu den Mitgliedstaaten verfügt die EU nicht über eine KompetenzKompetenz; vielmehr gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung.29 Eine zusätzliche Einschränkung bewirkt das Prinzip der Subsidiarität gem. Art. 5 Abs. 2 EG. Dem Gerichtshof obliegt die Aufgabe, die Einhaltung dieser Kompetenzregel durch die Exekutive und Legislative zu kontrollieren. Umstritten ist, ob der Gerichtshof im Rahmen rechtsfortbildender Judikate das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls beachten muß.30 Eine justitielle Bindung wird dabei insbesondere mit dem Argument verneint, daß die europäischen Gerichte für die ihnen zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten eine ausschließliche Kompetenz besitzen.31 Diese Ansicht überzeugt nicht, da ein Urteilsspruch, der das Subsidiaritätsprinzip mißachtet, auf das Zuständigkeitsgefüge gleichermaßen einwirkt wie ein analoger Legislativakt. Die Judikative ist zwar kein „Ersatzgesetzgeber“, doch wird bei der konkret-individuellen Entscheidungsfindung unter eine abstrakte Norm subsumiert, für deren Erlaß allein die Mitgliedstaaten zuständig sind. Auch wertungsmäßig macht es keinen Unterschied, ob der Gemeinschaftsgesetzgeber beispielsweise den Anwendungsbereich einer Richtlinie unzulässig weit faßt oder ob der Gerichtshof eine entsprechende Extension richterrechtlich vornimmt. Insgesamt dürfen die europäischen Gerichte somit keine Rechtsfolge festlegen, die nicht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber als Norm erlassen dürfte.32 b)
16
Die konkurrierende Regelungszuständigkeit
Die inhaltliche Dimension
Die kompetentielle Bindung des Gerichtshofs an das Gemeinschaftsrecht wirft die Anschlußfrage auf, was unter jener Verpflichtung im Detail zu verstehen ist. Diese Thematik gehört zwar im Kern zu dem Problemkreis der „Auslegung“, doch hängt die Feststellung einer Gesetzeslücke von der Methode der Gesetzesinterpretation ab. Ebenso setzt das Urteil über eine Normderogation eine Interpretation des Gesetzes
28 29 30 31 32
zur herkömmlichen Gewaltenteilung siehe näher Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 353ff.; Rodriguez Iglesias, NJW 2000, 1889. Vgl. nur Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 412f. Siehe dazu näher Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 149 ff. Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 303. Vgl. von der Groeben/Schwarze-Zuleeg, Art. 5 EGV Rn. 34; Lenz/Borchardt-Langguth, EUV/EGV (3. Aufl. 2003), Art. 5 EG Rn. 27; Hirsch, FS Odersky (1996), S. 200. Vgl. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 66, 500 ff.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 325.
298
Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
voraus. Es sind daher an dieser Stelle zumindest zwei knappe Bemerkungen zur Wortsinngrenze sowie zum Ziel der Auslegung geboten. aa)
Die Wortsinngrenze
Der Wortlaut des Gesetzes ist nicht nur Ausgangspunkt der Interpretation,33 sondern es fällt ihm auch eine Begrenzungsfunktion zu. Namentlich bei Analogieverboten kann der noch mögliche Wortsinn eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Darüber hinaus begründet der Normtext ganz generell einen Vertrauenstatbestand für die Rechtsunterworfenen, den es bei einer Rechtsfortbildung zu berücksichtigen gilt. Im Gemeinschaftsrecht besteht dabei die Besonderheit, daß es verschiedene gleichwertige Vertragssprachen gibt. Diese Mehrsprachigkeit führt indes zu keiner prinzipiellen Verringerung der Begrenzungsfunktion des Wortlauts.34 Entsprechend den Bedeutungsvarianten der verschiedenen Sprachfassungen existieren vielmehr zusätzliche Möglichkeiten einer Grenzziehung, die es im Einzelfall zu bewerten gilt. In Betracht kommen insbesondere ein Vorrang der Mehrheit der übereinstimmenden Sprachfassungen, ein Vorrang des gemeinsamen Minimums aller Sprachfassungen sowie die Maßgeblichkeit jener Sprachfassung, die den Unionsbürger am wenigsten belastet.35 Weitere Varianten sind denkbar und jeweils vor dem Hintergrund der konkreten Schutzbedürfnisse der Rechtsunterworfenen sowie unter Berücksichtigung des Kompetenzgefüges der Gemeinschaft als Schranke richterlicher Rechtsfortbildung in Erwägung zu ziehen. bb)
17
Die gesetzgeberische Regelungsabsicht
Ebenso wie in der nationalen Methodendiskussion wird in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht die traditionelle Kontroverse über das Ziel der Auslegung geführt.36 Richtigerweise ist auch im sekundären Gemeinschaftsrecht primär die gesetzgeberische Regelungsabsicht maßgebend. Hierfür sprechen insbesondere die Prinzipien der Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts. Auch im Interesse der Methodenklarheit ist ein zweistufiges Verfahren indiziert, das zunächst eine Rekonstruktion der gesetzgeberischen Regelungsabsicht verlangt und sodann eine Offenlegung und Gewichtung jener Gründe, die eine Abweichung legitimieren sollen. Die Erforschung des historischen Gesetzgeberwillens wird dabei im sekundären Gemeinschaftsrecht insofern erleichtert, als nach Art. 253 EG eine Begründungspflicht für Rechtsakte besteht und zudem nach Art. 207 Abs. 3, 255 EG die Dokumente des Rates der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind.37 33 Entsprechend verfährt auch der EuGH; vgl. Colneric, ZEuP 2005, 225, 226 f.; Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 77 mwN. 34 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen nationalen Rechts, S. 157. 35 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 234 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 153 ff. mwN. 36 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 mwN. 37 Einzelheiten bei Streinz-Hummer/Oberwexer, Art. 207 EGV Rn. 59 ff.; Streinz-Gellermann, Art. 255 EGV Rn. 1ff. Jörg Neuner
299
18
2. Teil: Allgemeiner Teil
c)
19
Gesetze können des Weiteren auch schon vor ihrem Inkrafttreten eine Rechtsfortbildungsschranke begründen.38 aa)
20
Die Vorwirkung
Für den Gerichtshof ergibt sich die Pflicht zur Berücksichtigung von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen aus dem Prinzip der Gemeinschaftsverfassungsorgantreue.39 Eine Sperrwirkung entsteht in der Regel erst mit der Veröffentlichung des zukünftigen Legislativakts im Amtsblatt der EG gem. Art. 254 Abs. 1 EG.40 Ein früherer Zeitpunkt scheidet grundsätzlich aus, weil es bis dahin noch zu Abänderungen kommen kann oder noch überhaupt kein Konsens erzielt wurde. Inhaltlich führt die Sperrwirkung zu keinem generellen Rechtsfortbildungsverbot, sondern nur zu dem Gebot, das intendierte gesetzgeberische Ziel nicht zu vereiteln. Der EuGH hat eine solche Sperrwirkung in seiner grundlegenden Entscheidung Inter-Environnement Wallonie für die Vorwirkung von Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsverfahren bereits formuliert.41 Dieser am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Maßstab ist sachgerecht und als generelle Rechtsfortbildungsschranke geeignet, zumal er eine Parallele im völkerrechtlichen Frustrationsverbot gem. Art. 18 Wiener Vertragsrechtskonvention findet. Neben einer Sperrwirkung können zukünftige Normen eine Rechtsfortbildung auch positiv im Sinne einer „Rechtsgewinnungsquelle“ 42 inspirieren sowie legitimieren, sofern sie Ausdruck eines Konsenses sind und damit zugleich Rechtssicherheit vermitteln. bb)
21
Die zeitliche Dimension
Die Rückwirkung
Im Unterschied zur Vorwirkung beruht die Rückwirkung auf dem Anwendungsbefehl eines in Kraft befindlichen Gesetzes. Dieses ist prinzipiell bindend, solange es nicht wegen eines Primärrechtsverstoßes für nichtig erklärt wurde.43 Wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Racke feststellte, verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Regel eine (echte) Rückwirkung, es sei denn, die Rückwirkung ist gemessen am angestrebten Ziel erforderlich und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen wird gebührend beachtet.44 38 Siehe zur Vorwirkung von Gemeinschaftsrecht ausführlich Neuner, in: Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f. 39 Vgl. näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 213 ff. 40 Vgl. auch Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f.; Messerschmidt, ZG 1993, 11, 22 ff., 28 ff. 41 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 35ff., 44f.; ebenso EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67; zustimmend Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102. 42 Ausdruck nach Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 9. 43 Siehe dazu auch unten Rn. 40 ff. 44 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69 Rn. 20; jüngst EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-459/02 Gerekens und Procola, Slg. 2004, I-7315 Rn. 22 f.; EuGH v. 22.11.2001 –
300
Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
2.
Die Bindung an das Präjudiz
Die richterlichen Rechtsfortbildungsoptionen werden nicht nur durch legislative Vorgaben, sondern auch durch Präjudizien begrenzt. a)
22
Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit
Im Unterschied zum common law gibt es im Gemeinschaftsrecht keine strikte Präjudizienbindung im Sinne einer Rechtsfortbildungssperre.45 Dadurch wird der Gefahr einer Versteinerung der Rechtsprechung vorgebeugt und es können sich verbesserte Rechtserkenntnisse durchsetzen. Folgerichtig sieht sich auch der Gerichtshof durch anders lautende Urteile nicht prinzipiell an einer Rechtsfortbildung gehindert.46 b)
23
Der Grundsatz des Vertrauensschutzes
In der Regel orientiert sich der EuGH indes an seiner früheren Rechtsprechung. Diese Selbstbindung ist im Interesse der Rechtsunterworfenen auch geboten, da Präjudizien, ebenso wie Legislativakte, einen herausragenden Vertrauenstatbestand bilden können.47 Ein Vertrauenstatbestand kann dabei schon mit einem einzigen Urteil begründet werden und verfestigt sich im Rahmen einer ständigen Rechtsprechung. Er nimmt noch an Intensität zu, wenn die Rechtsprechung von der Wissenschaft weitgehend konsentiert wird. Ein Schutz des Vertrauens kann allerdings auch hinfällig sein,48 wenn ein Urteil keinen Vertrauenstatbestand verkörpert, weil es zum Beispiel in sich widersprüchlich ist. Das gleiche gilt, wenn Gründe in der Person des Vertrauenden entgegenstehen. Dies ist beispielsweise bei einem treuwidrigen Verhalten der Fall.
24
Die von den Präjudizien des Gerichtshofs ausgehenden Kontinuitätserwartungen sind also keine feststehende, sondern eine variable Größe, die es gegen den konkurrierenden Anspruch auf die materiell an sich gebotene Entscheidung abzuwägen gilt.49
25
IV.
Die Methodik der Rechtsfortbildung
Jenseits der Wortlautgrenze werden von der traditionellen deutschsprachigen Methodenlehre die Bereiche praeter und contra legem unterschieden.50 Contralegal kann allerdings auch innerhalb der Wortlautgrenze judiziert werden, wenn bei mehreren
45
46 47 48 49 50
Rs. C-110/97 Niederlande ./. Rat, Slg. 2001, I-8763 Rn. 151; siehe ferner auch Streinz-Kopp, Art. 34 EGV Rn. 106 ff. mwN. Vgl. auch Langenbucher, JbJZ 1999, S. 75 f.; Edward, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 76; Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 69; siehe ferner auch schon oben Rn. 10. Vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 189f. mwN. Vgl. auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 190 ff., 353. Siehe näher Neuner, ZHR 153 (1993), 243, 280 ff. Vgl. Langenbucher, JZ 2003, 1132, 1134 ff.; dies., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht (1996), S. 121 ff. Siehe z.B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. mwN.
Jörg Neuner
301
26
2. Teil: Allgemeiner Teil
möglichen Bedeutungen jene gewählt wird, die nicht der gesetzgeberischen Zweckvorstellung entspricht. Mit der Differenzierung zwischen praeter und contra legem korrespondiert zudem eine unterschiedliche Wertung, je nachdem welchen Gesetzesbegriff man zugrunde legt. Nach der objektiven Auslegungstheorie lassen sich grundsätzlich alle inadäquat erscheinenden Ergebnisse durch eine „objektive“ Auslegung bereinigen, so daß mit der Kennzeichnung „contra legem“ zugleich ein normatives Unzulässigkeitsurteil verbunden ist.51 Folgt man hingegen der subjektiven Auslegungslehre, wird der „contra-legem“-Sektor lediglich durch erhöhte Begründungsanforderungen geprägt. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht ist eine Gesetzesderogation nicht a priori illegitim, sondern in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen zulässig und geboten. 1.
27
Analysiert man zunächst die Voraussetzungen und Grenzen einer praeterlegalen Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts, bietet es sich an, auf das Bild der „Lücke“ als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts … gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“ 52 zurückzugreifen.53 Es ist allerdings unschädlich, wenn der EuGH dieser Terminologie nur vereinzelt folgt,54 solange er die maßgeblichen funktionalen Sachkriterien beachtet. a)
28
Die Lückenfeststellung
In Bezug auf die Feststellung einer Lücke besteht im Gemeinschaftsrecht die Besonderheit, daß nicht die Rechtsordnung als Ganzes, sondern nur die europäische Teilrechtsordnung den Vergleichsmaßstab bildet.55 Im Anschluß an die Terminologie im internationalen Einheitsrecht kann man deshalb interne von externen Lücken unterscheiden56 und beide Systeme entsprechend abgrenzen. aa)
29
Die Rechtsfindung praeter legem
Das externe System
Eine planwidrige Unvollständigkeit des Europarechts kann von vornherein nur in jenem Bereich auftreten, der kompetentiell der Gemeinschaft zugeordnet und nicht den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Nach dem Plan des Gemeinschaftsrechts gelten die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Die Judikative darf deshalb keine Regelungslücke annehmen, sofern nicht auch der Gemeinschaftsgesetzgeber für diesen Fall zu einer Lückenfüllung befugt wäre.57
Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 250 ff. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39, 198. A.A. Flessner, JZ 2002, 14, 21; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254. Der Begriff der „Gesetzeslücke“ wird zum Beispiel verwandt in EuGH v. 19.6.1979 Rs. 180/ 78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49. 55 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 68 ff. mwN. 56 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 ff. 57 Siehe auch schon oben Rn. 15.
51 52 53 54
302
Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
bb)
Das interne System
Eine Rechtsfortbildung praeter legem setzt zudem eine Planwidrigkeit im internen System des Sekundärrechts voraus. Diese Feststellung bemißt sich primär aus der Perspektive des Gemeinschaftsgesetzgebers und hängt davon ab, inwieweit jener eine abschließende Regelung treffen wollte oder nur unvollständig legiferierte. Eine gesetzestechnische Besonderheit bildet dabei im Bereich des Sekundärrechts das Instrumentarium der Richtlinie. Richtlinien können zwar ebenso wie Verordnungen Lücken aufweisen, doch gilt dies nicht, soweit die konkrete Auslegung ergibt,58 daß den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen wird.59 Räumt eine Richtlinie beispielsweise den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen mehreren Regelungsalternativen ein, liegt auf Seiten des Gemeinschaftsrechts keine planwidrige Unvollständigkeit vor. b)
Die Maßstäbe der Lückenausfüllung
Als Mittel zur Ausfüllung von Lücken im Sekundärrecht kommen im wesentlichen der Gleichheitssatz sowie das Primärrecht in Betracht. aa)
30
31
Der Gleichheitssatz
Der positive Gleichheitssatz gebietet, daß gleichartige Tatbestände gleich zu behandeln sind, also die Rechtsfolge R nicht nur für den im Gesetz geregelten Tatbestand T1, sondern analog auch für den gleich liegenden Tatbestand T2 gilt.60 Solche Analogieschlüsse finden sich immer wieder in der Rechtsprechung des EuGH.61 Der Gerichtshof machte im Urteil Krohn 62 die Lückenausfüllung mittels Analogie allerdings von einem Verstoß gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht, insbesondere von einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote, abhängig.63 In jüngeren Entscheidungen haben das EuG und der EuGH auf diese besondere Voraussetzung wieder verzichtet und einen Analogieschluß allein auf systematisch-teleologische Erwägungen 64 sowie den Gleichheitssatz 65 gestützt. Diese Auffassung erscheint auch folgerichtig, da eine
58 Siehe näher Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002), S. 60 ff. 59 Vgl. auch EuGH v. 6.2.2003 – Rs. C-245/00 Sena, Slg. 2003, S. I-1251 Rn. 34; EuGH v. 19.9. 2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; zuletzt EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49; Bultmann, JZ 2004, 1100, 1103 f. 60 Vgl. nur Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 71. 61 Siehe näher Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 321ff. mwN. 62 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14, 23. 63 Siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318ff. mwN. 64 Vgl. EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a. ./. Kommission, Slg. 2002, II-4945 Rn. 131 ff., 153 ff. 65 Vgl. EuG v. 3.4.2003 – verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 Vieira und Vieira Argentina ./. Kommission, Slg. 2003, II-1209 Rn. 163; bestätigt von EuGH v. 13.1.2005 – Rs. C-254/03 Jörg Neuner
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32
2. Teil: Allgemeiner Teil
Rückbindung an das Primärrecht dem Grunde nach nicht erforderlich ist, sofern man den Gleichheitssatz als ein wesentliches Element der Rechtsidee erachtet und damit zu den apriorischen Bestandteilen der Gemeinschaftsrechtsordnung zählt.66 Im Ergebnis dürften diese unterschiedlichen Begründungen eines Analogieschlusses allerdings indifferent bleiben, da zum Primärrecht nicht nur die expliziten Diskriminierungsverbote gehören, sondern auch der induktiv aus diesen Verboten ableitbare allgemeine Gleichheitssatz. Dieser wiederum besagt, daß vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden dürfen, es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wäre.67
33
Der negative Gleichheitssatz verlangt, Ungleichartiges verschieden zu behandeln. Konsequenterweise kennt der EuGH daher nicht nur eine den Wortsinn übersteigende Rechtsfortbildung mittels Analogieschlusses, sondern auch in der Gegenrichtung eine restriktive Interpretation,68 die man nach deutschem Sprachgebrauch als teleologische Reduktion bezeichnet, sofern der Normtext zu weit gefaßt ist und eine erforderliche Einschränkung vermissen läßt. bb)
Das Primärrecht
34
Ebenso wie im nationalen Recht ist im Gemeinschaftsrecht das niederrangige Recht im Lichte des höherrangigen Rechts zu interpretieren. Im Stufenbau des Gemeinschaftsrechts bildet dabei das Primärrecht die lex superior gegenüber dem Sekundärrecht. Diese Normenhierarchie folgt aus dem verfassungsähnlichen Charakter des Primärrechts, insbesondere aus der Regelung des Art. 249 EG über die Rechtsetzungskompetenz auf der sekundären Ebene.69
35
Hinsichtlich der materiellen Vorgaben ist kennzeichnend, daß zum Primärrecht alle rechtsstaatlichen Grundsätze, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, gehören.70 Daneben sind auch die Gemeinschaftsgrundrechte im Rahmen einer primärrechtskonformen Rechtsfindung mit zu berücksichtigen.71
36
Terminologisch kann man im Hinblick auf die Wortlautgrenze zwischen einer primärrechtskonformen Auslegung und einer primärrechtskonformen Rechtsfort-
66 67
68
69 70 71
Eduardo Vieira ./. Kommission, Slg. 2005, I-237 Rn. 65; siehe ferner auch EuGH v. 4.3.2004 – Rs. C-130/02 Krings, Slg. 2004, I-2121 Rn. 34 ff. Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 57, 71 mwN. St. Rspr. EuGH v. 8.10.1980 – Rs. 810/79 Überschär, Slg. 1980, 2747 Rn. 16; EuGH v. 7.7. 1993 – Rs. C-217/91 Spanien ./. Kommission, Slg. 1993, I-3923 Rn. 37; EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Rn. 56; vgl. ferner auch Lenz/Borchardt-Zimmerling, EUV/EGV (3. Aufl. 2003), Anh. zu Art. 6 EU Rn. 67 f., 74; von der Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 87. Vgl. z.B. EuGH v. 4.10.1991 – Rs. C-183/90 van Dalfsen u.a., Slg. 1991, I-4743 Rn. 19 ff.; siehe ferner auch Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 217 ff. mwN. Vgl. auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 323 ff. Vgl. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 127 f. mwN. Vgl. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 128 ff. mwN.
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Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
bildung unterscheiden.72 Eine primärrechtskonforme Interpretation kommt aber nur subsidiär in Betracht, wenn nach Ausschöpfung der herkömmlichen canones eine konkrete Regelungsabsicht nicht rekonstruierbar ist.73 Verfolgt der Gesetzgeber einen primärrechtswidrigen Zweck, darf die rechtswidrige Norm nicht in eine primärrechtskonforme Regelung uminterpretiert werden. Der Gerichtshof hat vielmehr eine rechtswidrige Norm für nichtig zu erklären, und zwar entweder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 234 Abs. 1 lit. b EG oder einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 Abs. 1 EG.74 Dieses Prozedere ist sachlich geboten, weil dem Gemeinschaftsgesetzgeber sonst potentielle Handlungsalternativen abgeschnitten würden und das institutionelle Gleichgewicht durch eine judikative Normsubstitution aus den Fugen geriete.75 c)
Die Grenzen der Lückenausfüllung
Das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist seiner Natur nach nicht analogiefeindlich, obgleich es zum Teil einen Ausnahmecharakter aufweist. Ein Analogieschluß darf zwar ein Regel-Ausnahme-Verhältnis durch die Herausbildung eines allgemeinen Prinzips nicht auf den Kopf stellen, doch sind auch zwei rechtsähnliche Sondertatbestände grundsätzlich gleich zu behandeln.76 Eine Lückenausfüllung scheidet im wesentlichen nur in zwei Fällen aus: aa)
Analogieverbote
Der noch mögliche Wortsinn kann vor allem zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Dies gilt einmal für Regelungen, die eine Bestrafung anordnen oder zumindest einen strafähnlichen Charakter aufweisen.77 Über den Grundsatz nulla poena sine lege stricta hinaus ist ein Analogieverbot ganz generell bei belastenden Eingriffen indiziert.78 So lehnt auch der EuGH namentlich im Abgabenrecht eine analoge Anwendung von Regelungen ab, die den einzelnen Bürger belasten.79 bb)
77 78 79 80
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Unausfüllbare Lücken
Neben Lücken, bei denen eine Ausfüllung aufgrund eines Analogieverbotes unzulässig ist, gibt es Lücken, bei denen eine Ausfüllung rechtlich nicht möglich ist.80 72 73 74 75 76
37
Vgl. auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 197. Siehe auch Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194. Vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. Vgl. auch unten Rn. 42. Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 181; Schilling, EuR 1996, 44, 52 f. mwN. Vgl. EuGH v. 25.9.1984 – Rs. 117/83 Könecke, Slg. 1984, 3291 Rn. 11, 13, 16; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 76f. mwN. Vgl. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 402f.; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 77. EuGH v. 15.12.1987 – Rs. 325/85, Irland ./. Kommission, Slg. 1987, 5041 Rn. 18. Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 172.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Der EuGH sieht sich zu einer Lückenausfüllung außer Stande, wenn bloße Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen sind. Das gleiche gilt, wenn mehrere primärrechtskonforme Regelungsalternativen bestehen.81 Der EuGH verweist zur Lückenausfüllung dann folgerichtig auf die nationalen Gerichte und Gesetzgeber 82 sowie die zuständigen Gemeinschaftsorgane.83 2.
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Mit dem Gebot richterlicher Gesetzesbindung korrespondiert ein grundsätzliches Verbot richterlicher Gesetzesderogation. Der EuGH ist sich dieser Einschränkung bewußt und betont ausdrücklich seine fehlende Kompetenz zur Normkorrektur bei Bestimmungen, die er für unbefriedigend erachtet.84 Wie bei jedem Prinzip gibt es allerdings auch in Bezug auf die richterliche Gesetzesbindung Ausnahmen.85 Folgerichtig bestimmt Art. 220 EG, daß der Gerichtshof das „Recht“ und nicht allein das „Gesetz“ zu wahren hat.86 a)
41
Die Rechtsfindung contra legem
Die Feststellung der Nichtigkeit
Im Gemeinschaftsrecht sind die grundsätzlichen rechtstheoretischen Relativierungen der richterlichen Gesetzesbindung insofern hinfällig, als der EuGH gem. Art. 230 Abs. 1, 234 Abs. 1 lit. b EG eine Norm für nichtig erklären kann.87 Diese Verwerfungskompetenz umfaßt alle Fälle, in denen eine Sekundärrechtsnorm mit dem Primärrecht kollidiert. Den Maßstab bilden dabei insbesondere auch die in den Mitgliedstaaten anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 1 EU.88 81 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 221; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 324ff. 82 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48f.; EuGH v. 11.5.1983 – Rs. 87/82 Rogers, Slg. 1983, 1579 Rn. 21. 83 EuGH v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-310/98 und C-406/98 Met-Trans, Slg. 2000, S. I-1797 Rn. 32; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13. 84 Siehe z.B. EuGH v. 26.4.1972 – Rs. 92/71 Interfood, Slg. 1972, 231 Rn. 5; weitere Nachweise bei Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; kritisch zu einzelnen Entscheidungen namentlich Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 395 ff. mwN. 85 Siehe dazu näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 139 ff. 86 Analoge Formulierungen finden sich auch in den meisten anderen Textfassungen, vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91f. mwN; kritisch zur Interpretation von Art. 220 EG als Rechtsfortbildungskompetenz Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006, S. 145, der sich einerseits vom Normtext des Art. 220 EG löst, um andererseits die (bereits im nationalen Recht verfehlte) These von der notwendigen Rückführung richterlicher Entscheidungen auf Normtexte aufrechterhalten zu können. 87 Vgl. z.B. EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 72; EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755 Rn. 37; siehe zur Kontrolle durch den Gerichtshof auch Everling, FG Gündisch (1999), S. 92ff., mit kritischen Anmerkungen zu dessen relativ weitgehender Zurückhaltung gegenüber dem Gemeinschaftsgesetzgeber. 88 Siehe dazu auch schon Rn. 35.
306
Jörg Neuner
§ 13 Die Rechtsfortbildung
b)
Die Folgen der Nichtigkeit
Eine Nichtigkeitsfeststellung bewirkt in der Regel eine erneute Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers. Dieser kann nunmehr anstelle der nichtigen Norm über rechtmäßige Alternativentscheidungen befinden. Angesichts dieser kompetentiellen Rückverlagerung erweist sich eine Nichtigkeitsfeststellung als der moderateste Eingriff in das Gewaltenteilungsgefüge. Dem trägt die subjektive Auslegungstheorie dadurch Rechnung, daß sie bei einer Abweichung von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht grundsätzlich eine Nichtigkeitserklärung verlangt. Der objektiven Auslegungstheorie gelingt es zwar, eine Nichtigkeitserklärung tendenziell zu vermeiden, doch besteht die Gefahr, daß der Verzicht auf die Normkassation um den Preis einer richterlichen Normsetzung erkauft wird. Der Gerichtshof ist nur ausnahmsweise zu einer eigenen Lückenausfüllung befugt, falls das Primärrecht keine Alternativen eröffnet und eine bestimmte Regelung fordert. c)
Die Einzelfallgerechtigkeit
Ungeachtet der rechtsstaatlichen Standards des Primärrechts kann die sehr seltene Situation eintreten, daß das allgemein gefaßte Sekundärrecht den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht wird. Eine Nichtigkeitserklärung durch den Gerichtshof scheidet in einer solchen Konstellation aus, denn, wie bereits Aristoteles hervorhob, liegt der Fehler hier „weder im Gesetz noch beim Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache“.89 Ein contra-legem-Judizieren kommt also in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen in Betracht, wenn der konkrete Streitfall vom gesetzlich fixierten Normaltypus so eklatant abweicht, daß die Gesetzesbindung zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.
V.
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43
Schlußbetrachtung
Insgesamt bleibt festzuhalten, daß der Gerichtshof auch im Sekundärrecht zur Rechtsfortbildung grundsätzlich befugt ist. Er hat dabei weder die Aufgabe eines „Integrationsmotors“, noch unterliegt er einem judicial self-restraint. Ersteres birgt die Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch eine eigenständige Integrationspolitik, Letzteres die Gefahr der Kompetenzunterschreitung durch eine Mißachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Hinsichtlich der Kompetenzausübung ist es nicht notwendig, daß der Gerichtshof eine bestimmte Methodenterminologie übernimmt, solange die maßgeblichen Sachkriterien beachtet werden.90 Dazu zählen vor allem die Grundsätze der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung sowie das Prinzip des Vertrauensschutzes. Es ist also auch bei der Fortbildung des sekundären Gemeinschaftsrechts in erster Linie auf eine sachgerechte Wertungsjurisprudenz zu achten. 89 Die Nikomachische Ethik (Übersetzung von O. Gigon), 6. Aufl., 1986, 1137a. 90 Siehe im übrigen die berechtigte Forderung von Kühling/Lieth, EuR 2003, 371, 384 nach einer behutsamen Übertragung nationaler dogmatischer Figuren auf gemeinschaftsrechtliche Fragestellungen. Jörg Neuner
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Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht § 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Wulf-Henning Roth
Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rn. 3–36 3–8 3–5 6–8 9–10 11 12–14 15–16 17–24 25–36 26 27–29 30–33 34–36 34 35 36
II. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht . . . . . . . . . . . . . . 1. Richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts . . . . . . . . a) Wille des deutschen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden . . 3. Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel . . . . . . . . . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3 GG . . . b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? . . . . . . . . . . . c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Grenzen der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Normenkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . . . . . . bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht . . . . . . . .
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. . . . . . . . . . . . . . .
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37–60 37–38 37 38 39 40–43 44–45 46–60 47–48 49–51 52 53 54–60 56 57–60
I. Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung der lex fori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats . . . . . . 2. Richtlinien- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . 3. Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 5. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte . . . . . . . . a) „So weit wie möglich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umsetzungsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . a) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen? c) Schranken des nationalen (Verfassungs-) Rechts . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . .
Literatur: Brechmann, Winfried, Die richtlinienkonforme Auslegung – zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie, München 1994; Canaris, Claus-Wilhelm, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Helmut Koziol/
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Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Peter Rummel (Hrsg.) Im Dienste der Gerechtigkeit – Festschrift für Franz Bydlinski, Wien 2002, S. 47–103; Ehricke, Ulrich, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Franzen, Martin, Heininger und die Folgen – ein Lehrstück Gemeinschaftsprivatrecht, JZ 2003, 321–332; Grundmann, Stefan, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechts – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze?, ZEuP 1996, 399–424; Klamert, Marcus, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, Manz 2001; Riesenhuber, Karl/Domröse, Ronny, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre, RIW 2005, 47–54; Prechal, Sacha, Directives in European community law: a study of directives and their enforcement in national Courts, Oxford 1995; Schliesky, Utz, Die Vorwirkung von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien, DVBl 2003, 631–641. Rechtsprechung: EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325; BGH, Urteil v. 9.4.2002 – XI ZR 91/99 („Heininger“), BGHZ 150, 248–263; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; EuGH v. 22.11. 2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981.
Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, welche Konsequenzen sich aus der Existenz von Richtlinien für die Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Dabei sind zunächst die gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu skizzieren (unter I.). Sodann geht es um die Anwendung des Grundsatzes der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen des deutschen Rechts (unter II.).
1
Die richtlinienkonforme Auslegung hat als ihren Gegenstand das nationale Recht. Daher werden im folgenden nicht die Probleme der Auslegung von Richtlinien und ihrer Fortbildung behandelt (dazu unter § 11 und § 13). Ebenso werden zwei weitere Problemkreise ausgeblendet: die Frage der sog. überschießenden Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht (dazu § 15) und die Rollenverteilung zwischen dem Gerichtshof und den Organen der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in den Richtlinien (dazu § 12).
2
I.
Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben
1.
Grundlagen im Gemeinschaftsrecht
a)
Auslegung der lex fori
Seit langem geht der Gerichtshof (EuGH) von einer aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte aus, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen.1 Diese Verpflichtung folgt nach ständiger Rechtsprechung aus Art. 249 Abs. 3 EG 2 und zusätzlich aus Art. 10 EG.3 1 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26. 2 Zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113, vgl. auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 34 (zum gleichlautenden Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU). 3 Etwa in EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 14.7. 1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26 u.ö. Wulf-Henning Roth
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3
2. Teil: Allgemeiner Teil
4
Art. 249 Abs. 3 EG statuiert die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, die Vorgaben einer Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Diese Verpflichtung richtet sich nicht nur an den Mitgliedstaat selbst, sondern auch an seine Untergliederungen (z.B. Länder und Kommunen).4 Sie ist nicht auf den Gesetzgeber beschränkt, sondern erstreckt sich auf die Gerichte gleichermaßen, alle allgemeinen und besonderen Maßnahmen zu treffen, die für die Zielverfolgung von Bedeutung sind.5 Im Hinblick auf die aus Art. 249 Abs. 3 EG und aus der Richtlinie folgenden „zwingenden Pflicht“ zur Umsetzung 6 ist für die Bindung der Gerichte an die Richtlinienvorgaben ein Rückgriff auf die Kooperationsverpflichtung des Art. 10 EG nicht vonnöten.7 Letztere hat allein ergänzenden Charakter.8
5
Die Verpflichtung, das nationale Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen, erschöpft sich nicht in dem (korrekten) legislativen Umsetzungsakt, ist also keine einmalige, nach Inkrafttreten der Richtlinie sich ergebende Aufgabe, sondern eine fortdauernde Verpflichtung, die den Gesetzgeber bei all seiner künftigen Tätigkeit bindet. Die Gerichte haben das nationale (umgesetzte) Recht im Lichte der Richtlinien auszulegen, – und auch dies ist als eine fortwährende Pflicht der Gerichte zu verstehen – die Vorgaben der Richtlinien bei der Auslegung in der Zukunft zu beachten. Dies hat Konsequenzen vor allem dann, wenn die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH eine Konkretisierung bzw. Änderung erfährt: Die aus Art. 249 Abs. 3 EG resultierende Pflicht, alle zur Erreichung des durch die Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, impliziert auch die Verpflichtung für die nationalen Gerichte, in der Auslegung des eigenen nationalen Rechts die Konkretisierungen und Änderungen in der Auslegung des Richtlinienrechts durch den EuGH nach zu vollziehen. b)
6
Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats
Art. 249 Abs. 3 EG reicht als Geltungsgrund für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung nicht aus, soweit das Gericht eines Mitgliedstaates das Recht eines anderen Mitgliedstaates aufgrund einer kollisionsrechtlichen Regelung anzuwenden hat. Da sich die Umsetzungsverpflichtung an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten
4 EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 55; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 92. 5 Z.B. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 6 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 7 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40 stellt insoweit auch nur auf Art. 249 Abs. 3 EG ab; ebenso EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. Zutreffend erscheint eine Berufung auf Art. 10 EG, wenn der Gerichtshof die nationalen Verwaltungsbehörden der Verpflichtung unterwirft, im Rahmen ihres Verfahrensrechts alles zu tun, um der (nicht umgesetzten) Richtlinie zur Geltung zu verhelfen; z.B. EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 65. 8 Der Gerichtshof beruft sich auf Art. 10 EG, um – über die Bindung an Art. 249 Abs. 3 EG hinausgehend – die Mitgliedstaaten zu verpflichten, „alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen“.
310
Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
richtet, trifft die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung die Gerichte immer nur im Hinblick auf die lex fori: 9 Ein deutsches Gericht ergänzt durch seine Auslegung die Tätigkeit des eigenen (deutschen) Gesetzgebers und ist in dieser Tätigkeit durch die (verfassungsmäßige) Rollenverteilung zwischen Judikative und Legislative eingeschränkt. Bei der Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates steht das deutsche Gericht nicht in der Pflicht aus Art. 249 Abs. 3 EG, geht es doch nicht um die Fortbildung deutschen Rechts. Kraft der Verweisung muß das deutsche Gericht vielmehr in die Rolle des Gerichts des jeweils anderen Mitgliedstaates schlüpfen und das Recht dieses Staates so auslegen und anwenden, wie es Gerichte dieses Staates tun 10 bzw. tun würden.11 Aufgrund der Loyalitätspflicht des Art. 10 EG (und nicht des Art. 249 Abs. 3 EG) wird man aber eine weitergehende Rolle der Gerichte der Mitgliedstaaten insoweit annehmen müssen, als die Gerichte im Rahmen einer Verweisung auf das ausländische Recht bei dessen Auslegung auch die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und insbesondere das Gebot richtlinienkonformer Auslegung, das auch für die Gerichte des anderen Mitgliedstaates gilt, zumindest insoweit in Betracht zu ziehen haben,12 wie dies die Gerichte dieses Staates kraft ihrer Stellung im Verhältnis zur Legislative tun können. Insoweit wird für die richtlinienkonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates im Grundsatz dasjenige nachvollzogen, was in ähnlicher Weise für das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates gilt: Der Gerichtshof ist schon bisher davon ausgegangen, daß die mitgliedstaatlichen Gerichte – in ihrer Funktion als Gemeinschaftsgerichte – die Rechtssätze des inländischen Rechts wie diejenigen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht überprüfen müssen.13 Und Generalanwalt Alber hat in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache Lennox diese Position noch einmal mit Nachdruck vertreten.14
9 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), S. 879; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, S. 195. 10 BGH, NJW 1992, 3106; BGH, NJW 2003, 2685. 11 Dies schließt eine Fortbildung des ausländischen Rechts nicht aus; Palandt-Heldrich, Einl. vor Art. 3 EGBGB Rn. 34. Eingehender MünchKommBGB-Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 639–641. 12 Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191, scheint annehmen zu wollen, daß Art. 10 EG den Verweisungsbefehl des Gesetzgebers auf das ausländische Recht im Sinne einer Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung mit prägt. 13 Z.B. EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 Foglia, Slg. 1981, 3045 Rn. 30; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 (belgischer Kaufvertrag; Vereinbarkeit der spanischen Abfüllregelung mit Art. 29 EG als Vorfrage); vgl. auch den Sachverhalt in EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-318/00 Bacardi-Martini, Slg. 2003, I-905. 14 GA Alber, Schlußanträge – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2003, I-7091 Tz. 83–86: Vorrang des Gemeinschaftsrechts muß sich auch gegenüber dem Recht eines anderen Mitgliedstaates durchsetzen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, daß die Gerichte im Rahmen des Vorlageverfahrens gem. Art. 234 EG besonders sorgfältig begründen müssen, aus welchem Grunde sie ausländisches Recht mit dem Gemeinschaftsrecht für unvereinbar halten; vgl. EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 der Weduwe, Slg. 2002, I-11319 Rn. 38. Wulf-Henning Roth
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7
2. Teil: Allgemeiner Teil
8
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Verweist deutsches Recht auf einen Rechtssatz eines anderen Mitgliedstaates, der mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, ist nicht etwa die Verweisung auf das ausländische Recht gemeinschaftsrechtswidrig. Vielmehr ist im Rahmen des ausländischen Sachrechts nach einer Lösung zu suchen, die zu einem gemeinschaftsrechtskonformen Ergebnis führt. Hier wird oftmals mit dem Mittel der Angleichung, also der Umformulierung des ausländischen Rechtssatzes oder aber der Bildung eines ergänzenden Rechtssatzes, wie dies aus der ordre public-Kontrolle gem. Art. 6 EGBGB bekannt ist,15 geholfen werden können. Nur ganz hilfsweise ist auf die lex fori zurückzugreifen.16 2.
9
Richtlinien- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Im Urteil Pfeiffer deutet der Gerichtshof – meines Wissens erstmals – das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung als einen (Unter-) Fall des Gebots der „gemeinschaftsrechtskonformen“ Auslegung.17 Im Schrifttum ist dagegen vor allem die Unterschiedlichkeit beider Institute in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen betont worden:18 Während die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung – bei Anwendung des primären Gemeinschaftsrechts 19 – auf dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts beruht und in seiner Rechtsfolge notfalls zur Unanwendbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts im konkreten Fall führt, nimmt die richtlinienkonforme Auslegung – außerhalb des Bereichs der unmittelbaren Anwendung einer Richtlinienbestimmung – am Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht teil und führt auch nicht zur Unanwendbarkeit richtlinienwidrigen nationalen Rechts.20 Diese Unterschiede in der Einwirkung des primären Gemeinschaftsrechts auf das nationale Recht einerseits und des (nicht unmittelbar anwendbaren) Richtlinienrechts andererseits werden jedoch keineswegs in Abrede gestellt, wenn man, wie der Gerichtshof es tut, die richtlinienkonforme Auslegung als Unterfall des Gebots der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung begreift, gibt es doch neben dem primären Gemeinschaftsrecht und den Richtlinien auch noch andere Rechtsakte und Verlautbarungen der Gemeinschaft, die nach einer Berücksichtigung auf der Ebene des nationalen Rechts verlangen.21 Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung läßt sich daher als Oberbegriff
15 Heidel/Hüßtege/Mansel/Noack-Schulze, Anwaltkommentar BGB Band 1: Allgemeiner Teil mit EGBGB (1. Auflage 2005), Art. 6 EGBGB Rn. 30. 16 MünchKommBGB-Sonnenberger, Art. 6 EGBGB Rn. 95. 17 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. Der Begriff der „gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung“ wird wiederholt im Urteil Pupino verwendet; EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 32, 34, 38, 43, 47. 18 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 299 f. mwN; zuletzt Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. ; zuletzt Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 19 Z.B. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673. 20 Dies entspricht – entgegen der insoweit mißverständlichen Tenorierung in EuGH v. 13.11. 1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – der st. Rspr. des Gerichtshofs. 21 Als jüngstes Beispiel EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 34: Verpflichtung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung aufgrund eines Rahmenbe-
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Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
für in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen durchaus unterschiedliche Formen der Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts verstehen, die alle darauf abzielen, dem Gemeinschaftsrecht in seiner Vielfalt der Rechtsquellen (dazu § 7) zur Beachtung zu verhelfen. Im Urteil Pfeiffer wird das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung als dem EG-Vertrag „immanent“ beschrieben.22 Damit wird für die richtlinienkonforme Auslegung nicht die Legitimationsgrundlage ausgewechselt. Da sich die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht mit Art. 249 Abs. 3 EG begründen läßt, bedarf es für sie – mangels ausdrücklicher Regelung im EG-Vertrag – in der Tat eines Bezuges auf Ziele und Zwecke des Vertrages im Allgemeinen. Diese Begründung entwertet aber nicht die Verankerung der richtlinienkonformen Auslegung in Art. 249 Abs. 3 EG.23 3.
10
Zeitpunkt
Für die Umsetzung der Richtlinienvorgaben gilt die in der jeweiligen Richtlinie vorgegebene Umsetzungsfrist. Dies bedeutet für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, daß diese erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist eingreift. Dies ist in der Rechtsprechung des EuGH (jedenfalls bisher) anerkannt.24 Damit ist eine Richtlinie im Stadium vor Ablauf der Umsetzungspflicht jedoch keineswegs völlig bedeutungslos. Zwar greift noch nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus Art. 249 Abs. 3 EG, doch kommt für den Gesetzgeber die auf Art. 10 EG beruhende Loyalitätspflicht 25 der Mitgliedstaaten ins Spiel: Der Mitgliedstaat hat alle Maßnahmen zu unterlassen, die geeignet sind, das von den Richtlinien angestrebte Ziel ernsthaft in Frage zu stellen.26 Für die mitgliedstaatlichen Gerichte ist eine gleichlaufende Pflicht zwar anzunehmen, doch sind Judikate nur schwer vorstellbar, die eine solche Gefahr heraufbeschwören könnten.27 Im übrigen ist es allein eine Frage des nationalen Rechts, ob die Gerichte schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie bei der Auslegung ihres nationalen Rechts berücksichtigen können.28 Dies gilt auch für
22 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. 23 Von Interesse ist allein, daß der Gerichtshof das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung mit dem Gedanken der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts verknüpft und begründet und dabei die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. S. auch schon EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 34. 24 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 31; ebenso BGHZ 138, 55, 61. Davon abweichen will GA Tizzano, Schlußanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 115 ff. Dem ist EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. in der Begründung und in der Sache nicht gefolgt. 25 Dazu die Nachweise bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 296 Fn. 34. 26 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment-Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 45; weitergehend Bühring/Lang, ZEuP 2005, 88. 27 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102. 28 Dazu BGHZ 138, 55, 61. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
den Fall, daß der Gesetzgeber die Richtlinie rechtzeitig umgesetzt hat und nun das Gericht das Umsetzungsrecht auszulegen hat. 4.
12
Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit
Im Schrifttum wird die große Bedeutung der richtlinienkonformen Auslegung für diejenigen Fälle betont, in denen die Richtlinienvorschriften keine unmittelbare Wirkung zugunsten der Bürger entfalten können.29 Dies gilt zum einen in solchen Fällen, in denen die einzelne Richtlinienvorschrift nicht unbedingt30 oder nicht hinreichend genau gefaßt ist.31 Hier kann und muß das Regelungsziel der Richtlinie(nbestimmung) ohne weiteres in die Auslegung des nationalen Rechts mit einfließen. Dem steht das Urteil Pfeiffer nicht entgegen, soweit dort die Eignung einer Richtlinienbestimmung vor der Reichweite der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erörtert wird. Die Abfolge der Prüfung durch den EuGH ist durch das Vorlageersuchen veranlaßt, in dem das Arbeitsgericht Lörrach danach fragt, ob Artikel 6 der Richtlinie 93/104 „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau [ist], so daß sich einzelne Personen auf diese Bestimmungen gegenüber den nationalen Gerichten berufen können […]“. Der Gerichtshof stellt erneut klar, daß trotz der Unbedingtheit und hinreichenden Genauigkeit einer Richtlinienbestimmung eine Berufung auf sie im Verhältnis zwischen Privaten (horizontale Wirkung) ausgeschlossen ist.32 Die darauf folgenden Erörterungen zur richtlinienkonformen Auslegung nehmen auf die Kriterien der Unbedingtheit und hinreichende Bestimmtheit keinen Bezug. Ein solcher Bezug wäre auch mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH unvereinbar.33
13
Dies gilt zum anderen auch, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im Bürger-Bürger-Verhältnis geht und von daher eine unmittelbare Anwendung ausscheiden muß.34
14
Dies berechtigt freilich nicht zu dem Gegenschluß, daß immer dann, wenn eine Berufung des Privaten auf die Richtlinie im Verhältnis zum Staat möglich ist, also die Voraussetzungen einer „unmittelbaren Anwendbarkeit“ einer Richtlinienbestimmung gegeben sind, eine richtlinienkonforme Auslegung auszuscheiden hat. Im Gegenteil: Der nationale Richter hat immer zunächst dem Umsetzungsbefehl des Art. 249 Abs. 3 EG Folge zu leisten und – im Rahmen seiner Möglichkeiten – eine richtlinien29 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 75. 30 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103 Rn. 47–48. 31 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 27; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster, Slg. 1990, I-3348 Rn. 18; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103. BGHZ 138, 55, 61 sieht hingegen in der Eindeutigkeit der Richtlinienregelung eine Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Auslegung. 32 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 109: „Daraus folgt, daß sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden kann.“ 33 Vgl. etwa EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 18, 23, 27 (zu Sanktionen); EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 18, 23, 27; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103 Rn. 47–48. 34 Grundlegend EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24.
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Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
konforme Auslegung zu versuchen. Erst wenn ihm eine solche verwehrt ist, kann eine Richtlinienbestimmung unmittelbar angewendet werden. Diese Subsidiarität der unmittelbaren Anwendbarkeit ist – auch wenn sie in der Praxis nicht immer praktiziert wird – eine notwendige Konsequenz des Instruments der Richtlinie: Primär muß es darum gehen, den Organen der Mitgliedstaaten die Aufgabe zu überlassen, die geeignete Einpassung der Zielsetzungen der Richtlinie in das nationale Recht zu erreichen. Dazu dient die richtlinienkonforme Auslegung. Erst wenn diese Einpassung durch die richtlinienkonforme Auslegung nicht gelingt, kann zum Instrument der unmittelbaren Anwendbarkeit gegriffen werden.35 5.
Anwendungsbereich
Seit langem ist anerkannt, daß sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung nicht nur auf den Umsetzungsakt erstreckt, mit dem der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie erfüllen will, sondern auf das nationale Recht insgesamt und insoweit auch auf Regelungen, die zeitlich vor der Richtlinie erlassen worden sind.36 Diese Tragweite ist in dem kürzlich ergangenen Urteil Pfeiffer noch einmal nachdrücklich bestätigt worden, wenn es dort heißt:
15
Der „vom Gemeinschaftsrecht aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts betrifft zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränkt sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlangt, daß das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, daß es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“.37
Letztlich kommt hierin die alle Träger der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten – und damit auch die Gerichte – treffende Verpflichtung aus Art. 249 Abs. 3 EG zum Ausdruck, für eine Durchsetzung der von der Richtlinie verfolgten Ziele zu sorgen.38 35 Dieser Grundsatz ist auch und vor allem zu beachten, wenn es um Bestimmungen geht, die zu Lasten der Einzelnen gehen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen zu Lasten der Einzelnen wird (im Verhältnis zum Staat) in st. Rspr. verneint: EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 13; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61 (beide Urteile betreffen die strafrechtliche Verantwortlichkeit). Eine Berufung auf eine Richtlinienbestimmung zugunsten eines Einzelnen scheidet auch aus, wenn dadurch eine Verpflichtung eines Dritten begründet wird, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Begünstigung steht; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 56–57. Eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts zu Lasten des Einzelnen ist grundsätzlich möglich, soweit dies das nationale Recht zuläßt. Vgl. auch EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02 u.a. Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74 (mit dem Hinweis, daß eine Richtlinie „für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Vorschriften“ nicht zu Lasten des Einzelnen sich auswirken dürfe). 36 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 30. 37 EuGH 5.10.2005 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 38 S. z.B. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
6.
„Auslegung“ und Rechtsfindung
17
Wenn und soweit der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung die Verpflichtung der Gerichte anspricht, das nationale Recht im Lichte der Richtlinienziele „auszulegen“, sind diese Aussagen nicht auf das in der deutschen Methodenlehre verbreitete Verständnis von Gesetzesauslegung im Sinne einer Sinnermittlung aufgrund der klassischen Auslegungsmethoden beschränkt, sondern beziehen sich auch auf die Methoden zulässiger Rechtsfortbildung.39
18
Es ist zwar einzuräumen, daß der Gerichtshof seine eigene Rolle im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht als auf die Auslegung im herkömmlichen Sinne beschränkt ansieht: So heißt es in dem jüngst ergangenen Bidar-Urteil, „daß sich die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof darauf beschränkt, zu erläutern und zu verdeutlichen, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite (eine) Vorschrift (des Gemeinschaftsrechts) seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.40
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Generalanwalt Jacobs bestätigt diese Einschätzung, wenn er formuliert: „Der Gerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß seine Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts die Bedeutung und Tragweite der betreffenden Vorschrift erläutert und definiert, so wie diese von ihrem Inkrafttreten an hätte verstanden und angewandt werden sollen.“ 41
20
Auch Generalanwalt Léger scheint die Auslegung des Gemeinschaftsrechts in tradierten klassischen Bahnen und Schranken zu sehen, wenn er davon ausgeht, daß der Wortlaut einer Bestimmung die unüberschreitbare Schranke der Auslegung darstellt, die weder durch eine Berufung auf den Zweck der (Richtlinien-) Bestimmung noch auf den effet utile überwunden werden kann: 42 Bei einem klaren Wortlaut bestehe „die einzige mögliche Lösung somit darin, sich an die durch den Wortlaut der Vorschrift vorgegebene Auslegung zu halten und den Zweck zu vernachlässigen, den die Richtlinie, zu der die Vorschrift gehört, verfolgt. Es wäre mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nämlich nicht vereinbar, auf die teleologische Auslegung oder den Begriff der „praktischen Wirksamkeit“ zurückzugreifen, um einer Gemeinschaftsrechtsvorschrift aufgrund dessen, daß ihr Wortlaut nicht zur Erreichung des Zieles beiträgt, das mit der Richtlinie, zu der sie gehört, verfolgt wird, einen Sinn zu verleihen, den sie offensichtlich nicht haben kann.“ 43 39 Dies verkennt Rüffler, ÖJZ 1997, 121, 126; zutreffend dagegen Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 291; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 38; Canaris, FS Bydlinski, S. 81 ff. Ausführlich zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 22 ff. 40 EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 66; vgl. zur Anwendung der „klassischen“ Auslegungsmethoden (Wortlaut; Entstehung; Systematik; Zweck) exemplarisch die Schlußanträge des GA Léger v. 13.11.2003 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Tz. 29 ff., 44 ff., 79 ff. 41 GA Jacobs, Schlußanträge v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Populare di Cremona, (noch nicht in Slg.) Tz. 74. 42 GA Léger, Schlußanträge v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 81ff. 43 GA Léger, Schlußanträge v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Elisabeth Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 94.
316
Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
Der Generalanwalt beruft sich auf den Grundsatz der Rechtssicherheit als einem fundamentalen Prinzip der Gemeinschaftsrechtsordnung, der erfordere, daß die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften klar und ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein sollen.44
21
Man geht freilich kaum fehl in der Annahme, daß solche Aussagen typischerweise in einem Zusammenhang getroffen werden, in dem eine rechtsfortbildende Entwicklung des Gemeinschaftsrechts nicht in Rede steht. Dagegen fehlt es an solchen Aussagen in Urteilen (und Schlußanträgen), in denen eine Fortbildung des Gemeinschaftsrechts angestoßen werden soll – einen Vorgang, den wir besonders häufig im Rahmen des primären Gemeinschaftsrechts beobachten können.
22
Als Beispiel dafür mögen die jüngsten Schlußanträge von Generalanwalt Jacobs zu den Auswirkungen der Unionsbürgerschaft (Art. 17, 18 Abs. 1 EG) auf das internationale Namensrecht dienen: In der Rechtssache Niebüll45 folgert Generalanwalt Jacobs aus den Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft, daß die nationalen Regelungen des Namensrechts auch ohne Vorliegen jeglicher Diskriminierung in einer Weise ausgestaltet sein müssen, daß der Unionsbürger bei wechselndem Aufenthalt in den verschiedenen Mitgliedstaaten in seiner Identitätsausstattung mit dem einmal erworbenen Namen geschützt wird. In – ungenannter – Parallele zum Sitzwechsel der Gesellschaften soll die im Geburtsstaat des Kindes (rechtmäßig) erfolgende Namensgebung in den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen sein – eine Konsequenz, die das internationale Namensrecht einiger Mitgliedstaaten aus den Angeln hebt und im Widerspruch zu bestehenden völkerrechtlichen Abkommen steht. Man wird kaum umhinkommen, die Erstreckung der Art. 17 und Art. 18 Abs. 1 EG auf das internationale Namensrecht mit diesen Folgen als einen Vorschlag zur Rechtsfortbildung zu qualifizieren. In der Sache Leffler geht es um Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 1348/2000 46, wonach bei einer grenzüberschreitenden Zustellung der Empfänger ein Annahmeverweigerungsrecht hat, wenn das Schriftstück nicht in der Amtssprache des Empfängerstaates oder einer dem Empfänger verständlichen Sprache abgefaßt ist. Die Regelung trifft keine Bestimmung über die Rechtsfolgen. Obwohl die Sprachenregelung zwischen den Mitgliedstaaten streitig gewesen ist und in dem Verfahren unbestritten vorgetragen wurde, daß eine Rechtsfolgenregelung bewußt nicht getroffen worden ist, argumentiert Generalanwältin Stix-Hackl, daß diese ungeregelte Frage nicht etwa – wie bisher – dem nationalen Recht überlassen bleiben, sondern, weil eine einheitliche Regelung wünschenswert sei, durch eine gemeinschaftsautonome „Auslegung“ gelöst werden soll: 47 Rechtsfortbildung als „Auslegung“.
Von daher liegt es nahe anzunehmen, daß die oben zitierten Stellungnahmen auch dazu dienen (sollen), die (auch) rechtsfortbildende Funktion der Judikate des
44 GA Jacobs, Schlußanträge v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Populare di Cremona, (noch nicht in Slg.) Tz. 93. 45 GA Jacobs, Schlußanträge v. 30.6.2005 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, (noch nicht in Slg.) Tz. 54–56. Daß es sich hier um eine unzulässige Vorlage handelt, EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, (noch nicht in Slg.) Rn. 20, steht auf einem anderen Blatt. 46 Verordnung Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 Nr. L 160/37. 47 GA Stix-Hackl, Schlußanträge v. 28.6.2005 – Rs. C-443/03 Götz Leffler, Slg. 2005, I-9611 Tz. 62ff. Wulf-Henning Roth
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23
2. Teil: Allgemeiner Teil
Gerichtshofs zu verschleiern, um einem denkbaren Konflikt mit den Mitgliedstaaten über die legitime Rolle des Gerichtshofs im System der Institutionen der Gemeinschaft aus dem Wege zu gehen.
24
Wie auch immer diese Rolle des Gerichtshofs bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts einzuschätzen ist, so sollte doch eines klar sein: Für das Gebot der richtlinienkonformen „Auslegung“ gilt, daß dieses Gebot nicht auf ein „Auslegungs“-Verständnis verweist, wie es im Umgang mit dem Gemeinschaftsrecht von den Gemeinschaftsgerichten praktiziert wird. Vielmehr geht es um eine von Art. 249 Abs. 3 EG gesteuerte Aufgabe für die nationalen Gerichte, nämlich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten das nationale Recht in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben zu bringen. Im Schrifttum wird deshalb zu Recht vorgeschlagen, statt von einem Gebot richtlinienkonformer Auslegung von einem Gebot richtlinienkonformer Rechtsfindung zu sprechen.48 7.
25
Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung auf der Grundlage des Art. 249 Abs. 3 EG und im Hinblick auf den Grundsatz der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts 49 eine Reihe von Vorgaben methodischer Art entwickelt, an die sich der nationale Richter bei der Auslegung und Anwendung seines nationalen Rechts zu halten hat. a)
26
Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte
„So weit wie möglich“
Seit dem Urteil von Colson wird der nationale Richter dazu angehalten, die richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums“, den das nationale Recht einräumt,50 zu praktizieren. Damit wird zunächst auf das nationale Recht mit den darin entwickelten und anerkannten Auslegungsmethoden verwiesen. Freilich bleibt es nicht bei dieser Verweisung auf das nationale Recht. Seit dem Urteil Marleasing 51 wird die Zielrichtung für die volle Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums dahingehend umschrieben, daß es darum gehen müsse, die Auslegung des nationalen Rechts „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.52 Die richtlinienkonforme Auslegung gewinnt hier die Bedeutung einer Vorzugsregel,53 wonach einer im nationalen Recht anerkann-
Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 28. EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8. An das Urteil Marleasing knüpft sich eine intensive Diskussion der Frage, ob die richtlinienkonforme Auslegung auch zu einer Auslegung contra legem zwingen könne; s. etwa Prechal, Directives in European Community Law, S. 227 f. 52 So die st. Rspr.; z.B. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial SA u.a., Slg. 2000, I-494 Rn. 30; EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 36. 53 Dazu auch Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616.
48 49 50 51
318
Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
ten Auslegungsmethode gegenüber einer anderen der Vorrang einzuräumen ist, wenn und soweit dies dem Ziel der Richtlinie dient.54 b)
Umsetzungsgesetzgebung
Im Urteil Wagner Miret 55 – und erneut in der Rechtssache Pfeiffer 56 – formuliert der Gerichtshof eine gemeinschaftsrechtliche Vorgabe speziell für die Auslegung solcher innerstaatlicher Vorschriften, die zur Umsetzung der Richtlinie erlassen wurden und dem Einzelnen Rechte verleihen sollen. In einer solchen Konstellation habe, so der Gerichtshof,
27
„[d]as Gericht […] in Anbetracht des Artikels 249 Absatz 3 EG davon auszugehen, daß der Staat, wenn er von dem ihm durch die (Richtlinien-) Bestimmung eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, die Absicht hatte, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“.57
Die Tragweite dieser Aussage wird deutlich, wenn man sie in Zusammenhang sieht mit einer eher beiläufigen Stellungnahme zum Verhältnis richtlinienkonformer und historischer Auslegung im Urteil Björnekulla Fruktindustrier AB, wo es an der einschlägigen Stelle heißt: Eine richtlinienkonforme Auslegung sei vorzunehmen „und zwar ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten“.58
28
Hiermit wird die für das nationale Recht diskutierte Frage, ob und inwieweit auf den Willen des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, zurückzugreifen ist,59 durch das Gemeinschaftsrecht überlagert bzw. eingefärbt: Der Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, ist für das nationale Gericht als Auslegungstopos nicht nur relevant; vielmehr soll der nationale Richter bei der Auslegung des Umsetzungsrechts davon ausgehen, daß der Gesetzgeber den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen „in vollem Umfang“ nachkommen wollte. Damit wird eine wichtige Vorgabe für die Auslegung (bzw. Fortbildung) des Umsetzungsrechts festgeschrieben: 60 Die konkrete Zwecksetzung des Gesetzgebers hat hinter seinem zu vermutenden Willen, richtlinienkonform umzusetzen, zurückzutreten – dies zumindest immer dann, solange nicht Hinweise dafür vorliegen, daß der Gesetzgeber eine richtlinienwidrige Lösung (bewußt) verfolgt hat.
29
54 In diesem Sinn wird man die Aussage in EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13, deuten müssen, wonach das nationale Gericht im Hinblick auf das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehende Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben, zu ignorieren habe. 55 EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rn. 20. 56 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113ff. 57 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. 58 EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13. 59 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 77. 60 Man mag sich freilich fragen, woraus der Gerichtshof seine Anforderungen an die Auslegung hier ableitet. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
c)
Methodische Gleichbehandlung
30
Der für die Behandlung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelte Gleichbehandlungsgrundsatz 61 steuert den Auslegungs- bzw. Rechtsfindungsvorgang durch das nationale Gericht: Der nationale Richter hat, um richtlinienkonforme Ergebnisse zu erreichen, sich desselben methodischen Instrumentariums zu bedienen, das ihm bei der Entscheidung von Fällen im Rahmen des autonomen nationalen Rechts zur Verfügung steht. Wenn und soweit dem Richter die teleologische Extension oder Reduktion und die Analogie im Umgang mit autonomem nationalen Recht zur Hand sind, muß er diese Instrumente auch zum Zwecke richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts einsetzen, um dem Vorwurf einer Diskriminierung des Gemeinschaftsrechts zu entgehen.
31
Im Urteil Pfeiffer geht der Gerichtshof sogar noch einen Schritt weiter. Dort heißt es – soweit ersichtlich zum ersten Mal –, daß das nationale Gericht, soweit unüberbrückbare Divergenzen zwischen den Richtlinienvorgaben und dem nationalen Recht existieren, solche Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht in entsprechender Weise aufzulösen hat wie Normenkollisionen im Rahmen des nationalen Rechts.62 Bemerkenswert ist hieran vor allem, daß damit der richtlinienkonformen Auslegung ein erweitertes Anwendungsfeld erschlossen wird: Diese Vorgabe macht eine Besinnung auf die im nationalen Recht verankerten Methoden der Vermeidung von Normenkollisionen durch restriktive Auslegung oder gar Nichtanwendung einer Norm erforderlich. Erneut geht es hier nicht um den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, sondern um seine Gleichbehandlung mit dem nationalen Recht. Dabei werden Richtlinienrecht und nationales Recht auf eine Stufe gestellt und bei Widersprüchen auf die nationalen Regeln über die Auflösung von Normenkollisionen verwiesen.
32
In der Rechtssache Pupino formuliert der Gerichtshof – unter entsprechender Wiederholung der Aussage in Pfeiffer, wonach das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigen muß, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, daß es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt 63 – im Hinblick auf einen Rahmenbeschluß nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU anscheinend zurückhaltender: Es heißt hier, daß „die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt des Rahmenbeschlusses heranzuziehen, endet, wenn diese(r) nicht so angewandt werden kann (können), daß ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluß angestrebten Ergebnis vereinbar ist“.64 61 Aus der Rspr. z.B. EuGH v. 14.12.1995 – verb. Rs. C-430/93 und C-431/93 van Schijndel u.a., Slg. 1995, I-4705 Rn. 13; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draempaehl, Slg. 1997, I-2195 Rn. 28–30; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02 u.a. Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 65 (Gleichbehandlung bei Sanktionen); EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 67. 62 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Gleichsinnig für eine durch das nationale Recht anerkannte contra legem Auslegung: Timmermans, Community Directives Revisited, YEL 17 (1997), 1, 23. 63 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 64 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47. Die deutsche Übersetzung ist nicht geglückt.
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Wulf-Henning Roth
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
Von der Behandlung des Konflikts zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht nach Art der Lösung von Normenkollisionen im innerstaatlichen Recht ist hier nicht (mehr) die Rede. Stattdessen wird als Grenze der Auslegung markiert, daß „der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen“ dürfe.65 Diese Aussage scheint auf den ersten Blick einen Rückzug von Pfeiffer zu signalisieren. Doch wird man – auf den zweiten Blick – vorsichtiger urteilen müssen. Denn der deutsche Urteilstext formuliert zumindest mißverständlich: Daß das Gemeinschaftsrecht einer contra legem Auslegung durch das nationale Recht entgegenstehen soll, vermag ohne nähere Begründung kaum zu überzeugen. Der Sache näher kommt deshalb auch die englische Version, wenn es dort heißt, daß die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung „cannot serve as the basis for an interpretation of national law contra legem“.66 Das heißt: Das Gemeinschaftsrecht zwingt den nationalen Richter nicht zu einer contra legem-Auslegung, sondern überläßt die Zulässigkeit einer solchen ganz dem nationalen Recht. Vom Urteil Pupino unberührt bleiben damit die in Pfeiffer getroffenen Aussagen zur Anwendung der nationalen Auslegungsmethoden zur Lösung von Normkollisionen: soweit solche Methoden im nationalen Recht existieren, sind sie auch anzuwenden, wenn es um die Beachtung und Anwendung von Richtlinien geht.
33
Die zurückhaltende Deutung der Reichweite des Gebots der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung in Pupino findet seine Erklärung auch im unterschiedlichen rechtlichen Umfeld, in dem das Problem angesiedelt ist: Der Rahmenbeschluß iSv Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU ist eine unionsrechtliche Handlungsform im Bereich der „dritten Säule“ und damit von den Mitgliedstaaten bewußt dem Völkerrecht zugeordnet.67 Auch wenn der Gerichtshof das Unionsrecht als Gemeinschaftsrecht qualifiziert und von einer „gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung“ spricht, bleibt der Unterschied zwischen dem Richtlinienrecht als supranationalem Recht und dem Unionsrecht für Zwecke der Reichweite der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung von Bedeutung: Die für die Behandlung von Normenkollisionen im nationalen Recht entwickelten (Auslegungs-) Grundsätze sind für Konflikte des nationalen Rechts mit Richtlinienrecht, nicht aber mit Rahmenbeschlüssen des Unionsrechts anzuwenden.
8.
Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung
a)
Allgemeine Rechtsgrundsätze
Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung setzt für den nationalen Richter voraus, daß er sich des Inhalts und der Tragweite der Richtlinienvorgaben vergewissert, also die Richtlinie nach den für das Gemeinschaftsrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen interpretiert (dazu § 11). Bei der Umsetzung einer Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber wie auch bei der richtlinienkonformen Interpretation sind zur Ermittlung der Vorgaben und der Tragweite der Richtlinie die im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (insbesondere die Grundrechte) mit heran-
65 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47. 66 Kursiv von mir. In der französischen Fassung heißt es gleichsinnig „(…) l’interprétation conforme ne peut servir de fondement (…)“. 67 So ausdrücklich jüngst BVerfG, NJW 2005, 2289, 2291 f. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
zuziehen,68 in deren Rahmen sich sekundäres Gemeinschaftsrecht bewegen und in deren Licht es interpretiert werden muß (dazu § 9). b)
35
Während der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen im Verhältnis des Einzelnen zum Staat eine Grenze dann gezogen ist, wenn die Anwendung zu Lasten des Einzelnen geht,69 besteht eine solche Schranke für die richtlinienkonforme Auslegung im Bereich strafrechtlicher Regelungen.70 Für den Bereich des Privatrechts gibt es solche Schranken nicht: Die richtlinienkonforme Auslegung einer zivilrechtlichen Bestimmung geht immer auch zu Lasten einer am konkreten Verfahren beteiligten Partei. Darauf basiert – wie selbstverständlich – die bisherige Judikatur des Gerichtshofs.71 Insoweit geht auch der Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts in privatrechtlichen Beziehungen, an denen der Staat oder öffentliche Unternehmen beteiligt sind, über die Konstellationen, in denen Richtlinienbestimmungen unmittelbare Anwendbarkeit zukommt (nämlich nur zugunsten des Einzelnen), hinaus. c)
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Richtlinienkonforme Auslegung auch zu Lasten des Einzelnen?
Schranken des nationalen (Verfassungs-) Rechts
In ständiger Rechtsprechung anerkennt der Gerichtshof aus dem Recht der Mitgliedstaaten erwachsende Begrenzungen bzw. Schranken für eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung, wenn er formuliert, Art. 249 Abs. 3 EG geböte den mitgliedstaatlichen Gerichten, die Auslegung (nur) „so weit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.72 Mit dieser so gefaßten Einschränkung korrespondiert die Formulierung, das nationale Gericht hätte „im Rahmen seiner Zuständigkeit“ 73 die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Damit wird auf eine aus dem innerstaatlichen Recht resultierende Schranke verwiesen, die aus der – evtl. vom Verfassungsrecht geprägten – Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Judikative erwachsen oder in der tradierten nationalen Methodenlehre, die die Grenzen der Auslegung und/oder Rechtsfortbildung markiert, verankert sein kann. Darauf ist im folgenden einzugehen.
68 Zuletzt EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02 u.a. Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 66ff. 69 S. Nachweise in Fn. 35 sowie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20 u.ö. 70 S. etwa EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, Slg. 1996, I-4705 Rn. 37; EuGH v. 7.1. 2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02 u.a. Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74; s. a. EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 45. 71 Zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 72 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 5.5.1994 – C-421/92 Habermann-Beltermann, Slg. 1994, I-1657 Rn. 10; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 73 Zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114.
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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung Auf diese Schranke wird im Urteil Pupino Bezug genommen, wenn der Gerichtshof im Hinblick auf einen Rahmenbeschluß nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EU betont, daß das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nicht als Basis für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen könne.74
II.
Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht
1.
Richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts
a)
Wille des deutschen Gesetzgebers
Neben der aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Verpflichtung kann das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung für die deutschen Gerichte zusätzlich auch aus dem deutschen Recht abgeleitet werden.75 Eine tragende Grundlage dafür kann man vor allem im Willen des Gesetzgebers sehen,76 wenn er zur Erfüllung seiner Umsetzungspflicht tätig geworden ist. Diese auf den Willen des Gesetzgebers gestützte richtlinienkonforme Auslegung kraft nationalen Rechts unterscheidet sich in ihrer Tragweite von der aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten Pflicht vor allem in zwei Richtungen: (1) Sie geht einerseits über das gemeinschaftsrechtliche Gebot der richtlinienkonforme Auslegung hinaus, weil sie nicht erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie eingreift, sondern schon mit dem Erlaß des Umsetzungsgesetzes vor Ablauf der Umsetzungsfrist.77 (2) Sie bleibt andererseits hinter der richtlinienkonformen Auslegung kraft Gemeinschaftsrechts insoweit zurück, als sie nicht die vor Erlaß der entsprechenden Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsnormen erfassen kann.78 Im Übrigen läßt sich auf der Grundlage nationalen Rechts eine unvollkommene, insbesondere unvollständige (und erst recht eine noch gar nicht erfolgte) Umsetzungsgesetzgebung nur schwer unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers korrigieren.79 b)
37
Art. 20 Abs. 3 GG
Ein anderer Begründungsansatz für eine richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung kraft nationalen Rechts findet sich in Art. 20 Abs. 3 GG, wonach der
74 Vgl. oben im Text bei Fn. 63–66. 75 So vor allem Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303 ff.; zustimmend Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 51. 76 Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Pfeiffer für die richtlinienkonforme Auslegung des Umsetzungsrechts sogar eine gemeinschaftsrechtliche Auslegungsvorgabe dahingehend formuliert, daß das nationale Gericht in dieser Konstellation davon auszugehen hat, daß der Staat, wenn er von dem durch Art. 249 Abs. 3 EG eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, „die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. S. oben im Text bei Fn. 60. 77 Canaris, FS Bydlinski, S. 51; Gebauer/ Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 30. 78 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 79; Canaris, FS Bydlinski, S. 50 f. 79 Im Ergebnis ebenso Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 81. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Richter an „Gesetz und Recht“ gebunden ist.80 Der Bezug auf „Gesetz und Recht“ bindet den Richter nicht nur an die geltenden methodischen Standards81 bei der Auslegung 82 und Fortbildung des deutschen (Gesetzes-) Rechts,83 sondern nimmt das Gemeinschaftsrecht mit in die Bindung auf. Dabei sind die deutschen Gerichte über Art. 20 Abs. 3 GG nicht nur an das unmittelbar anwendbare (primäre und sekundäre) Gemeinschaftsrecht gebunden, sondern ebenfalls an das Richtlinienrecht: Der Umstand, daß im Zivilverfahren die Parteien ihren Anspruch mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht (allein) auf eine Richtlinienbestimmung stützen können, steht der Bindung der Gerichte nicht entgegen. Aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes der richtlinienkonformen Auslegung84 zählen die Richtlinien zu den von den deutschen Gerichten zu beachtenden „Gesetzen“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.85 2.
39
Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden
Das Institut der richtlinienkonformen Auslegung ist – zumindest auch – in die klassischen Auslegungscanones des deutschen Rechts 86 integriert.87 Dies ist kurz zu erläutern. Im Rahmen der historischen Auslegung sind – jedenfalls bei zeitlich noch nicht weit zurückliegenden Regelungen – die Regelungsabsichten des Gesetzgebers 88 – und damit die Absicht der Umsetzung einer Richtlinie 89 – von Belang. Für die teleologische Auslegung muß der Zweck des Gesetzes, eine Richtlinienvorgabe umzusetzen, eine entscheidende Rolle spielen, geht es hier doch nicht um eine autonom getroffene
80 Canaris, FS Bydlinski, S. 83 f., zur Begründung der Annahme einer Gesetzeslücke bei unvollkommener Richtlinienumsetzung. 81 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411. 82 Zur Auslegung zivilrechtlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht zuletzt BVerfG, NJW 2005, 1561, 1566. 83 Einen Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG bietet Bleckmann, JuS 2002, 942 ff. 84 Das BVerfG hat eine Bindung der deutschen Gerichte an die EMRK unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG begründet; BVerfG, NJW 2004, 3407, 3410. Die EMRK ist durch ein Transformationsgesetz in deutschen Recht überführt; insoweit beziehen sich die Aussagen auf eine mittelbare Bindungswirkung an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Richtlinien bedürfen, um eine Geltung und damit Bindung für die deutschen Gerichte zu entfalten, keiner Umsetzung in deutsches Gesetzesrecht. 85 A.A. offenbar Jarass/Pieroth-Jarass, Grundgesetz (8. Auflage 2006), Art. 20 GG Rn. 38 (nur Bindung an unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht); Sachs-Sachs, Grundgesetz (3. Auflage 2003), Art. 20 GG Rn. 65. Die hier vertretene Sicht auf Art. 20 Abs. 3 GG geht Hand in Hand mit der Judikatur des BVerfG, wonach ein Entzug des „gesetzlichen Richters“ gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gegeben sein kann, wenn ein deutsches letztinstanzliches Gericht seiner Vorlageverpflichtung aus Art. 234 Abs. 3 EG nicht nachkommt; vgl. BVerfG, EuZW 2001, 255. Für die Auslegung von Richtlinien setzt dies eine Bindung des deutschen Gerichts an die Richtlinie als „Gesetz“ voraus. 86 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 312 ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 133 ff. 87 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 590; anders Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 259f. (zweistufige Auslegung einerseits; Ausnahmen dazu andererseits). 88 BVerfGE 54, 277, 297 („erhebliches Gewicht“). 89 Als Beispiel jüngst BGH, NJW 2005, 53, 54 f.
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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
Entscheidung des Gesetzgebers, sondern um die Erfüllung einer aus dem Gemeinschaftsrecht stammenden Pflicht. Schließlich ist für die grammatikalische Auslegung daran zu erinnern, daß der deutsche Gesetzgeber sich in der Umsetzungsregelung möglicherweise nicht mehr in den Traditionen nationaler Begrifflichkeit bewegen will, sondern einen Begriff des Gemeinschaftsrechts eins zu eins, also deckungsgleich in das nationale Recht einführen und damit zu einer Auslegung zwingen will, die auf die autonome Begrifflichkeit des Gemeinschaftsrechts zurückgreift.90 Aber auch für überkommenes und vom Gesetzgeber nach Erlaß der Richtlinie unverändert gelassenes Recht gilt, daß seine Auslegung von den Vorgaben der Richtlinie beeinflußt werden kann, ist doch allgemein anerkannt, daß sich die Auslegung von Normen durch die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, aber auch des rechtlichen Umfeldes 91 wandeln kann. 3.
Die richtlinienkonforme Auslegung als Vorzugsregel
Führen die klassischen Auslegungscanones trotz der gerade angedeuteten Einbeziehung des Umsetzungszwecks in die Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen,92 ist nicht erst aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Gebots zur richtlinienkonformen Auslegung, sondern schon aufgrund der besonderen Zwecksetzung der Umsetzungsgesetzgebung vom Vorrang derjenigen Auslegungsmethode auszugehen, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt.93
40
Eine solche Vorzugsregel kraft nationalen Rechts 94 findet ihre Parallele in der Rechtsprechung des BVerfG zur völkervertragskonformen Auslegung. Zur Umsetzung der EMRK in das deutsche Recht heißt es in einem jüngsten Beschluß:
41
„Soweit im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“.95
Als Grenze für eine solche völkervertragkonforme Auslegung wird der Fall angedeutet, daß die Auslegung zu einem Verstoß gegen „eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht“ führen würde.96 90 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), S. 875. Zum Grundsatz der gemeinschaftsautonomen Auslegung, gestützt auf die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts und den Gleichheitssatz, zuletzt etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29. Zu diesem Urteil Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97. 91 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 170 ff., sprechen insoweit von einem Wandel der Normsituation. 92 In der Rechtsprechung wird vielfach die richtlinienkonforme Auslegung als zusätzliche Auslegungsmethode verwendet, um ein bereits erreichtes Ergebnis zu bekräftigen (z.B. BGH, NJW 2005, 418, 420) oder wenigstens nicht in Frage zu stellen (BGH, ZIP 2005, 357, 358). 93 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 34. 94 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616; in der Sache auch M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 591. 95 BVerfG, NJW 2004, 3407, 3411. 96 Dies gilt erst recht, wenn es zu einem Verstoß gegen Verfassungsrecht käme. Andererseits ist das Grundgesetz im Lichte der EMRK (und der Rechtsprechung des EGMR) völkervertragskonform auszulegen; BVerfG, NJW 2005, 1765, 1766. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
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Die hier für die völkervertragskonforme Auslegung gefundene Lösung ist schon kraft nationalen Rechts ohne weiteres auf die Umsetzung von Richtlinienrecht zu übertragen. Daß das Gemeinschaftsrecht im übrigen zu einer solchen Vorzugsregel zwingt, ist oben bereits gezeigt worden: 97 Da Art. 20 Abs. 3 GG in der hier vertretenen Auslegung die deutschen Gerichte auch an das Richtlinienrecht und an die Verpflichtung richtlinienkonformer Auslegung nach Art. 249 Abs. 3 EG bindet, liegt insoweit ein Gleichlauf zwischen der gemeinschaftsrechtlichen Vorzugsregel und der Vorzugsregel kraft nationalen Rechts vor. 4.
Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht
44
Die richtlinienkonforme Auslegung stößt auf eine erste – jedoch nicht unüberwindbare – Grenze, wenn die Auslegung des nationalen Rechts ihrerseits auf Schranken stößt. Als eine solche Schranke für die Auslegung wird allgemein der mögliche Wortsinn angesehen.98 Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigem Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt, das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden.99 Oder positiv formuliert: Ist der Wortlaut klar und eindeutig, ist der Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden gesperrt.100 Freilich sind damit noch keine endgültigen Schranken erreicht, ist doch die Rechtsfortbildung – als Fortsetzung der Auslegung (im engeren Sinne) – in der deutschen Rechtspraxis allgemein anerkannt.101
45
Kann sich die richtlinienkonforme Auslegung innerhalb der Grenzen des Wortsinns bewegen, so hat sie auch dann zu erfolgen, wenn der Gesetzgeber richtlinienwidrig umsetzen wollte.102 Die historische Auslegung hat der Wortlautauslegung im Lichte der Richtlinienkonformität als Vorzugsregel zu weichen. 5.
46
Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung
Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet (kraft Gemeinschaftsrechts) den nationalen Richter dazu, den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum „soweit wie möglich“ auszuschöpfen.103 Damit wird auf die nationale Methodik der Rechtsfortbildung und den ihr durch das nationale Recht gesetzten Schranken verwiesen. Die Konsequenzen des Gebots richtlinienkonformer Auslegung können insoweit nur für jede nationale Rechtsordnung gesondert festgestellt werden.104
102 103 104
S. oben im Text bei Fn. 53 sowie Lutter, JZ 1992, 593, 604. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 467 f. So wörtlich: BVerfGE 54, 277, 299 mwN aus der Rspr.; BVerfGE 71, 81, 105. BVerfGE 63, 131, 148; BVerfGE 67, 369, 380 f.; BVerfGE 69, 92, 104 f.; BVerfGE 69, 209, 219; BVerfGE 71, 81, 105 (jeweils zu den Schranken verfassungskonformer Interpretation). So ausdrücklich Larenz, Methodenlehre, S. 241 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, § 11; Zippelius, Methodenlehre, § 11. Zutreffend Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 51 f. S. oben Text bei Fn. 50 ff. Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 451.
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97 98 99 100 101
§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
Für die deutschen Gerichte bedeutet dies, daß sie sich jenseits nicht mehr zulässiger Auslegung der für das deutsche Recht anerkannten Methoden der Rechtsfortbildung bedienen müssen, soweit diese (verfassungsrechtlich) zulässig sind.105 a)
Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3 GG
Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung 106 ist in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt. Diese Befugnis ist gegeben, wenn das geltende Recht (innere) Regelungslücken aufweist,107 aufgrund der Änderung der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse ein Anpassungsbedarf entsteht 108 oder aber die gesetzlichen Vorgaben sich als unzureichend erweisen.109 Während für den Bereich des Strafrechts und des Eingriffsrechts eine Rechtsfortbildung zu Lasten des Bürgers ausgeschlossen und eine Verkürzung von Rechtspositionen gegen der Wortlaut der Norm unzulässig ist,110 sind die verfassungsrechtlichen Schranken für die Rechtsfortbildung im übrigen noch nicht recht ausgelotet. Als Grenze der Rechtsfortbildung gilt der im Wortlaut und Sinn einer Norm eindeutig zum Ausdruck gelangende Wille des Gesetzgebers 111 wie auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz.112
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Mit Blick auf die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung sind indessen die Befugnisse der deutschen Gerichte zur Rechtsfortbildung – und die ihr hier gezogenen Schranken – noch nicht ausgelotet. Immerhin ist als Grundlage für eine Rechtsfortbildung (nach hier vertretender Ansicht) Art. 20 Abs. 3 GG anzusehen, wonach die Richtlinien des Gemeinschaftsrechts als „Gesetz bzw. Recht“ von den Gerichten zu beachten und anzuwenden sind. Die vom Gemeinschaftsrecht anerkannte, vom deutschen Recht markierte Grenze der Rechtsfortbildung ist damit aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 3 GG zu bestimmen. Hierbei geht es um zweierlei: Mit der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ iSd Art. 20 Abs. 3 GG wird einerseits eine Bindung der Judikative an die Vorgaben der Legislative dergestalt markiert, daß eine Korrektur der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen durch die Gerichte aus (bloß) rechtspolitischen Überlegungen nicht in Betracht kommen kann.113 Andererseits lockert Art. 20 Abs. 3 GG die richterliche Bindung an das Gesetz, soweit mit dem Verweis auf das „Recht“ die allgemeinen rechtlichen Prinzipien in Bezug genommen werden. Die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung an „Gesetz und Recht“ verweist den Richter damit auf die Maßstäbe der Gesamtrechtsordnung einschließlich des Gemeinschaftsrechts.114
48
105 Dieser Ansatz kommt etwa bei Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 53 zu kurz. 106 Zu den rechtsfortbildenden Aufgaben der höchsten Gerichte und deren Grundlage und Absicherung im Verfahrensrecht s. eingehend Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995). 107 BVerfGE 69, 315, 371 f.; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f. 108 BVerfGE 82, 6, 12. 109 BVerfGE 84, 212, 226; BVerfGE 88, 103, 116. 110 BVerfGE 69, 315, 372. 111 BVerfGE 59, 330, 334; BVerfGE 71, 81, 105; s. i.ü. BVerfGE 87, 273, 280. 112 BVerfGE 71, 354, 362. 113 Canaris, FS Bydlinski, S. 83 („externe Maßstäbe“). 114 Canaris, FS Bydlinski, S. 84; vgl. auch Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 45. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
b)
Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung?
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Die Befugnis zur Rechtsfortbildung wird nach hergebrachter,115 aber keineswegs unbestrittener116 Ansicht an die Existenz einer Regelungs- (Gesetzes-) oder Rechtslücke geknüpft. Freilich macht diese Voraussetzung nur dort Sinn, wo der Gesetzgeber für einen bestimmten Bereich eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt und verwirklicht hat.117 Eine „Lücke“ setzt insoweit eine planwidrige Unvollständigkeit voraus.118 Wo hingegen der Gesetzgeber ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar nicht tätig geworden ist, überläßt er – wie etwa im Arbeitsrecht – die Rechtsfindung der Judikative. Von einer „Lücke“ zu sprechen macht hier ebenso wenig Sinn wie in den Fällen, in denen Gesetzgebung einem Alterungsprozeß unterworfen ist.119 Hier sind die Gerichte zur Rechtsfortbildung nicht nur (gem. Art. 20 Abs. 3 GG) berechtigt, sondern ggf. sogar verpflichtet.120 Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ist bei näherem Zusehen denn auch nicht (nur) als Interpretationsproblem, sondern vor allem als ein (verfassungsrechtliches) Problem der Rollenverteilung von Legislative und Judikative bei der Weiterentwicklung und Modernisierung des Rechts unter der Herrschaft des Art. 20 Abs. 3 GG zu begreifen.121 In dieser Perspektive ergibt sich die Legitimation der Gerichte zu rechtsfortbildender Richtlinienumsetzung, solange der Gesetzgeber nicht tätig geworden ist, ohne weiteres aus dem Umstand, daß sich mit dem Richtlinienerlaß das rechtliche Umfeld für das nationale Recht geändert hat122 und dieses insoweit der Anpassung bedarf.
50
Hat der Gesetzgeber vor Erlaß der Richtlinie eine flächendeckende Regelung geschaffen und stößt eine bloße Auslegung im Lichte der Richtlinienzwecke auf Grenzen, stellt der Erlaß der Richtlinie die Legitimationsbasis für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung dar.123 Wer eine Lücke als Voraussetzung jeglicher Rechtsfort115 Larenz, Methodenlehre, S. 370ff.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 191ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472ff. Das BVerfG hat Rechtsfortbildung in Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG für den Fall einer Regelungslücke akzeptiert (z.B. BVerfGE 69, 315, 371; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59), aber nicht auf diesen Fall beschränkt. 116 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 461 ff.; ders., Einführung in die Juristische Methodenlehre (2000), Rn. 208 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 254; weitere Nachweise z.B. bei Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995), S. 152ff. 117 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 192. 118 Eine solche planwidrige Unvollständigkeit ist auf der Grundlage des Gesetzeszwecks zu ermitteln: Es geht um das Fehlen einer nach dem Gesetzeszweck zu erwartenden Regel; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 196. Ähnlich auch BVerfGE 82, 6, 13: Es wird „aus den Wertungen des Gesetzes entnommen, ob eine Lücke besteht (…)“. 119 BVerfGE 98, 49, 59f. Für diesen Fall verwendet BVerfGE 82, 6, 12, auch die Lückenterminologie. Zum Alterungsproblem i.ü. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 148 ff. 120 BVerfGE 82, 6, 13. Zur Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG s. BVerfGE 69, 315, 372. 121 Zutreffend Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995), S. 57 ff. 122 Zur Änderung des rechtlichen Umfelds s. BVerfGE 82, 6, 12. 123 Zu deren Voraussetzungen und Schranken im übrigen Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245ff. Zu kurz greift insoweit die These, das deutsche Recht lasse ein contra legem Judizieren nicht zu; so aber Unberath, ZEuP 2005, 6 f. Siehe unten im Text unter Rn. 53 und Rn. 54ff.
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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
bildung verlangt, wird hier eine Lücke im weiteren Sinn annehmen können: Sie ergibt sich aus den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung,124 die auf eine Anpassung des nationalen Rechts an die Vorgaben der Richtlinie drängen.125 Anders ist die Lage, wenn der Gesetzgeber nach Erlaß der Richtlinie durch ihre Umsetzung (mehr oder weniger flächendeckend) tätig geworden ist. Hier ist die Rollenverteilung zwischen Legislative und Judikative eine andere: Dem Lückenbegriff muß hier die Aufgabe zugeschrieben werden, die Entscheidungen des Gesetzgebers vor einer unzulässigen Korrektur aus rechtspolitischen Gründen durch die Judikative abzuschirmen.126 Aber auch hier entsteht ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung, wenn der Gesetzgeber – unbewußt – die Regelungszwecke der Richtlinie verfehlt oder hinter ihnen zurückbleibt. In solchen Konstellationen wird man die für eine Rechtsfortbildung vorauszusetzende „Lücke“ vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG darin sehen müssen, daß das Umsetzungsgesetz hinter der Richtlinie zurück bleibt.127 Die für die Rechtsfortbildung notwendige Legitimation 128 des Richters liegt in der Bindung des Gerichts an „Gesetz und Recht“ iSd Art. 20 Abs. 3 GG und damit an die Vorgaben der Richtlinie.129 c)
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Die Instrumente der Rechtsfortbildung
Das deutsche Recht kennt verschiedene Instrumente, deren sich die Gerichte bedienen können und müssen, um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu erreichen.130 Bleibt etwa der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des nationalen Umsetzungsrechts hinter den Anforderungen der Richtlinienvorgaben zurück, kann mittels einer teleologischen Extension 131 oder Reduktion 132 der in Betracht kommenden Norm(en) der Zweck der Richtlinie verfolgt werden. Fehlt es an jeglicher Umsetzung,
124 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. 125 Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen der Rechtsfortbildung durch Analogie dahingehend umschrieben, daß die Analogie sich nicht als Äußerung unzulässiger richterlicher Eigenmacht, durch die der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben werde, darstellen dürfe; BVerfGE 82, 6, 12. Zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung praeter legem BVerfGE 88, 145, 167. 126 S. BVerfGE 82, 6, 12 f.; Canaris, FS Bydlinski, S. 83. 127 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 40. 128 Zu Voraussetzungen und Grenzen der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung außerhalb des Richtlinien-Kontextes s. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. 129 Canaris, FS Bydlinski, S. 84. 130 Die Umsetzung der Richtlinienvorgaben durch die Rechtsprechung wird aber in vielen Fällen nicht genügen; der Gerichtshof betont in st. Rspr., daß etwa der Verbraucher seine Rechte durch klare Regelungen im nationalen Recht erkennen können soll; z.B. EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/199 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17. Dies erfordert nicht immer, aber zumeist eine Regelung durch Gesetz oder Verordnung. 131 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 48, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 216, 245. 132 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 49, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, S. 210 f. Wulf-Henning Roth
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2. Teil: Allgemeiner Teil
kann u.U. die Analogie helfen. Sind deren Voraussetzungen – Ähnlichkeit der Tatbestände – nicht gegeben, ist den Vorgaben der Richtlinien durch die Ausbildung von Fallnormen 133 zu entsprechen, so wie dies die deutsche Rechtsprechung seit jeher etwa im Bereich des Arbeitsrechts, aber auch des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts (Delikts- und Bereicherungsrecht; c.i.c.; Störung der Geschäftsgrundlage) praktiziert hat. d)
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Die Grenzen der Rechtsfortbildung
Als unübersteigbare Schranke der Rechtsfortbildung gilt allgemein der am Wortlaut der Norm festgemachte Regelungszweck („Wortsinn“) des Gesetzgebers. Diese von der ganz h.L. im Schrifttum vertretene Position134 wird von den deutschen Höchstgerichten geteilt.135 Als Grenze für eine verfassungs- und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung hat das BAG in seinem Beschluß vom 18.2.2003 festgestellt, daß die Auslegung nicht zum „Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch“ treten dürfe.136 Der XI. Senat des Bundesgerichtshofs hat in seinem „Heininger“-Urteil ebenfalls auf Wortlaut und Zweck der Regelung (§ 5 Abs. 2 HWiG a.F.) abgestellt.137 Darin ist ihm der II. Senat vor kurzem138 ausdrücklich gefolgt.139 Daß hierbei Wortlaut und Zweck einer gesetzlichen Bestimmung ihrerseits erst durch Auslegung konkretisiert werden müssen, wobei der Wortlaut im Hinblick auf den Gesetzeszweck und umgekehrt der Zweck mit Blick auf den Wortlaut zu bestimmen sind, hat Canaris treffend hervorgehoben.140 Freilich wird man für die Bestimmung des Regelungszwecks einer Norm den Regelungsanlaß und den Willen des Gesetzgebers mit zu bedenken haben: Dient die Norm der Umsetzung einer Richtlinienvorgabe, ist dieser allgemeine Regelungszweck neben dem konkreten, auf die Lösung des Sachproblems bezogenen Zweck mit zu beachten. Wenn und solange der Gesetzgeber eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt, wird man diesem – ggf. unvollkommen verwirklichten – Zweck Vorrang vor der mit der konkreten Norm verknüpften Zielsetzung einräumen müssen.141 Ein solcher Ansatz deckt sich im Ergebnis auch mit der in den Urteilen Wagner Miret und Pfeiffer gemachten Annahme (Vermutung), daß der Staat, wenn er von dem ihm durch die Richtlinie eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch macht, die Absicht hat, den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen.142 133 Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, S. 202 ff., 279 ff. 134 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 226; Canaris, FS Bydlinski, S. 92 ff.; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 43; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 95 f.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 94. 135 Zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts s. BVerfGE 87, 273, 280. 136 BAG, NZA 2003, 742, 747. 137 BGH, VersR 2002, 1035, 1037. 138 BGH, NJW 2004, 2731, 2732. 139 Allein auf den „klaren Gesetzeswortlaut“ als Schranke stellt ab BGH, NJW 2004, 154, 155. 140 Canaris, FS Bydlinski, S. 92 f. 141 Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 72 ff.; a.A. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff. 142 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112.
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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
e)
Normenkollisionen
Die Problematik der durch Wortlaut und Gesetzeszweck markierten Grenze für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung wird im deutschen Schrifttum zumeist ohne Bezugnahme auf Konstellationen erörtert, in denen Wortlaut und Regelungszweck von Normen sich widersprechen (Gesetzeskollisionen) oder aber Normen Ausdruck entgegenlaufender Wertungen sind (Wertungswidersprüche). In seiner Pfeiffer-Entscheidung hat der Gerichtshof für Zwecke der richtlinienkonformen Auslegung auch auf solche im nationalen Recht ausgebildeten Grundsätze über die Lösung von Normenkollisionen verwiesen.143
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Dies erscheint bedeutsam aus zweierlei Gründen:
55
– Im Gegensatz zu den allein aus dem nationalen Recht erwachsenden Normenkollisionen geht es bei der richtlinienkonformen Auslegung um potentiell kollidierende Regelungen zweier unterschiedlicher Normgeber.144 Der Gerichtshof scheint sich daran nicht zu stören. Für das deutsche Recht erwachsen daraus auch keine Probleme: Da Art. 20 Abs. 3 GG eine Bindung des Richters an die Richtlinie neben die Bindung an deutsches Gesetzesrecht stellt, sind die Normenkollisionen mit denen des innerstaatlichen Rechts durchaus vergleichbar. – Der Gerichtshof sieht die Möglichkeit einer Normenkollision zwischen Richtlinienrecht und nationalem Recht auch dann eröffnet, wenn und soweit nicht von einer unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung auszugehen ist. Dies aber bedeutet: Richtlinie und innerstaatliche Norm stehen für Zwecke der Lösung von Normenkollisionen auf einer Stufe.
aa)
Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht
Soweit – im Verhältnis Bürger-Staat – Richtlinienbestimmungen zugunsten des Einzelnen als unmittelbar anwendbar anzusehen sind, ist die Normenkollision aufgrund des (in den Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit eingreifenden) Vorrangs des Gemeinschaftsrechts zugunsten der konkreten Regelung in der Richtlinie zu lösen. Dies entspricht auch im Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.145 bb)
Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht
Das deutsche Recht kennt zur Auflösung von Normenkollisionen verschiedene Methoden. – Normenwidersprüche können etwa nach dem lex posterior-Satz 146 entschärft werden. Dieser Satz kann es rechtfertigen, nach Inkrafttreten einer Richtlinie früher erlassenes, der Richtlinie entgegenstehendes Gesetzesrecht außer Anwendung zu lassen (und ggf. im Wege der Rechtsfortbildung eine Fallnorm zu entwickeln). – Geht es dagegen um nach der Richtlinie in Kraft getretene gesetzliche Regelungen, muß es Aufgabe der Auslegung sein, eine mit der Richtlinie widerspruchsfreie Lösung
143 144 145 146
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EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 91. Seit EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572 f.
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57
2. Teil: Allgemeiner Teil zu finden, sei es durch eine restriktive Auslegung der nationalen Regelung, oder, wo dies nicht möglich ist, dadurch, daß einer Norm der Vorrang zuerkannt wird.147 Dies wirft die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen der Richter bei einer Kollision einer nationalen Norm mit einer Richtlinie an die Vorgaben des nationalen Gesetzes gebunden bleibt, also dem Umsetzungsrecht den Vorrang einzuräumen hat.
58
Vor dem Hintergrund der in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Gesetzesbindung des Richters liegt es nahe danach zu unterscheiden, welches die Gründe für die Normenkollision sind:148
59
Wenn und soweit davon ausgegangen werden kann, daß der Gesetzgeber beim Erlaß des Umsetzungsgesetzes den Vorgaben der Richtlinie entsprechen wollte, dieses Ziel aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht hat, erscheint (außerhalb des Strafrechts und des Eingriffsrechts) eine Korrektur der nationalen Regelung contra legem – bis hin zur Derogation der Norm 149 – vom Willen des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Lösung zu verwirklichen, gedeckt.150 Dies gilt etwa, wenn im Gesetzgebungsprozeß fehlerhafte Vorstellungen über die Tragweite einer Richtlinienbestimmung bestanden haben oder aber die Bedeutung einer Richtlinienregelung erst durch spätere Judikatur des Gerichtshofs geklärt worden ist. Eine Gesetzeskorrektur in einer solchen Konstellation verstößt auch nicht gegen die von Art. 20 Abs. 3 GG vorausgesetzte und geschützte Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Soweit der Gesetzgeber Richtlinien in das deutsche Recht umsetzt und man davon ausgehen darf,151 daß er ein richtlinienkonformes Ergebnis erreichen will,152 ist dieser allgemeine Regelungszweck, auch wenn er dem konkreten Zweck der (Sach-) Regelung widerspricht, für den Richter bindend. Wird der Umsetzungszweck verfehlt, weil der Gesetzgeber sich falsche Vorstellungen über die Tragweite der Richtlinie macht, sollte die Judikative (außerhalb des Straf- und des Eingriffsrechts)
147 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 155. 148 Die im Text vorgenommene Differenzierung wird in der Rspr. (BAG, NZA 2003, 742, 747; BGH, NJW 2004, 154, 155) nicht vorgenommen und im Schrifttum zumeist abgelehnt; z.B. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff.; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529, 531ff.; Osnabrügge, NJW 2005, 1093; Franzen, JZ 2003, 321, 324; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 98–99; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap.3 Rn. 41; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 94. Im Ansatz wie hier: Grundmann, ZEuP 1996, 399, 422; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 72 ff. Die im Schrifttum aufgeworfene Parallele zu den Grenzen der verfassungskonformen Auslegung geht fehl, weil sie die aus dem Gemeinschaftsrecht folgende Pflicht der Gerichte verkennt, das nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben zu bringen. Eine solche Pflicht gibt es im Hinblick auf die verfassungskonforme Auslegung nicht. 149 A.A. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53. 150 Vgl. im Ergebnis BGH, NJW 2002, 1881, 1882 f., freilich als Konsequenz der Auslegbarkeit der entsprechenden Bestimmung und nicht als Folge einer Normenkollision; ebenso BGH, NJW 2004, 2731, 2732. 151 Und in der Deutung des Gerichtshofs: davon ausgehen muß; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. 152 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 273; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 52 (auch mit Hinweis auf die evtl. drohende Staatshaftung).
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§ 14 Die richtlinienkonforme Auslegung
als ermächtigt angesehen werden, die erforderlichen Korrekturen bzw. Nachbesserungen vorzunehmen.153 Die Situation ist eine andere, wenn sich aus dem Wortlaut der Norm und dem vom Gesetzgeber verfolgtem Regelungszweck klar und eindeutig entnehmen läßt,154 daß von den Richtlinienvorgaben (bewußt) abgewichen werden soll (was in der Praxis durchaus, wenn auch eher selten vorkommen mag). Hier ergibt sich eine unübersteigbare Hürde für eine Gesetzeskorrektur.155 Denn sonst droht die Gefahr, daß der sich im Wortlaut abbildende erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen – einem Akt unzulässiger richterlicher Eigenmacht – ersetzt wird.156 Die Bindung des Richters an die Vorgaben des nationalen Gesetzgebers muß sich insoweit durchsetzen.157 Und diese Bindung wird vom Gemeinschaftsrecht in der Deutung des Gerichtshofs auch respektiert.158 Soweit der BGH in seinem „Heininger“-Urteil § 5 Abs. 2 HWiG a.F. – trotz der (scheinbar) eindeutigen Konkurrenzregelung zugunsten des VerbrKrG a.F. – einschränkend in der Weise ausgelegt hat, daß Kreditverträge insoweit nicht als Geschäfte (im Sinne des HWiG a.F.) anzusehen sind, die „die Voraussetzungen eines Geschäfts nach dem Verbraucherkreditgesetz“ erfüllen, soweit dieses dem Darlehensnehmer kein gleich weit reichendes Widerrufsrecht einräumt,159 hat das Gericht in der Sache eine weitgehende Korrektur im Anwendungsbereich des § 5 Abs. 2 HWiG a.F. vorgenommen. Es war dazu nach dem soeben Ausgeführten auch legitimiert, konnte es doch davon ausgehen, daß der deutsche Gesetzgeber mit § 5 Abs. 2 HWiG a.F. eine richtliniengemäße Regelung schaffen wollte.160
153 Wenig einleuchtend ist es, wenn in diesem Zusammenhang der Teufel einer „Entmündigung“ des Gesetzgebers an die Wand gemalt wird; so Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 527. Der Gesetzgeber kann doch jederzeit nachsteuern! Es geht allein darum, den richtlinienwidrigen Zustand bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers, das allemal wegen der gebotenen Normklarheit erforderlich sein mag (!) durch Richterrecht zu beseitigen. 154 Vgl. auch BVerfGE 18, 97, 111; BVerfGE 71, 81, 105, worin als Schranke für eine verfassungskonforme Interpretation auf Wortlaut und den „klar erkennbaren“ Regelungswillen abgestellt wird. 155 In diesem Sinne auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 452. 156 BVerfGE 82, 12f.; BVerfGE 87, 273, 280. 157 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 269; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51. 158 S. oben im Text bei Fn. 50 f. 159 BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, VersR 2002, 1034, 1035; bestätigt durch BGH, NJW 2004, 2731, 2732; BGH, NJW 2004, 2744. 160 Anders insoweit aber BGH, NJW 2004, 154, 155, zu § 1 Abs. 2 Nr. 3 HWiG a.F. Hier sieht der BGH angesichts des klaren und keiner restriktiven Auslegung zugänglichen Wortlauts der Norm keinen Raum für eine richtlinienkonforme Auslegung, ohne freilich die Grundsätze über eine Normenkollision oder eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung anzusprechen. Wulf-Henning Roth
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung Mathias Habersack/Christian Mayer
Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . . 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Persönlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verbraucherschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . cc) Lauterkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sachlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Örtlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . b) Fakultative Umsetzung, opt-out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Textgleiche Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
5–22 5–12 6–9 7 8 9 10–11 12
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. . . .
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13–17 14–15 16 17
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III. Die Auslegung des nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht? . . . . . . . . . a) Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschußbereich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht . . . . . . . 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschußbereich . . . . . . . . . . a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung . . . . . . . . . . . b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vermutung für einheitliche Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gründe für eine gespaltene Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung . cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . .
334
Rn. 1–4 1–2 3–4
18–22
. . . . . .
23–48 23 24–35
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25
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. . . . . . . . .
26–32 33–35 36 37–48 37 38 39 40–48 41
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42
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43–48
Mathias Habersack/Christian Mayer
§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung IV. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die nach der hier vertretenen Methodik zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung entscheidende Frage . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zusammenfassung und Ausblick
. .
49–55 50
. .
51 52–55
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56–57
Literatur: Bärenz, Christian, Die Auslegung der überschießenden Umsetzung von Richtlinien am Beispiel des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, DB 2003, 375–376, Brandner, Gert, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, Frankfurt, 2003; Drexl, Josef, Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen Richtlinienkonformen Auslegung hybrider Rechtsnormen und deren Grenzen, in: Stephan Lorenz u.a. (Hrsg.) Festschrift für Andreas Heldrich, München 2005, S. 67–86; Habersack, Mathias/Mayer, Christian, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913–921; Habersack, Mathias/Mayer, Christian, Der Widerruf von Haustürgeschäften nach der „Heininger“ – Entscheidung des EuGH, WM 2002, 253–259; Heß, Burkhardt, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470–502; Hommelhoff, Peter, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.) 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2, München 2000, S. 889–925; Jäger, Torsten, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, Baden-Baden, 2006; Lutter, Marcus, Zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien der EU, in: Allfred Söllner u.a. (Hrsg.) Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, München 2005, S. 571–584; Mayer, Christian/Schürnbrand, Jan, Einheitlich oder gespalten? – Zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, JZ 2004, 545–552; Roth, Wulf-Henning, Europäisches Recht und nationales Recht, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.) 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2, München 2000, S. 847–888; Schnorbus, York, Autonome Harmonisierung in den Mitgliedstaaten durch Inkorporation von Gemeinschaftsrecht, RabelsZ 65 (2001), 654–705.
I.
Einleitung
1.
Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung
Bei der Umsetzung europäischer Richtlinien entscheidet sich der deutsche Gesetzgeber bisweilen dafür, über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinauszugehen und auch Sachverhalte dem von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsregime zu unterwerfen, die von der Richtlinie selbst nicht erfaßt werden. Hierfür hat sich der Begriff der überschießenden Umsetzung von Richtlinien eingebürgert.1 Prominente Beispiele überschießender Umsetzung bilden die Umsetzung der Haustürwiderrufsrichtlinie 2 und die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüter1 So erstmals Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. Dem folgend z.B. Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 44; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 3; Bärenz, DB 2003, 375; LangenbucherLangenbucher, § 1 Rn. 23 f., 104 ff.; Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (3. Auflage 2004), Einl. Rn. 31ff.; ders., GS Heinze (2005), S. 571. Daneben werden für die hier interessierende Konstellation auch der Begriff der autonomen Harmonisierung (so Schnorbus, RabelsZ 65 [2001], 654) und derjenige der Übererfüllung von Richtlinien (so Büdenbender, ZEuP 2004, 36) gebraucht. 2 Richtlinie 1985/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 Nr. L 372/31. Mathias Habersack/Christian Mayer
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1
2. Teil: Allgemeiner Teil
kauf 3: Während die Haustürwiderrufsrichtlinie nach ihrem Art. 1 Abs. 1, 3 und 4 voraussetzt, daß es in der Haustürsituation selbst zum Vertragsschluß oder jedenfalls zur Abgabe eines nach Annahme durch den Unternehmer verbindlichen Angebots durch den Verbraucher kommt,4 ist das deutsche Haustürwiderrufsrecht seit jeher auf alle Geschäfte anzuwenden, bei denen der Verbraucher zu seiner auf den Vertragsschluß gerichteten Willenserklärung durch eine Haustürsituation bestimmt worden ist, mag auch der Vertragsschluß selbst später außerhalb der Haustürsituation erfolgen.5 Und während die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nach Art. 1 Abs. 1, 4 für Kaufund Werklieferungsverträge über bewegliche Sachen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher gilt, wobei Verbraucher nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie jede natürliche Person ist, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, gelten die §§ 474 ff. für alle Verbraucher im Sinne des § 13 BGB und damit auch für Personen, die zu einem unselbständigen beruflichen Zweck handeln;6 das allgemeine Kaufrecht gilt für alle Kaufverträge und das Leistungsstörungsrecht für alle Schuldverhältnisse.
2
Ausgangspunkt überschießender Umsetzung ist der häufig punktuelle Charakter 7 der umzusetzenden Richtlinie: Zum derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts und mit Blick auf das in Art. 5 EG verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 8 und das Subsidiaritätsprinzip 9 erfolgt europäische Rechtsangleichung namentlich im Privatrecht nicht mit dem Ziel einer systematischen Ausgestaltung der Rechtsordnung, sondern regelmäßig nur zur Beseitigung konkreter Mißstände und zur Vermeidung von Beeinträchtigungen des Binnenmarktes.10 Demgegenüber muß der 3 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12. 4 EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 35; GA Léger Schlußanträge v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 23. 5 Zu den Anwendungsvoraussetzungen des deutschen Haustürwiderrufsrechts MünchKomm BGB-Ulmer, § 312 BGB Rn. 28 ff. mwN. Zur überschießenden Umsetzung Habersack/ Mayer, WM 2002, 253, 254; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546 f.; ausführlich und mit Vergleich zu dem die Richtlinienvorgaben exakt abbildenden italienischen Recht Gabrielli, in: Canaris/Zaccaria (Hrsg.), Die Umsetzung von zivilrechtlichen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in Italien und Deutschland (2002), S. 42 ff. 6 S. dazu Begr. RegE BT-Drucks. 14/6040, S. 243; Jauernig-Berger, § 474 Rn. 2. 7 Rittner, JZ 1995, 849, 851 und Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 32 sprechen von europarechtlichen Inseln im nationalen Recht. Der punktuelle Charakter schließt freilich nicht aus, daß sich aus der Zusammenschau mehrere Richtlinien gemeinsame Leitgedanken und Prinzipien finden lassen. Dazu für das Europäische Vertragsrecht Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 886 ff. 8 Ausführlich zur Kompetenz der Gemeinschaft zur Angleichung des Vertragsrechts Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 139 ff. 9 S. zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips auch im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art. 95 EG EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 Rn. 177ff. 10 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 2ff. Das schließt eine weitergehende und dann auch systembildende Rechtsangleichung für die Zukunft nicht aus. Für sie bestehen wissenschaftliche Vorüberlegungen
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
nationale Gesetzgeber seine Regelung in die Systematik des bestehenden Rechts einpassen und Abgrenzungsschwierigkeiten, Wertungswidersprüche und Überschneidungen vermeiden.11 Auf der Ebene des nationalen Rechts entstehen hierdurch Rechtsnormen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches der Umsetzung einer europäischen Richtlinie dienen, aber zugleich aufgrund der autonomen Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers auch Fälle außerhalb der gemeinschaftsrechtlichen Regelung erfassen.12 2.
Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem
Setzt der nationale Gesetzgeber europäische Richtlinien überschießend um, so entstehen neben den mit der Umsetzung von Richtlinien allgemein verbundenen Fragen zwei spezifische Probleme: Zum einen ist fraglich, ob auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfaßt werden, eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 EG möglich und für letztinstanzliche Gerichte gar verpflichtend ist.13
3
Zum anderen ist zu überlegen, wie sich der hybride Charakter der nationalen Norm auf deren Auslegung auswirkt. Dabei versteht es sich von selbst, daß innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie die nationale Norm richtlinienkonform auszulegen ist.14 Schwieriger zu entscheiden ist demgegenüber die Frage nach der richtigen Auslegungsmethode in den Fällen, die nicht von der Richtlinie erfaßt werden: Folgt hier bereits aus europäischem Recht eine Pflicht zu einheitlicher und damit stets richtlinienkonformer Auslegung? 15 Zwingt das nationale Recht zu einheitlicher Auslegung der auf der Ebene des nationalen Rechts einheitlichen Norm 16 oder ist die
4
11 12 13 14
15
16
namentlich im Bereich des Europäischen Vertragsrechts mit den European Principles of Contract Law (Lando/Beale, dazu Zimmermann, ZEuP 2000, 391 ff.) und dem Vorentwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuches der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler (Gandolfi-Entwurf, abgedruckt in ZEuP 2002, 135 ff. und 365 ff.). Siehe daneben die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003) endg. 68, ABl. 2003 Nr. C 63/1. Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; näher dazu Tröger, ZEuP 2003, 525 f.; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 880ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001) 654, 669. S. dazu Drexl, FS Heldrich, S. 68: Hybride Normen. Dazu unten unter IV. Allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth, oben § 14 Rn. 3 ff. Zur Pflicht, eine hybride Norm (zumindest) im richtliniendeterminierten Bereich richtlinienkonform auszulegen, Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 f. Ausführlich Drexl, FS Heldrich, S. 81 ff. Ebenso MünchKommBGB-Ernst, vor § 275 BGB Rn. 23; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht (2000), S. 119. So auch die Interpretation der Rechtsprechung des EuGH bei AnwKomm-Büdenbender (2005), vor § 433 Rn. 20; anders ders., ZEuP 2004, 36, 51 ff. So für das Umwandlungsgesetz Lutter, GS Heinze, 575 ff., ebenso Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (3. Auflage 2004), Einleitung Rn. 31 f. Anders aber noch Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (2. Auflage 2000), Einleitung Rn. 30: Pflicht zu einheitlicher Auslegung ergebe sich aus europäischem Recht.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Auslegung der nationalen Norm in dem nicht richtliniendeterminierten Bereich von der richtlinienkonformen Auslegung innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie zu unterscheiden und kommt im Einzelfall auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm in Betracht? 17
5
II.
Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung
1.
Fallgruppen überschießender Umsetzung
Im deutschen Recht finden sich zahlreiche Beispiele überschießender Umsetzung von Richtlinien.18 Diese lassen sich im Anschluß an Drexl 19 in verschiedene Fallgruppen einordnen: Der Gesetzgeber kann mit den der Umsetzung dienenden Vorschriften über den sachlichen, den persönlichen oder den örtlichen Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgehen. a)
6
Wohl am häufigsten ist die Konstellation anzutreffen, daß der persönliche Anwendungsbereich des zur Umsetzung dienenden nationalen Rechts weiter ist als der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie. aa)
7
Persönlicher Anwendungsbereich
Verbraucherschutz
So erfassen im Verbraucherschutzrecht, wie erwähnt, die Vorschriften der §§ 474 ff. BGB iVm § 13 BGB über den Verbrauchsgüterkauf auch Personen, die im Rahmen einer unselbständigen, aber beruflichen Tätigkeit handeln, während die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf diesen Personenkreis nicht erfaßt. Ganz ähnlich gilt das deutsche Verbraucherkreditrecht gem. § 507 BGB auch für Existenzgründer, obgleich diese von der Verbraucherkreditrichtlinie 20 nicht erfaßt werden,21 und Teile des Rechts über Allgemeine Geschäftsbedingungen, darunter namentlich das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, gelten für sämtliche Verträge, während die
17 So schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; am Beispiel der Richtlinie über Haustürgeschäfte Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 257 f.; vertiefend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548 ff. 18 Umfassender Überblick bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 15ff.; s. daneben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. 19 Drexl, FS Heldrich, S. 70 ff. 20 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 Nr. L 42/48; geändert durch Richtlinie 90/88/EWG v. 22.2.1990 ABl. 1990 Nr. L 61/14 und durch Richtlinie 98/7/EG v. 16.2.1998, ABl. 1998 Nr. L 101/17. 21 Drexl, FS Heldrich, S. 71.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
Europäische Richtlinie über mißbräuchliche Klauseln22 nur auf Verbraucherverträge Anwendung findet. bb)
Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht
Ein im Vergleich zur Richtlinie erweiterter persönlicher Anwendungsbereich findet sich daneben häufig bei der Umsetzung handels-, gesellschafts- und bilanzrechtlicher Richtlinien. So gilt § 15 Abs. 3 HGB für sämtliche Kaufleute, während die Publizitätsrichtlinie 23 nur auf Kapitalgesellschaften Anwendung findet. Die Verschmelzungs- 24 und die Spaltungsrichtlinie 25 gelten nur für Aktiengesellschaften, sie wurden vom deutschen Gesetzgeber jedoch nur zum Teil durch die gleichfalls nur für Aktiengesellschaften geltenden §§ 60 bis 77 und §§ 141 bis 146 UmwG, zum Teil aber auch durch die auf verschiedene Gesellschaftsformen anwendbaren allgemeinen Vorschriften der §§ 2 bis 38 UmwG betreffend die Verschmelzung und der §§ 123 bis 137 UmwG betreffend die Spaltung umgesetzt.26 In diesem Zusammenhang ist schließlich die Umsetzung der bilanzrechtlichen Richtlinien 27 zu nennen. Die Richtlinien verlangen Geltung nur für Kapitalgesellschaften und atypische Personenhandelsgesellschaften. Dementsprechend erfolgte die Umsetzung in das deutsche Recht durch die diesen Gesellschaften vorbehaltenen §§ 264 ff. HGB. Daneben wurden wesentliche Bestimmungen der Richtlinie über den Jahresabschluß aber auch durch die allgemeinen, für sämtliche rechnungslegungspflichtige Unternehmen geltenden Vorschriften der §§ 238 bis 263 HGB umgesetzt.
22 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 23 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 Nr. L 65/8 (Publizitätsrichtlinie). Zu ihr Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht (3. Auflage 2006), § 5 Rn. 1 ff., zu Problemen durch die überschießende Umsetzung dort Rn. 115 f. 24 Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates vom 9.10.1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. 1978 Nr. L 295/36. 25 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates vom 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 Nr. L 378/47. 26 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht (3. Aufl. 2006), § 7 Rn. 3ff. 27 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 Nr. L 222/11 (Jahresabschlußrichtlinie); Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates vom 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 Nr. L 193/1 (Richtlinie über den konsolidierten Abschluß); Achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates vom 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, ABl. 1984 Nr. L 126/60 (Abschlußprüferrichtlinie). Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
cc)
9
In Zukunft könnte auch das deutsche Lauterkeitsrecht einen Fall der überschießenden Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten persönlichen Anwendungsbereichs darstellen. Denn während die vom Rat unlängst beschlossene Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken 28 nur Verbraucher schützen soll und dementsprechend nur im Verhältnis Unternehmer–Verbraucher gilt,29 dient das deutsche Lauterkeitsrecht auch dem Schutz anderer Unternehmer und gilt daher auch im Verhältnis zwischen Unternehmern. Soweit der deutsche Gesetzgeber, wie bislang beabsichtigt, sein Konzept beibehält und lediglich die unausweichlichen Anpassungen an die Richtlinie vornimmt, erhält auch das UWG den Charakter einer überschießenden Umsetzung,30 wobei insofern unerheblich ist, daß das deutsche Recht zeitlich vor der Richtlinie bestand.31 b)
10
Lauterkeitsrecht
Sachlicher Anwendungsbereich
Beispiele für überschießende Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten sachlichen Anwendungsbereiches der zur Umsetzung dienenden nationalen Norm finden sich im Verbraucherschutz-, im Handels- und – mit Einschränkungen – im Steuerrecht. Zu dieser Fallgruppe zählt die bereits angesprochene Umsetzung der Richtlinie über den Haustürwiderruf durch die §§ 312 f., 355 ff. BGB. Soweit das deutsche Haustürwiderrufsrecht auch auf Verträge anwendbar ist, die nicht in der Haustürsituation abgeschlossen, aber durch eine Haustürsituation mitveranlaßt wurden, geht der sachliche Anwendungsbereich des deutschen Haustürwiderrufsrechts über denjenigen der Haustürwiderrufsrichtlinie hinaus. Ebenso wird die gleichfalls oben angesprochene und bereits als Beispiel einer Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs vorgestellte Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf auch in bezug auf den sachlichen Anwendungsbereich überschießend umgesetzt, soweit diese Richtlinie durch allgemeines Kaufrecht und durch das allgemeine Leistungsstörungsrecht umgesetzt wird. Beachtlich ist insoweit, daß das allgemeine Leistungsstörungsrecht für sämtliche Verträge und das allgemeine Kaufrecht für alle Kaufverträge gilt, während die Richtlinie nur Kauf und Werklieferung beweglicher Sachen erfaßt. Daneben geht auch der Anwendungsbereich des in §§ 651a ff. BGB geregelten deutschen
28 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2005 L 149/22. 29 Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie; dazu Drexl, FS Heldrich, S. 72; Baumbach/Hefermehl-Köhler, Wettbewerbsrecht (23. Aufl. 2004), Einleitung UWG Rn. 3.60. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich für eine Geltung der Richtlinie auch im Wirtschaftsverkehr zwischen Unternehmen ausgesprochen, konnte sich aber mit dieser Position im Rat nicht durchsetzen. 30 Drexl, FS Heldrich, S. 72. 31 Dazu, daß auch älteres mitgliedstaatliches Recht der Umsetzung von Richtlinien dienen und der richtlinienkonformen Auslegung unterfallen kann, W.-H. Roth, oben § 14 Rn. 15 f.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
Reisevertragsrechts über denjenigen der Pauschalreiserichtlinie zumindest insofern hinaus, als das deutsche Reisevertragsrecht, anders als die Richtlinie, nach § 651 Abs. 1 BGB grundsätzlich auch Gastschulaufenthalte erfaßt.32 Zu nennen ist des weiteren auch hier § 15 Abs. 3 HGB, der nicht nur, wie beschrieben, durch die Einbeziehung auch derjenigen Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaft sind, über den persönlichen Anwendungsbereich der Publizitätsrichtlinie hinausgeht,33 sondern auch in seinem sachlichen Anwendungsbereich von der Richtlinie abweicht, indem er nicht nur den seltenen, aber in der Richtlinie allein geregelten Fall einer Divergenz von richtiger Eintragung und unrichtiger Bekanntmachung, sondern auch den praktisch wesentlich bedeutsameren Fall erfaßt, daß Eintragung und Bekanntmachung unrichtig sind.34 Ein weiterer, für die Rechtspraxis besonderes bedeutsamer und bereits in der Vergangenheit viel diskutierter35 Fall überschießender Umsetzung durch erweiterten sachlichen Anwendungsbereich ergibt sich, wenn man die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs, welche die Bilanzrichtlinie umsetzen, über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG auch zur Ermittlung der Steuerbilanz heranzieht. Allerdings wird die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und damit die Intensität der Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz in letzter Zeit zunehmend in Frage gestellt,36 so daß die Probleme der mittelbaren Richtlinienwirkung bei überschießender Umsetzung insoweit durch die Frage nach der Bedeutung des der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts für die Steuerbilanz als Sachverhalt außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der Bilanzrichtlinie und damit durch die Frage, ob und inwieweit eine überschießende Umsetzung aus der Perspektive des nationalen Rechts überhaupt vorliegt, zusätzlich erschwert werden. Denn soweit die Steuerbilanz eigenen Regeln unterliegt und nicht mit Rückgriff auf die handelsrechtlichen Grundsätze zu bilden ist, stellt sich auch die Frage nach einer mittelbaren Bedeutung der Bilanzrichtlinie nicht. c)
11
Örtlicher Anwendungsbereich
Die Probleme der überschießenden Umsetzung stellen sich schließlich auch dann, wenn der nationale Gesetzgeber hinsichtlich des örtlichen Anwendungsbereichs über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht. So gelten Richtlinien bisweilen lediglich für grenzüberschreitende Sachverhalte, während der nationale Gesetzgeber zur Vermeidung einer Inländerdiskriminierung 37 eine Anwendung der die Richtlinie umsetzenden Vorschriften auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte vorsehen kann. Aus dem Bereich des deutschen Privatrechts sind hier die Vorschriften des Über-
32 S. § 651 Abs. 1 BGB und zu dessen Charakter als überschießende Umsetzung Pohar/Sendmeyer, RRa 2004, 247, 250 sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 171. 33 Dazu oben Rn. 8. 34 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915. 35 Herlinghaus, IStR 1997, 529, 535 ff.; Hennrichs, ZGR 1997, 66, 68 ff., jeweils mwN. 36 Dazu statt vieler Tipke/Lang-Lang, Steuerrecht (18. Aufl. 2005), § 9 Rn. 309. 37 S. zu den hiervon erfaßten Sachverhalten Schwarze-Holoubek, Art. 12 EGV Rn. 33. Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
weisungsrechts (§§ 676a ff. BGB) zu nennen. Durch sie wird die nur für grenzüberschreitende Überweisungen geltende Überweisungsrichtlinie 38 umgesetzt, die nationalen Vorschriften finden aber auch auf inländische Überweisungen Anwendung.39 2.
13
Die hier aufgegriffene Problematik von Auslegung und Rechtsweg bei überschießender Umsetzung von Richtlinien ist gegenüber drei mit ihr eng verwandten, aber nicht identischen Konstellationen abzugrenzen. a)
14
Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen
Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien
Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung von Richtlinien zunächst von der inhaltlichen Übererfüllung. Eine inhaltliche Übererfüllung ist gegeben, wenn der nationale Gesetzgeber über den von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsauftrag hinausgeht, ohne dabei den Anwendungsbereich des nationalen Rechts gegenüber der Richtlinie zu erweitern.40 Ein Beispiel für die inhaltliche Übererfüllung findet sich im Verbraucherdarlehensrecht: Nach § 495 Abs. 1 BGB kann der Verbraucher den Verbraucherdarlehensvertrag widerrufen, während die Verbraucherkreditrichtlinie, deren Umsetzung die §§ 492 ff. BGB dienen, ein Lösungsrecht des Verbrauchers derzeit nicht vorsieht. Von der überschießenden Umsetzung unterscheidet sich die inhaltliche Übererfüllung der Richtlinie insofern, als das die Richtlinie übererfüllende nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegt. Zumindest soweit ein Rechtsstreit, wie regelmäßig, nicht allein auf die übererfüllende Rechtsfolge gründet, ist bei Fragen zur Auslegung der Richtlinie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof möglich und für letztinstanzliche Gerichte verpflichtend. Soweit es sich hingegen um Auslegungsfragen handelt, die allein den über die Richtlinie hinausgehenden Teil der nationalen Regelung betreffen, stellt sich die Frage des Einflusses des
38 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 Nr. L 43/25. 39 Drexl, FS Heldrich, S. 73, siehe auch dort Fn. 39 zum erweiterten sachlichen Anwendungsbereich des deutschen Überweisungsrechts. 40 S. bereits Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 und Mayer/Schürnbrand JZ 2004, 545. Im Grundsatz ebenso Drexl, FS Heldrich, S.73. Abgrenzung beider Fallgruppen auch bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S.11ff. Dessen Einschätzung, der Begriff der überschießenden Umsetzung umfasse auch die inhaltliche Übererfüllung, ist freilich unzutreffend, siehe zur Begrenzung der überschießenden Umsetzung auf Fälle, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgeht schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914. Dementsprechend geht auch die an die eigene unzutreffende Inhaltsbestimmung anknüpfende Kritik Brandners (Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 11 f.) am Begriff der überschießenden Umsetzung ins Leere. Demgegenüber unterscheiden Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung, S. 55 ff. und Gebauer/Widmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 22 zwischen Gegenstandsbereich und Harmonisierungsintensität, ordnen aber ein Abweichen des nationalen Gesetzgebers in beiden Fällen der überschießenden Umsetzung zu.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
europäischen Rechts und der Möglichkeit der Vorlage an den EuGH schon deshalb nicht, weil die Richtlinie zu diesen Fragen naturgemäß nichts beitragen kann. Der überschießenden Umsetzung gemeinsam ist den Fällen der inhaltlichen Übererfüllung hingegen die unten aufzugreifende Frage, ob ein von der Richtlinie in ihrer Auslegung durch den EuGH vorgegebenes Regelungsziel, welches im nationalen Recht innerhalb des durch die Richtlinie erfaßten Bereiches durch richtlinienkonforme Auslegung erreicht werden kann und muß, auch in dem von der Richtlinie nicht erfaßten Bereich ausschlaggebend zu berücksichtigen ist und ob in diesen Fällen die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens und für letztinstanzliche Gerichte eine Vorlagepflicht besteht. b)
Fakultative Umsetzung, opt-out
Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung wie auch die allein auf nationalem Recht beruhende inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien von denjenigen Fällen, in denen der nationale Gesetzgeber eine Richtlinienvorgabe umsetzt, obgleich er infolge eines in der Richtlinie selbst vorgesehenen Rechts zum opt-out hierzu nicht verpflichtet ist.41 Macht der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des opt-out in der dafür ggf. vorgesehenen Weise 42 Gebrauch, so gilt insoweit die Vorgabe der Richtlinie einschließlich der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung für diesen Mitgliedstaat nicht, während die Richtlinie andernfalls insgesamt, also einschließlich der „fakultativen“ Regelungen, schon kraft europäischen Rechts zu beachten ist.43 c)
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Textgleiche Normen
Zu unterscheiden ist der hier im Vordergrund stehende Fall einer nationalen Norm, die zugleich der Umsetzung einer Richtlinie und der Regelung von in der Richtlinie nicht erfaßten Konstellationen dient, schließlich von dem Fall, daß der nationale Gesetzgeber zwei textgleiche Normen schafft, von denen die eine der Umsetzung einer Richtlinie dient, während die andere rein nationale Sachverhalte regelt. Als Beispiel hierfür mag die Zurechnung von Stimmrechten nach dem die Transparenzrichtlinie umsetzenden § 22 WpHG einerseits und nach der bislang 44 rein nationalen, aber
41 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 547 f.; dort auch zur Frage eines teilweisen opt-out. 42 S. dazu, daß ein Recht zum opt-out häufig, aber nicht immer, von einer Pflicht zur Notifizierung gegenüber der Kommission begleitet wird Prechal, Directives in European Community Law (1995), S. 51f. 43 So im Ergebnis auch EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-3827 Rn. 47: Art. 15 der Richtlinie 85/374/EWG erlaubt zwar, die in Art. 7 lit. e der Richtlinie vorgesehene Haftungsfreistellung insgesamt auszuschließen, ein Mitgliedsstaat handelt aber richtlinienwidrig, wenn er die Haftungsfreistellung von weiteren Voraussetzungen abhängig macht. 44 S. Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 Übernahmerichtlinie (Richtlinie 2004/25/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 Nr. L 142/12). Die Richtlinie muß von den Mitgliedsstaaten bis spätestens 20.5.2006 umgesetzt werden. Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
textgleichen Zurechnungsnorm des § 30 WpÜG andererseits dienen. Zwar könnte man auch hier angesichts des übereinstimmenden Wortlauts von – im weiteren Sinne – überschießender Umsetzung sprechen,45 doch stellt sich insoweit die Frage nach der Zulässigkeit der Normspaltung und einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht in gleicher Schärfe.46 3.
Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien
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Bevor anschließend die Auslegung des nationalen Rechts und damit das Kernproblem überschießender Umsetzung in den Blick genommen werden soll, ist zu klären, ob die überschießende Umsetzung als solche mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Hierbei gilt es zweifach zu differenzieren: Zum einen sind für die Frage nach der generellen Zulässigkeit überschießender Umsetzung die Fälle einer unrichtigen Umsetzung und die daran anschließende Frage, wie eine fehlerhafte Umsetzung durch richtlinienkonforme Auslegung beseitigt werden kann, außer Betracht zu lassen. Stattdessen ist zunächst die vorgelagerte Frage zu beantworten, ob schon eine inhaltlich fehlerfreie, aber überschießende Umsetzung europarechtlichen Bedenken begegnet. Zum zweiten ist die bereits oben aufgezeigte Differenzierung zwischen überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung zu beachten.
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Auszugehen ist hierbei von dem in Art. 249 EG niedergelegten Grundsatz, daß sich Richtlinien an die Mitgliedsstaaten wenden und daß sie nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, die Wahl von Form und Mittel zum Erreichen dieses Ziels aber den innerstaatlichen Stellen überlassen. Richtlinien sind zwar Mittel zur Erzwingung und Absicherung mitgliedstaatlicher Rechtsetzung, sie dienen dabei aber zugleich der Integration unter Schonung mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielräume und nationaler Regelungsstrukturen, indem es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wie die von der Richtlinie vorgegebenen Ziele durch nationales Recht erreicht werden.47 Der Richtlinie selbst läßt sich daher keine Vorgabe hinsichtlich der Form ihrer (verbindlichen) Umsetzung entnehmen; auch enthält das Gemeinschaftsrecht keine Pflicht, jede Richtlinie für sich durch ein eigenes nationales Gesetz umzusetzen. Ist somit die Form der überschießenden Umsetzung als solche keinen Bedenken ausgesetzt, so ist weiter zu prüfen, ob eine überschießende Umsetzung aus inhaltlichen Gründen gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen kann. Diesbezüglich ist zwischen inhaltlicher Übererfüllung und überschießender Umsetzung zu unterscheiden.
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Inhaltliche Übererfüllung stellt eine strengere nationale Rechtsfolge innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie dar. Bei ihr sind die Richtlinie und damit das europäisches Recht auf die durch nationale Übererfüllung strenger geregelten Sachverhalte anwendbar, und es folgt ohne weiteres, daß auch die Frage, ob die strengere nationale Regelung zulässig ist, mit Blick auf das Gemeinschaftsrecht beantwortet
45 So denn auch Franck, BKR 2002, 709, 712 f. 46 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548. 47 S. dazu statt aller Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 124, 130 ff.
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Mathias Habersack/Christian Mayer
§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
werden muß. Eine inhaltliche Übererfüllung ist daher nur dann zulässig, wenn die Richtlinie und das sonstige Gemeinschaftsrecht die von der Richtlinie erfaßten Sachverhalte nicht abschließend regeln. In diesem Bereich ist daher die bisweilen schwierige Frage zu beantworten, ob das europäische Recht eine Vollharmonisierung anstrebt und damit weitergehendes nationales Recht ausschließt, oder ob es lediglich eine Mindestharmonisierung begründet und strengeres nationales Recht zuläßt. Demgegenüber erfolgt durch die überschießende Umsetzung eine Erstreckung des Regelungsplans der Richtlinie auf Sachverhalte, die nicht im Anwendungsbereich der Richtlinie liegen. Steht aber fest, daß die von der nationalen Regelung betroffenen Konstellationen von der Richtlinie gar nicht erfaßt werden, so ist die nationale Regelung auch aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich zulässig, ohne daß es darauf ankäme, ob die Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches eine Mindest- oder eine Vollharmonisierung vorgibt.48 Sollte eine Richtlinie demgegenüber bestimmte sachliche Regelungen ausdrücklich spezifischen Konstellationen vorbehalten und die gleiche Regelung damit für einzelne oder auch alle anderen Konstellationen verbieten, so würde bereits der Anwendungsbereich dieser Richtlinie notwendig auch die von ihr negativ geregelten Fälle umfassen.49 Die nationale Erstreckung einer Regelung, die von dieser Richtlinie spezifischen Konstellationen vorbehalten ist, auf andere Sachverhalte stellt dann keinen Fall einer überschießenden, sondern einen Fall der inhaltlich fehlerhaften Richtlinienumsetzung dar. Diesem ist mit dem hierfür vorgesehenen Instrumentarium – richtlinienkonforme Auslegung, ggf. unmittelbare Anwendung der Richtlinie, Vertragsverletzungsverfahren und Haftung des Staates für fehlerhafte Umsetzung – zu begegnen.
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All dies schließt freilich nicht aus, daß die überschießende Umsetzung im Einzelfall aus anderen Gründen des Gemeinschaftsrechts, beispielsweise wegen einer damit verbundenen Beschränkung einer Grundfreiheit oder eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot, gemeinschaftsrechtswidrig ist; insofern unterscheidet sich die überschießende Umsetzung jedoch nicht von jeder anderen nationalen Rechtsetzung.
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48 Wie hier Drexl, FS Heldrich, S. 76; ähnlich Lutter, GS Heinze, S. 572f.: Eine solche Erweiterung „stört das europäische Recht in aller Regel nicht“. 49 Soweit erkennbar enthält indes keine Richtlinie im Bereich des Privatrechts einen so umfassenden Anwendungsbereich; in einem solchen Fall wären zudem die Kompetenz der Gemeinschaft zum Erlaß einer so weitgehenden Regelung und deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz sorgfältig zu prüfen. Vgl. dazu aber auch Hoffmann, WM 2006 560, 562, der einen entsprechend weiten Anwendungsbereich der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen annimmt und deshalb für eine gespalten-einschränkende Auslegung von § 13 BGB plädiert. Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
III. Die Auslegung des nationalen Rechts 1.
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Problemstellung
Im folgenden ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit in Fällen überschießender Umsetzung die Richtlinie Maßstab für die Auslegung des nationalen Rechts ist. Praktische Bedeutung erlangt diese Frage in den Fällen, in denen das aus rein nationaler Sicht zutreffende Auslegungsergebnis mit den Anforderungen des europäischen Rechts nicht übereinstimmt, die Diskrepanz von europarechtlicher Vorgabe und nationaler Umsetzung aber durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts beseitigt werden kann.50 Zur Verdeutlichung des Problems sei hier auf das Erfordernis einer Fristsetzung vor Rücktritt des Gläubigers bei Nicht- oder nicht vertragsgemäßer Erfüllung durch den Schuldner hingewiesen.51 Nach § 323 Abs. 1 BGB ist ein Rücktritt nur möglich, wenn der Gläubiger dem Schuldner zuvor erfolglos eine angemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat. Diese Norm gilt vorbehaltlich der in §§ 323 Abs. 2, 440 BGB vorgesehenen Ausnahmen für alle gegenseitigen Verträge und damit, wie die §§ 437 Nr. 2, 440 BGB ausdrücklich klarstellen, auch für das Rücktrittsrecht des Käufers bei Lieferung einer mangelhaften Sache. Demgegenüber soll der Käufer einer mangelhaften Sache nach Art. 3 Abs. 5 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sich bereits dann von dem Vertrag lösen können, „wenn der Verkäufer nicht innerhalb einer angemessenen Frist Abhilfe geschaffen hat.“ Hieraus wird überwiegend geschlossen, daß nach der Richtlinie Voraussetzung des Rücktritts allein der Ablauf einer angemessenen Frist, nicht aber deren förmliche Setzung durch den Gläubiger ist.52 Folgt man dem und geht man weiter davon aus, daß das deutsche Recht einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich ist,53 so stellt sich die hier interessierende Folgefrage, ob eine solche Auslegung auf die von der Richtlinie erfaßten Fälle und damit auf Kaufverträge über bewegliche Sachen zwischen Unternehmern und Verbrauchern im engen Sinne der Richtlinie zu beschränken ist oder ob eine Erstreckung auf alle Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne der §§ 474 ff. BGB, auf alle Kaufverträge oder gar auf alle gegenseitigen Verträge veranlaßt ist. 50 Für eine ausdrückliche Divergenzprüfung daher Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 155 („dreistufige Rechtsanwendung“); in aller Regel wird es sich freilich eher um einen allgemeinen Abwägungsprozeß handeln. 51 Dazu und zum folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546. 52 Ernst/Gsell, ZIP 2000, 1410, 1418; ebenso Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXIII; AnwKomm-Dauner-Lieb, BGB (2005), § 323 Rn. 20; MünchKommBGB-Ernst, § 323 BGB Rn. 248; Bamberger/Roth-Faust, BGB (Band 1 2003), § 437 Rn. 17; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 160; Tröger, ZEuP 2003, 525, 535. 53 Die Begründung des Gesetzesentwurfs des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes schlägt für diesen – aus Sicht des von Richtlinienkonformität ausgehenden Gesetzgebers: hypothetischen – Fall eine erweiternde Auslegung des § 440 BGB vor, BT-Drs. 14/6040, S. 222. Richtig erscheint demgegenüber eine erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB, so Bamberger/Roth-Faust, § 437 Rn. 17 und MünchKommBGB-Ernst, § 323 BGB Rn. 248. Für teleologische Reduktion der Rücktrittsvoraussetzungen Canaris, JZ 2001, 499, 510; ders., Schuldrechtsmodernisierung, S. XXIV sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 160.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
2.
Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Gemeinschaftsrecht?
Bisweilen wird vertreten, eine Pflicht zur einheitlichen Auslegung des nationalen Rechts folge schon aus dem Gemeinschaftsrecht selbst, so daß hybride Normen innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie gleich und damit stets richtlinienkonform ausgelegt werden müßten.54 Zur Begründung dieser These wird zumeist auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Leur-Bloem 55 und Giloy 56 verwiesen und angeführt, der EuGH habe in diesen Entscheidungen ein klares Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung konstatiert und damit eine europarechtlich fundierte Pflicht zu einheitlicher Auslegung begründet. Ergänzend hat jüngst Drexl den Versuch unternommen, die Rechtsprechung des EuGH zur Auslegung von Vorschriften des TRIPS-Abkommens zum Schutz des geistigen Eigentums auch für das Problem der überschießenden Umsetzung von Richtlinien fruchtbar zu machen.57 a)
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Unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschußbereich?
Eine unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (auch) im Überschußbereich setzte voraus, daß die der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung zugrundeliegenden Mechanismen auf die nationale Norm auch insoweit Anwendung finden, als die nationale Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausreicht. Dagegen spricht vor allem das jedem Handeln der Gemeinschaft zugrunde liegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, aufgrund dessen das Gemeinschaftsrecht außerhalb seines Anwendungsbereichs eine gemeinschaftsrechtliche Wirkung nicht entfalten kann.58 In den Worten von Generalanwalt Darmon: „Es gibt kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“.59 Da aber die überschießende Umsetzung den Anwendungsbereich des umzusetzenden Rechts schon deshalb unberührt läßt, weil den Mitgliedstaaten die Befugnis fehlt, den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts einseitig zu bestimmen,60 bleibt es dabei, daß der überschießende Teil der nationalen Norm außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegt. Es kommt hinzu, daß die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ihrerseits in der Pflicht des Mitgliedstaates zur Umsetzung der Richtlinie wurzelt. Sie kann deshalb nicht über
54 MünchKommBGB-Ernst, vor § 275 BGB Rn. 23; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht (2000), S. 119. So auch die Interpretation der Rechtsprechung des EuGH bei AnwKommBüdenbender, BGB (2005), vor § 433 Rn. 20; anders ders., ZEuP 2004, 36, 51 ff. 55 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161. 56 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291. 57 Drexl, FS Heldrich, S. 82 f. 58 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 und Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915 ff. 59 GA Darmon, Schlußanträge v. 3.7.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Massam Dzodzi ./. Belgischer Staat, Slg. 1990, I-3780 Tz. 11. 60 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919. Mathias Habersack/Christian Mayer
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den mit der Richtlinie den Mitgliedstaaten aufgegebenen Regelungsauftrag hinausgehen und dieser Regelungsauftrag ist durch die inhaltlichen Vorgaben und den Anwendungsbereich der Richtlinie umschrieben und begrenzt.61 b)
Mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung
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Besteht somit richtigerweise keine unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung des nicht richtliniendeterminierten Teils nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, so könnte doch eine Pflicht zu einheitlicher und damit einheitlich richtlinienkonformer Auslegung mittelbar daraus entstehen, daß andernfalls die nationale Norm auch im Anwendungsbereich der Richtlinie falsch ausgelegt werden könnte und der Mitgliedstaat damit seine Umsetzungspflicht verletzt.62 In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen in Sachen Leur-Bloem und Giloy zu bedenken. Die Rechtssache Leur-Bloem betrifft mehrere vom Gerichtshof Amsterdam vorgelegte Fragen zur Auslegung der FusionssteuerRichtlinie,63 während die vom Hessischen Finanzgericht vorgelegte Rechtssache Giloy Fragen zur Auslegung des gemeinschaftlichen Zollkodex 64 zum Gegenstand hat. Beide Verfahren betrafen allerdings nationales Recht außerhalb des Anwendungsbereichs der jeweiligen europäischen Rechtsnormen. Das Verfahren Leur-Bloem betraf die steuerlichen Auswirkungen der Einbringung von Anteilen zweier niederländischer Gesellschaften in eine dritte, ebenfalls niederländische Gesellschaft, während die Fusionssteuerrichtlinie Steuerhindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen innerhalb der Gemeinschaft beseitigen soll und dementsprechend nur für grenzüberschreitende Vorgänge gilt.65 Die streitgegenständliche Norm des niederländischen Einkommensteuerrechts sieht allerdings eine gleichlautende Definition des Begriffs der „Fusion durch Austausch von Anteilen“ vor und stellt damit einen Fall überschießender Umsetzung durch einen gegenüber der Richtlinie erweiterten örtlichen Anwendungsbereich dar. Das Verfahren Giloy betraf einen Fall der Einfuhrumsatzsteuer. Auf diese ist zwar der Zollkodex nicht anwendbar, doch enthält das nationale Steuerrecht für die Einfuhrumsatzsteuer einen Verweis auf den Zollkodex.
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In seiner Entscheidung in Sachen Leur-Bloem führt der Gerichtshof aus: „Richten sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Gemeinschaftsrecht getroffenen Regelungen, um insbesondere zu verhindern, daß es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder – wie im vorliegenden Fall – zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, so besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, daß die aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestim-
61 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung (1994), S. 273 ff.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685. 62 In diesem Sinne Drexl, FS Heldrich, S. 83 f. 63 Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990 Nr. L 225/1. 64 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. 1992 L 321/23. 65 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 918.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung mungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.“ 66
Damit scheint zwar der Gerichtshof eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung zu bejahen (Interesse der Gemeinschaft), doch ist dieses Diktum des EuGH bei näherer Betrachtung keineswegs eindeutig. Beachtlich ist zunächst der Hintergrund, vor dem der Gerichtshof das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung betont: In dem Rechtsstreit war, wie in einer Reihe vorangehender Entscheidungen auch,67 schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung von Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Fällen, in denen das Gemeinschaftsrecht nicht von sich aus anwendbar ist, sondern nur durch überschießender Umsetzung bzw. Verweis nationaler Normen auf gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen Bedeutung für den Rechtsstreit erlangt, streitig. Daher zielt das niederländische Gericht mit seiner ersten Vorlagefrage ausdrücklich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs, und in dem Verfahren sprachen sich Generalanwalt Jacobs 68, aber auch die Kommission, die niederländische und die deutsche Regierung 69 gegen eine Zuständigkeit des EuGH aus. Die Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung kann daher auch als Rechtfertigung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und nicht als Begründung einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung verstanden werden. Denn schon in der Entscheidung Leur-Bloem selbst lautet die unmittelbar folgende Randnummer:
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„In einem solchen Fall ist es jedoch im Rahmen der in Artikel 177 vorgesehenen Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof allein Sache des nationalen Gerichts, die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen; die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich auf die Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (Urteile Dzodzi und Federconsorzi aaO, Rn. 41 und 42 bzw. 10). Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein innerstaatliche Sachverhalte setzen wollte, gilt nämlich das nationale Recht, so daß dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind“.70
In der Zusammenschau beider Aussagen läßt sich das Urteil des Gerichtshofs daher nur so verstehen, daß zwar, soweit eine einheitliche Auslegung gewollt ist, ein Interesse der Gemeinschaft daran besteht, daß die Norm auch tatsächlich einheitlich, also richtlinienkonform ausgelegt wird (Rn. 32), und daß deshalb, soweit eine einheitliche Auslegung zu erfolgen hat, der Gerichtshof auch in Fällen außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts eine Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen
66 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 32; ähnlich EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 23, 28. 67 Sog. Dzodzi-Rechtsprechung, dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915 ff. 68 Gemeinsame Schlußanträge v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 47 ff. 69 S. GA Jacobs, Schlußanträge 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 44. 70 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 33. Mathias Habersack/Christian Mayer
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Bestimmungen im Vorabentscheidungsverfahren vornehmen kann,71 die Frage, ob eine einheitliche Auslegung erfolgen soll, aber eine Frage allein des nationalen Rechts ist (Rn. 33).
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Ihre Bestätigung findet diese Interpretation der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der nachfolgenden Entscheidung des EuGH in Sachen ICI.72 Hier hatte sich der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords ebenfalls mit der Frage nach der Auslegung nationaler Normen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches gemeinschaftsrechtskonform auszulegen waren, zu befassen. Zwar ging es im konkreten Fall nicht um eine Frage der richtlinienkonformen Auslegung, sondern um die Auslegung englischen Konzernsteuerrechts im Lichte der Niederlassungsfreiheit, doch war das Grundproblem insoweit identisch, als die Tochtergesellschaften des steuerbetroffenen englischen Konzerns ihren Sitz mehrheitlich nicht nur außerhalb des Vereinigten Königreichs, sondern auch außerhalb der Gemeinschaft hatten, so daß in casu schon deshalb ein möglicher, durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ggf. abzuwendender Verstoß gegen Art. 43 EG nicht gegeben war. Das House of Lords legte deshalb die allgemeine Frage vor, ob eine uneinheitliche Auslegung der nationalen Norm möglich ist,73 und der Gerichtshof hat diese Frage mit den nachfolgend wiedergegebenen Worten auch allgemein beantwortet. Die Tatsache, daß es vorliegend um einen Fall gemeinschaftsrechtskonformer und nicht um einen Fall richtlinienkonformer Auslegung ging, steht deshalb einer Bewertung von ICI als Klarstellung zu Leur-Bloem nicht entgegen.74 Denn auch der EuGH stellt bei seiner Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung nicht auf die Besonderheiten gerade der richtlinienkonformen Auslegung und die mitgliedstaatliche Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien ab, wie sich mittelbar bereits daraus ergibt, daß der Gerichtshof die oben wiedergegebene Formulierung aus Leur-Bloem nahezu wortgleich in der Entscheidung in Sachen Giloy verwendet,75 bei der die Ausstrahlungswirkung des Zollkodex und damit einer europäischen Verordnung im Mittelpunkt stand, die innerhalb ihres Anwendungsbereichs unmittelbar und zwingend gilt (Art. 249 EG) und keiner Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. In ICI stellt der EuGH fest: „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, noch, sie unangewendet zu lassen. Falls ein und dieselbe Vorschrift in einer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallenden Situation unangewendet bleiben müßte, in einer nicht in diesen Anwen71 Was indes durchaus Bedenken begegnet, dazu unten unter IV. 72 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4695. 73 S. das Zwischenurteil des House of Lords v. 14.3.1996 zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens AllER [1996] 2, S. 23 ff. 74 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919; wie hier Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 889, 892; Bärenz, DB 2003, 375; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 691 f.; dezidiert a.A. W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 884, dort Fn. 216; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 101. 75 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung dungsbereich fallenden Situation jedoch weiterhin angewandt werden könnte, wäre das zuständige Organ des betreffenden Staates verpflichtet, diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, soweit sie die sich aus Gemeinschaftsvorschriften ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte.“ 76
Die besseren Gründe sprechen denn auch gegen eine mittelbare gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen Auslegung wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung der Richtlinienwirkung im Anwendungsbereich der Richtlinie. Beachtlich ist, daß schon der Gerichtshof selbst in ICI ein Regel-Ausnahmeverhältnis konstatiert, wonach eine Verpflichtung zu einheitlich gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung grundsätzlich nicht besteht, und ein Tätigwerden des zuständigen Organs nur verlangt ist, soweit eine Rechtsunsicherheit die sich aus Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte. Es kommt hinzu, daß die bei uneinheitlicher Auslegung des nationalen Rechts angeführten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem richtliniendeterminierten und dem nicht richtliniendeterminierten Teil der Norm ihren Ursprung nicht in der uneinheitlichen Auslegung, sondern im Anwendungsbereich der Richtlinie selbst haben: Würde der Gesetzgeber die Richtlinie wortgetreu umsetzen, so wären zur Ermittlung des Anwendungsbereichs der nationalen Norm just die in der Richtlinie enthaltenen Merkmale heranzuziehen, ohne daß dem Mitgliedstaat der Vorwurf unrichtiger Umsetzung gemacht werden könnte.
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Im Kern ist daher aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht das Problem uneinheitlicher Auslegung nicht die Abgrenzung als solche, sondern die Tatsache, daß sich die Abgrenzungskriterien bei überschießender Umsetzung nicht aus der nationalen Norm selbst, sondern nur aus der Richtlinie gewinnen lassen. Soweit man hierin einen Verstoß gegen die Pflicht des Mitgliedstaates, die Richtlinie transparent umzusetzen, sieht 77, ist der Gesetzgeber des Mitgliedsstaates aufgerufen, dieses Transparenzdefizit zu beseitigen – eine Pflicht, die den nationalen Gesetzeber in diesen Fällen aber auch abgesehen vom überschießenden Charakter der Umsetzung schon deshalb trifft, weil eine nur mittels richtlinienkonformer Auslegung zu erreichende Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dem Transparenzgebot ohnehin nicht genügt.78
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c)
Rechtsprechung des EuGH zu TRIPS
Schließlich ist zu prüfen, ob sich aus der Rechtsprechung des EuGH zu dem TRIPSAbkommen Aussagen über die Auslegung nationaler Normen bei überschießender Umsetzung von Richtlinien gewinnen lassen. TRIPS ist ein Abkommen zum Schutz geistigen Eigentums, welches von der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten als gemischtes Abkommen mit Drittstaaten geschlossen wurde. Das Abkommen enthält 76 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. 77 S. zur Transparenzrechtsprechung allgemein EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-217/97 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1999, I-5087 Rn. 31 ff.; EuGH v. 23.5.1985 – Rs. 29/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 1661 Rn. 23 sowie Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 51. 78 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 141 und Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 112 mit abweichenden Stimmen aus dem deutschen Schrifttum. Mathias Habersack/Christian Mayer
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Vorschriften, die sowohl für die nationale Marke als auch für Gemeinschaftsmarken gelten, darunter der in zwei niederländischen Verfahren streitgegenständliche Art. 50 Abs. 6 TRIPS über die Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes im Zusammenhang mit Markenverletzungen. Im Urteil Hermes 79, dessen Sachverhalt den einstweiligen Rechtsschutz bei Verletzung einer nationalen Marke betraf, beantwortet der EuGH die Vorlagefrage unter Verweis auf die Rechtsprechung in Sachen Leur-Bloem und bestätigt das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung,80 und in Dior und Assco 81 geht der Gerichtshof hierüber noch scheinbar hinaus und konstatiert eine Verpflichtung zur einheitlichen Auslegung des Art. 50 Abs. 6 TRIPS: 82 „Ist eine Vorschrift wie Artikel 50 des TRIPS-Übereinkommens sowohl auf dem innerstaatlichen Recht unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar, wie dies im Markenrecht der Fall ist, so ist der Gerichtshof ebenfalls für ihre Auslegung zuständig, um voneinander abweichende Auslegungen in der Zukunft zu verhindern (vgl. Urteil Hermès, Rn. 32 und 34). Insoweit sind die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane bei der Erfüllung der Verpflichtungen, die sie bei der geteilten Zuständigkeit für den Abschluß des WTO-Übereinkommens – einschließlich des TRIPS-Übereinkommens – übernommen haben, zu enger Zusammenarbeit verpflichtet (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/94 Rn. 108). Da Artikel 50 des TRIPS-Übereinkommens eine Verfahrensvorschrift ist, die für alle in ihren Geltungsbereich fallenden Sachverhalte in gleicher Weise gilt und sowohl auf dem innerstaatlichen Recht unterliegende als auch auf dem Gemeinschaftsrecht unterliegende Sachverhalte anwendbar ist, gebietet es diese Verpflichtung sowohl aus praktischen wie aus rechtlichen Gründen, daß die Stellen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft sie einheitlich auslegen.“ 83
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Abgesehen davon, daß schon die Entscheidungszuständigkeit des EuGH in diesen Rechtssachen keineswegs unbestritten war,84 erscheint fraglich, ob sich aus dem Urteil für die hier interessierenden Konstellationen Regeln ableiten lassen. Beachtlich ist, daß in den Fällen des TRIPS-Übereinkommens die Anwendung einer gemischten Norm im Raume steht, während es bei überschießender Umsetzung um die mittelbare Wirkung einer gemeinschaftlichen Norm außerhalb ihres Anwendungsbereiches
79 EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603. 80 EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603 Rn. 32. 81 EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2000, I-11307. 82 So zumindest die Interpretation des Urt. v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2000, I-11307, Rn. 36 f. durch Drexl, FS Heldrich, S. 83. 83 EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2001, I-11307 Rn. 35 ff. 84 Deutlich die Schlußanträge von GA Cosmas in dieser Entscheidung: „Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, daß im Rahmen des Art. 177 EG-Vertrag die Ausdehnung der Auslegungszuständigkeit des Gerichtshofs auf Bestimmungen des TRIPs-Übereinkommens bezüglich der Gebiete, auf denen die (potentielle) Zuständigkeit der Gemeinschaft nicht ausgeübt worden ist, auf eine Politik richterlicher Rechtsschöpfung hinausliefe, die einem verfassungsgemäßem Verständnis zuwiderlaufen und mit Zweckmäßigkeitsgründen kaum gerechtfertigt werden könnte.“, Schlußanträge v. 11.7.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Christian Dior und Assco Gerüste, Slg. 2001, I-11307 Tz. 51.
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Mathias Habersack/Christian Mayer
§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
geht. In Dior nimmt der Gerichtshof für sich die Entscheidung über das „ob“ der einheitlichen Anwendung einer gemischten Norm in Anspruch, während im Bereich der überschießenden Umsetzung das „ob“ der einheitlichen Auslegung einer nationalen Norm zu prüfen ist. Aus der Entscheidung in Sachen Dior folgt daher keineswegs, daß der Gerichtshof auch die hier allein interessierende Frage nach dem „ob“ der einheitlichen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts künftig anders handhaben wird, als in den Entscheidungen Leur-Bloem und ICI vorgegeben. Dafür spricht auch, daß der EuGH in späteren Entscheidungen zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien das „ob“ einer einheitlichen Auslegung der Prüfung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte überläßt,85 woraus mittelbar folgt, daß es sich dabei nicht um eine Frage des Gemeinschaftsrechts handelt, wären doch zu dessen Auslegung allein die europäischen Gerichte berufen. Insgesamt läßt sich somit in Einklang mit der überwiegenden Literaturmeinung 86 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht begründen; die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung ist vielmehr eine solche des nationalen Rechts. 3.
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Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht 87
Läßt sich ein gemeinschaftsrechtlich fundiertes Gebot einheitlicher Auslegung nicht begründen, so könnte doch eine einheitliche und damit richtlinienkonforme Auslegung aus Gründen des nationalen Rechts geboten sein. Hiervon gehen nicht wenige Autoren im Schrifttum aus, wenn auch regelmäßig unter dem Vorbehalt, daß wegen „sehr wichtigen sachlichen Gründen“ oder aufgrund „ganz besonderer Umstände“ im Einzelfall anders zu entscheiden sein könne.88 Nicht nur überfordere eine divergierende Auslegung identischer Normen Gerichte und Rechtsunterworfene; sie gerate überdies mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot der Klarheit und Bestimmtheit von Normen in Konflikt. Wenn auch der Hinweis auf die Relativität von Rechtsbegriffen 89 die gespaltene Auslegung identischer Normen nicht unmittelbar zu rechtfertigen vermag,90 so bleibt doch festzuhalten, daß die Normspaltung seit Jahrzehnten ein geläufiges Problem vor allem des Wirtschaftsrechts und des Internationa85 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. 86 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht (3. Aufl. 2006), § 3 Rn. 53f.; Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; Hoffmann, WM 2006, 560, 564; Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 892; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung S. 120 ff.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 104; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4; Lutter, GS Heinze, S. 574 f.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 Rn. 151; Langenbucher-Riehm, § 4 Rn. 35; Schnorbus, RabelsZ (2001) 654, 685 f.; Schmidt-Räntsch, unten § 24 Rn. 80; Streinz-Schroeder, Art. 249 Rn. 131. 87 Die folgenden Ausführungen folgen weitgehend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549 f. 88 Bärenz, DB 2003, 375 f.; Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 486; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883; Schulte-Nölke, ZGS 2006, 201; Schulze, in: ders. (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 18. Zurückhaltend gegenüber einer gespaltenen Auslegung auch Schmidt-Räntsch, unten § 24 Rn. 82. 89 Hennrichs, ZGR 1997, 66, 78. 90 Bärenz, DB 2003, 375, 376; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 106. Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
len Privatrechts darstellt.91 Und auch der Einwand, eine gespaltene Auslegung könne Gerichte wie Rechtsunterworfene verwirren, ist letztlich nicht überzeugend, ist doch die Erwartung, das richtige Verständnis einer Norm durch schlichte Lektüre des Gesetzestextes ermitteln zu können, ein ganz allgemein von einer komplexen und dynamischen Rechtsordnung nicht zu erfüllender Wunsch. Aus dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich daher ein generelles Verbot gespaltener Auslegung nicht herleiten.92 Es kommt hinzu, daß nach der bereits oben angesprochenen Transparenz-Rechtsprechung des EuGH 93 die Zeitdauer, während derer eine gespaltene Auslegung inhaltlich zum Tragen kommt, ohnehin begrenzt ist: Die gespaltene Auslegung kommt nur dort in Betracht, wo das nach nationalem Recht ermittelte Auslegungsergebnis mit den Anforderungen der Richtlinie nicht übereinstimmt und deshalb innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie durch richtlinienkonforme Auslegung zu korrigieren ist. Da aber das der Umsetzung europäischer Richtlinien dienende nationale Recht nach der Rechtsprechung des EuGH bestimmt, klar und transparent zu sein hat und eine nur durch richtlinienkonforme Auslegung zu erreichende Rechtslage hierfür regelmäßig nicht ausreicht, bleibt der nationale Gesetzgeber trotz richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts durch die Gerichte verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie korrekt umzusetzen.94 Hierbei hat er Gelegenheit, darüber zu entscheiden, wie er zukünftig die bisher überschießend umgesetzte Fälle behandeln möchte. So hat in Sachen Heininger der EuGH entschieden, daß die Haustürwiderrufsrichtlinie so auszulegen ist, daß auch bei gleichzeitig der Verbraucherkreditrichtlinie unterfallenden Realkreditverträgen dem Verbraucher ein Recht zum Widerruf zu gewähren ist.95 Daraufhin hat der Bundesgerichtshof im Haustürwiderrufsrecht entgegen der bis dahin herrschenden, von ihm zuvor ausdrücklich geteilten Meinung 96 § 5 Abs. 2 HWiG richtlinienkonform einschränkend ausgelegt 97 und diese Auslegung unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers zur einheitlichen Behandlung der
91 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen dazu Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549. 92 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 151. Speziell zur Frage ob eine einheitliche Auslegung aus Gründen der Gleichbehandlung nach Art. 3 GG erforderlich ist, Herdegen, WM 2005, 1921, 1930. 93 Oben unter Rn. 24 ff. mit Nachweisen in Fn. 77 f. 94 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 141 und Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EGV Rn. 112 mit abweichenden Stimmen aus dem deutschen Schrifttum. 95 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 33. 96 BGH, NJW 2000, 521, 523 mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenmeinung. 97 BGHZ 150, 248, 253 ff.; BGH, NJW 2003, 199 f.; zustimmend MünchKommBGB-Ulmer, § 312a BGB Rn. 10; Frisch, BKR 2002, 84, 85; Hoffmann, ZIP 2002, 145; Pfeiffer, EWiR 2002, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655. Die besseren Argumente sprachen indes dafür, daß § 5 Abs. 2 HWiG einer solchen richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich war, so vor Erlaß der Entscheidung Edelmann, BKR 2002, 80, 82; Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256 f.; von Heymann/Annertzok, BKR 2002, 234, 235; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529; für gespaltene Auslegung bereits Habersack, WM 2000, 981, 991. Aus der Rechtsprechung etwa LG München I, WM 2002, 285, 287; OLG Bamberg, WM 2002, 537, 544 f. Zum Ganzen instruktiv Franzen, JZ 2003, 321, 324 f., 327.
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Mathias Habersack/Christian Mayer
§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
von der Richtlinie erfaßten Fälle des Vertragsschlusses an der Haustür und der vom Haustürwiderrufsgesetz umfaßten Fälle der Mitveranlassung des Vertrages durch eine Haustürsituation 98 auf alle dem HWiG unterfallenden Konstellationen angewendet. Gleichwohl hat der Gesetzgeber die Rechtslage durch Neufassung der §§ 312a, 355 BGB und Streichung des § 491 Abs. 3 Nr. 1 BGB mittels des OLG-Vertretungsänderungsgesetzes geklärt und erst damit seine Umsetzungspflicht erfüllt.99 4.
Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschußbereich
a)
Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung
Nachdem bislang festgestellt werden konnte, daß bei überschießender Umsetzung von Richtlinien weder nach europäischem noch nach nationalem Recht eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich besteht, sind nachfolgend die (nationalen) Kriterien für die Auslegung zu bestimmen. Dabei gilt es zunächst, die Unterschiede zwischen der richtlinienkonformen Auslegung im Anwendungsbereich der Richtlinie und der nationalen Auslegung außerhalb dieses Anwendungsbereichs zu verdeutlichen.100 Die richtlinienkonforme Auslegung ist ihrer rechtstheoretischen Struktur nach interpretatorische Vorrangregel 101: Innerhalb der Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung muß der nationale Rechtsanwender den europarechtlichen Vorgaben ohne weitere Abwägung Geltung verschaffen.102 Im nicht europarechtlich determinierten Überschußbereich vollzieht sich Auslegung hingegen als interpretatorische Gesamtabwägung aller zu berücksichtigenden Auslegungskriterien, wobei – vorbehaltlich der verfassungskonformen Auslegung – keinem Auslegungskriterium per se Vorrang einzuräumen ist.103 Es empfiehlt sich, worauf erstmals Hommelhoff hingewiesen hat,104 diesen Methodenunterschied auch begrifflich zu markieren, den Rechtsbegriff der richtlinienkonformen Auslegung den Fällen im Anwendungsbereich der Richtlinie vorzubehalten und außerhalb des
98 BGHZ 150, 248, 261f.; BGH, ZIP 2004, 1402, 1403; BGH, ZIP 2005, 565, 567. Demgegenüber läßt nunmehr BGH NJW 2006, 2099, 2101 die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung offen; dazu Habersack BKR 2006, 305 ff. 99 Ob weitere Umsetzungsdefizite, insbesondere durch die Pflicht des Darlehensnehmers zur Rückgewähr des Darlehens auch in den Fällen, in denen die Valuta – freilich: vereinbarungsgemäß – an Dritte bezahlt wurde, bestehen, war Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des LG Bochum, NJW 2003, 2612 und des OLG Bremen, NJW 2004, 2238. S. hierzu die Urteile des EuGH v. 25.10.2005, Rs. C-350/03 Schulte und Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, NJW 2005, 3551 und 3555 = JZ 2006, 86 m. Anm. Habersack = BKR 2005, 441 m. Anm. Derleder, in deren Folge sich erneut die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts stellt. S. zum Ganzen auch unten Rn. 43ff. 100 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 101 Überzeugend Canaris, FS Bydlinski, S. 68 ff. Eingehend Roth, oben § 14 Rn. 26, 40 ff. 102 Zutreffend Ulmer, ZIP 2002, 1080, 1081 zur überflüssigen Absicherung des richtlinienkonformen Ergebnisses durch nationale Abwägung in BGHZ 150, 248. 103 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; dem folgend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. A.A. Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (3. Aufl. 2004), Einleitung Rn. 32. 104 Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915.
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Anwendungsbereichs der Richtlinie von „Ausstrahlungswirkung der Richtlinie auf das richtlinienfreie Recht“ 105, „quasi-richtlinienkonformer“ 106 oder „richtlinienorientierter“ 107 Auslegung zu sprechen. b)
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Bedeutung des gesetzgeberischen Willens
Verbreitet wird für die möglichst einheitliche Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich und im richtliniendeterminierten Bereich auf den Willen des historischen Gesetzgebers abgestellt, der seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Schaffung der einheitlichen Norm gefunden habe und der eine gespaltene Auslegung nur in besonderen Ausnahmefällen zulasse.108 Diese Sichtweise greift jedoch, wie erst unlängst herausgearbeitet wurde, gerade in den kritischen Fällen zu kurz; 109 diese sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, daß der Gesetzgeber im nationalen Recht zwei Entscheidungen getroffen hat, von denen sich jedoch unter dem Einfluß der Richtlinie die eine nicht aufrechterhalten läßt: So hat der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes die Strukturentscheidung 110 getroffen, die Voraussetzungen des Rücktritts bei vertragswidriger Kaufsache grundsätzlich nicht für den Verbrauchsgüterkauf getrennt zu regeln, sondern diese in das allgemeine Leistungsstörungsrecht einzupassen und hierfür mit § 323 BGB eine einheitliche Norm zu schaffen. Gleichzeitig hat er aber die Sachentscheidung getroffen, den Rücktritt von Ablauf und Setzen einer angemessenen Frist abhängig zu machen. Soweit sich nun die Sachentscheidung für den Verbrauchsgüterkauf als richtlinienwidrig erweist, wird man kaum allein unter Berufung auf die Strukturentscheidung das Fristsetzungserfordernis in allen von § 323 BGB erfaßten Fällen einschränkend auslegen können. Ebenso hatte der Gesetzgeber des HWiG die Strukturentscheidung getroffen, die der Richtlinie unterfallenden, an der Haustüre abgeschlossenen Verträge so zu behandeln wie diejenigen Verträge, die durch die Haustürsituation lediglich mitveranlaßt wurden, und diese Strukturentscheidung kam seinerzeit im Anwendungsbereich des HWiG zum Ausdruck. Zugleich hat der Gesetzgeber des HWiG jedoch die in § 5 Abs. 2 HWiG seinerzeit ebenso zum Ausdruck kommende Sachentscheidung getroffen, bei Realkreditverträgen, nicht zuletzt mit Blick auf den Grundsatz der taggenauen Refinanzierung, ein Widerrufsrecht auszuschließen.111 Dieses Zusammentreffen von Sach- und Strukturentscheidung führt dazu, daß selbst die Feststellung, der Gesetzgeber habe die Strukturentscheidung bewußt getroffen und eine einheitliche Auslegung auch mit Blick auf die Richtliniengebundenheit des europarechtlich geforderten Teils der Norm gewollt, für sich genommen noch nicht automatisch zu einer einheitlichen
Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74. So Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4. Etwa BGHZ 150, 248, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655; Bärenz, DB 2003, 375; Hoffmann, ZIP 2002, 145, 150; aus jüngster Zeit Lutter, GS Heinze, S. 575 f. 109 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 110 Die Bezeichnung als Sach- und Strukturentscheidung verdanken wir Schürnbrand, s. Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 111 Dazu und zum folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 105 106 107 108
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
Auslegung führt.112 Stets ist nämlich zu beachten, daß der Gesetzgeber die Richtlinienwidrigkeit der zugleich mit der Strukturentscheidung getroffenen Sachentscheidung nicht kannte. Ein Festhalten an der Strukturentscheidung trotz abweichender Sachentscheidung ist damit letztlich hypothetischer Natur.113 c)
Vermutung für einheitliche Auslegung
Wenn sich die einheitliche Auslegung somit auch nicht allein auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers stützen läßt, so läßt sich doch insgesamt eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung formulieren. Diese kann, soweit der Gesetzgeber ausdrücklich auch auf die Richtlinie oder sonstige Normen des Gemeinschaftsrecht in ihrer jeweiligen Auslegung durch den EuGH verweisen wollte, auch den Willen des Gesetzgebers für sich in Anspruch nehmen.114 Aber auch jenseits dieser speziellen Fälle spricht die Einheitlichkeit der nationalen Norm und damit ein systematisches Argument für eine einheitliche Auslegung. Dieses systematische Argument verliert hingegen an Überzeugungskraft, wenn der Gesetzgeber, wie beispielsweise hinsichtlich der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf mit den §§ 474 ff. BGB geschehen, an anderer Stelle Sondernormen für den der Richtlinie unterfallenden Bereich schafft.115 Gleichfalls für einheitliche Auslegung streitet das für sich allein nicht durchschlagende Argument, eine gespaltene Auslegung erschwere die Rechtsanwendung und führe zu neuen Abgrenzungsschwierigkeiten.116 d)
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Gründe für eine gespaltene Auslegung
Ist somit die nationale Norm nur im Zweifel einheitlich auszulegen und kommt wegen des Charakters der Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung grundsätz112 A.A. Lutter, GS Heinze, S. 575 ff. 113 Zutreffend für die Heininger-Argumentation Rohe, BKR 2002, 575, 576; Wolf, BKR 2002, 614, 616. Zum Ganzen Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551 f.; dem folgend Jäger, Überschießende Umsetzung, S. 146 f. Noch weitergehend sieht Herdegen, WM 2005, 1921, 1930 in der gespaltenen Auslegung eine den objektiven Gesetzeswillen schonende und deshalb vorzugswürdige Auslegung. Herdegen stellt damit die Sachentscheidung über die Strukturentscheidung des Gesetzgebers.. 114 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 110. S. beispielsweise für das deutsche Kartellrecht Ackermann unten § 21 Rn. 36. Dafür streitet im Überschußbereich aber nicht die vom EuGH in seinem Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a. Slg. 2004, I-8835 Rn. 112 formulierte Vermutung, der nationale Gesetzgeber habe bei Umsetzung einer Richtlinie die Richtlinienkonformität des Umsetzungsgesetzes gewollt, denn auch diese Vermutung gilt nur für den Anwendungsbereich der Richtlinie und läßt sich auf die Frage, ob der Gesetzgeber stets eine einheitliche Auslegung des nationalen Rechts gewollt habe, nicht übertragen. Generell gegen eine Vermutung für einheitliche Auslegung hingegen Herdegen, WM 2005, 1921, 1930. 115 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. Dezidiert a.A. Lutter, GS Heinze, S. 576 und Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (3. Aufl. 2004), Einleitung Rn. 32: Gerade das Vorliegen einzelner Sondernormen für den von der Richtlinie erfaßten Bereich spreche dafür, daß der Gesetzgeber außerhalb dieser Sondernormen eine einheitliche Behandlung gewollt habe. Siehe aber zu der Problematik des Abstellens auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers oben Rn. 38. 116 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. Mathias Habersack/Christian Mayer
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lich eine gespaltene Auslegung durchaus in Betracht, so ist nachfolgend zu untersuchen, welche Gründe im Einzelfall für eine gespaltene Auslegung streiten können. aa)
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Am einfachsten ist dabei der – bislang wohl theoretische – Fall zu entscheiden, daß die von der Richtlinie gebotene Auslegung des nationalen Rechts mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre: Zumindest innerhalb des durch die Solange/Maastricht-Rechtsprechung gezogenen Rahmens gilt nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, daß, soweit ein Umsetzungsermessen nicht besteht, nicht nur die europäischen Rechtsakte, sondern auch das der Umsetzung dienende nationale Recht nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen sind.117 Jedenfalls aber wäre das Grundgesetz seinerseits richtlinienkonform auszulegen.118 Beides gilt indes nur im Anwendungsbereich der Richtlinie, da auch nur insoweit die Gemeinschaft selbst im Sinne von Art. 23 GG rechtsetzend tätig war.119 Für den überschießenden Bereich des nationalen Rechts bewendet es sich daher in jedem Fall bei der uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit am Maßstab des nicht richtlinienkonform auszulegenden Grundgesetzes und damit beim Vorrang der verfassungskonformen Auslegung.120 Weicht diese von der durch die Richtlinie gebotenen Auslegung des nationalen Rechts ab, so ist eine gespaltene Auslegung zwingend.121 bb)
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Verfassungskonforme Auslegung
Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung
Eine gespaltene Auslegung kommt daneben dann in Betracht, wenn die Sachentscheidung des Gesetzgebers besondere Bedeutung beansprucht und die durch die Richtlinie gebotene Auslegung sich von dieser Sachentscheidung weit entfernt. Hierzu ist erforderlich, den Stellenwert, den der Gesetzgeber der Sachentscheidung auf der einen Seite und der Strukturentscheidung auf der anderen Seite jeweils zugemessen hat, zu ermitteln und die Ergebnisse wertend miteinander zu vergleichen. So spricht angesichts der Bedeutung der Fristsetzung und dem in § 323 Abs. 1 BGB klar zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers viel dafür, die ggf. gebotene
117 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268 unter II. 1 b). Zwar wird dort nur die Überprüfung eines deutschen Umsetzungsgesetzes am Maßstab der Verfassung verweigert, doch kann für die verfassungskonforme Auslegung schwerlich etwas anderes gelten. Ebenso Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Ohne Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung a.A. Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 675, dort Fn. 77; diesem folgend Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 103. 118 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 f. 119 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Zur Umgrenzung des in der Richtlinie enthaltenen Regelungsauftrags durch Inhalt und Anwendungsbereich der Richtlinie oben Rn. 25. 120 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung, S. 168f. 121 Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich die Orientierung am europäischen Recht vorgibt oder unmittelbar auf europäisches Gemeinschaftsrecht verweist; Auslegungsmaxime wie Verweisung erfolgen aus nationalem Recht und unterliegen daher der Bindung durch die Verfassung.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
richtlinienkonform erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 BGB auf die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne von § 474 BGB zu beschränken.122 Eine noch weitergehende Beschränkung auf diejenigen Fälle, die auch unter den Anwendungsbereich des engeren Verbraucherbegriffs der Richtlinie fallen,123 ist dagegen abzulehnen, da durch diese ein Differenzierungskriterium in das nationale Recht eingeführt würde, welches diesem bislang fremd ist, und zudem Verwerfungen mit der allgemeinen Wertung des § 13 BGB drohten.124 cc)
Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind
Die letzte und vermutlich in der Praxis bedeutsamste Gruppe von Fällen, in denen eine gespaltene Auslegung der einheitlichen Norm ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, stellen diejenigen Konstellationen dar, in denen durch den erweiterten und über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereich des nationalen Rechts abweichende Auslegungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, daß zur Auslegung der Richtlinie deren Anwendungsbereich heranzuziehen ist.125 Da der Gerichtshof aber im Rahmen der Aufgabenteilung des Art. 234 EG stets nur das Gemeinschaftsrecht auslegt, kommen bei der Auslegung der Richtlinie notwendig allein diejenigen Gesichtspunkte zum Tragen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie berühren. Insbesondere soweit aus dem weiteren Anwendungsbereich des nationalen Rechts neue Auslegungsgesichtspunkte erwachsen, kommt eine gespaltene Auslegung des nationalen Rechts in Betracht.126
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Dies gilt namentlich dann, wenn der Gesetzgeber allein dem Verbraucherschutz dienende Richtlinien durch Normen umsetzt, die in Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs auch für den unternehmerischen Rechtsverkehr Geltung verlangen, wie dies bei der Umsetzung der Klauselrichtlinie durch die §§ 305 ff. BGB, bei der Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und künftig möglicherweise bei der Umsetzung der Richtlinie zum Schutz der Verbraucher gegen unlautere Geschäftspraktiken durch das deutsche Lauterkeitsrecht der Fall ist. In all diesen Fällen legt der Gerichtshof die Richtlinie allein unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und dabei nach der gefestigten Maxime aus, wonach die Gemeinschaft insgesamt ein hohes Verbraucherschutzniveau anstrebt und verbraucherschützende Rechte daher im Zweifel weit, Ausnahmen von verbraucherschützenden Bestimmungen hingegen im Zweifel eng auszulegen sind.127 Da diese
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122 So auch Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXVf.; ders., JZ 2003, 831, 838; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552; im Ergebnis ebenso Bamberger/Roth-Faust, § 437 Rn. 19. 123 S. dazu oben Rn. 7. 124 Bamberger/Roth-Faust, BGB (Band 1 2003), § 437 Rn. 19; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552. 125 Dazu W.-H. Roth, oben § 14. 126 Palandt-Heinrichs, Einleitung Rn. 44. 127 Dazu zu Recht kritisch Riesenhuber, oben § 11 Rn. 54 ff. Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Maximen im Verkehr zwischen Unternehmern nicht notwendig zu sachgerechten Ergebnissen führen und umgekehrt Gesichtspunkte, die für den Rechtsverkehr zwischen Unternehmen bedeutsam sind, bei der Auslegung der Richtlinie notwendig unberücksichtigt bleiben, kommt in diesen Fällen auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung in Betracht.128
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Aus den gleichen Gründen liegt eine gespaltene Auslegung auch im Bereich der Bilanzrichtlinien nahe. Denn während der Gerichtshof insoweit stets die Auslegung von Normen vornimmt, die für die Aufstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses verbindlich sind, und dabei allein die mit dieser Bilanz verfolgten Zwecke berücksichtigt, kommen im Bereich der Steuerbilanz hiervon abweichende Gesichtspunkte wie der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung und derjenige der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zum Tragen.
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Schließlich liegt eine gespaltene Auslegung auch dann nahe, wenn es um in der Richtlinie nicht enthaltene und damit im richtliniendeterminierten Bereich – soweit eine einschränkende Auslegung möglich ist – nicht anwendbare Tatbestandsmerkmale geht, die bei Lichte betrachtet nicht der Richtlinienumsetzung, sondern der Begrenzung der Reichweite des überschießenden Charakters der nationalen Norm dienen. Zu nennen ist hier die Frage nach der Zurechnung einer Haustürsituation an den Unternehmer und damit ein neuerliches Versatzstück aus der für die Wissenschaft von der überschießenden Umsetzung noch immer ergiebigen „Heininger-Saga“. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Heininger, der Berücksichtigung dieser Rechtsprechung durch den BGH in seiner Auslegung des § 5 Abs. 2 HWiG und der Neufassung der §§ 312a, 355 und 492 BGB durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz steht mittlerweile fest, daß auch Realkreditverträge, die in den Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsrechts fallen, von dem Darlehensnehmer widerrufen werden können. Damit hat sich die aktuelle Auseinandersetzung zum einen auf die Rechtsfolgen des Widerrufs und zum anderen auf die Voraussetzung der Anwendung des Haustürwiderrufsrechts verlagert. Was die letztgenannte Problematik angeht, so hatte der Bundesgerichtshof bislang in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, daß für das Bestehen eines verbraucherschützenden Widerrufsrechts nach § 312 BGB nicht nur auf das objektive Bestehen einer Haustürsituation abzustellen ist, sondern auch auf deren Zurechenbarkeit gegenüber dem Unternehmer,129 mithin in den Heininger-Fällen gegenüber der darlehensgewährenden Bank. Dieses Zurechenbarkeitskriterium findet zwar im Wortlaut des § 312 BGB keine unmittelbare Stütze, es gründet aber auf der allgemeinen Systematik der Verantwortlichkeit für das Handeln Dritter und entspricht dem Willen des historischen Gesetzgebers.130
128 A.A. für das AGB-Recht MünchKommBGB-Basedow, vor § 305 BGB Rn. 45; wie hier hingegen Palandt-Heinrichs, Überblick vor § 305 Rn. 13. 129 BGH, NJW 2003, 424, 425; BGH ZIP 2005, 1314, 1315; ebenso die bislang h.M., s. MünchKommBGB-Ulmer, § 312 BGB Rn. 30; Palandt-Heinrichs, § 312 Rn. 4; a.A. KG, NJW 1996, 1480 und Derleder, in: ders./Knops/Bamberger, Handbuch des deutschen und europäischen Bankrecht (2004), § 11 Rn. 51. 130 Amtliche Begründung zum HWiG, BT-Drs. 10/2876, S. 11.
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§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
Für die Zurechenbarkeit gelten die zu § 123 Abs. 2 entwickelten Kriterien.131 Allerdings findet sich im Wortlaut der Haustürwiderrufsrichtlinie nicht eigens ein Zurechenbarkeitskriterium, und daher hatte das OLG Bremen dem EuGH mit Beschluß vom 27.5.2004 unter anderem folgende Frage vorgelegt: „1. Ist es mit Art. 1 I der Richtlinie 85/577/EWG vereinbar, die Rechte des Verbrauchers, insbesondere sein Widerrufsrecht, nicht nur vom Vorliegen einer Haustürsituation nach Art. 1 I der Richtlinie abhängig zu machen, sondern auch von zusätzlichen Zurechnungskriterien wie der vom Gewerbetreibenden bewußt herbeigeführten Einschaltung eines Dritten in den Vertragsabschluß oder von einer Fahrlässigkeit des Gewerbetreibenden hinsichtlich des Handelns des Dritten beim Vertrieb mittels Haustürgeschäft?“ 132
In ihrer Stellungnahme kommt die Kommission zu dem Schluß, daß ein solches Zurechnungskriterium mit der Haustürwiderrufsrichtlinie nicht vereinbar sei, denn nach Art. 5 dieser Richtlinie sei Voraussetzung des Widerrufsrechts nur,
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„a) daß ein Rechtsgeschäft zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden objektiv abgeschlossen wurde, und b) daß dieser Vertragsschluß in einer Haustürsituation zustande kam.“ 133
Dem haben sich Generalanwalt Legèr in seinem Schlußantrag 134 und der EuGH 135 in seinem Urteil vom 25.10.2005 angeschlossen. Aus Sicht des nationalen Rechts war daher zu bedenken, ob fürderhin § 312 BGB einheitlich dahingehend auszulegen ist, daß ein Widerrufsrecht allein das objektive Bestehen einer Haustürsituation voraussetzt, oder ob im Überschußbereich der Norm das Zurechnungskriterium weiterhin Anwendung findet, § 312 BGB also gespalten auszulegen ist. Der II. und der XI. Zivilsenat des BGH haben sich in nachfolgenden Urteilen dafür ausgesprochen, auf das Kriterium der Zurechnung in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH insgesamt zu verzichten.136 Demgegenüber ist in diesem Zusammenhang beachtlich, daß das Zurechnungskriterium den Unternehmer vor den Folgen einer durch ihn nicht steuerbaren und nicht veranlaßten Haustürsituation schützen soll. Hierzu kann es aber bei Lichte betrachtet allein im Überschußbereich der Norm kommen, denn der wesentlich engere Anwendungsbereich der Richtlinie setzt einen wirksamen Vertragsschluß zwischen Unternehmer und Verbraucher oder zumindest die Abgabe eines Angebots durch den Verbraucher in der Haustürsituation voraus.137 Innerhalb des Anwendungsbereichs der Haustürwiderrufsrichtlinie kann deshalb schon nach nationalem Recht das Zurechnungskriterium des BGH keine begrenzende Wirkung ent-
131 BGH, NJW 2003, 424, 425; ebenso die h.M., s. MünchKommBGB-Ulmer, § 312 BGB Rn. 30; Palandt-Heinrichs, § 312 Rn. 4; a.A. KG, NJW 1996, 1480 und Derleder, in: ders./ Knops/Bamberger, Handbuch des deutschen und europäischen Bankrecht (2004), § 11 Rn. 51. S. nunmehr aber auch BGH, ZIP 2006, 221, 222 f. 132 OLG Bremen, NJW 2004, 2238. 133 Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Stellungnahme der Kommission v. 14.9.2004, S. 13. 134 Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Schlußanträge v. 2.6.2005, Slg. 2005, I-9273, Tz. 31 ff. 135 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273, Rn. 41 ff. 136 BGH BB 2006, 346, 347 und BGH BB 2006, 853, 854. 137 Zum überschießenden Charakter des deutschen Haustürwiderrufsrechts oben Rn. 10f. Ebenso Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479f. Mathias Habersack/Christian Mayer
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48
2. Teil: Allgemeiner Teil
falten, denn soweit der Vermittler als rechtsgeschäftlicher Vertreter des Unternehmers (Vertragsschluß in der Haustürsituation!) oder sonst in dessen Namen und für dessen Rechnung handelt (Art. 2 zweiter Spiegelstrich der Richtlinie), ist auch das Zurechnungskriterium ohne weiteres erfüllt. Im Ergebnis erfüllt damit – läßt man Transparenzerwägungen außer Betracht – das nationale Recht auch nach der Auslegung der bisher herrschenden Meinung den Regelungsauftrag der Richtlinie, was freilich der Vorlagebeschluß des OLG Bremen listig verschwieg. Zumindest aber dürfte der Entfall des Zurechnungskriteriums innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie keine gravierende Wirkung haben, innerhalb des überschießenden Bereichs des nationalen Rechts aber eine unabsehbare Ausweitung der Haustürwiderrufsrechts für Unternehmer bewirken. Da umgekehrt der EuGH wie auch der Richtliniengeber wegen des engeren Anwendungsbereichs der Richtlinie gar keine Veranlassung haben, über ein zusätzliches Zurechnungskriterium nachzudenken, spricht in einem solchen Fall alles dafür, die Wirkung der Richtlinie auf deren Anwendungsbereich zu begrenzen und § 312 BGB gespalten auszulegen.138
IV. 49
Schließlich ist auf die Frage nach Möglichkeit und Pflicht mitgliedstaatlicher Gerichte zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den auch der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfaßt werden, einzugehen. Dabei sind an dieser Stelle die bereits andernorts ausführlich beschriebenen, auf nationalem wie auf europäischem Recht gründenden Bedenken gegen eine Vorlagemöglichkeit und erst recht gegen eine Vorlagepflicht in Fällen überschießender Umsetzung nicht nochmals zu wiederholen.139 Vielmehr gilt es, die zwischenzeitlich erfolgte Rechtsprechung des EuGH vor dem Hintergrund der mittlerweile deutlich vorangekommenen mitgliedstaatlichen Dogmatik der Auslegung nationalen Rechts im Überschußbereich zu würdigen. 1.
50
Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs
Rechtsprechung des EuGH
In nunmehr gefestigter Rechtsprechung 140 beantwortet der EuGH Fragen nach der Auslegung europäischer Richtlinien auch dann, wenn der streitgegenständliche Fall 138 Ebenso Palandt/Heinrichs, vor § 1 BGB Rn. 44; § 312 BGB Rn. 6. Mit gleicher Tendenz Habersack, JZ 2006, 91, 94; Hoffmann, ZIP 2005, 1985, 1988 und Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f. A.A. BGH BB 2006, 346, 347 und BGH BB 2006, 853, 854 sowie aus der Literatur Hofmann, BKR 2005, 487, 490 und Staudinger, NJW 2005, 3521, 3522. 139 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. 140 So zuletzt EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur älteren Rechtsprechung. Gleicher Ansicht die überwiegende Meinung in der Literatur, z.B. Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 484 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung, S. 198 ff.; Lutter, FS Heldrich, S. 577 ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 693ff.; Schön, JbFfSt 2001/2002, 2002, 29, 31ff. Kritisch demgegenüber neben Habersack/ Mayer, JZ 1999, 913, 919 ff. insbesondere Hakenberg, RabelsZ 66 (2002), 367, 378 f. und Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 118, 119.
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Mathias Habersack/Christian Mayer
§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie siedelt, aber eine Auslegung der Richtlinie infolge einer nationalen Erstreckung zur Entscheidung des Verfahrens vor dem mitgliedstaatlichem Gericht erforderlich ist. Ob eine solche Auslegung erforderlich ist, überläßt der Gerichtshof dabei der Einschätzung des vorlegenden Gerichts und beschränkt sich auf eine Mißbrauchskontrolle141. 2.
Die nach der hier vertretenen Methodik zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung entscheidende Frage
Nach den bisherigen Ergebnissen dieser Untersuchung gründet die Richtlinienorientierung der Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich allein auf nationalem Recht. In diesem Bereich wirkt die Richtlinie nicht durch richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel; sie stellt vielmehr einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung dar. Ob im Ergebnis eine einheitliche oder eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm vorzunehmen ist, hängt seinerseits bisweilen von dem Ergebnis der Auslegung der Richtlinie durch den EuGH ab, da im Rahmen dieser Gesamtabwägung auch zu berücksichtigen ist, wie weit sich die richtlinienkonforme Auslegung von der ursprünglichen Sachentscheidung des Gesetzgebers entfernt. Die für die Vorlageberechtigung und ggf. Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte entscheidende Frage lautet daher, ob eine Vorlage auch dann möglich ist, wenn die Richtlinie weder nach europäischem noch nach nationalem Recht unmittelbar anwendbar ist, die Richtlinie aber nach nationalem Recht einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung bildet und der Richtlinie innerhalb dieser Gesamtabwägung zwar Gewicht, aber kein Vorrang zukommt. 3.
51
Vorlagemöglichkeit?
Versucht man die soeben gestellte Frage mit den vom EuGH entwickelten Kriterien zu beantworten, so zeigt sich, daß die Rechtsprechung hierzu keineswegs eindeutig ist. Vielmehr finden sich zwei unterschiedliche Begründungsstränge, die zu diametralen Ergebnisse führen. Einerseits betont der EuGH in seiner Dzodzi-Rechtsprechung den Kooperationscharakter des Verfahrens nach Art. 234 EG und gewährt damit den mitgliedstaatlichen Gerichten ein weites Vorlageermessen. Nach diesem Begründungsstrang sind Vorlagen deutscher Gerichte zulässig.
52
Andererseits hat der Gerichtshof bislang davon Abstand genommen, die in Kleinwort Benson entwickelten Kriterien eines unmittelbaren und zwingenden Verweises des nationalen Rechts auf Gemeinschaftsrecht 142 aufzugeben. Den von den Generalanwälten vorgebrachten Bedenken gegen ein Vorabentscheidungsverfahren, welches den
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141 Diese Mißbrauchskontrolle hat der EuGH z.B. in seinem Urteil v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 Paul der Weduwe, Slg. 2002, I-11319 ausgeübt. 142 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-346/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 16. Kritisch dazu Ackermann, unten § 21 Rn. 37 ff. Mathias Habersack/Christian Mayer
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Charakter eines Rechtsgutachtens hätte,143 begegnet er durch Verweis auf die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an das Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens.144 Betrachtet man diesen Begründungsstrang, so sind auch nach der Rechtsprechung des EuGH Vorlagen deutscher Gerichte bei überschießender Umsetzung von Richtlinien unzulässig. Die gegenteiligen Sachentscheidungen des EuGH beruhen dann einerseits auf einer Fehleinschätzung der nationalen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens nach Art. 234 EG und andererseits auf einer Fehleinschätzung des EuGH hinsichtlich der Wirkung und Verbindlichkeit seiner Urteile bei richtlinienorientierter Auslegung im Rahmen der überschießenden Umsetzung von Richtlinien.
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Versucht man einzuschätzen, wohin sich die Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickeln wird, so muß angesichts der bisherigen Tendenz des Gerichtshofs zu einer Ausweitung der eigenen Zuständigkeit auch hier der von Wolfgang Schön in einem Diskussionsbeitrag geprägte Satz gelten: „Und eines ist beim EuGH klar: Wer fragt, der bekommt auch eine Antwort.“ 145
55
Versucht man hingegen, einzuschätzen, wie sich die Rechtsprechung entwickeln sollte, so sind die bereits bekannten Bedenken nicht geringer geworden. Nicht zuletzt die erste Frage des OLG Bremen im Vorabentscheidungsverfahren in Crailsheimer Volksbank zeigt, daß gerade im Bereich überschießender Umsetzung taktische Vorlagefragen 146 möglich sind. Der EuGH hat die erste Vorlagefrage des Hanseatischen Oberlandesgerichts – aus Sicht des Gemeinschaftsrechts: konsequent und, wie man annehmen darf, ganz im Sinne des vorlegenden Gerichts – mit einem Verbot zusätzlicher Zurechnungskriterien entschieden. Richtigerweise sollte im Revisionsverfahren nach den hier vertretenen Maßstäben der Bundesgerichtshof gleichwohl eine gespaltene Auslegung des § 312 BGB vornehmen und das Berufungsurteil ggf. aufheben. Schwer zu begegnen wäre dann freilich dem tatsächlich gänzlich unbegründeten Eindruck, der BGH halte sich nicht an die Rechtsprechung des EuGH. Im Ergebnis hätte die Vorlage dann weder den Parteien des Rechtsstreits noch der Rechtsfindung gedient, die Reputation aller Beteiligten aber gelitten.
V. 56
Zusammenfassung und Ausblick
Die mit der überschießenden Umsetzung von Richtlinien verbundenen Probleme gehören zu den dogmatisch reizvollen und dabei gleichzeitig praxisrelevanten Metho-
143 Zusammenfassend GA Jacobs, Schlußanträge v. 15.11.2001 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Tz. 61. 144 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 92. Zu kurz greift daher der Ansatz von Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung, S. 201 ff. und S. 217 ff., wonach eine Bindungswirkung schon deshalb bestehe, weil das vorlegende Gericht an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH gebunden sei, und der EuGH die u.a. in KleinwortBenson und BIAO aufgestellten zusätzlichen Voraussetzungen aufgeben solle. 145 Schön, JbFfSt 2001/2002, 2002, S. 29, 34. 146 Dazu allgemein Thüsing, BB 2006, Heft 23, S. I.
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Mathias Habersack/Christian Mayer
§ 15 Die Problematik der überschießenden Umsetzung
denfragen unserer Tage. Nach der hier vertretenen Ansicht bestimmt sich die Auslegung des nationalen Rechts im Überschußbereich allein nach nationalen Kriterien. Eine danach erforderliche richtlinienorientierte Auslegung hat das von der Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches geforderte Auslegungsziel im Wege der interpretatorischen Gesamtabwägung zu bedenken. Hierbei spricht zwar eine generelle Vermutung für die einheitliche Auslegung identischer Normen; doch konnte gezeigt werden, daß in verschiedenen Fallgruppen auch die gespaltene Auslegung der nationalen Norm zutreffendes Auslegungsergebnis sein kann. Der gegenwärtige Trend zu einer Ausdehnung der Grenzen richtlinienkonformer Auslegung 147 und zu einer unmittelbaren Geltung der Grundfreiheiten auch zwischen Privaten 148 nimmt dem Problem der überschießenden Umsetzung nichts von seiner Bedeutung. Im Gegenteil: Je weiter die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung sind und je unmittelbarer Gemeinschaftsrecht innerhalb seines Anwendungsbereiches wirkt, desto schärfer stellt sich die Frage nach der mittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts bei überschießender Umsetzung.
147 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 148 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 30ff. Mathias Habersack/Christian Mayer
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57
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Christian Hofmann
Übersicht I. Rechtswirkung von Richtlinien im Umsetzungsstadium . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von Richtlinien . . . . 1. Umsetzungspflicht und Anwendungsvorrang nach Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung . . . . . . . . . 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge . . .
Rn. 1–3
. . . . . . . . . . .
4–10
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 5–6 7–10
III. Die Sperrwirkung erlassener Richtlinien für den nationalen Gesetzgeber 1. Die Vorgaben des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie . b) Die Vorgaben in der Rechtssache Mangold . . . . . . . . . . . . . 2. Die Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rechtsfolgen der Sperrwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
IV. Die Vorwirkung von Richtlinien im Hinblick auf die Rechtsauslegung nationaler Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist . . . . . . 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung: Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorfrage: Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung . . . . . . . . . b) Nationale Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11–23 12–16 12–13 14–16 17–19 20 21–23 24–53 25–26 27–38 28–30 31–34 35–38 39–53 40–44 45–46 47–53
V. Die Vorwirkung von Richtlinien im Hinblick auf die Rechtsanwendung nationaler Verwaltungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54–59
VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60–63
Literatur: Ehricke, Ulrich, Vorwirkungen von EU-Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsvorhaben, ZIP 2001, 1311–1317; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts vor Ende der Umsetzungsfrist, EuZW 1999, 553–559; Herrmann, Christoph, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003; Neuner, Jörg, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag, 2002, S. 83–112; Schliesky, Utz, Die Vorwirkung von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien, DVBl. 2003, 631–641; Weiß, Wolfgang, Zur Wirkung von Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, DVBl. 1998, 568–575.
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Christian Hofmann
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien Rechtsprechung: EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-1744; EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. 157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477; EuGH v. 4.7.2006, Rs. 212/04 Adeneler; BGH v. 5.2.1998 – I ZR 211/95, BGHZ 138, 55-66; BVerwG Urt. v. 19.5.1998, AZ. 4 A 9.97, BVerwGE 107, 1, 22–29; BVerwG Urt. v. 27.1.2000, AZ. 4 C 2.99, BVerwGE 110, 302–320; BVerwG Urt. v. 21.3.1996, AZ. 4 C 19.94, BVerwGE 100, 370–388.
I.
Rechtswirkung von Richtlinien im Umsetzungsstadium
Hinter dem Begriff der „Vorwirkung von Richtlinien“ verbirgt sich die Frage nach den Rechtswirkungen, die eine Richtlinie im Stadium zwischen Inkrafttreten und Ablauf der Umsetzungsfrist auf das nationale Recht entfaltet.1 Es geht dabei um die Reichweite der Verpflichtung nationaler Stellen, die Vorgaben der Richtlinie während des Laufs der Umsetzungsfrist zu beachten. Die wesentlichen Vorgaben finden sich in den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler.
1
Die denkbaren Auswirkungen bestehen für die Staatsgewalten in einer Gesetzgebungssperre für die Legislative, dem Gebot an die Exekutive, bei Anwendung der Gesetze negative Auswirkungen auf die Verwirklichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu berücksichtigen, und an die Judikative, den Vorgaben der Richtlinie einen Auslegungsvorrang einzuräumen. Dabei wird sich zeigen, daß die nationale Verteilung des Umsetzungsbefehls auf die einzelnen staatlichen Stellen auch den Inhalt der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beeinflußt.
2
Im einzelnen wird ausgehend von den allgemeinen und anerkannten Grundsätzen zur Wirkung von Richtlinien im nationalen Recht (dazu II.) die Frage zu beantworten sein, ob sich aus einer in Kraft getretenen Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Sperrwirkung für den nationalen Gesetzgeber ergibt und welche Rechtsfolgen sich daraus für Verwaltung und Rechtsprechung ableiten (unter III). Darauf soll die Vorwirkung von Richtlinien in Weiterentwicklung der EuGH-Rechtsprechung zur Sperrwirkung für den Gesetzgeber in den von Richterrecht geprägten Bereichen untersucht werden (unter IV.). Diese Rechtsprechung bildet auch die Grundlage für die letzte Frage, die nach der Verpflichtung der Verwaltung, bei der Anwendung nationalen Rechts eine Vereitelung der Richtlinienziele mitberücksichtigen zu müssen (unter V.).
3
II.
Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von Richtlinien
1.
Umsetzungspflicht und Anwendungsvorrang nach Ablauf der Umsetzungsfrist
Im Unterschied zu Verordnungen sind Richtlinien im Sinne von Art. 249 Abs. 3 EG nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, während die Modalitäten der Umsetzung den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben.2 Für diese Einpassung in das 1 Vgl. zu einer davon (leicht) abweichenden Umschreibung Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633. 2 Statt aller Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 144. Christian Hofmann
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4
2. Teil: Allgemeiner Teil
nationale Recht steht den Mitgliedstaaten die in der Richtlinie angeordnete Umsetzungsfrist zur Verfügung.3 Ist diese Frist abgelaufen, entfaltet die Richtlinie eine Sperrwirkung gegenüber der nationalen Rechtssetzung. Aus dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts folgt, daß der Mitgliedstaat die Dispositionsbefugnis über die angeglichenen Vorschriften verliert und keine widersprechenden Vorschriften erlassen darf.4 Zugleich entfaltet der Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch Wirkung gegenüber der nationalen Rechtsprechung, die nationales Recht, das in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt, im Lichte von Wortlaut und Zweck der Richtlinie auslegen muß,5 und zwar auch dann, wenn es unverändert schon vor Erlaß der Richtlinie bestand.6 Gleiches gilt für die Rechtsanwendung durch die nationale Verwaltung.7 2.
Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung
5
Die Frage nach der Vorwirkung von Richtlinien ist zugleich die Frage nach dem zeitlichen Beginn der normativen Bindungswirkung einer Richtlinie. Durch die stets eingeräumte Umsetzungsphase unterscheiden sich Richtlinien nicht nur von Verordnungen, sondern auch von nationalen Gesetzen, die zugleich mit Inkrafttreten ihre vollen Rechtswirkungen entfalten.8
6
Richtlinien hingegen treten gemäß Art. 254 EG nach den dort vorgeschriebenen Verfahren in Kraft, schieben jedoch etliche ihrer Rechtswirkungen bis zum Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist hinaus.9 Zu nennen ist insbesondere die ab diesem Zeitpunkt relevante unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie.10 Der einzelne kann sich
3 EuGH v. 22.9.1976 – Rs. 10/76 Kommission ./. Italien, Slg. 1976, 1359 Rn. 11f.; EuGH v. 19.1. 1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 18. 4 Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 150. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg, 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz ./. Deutsche Tradax, Slg. 1984, 1921 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghus Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman Slg. 1989, 3543 Rn. 6; aus der deutschen Rspr. vgl. BGH NJW 1993, 3139. 6 EuGH 13.11.1990 – Rs. 106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; dazu ausführlich etwa Craig/de Búrca, EU Law – Text, Cases and Materials (3. Aufl. 2003), S. 213–219. 7 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Constanzo Spa, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. 224/97 Ciola ./. Land Voralberg, Slg. 1999, I-2517 Rn. 30; Klein, FS Everling (Band I 1995), S. 648; Grabitz/Hilf-v.Bogadny, Art. 10 EG Rn. 24. 8 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 635; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 86; vgl. auch Klein, FS Everling (Band I 1995), S. 645; Sack, WRP 1998, 241, 243. 9 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 Adeneler, Rn. 118; Weiß, DVBl. 1998, 568, 570; zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist vgl. auch BVerfGE 75, 223, 234 ff.; vgl. auch EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45, wonach die Mitgliedstaaten innerhalb der Umsetzungsfrist ihre Handlungsfreiheit behalten; zu Zwangsgeldern wegen Nichtumsetzung EuGH v. 4.7.2000 – Rs. 387/97 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2000, I-5047 Rn. 79–99; GA Jacobs, Rs. 156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, Slg. 1992, I-5578 Tz. 13. 10 Dazu allgemein EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45; EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 46; EuGH v. 10.11.
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Christian Hofmann
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
gegenüber dem Staat auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen, wenn diese inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen und wenn die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich umgesetzt wurde,11 während es umgekehrt den innerstaatlichen Behörden versagt bleibt, die Bestimmungen der Richtlinie zulasten des einzelnen anzuwenden, unabhängig davon, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.12 Zugleich ist auch die Phase vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht frei von Rechtswirkungen.13 Das Harmonisierungsziel der Gemeinschaft ist bereits endgültig konkretisiert und der Umsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten ergangen.14 Die Richtlinie ist daher schon in dieser Phase hinsichtlich ihrer Ziele verbindlich und wird insoweit Bestandteil der nationalen Rechtsordnung.15 Für Richtlinien gilt damit eine graduelle Wirkungsintensität, deren erste Stufe mit Inkrafttreten, deren zweite mit Ablauf der Umsetzungsfrist beginnt.16 3.
Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge
Inhalt und Ziele einer Richtlinie zeichnen sich schon Jahre vor deren Erlaß in den Richtlinienvorschlägen der Kommission ab. Ob auch von solchen Vorschlägen eine Sperrwirkung für den Gesetzgeber ausgehen kann, wird vereinzelt angeprüft. Die Frage kann aufgrund der Überzeugungskraft der dagegen angeführten Argumente verneint und die Begründung knapp gehalten werden.
7
Vor Erlaß der Richtlinie fehlt es nicht nur an einem rechtswirksamen Gemeinschaftsrechtsakt; aufgrund ausstehender Konsultationen, häufiger Änderungen in Reaktion auf Anregungen anderer Institutionen oder von Lobbygruppen und zuletzt der Ungewißheit über den späteren Erlaß ist überdies unklar, inwieweit und mit welchem Inhalt überhaupt jemals Umsetzungsvorgaben für die Mitgliedstaaten entstehen werden.17 Daher fehlt es für den nationalen Gesetzgeber an der Erkennbarkeit, inwieweit nationales Recht das Gemeinschaftsrecht beeinträchtigen könnte.
8
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12 13 14 15 16 17
1992 – Rs. 156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, Slg. 1992, I-5567 Rn. 19 f.; ausführlich Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 10 EG Rn. 73-82; Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, Rn. 149–151. EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 25; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 7; EuGH – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45. EuGH Urt. v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 15 f. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 41. Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1313. Schliesky, DVBl. 2003, 631, 638. Vgl. dazu Schliesky, DVBl. 2003, 631, 636; GA Jacobs, Rs. 156/91 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1992, I-5578, Tz. 30, 39. Riesenhuber, oben § 11 Rn. 29; Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG Rn. 20; Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 110f.; ders., oben § 13 Rn. 20; Meßerschmidt, ZG 1993, 11 f.; i.E. auch Hilf, EuR 1993, 1, 7; nach dem Maß der Konkretisierung des Vorschlags einschränkend Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141f.
Christian Hofmann
369
2. Teil: Allgemeiner Teil
9
Im Ergebnis würde eine dennoch bejahte Pflicht der Mitgliedstaaten zur Rücksichtnahme auf gemeinschaftliche Rechtsetzungsprozesse zu einer unverhältnismäßigen Behinderung und partiellen Paralysierung des nationalen Gesetzgebers führen. Zudem ist der Hinweis auf die fehlende demokratische Legitimation von Kommissionsvorschlägen und die Störung der institutionellen Kompetenzordnung zutreffend.18
10
Mangels vorrangigen Sekundärrechts, das gegenüber nationalem Recht Anwendungsvorrang genießt,19 besteht auch kein gemeinschaftsrechtliches Gebot an Verwaltung und Rechtsprechung, bei Rechtsanwendung und Rechtsauslegung die Richtlinienvorschläge der Kommission zu berücksichtigen. Gleichwohl können sie ergänzend zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses herangezogen werden.20
III. Die Sperrwirkung erlassener Richtlinien für den nationalen Gesetzgeber 11
Ist die Richtlinie hingegen in Kraft getreten, besteht der Umsetzungsbefehl an den nationalen Gesetzgeber. Da die Richtlinienziele erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist im nationalen Recht gelten müssen, darf er auch dann, wenn ihm innerstaatlich die Umsetzung obliegt,21 zunächst untätig bleiben, also richtlinienwidriges altes Recht zunächst unverändert lassen, andererseits jedoch auch auf die Ausschöpfung der Umsetzungsfrist verzichten und schon vor Ablauf die nationalen Vorschriften an die Richtlinienziele anpassen. Zweifel erweckt hingegen ein dritter Fall, wonach der Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist Vorschriften erläßt, die mit den Richtlinienzielen nicht zu vereinbaren sind. Ein derartiges Vorgehen wirft die Frage nach den Kriterien auf, nach denen der auftretende Konflikt zwischen Richtlinienziel und gesetzgeberischer Freiheit in der Umsetzungsphase zu lösen ist. 1.
Die Vorgaben des EuGH
Auch der EuGH war mit dieser Fragestellung bereits mehrfach befaßt. a)
12
Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie 22
In der Entscheidung Inter-Environnement Wallonie ging es um ein belgisches Gesetz, das in der Umsetzungsphase erlassen worden war und mit den Umweltzielen der Richtlinie 91/156/EWG nicht im Einklang stand. Der EuGH kam zu dem Schluß,
18 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 64, im Zusammenhang mit der Frage nach einer Heranziehung von Regelungsentwürfen für eine systematische Auslegung. 19 Zu diesem Grundsatz, wonach mit europäischem Sekundärrecht unvereinbares nationales Recht nicht nichtig, sondern im Einzelfall unanwendbar ist, vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 220 EG Rn. 22–25. 20 Riesenhuber, oben § 11 Rn. 29, unter Verweis auf EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 25–27. 21 Dazu näher unter Rn. 40 ff. 22 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411.
370
Christian Hofmann
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
daß die Mitgliedstaaten aus Art. 10 Abs. 2, 249 Abs. 3 EG (bei Urteilserlaß Art. 5 Abs. 2, 189 Abs. 3 EGV) 23 und aus der Richtlinie verpflichtet seien, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf der Umsetzungsfrist zu erreichen. Daraus ergebe sich, daß während des Laufs der Unsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen werden dürften, die geeignet seien, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen.24 Dem nationalen Gericht obliege die Prüfung, ob die Ziele der Richtlinie durch die gesetzgeberischen Maßnahmen ernstlich in Frage gestellt würden. Es habe insbesondere zu prüfen, ob die betreffenden Vorschriften als eine vollständige Umsetzung der Richtlinie anzusehen seien, ihre Geltungsdauer zu beachten und die konkreten Folgen der Anwendung dieser mit der Richtlinie nicht übereinstimmenden Vorschriften zu untersuchen. Stelle die gesetzliche Regelung eine solche vollständige und endgültige Umsetzung dar und stimme sie gleichwohl nicht mit den Vorgaben der Richtlinie überein, sei zu vermuten, daß das vorgegebene Ziel nicht fristgerecht erreicht werde, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht mehr möglich sei. Umgekehrt stelle der Erlaß vorläufiger Vorschriften oder die schrittweise Umsetzung die vorgeschriebenen Ziele nicht zwangsläufig in Frage.25 Der EuGH verstand die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten daher nicht nur im Sinne einer fristgemäßen Umsetzung des Richtlinienziels. Das ist vielmehr selbstverständlich und nur eine Mindestanforderung. Hinzu tritt das Verbot, durch zwischenzeitliche Maßnahmen die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu gefährden.
23 Daran wird zu Unrecht kritisiert, daß Art. 10 Abs. 2 EG ein Vertragsziel voraussetze, während doch gerade nur ein Richtlinienziel betroffen sei, so jedoch Schliesky, DVBl. 2003, 631, 637, der vorschlägt, statt dessen auf Art. 10 Abs. 1 EG abzustellen, der den Mitgliedstaaten alle sich aus dem Vertrag ergebenden Pflichten auferlege, wozu auch die Pflicht aus Art. 249 Abs. 3 EG gehöre. Hinzu komme, daß Art. 10 EGV nur eine erste Konkretisierung des Prinzips der Gemeinschaftstreue enthalte, die über die Regelungstiefe eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes kaum hinausgehe. Da in der Verhinderung der Richtlinienziele zugleich auch eine Verhinderung der Gemeinschaftsziele, die notwendigerweise mit der Richtlinie verfolgt werden, liegt, ist es jedoch durchaus zutreffend, auf Art. 10 Abs. 2 EG abzustellen. Daneben auch Art. 249 Abs. 3 EG heranzuziehen, ist unter der oben herausgestellten Prämisse zutreffend, daß Richtlinien mit ihrem Inkrafttreten erste, wenn auch graduell abgestufte Rechtswirkungen entfalten, die sich an die Mitgliedstaaten, genauer die mit der Umsetzung befaßte Stelle wenden. Dazu auch Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 95. 24 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40, 44f.; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. 157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477, Rn. 66; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 Adeneler, Rn. 117–121; so auch schon GA Jacobs, Rs. 129/96 InterEnvironnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Tz. 30, 39; vgl. dazu die Berichterstattung und Folgerungen von Van Calster, European Law Review 1998, 385, 389; zustimmend SchwarzeBiervert, Art. 249 EG Rn. 247; Lenz/Borchardt-Hetmeier, EU- und EG-Vertrag (3. Aufl. 2003), Art. 249 EG Rn. 11. 25 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-1744, 1748 Rn. 46–49. Christian Hofmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
b)
Die Vorgaben in der Rechtssache Mangold 26
14
In einer zweiten Entscheidung zu einer Altersregelung im deutschen Teilzeitbeschäftigungsgesetz (TzBfG) ging es erneut um die Kompetenzen des nationalen Gesetzgebers bei Erlaß den Richtlinienzielen widersprechenden nationalen Rechts. Der EuGH bestätigte darin seine Kernaussage in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, wonach die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist für Richtlinien keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen, und zwar unabhängig davon, ob die fragliche und nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassene nationale Regelung die Umsetzung der Richtlinie bezweckt. Auch sei nicht entscheidend, daß die gesetzliche Regelung nur wenige Wochen nach Ablauf der Umsetzungsfrist außer Kraft trete.27
15
Diese Sperrwirkung begründete der EuGH einerseits mit einer Besonderheit des Einzelfalls, die darin bestand, daß die Bundesrepublik eine Verlängerung der Umsetzungsfrist zugestanden bekommen hatte, dabei aber zur jährlichen Berichterstattung über die zur Erreichung der Richtlinienziele unternommenen Maßnahmen verpflichtet wurde. Ein solches Zugeständnis impliziere, daß der Mitgliedstaat Maßnahmen ergreife, um seine Regelung dem in der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnis anzunähern. Wäre es dem Mitgliedstaat gestattet, in dieser Zeit Maßnahmen zu erlassen, die mit den Zielen der Richtlinie unvereinbar sind, wäre der Verpflichtung jede Wirksamkeit genommen.28 Andererseits stützte der EuGH die von ihm angenommene Sperrwirkung auf den Umstand, daß einige der von dem Übergangsgesetz Betroffenen auch nach Auslaufen des Gesetzes nicht mehr von den dann geltenden arbeitnehmerfreundlicheren Regelungen profitieren konnten,29 und schlug damit die Brücke zu seiner Entscheidung in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie. Diese letzte Aussage ist so zu deuten, daß der EuGH auch Übergangsregelungen nicht gelten läßt, wenn durch sie vollendete Tatsachen geschaffen werden, die sich auf die Schutzobjekte der Richtlinie nachteilig auswirken. Dies aber entspricht dem Verbot in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, die Ziele der Richtlinie ernstlich in Frage zu stellen.
16
Hinzu kam, daß die nationale Maßnahme gegen einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts – das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters – verstieß. Zu diesem Verstoß stellte der EuGH fest, die Wahrung dieses Grundsatzes könne nicht vom Ablauf der Umsetzungsfrist abhängen. Das ausdrückliche Gebot an die
26 EuGH Urt. v. 22.11.2005 – Rs. 144/04 Mangold, SLG. 2005, I-9981. Das Urteil hat, soweit ersichtlich, in der Literatur bislang nur hinsichtlich seiner arbeitsrechtlichen Konsequenzen, insbesondere der Frage nach einer unmittelbaren Anwendung von Richtlinien im Verhältnis Privater, Beachtung gefunden, vgl. etwa Thüring, ZIP 2005, 2149; Müller, ArbRB 2006, 4; Strybny, BB 2005, 2753; Annuß, BB 2006, 325; Nicolai, DB 2005, 2641; Koenigs, DB 2006, 49; Gas, EuZW 2005, 737; Reich, EuZW 2006, 20; Brock/Windeln, EWiR 2005, 869; Streinz, JuS 2006, 357; Bauer, NJW 2006, 6. 27 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. 144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67, 70. 28 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. 144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 70–72. 29 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. 144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 73.
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Christian Hofmann
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
nationalen Gerichte, keine entgegenstehende nationale Bestimmung anzuwenden, selbst wenn die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, bezog der Gerichtshof denn auch nur auf diesen Verstoß; 30 gleichwohl hätte auch die vom Gerichtshof festgestellte Gefährdung der Richtlinienziele eine derartige Verpflichtung der nationalen Gerichte zu begründen vermocht, worauf sogleich (unter 4.) näher einzugehen ist. 2.
Die Literaturansichten
Die Ansichten in der Literatur zu diesem Fragenkreis sind geteilt. Eine Ansicht leitet aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 2 EG ab, daß diese die Ziele und Vorgaben der Richtlinie auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist anzuerkennen haben und sich nicht entgegengesetzt verhalten dürfen, daher nicht befugt sind, der Richtlinie widersprechende Gesetze zu erlassen.31
17
Die Gegenansicht steht auf dem Standpunkt, daß der nationale Gesetzgeber erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist gemeinschaftsrechtlichen Beschränkungen unterliegt. Erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist sei die Herstellung einer richtlinienkonformen Rechtslage geboten.32 Die Annahme einer früheren Sperrwirkung konterkariere die Zweistufigkeit der Richtlinien-Rechtsetzung und sei mit dem Gebot der Rechtssicherheit unvereinbar.33 Auch sei es widersprüchlich, bei Richtlinienerlaß bereits in Kraft befindliches Recht auch dann weiter anzuwenden, wenn dieses zu den Zielen der Richtlinie in Widerspruch stehe, danach erlassenes jedoch für unanwendbar zu erklären.34 Die Sperrwirkung trete daher grundsätzlich erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist ein.35
18
Allerdings schließt sich die überwiegende Zahl von Stimmen dieser Ansicht den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie an und bejaht eine Sperrwirkung bei solchen Gesetzen, von denen eine Gefährdung der rechtzeitigen Umsetzung der Richtlinienziele ausgeht. In Anlehnung an das aus Art. 18 WVK 36 resultierende Prinzip wird dieser Grundsatz zumeist als „Frustrationsverbot“ bezeichnet.37
19
30 Zu den Auswirkungen dieser Rechtsprechung für eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien auch im Verhältnis Privater vgl. Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2150. 31 Pieper, DVBl. 1990, 684, 685; vgl. insoweit auch GA Mancini, EuGH Rs. 30/85 Teuling, Slg. 1987, 2507 Tz. 7. 32 Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 130; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 153; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f. 33 Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG Rn. 20. 34 Klein, FS Everling (Band I 1995), S. 646; daß ein derartiger Widerspruch gerade nicht besteht, wird unter IV. und V. noch aufzuzeigen sein. 35 Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG, Rn. 20; i.E. auch Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 Rn. 110; Streinz-Streinz, Art. 10 EGV Rn. 43; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 150; Klein, FS Everling (Band I 1995), S. 645 f. 36 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, BGBl. 1985 II-927; vgl. dazu Weiß, DVBl. 1998, 568, 571. 37 Zu dieser Ansicht zählen die in Fn. 35 Genannten. Gegen jede Art von Vorwirkung spricht sich hingegen Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f., aus. Christian Hofmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
3.
20
Bewertung
Die differenzierende Rechtsprechung des EuGH hat inhaltlich zu Recht überwiegende Zustimmung gefunden. Es ist zutreffend, daß von zwei konfligierenden Grundsätzen der Richtliniendogmatik, wonach einerseits der nationale Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist seine Souveränität im Grundsatz beibehält, andererseits aber die Mitgliedstaaten dem Richtlinienziel mit Ablauf der Umsetzungsfrist auf nationaler Ebene Geltung verschaffen müssen, der zur Realisierung der Gemeinschaftsziele wichtigere, also letzterer, überwiegen muß. Zugleich gelingt es dem EuGH damit, die Interessen des nationalen Gesetzgebers nur schonend und im erforderlichen Maße einzuschränken. Ist eine Gefährdung der Richtlinienziele nach Fristablauf nicht zu befürchten, ist der nationale Gesetzgeber auch während des Laufs der Umsetzungsfrist nicht gehindert, richtlinienwidrige Vorschriften zu erlassen. 4.
Rechtsfolgen der Sperrwirkung
21
Zur Verwirklichung der Richtlinienziele sind alle nationalen Stellen, nicht nur das mit der Umsetzung unmittelbar befaßte Organ berufen. Erläßt der Gesetzgeber Vorschriften, die das Richtlinienziel ernsthaft in Frage stellen, sind die nationalen Behörden und Gerichte gehalten, einen möglichst richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ist dies allgemein anerkannt.38 Unter den vom EuGH vorgegebenen Voraussetzungen kann jedoch auch für die Zeit davor nichts anderes gelten. Insbesondere scheidet eine Verletzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung aus, da der Gesetzgeber sein Ermessen bereits fehlerhaft ausgeübt hat.39 Falls ernsthafte Gefahren für die Erreichung der Richtlinienziele anderweit nicht zu vermeiden sind, müssen einzelne Vorschriften des nationalen Rechts unangewandt bleiben. Auch die unmittelbare Anwendung der Richtlinie zugunsten Privater kommt als ultima ratio in Betracht.40 Somit gilt in konsequenter Umsetzung der Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung eine Ausnahme von dem Grundsatz, wonach die Verpflichtung der Gerichte und Verwaltung zu richtlinienkonformer Auslegung bzw. Anwendung nationalen Rechts und – gegebenenfalls – unmittelbarer Anwendung von Richtlinien erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist beginnt.
22
Vorauszugehen hat stets eine sorgfältige Prüfung, ob die Richtlinienziele tatsächlich ernstlich in Frage gestellt werden. Dabei ist zu beachten, daß sich der EuGH gerade nicht gegen jede richtlinienwidrige nationale Vorschrift in der Übergangsperiode ausspricht. Unbedenklich sind daher zweifellos schrittweise Umsetzungen, etwa erste unzureichende Maßnahmen, sofern weitere Teilumsetzungen noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist erfolgen und stufenweise auf das angestrebte Endziel hingearbeitet wird.41 38 Dezidiert EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Constanzo Spa, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. 224/97 Ciola/Land Voralberg, Slg. 1999, I-2517 Rn. 30; Klein, FS Everling (Band I 1995), S. 648; Grabitz/Hilf-v.Bogadny, Art. 10 EG Rn. 24. 39 Streinz-Schroeder, Art. 249 EG Rn. 83 f. 40 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 636 f.; Ehricke, EuZW 1999, 553, 556. 41 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1314.
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Christian Hofmann
§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
Ob eine Regelung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist automatisch außer Kraft tritt, nach diesen Grundsätzen zulässig ist, kann nicht pauschal beantwortet werden.42 Einerseits entfaltet sie für Neufälle keine Rechtswirkungen mehr; andererseits mögen Altfälle Bestandsschutz genießen oder irreversible Zustände schaffen und somit die richtlinienwidrigen Wirkungen auch in die Phase nach Ablauf der Umsetzungsfrist hineintragen. Zu denken ist neben dem Beispiel in der Rechtssache Mangold an unter Geltung des Gesetzes erlassene Genehmigungen, die auch nach Außerkraftsetzung des zugrunde liegenden Gesetzes Bestand haben oder deren richtlinienwidrige Folgen nachwirken. Freilich steht eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele nur bei einer größeren Breitenwirkung solcher Genehmigungen zu befürchten. Davon ist etwa bei einem Planfeststellungsverfahren auszugehen, wenn wesentliche Naturbelange irreversibel beeinträchtigt werden, so daß die naturschützenden Ziele einer Richtlinie auch dann unterlaufen werden, wenn die nationalen Vorgaben mit Ablauf der Umsetzungsfrist an die Richtlinienziele angeglichen werden.43
IV.
Die Vorwirkung von Richtlinien im Hinblick auf die Rechtsauslegung nationaler Gerichte
Weniger konturiert als die Ansichten zur Sperrwirkung für den nationalen Gesetzgeber sind die Grundsätze einer Vorwirkung von Richtlinien auf die Rechtsauslegung durch nationale Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist. Hierbei ist danach zu unterscheiden, ob eine richtlinienkonforme Auslegung einerseits zulässig oder andererseits geboten ist, wobei nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts zu differenzieren ist. 1.
23
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Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist
Hat der Gesetzgeber die nationalen Vorschriften vor Ablauf der Umsetzungsfrist an die Vorgaben der Richtlinie angepaßt, hat er das ihm eingeräumte Ermessen frühzeitig ausgeübt und über Form und Mittel der Umsetzung in nationales Recht entschieden. In diesen Fällen ergibt sich für die Gerichte jedenfalls aus nationalen Grundsätzen die Pflicht zur Berücksichtigung dieser gesetzgeberischen Intention.44
42 Die somit erforderliche Einzelfallentscheidung kann sich an den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie ausrichten. Während eine vorläufige und stufenweise Durchsetzung der Richtlinienziele die mangelnde Übereinstimmung nationaler Übergangsvorschriften mit der Richtlinie nicht zwangsläufig begründe, sollen Vorschriften, die sich als eine endgültige und vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, vermuten lassen, daß die Richtlinienziele nicht fristgerecht erreicht werden, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht möglich ist, vgl. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 48 f. 43 Dazu die noch unter V. anzusprechenden Urteile BVerwGE 100, 370; BVerwGE 107, 1; BVerwGE 110, 302, wobei es dort nicht um die Anwendung während der Sperrfrist erlassenen, sondern älteren nationalen Rechts ging. 44 Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 120; Sack, WRP 1998, 241, 242; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Roth, ZIP Christian Hofmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
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Ein gemeinschaftsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist existiert hingegen nur dann, wenn im Sinne der dargestellten EuGH-Rechtsprechung jede andere Auslegung zu einer ernsthaften Gefährdung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist führen wird.45 In diesen Fällen tritt die richtlinienkonforme Auslegung nicht lediglich gleichrangig neben andere Auslegungsmethoden, wie es bei einer nur aus nationalen Geboten folgenden Pflicht zur Berücksichtigung der Fall wäre, sondern setzt sich gegenüber nationalen Auslegungsprinzipien durch.46 2.
27
Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden
Problematischer ist die Beurteilung der Rechtslage hingegen in den Fällen, in denen ein nationales Gericht während des Laufs der Umsetzungsfrist mit der Auslegung nationalen Rechts befaßt ist, das schon vor Erlaß der Richtlinie bestand und bislang von Umsetzungsbestrebungen des nationalen Gesetzgebers unbeeinflußt geblieben ist. Dabei ist zunächst zu untersuchen, ob ein Gericht richtlinienkonform auslegen darf, und sodann, unter welchen Umständen es hierzu gar verpflichtet ist. a)
Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler 47
28
Da der EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie und Mangold primär zur Rolle des Gesetzgebers Stellung bezog und für diesen eine Sperrwirkung aussprach, beschränkten sich seine Ausführungen zur Rolle der Gerichte auf den Hinweis, wie diese mit der gegen die Sperrwirkung verstoßenden Rechtslage umzugehen haben. In der Rechtssache Adeneler befaßte sich der EuGH hingegen auf Vorlage eines griechischen Gerichts mit der Rolle der nationalen Gerichte bei der Auslegung älteren nationalen Rechts während der Umsetzungsphase.
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Die Vorlagefrage lautete, von welchem Zeitpunkt an ein Gericht das nationale Recht in Ansehung einer Richtlinie, die erst verspätet umgesetzt wurde, auslegen muß. Hierfür benannte das vorlegende Gericht drei denkbare Zeitpunkte, das Inkrafttreten der Richtlinie, den Ablauf der Umsetzungsfrist und den Zeitpunkt des nationalen
1992, 1054, 1056 f.; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 50; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 108, Fn. 105; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 75. 45 So i.E. auch Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 195; Roth, ZIP 1992, 1054, 1057; Steindorff, AG 1988, 57, 58. 46 Dies ist die Folge des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes, das nationale Umsetzungsrecht richtlinienkonform zu interpretieren, vgl. zu diesem EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg, 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz ./. Deutsche Tradax, Slg. 1984, 1921 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghus Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman Slg. 1989, 3543 Rn. 6, und zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung i.E. wie hier Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 153; Lutter, JZ 1992, 593, 604; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 75; Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 471; einschränkend Jarass, EuR 1991, 211, 218; a.A. Di Fabio, NJW 1990, 954, 953 (wohlgemerkt vor Neufassung des Art. 23 GG). 47 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 Adelener.
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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
Umsetzungsaktes.48 Der nationale Gesetzgeber hatte in der Umsetzungsphase keine den Richtlinienzielen widersprechenden Vorschriften erlassen, so daß nunmehr die Frage im Raum stand, ob der nationale Richter schon während der Umsetzungsphase gehalten war, das alte, schon vor Erlaß der Richtlinie bestehende Recht richtlinienkonform auszulegen. Ausgehend von dem Grundsatz, daß alle staatlichen Stellen im Mitgliedstaat der Verpflichtung unterliegen, den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu voller Wirkung zu verhelfen, betonte der EuGH die Verpflichtung der nationalen Gerichte, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten. Daraus folge, daß die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten seien, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden könne, zu vermeiden.49 b)
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Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
In der deutschen Rechtsprechung war der Bundesgerichtshof mit dieser Problematik konfrontiert, als er nach Erlaß der Richtlinie 97/55/EG 50 die Frage entscheiden mußte, ob vergleichende Werbung bisheriger Rechtsprechungstradition entsprechend auch weiterhin einen Verstoß gegen § 1 UWG darstellte oder aufgrund der Vorgaben der Richtlinie nunmehr als zulässig zu beurteilen war. Zum Zeitpunkt der BGH-Entscheidung war § 1 UWG a.F. bekanntlich vom Gesetzgeber nur generalklauselartig geregelt worden und bedurfte traditionellerweise der Ausformung durch die Rechtsprechung.51 Die Fallgruppen sittenwidriger Beeinflussung des Wettbewerbs waren als Richterrecht gebildet und beständig weiterentwickelt worden.52
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Der Bundesgerichtshof vertrat vor diesem rechtlichen Hintergrund den Standpunkt, seine Rechtsprechung auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist an die Vorgaben einer Richtlinie anpassen zu können. Dies beruhe darauf, daß der Richter nach deutschem Rechtsverständnis befugt sei, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, was auch für den Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist von Richtlinien gelte.
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48 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 Adeneler, Rn. 32. 49 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. 212/04 Adeneler, Rn. 122 f.; so auch schon GA Tizzano Rs. 144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 120. 50 Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung ABl. EG 1997 L 290/18–23. 51 Erst einige Zeit nach Entscheidung des BGH nahm der deutsche Gesetzgeber die einschlägige Richtlinie zum Anlaß, das UWG grundlegend zu überarbeiten und konzeptionell teilweise neu zu gestalten, vgl. dazu das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) vom 3.7.2004, BGBl. I-1414. 52 Vgl. etwa (unter bewußter Bezugnahme auf ältere Auflagen) Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht (20. Aufl. 1998), Einl. UWG Rn. 72; Beater, Unlauterer Wettbewerb (2002), § 12 Rn. 1–7; ders., AcP 194 (1994), 82, 83–85; Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht (6. Aufl. 1999), § 2 Rn. 21. Christian Hofmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
Voraussetzung hierfür sei, daß die nationale Rechtslage mit den Regelungen der Richtlinie nicht im Einklang stehe.53
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Der BGH betonte jedoch auch, daß primär der Gesetzgeber berufen sei, das den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Umsetzung der Richtlinie eingeräumte Ermessen auszuüben, und sich die Rechtsprechung daher grundsätzlich erst dann zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet sehen müsse, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen und der Inhalt der Richtlinie eindeutig sei.54 Gleichwohl greife die Rechtsprechung auch bei früherer Berücksichtigung der Richtlinienziele nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein, und zwar nicht nur dann, wenn ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung verbleibe, sondern auch in den übrigen Fällen, da die Rechtsprechung der Entscheidung des Gesetzgebers nicht vorgreife.55
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Diese Ausführungen belegen, daß sich der BGH durch nationales Recht nicht gehindert sah, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Sein Fazit, es für zulässig und auch sachlich geboten zu halten, sich schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist am Maßstab der Richtlinie zu orientieren,56 läßt jedoch nicht eindeutig erkennen, ob diese Gebotenheit aus nationalem Recht oder Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts folgen sollte. Einige Aussagen deuten gleichwohl auf letzteres hin: 57 Unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache InterEnvironnement Wallonie befürwortete der BGH eine frühzeitige Anpassung an die europäische Rechtsentwicklung, statt die bisherigen Rechtsprechungsgrundsätze, die ohnehin spätestens nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben könnten, festzuschreiben. Durch eine frühe Berücksichtigung der Richtlinie durch die Gerichte werde bewirkt, daß Auslegungsfragen dem EuGH vorgelegt werden könnten, wodurch das mit der Richtlinie verfolgte Ziel der Rechtsharmonisierung in den Mitgliedstaaten bei Ablauf der Umsetzungsfrist zu erreichen sei.58 c)
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Literaturansichten
Im Schrifttum werden nur vereinzelt Bedenken gegen eine Befugnis der Rechtsprechung erhoben, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Diese Bedenken werden teils auf Aspekte des nationalen Rechts, teils auf solche des Gemeinschaftsrechts gestützt. In nationaler Hinsicht wird vorgebracht, daß eine richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu einer Kompetenzanmaßung in den Fäl-
53 BGHZ 138, 55, 59–64; seine auf die Richtlinie gestützte Rechtsprechungsänderung hat der BGH mehrfach bestätigt, vgl. BGH NJW 1998, 3561; BGHZ 139, 378; BGH NJW-RR 2000, 631. 54 BGHZ 138, 55, 61; zustimmend Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 198. 55 BGHZ 138, 55, 62 f. 56 BGHZ 138, 55, 64. 57 In einer früheren Entscheidung war der BGH hingegen davon ausgegangen, aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet und schon ab deren Inkrafttreten hierzu berechtigt zu sein, vgl. BGH NJW 1993, 3139. 58 BGHZ 138, 55, 62–64.
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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
len führen würde, in denen nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Legislative die Umsetzung der Richtlinie übernehme. Hier werde der Entscheidung des Gesetzgebers über Form und Mittel der Umsetzung vorgegriffen und der gesetzgeberische Entschluß, die bisherige nationale Rechtslage (zunächst) beizubehalten, mißachtet.59 Die Folge sei ein nationaler Zuständigkeitskonflikt, wenn die Rechtsprechung anstelle des Gesetzgebers den von der Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraum ausübe.60 Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht sind es hingegen Gründe der Umsetzungssicherheit, die gegen die frühzeitige Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung sprechen sollen.61 Überwiegend wird die Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung hingegen bejaht. Der Richter dürfe schon im Zeitraum zwischen Erlaß der Richtlinie und Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie berücksichtigen, wenn er vor der Richtlinie in Kraft getretenes nationales Recht auslege, und seine Rechtsprechung daran anpassen.62 Dafür werden Praktikabilitätserwägungen und der Einwand bloßer Förmelei der Gegenansicht angeführt: Stehe eine Umsetzung der Richtlinie bevor, sei es widersinnig, zunächst noch eine die Richtlinie ignorierende Lösung anzuwenden, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben könne.63 Auch sei eine richtlinienkonforme Rechtsprechung gar geeignet, die Tätigkeit des Gesetzgebers zu fördern, da für diesen erkennbar werde, inwieweit eine Umsetzung der Richtlinienziele allein durch Rechtsprechungsänderung möglich sei und damit noch Handlungsbedarf für ihn selbst verbleibe.64
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Zugleich wird von Vertretern dieser Ansicht betont, daß aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht keine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung bestehe: Der den Mitgliedstaaten vom Gemeinschaftsrecht zugestandene Handlungsspielraum würde durch eine vor Fristablauf bestehende Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung entwertet, wenn ein solches Gebot bestünde. Daraus folge, daß die nationalen Gerichte ihre bisherige, mit der Richtlinie nicht im Einklang stehende Rechtsprechung wahlweise auch beibehalten dürften.65
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Wieder andere Stimmen bejahen die Kompetenz der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung nur in eingeschränktem Maße: Eine Ausnahme von der grund-
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59 Ehricke, EuZW 1999, 553, 556; Götz, NJW 1992, 1849, 1854. 60 Vgl. Scherzberg, Jura 1993, 225, 232; Staudinger, JR 1999, 198, 199 f. (Anm. zu BGHZ 138, 55): Der Judikative sei nur untersagt, von einer richtlinienkonformen Rechtsprechung während der Umsetzungsfrist abzuweichen, nicht aber, eine richtlinienwidrige aufrecht zu erhalten. 61 Ehricke, EuZW 1999, 553, 556. 62 Lutter, JZ 1992, 593, 605; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 76; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 108; zweifelnd, ob nicht doch sogar eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung besteht, Ress, DÖV 1990, 489, 492 f. 63 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 54; nach Everling, ZGR 1992, 376, ist es wenig sinnvoll, während einer längeren Umsetzungsfrist die bisherige Rechtsprechung im Wissen um die Tatsache, diese ab einem bestimmten Zeitpunkt ändern zu müssen, beizubehalten; so auch Sack, WRP 1998, 241, 244. 64 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 203. 65 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; i.E. auch Calliess/ Ruffert-Ruffert, Art. 249 Rn. 110. Christian Hofmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
sätzlichen Zulässigkeit bestehe dann, wenn der Gesetzgeber vor Ablauf der Frist noch nicht vollständig umsetzen wollte.66 Noch restriktiver ist die Ansicht, wonach die Rechtsprechung sich nur dann vor Ablauf der Umsetzungsfrist an den Vorgaben der Richtlinie orientieren darf, wenn eine gesetzliche Anpassung nicht zu erwarten ist, schon vorliegt oder der Rechtsprechung die Aufgabe der Rechtsfortbildung zufällt.67 Schließlich wird einschränkend vertreten, daß der Rechtsprechung die Kompetenz zu richtlinienkonformer Auslegung in ihrem ureigensten Kompetenzbereich, der Ausformung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, zuzugestehen, ihr Rechtsfortbildung vor Ablauf der Umsetzungsfrist jedoch zu untersagen sei.68 3.
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Wie schon vorab festegestellt, ist für die Kompetenz der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung nationaler Gesetze und einer evtl. Verpflichtung hierzu die nationale Ebene von der Gemeinschaftsebene zu unterscheiden. Für die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben an die nationalen Gerichte ist entscheidend, inwieweit diesen nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Umsetzungsaufgabe zukommt. a)
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Bewertung: Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung
Vorfrage: Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung
Art. 249 Abs. 3 EG überläßt den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel der Umsetzung, schreibt also keinen bestimmten nationalen Umsetzungsakt vor. Nach der Rechtsprechung des EuGH erfordert die Umsetzung einer Richtlinie zwar nicht notwendig ein Tätigwerden des Gesetzgebers, doch muß die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen Behörden gewährleistet sein. Die Rechtslage muß hinreichend bestimmt und klar sein und die Begünstigten in die Lage versetzen, von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gerichtlich geltend zu machen.69 Daher hat der EuGH einer Umsetzung durch eine ständige Verwaltungspraxis und durch Verwaltungsvorschriften mehrfach eine Absage erteilt.70
66 Lutter, JZ 1992, 593, 605; Jarass, EuR 1991, 211, 221. 67 Zu allen Kriterien Roth, ZIP 1992, 1054, 1056; zur frühzeitigen Umsetzung Steiner/Woods/ Twigg-Flesner, Textbook on EC Law (8. Aufl. 2003), S. 95. 68 So die Unterscheidung von Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 204 f.; ebenso Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; gerade das Beispiel des § 1 UWG a.F. zeigt jedoch, daß die Auslegung generalklauselartiger Bestimmungen eine Praxis der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung begründen kann und darf und eine derartige Differenzierung daher ungeeignet ist. 69 EuGH Urt. v. 10.5.2001 – Rs. 144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; EuGH Urt. v. 7.5.2002 Rs. 478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18; EuGH Urt. v. 23.3.1995 – Rs. 365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. 58/89 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-4983 Rn. 13; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. 131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 6; EuGH v. 1.3. 1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, Slg. 1983, 449 Rn. 10. 70 Der EuGH hat der Umsetzung durch eine ständige Verwaltungspraxis und durch Verwaltungsvorschriften eine Absage erteilt, vgl. EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 96/81 Kommission ./. Nie-
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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
Folglich muß eine Richtlinie regelmäßig durch einen nationalen Legislativakt umgesetzt werden, während eine Umsetzung durch die Judikative unter den Gesichtspunkten der Rechtsklarheit und allseits wirkenden Bindungswirkung Bedenken hervorrufen kann.71 Unter der Voraussetzung, daß Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bestehen und damit die genannten Vorgaben des EuGH erfüllt sind, scheidet ein solcher Weg jedoch nicht grundsätzlich aus.
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So hat auch der EuGH die Berufung des Mitgliedstaats auf eine klare und eindeutige Rechtsprechung in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich gebilligt. Der Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie könne je nach ihrem Inhalt durch einen allgemeinen rechtlichen Kontext genügt werden.72 Betont wurde vom EuGH jedoch auch die Besonderheit der entsprechenden Richtlinienregelung, die nach Aussage des Gerichts dem einzelnen kein konkretes Recht verlieh oder eine klare und bestimmte Verpflichtung auferlegte.73 Infolgedessen sei ein allgemeiner rechtlicher Kontext ausreichend, den der EuGH im relevanten Fall darin erkannte, daß klare und bestimmte Begriffe von einer ständigen Rechtsprechung angewandt wurden.74
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Daraus läßt sich ableiten, daß die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben an eine ordnungsgemäße Umsetzung auch ohne Gesetzeserlaß eingehalten werden können, wenn die Richtlinie eher allgemeine Vorgaben enthält und von einer gefestigten Rechtspre-
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derlande, Slg. 1982, 1791 Rn. 12; EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 97/81 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 1819 Rn. 12; EuGH v. 6.5.1980 – Rs. 102/79 Kommission ./. Belgien, Slg. 1980, 1473 Rn. 10; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, Slg. 1983, 449 Rn. 10; EuGH v. 15.12.1982 – Rs. 160/82 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 4637 Rn. 4; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. 131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 8; EuGH v. 30.5. 1991 – Rs. 361/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-2567 Rn. 20; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. 58/89 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-4983 Rn. 18; dazu etwa Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 142f.; Everling, NVwZ 1993, 209, 213 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 146-151; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 EG Rn. 46–58. Vgl. dezidiert Ehricke, EuZW 1999, 553, 558; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 141; Everling, NVwZ 1993, 209, 212 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 147; i.E. auch ablehnend Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 105. EuGH v. 26.6.2003 – Rs. 233/00 Kommission/Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 76: Auch wenn es unerläßlich sei, daß die Rechtslage, die sich aus den nationalen Umsetzungsmaßnahmen ergibt, ausreichend bestimmt und klar sei, um es den einzelnen zu ermöglichen, Kenntnis vom Umfang ihrer Rechte und Pflichten zu erlangen, ändere dies doch nichts daran, daß die Mitgliedstaaten schon nach dem Wortlaut von Art. 249 Abs. 3 EG (ehemals Art. 189 Abs. 3 EGV) die Form und die Mittel für die Umsetzung der Richtlinien wählen könnten, die das mit den Richtlinien angestrebte Ergebnis am besten gewährleiste. Aus dieser Vorschrift ergebe sich daher auch, daß die Umsetzung einer Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht unbedingt in jedem Mitgliedstaat eine Handlung des Gesetzgebers verlange. EuGH v. 26.6.2003 – Rs. 233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 78. EuGH, Urt. v. 26.6.2003 – Rs. 233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 83.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
chung im Mitgliedstaat auszugehen ist.75 Sind die Vorgaben der Richtlinie jedoch konkret und detailliert, muß auch im Wege präziser Normen umgesetzt werden.76
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Sind diese gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben erfüllt, wird Richtlinienumsetzung im Wege von Richterrecht in den Fällen relevant, in denen die von der Richtlinie erfaßte Materie im nationalen Recht von Richterrecht geregelt oder jedenfalls durchdrungen ist. Liegt eine lange höchstrichterliche Rechtsprechungstradition vor, der auch die Untergerichte folgen, stehen auch die Einwände, daß weder die Untergerichte einer höchstrichterlichen Rechtsprechung unterliegen noch diese an ihre eigenen Präjudizien gebunden ist,77 nicht entgegen.78 Erweist sich die bisherige Rechtsprechung im Wesentlichen als richtlinienkonform – sonst wäre schon aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen ein legislatives Tätigwerden zu fordern –, im Detail jedoch nachbesserungsbedürftig, kann dieser Mangel nicht nur durch legislative Korrekturen, sondern auch durch richtlinienkonforme Fortbildung des Richterrechts beseitigt werden.79 b)
Nationale Vorgaben
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Legt die Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform aus, so ist in nationaler Hinsicht zu beachten, daß sie sich innerhalb der ihr zugewiesenen Kompetenzen halten muß. Daher ist es im Grundsatz zutreffend, hier gewisse Einschränkungen zu fordern. Sofern die Auslegung auf eine Rechtsfortbildung hinausläuft, kann der Rechtsprechung eine Kompetenz hierzu nur in den Bereichen zuerkannt werden, in denen ihr traditionellerweise eine derartige Zuständigkeit zukommt. Diese Voraussetzungen lagen etwa in dem vom BGH entschiedenen Fall zu vergleichender Werbung vor; dieser hielt sich daher zu Recht zu richtlinienkonformer Auslegung befugt.
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Zugleich ist diese Unterscheidung auch für die weitere Frage nach einem nationalen Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung relevant. Steht zu erwarten, daß der Gesetzgeber keinen Umsetzungsakt erlassen wird, da der betroffene Bereich traditionellerweise der Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung zugewiesen ist, sind die Gerichte nach nationalen Grundsätzen gehalten, richtlinienkonform auszulegen. Dabei läßt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt eine solche nationale Verpflichtung besteht,
75 Dazu einerseits EuGH, Urt. v. 26.6.2003 – Rs. 233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 55–87: die Umsetzung einer generalklauselartig formulierten Ausnahmetatbestandes durch eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung sollte ausreichen; EuGH Urt. v. 7.5.2002 Rs. 478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147: Gesetzgebungsmaterialien ausreichend; andererseits EuGH Urt. v. 10.5.2001 – Rs. 144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 19–22, wonach die detaillierten Vorgaben der AGB-Richtlinie durch richterliche Präjudizien nicht ausreichend umgesetzt werden können; vgl. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht, 1996, S. 433; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547. 76 Staudinger, WM 1999, 1546, 1547; Himmelmann, DÖV 1996, 146. 77 Deutlich geringere Bedenken bestehen in Staaten mit Common Law-Tradition, vgl. Ehricke, EuZW 1999, 553, 559; Anklänge auch bei Staudinger, WM 1999, 1546, 1548. 78 So der Einwand von Neu, ZEuP 1999, 123, 138 f. 79 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 190; i.E. auch Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 f.
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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
jedoch nicht unabhängig von den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts beantworten. Unter der Prämisse, daß sich der Mitgliedstaat gemeinschaftsrechtskonform verhalten möchte, werden die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben insoweit zugleich zu nationalen Geboten. Ist der Rechtsprechung innerstaatlich die Umsetzungsaufgabe zugewiesen, folgt aus einem gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsgebot zugleich ein nationales, um den vom Mitgliedstaat nicht gewollten Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht zu vermeiden. c)
Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben
Gemeinschaftsrechtliche Gründe, der nationalen Rechtsprechung die richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu untersagen, bestehen nicht, da die Richtlinie vom Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit an Rechtswirkungen entfaltet und nur im Interesse der Mitgliedstaaten eine zeitlich hinausgeschobene Umsetzungspflicht anordnet. Die weitere Frage lautet nun, ob ein gemeinschaftsrechtliches Gebot existieren kann, schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen.
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Die oben dargestellten Literaturansichten setzen mehrheitlich die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Legislative, die sich unstreitig bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist Zeit lassen darf, mit denen der Judikative gleich und folgern daraus, daß diese an ihrer bisherigen Rechtsprechung bis zum Ende der Frist soll festhalten dürfen. Eine solche Gleichsetzung übergeht jedoch die grundlegenden Unterschiede, die sich für die Rechtsprechung aus dem Prinzip der funktionellen Beschränkung im Vergleich zur Legislative ergeben.
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Ihrer Rechtsprechung Wirkung zu einem exakt festgelegten Zeitpunkt beizumessen, ist für Gerichte geradezu unmöglich. Ihre Kompetenz erschöpft sich darin, über konkrete Streitfälle zu befinden, während ihnen abstrakte Ausführungen zu nicht-relevanten Rechtsfragen grundsätzlich untersagt sind, wovon durch obiter dicta nur in geringem Maße und nur bezogen auf solche Fragen, die mit dem relevanten Sachverhalt in engem Zusammenhang stehen, abgewichen werden darf.
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Betrifft der Regelungsgehalt der Richtlinie – wie etwa bei der Auslegung der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 1 UWG – einen traditionell durch Richterrecht geprägten Bereich und steht nicht zu erwarten, daß der Gesetzgeber die Richtlinie überhaupt oder auch nur fristgerecht umsetzen wird, haben die Gerichte die Signalwirkung zu beachten, die von ihrer Rechtsprechung auch für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ausgehen kann. Es ist eine vorausschauende Planung erforderlich, die dazu führen kann, daß richtlinienrelevante Fragen schon frühzeitig im Sinne der Richtlinie entschieden werden müssen, sofern rechtzeitige Korrekturen ausscheiden, die etwa in Betracht kommen, wenn (ausnahmsweise) feststeht, daß die Fragestellung zu einem späteren, vor Ablauf der Umsetzungsfrist liegenden Zeitpunkt erneut zu behandeln sein wird.
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Eine solche Verpflichtung wird, wenn überhaupt, nur aus den Grundsätzen des nationalen Rechts gefolgert,80 während entsprechende gemeinschaftsrechtliche Vorgaben
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80 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508, Fn. 17. Christian Hofmann
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2. Teil: Allgemeiner Teil
dezidiert ausgeschlossen werden.81 Kombiniert man jedoch die Vorgaben des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler mit den Folgen der funktionellen Beschränkung der Gerichte in den Fällen, in denen die vom Richtlinienzweck betroffene nationale Rechtsmaterie wesentlich durch Richterrecht geprägt ist, erscheint diese Folgerung keineswegs zwingend. Nach den Vorgaben des EuGH muß die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie, deren Ziele zu erreichen und alle zur Erfüllung dieser Pflicht geeigneten Maßnahmen zu treffen, die allen Trägern öffentlicher Gewalt, im Rahmen ihrer Zuständigkeit daher auch den Gerichten, obliegt,82 mit Ablauf der Umsetzungsfrist erreicht sein. Zugleich darf die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht durch Maßnahmen während ihres Laufs ernsthaft gefährdet werden.83 Eine solche Gefährdung ist nicht nur dann denkbar, wenn die Gerichte während der Umsetzungsfrist ihre Rechtsprechung richtlinienwidrig fortbilden,84 sondern auch dann, wenn sie ihre bisherige Linie unverändert beibehalten und hierdurch eine negative Signalwirkung für den Rechtsverkehr ausgesandt wird, die über den Ablauf der Umsetzungsfrist hinaus wirkt. Davon ist aber gerade in den Fällen auszugehen, in denen nach bisheriger und auch künftig zu erwartender Rechtslage die Rechtsprechung, nicht die Gesetzgebung, eine Materie beherrscht. Ein Verstoß des Mitgliedstaates gegen die Gemeinschaftsziele nach Art. 10 EG und die Richtlinienziele nach Art. 249 Art. 3 EG liegt in diesen Fällen primär in der richtlinienwidrigen Rechtsprechung der Gerichte begründet, allenfalls zweitrangig in der legislativen Untätigkeit des Gesetzgebers, der dieser Entwicklung in der Rechtsprechung hätte entgegensteuern können.85
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Abschließend sei angemerkt, daß die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ratti 86 diesen Thesen nicht entgegensteht. Zwar ging es auch dort um das grundsätzliche Verhältnis von nationalem Recht und den Vorgaben der Richtlinie in der Umsetzungsphase. Ein nationales Gericht hatte über die Strafbarkeit eines Betroffenen zu befinden, der die nationalen Kennzeichnungspflichten bei der Herstellung von Lösungsmitteln und Lacken nicht beachtet hatte. Der Betroffene wandte ein, die Vorgaben der Richtlinie erfüllt zu haben, und vertrat die Ansicht, nicht nach strengeren nationalen Vorschriften beurteilt werden zu dürfen. Dem folgte der EuGH nicht, sondern stellte fest, daß bei Richtlinienerlaß bereits bestehendes nationales Recht auch in der Umsetzungsphase grundsätzlich weiterhin angewandt werden dürfe. 81 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 249 Rn. 110; Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EG Rn. 153. 82 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 10.4. 1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH Urt. v. 13.11.1990, Rs. 106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht (2005), S. 51. 83 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 18.12.1997 – Rs. 129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 f. 84 So Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 106. 85 I.E. so wohl auch Bayreuther, EuZW 1998, 478, 479; vgl. auch Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 102, wonach entscheidend sein soll, ob durch die Rechtsprechung derart vollendete Tatsachen geschaffen werden, daß die Umsetzung der Richtlinie ernstlich in Frage steht. 86 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629.
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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
Eine Richtlinie könne erst am Ende der Umsetzungsfrist und nur für den Fall, daß der Mitgliedstaat dem Umsetzungsbefehl nicht nachgekommen sei, Wirkungen für den einzelnen entfalten. Bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist behielten die Mitgliedstaaten ihre Handlungsfreiheit.87 Der Unterschied zu den hier behandelten Fällen bestand jedoch darin, daß das nationale Gericht nicht nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben befaßt war. Vielmehr war der Gesetzgeber dazu berufen, die einschlägigen Vorschriften mit Ablauf der Umsetzungsfrist zu ändern. Eine negative Signalwirkung der Rechtsprechung, aufgrund derer die Erreichung der Richtlinienziele gefährdet erschien, war daher nicht zu befürchten. Somit bestätigt die Entscheidung nichts weiter als die geklärten Grundsätze, wonach Rechtsprechung und Rechtsanwendung aus Gemeinschaftsrecht nicht gehalten sind, die Entscheidung der mit der Umsetzung befaßten nationalen Stelle vorwegzunehmen.88
V.
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Die Vorwirkung von Richtlinien im Hinblick auf die Rechtsanwendung nationaler Verwaltungsstellen
Schließlich stellt sich die Frage einer Vorwirkung von Richtlinien auf die Rechtsanwendung der nationalen Verwaltung. Nach den bisherigen Feststellungen kann ausgeschlossen werden, daß die Verwaltung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben betraut ist. Auch lauten die nationalen Vorgaben an die Verwaltung, Gesetze nur anzuwenden und dabei die Auslegung durch die Rechtsprechung zu beachten, nicht jedoch, selbst Rechtsfortbildung zu betreiben.
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Erneut sei darauf hingewiesen, daß der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts von allen staatlichen Stellen zu beachten ist,89 somit auch von der Verwaltung nach Ablauf der Umsetzungsfrist 90 und soweit die oben dargestellte Sperrwirkung gegenüber in der Umsetzungsphase erlassenen Gesetzen eingreift. An dieser Stelle seien diese Überlegungen dahingehend weiter entwickelt, ob auch altes, vor Richtlinienerlaß bestehendes Recht im Lichte der Richtlinie anzuwenden ist, wenn anderenfalls eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele zu befürchten ist.
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87 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45; ausführlich dazu etwa Craig/deBúrca, EU Law – Text, Cases and Materials (3. Aufl. 2003), S. 204–206; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. 157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477 Rn. 66–69. 88 Zu einem Sonderfall, wonach nationales Recht den Vorgaben des Primärrechts widerspricht und zugleich eine umzusetzende Richtlinie existiert, vgl. den Beitrag von Windbichler/Krolop, unten § 19 Rn. 23, worin die Autoren zutreffend feststellen, daß es sich nicht um eine Vorwirkungsproblematik, sondern eine Frage primärrechtskonformer Auslegung handelt. 89 Zur Gemeinschaftsreue aller staatlichen Stellen Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 10 EG Rn. 14; Grabitz/Hilf-v.Bogadny, Art. 10 EG Rn. 24. 90 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Constanzo Spa, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33.
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2. Teil: Allgemeiner Teil
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In der deutschen Rechtsprechung findet sich eine Auseinandersetzung mit dieser Frage in Urteilen des BVerwG. Das Gericht unterschied zunächst nach dem Zeitpunkt, zu dem ein Antrag auf Verwaltungshandeln gestellt wurde, und interpretierte die Rechtsprechung des EuGH derart, daß einschlägige Richtlinien nur dann von der nationalen Verwaltung bei ihrer Rechtsanwendung beachtet werden sollten, wenn der Antrag nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie gestellt wurde. Hingegen sollte ein vor Ablauf der Umsetzungsfrist gestellter Antrag allein nach den geltenden nationalen Vorschriften zu beurteilen sein. Das sollte selbst dann gelten, wenn das beantragte Vorhaben erst nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist zugelassen wurde 91 und – so ist zu ergänzen – zu diesem Zeitpunkt den Vorgaben der Richtlinie widersprach.
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Eine derartige Unterscheidung findet sich in der Rechtsprechung des EuGH, auf die das BVerwG Bezug nahm, jedoch gerade nicht,92 und ist vor dem Hintergrund der Inter-Environnement Wallonie-, Mangold- und Adeneler-Rechtsprechung auch unzutreffend, da nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern die Vereitelung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist als entscheidendes Differenzierungskriterium dienen muß.
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Das wird mittlerweile auch vom BVerwG anerkannt. In späteren Urteilen verwies es auf die Vorgaben des EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie und folgerte aus dem Gebot der Vertragstreue, daß es den Verwaltungsstellen des Mitgliedstaates auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist untersagt sei, vollendete Tatsachen zu schaffen, die eine Erfüllung der Vertragspflichten nach Ablauf der Umsetzungsfrist unmöglich machten.93
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Auch für die Rechtsanwendung gilt daher, daß der Ablauf der Umsetzungsfrist keine absolute Grenze für die Pflicht zur Beachtung der Richtlinienvorgaben bildet, sondern vielmehr der Zeitpunkt, zu dem die Verwaltungsmaßnahme ihre Wirkungen entfaltet, von entscheidender Bedeutung ist. Daher ist stets zu prüfen, ob die Vorgaben des EuGH erfüllt sind, also eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele droht. Regelmäßig wird dies bei Verwaltungshandeln nicht zu befürchten sein. Eine Ausnahme kann etwa bei einem Planfeststellungsverfahren bestehen, da es aufgrund seiner Breitenwirkung geeignet ist, derart erhebliche Wirkungen zu entfalten. Ähnliches wird gelten, wenn die Verwaltung gesetzgebungsähnliche Funktionen wahrnimmt, etwa bei Aufstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen.
91 BVerwGE 100, 370, 374. 92 Vgl. EuGH v. 11.8.1995 – Rs. 431/92 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1995, I-2189 Rn. 29: Der EuGH bezieht nur zu nach Ablauf der Umsetzungsfrist ergangenen Anträgen Stellung, läßt die problematischen Fälle der davor gestellten Anträge, zu denen auch der vom BVerwG zu entscheidende Sachverhalt zählt, hingegen unbeantwortet. 93 BVerwGE 107, 1, 22; BVerwGE 110, 302, 308.
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§ 16 Die Vorwirkung von Richtlinien
VI. Zusammenfassung Die Vorwirkung von Richtlinien ist die Frage nach der Wirkung von Richtlinienzielen auf nationale staatliche Stellen während des Laufs der Umsetzungsfrist. Da Richtlinien ihre rechtlichen Wirkungen erst mit Wirksamkeit der Richtlinienziele im Sinne von Art. 254 EG entfalten, geht von vorbereitenden Rechtsakten keine Vorwirkung auf staatliche Stellen aus.
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Während des Laufs der Umsetzungsfrist ist der nationale Gesetzgeber grundsätzlich frei darin, auch den Richtlinienzielen widersprechende Gesetze zu erlassen. Eine Grenze findet diese Freiheit in der als Frustrationsverbot bezeichneten Rechtsprechung des EuGH, wonach die Verwirklichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht gefährdet werden darf. Diese Folgen sind von Rechtsprechung und Verwaltung zu beachten und können zur Nichtanwendung der gegen die Sperrwirkung verstoßenden Vorschriften führen.
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Judikative und Exekutive können jedoch auch in anderer Weise von der Vorwirkung betroffen sein. Obgleich schon vor Richtlinienerlaß bestehendes nationales Recht grundsätzlich während des Laufs der Umsetzungsfrist weiter zur Anwendung gelangen darf, sind auch dabei die Folgen für die Verwirklichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu beachten. Sofern diese ernsthaft gefährdet sind, muß auch die Verwaltung hierauf reagieren.
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Soweit der Rechtsprechung kraft innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Umsetzungsaufgabe zugewiesen ist, hat sie die aus der funktionellen Beschränkung erwachsenden Konsequenzen zu bedenken. Die Gerichte müssen ihre Rechtsprechung frühzeitig an die Vorgaben der Richtlinie anpassen, wenn anderenfalls nicht auszuschließen ist, daß eine negative Signalwirkung dazu geeignet sein kann, die Verwirklichung der Richtlinienziele ernsthaft zu gefährden.
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3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Vertragsrecht Martin Schmidt-Kessel
Übersicht I. Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methoden des Gemeinschaftsrechts im Vertragsrecht
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Rn. 2–7 2–4 5–7 8–11
III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Instrumentarium des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . . .
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12–16 13 14 15–16
IV. Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . 1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium . 2. Objektivierungen . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung des Auslegungsmaterials b) Risikozuweisungen . . . . . . . . . .
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17–22 18 19–22 20 21–22
V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht . . . . . . . 1. Anpassung der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons . . . . a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte . . . . . . . . b) Telos der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systemgestützte Erwägungen . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre . . . . . . . 4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht
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23–37 24–25 26–33 27–28 29 30–33 34–35 36–37
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38–44 39 40–41 42 43–44
VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens . . . . . . . . . . . . 2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen . . . . . . . 3. Zur künftigen Auslegung des Instruments . . . . . . . . . . . . . . . .
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45–51 46 47 48–51
VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht 1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive . . . . 2. Anwendung des etablierten Kanons? . . . . . . 3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts . 4. Verbot der Analogie? . . . . . . . . . . . . . .
Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil Literatur: Bar, Christian von/Drobnig, Ulrich, The interaction of contract law and tort and property law in Europe, München 2004; Baldus, Christian/Müller-Graff, Peter Ch.(Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht: Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive, München 2006; Beale, Hugh/Hartkamp, Arthur/Kötz, Hein/Tallon, Dennis (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Contract Law, Oxford 2002; Beatson, Jack, Anson’s Law of Contracts, 28. Aufl. Oxford 2002; Canaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz: eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem, 2. Aufl., Berlin 1983; Chitty, Joseph, Chitty on Contracts, 29. Aufl. London 2004; Esser, Josef, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 4. Aufl. Tübingen 1990; Esser, Josef, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt a.M. 1972; Flume, Werner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II, Das Rechtsgeschäft, 4. Aufl. Berlin u.a. 1992; Gebauer, Martin/Wiedmann, Thomas (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten EG-Verordnungen, Stuttgart u.a. 2005; Gomard, Bernhard, Obigationsret, Kopenhagen 2006; Körber, Torsten, Grundfreiheiten und Privatrecht, Tübingen 2004; Kötz, Hein, Europäisches Vertragsrecht, Tübingen 1996; Larenz, Karl/Wolf, Manfred, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl. München 2004; Riesenhuber, Karl, Europäisches Vertragsrecht, Berlin 2003; Riesenhuber, Karl, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, Berlin 2003; Ruffert, Matthias, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts: eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes, Tübingen 2001; Schäfer, Die Wahl nichtstaatlichen Rechts nach Art. 3 Abs. 2 des Entwurfs einer Rom I VO-Auswirkungen auf das optionale Instrument des europäischen Vertragsrechts, GPR 2006, 54–59; Schlechtriem, Peter/Schmidt-Kessel, Martin, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl. Tübingen 2005; Schlechtriem, Peter/Schwenzer, Ingeborg, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht, 4. Aufl. München 2004; Schmidt-Kessel, Methoden des Europäischen Vertragsrechts, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre – Grundfragen der Methoden Europäischen Privatrechts, de Gruyter: Berlin 2006, 309–329; Zimmermann, Reinhard, The Law of Obligations: Roman foundations of the civilian tradition, Oxford 1996. Rechtsprechung: EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7257; EuGH v. 6.6. 2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1984, 723; EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403.
1
Die Besonderheiten des Gegenstands Vertragsrecht haben Besonderheiten gegenüber der allgemeinen juristischen Methodenlehre zur Folge. Das gilt insbesondere soweit es um das Europäische Privatrecht geht, dessen Eigenheiten die vorbehaltlose Übernahme nationaler Methodik der eigenen Heimatrechtsordnung ausschließen. Zu klären ist zunächst die Frage, was den Vertrag und das Vertragsrecht eigentlich ausmacht – eine Frage, bei deren Beantwortung hinsichtlich des Kerns des Vertragsbegriffs in Europa vermutlich Einigkeit besteht, während sich an den Begriffsrändern ganz massive Divergenzen auftun (I.). Zu behandeln ist außerdem die Anwendung der verschiedenen allgemeinen Aspekte der Methoden des Gemeinschafts- und des Gemeinschaftsprivatrechts auf das Vertragsrecht (II.). Bei diesen beiden Punkten kann die Frage nach den Methoden des Europäischen Vertragsrechts jedoch nicht stehen bleiben, zumal Europäisches Vertragsrecht und das Vertragsrecht im Gemeinschaftsprivatrecht sich bei weitem nicht gleichsetzen lassen: Anzusprechen sind vielmehr die normativen Besonderheiten des Vertragsrechts (III.) und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium, also – dies nur sehr knapp – für die Auslegung des Vertrags respektive der Parteierklärungen (IV.), weiter für den metho-
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Martin Schmidt-Kessel
§ 17 Europäisches Vertragsrecht
dischen Umgang mit dispositivem Vertragsrecht (V.) und außerdem für die lex artis der Anwendung zwingenden Vertragsrechts (VI.). Schließlich ist auf einige Fragen einzugehen, welche sich im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen für das Europäische Vertragsrecht stellen werden (VII.).
I.
Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem
1.
Vertragsrecht statt Obligationenrecht
Bemerkenswert erscheint zunächst, daß das Vertragsrecht in einer Vielzahl mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen keinen eigenständigen systematischen Topos darstellt; es erscheint vielmehr regelmäßig und namentlich auf dem Kontinent nur als Subkategorie zum Obligationenrecht,1 also dem Recht der Obligationen oder – wie es in Deutschland im Anschluß an die unglückliche doppeldeutige Begriffsprägung durch das BGB heißt 2 – der Schuldverhältnisse. Im Rahmen dieses Rechts der Rechtsverhältnisse und Pflichten zwischen Personen bilden die vertraglichen Obligationen nur eine Unterkategorie. Vertragsrecht als eigenständiger Topos im System oder jedenfalls in der Darstellung des Rechts ist hingegen heute vor allem in der Tradition des Common Law verwurzelt.3 Für die nordischen Rechtsordnungen läßt sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen einem bisweilen anzutreffenden allgemeinen Vertragsgesetz und den ebenso anzutreffenden Lehrbüchern zum Obligationenrecht 4 feststellen.
2
In der Rechtsvergleichung wie in zahlreichen Projekten der Rechtsvereinheitlichung ist das Vertragsrecht hingegen ein feststehender Topos: Prominentestes Beispiel ist die entsprechende Ordnung der International Encyclopedia of Comparative Law, welche keine zusammenfassende Behandlung des Obligationenrechts enthält, sondern für das Vertragsrecht, das Deliktsrecht sowie für das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung einschließlich der negotiorum gestio jeweils eigene Bände vorhält. Die Principles for International Commercial Contracts und die Principles of European Contract Law lassen ihre Ausrichtung bereits im Namen deutlich werden 5 und dasselbe gilt für den Code Européen de Contrats der sog. Gandolfi-Gruppe. Auch komparatistisch angelegte Lehr- und Textbücher sind mehrheitlich dem Europäischen Vertragsrecht 6 und nicht etwa einem Europäischen Obligationenrecht 7 gewidmet. Gemeinschafts-
3
1 Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 451. 2 Dazu Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 3. 3 Siehe nur die klassischen Lehrbücher Beatson, Anson’s Law of Contracts (28. Aufl. 2002) und Chitty on Contracts (29. Aufl. 2005). 4 So etwa für Dänemark das vierbändige Lehrbuch von Gomard, Obligationsret, Kopenhagen (seit 1971 in mehreren Auflagen). 5 Allerdings enthalten beide Werke in ihrer neuesten Fassung auch nicht spezifisch vertragsrechtliche Regeln wie die Abtretung und die Aufrechnung. 6 So Kötz, Europäisches Vertragsrecht; Beale/Hartkamp/Kötz/Tallon (Hrsg.), Contract Law. Ebenso das auf das Gemeinschaftsrecht beschränkte Lehrbuch Riesenhubers zum „Europäischen Vertragsrecht“. 7 Prominentestes Gegenbeispiel ist Zimmermann, The Law of Obligations. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
rechtlich ist das Europäische Vertragsrecht als Topos spätestens mit den seit 2001 publizierten Mitteilungen der Kommission und die darum entstandene Diskussion als Gegenstand etabliert; 8 die Literatur hat sich auch insoweit der Thematik angenommen.
4
Ist das Europäische Vertragsrecht insgesamt heute auch eine allgemein anerkannte Kategorie, so wird doch ihr wesentlicher Kern, welche sie von den benachbarten Gebieten des Obligationenrechts scheidet, nur selten angesprochen: der besondere Geltungsgrund der vertraglichen Pflichten in der autonomen Entscheidung der Parteien für eine Bindung.9 Insoweit unterscheidet sich das Vertragsrecht entscheidend von anderen Quellen von Obligation – und als Konsequenz auch seine Methodik von denen der übrigen Gebiete des Privatrechts. 2.
Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand
5
Über die Frage, was ein Vertrag und damit der Gegenstand des Vertragsrechts sei, besteht keine vollständige Einigkeit. Immerhin findet sich jedoch ein gesicherter Begriffskern, welcher aus drei Elementen besteht: der Einordnung des Vertrags als Instrument der Selbstbindung, das Erfordernis des Konsenses als Voraussetzung dieser Bindung und ihre Durchsetzung im Wege des Schadensersatzes.
6
Zugleich ergeben sich jedoch erhebliche Unschärfen am Begriffsrand. Diese betreffen zunächst die Frage, wie weit die Selbstbindung reicht, ob namentlich der Vertrag tendenziell das gesamte Verhältnis zwischen den Parteien einschließlich des Schutzes solcher Integritätsinteressen erfaßt, welche nicht zum Kern des Vertrags gehören.10 Hinzu kommen zwei offene Punkte hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Vertragsrechts: Erfaßt dieses auch einseitig verpflichtende Rechtsverhältnisse oder ist die Gegenleistung (consideration) ein konstituierendes Element? 11 Und wie steht es mit Fehlern bei der Vertragsanbahnung? Unterfallen diese dem Vertragsrecht oder zählen sie mangels Eintritt einer Bindung zum außervertraglichen Bereich? 12 Alles andere als gesichert ist schließlich die Rechtsbehelfsseite: Während in Deutschland – ermöglicht erst durch die jedenfalls insoweit unglückliche Windscheid’sche Trennung von materiellem Anspruch und dessen prozessualer Durchsetzung – die Erfüllung in Natur überwiegend in das Zentrum des Systems gerückt wird,13 steht die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Durchsetzung in Natur deutlich zurückhaltender gegenüber.14
8 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. mwN. 9 Eine wichtige – wenngleich umstrittene – Ausnahme hierzu ist die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 5 Nr. 1 und 3 Brüssel I-VO für Fälle des Fehlverhaltens im Umfeld des Vertragsschlusses, dazu EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7257 und dazu Anm. Schmidt-Kessel, ZEuP 2004, 1019. 10 Dazu bis heute grundlegend Schlechtriem, Vertragsordnung und außervertragliche Haftung. 11 Vgl. Kötz, Europäisches Vertragsrecht, S. 84 ff. 12 Siehe Art. 2 : 301 f. PECL. Außerdem Artt. 1104–1104-1 des Catala-Entwurfs zur Reform des Code Civil. 13 Dazu das Rabel’sche Wort vom Erfüllungsanspruch als dem „Rückgrat der Obligation“ (Rabel, Recht des Warenverkaufs I, S. 376). 14 Siehe wiederum Text, Kommentar und Notes zu Art. 9 : 101 ff. PECL.
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Martin Schmidt-Kessel
§ 17 Europäisches Vertragsrecht
Der in Vorbereitung befindliche gemeinsame Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht wird vermutlich nicht alle dieser Fragen beantworten. Ausgehend von der Erwartung, daß die Principles of European Contract Law die Basis dieses Instruments bilden werden, läßt sich immerhin zunächst erkennen, daß dieses nicht auf gegenseitige Verträge beschränkt sein wird: Europäisches Vertragsrecht erfaßt auch einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte (vgl. Art. 1 : 107, 2 : 107 PECL). Selbstverständlicher Kern des Referenzrahmens wird das Leistungsstörungsrecht mit einem System der Rechtsbehelfe des verletzten Teils sein, in welchem der Zwang zur Naturalerfüllung keine Vorzugsstellung genießt (siehe Art. 8 : 101ff. und 9 : 101ff. PECL). Auch Störungen bei der Vertragsanbahnung dürften – entgegen der Mehrheitsauffassung unter den Mitgliedstaaten und auch entgegen den Weichenstellungen für das Internationale Zivilverfahrensrecht 15 und das Internationale Privatrecht 16 der Gemeinschaft – weitgehend dem Vertragsrecht zugeschlagen werden. Elemente zu einer solchen Haftung für culpa in contrahendo enthalten die Principles an mehren Stellen, insbesondere in Art. 2 : 301 f., 4 : 117, 15 : 105 PECL. Offen bleibt hingegen nach den vorliegenden Entwürfen die Behandlung von Integritätsverletzungen, welche nicht auf der Verletzung einer zum Vertragskern gehörenden Pflicht beruhen. Die Abgrenzung vom Deliktsrecht, welche bereits den nationalen Rechtsordnungen vielfach Schwierigkeiten bereitet, wird hier dauerhaft größte Schwierigkeiten bereiten. Das gilt erst recht für den Fall, daß die vorliegenden Entwürfe für European Principles of the Law of Torts keinen Eingang in den Gemeinsamen Referenzrahmen finden sollten.17
II.
7
Methoden des Gemeinschaftsrechts im Vertragsrecht
Das Europäische Vertragsrecht kann sich, jedenfalls soweit es bereits heute der Feder des Gemeinschaftsgesetzgebers entspringt, den methodischen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts selbstverständlich nicht entziehen. Insoweit gelten dann grundsätzlich die allgemeinen Regeln und zwar zunächst diejenigen über die Anwendbarkeit und den Vorrang des Gemeinschaftsrechts unter Privaten. Während jene für die Art. 81f. EG sowie bei Verordnungen, wie sie sich für Verträge vor allem im Transportrecht finden,18 selbstverständlich ist, kommt es bei Richtlinien und bei den Grundfreiheiten 15 Zur Tacconi-Entscheidung des EuGH siehe oben Fn. 9. 16 S. Art. 1 II lit. i des Entwurfs einer Verordnung über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), KOM(2005) 650. 17 Zum Verhältnis von Vertrags- und Deliktsrecht (sowie von Vertrags- und Sachenrecht) unlängst wegweisend von Bar/Drobnig, The interaction of contract law and tort and property law in Europe. 18 Siehe vor allem die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 Nr. L 46/1 sowie die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9.10.1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, ABl. 1997 Nr. L 285/1, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 ABl. 2002 Nr. L 140/2. Unmittelbar anwendbar sind etwa auch die Verordnungen zur Euroeinführung, dazu Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732 ff. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
jedenfalls im Grundsatz zu keiner unmittelbaren horizontalen Anwendung. Für die Grundfreiheiten läßt sich allerdings eine – vor allem für vertragsrechtliche Bestimmungen bedeutsame – Tendenz zur Anwendung unter Privaten konstatieren: Gesichert ist insoweit, daß der EG-Vertrag die Beschränkung von Grundfreiheiten durch solche Private verbietet, die als sog. intermediäre Gewalten einzuordnen sind und aufgrund ihrer Macht staatsähnlich auftreten.19 Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits vereinzelt erkennen lassen, daß Private auch in anderen Fällen Adressaten von Grundfreiheiten sein können.20 Von praktisch ungleich größerer Bedeutung für das Vertragsrecht sind die Grundfreiheiten jedoch als Maßstab einer primärrechtskonformen Auslegung, wie sie in diesem Band im Beitrag von Leible/ Domröse behandelt wird.21
9
Auch die zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien entfalten grundsätzlich keine horizontale Direktwirkung. Zentraler methodischer Aspekt des durch Richtlinien gesteuerten Vertragsrechts sind daher die – im Beitrag von W.-H. Roth 22 näher behandelten – Fragestellungen, welche sich aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Die Gemeinschaft stellt damit lediglich ein Optimierungsgebot auf und verlangt von den mitgliedstaatlichen Rechtsanwendern daher nur solche Schritte, welche sich im Rahmen der für das autonome nationale Recht maßgebenden Methodik halten. Allerdings muß diese auch vollständig ausgeschöpft werden, so daß etwa die Überwindung einzelner Vorschriften durch die Anwendung von Generalklauseln geboten sein kann.23 Soweit in den Mitgliedstaaten die Gerichte auch rechtsfortbildend tätig werden dürfen, ergibt sich aus der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung nach Art. 249 Abs. 3 EG auch das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung.24
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Noch weiter reichen die Richtlinienwirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen zwischen Privaten und der öffentlichen Hand. Praktische Bedeutung hat dieser Punkt bislang vor allem für Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Dienstes erlangt, für welche insbesondere die arbeitsrechtlichen Richtlinien unmittelbar zugunsten der Beschäftigten gelten, wenn sie nicht rechtzeitig oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt sind und die Richtlinie den Beschäftigten eine hinreichend präzise gefaßte Rechtsposition einräumt.25 Künftig dürfte er im Blick auf die Zahlungsverzugsrichtlinie auch für Vergütungsansprüche Privater gegen die öffentliche Hand Bedeutung
19 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 468 mwN. 20 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139. Dazu Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 460; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 680. 21 Leible/Domröse, oben § 9; aus der Sicht des deutschen Vertragsrechts etwa Schlechtriem/ Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 12 ff. 22 Roth, oben § 14. 23 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004 I-8835 Rn. 116; dazu Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47 ff.; Staffhorst, GPR 2005, 89, 90 f.; Schlechtriem/SchmidtKessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 154a. 24 Siehe nochmals Roth, oben § 14. 25 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1984, 723. Zu den Einzelheiten etwa Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 106 ff.
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Martin Schmidt-Kessel
§ 17 Europäisches Vertragsrecht
erlangen; dies gilt insbesondere für eine Reihe öffentlich-rechtlich organisierter Rechtsverhältnisse 26 und für Bauaufträge der öffentlichen Hand. Bislang nicht näher untersucht ist außerdem die Frage einer Francovich-Haftung als Haftung in einem Vertrag.27 Ebenfalls offen ist, ob eine unmittelbare Richtliniengeltung entsprechend der Ausweitung der Wirkung der Grundfreiheiten auf sog. intermediäre Gewalten möglich ist. Die Standardformel des Gerichtshofs zur Abgrenzung erfaßt den Staat sowie Organisationen und Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben.28 Die Ausweitung dieser Formel etwa auf die von den Grundfreiheiten angesprochenen Verbände erscheint zumindest vorstellbar. Soweit das Gemeinschaftsrecht für die Entscheidung vertragsrechtlicher Streitigkeiten Bedeutung erlangt, folgt seine Auslegung im Grundsatz den allgemeinen Regeln gemeinschaftsrechtlicher Methodik.29 Insbesondere sind die betreffenden Vorschriften und ihre Begriffe autonom und nicht etwa nur mit Blick auf die jeweils berufene nationale Rechtsordnung auszulegen. Von den klassischen canones der Auslegung tritt die historische eher in den Hintergrund.30 Die Bedeutung des Wortlauts ist in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Ihm müßte zunächst im Blick auf die souveränitätsbeschränkende Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte besondere Bedeutung zukommen. Diese wird jedoch durch die Vielsprachigkeit der Rechtstexte sowie durch die bislang mangelnde Ausbildung einer kohärenten Terminologie des EG-Vertragsrechts erheblich relativiert. Entgegen der – insoweit besonders restriktiven – deutschen Tradition markiert die Wortlautgrenze zudem nicht notwendig eine Grenze zwischen kategorial zu unterscheidender Auslegung und Fortbildung des Gemeinschaftsrechts. Neben den insoweit großzügigeren Traditionen anderer Mitgliedstaaten hat dies seine Ursache auch im zentralen Gewicht der teleologischen Auslegung im Gemeinschaftsrecht. Bei dieser ist das in Bezug genommene Telos zudem ein doppeltes: Zu fragen ist einerseits nach dem Zweck der einzelnen Norm und andererseits – und insoweit auch systemprägend – nach den aus der Binnenmarktfinalität des Gemeinschaftsrechts für die einzelne Sachfrage zu ziehenden Konsequenzen.
26 Siehe die Nachweise bei Gebauer/Wiedmann-Schmidt-Kessel, Kap. 4 Rn. 9, 14. 27 Zur dogmatischen Verortung dieser Haftung etwa Streinz-Gellermann, Art. 288 EGV Rn. 39. 28 Etwa EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 47. 29 Dazu in diesem Band Pechstein/Drechsler, oben § 8 sowie Riesenhuber, oben § 11. 30 In diesem Sinne demnächst Baldus, in: Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht; anders Riesenhuber, § 11 Rn. 30. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium 12
Dem Vertragsrecht kommt eine Doppelaufgabe zu: Es organisiert die vertragliche Bindung und es bestimmt den Inhalt des Vertrags einschließlich der Folgen von Störungen. Für die Erfüllung dieser Doppelaufgabe stehen dem Vertragsrecht drei Instrumente zur Verfügung: Maßgebend sind zunächst die Parteierklärungen und ihr Zusammenkommen im vertragsbegründenden Konsens; der Code civil spricht insoweit in Art. 1134 Abs. 1 C.c. treffend davon, der Vertrag sei das Gesetz der Parteien. Weiterhin sind das dispositive Vertragsrecht und weitere Mechanismen heteronomer Vertragsergänzung in den Blick zu nehmen und schließlich das die Freiheit der Parteien beschränkende zwingende Recht. 1.
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Die – gegenseitigen oder gemeinschaftlichen – Parteierklärungen sind unter der Herrschaft der zweigliedrigen Vertragsfreiheit der notwendige Ausgangspunkt für die Behandlung der den Vertrag betreffenden Rechtsfragen: Zunächst ist jeweils zu fragen, ob die Erklärungen hinreichend kongruent sind, um Bindungen zwischen den Parteien hervorrufen zu können, ob also ein Konsens vorliegt. Sodann ist die Frage zu klären, welchen Inhalt dieser Konsens hat. Beide Vorgänge erfolgen mit den Mitteln der Auslegung – zunächst der Parteierklärungen, dann des Konsenses. Diese bildet dementsprechend die primäre methodische Aufgabe des Vertragsrechts. Beherrscht wird diese Auslegung bekanntlich durch das Spannungsverhältnis zwischen dem richtigerweise vorrangigem Parteiwillen einerseits und verschiedenen objektiven Gesichtspunkten, welche sich als notwendige Konsequenz aus dem Umstand ergeben, daß der Parteiwille auch kommuniziert werden muß. 2.
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Instrumentarium des Vertragsrechts
Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts
Dem dispositiven Recht kommt die Aufgabe zu, den im Wege der Auslegung von Parteierklärungen und Konsens ermittelten Befund zu ergänzen und zu konkretisieren. Dabei tritt es im Kollisionsfalle hinter diesem Befund zurück, ist also dem Gesetz der Parteien gegenüber nachrangig. Auch soweit das dispositive Recht mit Mechanismen einer individuellen, d.h. auf den einzelnen Vertrag bezogenen, heteronomen Vertragsergänzung, etwa der implication in fact (vgl. Art. 6 : 102 PECL) oder der ergänzenden Vertragsauslegung, konkurriert, tritt es richtigerweise zurück: Für diese am individuellen Vertrag und damit enger am Willen der Parteien anknüpfenden Mechanismen gebietet dies die Herrschaft der Privatautonomie im Vertragsrecht. Dabei können dispositives Recht und die Mechanismen zur heteronomen wie autonomen Ergänzung des Vertrags im Einzelfall nicht immer klar unterschieden werden: Die verschiedenen Elemente von Art. 35 Abs. 2 CISG und – soweit er den Parteien Spielräume beläßt – Art. 2 Abs. 2 Kaufgewährleistungsrichtlinie (KGRL) 31 etwa lassen sich m.E. am
31 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimm-
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§ 17 Europäisches Vertragsrecht
besten als Auslegungshilfen auffassen und sind im englischen Recht des 19. Jahrhunderts auch genau so entstanden, nämlich als terms implied in fact.32 Damit klingt zugleich das Ideal für die inhaltliche Ausgestaltung dispositiven Rechts an: die Ausrichtung am typisiert-hypothetischen Parteiwillen. Dieses Ideal bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Methodik des dispositiven Rechts. 3.
Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit
Zwingendes Vertragsrecht setzt alldem Grenzen: Wege zur vertraglichen Bindung wie auch Vertragsinhalte werden ausgeschlossen oder – bis hin zum Kontrahierungszwang – vorgegeben. Gleichwohl sind zwingende Normen vom Handeln der Parteien nicht unabhängig: Sie kommen nämlich erst zum Tragen, wenn sich die Parteien – beim Kontrahierungszwang der freie Teil – für ein von ihnen erfaßtes Vertragsschlußverfahren oder eine von ihnen erfaßte Vertragsgestaltung entscheiden. Auch steht das zwingende Vertragsrecht nicht isoliert, sondern knüpft weitgehend an die Vorgaben des dispositiven Rechts an, indem bestimmte – sich auch unter diesem stellende – Fragen der privatautonomen Regelung entzogen werden. Daß sich die Parteien etwa von der Schadensersatzhaftung für eigenen Vorsatz regelmäßig nicht freizeichnen können,33 setzt nicht nur stillschweigend den Vertragsschluß und eine Pflicht des vertragsbrüchigen Teils voraus, sondern verlangt überdies, daß der Rechtsbehelf des Schadensersatzes überhaupt zur Verfügung steht und sich damit die Frage nach dem (Mindest-)Standard der Haftung überhaupt stellt. Auch diese Verknüpfung kann für die heranzuziehende Methodik nicht folgenlos bleiben.
15
Diese strukturelle Abhängigkeit des zwingenden vom dispositiven Recht hat der deutsche Gesetzgeber in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB dadurch perfektioniert, daß er das vornehmlich vom dispositiven Recht gezeichnete gesetzliche Leitbild zum Maßstab der Anwendung einer Norm zwingenden Rechts, nämlich des Verbots unangemessen benachteiligender Vertragsbestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, erhoben hat. Indem bekanntlich § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB außerdem auf die wesentlichen Rechte und Pflichten verweist, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, geht das Gesetz noch einen Schritt weiter und macht sich die Erkenntnis zueigen, daß das dispositive Recht insoweit nicht allein die Standards setzt, welche den Vertragsinhalt bestimmen.34 Diese flächendeckende enge Verknüpfung des dispositiven Rechts mit den Standards der Inhaltskontrolle entspricht europäischem Standard freilich nicht einmal dort, wo das Gemeinschaftsrecht selbst Regeln zur Inhaltskontrolle vorsieht.35
16
32 33 34
35
ten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12. Siehe Art. 6 : 102 PECL und dazu Nr. 1 der notes. Siehe nur § 276 Abs. 3 BGB. Im Einzelfall hat dies sogar dazu geführt, daß die geübte Vertragspraxis dispositive Normen in einer Weise überspielt hat, daß den Verwendern von AGB die Rückkehr zum Gesetz verwehrt wurde. Art. 3, 4 AGBRL.
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3. Teil: Besonderer Teil
Lediglich Art. 3 Abs. 3 Zahlungsverzugsrichtlinie (ZVerzRL) 36 scheint hier in die Richtung des deutschen Rechts zu verweisen, freilich ist der dortige Verweis auf das „Leitbild“ von Art. 3 Abs. 1 lit. a–d, Abs. 2 ZVerzRL erheblich zurückhaltender, weil die Anknüpfung an die dispositiven Vorschriften dort endet, wo der andere Teil einen „objektiven Grund“ für die Abweichung benennen kann. Selbstverständlich gehören auch in anderen europäischen Rechtsordnungen die Standards, von denen abgewichen wird, zu den Kontrollgesichtspunkten, jedoch kommt es dort nicht zu einer dem deutschen Recht vergleichbaren Engführung.
IV. 17
Obwohl die Vertragsauslegung nach dem Vorstehenden den Kern der vertragsrechtlichen Methodik bildet, ist insoweit eine Beschränkung auf wenige einzelne Punkte geboten. Dies zum einen, weil hier – einheitsrechtlich vor allem zurückgehend auf Art. 8 CISG und die Praxis seiner Anwendung – weitgehende Einigkeit über die anzulegenden materiellen Maßstäbe besteht und zum anderen, weil sich Schwierigkeiten bei der Vertragsauslegung vor allem im tatsächlichen Bereich ergeben und damit eng mit den prozessualen Rahmenbedingungen verknüpft sind – etwa den zugelassenen Beweismitteln, den Regeln für die richterliche Überzeugungsbildung oder der Frage nach Möglichkeit und Umfang der Kontrolle tatrichterlicher Auslegung durch Rechtsmittelgerichte. Zudem sind die gemeinschaftsrechtlichen Ansätze zu einer allgemeinen Methodik der Vertragsauslegung bislang eher rudimentär, so daß ich mich ohnehin weitgehend auf Art. 5 : 101 ff. PECL sowie auf Art. 8 CISG stützen muß.37 1.
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Vertragsauslegung
Parteiwille als maßgebliches Kriterium
Ausgangspunkt ist jeweils der Parteiwille, zunächst im Blick auf die Vertragsschlußerklärungen und sodann begrenzt darauf, wie er Eingang in den Konsens gefunden hat. Er ist, soweit er sich mit dem Verständnis respektive dem Willen des anderen Teils deckt, auch dann maßgebend, wenn er im Wortlaut der getätigten Äußerungen für einen Dritten nicht sichtbar oder nicht erkennbar wird – falsa demonstratio non nocet. Das ergibt sich unmittelbar aus Art. 5 : 101 Abs. 1 PECL und Art. 8 Abs. 1 CISG, während es für das Gemeinschaftsprivatrecht bislang abgeleitet werden muß und zwar aus der dieses beherrschenden (formalen) Vertragsfreiheit. Der Parteiwille wirkt auch dort fort, wo er nicht mehr hinreichend konkret ist, um unmittelbar die Beantwortung einzelner Detailfragen leisten zu können, nämlich über den – in Randbereichen nicht selten diffusen – Zweck, welchen die Parteien verfolgt haben, Art. 5 : 102 lit. c PECL, oder welchen eine Partei in Kenntnis und ohne Widerspruch der anderen
36 Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.6.2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2000 Nr. L 200/35. 37 Siehe daher zum folgenden meine Kommentierung zu Art. 8 in Schlechtriem/Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht.
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zum Gegenstand des Vertrags gemacht hat, Art. 5 : 101 Abs. 2 PECL.38 Die Orientierung der beim Kauf geschuldeten Beschaffenheit der Ware am tatsächlichen oder gewöhnlichen Verwendungszweck, Art. 2 Abs. 2 lit. b und c KGRL und Art. 35 Abs. 2 lit. a und b CISG, ist ein Beispiel für diese Form der vermittelten Wirkung des Parteiwillens.39 2.
Objektivierungen
Im übrigen geht es bei den die Auslegung steuernden Regeln einerseits darum, das zur Feststellung des Parteiwillens und des von den Parteien objektiv zu erwartenden Verständnisses heranzuziehende Auslegungsmaterial festzulegen, und andererseits um Zweifelsregeln, welche die Risiken des Schweigens bei Vertragsschluß und der Beweisbelastung im nachfolgenden Prozeß zuweisen. a)
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Bestimmung des Auslegungsmaterials
Dabei ist der gemeinschaftsprivatrechtliche Befund zum Auslegungsmaterial marginal; allenfalls lassen sich Ansätze für ein Gebot zur Auslegung des Vertrags als Ganzes nachweisen,40 nämlich in Art. 4 Abs. 1 AGB-Richtlinie (AGBRL).41 Der Grund dafür liegt in dem Umstand, daß in Europa ein weitestgehender Konsens darüber besteht, daß grundsätzlich jeder Umstand, welcher Schlüsse auf den Willen und das Verständnis der Parteien erlaubt, bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, Art. 8 Abs. 3 CISG. Das Europäische Privatrecht kennt insbesondere keine parol evidence rule im strengen Sinne, also keine strikte Beschränkung der Auslegungsgesichtspunkte auf eine den Vertrag verkörpernde Urkunde, soweit die Parteien dies nicht mittels einer merger clause vereinbart haben. Das Gemeinschaftsrecht stünde vielmehr umgekehrt einer solchen Regel – oder ggf. auch Vertragsklausel – entgegen, wo diese die effektive Durchsetzung einer gewährten Rechtsposition beschränkt. So wäre eine parol evidence rule im strengen Sinne etwa mit Art. 2 Abs. 2 KGRL unvereinbar. Auch die deutsche Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Urkunde bedarf insoweit einer behutsamen Anwendung.42 Generell dürften dem Gemeinschaftsrecht solche nationalen Auslegungsregeln entgegenstehen, welche die praktische Verwirklichung der betreffenden Regel verhindern.43
38 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 356. 39 Vgl. BGer, 22.12.2000, CISG-online Nr. 628; Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 Rn. 26. 40 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 357. Vgl. auch Art. 5 : 105 PECL sowie Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 29. 41 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29. 42 Vgl. zur entsprechenden Rechtslage unter dem UN-Kaufrecht Schlechtriem/SchwenzerSchmidt-Kessel, Art. 8 Rn. 31 ff. Anders als dort könnte freilich der Verkäufer seine Haftung nicht durch eine merger clause zu beschränken suchen (s. ebd. Rn. 35). 43 Siehe aber Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 359. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
b)
Risikozuweisungen
21
Auch an Regeln, welche bewußt Auslegungsrisiken zuweisen, ist das Gemeinschaftsprivatrecht nicht eben reich. Selbstverständlich ergeben sich solche Risikozuweisungen als Nebenfunktion einer jeden dispositiven Norm, weshalb auch hier die Abgrenzung von der Auslegungsregel oder Vermutung häufig nicht zu leisten ist. An allgemeinen Risikozuweisungen enthält das Gemeinschaftsprivatrecht ausdrücklich nur das Gebot einer Auslegung contra proferentem von nicht im einzelnen ausgehandelten Klauseln in Art. 5 Abs. 2 AGBRL, welches sich – angesichts der europaweiten Akzeptanz dieses Grundsatzes – über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus verallgemeinern läßt, Art. 5 : 103 PECL: Wer einseitig Vertragsinhalte vorgibt, trägt das Risiko einer nicht hinreichend klaren Formulierung.44
22
Für die im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr bedeutsame Frage nach der Zuweisung von Sprachrisiken 45 läßt sich hingegen bislang nicht klar beantworten, wie Art. 4 Sps. 3 Timesharingrichtlinie (TSRL) 46 und Art. 36 Lebensversicherungsrichtlinie (LVersRL) 47 einzuordnen sind: 48 Ist die mit der Pflicht zur beglaubigten Übersetzung des Vertrags nach der Timesharingrichtlinie richtigerweise verbundene Zuweisung des Sprachrisikos für Mängel der Übersetzung an den Unternehmer verallgemeinerungsfähig oder handelt es sich insoweit um eine Ausnahme von Art. 5 : 107 PECL? Noch weniger aussagekräftig ist die nicht einmal durchweg zwingende versicherungsrechtliche Regel. Manches spricht hier für eine auf Verbraucherverträge beschränkte Verallgemeinerung, aus welcher sich eine Generalausnahme vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Ursprungsfassung für Verbraucherverträge ergäbe.
V. 23
Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht
Bislang fehlt es – jedenfalls in Deutschland – an einer generellen Theorie vom dispositiven Recht. Ansätze finden sich lediglich im Kontext der deutschen Leitbildfunktion bei der AGB-Kontrolle sowie bei Äußerungen zur ökonomischen Analyse des Vertragsrechts. Dementsprechend fehlt es auch weitgehend an der Vergewisserung, ob die klassischen Auslegungsregeln tatsächlich auch dann ummodifiziert Anwendung finden können, wenn nicht zwingende, sondern dispositive Normen Gegenstand der Auslegung sind.
44 Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 357 f.; Schlechtriem/ Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 47 f. 45 Zu den Sprachrisiken im internationalen Einheitsrecht s. Schlechtriem/Schwenzer-SchmidtKessel, Art. 8 CISG Rn. 41 ff. mwN. 46 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 Nr. L 280/83. 47 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. 2002 Nr. L 345/1. 48 Dazu Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 280 ff.
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1.
Anpassung der Methodik
Dispositivität von Normen erfordert, wie noch im einzelnen auszuführen sein wird, eine nicht unerhebliche Anpassung der Methodik; diese läßt sich auf zwei Wegen begründen, nämlich entweder systemimmanent mit dem Argument, daß das Telos des dispositiven Rechts einen besonderen methodischen Umgang mit diesem erfordere, oder mit dem Hinweis, der Gegenstand dispositives Recht weise eine vom Recht im übrigen verschiedene Qualität auf, welche die Entwicklung einer eigenständigen Methodik erfordere. Diese beiden Begründungsstränge führen nicht zu divergierenden Ergebnissen und können daher nebeneinander stehen.
24
Ein weiteres Argument läßt sich anfügen: Gemeinhin wird das methodengeleitete Vorgehen bei der Anwendung und Auslegung von Normen auf den allgemeinen Gleichheitssatz zurückgeführt. Dieser gilt freilich im Vertragsrecht nur eingeschränkt, weil die Parteien dem Gebot der Gleichbehandlung zumindest grundsätzlich nicht unterworfen sind: Vertrag ist Diskriminierung. Bereits die Verschiedenheit der beteiligten Parteien genügt, um die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen zu lassen. Die Anforderungen an die Methodik des dispositiven Rechts dürfen daher geringer sein, als bei anderen Materien.
25
2.
Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons
Soweit eine Norm des dispositiven Rechts in Ergänzung eines Vertrags zur Anwendung kommt, erlangt der klassische Kanon der Auslegungsgesichtspunkte nur eingeschränkte Bedeutung für deren Auslegung. Der Grund dafür liegt in der Einstellung der Norm in den individuellen vertraglichen Kontext und der damit verbundenen Einbindung in das System des individuellen Vertrags; wie einzelne express terms des Vertrags ist die dispositive Norm nur als Teil des Vertragsganzen zu behandeln und im Blick auf dieses auszulegen – Art. 5 : 104 PECL. Hierin liegt auch die methodische Rechtfertigung für die gelegentlich anzutreffende und etwas hilflos wirkende Formulierung, die Norm passe auf die konkrete Situation nicht.49 a)
26
Wortlaut und Entstehungsgeschichte
Überwindbar werden damit zunächst Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm. Für den individuellen Vertrag ist die gelegentlich auf die frühe römische Republik zurückreichende Vor- und Entstehungsgeschichte einer Norm nicht bindend. Gerade im Vertragsrecht älterer Kodifikationen ist der Erlaßgrund mancher Normen die Tradition und nicht eine bewußte politische Entscheidung eines Gesetzgebers. Und selbst wenn eine solche – wie bei den allermeisten Bestimmungen in EG-Richtlinien – vorliegt, überspielt im Zweifelsfalle die konkrete vertragliche Konstellation inter partes den historischen Willen des Gesetzgebers bereits allein aufgrund der Dispositivität der Norm. Das kann bei Fehleinschätzungen des Gesetzgebers bezüglich des typischen Parteiwillens zur praktischen Derogation der Norm führen.50 49 Etwa BGH, NJW 1975, 1116, 1117. 50 Siehe etwa BGH, NJW 1979, 1705 zu §§ 161 Abs. 2, 131 Nr. 4 HGB a.F. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
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Auch der Wortlaut einer Norm erscheint vor diesem Hintergrund nicht als unüberwindbar: Die Sprache und – vor allem – die damit verbundenen Grenzziehungen durch den Gesetzgeber entsprechen vielfach nicht denjenigen der Parteien. Das gilt um so mehr für das Gemeinschaftsprivatrecht mit seiner Vielsprachigkeit, wo die Termini regelmäßig überdies nicht denjenigen der Rechtsprache des eigenen Umfelds entsprechen. Wichtiger noch ist, daß auch wesentliche Funktionen der Wortlautgrenze nicht zum Tragen kommen. Das gilt zum einen für die Funktion des Schutzes der Gewaltenteilung: Da die Kompetenz zur Feststellung des individuellen Vertragsinhalts bei den (nationalen) Gerichten liegt 51 und sich der Gesetzgeber mit der Setzung dispositiven Rechts in seinem Regelungsanspruch selbst zurücknimmt 52, besteht bei dessen Auslegung ohnehin nur eine eingeschränkte Konfliktlage zwischen Legislative und Judikative. Der Wortlautgrenze kommt aber auch nicht die gewohnte Funktion einer vertikalen Kompetenzabgrenzung zu: Auch dies hat seinen Grund in der Selbstbeschränkung des Gemeinschaftsgesetzgebers, welcher zwar den nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzungsverpflichtung bindet, nicht jedoch die Parteien, und damit den nationalen Gerichten die typischen Spielräume dispositiven Rechts beläßt: Insbesondere ist der von den nationalen Gerichten festgestellte typische Parteiwille – etwa über die Begründung tatsächlicher Vermutungen – auch dazu geeignet, dispositive Normen des Gemeinschaftsrechts zu überspielen und damit – inter partes – zu derogieren. Die Kompetenzausübung des Gemeinschaftsgesetzgebers ist bei der Setzung dispositiven Rechts also weit weniger einschneidend und verringert damit auch in diesem Punkt das Gewicht der Wortlautgrenze und damit des Wortlauts. b)
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Telos der Norm
Auch ein besonderes Telos, welches der Gemeinschaftsgesetzgeber mit einer Norm verbindet und welchem im Blick auf die Pflichten des nationalen Gesetzgebers zur Umsetzung, zur effektiven Durchsetzung oder zur Nichtdiskriminierung besondere Bedeutung zukommt, hat bei dispositivem Recht bei weitem nicht das gewohnte Gewicht: Geht es über die Abbildung eines feststellbaren typischen Parteiwillens hinaus, wird die betreffende Norm schnell leerlaufen, ohne daß die nationalen Rechtsanwender insoweit pflichtwidrig handeln. Dieses Schicksal könnte etwa Art. 3 Abs. 1 lit. d ZVerzRL für bestimmte Branchen drohen, soweit die dort festgelegten Zinssätze über den für diese Branchen üblichen und allseitig akzeptierten liegen. Ein solches Vorgehen entspricht der Binnenmarktfinalität des Gemeinschaftsrechts, weil es der damit verbundenen Vorstellung von der Selbstorganisation der Parteien am Markt in den Grenzen des wettbewerbsrechtlichen und des ordnungsrechtlichen Rahmens Vorschub leistet.
51 Vgl. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21 ff. 52 Das gilt unabhängig davon, ob er dazu vielleicht gezwungen ist, weil er nach den Maßgaben des vorrangigen Rechts – etwa der Grundfreiheiten – an der Setzung zwingenden Rechts gehindert ist.
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c)
Systemgestützte Erwägungen
Gravierend sind schließlich die Auswirkungen der Dispositivität auf das System und systematische Argumente bei der Auslegung der betreffenden Normen: Auch soweit die gesetzliche – äußere – oder die dogmatische – innere – Ordnung des Normgefüges den Anforderungen entspricht, die herkömmlich an ein System gestellt werden, tritt dieses bei der Anwendung des Gesetzes hinter den individuellen Vertrag und dessen Regelungen zurück. Das Phänomen läßt sich als das systematische Paradoxon des dispositiven Rechts bezeichnen: Der individuelle Vertrag, das heißt der Anwendungsfall für das gesetzliche System, bewirkt eine Systemstörung und beschränkt daher die Bedeutung des gesetzlichen Systems. Die Störung ist jedem individuellen Vertrag inhärent, sie wirkt sich um so stärker aus, je atypischer der Vertrag ist.
30
Die probate gesetzgeberische Reaktion heißt Generalklausel; durch sie erst öffnet der Gesetzgeber seine Regelung dem individuellen Vertrag und muß damit richtigerweise den Primat seines Systems verloren geben. Die vielfach kritisierte Zunahme von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen durch die deutsche Schuldrechtsmodernisierung ist daher nicht mehr als den Realitäten der Privatautonomie geschuldet. Dasselbe gilt im Gemeinschaftsrecht etwa für den auf die „Verantwortlichkeit“ des Schuldners für die Verzögerung abstellenden Haftungsstandard nach Art. 3 Abs. 1 lit. c Nr. ii ZVerzRL sowie für die Generalklauseln zur Inhaltsbestimmung des Handelsvertretervertrags in Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Handelsvertreterrichtlinie (HVertrRL).53
31
Mit der Bedeutung des Systems fallen auch wesentliche systemgestützte Argumente: Das gilt vor allem für das argumentum e contrario, weil dieses auf der Überlegung beruht, ein System erhebe den Anspruch der Vollständigkeit. Ohne diesen Vollständigkeitsanspruch fehlt es nämlich am tertium non datur, was den Umkehrschluß zu einem unvollständigen und damit nicht tragfähigen werden läßt. Soweit nun Normen des gesetzlichen Systems unter dem individuellen Vertrag Anwendung finden, fehlt es notwendig an der Vollständigkeit dieser in den Vertrag integrierten Systemteile. Die Dispositivität der Normen nimmt dem gesetzlichen System somit – für den Fall der Anwendung – den Vollständigkeitsanspruch; das argumentum e contrario trägt folglich nicht.
32
Umgekehrt scheitert mit der Analogie eine zentrale systemgestützte Argumentationsform in ihrer klassischen Ausprägung an der Vollständigkeit des Systems des individuellen Vertrags. Insoweit fehlt es schlicht an der nach in Deutschland vorherrschender Auffassung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.54 Dem Vertrag liegt nämlich unter der Herrschaft der Privatautonomie die Regel zugrunde, daß eine inter partes geltend gemachte Rechtsposition einer Basis im Vertrag bedarf. Fehlt diese, kommt es nicht etwa zur Rechtsverweigerung, sondern zur Klageabweisung respektive
33
53 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 Nr. L 382/17. 54 Grundlegend für das von dieser Auffassung postulierte Erfordernis der Lücke bis heute Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
zur Zurückweisung des entsprechenden Verteidigungsvorbringens. Mit dieser ex lege jedem Vertrag zugrundeliegenden Regel aber ist kein Vertrag unvollständig oder lückenhaft. Das Festhalten am Lückenerfordernis ließe die Analogie im dispositiven Vertragsrecht leer laufen. 3.
Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre
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Die vorstehenden Ausführungen lassen in der Konsequenz auch die Rechtsquellenlehre nicht unberührt: Zu erwägen sind einerseits Zweifel an der Qualität dispositiver Gesetzesregeln als Rechtsquelle und andererseits die Frage nach den Wirkungen von Präjudizien im Vertragsrecht. Zweifel an der Einordnung dispositiver gesetzlicher Regeln als Rechtquelle nährt deren Bezogenheit auf den individuellen Vertrag. Insbesondere kommen sie nur im Einklang mit dem Parteiwillen zur Anwendung und sind damit – soweit es um ihre Anwendung geht – Teil der „lex contractus“.55 Norm und Rechtquelle ist die dispositive Regel insoweit nicht mehr als der Vertrag selbst.
35
Umgekehrt kommt der Rechtsprechung bei der Suche nach dem typischen Parteiwillen in aller Regel eine zentrale Bedeutung zu, verfügt sie doch über weit größere praktische Erfahrung im Umgang mit den entsprechenden Verträgen als der Gesetzgeber. Eine ständige Rechtsprechung im Bereich dispositiven Rechts läßt sich daher als Verkörperung eines typisierten Parteiwillens und damit zugleich als Aussage über den typischen Parteiwillen begreifen. Damit aber kommt ihr für die Bestimmung des Vertragsinhalts keine geringere Dignität zu als dem dispositiven Gesetzesrecht. Ordnet man dieses noch als Rechtsquelle ein, könnte für jene nichts anderes gelten. 4.
Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht
36
Ein Sonderproblem ergibt sich aus der Doppelung der Adressaten des Gemeinschaftsrechts. Dieses richtet sich ganz generell an die Mitgliedstaaten (Art. 10 EG) und gibt der Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht bei der Richtlinienumsetzung in Art. 249 Abs. 3 EG eine besondere Gestalt. Alle davon erfaßten Regeln sind für die Mitgliedstaaten nicht dispositiv und zwar auch dann nicht, wenn parteidispositive privatrechtliche Normen gesetzt werden. Vor allem dispositives Vertragsrecht der Gemeinschaft ist daher staatenzwingend und zugleich parteidipositiv.
37
Bei der Auslegung solch doppelt adressierter Regeln ist danach zu unterscheiden, welche Durchsetzungs- und gegebenenfalls Umsetzungspflichten für die Mitgliedstaaten entstehen und welche Bedeutung der jeweiligen Norm – respektive ihrer Umsetzung – bei der Anwendung im Rahmen des einzelnen Vertrags zukommt. Legt man die hier entwickelten Sonderregeln für die Auslegung dispositiven Rechts zugrunde, können sich hier ganz erhebliche Unterschiede zwischen den Auslegungsergebnissen ergeben. So ist insbesondere der Umsetzungsgesetzgeber an das Binnenmarktziel und
55 Vgl. Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 3 Rn. 5. Vorliegend geht es selbstverständlich um die rechtstheoretische und nicht um die kollisionsrechtliche Bedeutung dieses Terminus.
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das konkrete Telos des Gemeinschaftsgesetzgebers gebunden, welches gelegentlich auch auf die Setzung eines Symbols gerichtet sein kann. Die Parteien sind es hingegen nicht und für sie mag die betreffende Norm im Einzelfall eine gänzlich andere Bedeutung erlangen. So würde die Zahlungsverzugsrichtlinie eine Umsetzung der hohen – aber dispositiven – Verzugszinssätze auch dort verlangen, wo ihre Derogation eine völlige Selbstverständlichkeit wäre. Das Ziel des Gemeinschaftsgesetzgebers, den typischen Parteiwillen auch durch das Umsetzungsgesetz selbst zu beeinflussen, gäbe dem auch einen Sinn.
VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht Die gesonderte Frage nach der Methode in der Anwendung des dispositiven Vertragsrechts erlaubt nun den Blick auf das Komplement, das zwingende Vertragsrecht. Dabei wird zunächst und vorrangig zu erwägen sein, inwieweit dessen Methodik vom Grundsatz der Vertragsfreiheit gesteuert ist. Ferner stellt sich die Frage nach der Anwendung des etablierten Methodenkanons. Schließlich ist auf zwei Sonderfragen einzugehen, nämlich die Konkretisierung von unabdingbar wirkenden Generalklauseln anhand dispositiver Normen, und Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie im zwingenden Vertragsrecht. 1.
Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive
In einem von der Vertragsfreiheit beherrschten Vertragsrecht ist jene die beherrschende allgemeine Auslegungsdirektive für freiheitsbeschränkende Vorschriften. Das ergibt sich national wie gemeinschaftsrechtlich aus den betreffenden Freiheitsgrundrechten und Grundfreiheiten.56 Zwingende Vorschriften sind daher eng auszulegen, soweit dies den Umfang der Zwingendstellung reduziert. Gemeinschaftsrechtlich entspricht eine derartige Restriktion zwingender Normen dem Binnenmarktziel, wie es vor allem in den Grundfreiheiten seinen Niederschlag gefunden hat. In der Konsequenz dieser Haltung liegt auch der nunmehr vorliegende Vorschlag für eine kollisionsrechtliche Wählbarkeit anerkannter Grundsätze und Regeln des materiellen Vertragsrechts.57 2.
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Anwendung des etablierten Kanons?
Anders als beim dispositiven Recht, ist der klassische deutsche Kanon der Auslegungsgesichtspunkte auch für die Auslegung zwingenden Gemeinschaftsrechts von Belang. Das gilt zunächst für den Wortlaut und die durch diesen gezogene Grenze richterlicher Gesetzesauslegung. Während diese bei dispositiven Normen im Blick
56 Vgl. für das deutsche Recht Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 130. 57 Dazu Schäfer, GPR 2006, 54 ff. sowie Schmidt-Kessel, in: Hatje/Terhechte, EuR-Beiheft 1/2006 (im Erscheinen). Martin Schmidt-Kessel
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auf deren Funktion respektive das Telos der Norm ohne weiteres überwindbar ist, kommt ihr bei zwingendem Privatrecht sowohl unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts als auch unter demjenigen der Kompetenzabgrenzung zwischen den Staatsgewalten entscheidende Bedeutung zu: Überwindbar ist der Wortlaut daher nur zugunsten der eingeschränkten Freiheit. Ähnlich beschränkt ist letztlich die Funktion der historischen Auslegung (i.e.S.): Ein Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Norm erscheint bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts vor allem zugunsten der in ihrer Gestaltungsfreiheit eingeschränkten Partei möglich. Daraus ergibt sich letztlich auch die Lösung des Konflikts eines mit der Wortlautschranke oder der Entstehungsgeschichte in Widerspruch stehenden Telos der Norm: Es läßt sich in Anwendung der Norm insoweit nicht verwirklichen, als die Vertragsfreiheit dadurch beschnitten wird.
41
Von besonderem Interesse ist schließlich die Frage nach dem Wert systematischer Argumente bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts. Zunächst ist dazu festzuhalten, daß ein eigenständiges, von den dispositiven Normen gelöstes System zwingenden Vertragsrechts weder in den Mitgliedstaaten noch im Gemeinschaftsrecht existiert. Mag es auch – in sich in bestimmter Hinsicht geschlossene – systematische Inseln zwingenden Rechts geben, so knüpfen Beschränkungen der Vertragsfreiheit durchweg tatsächlich an deren Ausübung und regelungstechnisch an das dispositive Recht an. Wegen der Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts hat sich dessen System jedoch als ein rein darstellendes ohne Regelungswirkungen entpuppt, welches genau ohne normativen Verlust auch erheblich andere Gestalt haben könnte.58 Damit ist der – durch die Regelungstechnik nahegelegte – Verweis auf das System des dispositiven Rechts für die Auslegung des ius strictum bestenfalls wertlos. Eine Auslegungsstütze kann sich allein aus Regelungszusammenhängen zwingenden Rechts ergeben. Denkbar erscheint etwa im Blick auf Art. 82 EG eine restriktive Auslegung der verschiedenen Antidiskriminierungsverbote des sekundären Gemeinschaftsrechts dort, wo es überhaupt – also auch in der heterogenen Gruppe der potentiellen Diskriminierenden – an jeder Spur einer marktbeherrschenden Stellung respektive an entsprechenden Wirkungen als allgemeines Zugangshindernis fehlt.59 3.
42
Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts
Besondere Fragen stellen sich dort, wo das Vertragsrecht dispositives Recht zum Maßstab der Inhaltskontrolle, also zum Maßstab der Konkretisierung zwingender Normen erhebt; auf die entsprechende Ausnahmestellung des deutschen Rechts wurde oben schon hingewiesen. Hier scheint der Gesetzgeber dem zuvor nur darstel-
58 Darin liegt wohl auch der tiefere Grund für die – jedenfalls insoweit zutreffende – These der am Vertragsrecht geschulten Rechtsvergleichung, nationale Rechtsordnungen kämen jeweils zu grundsätzlich identischen Ergebnissen und seien daher funktional äquivalent: siehe Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 33 ff. 59 Zu Parallelen zwischen wettbewerbsrechtlichen Diskriminierungsverboten und denjenigen des Antidiskriminierungsrechts siehe die Andeutung bei Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz im Privatrecht (2006), 53, 54.
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Martin Schmidt-Kessel
§ 17 Europäisches Vertragsrecht
lenden System dispositiven Rechts einen normativen Wert verliehen zu haben. Entscheidend ist insoweit wiederum § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB: Indem der Gesetzgeber jenseits des dispositiven Gesetzesrechts Maßstäbe vorsieht, die gegebenenfalls auch in Widerspruch zu diesem stehen können, bleibt es beim Vorrang des typischen Parteiwillens. 4.
Verbot der Analogie?
Die besondere Bedeutung des Wortlauts und die weitgehende Relativierung systematischer Argumente für die Auslegung zwingenden Vertragsrechts lassen schließlich die Analogie auch im Bereich des zwingenden Vertragsrechts als ein fragwürdiges methodisches Instrument erscheinen. Hinzuweisen ist insoweit zunächst einmal auf den Gesetzesvorbehalt, welcher bei eingreifenden hoheitlichen Akten nicht nur eine Rechtsfertigung fordert, sondern an diese auch formale Anforderungen stellt und damit zugleich die Zuständigkeiten klarstellt: Ohne gesetzlich geschrieben Rechtfertigung darf der Eingriff nicht stattfinden.60 Soll eine Analogie zu zwingenden Normen wiederum zu einem unabdingbaren Satz führen, gerät dieser Vorgang in Konflikt mit der staatlichen Zuständigkeitsverteilung.
43
Dürfte dieses erste Bedenken angesichts der offenbaren Rechtsfortbildungszuständigkeiten der Rechtsprechung noch überwindbar sein, scheitert die Analogie in ihrem strengen klassischen Sinne auch für das zwingende Vertragsrecht am Fehlen der Lücke: Ist nämlich die Vertragsfreiheit Grundnorm des Vertragsrechts, ist den Parteien jegliche Gestaltung gestattet, soweit nicht Regeln des ius strictum eingreifen. Damit bleibt auch im zwingenden Vertragsrecht der déni de justice immer aus; es fehlt immer an einer Lücke.
44
VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen Besondere methodische Fragen stellen sich beim Umgang mit dem künftigen Gemeinsamen Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht. Entscheidend für das methodische Instrumentarium sind dabei die Funktionen, welche dieses neuartige Gebilde erfüllen soll. Von Interesse ist außerdem die mit dem ersten Punkt eng verknüpfte Frage, ob und inwieweit durch den Gemeinsamen Referenzrahmen Systembildung betrieben wird. Schließlich ist ein Blick auf die Relevanz des klassischen Kanons der Auslegungsgesichtspunkte für das Verständnis des neuen Instruments zu richten. Nicht näher eingegangen werden kann hingegen auf die besonderen Fragen einer Wählbarkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens durch kollisionsrechtliche Rechtswahl.61
60 Vgl. BVerfG, NJW 1996, 3146. 61 Dazu Schäfer, GPR 2006, 54 ff. Martin Schmidt-Kessel
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3. Teil: Besonderer Teil
1.
46
Der Gemeinsame Referenzrahmen ist zunächst einmal nicht mehr als eine rechtsvergleichende Großstudie von kaum vorstellbarem Ausmaß. Das zeigt bereits die Zahl von 25 Staaten, deren teilweise regional sehr unterschiedlichen Vertragsrechtsordnungen neben dem acquis communautaire Eingang in das Projekt finden sollen. Die Verlautbarungen der Kommission zum Zweck des Referenzrahmens gehen freilich deutlich darüber hinaus: 62 Die Kommission möchte zunächst eine „Toolbox“, welcher sie bei Gelegenheit rechtsvergleichend abgesicherte Versatzstücke entnehmen kann, um diese in neue oder zu überarbeitende Rechtsakte einzufügen. Insoweit steht die Verbesserung der Qualität vorhandener wie zukünftiger Rechtssetzung im Mittelpunkt. Tatsächlich reicht die Funktion des Gemeinsamen Referenzrahmens damit viel tiefer: Er soll die Lücke schließen, welche sich aus dem Fehlen einer – bislang nur in Ansätzen erkennbaren – europäischen Vertragsrechtsdogmatik ergibt. Es geht mithin um Ordnung, zunächst um eine Ordnung der Diskussion, in welcher viele Akteure an einander vorbei argumentieren, sodann um eine Ordnung der Begriffe und schließlich – aber erst auf dem Vorangehenden aufbauend – um eine Ordnung des Gemeinschaftsprivatrechts selbst. 2.
47
Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen
Bereits aus dem bisherigen Stand der Arbeiten an einem Entwurf für einen Gemeinsamen Referenzrahmen wird deutlich, daß dieser systematisch gefaßt sein wird. Geht es also um die Schaffung eines Systems des Europäischen Vertragsrechts? Dafür spricht vor allem die beschriebene Funktion des Instruments als Ersatz für die fehlende gemeinsame Vertragsrechtsdogmatik, während die „Toolbox“-Funktion einer solchen Systembildung jedenfalls tendenziell zuwiderläuft. Jenseits aller möglichen Herauslösungen einzelner Teile des Referenzrahmens im Zuge verschiedener denkbarer Gesetzgebungsvorhaben einschließlich der von der Kommission erwogenen optionalen Instrumente,63 kann die Bedeutung des Systems im Gemeinschaftsvertragsrecht nicht höher sein als in einer auf der zweigliedrigen Vertragsfreiheit beruhenden Rechtsordnung generell. Das zu erwartende System ist also Lehr- und Darstellungssystem, dem ganz überwiegend keine normativen Folgen eignen. 3.
48
Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens
Zur künftigen Auslegung des Instruments
Der perspektivische Blick auf die mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen verbundenen Methodenfragen richtet sich schließlich auf den klassischen deutschen Kanon der Auslegungsgesichtspunkte und deren mögliche Bedeutung unter dem neuen Instrument. Entsprechend den vorstehenden allgemeinen Überlegungen zur Methodik des Vertragsrechts, ist auch insoweit Zurückhaltung angezeigt. Kern dieser Methodik
62 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. mwN sowie zum letzten Stand Schmidt-Kessel, GPR 2005, 204 f. und GPR 2006, 102. 63 Vgl. Schmidt-Kessel, GPR 2005, 204 f.
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§ 17 Europäisches Vertragsrecht
bleiben auch unter einem Gemeinsamen Referenzrahmen die Regeln über die Vertragsinhaltsbestimmung. Zusätzlich geschwächt werden demgegenüber zunächst historische Argumente betreffend den Normtext. Eine Rückbindung an den Inhaber der Kompetenz zur Rechtssetzung ist nämlich mangels Verbindlichkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens nicht geboten. Zwar dürfte das politische Gewicht des Instruments beträchtlich sein, jedoch resultiert dieses Gewicht mehr aus der Sachkompetenz der mit dem Entwurf betrauten Wissenschaftler denn auf einer besonderen politischen Legitimation. Der primäre Charakter des Referenzrahmens als rechtsvergleichende Großstudie wirkt damit zurück auf die Auslegung des künftigen Instruments; verschiedene Schichten des Entstehungsprozesses werden vor allem Widersprüchlichkeiten erklären helfen.
49
Beim Rückgriff auf Wortlautargumente gelten zusätzliche Besonderheiten. Diese beruhen zunächst auf der hervorgehobenen Bedeutung des Englischen als der Arbeitssprache der wissenschaftlichen Vorarbeiten. Der englischen Fassung wird daher selbstverständlich eine gewisse Oberhof-Funktion zukommen. Ein zweiter Punkt ergibt sich aus der ursprünglichen Idee der Principles of European Contract Law (PECL), lediglich Grundprinzipien zu formulieren: Zwar bieten die Principles damit eine gewisse Sicherheit bei der Bedeutung des jeweiligen Begriffskerns (beispielsweise kann ein Vertrag danach auch nur eine Seite zu Leistungen verpflichten), jedoch erlaubt die ursprüngliche Formulierung als „Prinzipien“ bisweilen keinen sicheren Schluß auf die Bedeutung an den Begriffsrändern.
50
Während die teleologische Auslegung des Referenzrahmens vor allem die generellen Schwächen einer auf das Telos bezogenen Argumentation im Vertragsrecht teilen würde, ergibt sich eine zusätzliche Besonderheit schließlich im Blick auf systemgestützte Argumente: Der Gemeinsame Referenzrahmen ist von vornherein nicht auf eine vollständige Abbildung des Vertragsrechts gerichtet. Jenseits aller generellen Bedenken gegen eine systemgestützte Argumentation im Bereich des Vertragsrechts wird hierdurch vor allem das argumentum e contrario entscheidend geschwächt.
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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht Robert Rebhahn
Übersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeines zu den Methoden der Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . 1. Unterschiede je nach Rechtsquelle oder Rechtsgebiet? . . . . . . . . . . . . 2. Verweis auf Vorjudikatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlußanträge der Generalanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Einheitliche Auslegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wichtige Argumente: Wortlaut, Rechtstextzusammenhang, Regelungszweck a) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtstextzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Regelungszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weniger wichtige Argumente: Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Kompetenzkonforme Interpretation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Inneres System und favor laboris als Argumente? . . . . . . . . . . . . . . 9. Pragmatische Schlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Allgemeine Rechtsgrundsätze: Grundrechte, Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . .
6–50 6–8 9–10 11–12 13–14 15–27 16–19 20–22 23–27
. . . .
28 29–33 34–43 44
. . . . .
45–49 45–47 48 49 50
. . . . . . .
51–67 51–52 53–56 57–59 60–62 63–65 66–67
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68–75
V. Schlußbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76–77
III. Ausgewählte Entscheidungen und Fragen . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff des Arbeitnehmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verbot der Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis 5. Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner . . 6. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . IV. Richter und Urteilsstile
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . .
Rn. 1–5
Literatur: Hanau, Peter/Steinmeyer, Heinz-Dieterich/Wank, Rolf, Handbuch des europäischen Arbeits- und Sozialrechts, München 2002; Joussen, Jacob, Die Auslegung europäischen (Arbeits-) Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive, Baden-Baden 2000; Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht, Berlin 2003; O’Leary, Sìofra, Employment Law at the European Court of Justice, Oxford 2002; Schlachter, Der Europäische Gerichtshof
410
Robert Rebhahn
§ 18 Europäisches Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichtsbarkeit, Stuttgart 1995; Kaiser, Dagmar, Entzweiung von europäischem und deutschem Arbeitsrecht, NZA 2000, 1144–1152; Sciarra, Silvana (Hrsg.), Labour Law and the Courts, Oxford 2001.
I.
Einleitung
Der Beitrag befaßt sich nur mit der Bestimmung des Inhaltes der für das Arbeitsrecht unmittelbar relevanten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte, und dazu primär mit den Aussagen des EuGH,1 nicht mit jener der nationalen Gerichte. Der Beitrag befaßt sich also nicht mit der Methode der Rechtssetzung der Gemeinschaft zum Arbeitsrecht, nur am Rande mit der Frage, ob die vorhandenen Normen eine Systembildung erlauben (dazu kurz bei Rn. 35), und auch nicht mit den Fragen der Anpassung des nationalen Rechts an das eindringende Gemeinschaftsrecht.2
1
Der EuGH hat entscheidende Schritte bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts anhand arbeitsrechtlicher Fälle getan. Zu nennen sind insbesondere die unmittelbare Anwendung von Primärrecht zwischen Privaten, die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat, die Haftung der Mitgliedstaaten für fehlerhafte Ausführung von Richtlinien, und nun die Verschärfung der richtlinienkonformen Anwendung nationalen Rechts.3 Auf diese allgemeinen Fragen kann hier nicht eingegangen werden. Aus politikwissenschaftlicher Sicht betreffen diese Entscheidungen die sektorale und vertikale Dimension der Integration.
2
Die Gerichte treffen Aussagen über den Inhalt, die Bedeutung einer Norm, die jedenfalls für den Einzelfall rechtlich verbindlich sind, und für vergleichbare Fälle in der Regel faktische Verbindlichkeit erlangen. Im deutschen und überwiegend im österreichischen Recht geht es der Methodenlehre primär um die Ableitung und Begründung der rechtlich „richtigen“ Aussage zum Rechtsinhalt aus dem Gesetz. Man unterscheidet zwischen Auslegung im engeren Sinne und Rechtsfortbildung. Jedenfalls bei der Auslegung im engeren Sinne handelt es sich nach verbreiteter Auffassung
3
1 Vgl. dazu – außer den nach der Übersicht genannten Literatur – insbes. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 445 ff.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994); Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 61 ff.; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 ff. Vgl. ferner Wank, in: Hanau/Steinmeyer/Wank, § 9 Rn. 175 ff.; sowie Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006); beide Beiträge gehen leider kaum auf arbeitsrechtsspezifische Fragen der Auslegung ein. 2 Zum Umgang der nationalen Gerichte mit dem Arbeitsrecht der EG und den Anpassungsschwierigkeiten vgl. Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts; Schlachter, Der Europäische Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit; Kaiser, NZA 2000, 1144 ff. 3 Primärrecht: EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. (Defrenne II); Unmittelbare Anwendung: EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48 f. (Marshall I); Staatshaftung: EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci ./. Italien, Slg. 1991, I-5357 (Francovich I); Interpretation: EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. Robert Rebhahn
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3. Teil: Besonderer Teil
um eine Frage der Erkenntnis, die als „wahr“ oder „falsch“ qualifiziert werden kann; und in Bezug auf die Rechtsfortbildung versucht man Regeln legitimer Fortbildung anzugeben. Diese Sichtweise findet sich aber keineswegs in allen Mitgliedstaaten. In mehreren wird nicht scharf zwischen Auslegung und Fortbildung unterschieden, und die Funktion der Gerichte wird nicht primär nur in der Anwendung des Gesetzes gesehen.4
4
Aussagen zur Methodenlehre des Gemeinschaftsrechts müssen auf diese verschiedenen Traditionen Bedacht nehmen. Sie müssen daher die Hauptfunktion der Methodenlehre in den Mittelpunkt stellen: Eine Methodenlehre zum Gemeinschaftsrecht hat meines Erachtens primär die Aufgabe jene Regeln anzugeben, welche die Aussage des Gerichts zur Norm leiten und legitimieren können: Sie soll jene Bedingungen angeben, bei deren Einhaltung auch jene Personen, welche vom Gehalt des Urteils rechtspolitisch noch nicht überzeugt waren, dieses Ergebnis als legitime Aussage zum geltenden Recht ansehen und damit akzeptieren können 5. Dafür ist entscheidend, ob das Gericht – insbesondere der EuGH – seine Auffassung nachvollziehbar herleitet und begründet, und zwar mit dem erforderlichen, aber auch ausreichenden Aufwand an Argumenten und damit Überzeugungsarbeit. Bleibt der Begründungsaufwand dahinter zurück, dann erscheint die Entscheidung als Dezision, die man hinnehmen, oder als Offenbarung, die man glauben kann oder auch nicht. Die Anforderungen an die Begründung steigen m.E. – zumindest in einem demokratischen Umfeld und bei einem Gericht, das sich als Organ einer demokratischen Gesellschaft versteht – mit der Schwierigkeit des Gesetzgebers, korrigierend einzugreifen. Sie sind also z.B. bei Verfassungsrecht höher als bei einfachem Recht. Da Normen des Gemeinschaftsrechts idR noch schwieriger abzuändern sind als nationales Verfassungsrecht, wären die Anforderungen noch höher.
5
Der vorliegende Spezialbeitrag zum Arbeitsrecht kann nur die Rahmenbedingungen für diese Begründungsarbeit speziell im Arbeitsrecht skizzieren und einige ausgewählte Entscheidungen des EuGH daraufhin beleuchten, ob sie den genannten Postulaten genügen. Zusätzlich wurden allerdings die wichtigsten arbeitsrechtlichen Entscheidungen der letzten fünf Jahre – insgesamt über 70 – nun systematisch auf methodische Aspekte durchgesehen.6 Dies hat die Basis der hier vorgetragenen generalisierenden Aussagen verstärkt, ohne daß – schon aus Platzgründen – für jede einzelne alle relevanten Entscheidungen benannt werden können. Den Abschluß der Überlegungen bildet ein Versuch, den Einfluß verschiedener Berichterstatter des EuGH auf die arbeitsrechtlichen Entscheidungen zu erfassen. Dieser Aspekt wurde soweit zu sehen bislang, auch im Ausland, nicht näher beleuchtet.7 4 Vgl. dazu Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001); Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, insbesondere S. 418 ff.; MacCormick/Summers, Interpreting Statutes (1991), S. 461 f. 5 Dieser Aspekt ist gerade für transnationale Spruchkörper wie dem EuGH von großer Bedeutung. Entscheidungen solcher Gerichte werden bezüglich compliance nicht selten einer politischen Kosten-Nutzen-Analyse unterworfen; vgl. Haltern, Europarecht (2005), S. 172. 6 Die Auswertung wurde vor allem von Herrn Mag. M. Reiner vorgenommen. 7 Die Anregung dazu stammt vom ehemaligen Richter des EuGH Sir David. A. Edward.
412
Robert Rebhahn
§ 18 Europäisches Arbeitsrecht
II.
Allgemeines zu den Methoden der Entscheidungsfindung
1.
Unterschiede je nach Rechtsquelle oder Rechtsgebiet?
Verbreitet wird zwischen der Anwendung des Primär- und des Sekundärrechts unterschieden (so auch in diesem Buch). Fraglich ist, ob allfällige Unterschiede nicht eher zwischen Primärrecht und Verordnungen auf der einen Seite und Richtlinien auf der anderen Seite zu suchen sind, weil nur die erste Gruppe von Normen auf unmittelbare Anwendung angelegt ist. Bei Richtlinien weist schon die Rechtssatzform auf eine zusätzliche Ausführung durch die Mitgliedstaaten hin; die Kompetenz des EuGH reicht dann grundsätzlich nur soweit als die Richtlinie wirklich eine bindende Vorgabe trifft. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht soll hingegen einen Fall entscheiden, so daß auch die Kompetenz des EuGH entsprechend weiter reicht, außer die Norm verweist ausdrücklich auf Entscheidungen der Mitgliedstaaten. Allerdings kommt diesen Unterschieden wohl auch nicht allzuviel Bedeutung bei, weil Primärrecht oft der Ausführung durch nationale Gesetze bedarf und Richtlinien häufig sehr detailliert sind.
6
Die Doktrin – EuGH und Lehre – unterscheiden bei den Methoden der Auslegung grds nicht zwischen den verschiedenen Bereichen des (sekundären) Gemeinschaftsrechts, also etwa nach Wettbewerbs-, Verbraucherschutz- und Arbeitsrecht. Nur bestimmte Argumente oder Argumentationsmuster – Förderung des Binnenmarkts, effektiver Wettbewerb, Verbraucherleitbild – sind für einzelne Bereiche charakteristisch.8 Für den größten Teil der arbeitsrechtlichen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts lassen sich kaum vergleichbare Muster festmachen.9 Dies entspricht grds auch den nationalen Rechten. Auch dort haben sich besonderen Auslegungsgrundsätze für das Arbeitsrecht nicht entwickelt oder doch nicht durchgesetzt.10 Insbesondere gibt es, soweit zu sehen, in keinem Mitgliedstaat eine Interpretationsregel, daß arbeitsrechtliche Gesetze im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt werden, auch wenn die Gerichtspraxis mancher Länder in diese Richtung gehen mag.
7
In der Literatur wird aber auch vertreten, daß sich die Auslegungsmethode (auch) des Gemeinschaftsrechts gezielt an dem auszulegenden Rechtsgebiet zu orientieren habe. So folgert Joussen aus der Erweiterung der Kompetenzen durch / in Art 137 EG, daß wirtschaftliche und soziale Angleichungsziele der EG nun gleichwertig seien, weshalb bei der teleologischen Auslegung die sozialpolitischen Ziele („Sozialunion“) nun zumindest gleichwertig seien; 11 vgl. dazu Rn. 35 ff.
8
8 Vgl. zum Gedanken des Leitbildes Riesenhuber, § 11 Rn. 44. 9 Anders könnte es beim Recht der Antidiskriminierung sein, wo der EuGH den menschenrechtlichen Charakter stark betont. 10 Vgl. dazu aus deutscher Sicht z.B. Schlachter, Auslegungsmethoden im Arbeitsrecht (1987); Für Österreich vgl. Rebhahn-Zeller, Kommentar zum Arbeitsrecht (2006), § 1151 Rn. 28. 11 Joussen, Auslegung, S. 172 ff., S. 220 f. (allerdings ohne Bezugnahme auf die Judikatur des EuGH). Er folgert daraus z.B., daß der Begriff Arbeitnehmer in der Betriebsübergangsrichtlinie einheitlich hätte ausgelegt werden müssen. Robert Rebhahn
413
3. Teil: Besonderer Teil
2.
Verweis auf Vorjudikatur
9
Auch für die Entscheidungen zum Arbeitsrecht gilt, daß sich die Entscheidungen des EuGH primär an der Vorjudikatur orientieren.12 Andere Auslegungsaspekte werden regelmäßig nur dort ins Treffen geführt, wo keine Vorjudikatur existiert.13 Am wichtigsten ist daher die zeitlich erste Entscheidung zu einer Frage. Der Verweis auf eigene Vorjudikatur stellt kein eigenes Argument zur Auslegung der Norm dar, das den anderen Begründungsargumenten an die Seite gestellt werden kann. Genau betrachtet handelt es sich um eine Möglichkeit ökonomischer Fallbearbeitung, vergleichbar mit dem Verweis auf eine herrschende Meinung, indem auf bereits geleistete Begründungsarbeit verwiesen wird. Freilich leidet darunter die Lesbarkeit des Urteils.
10
Zuweilen geht der EuGH von einer Vorentscheidung auch wieder ab oder bildet sie fort, auch wenn dies bislang kaum offen gelegt wird. Besonders zu nennen sind zwei Fälle, in denen die Politik durch die Judikatur sehr irritiert war: die Entscheidung Schmidt zum Betriebsübergang und die Entscheidung Kalanke zu Quotenregelungen. In beiden Fällen ruderte der EuGH alsbald zurück.14 Abschließend kann zum Gewicht der Vorjudikatur gesagt werden, daß europäische Methode im Arbeitsrecht häufig weniger die Arbeit am Normtext, als die Anwendung der Vorjudikatur bedeutet. 3.
11
Schlußanträge der Generalanwälte
Schwierig zu beantworten ist, welche Bedeutung den Anträgen der Generalanwälte aus methodischer Sicht zukommt. Sie sind nicht nur theoretisch, sondern (anders als die Vorjudikatur) auch praktisch sicher keine direkten Argumente zur Auslegung der Norm. Sehr wohl aber sind sie für die Auslegung des Urteils relevant und damit indirekt auch für die der Norm. Meist sind die Schlußanträge auch ausführlicher begründet als das Urteil. Man sagt häufig, daß man die Urteile des EuGH vor dem Hintergrund der Schlußanträge lesen müsse. Was aber heißt dies? Eine Übernahme der Begründung im Schlußantrag – und damit der darin angewendeten Methode – kann man nur dann mit Sicherheit bejahen, falls das Gericht dem Schlußantrag ausdrück-
12 So allgemein z.B. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 224 ff. Ausführlich Dederichs, Die Methodik des EuGH (2004). Beispiele bieten z.B. EuGH v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 Mary Brown ./. Rentokil, Slg. 1998, I-4185 Rn. 21 ff. (Berufung auf die Entscheidung Hertz) 13 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence ./. Regent Office Care u.a., Slg. 2002, I-7325 Rn. 17. 14 EuGH v. 14.4.1994 – Rs.C-392/92 Schmidt ./. Spar- und Leihkasse der früheren Ämter Bordesholm, Kiel und Cronshagen, Slg. 1994, I-1311; korrigiert von EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95, Süzen ./. Zehnacker Gebäudereinigung Krankenhausservice, Slg. 1997, I-1259. EuGH v. 17.10. 1995 – Rs. C-450/93 Kalanke ./. Freie Hansestadt Bremen, Slg. 1995, I-3051; korrigiert durch EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 Marschall ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1997, I-6363. Zur Entwicklung nach der Entscheidung Schmidt vgl. Lo Faro, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts, S. 210 ff.
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Robert Rebhahn
§ 18 Europäisches Arbeitsrecht
lich zustimmt. Aber auch eine Ablehnung kann methodisch hilfreich sein, denn immerhin sind damit andere Normhypothesen, bis auf weiteres, aus Sicht des EuGH jedenfalls nicht denkbar. Im Arbeitsrecht wurde, betrachtet man die Entscheidungen der letzten Jahre, nur in einem geringen Teil der Entscheidungen dem Schlußantrag ausdrücklich gefolgt.15 Und auch hier wäre erst zu prüfen, ob die Entscheidung den Schlußantrag zur wesentlichen Frage heranzieht oder zu einem Randproblem. Auf der anderen Seite folgt das Gericht dem Schlußantrag oft nicht, und zwar ohne dies offen zu legen oder gar sich mit den Argumenten des Generalanwaltes auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung Hlozek aus 2004 zu Sozialplanzahlungen.16 Das Diskriminierungsverbot des Art. 141 Abs. 1 EG gilt auch nach der Judikatur nur, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage befinden. Differenziert eine Regelung direkt nach einem mißbilligten Kriterium, etwa zwischen Frauen und Männern, so läßt sich mit der Behauptung, es liege keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Denn eine unmittelbare Diskriminierung kann in der Regel nicht gerechtfertigt werden. Generalanwältin Kokott hat sich redlich bemüht darzutun, daß die Lagen vergleichbar sind, der EuGH hat mit drei Absätzen anders befunden, ohne sich mit den Ausführungen der Generalanwältin auseinanderzusetzen. 4.
12
Einheitliche Auslegung?
Auch im Arbeitsrecht ist primär zu fragen, ob ein Begriff des (sekundären) Gemeinschaftsrechts autonom auszulegen ist. Dies ist – auch hier – im Zweifel zu bejahen (vgl. § 11 Rn. 7). Beispiele aus der Judikatur zum Arbeitsrecht sind die Begriffe „Betrieb“ in der Betriebsübergangsrichtlinie oder „Entlassung“ in der Massenentlassungsrichtlinie.17 Gestützt werden kann die einheitliche Auslegung auch durch den Zweck der Regelung oder durch das Fehlen des Begriffes in einer Liste, welche die von der Regelung unberührt bleibenden Begriffe nennt. Beide Argumente wurden in der Entscheidung Mau zum Begriff „Arbeitsverhältnis“ in der Insolvenz-Richtlinie verwendet.18 Im Vordergrund stand dabei der „soziale Zweck“ der Richtlinie. In manchen Fällen enthalten die generellen Normen der Gemeinschaft aber auch nur einen
15 Zu nennen sind insbesondere folgende Entscheidungen, in denen die Schlußanträge zustimmend erwähnt werden: EuGH v. 11.5.1999 – Rs. C-309/97 Angestelltenbetriebsrat der Wiener Gebietskrankenkasse, Slg. 1999, I-2865 Rn. 19; EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-281/97 Krüger, Slg. 1999, I-5127 Rn. 11; EuGH v. 25.5.2000 – Rs. C-50/99 Podesta, Slg. 2000, I-4039 Rn. 34; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 50; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-438/99 Jiménez Melgar, Slg. 2001, I-6915 Rn. 46; EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-133/00 Bowden u.a., Slg. 2001, I-7031 Rn. 40; EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 29; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 48; EuGH v. 23.10.2003 – Rs. C-4/02 Schönheit, Slg. 2003, I-12575 Rn. 103; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-380/01 Schneider, Slg. 2004, I-1389 Rn. 27. 16 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, Slg. 2004, I-11491 insb. Rn. 44 ff. 17 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 34. 18 EuGH v. 15.5.2003 Rs. C-160/01 Karen Mau ./. Bundesanstalt für Arbeit, Slg. 2003, I-4791 Rn. 39–44. Robert Rebhahn
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3. Teil: Besonderer Teil
Verweis auf nationale Begriffe. So ist es etwa häufig, wenn eine Richtlinie von „Arbeitnehmer“ spricht.19 Dafür wird zuweilen der Zweck der Regelung ins Treffen geführt.20 Wenn das Gemeinschaftsrecht auf den jeweiligen nationalen Begriff z.B. der Arbeitnehmer verweist, dann sind die Mitgliedstaaten an den üblichen nationalen Begriffsinhalt auch bei der Ausführung von Richtlinien gebunden.21
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Immer größer wird gerade im Arbeitsrecht die Zahl von Bestimmungen, welche auf die „Gesetze und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten“ verweisen. Zu nennen sind insbesondere die Arbeitszeitrichtlinie 22 (Art. 7, 8, 10 und 18), die Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE 23 (Art. 2, 3, 12 und 15), die Gleichbehandlungsrichtlinie 24 (Art. 7, 8b und 8c), und die Richtlinie zu Unterrichtung und Anhörung 25 (Art. 2 und 4). Diese Verweise finden sich zum Teil in Begriffsbestimmungen (z.B. „Betrieb“), zum Teil auch bei materiellen Regeln. Aus ihrer Existenz darf nicht geschlossen werden, daß die anderen Richtlinien die dort geregelten Fragen abschließend, also ohne Ausführung durch die Mitgliedstaaten regeln. Die Formel vom Verweis auf „Gesetze und Gepflogenheiten“ stellt daher wohl nur eine zusätzliche Art des Verweises auf die nationalen Lagen dar, die auch nichtnormative Übungen einbezieht und dem Mitgliedstaat wohl mehr Spielraum läßt als andere Verweisungen.
19 Dazu unten bei Rn. 51; sowie ausführlich Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 200 ff. 20 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 27. 21 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 59. Vgl. auch GA Cosmas, Schlußanträge v. 14.5.1998 – Rs. C-125/97 A.G.R. Regeling ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Slg. 1998, I-4493 Tz. 49 (A.G.R.). 22 Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. 1993 Nr. L 307/18; geändert durch Richtlinie 2000/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 2000 zur Änderung der Richtlinie 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung hinsichtlich der Sektoren und Tätigkeitsbereiche, die von jener Richtlinie ausgeschlossen sind, ABl. 2000 L 195/41. 23 Richtlinie 2001/68/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 Nr. L 294/22. 24 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 Nr. L 39/40; geändert durch Richtlinie 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.9.2002 zur Änderung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 L 269/15. 25 Richtlinie 2002/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, ABl. 2002 Nr. L 80/29.
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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht
5.
Wichtige Argumente: Wortlaut, Rechtstextzusammenhang, Regelungszweck
Bei den Argumenten zur Sache unterscheidet der EuGH – anders als etwa die deutsche Methodenlehre – nicht scharf anhand der Wortlautgrenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Und selbst in der deutschsprachigen Literatur wird die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nicht immer einheitlich gesehen, indem etwa Analogie und Reduktion noch zur Auslegung gezogen werden.26 a)
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Wortlaut
Auch in der Judikatur des EuGH zum Arbeitsrecht spielt der Wortlaut der anzuwendenden Norm eine herausragende Rolle. Er ist in allen Entscheidungen der Ausgangspunkt, soweit keine Vorjudikatur existiert.27 Allerdings schöpft der EuGH selten die Möglichkeiten der Wortlautinterpretation wirklich aus. So ist es z.B. auch in der Entscheidung Simap zur Frage, ob Arbeitsbereitschaft zur Arbeitszeit zählt (dazu Rn. 60). Meistens begnügt der EuGH sich mit der Bezugnahme auf den Wortlaut, ohne daß dazu vertiefte Überlegungen angestellt werden.
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Die Rolle des Wortlautes kann allerdings in Frage gestellt werden, weil jede Sprachfassung des Gemeinschaftsrechts an sich gleich verbindlich ist und es daher keinen wirklich verbindlichen Wortlaut gibt. Jüngst hat der EuGH in einer arbeitsrechtlichen Entscheidung wieder zur Frage der Auslegung Stellung genommen und dabei gesagt, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrecht „im Lichte ihrer Fassungen in allen Sprachen auszulegen“ sind.28 Tatsächlich argumentiert der EuGH jedoch kaum mit dem Wortlaut in verschiedenen Sprachfassungen. So ist es etwa in der Entscheidung Henke betreffend den Begriff „Betrieb“ der Betriebsübergangsrichtlinie.29 Sie behauptet eher, daß die verschiedenen Sprachfassungen das Ergebnis stützen, als daß sie es nachweist. Ergeben sich aus den verschiedenen Sprachfassungen unterschiedliche Bedeutungen, so wäre gem. Art. 33 der Wiener Vertragsrechtskonvention jene Auslegung zu wählen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt.30 Dem scheint es zu entsprechen, wenn das Gericht bei unterschiedlichen Ergebnissen der Wortlautinterpretation sogleich andere Auslegungsmittel heranzieht.31 Allerdings vermindert dies die Bedeutung des Wortlautes und vergrößert damit den Gestaltungsspielraum des EuGH. Im Hinblick auf die Arbeitssprache des EuGH könnte man erwägen, der französischen Fassung die
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26 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 33 ff., S. 277, der die Grenze danach zieht, ob sich eine Begründung noch auf die Ableitung aus einer Norm mit Hilfe anerkannter Kommunikationsregeln stützen kann. Für eine Unterscheidung anhand Wortlautgrenze vgl. Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 47; F. Bydlinski, Grundzüge der Juristischen Methodenlehre (2005), S. 55 27 Vgl. z.B. EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9. 28 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33. 29 Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 Nr. L 82/16. 30 Vgl. Streinz, Europarecht (7. Aufl. 2005), S. 97. 31 So z.B. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28. Robert Rebhahn
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größte faktische Autorität zuzuschreiben. Im deutschen Sprachraum sollte man daher neben der deutschen zumindest stets die französische Fassung der Norm und des Urteils berücksichtigen.32
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Die Überlegungen des EuGH zum Wortlaut bleiben auch in Fällen, in denen dies eines oder gar das entscheidende Argument ist, meines Erachtens häufig hinter dem Niveau zurück, das in manchen Mitgliedstaaten bei der Wortlautinterpretation erreicht wird. Kaum jemals versucht das Gericht, die Nuancen des Wortlautes aufzudecken und damit zu argumentieren. Der Grund dafür liegt wohl auch dann, wenn keine unterschiedlichen Bedeutungen verschiedener Sprachfassungen behauptet werden darin, daß alle Sprachfassungen gleich verbindlich sind. Es gibt dann ja keinen wirklich verbindlichen Normtext mehr, den der Interpret auf seine Bedeutung hin „abhören“ könnte.33 Im Gemeinschaftsrecht scheint der Wortlaut der Norm wirklich nur mehr der Ausgangspunkt für die Begründung sein zu können.34 Allerdings müßte dieses Manko durch den verstärkten Einsatz anderer Argumente ausgeglichen werden, was aber oft nicht der Fall ist.
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Ein Beispiel für den – potentiellen – Blick auf verschiedene Sprachfassungen bietet die Entscheidung Junk.35 Bei der Massenentlassungsrichtlinie36 stellt sich die Frage, ob unter „Entlassung“ in der Richtlinie bereits der Ausspruch der Kündigung oder erst das Ende des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist zu verstehen ist. In Deutschland vertrat man das zweite. Der EuGH sagt, daß die anderen Sprachfassungen entweder die Kündigungserklärung meinen oder aber beide Varianten abdecken. Die Entscheidung sagt dies aber nur kurz, ohne es näher darzutun; der Schlußantrag geht nur auf die englische Fassung ein. Allerdings hat schon die österreichische Regierung die Meinung der deutschen Regierung zur Bedeutung des Wortlautes nicht geteilt – wohl weil sie den Begriff „Entlassung“ nicht aus der Sicht des deutschen Rechts, sondern eher aus der Sicht der deutschen Sprache verstanden hat. b)
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Rechtstextzusammenhang
Neben dem Wortlaut spielt die Systematik eine entscheidende Rolle. Mit Potacs sollte man besser vom Rechtstextzusammenhang als (semantisches) Interpretationsmittel
32 Allerdings finden sich noch immer Fußnoten, welche als Beleg für eine „herrschende Meinung“ zum Gemeinschaftsrecht nur deutschsprachige Literatur zitieren. 33 Man kann geradezu vom „Verlust des Normtextes“ sprechen. 34 Gleichzeitig werden die (oft dürren) Sätze des EuGH von manchen Autoren ehrfürchtig und andächtig nach allen Seiten hin gedreht und gewendet, um daraus abzuleiten was der Gerichtshof meine und wie er wohl das nächste Mal entscheiden werde. Das erste Ziel erwartet wohl oft zuviel, das zweite ist wegen der wenig konstanten Zusammensetzung der Spruchkörper bei unklarer Aussage wenig erfolgversprechend. 35 EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 Henke ./. Gemeinde Schierke and Verwaltungsgemeinschaft „Brocken“, Slg. 1996, I-4989 Rn. 15; EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 34; GA Tizzano, Schlußanträge v. 30.9.2004. Zur Entscheidung Junk vgl. Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; sowie hier Riesenhuber, § 11 Rn. 21 ff. 36 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 Nr. L 225/16.
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sprechen.37 Ein Aspekt davon ist die These von der Einheit der Rechtssprache.38 Der EuGH wendet sie etwa beim Begriff des Arbeitnehmers in Art. 141 EG an (dazu Rn. 51 f.). Ein anderer Aspekt ist die These/Regel, daß Ausnahmen eng auszulegen sind.39 Diese wurde beim Verbot der Diskriminierung bei den sonstigen Arbeitsbedingungen nach der Gleichbehandlungsrichtlinie wiederholt verwendet, und findet sich heute noch in anderen Bereichen.40 Zum Diskriminierungsverbot ist an die Stelle dieser Regel hingegen eher der Satz getreten, daß bei Ausnahmen von einem Individualrecht (wie jenem auf Gleichbehandlung) „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, wonach Ausnahmen nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist, und der Grundsatz der Gleichbehandlung so weit wie möglich mit den Erfordernissen des auf diese Weise angestrebten Zieles in Einklang gebracht werden muß.“ 41 Der Satz von der engen Auslegung von Ausnahmen wird zur Gleichbehandlung seit der Entscheidung Kalanke wohl nicht mehr verwendet.42 Systematische Erwägungen zur konkreten Norm, die das Zusammenspiel verschiedener Bestimmungen heranziehen, finden sich (leider) nur selten.43 Oft kommt die systematische Interpretation in Verbindung mit der teleologischen Interpretation vor; das Ergebnis ist dann eine Zusammenschau mehrerer Bestimmungen, wobei aber nicht näher dargelegt wird, wie die einzelnen Normen sich zusammenfügen.
21
Hier zu nennen ist auch die Erwägung, ob das Gemeinschaftsrecht eine Total- oder nur eine Teilharmonisierung der geregelten Angelegenheit enthält. In mehreren einschlägigen Entscheidungen zu den Richtlinien über Betriebsübergang, Massenentlassung und Insolvenzschutz 44 kommt diese Überlegung vor. In manchen hat sie zur Entscheidung beigetragen, insbesondere wenn es um das Anknüpfen an die natio-
22
37 38 39 40
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42
43 44
Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 71 ff. Eher zweifelnd dazu Riesenhuber, § 11 Rn. 21. Vgl. dazu Riesenhuber, § 11 Rn. 61 ff. EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651 Rn. 36, 44; EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke ./. Freie Hansestadt Bremen, Slg. 1995, I-3051 Rn. 21. Zur Arbeitszeit siehe EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/ 98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 35; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; und EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 52, 65. Wohl erstmals in EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651 Rn. 38; z.B. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 39. Deutlich zeigen dies die späteren Entscheidungen zu Vorrangregeln; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 Marschall ./. Land Nordrhein-Westfalen, Slg. 1997, I-6363; EuGH v. 28.3.2000 – Rs. C-158/97 Badeck u.a., Slg. 2000, I-1875; EuGH v. 6.7.2000 – Rs. C-407/98 Abrahamsson und Anderson, Slg. 2000, I-5539. So etwa EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36 f. (dazu Riesenhuber § 11 Rn. 24). Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 Nr. L 283/23.
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nalen Begriffe des Arbeitnehmers geht.45 In anderen hat sie hingegen nicht zu einer Verringerung der Pflichten der Mitgliedstaaten geführt.46 Meist sind die Überlegungen des EuGH überzeugend. Anders ist es bei der Entscheidung Delahaye.47 Sie stützt sich auf das Argument der Teilharmonisierung, das hier meines Erachtens aber nichts besagt. c)
Regelungszweck
23
Als nächstes ist der Regelungszweck zu nennen. In erster Linie geht es dabei um den Zweck der konkreten Regelung und des Rechtsaktes; davon zu unterscheiden ist die Frage, ob der Rechtsakt Teil eines inneren Systems ist, aus dem sich auf den Zweck der konkreten Regelung schließen läßt (dazu Rn. 35 ff.). Für die Zwecke der Regelung orientiert sich der EuGH auch im Arbeitsrecht vorwiegend an den Erwägungsgründen oder direkt am Wortlaut, nur selten an anderen Quellen, wie z.B. an der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte oder an der jeweiligen Primärrechtsgrundlage.48 Der Text der konkreten Norm und deren Zweck müssen dabei bedeutsamer sein als die Erwägungsgründe, deren rechtliche Qualität ohnehin zweifelhaft ist.49 Am öftesten zieht der EuGH den Normtext für die Zweckherleitung heran (objektivteleologische Interpretation). Dann wird zur Begründung des Zwecks meist bloß ein anderer, ebenfalls möglicher und in den Erklärungen vorgebrachter Zweck, durch eine Art Folgenanalyse ad absurdum geführt 50. Manche Autoren sehen den Regelungszweck als das erste und vorrangige Auslegungsmittel.51 Die systematische Analyse neuerer arbeitsrechtlicher Entscheidungen kann diese These aber nicht bestätigen.
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Die erwähnte Entscheidung Junk leitet zur Massenentlassungsrichtlinie die Auffassung, daß unter „Entlassung“ bereits der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist,
45 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Foreningen af Arbejdsledere i Danmark ./. Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 26 ff. Vgl. auch EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund ./. Nielsen & Søn, Slg. 1985, 553 Rn. 12 ff. 46 Vgl. insb. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff.; EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 Rn. 27 ff.; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-125/97 A.G.R. Regeling ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid, Slg. 1998, I-4493 Rn. 19 (A.G.R.) zur Insolvenzrichtlinie. 47 EuGH v. 11.11.2004 – Rs. C-425/02 Delahaye, Slg. 2004, I-10823 insb. Rn. 32 ff. 48 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 76 ff.; Riesenhuber, § 11 Rn. 40 f. Auf die Erwägungsgründe stellen z.B. ab EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 12. 49 Vgl. dazu treffend Riesenhuber § 11 Rn. 36. 50 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 76; EuGH v. 30.3.2000 – Rs. C-236/98 Jämställdhetsombudsmannen, Slg. 2001, I-2189 Rn. 53; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 48 f. (BECTU); EuGH v 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen ./. Amalgamated Construction, Slg. 1999, I-8643 Rn. 20; EuGH v 6.4.2000 – Rs. C-226/98 Kreil, Slg. 2000, I-2447 Rn. 39; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen ./. Denda, Slg. 1999, I-7243 Rn. 42; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 60, 74. 51 So z.B. Joussen, Auslegung, der von einem „Krönungskriterium“ spricht (S. 130 f., S. 170 f.).
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vor allem aus dem Inhalt der Regelung ab. Ansonsten wären nämlich die von der Richtlinie verlangten Beratungen wenig sinnvoll, weil sie auf die Entscheidung des Arbeitgebers keinen Einfluß mehr haben können. Dies ist methodisch überzeugend,52 auch wenn es in Staaten, in denen das nationale Recht die Kündigung stark beschränkt, zusätzliche Probleme bereitet. In einem früheren Verfahren zur Massenentlassungsrichtlinie ging es um die Frage, ob diese die Mitgliedstaaten auch verpflichtet, gesetzliche Regelungen über eine Arbeitnehmervertretung zu schaffen, auch wenn es sonst keine gibt. Der EuGH hat zugestanden, daß die Richtlinie nur eine Teilharmonisierung der Frage einer Anhörung der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen enthalte. Die Tatsache einer Teilharmonisierung befreie aber nicht von der Pflicht jene Maßnahmen zu treffen, welche für die Ausführung des Inhalts der Richtlinie „zweckmäßig“ sind (gemeint war wohl: „erforderlich sind“). Parallel war die Argumentation zur Betriebsübergangsrichtlinie.53 Der Regelungszweck war auch in den Entscheidungen zur Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat das entscheidende Argument. Alle drei Entscheidungen betrafen die Mitwirkung der Arbeitgebers bei der Organisation des Europäischen Betriebsrats, und in allen hat der EuGH seine Entscheidung mit dem Argument begründet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Europäischen Betriebsrats oder doch die Möglichkeit dafür erforderten eine bestimmte Auslegung, die im Ergebnis eine Regelungslücke schließt.54 Er hat also primär auf den Zweck der Regelung abgestellt, das Bestehen einer Lücke aber (leider) nicht erwähnt. Große Bedeutung hatte der Regelungszweck auch bei der Entscheidung über das Verständnis von „Eintritt der Zahlungsunfähigkeit“ in der Insolvenzrichtlinie.55 Der EuGH legte dar, daß dieser Begriff in Art. 3 und 4 der RL anders zu verstehen sei als nach der Definition des Art. 2.56 Eine spätere Entscheidung griff dann nur mehr auf dieses Verständnis zurück, ohne erneut telelogische Erwägungen im konkreten Zusammenhang anzustellen.57 Das führte dann zu einer Korrektur der RL und damit des EuGH.58
52 Ebenso Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff. 53 Massenentlassungen: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff. Betriebsübergang: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 Rn. 27 ff. 54 EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, Slg. 2001, I-2579; EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C440/00 Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 ADS Anker, Slg. 2004 I-6803. 55 Richtlinie 80/987/EWG des Rates vom 20. Oktober 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1080 L 283. 56 EuGH v. 10.7.1997 Rs. C-94/95 und C-95/95 Bonifaci und Berto ./. INPS, Slg. 1997, I-3969 Rn. 36–42. 57 EuGH v. 15.5.2003 Rs. C-160/01 Karen Mau ./. Bundesanstalt für Arbeit Slg. 2003, I-4791. 58 Richtlinie 2002/74/EG des Europaeischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der Richtlinie 80/987/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 2002 Nr. L 270. Robert Rebhahn
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In der Entscheidung Pfeiffer hat der EuGH 2004 – soweit zu sehen erstmals – die Unterlegenheit des Arbeitnehmers als Argument bei der Auslegung verwendet. Art. 18 der Arbeitszeitrichtlinie erlaubt es, die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden zu überschreiten, wenn der Arbeitnehmer individuell zustimmt. Der EuGH hat für diesen Verzicht verlangt, daß der Arbeitnehmer dies „frei und in voller Sachkenntnis“ selbst tut. Und er fährt fort: „Diese Anforderungen sind um so bedeutsamer, als der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so daß verhindert werden muß, daß der Arbeitgeber den Willen des Vertragspartners umgehen oder ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann, ohne daß dieser dem ausdrücklich zugestimmt hätte.“ 59 Im Ausland hat diese Passage aus dem Urteil der Großen Kammer bereits große Aufmerksamkeit gefunden, weil der EuGH sich darin die These von der typischen Unterlegenheit zu Eigen gemacht hat.60
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Sehr fein nach dem Zweck differenziert der EuGH in der Entscheidung Paletta II. Es ging um die Anerkennung von Bestätigungen der Erkrankung aus Sizilien, an deren Richtigkeit der deutsche Arbeitgeber nachvollziehbar zweifelte. Die relevante gemeinschaftsrechtliche Norm war zwar primär sozialrechtlich, der Inhalt aber arbeitsrechtlich.61 Der EuGH hatte schon wiederholt gesagt, daß „die mißbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht nicht gestattet ist.“ „Die nationalen Gerichte können also das mißbräuchliche oder betrügerische Verhalten des Betroffenen auf der Grundlage objektiver Kriterien zwar in Rechnung stellen, … haben jedoch bei der Würdigung eines solchen Verhaltens die Ziele der fraglichen Bestimmungen zu beachten.“ Aus dem Zweck der Bestimmungen zur Anerkennung ausländischer Bestätigungen folgert der EuGH dann, daß bei deren Vorliegen dem Arbeitnehmer nicht die volle Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit zugeschoben werden darf, wenn der Arbeitgeber nur ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit dartun kann. Die Arbeitsunfähigkeit darf entgegen der Bestätigung erst verneint werden, falls der Arbeitgeber selbst Beweise für den Mißbrauch dartun kann. Allerdings liegt es dann beim nationalen Gericht, wann es den Beweis des Mißbrauches für erbracht ansieht.
59 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 82. 60 Collins, ERCL 1 (2005), 115, 124; Sargos, Droit social 2005, S. 123 f. 61 EuGH v. 3.6.1992 – Rs. C-45/90 Paletta ./. Brennet, Slg. 1992, I-3423 (Paletta I); EuGH v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 Brennet ./. Paletta, Slg. 1996, I-2357 Rn. 24 ff. (Paletta II). Vgl. zum ganzen Verfahren Kaiser, NZA 2000, 1144, 1146 mwN. Der EuGH ging in der Entscheidung Paletta I sehr formal an die Sache heran und meinte wie üblich: Alles was in Europa den gleichen Namen hat, sei auch gleichwertig. Erst auf den Widerstand der deutschen Gerichte hin fand er einen Ausweg, der beiden das Gesicht wahrte, nämlich eine Mißbrauchsklausel.
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6.
Weniger wichtige Argumente: Entstehungsgeschichte und Rechtsvergleichung
Die Entstehungsgeschichte spielt jedenfalls in den Entscheidungen zum Arbeitsrecht kaum eine Rolle.62 Die Schlußanträge nehmen häufiger auf die Entstehungsgeschichte Bezug,63 auch weil sich nationale Regierungen darauf berufen. In einer wichtigen Frage hat sich der EuGH schon früh von der historischen Motivation der Norm gelöst, nämlich beim früheren Art. 119 EGV, dem Vorläufer zu Art. 141 EG. Das Verbot der Diskriminierung beim Entgelt war eindeutig mit dem Ziel erlassen worden, eine Verfälschung des Wettbewerbs durch unterschiedliche nationale Regelungen zu verhindern. Der EuGH hat es hingegen sofort als sozialpolitische und wenig später als menschenrechtliche Norm verstanden.64 Der wirtschaftspolitische Zweck tritt demgegenüber zurück.65 Auch die Rechtsvergleichung hat in den arbeitsrechtlichen Entscheidungen eine sehr geringe Bedeutung.66 Insbesondere läßt sich der EuGH durch rechtsvergleichende Erwägungen nicht in seiner Auslegung beschränken.67 Die Stellungnahmen der Generalanwälte enthalten zuweilen rechtsvergleichende Ausführungen; zu nennen sind insbesondere jene von Generalanwalt Jacobs zur Frage, ob es eine gemeinschaftsrechtliche Absicherung der Tarifautonomie gebe.68 7.
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Kompetenzkonforme Interpretation?
Der Gedanke der rechtskonformen Interpretation erfordert es an sich auch Sekundärrecht im Zweifel so auszulegen, daß die Grenze der jeweils in Anspruch genommenen Kompetenz der Gemeinschaft nicht überschritten wird.69 Bei den arbeitsrechtlichen Richtlinien gibt es eine Reihe von Fragen, in denen diese Überlegung von Interesse ist. Allerdings kommt die genannte Überlegung in der Judikatur soweit zu
62 Es gibt kaum Entscheidungen, in denen das Wort „Entstehungsgeschichte“ neben „Arbeitnehmer“ vorkommt oder in denen sie eine Rolle spielt. Ausnahmen sind EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33; sowie – zum Sozialrecht – EuGH v. 30.3. 2000 – Rs. C-178/97 Barry Banks u.a., Slg. 2000, I-2005 Rn. 23. Anders die Einschätzung im Allgemeinen bei Riesenhuber, § 11 Rn. 30. 63 Z.B. GA Geelhoed, Schlußantrag v. 6.2.2003 – Rs. C-25/02 Rinke, Slg. 2003, I-8349 Tz. 63 f. 64 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. (Defrenne II), dort Sozialpolitik; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 27 (Defrenne III), dort Menschenrecht. 65 EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post ./. Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 53 ff. 66 Bei allgemeinen Fragen wie Staatshaftung, Verhältnismäßigkeit und Grundrechte hat die Rechtsvergleichung mehr Bedeutung; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 305 ff. 67 Zum Versuch mancher Autoren, dies zur Betriebsübergangsrichtlinie zu tun, vgl. Simitis, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts, S. 297 ff. Zu Zielen einer Interpretation auf rechtsvergleichender Grundlage vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag, S. 289 ff. mwN. 68 GA Jacobs, Schlußanträge v. 28.1.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751. 69 Es handelt sich um einen Fall der primärrechtskonformen Interpretation von Sekundärrecht; vgl. Potacs, Auslegung im Öffentlichen Recht, S. 75 ff. Robert Rebhahn
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3. Teil: Besonderer Teil
sehen kaum vor, wohl weil der EuGH sich damit nur befaßt, wenn er ausdrücklich danach gefragt wird, was nur selten geschieht.
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Die Gemeinschaft darf heute auf der Grundlage des Art. 137 EG verschiedene Fragen des Arbeitsrechts regeln, wie die Arbeitsbedingungen oder den Schutz bei Beendigung des Arbeitsvertrages. Der EuGH hatte sich dazu noch nicht zu äußern. Die wichtigste Entscheidung zur früheren Kompetenzlage war jene zur Arbeitszeitrichtlinie.70 Der Gerichtshof hat dort primär mit Wortlaut und Zweck der Kompetenznorm argumentiert. Und er hat eine Detailbestimmung, welche die Wochenruhe verpflichtend auf das Wochenende festlegte, aufgehoben, weil diese Festlegung von der Kompetenz zum Schutz der Arbeitnehmer nicht mehr erfaßt war – was meines Erachtens auch zu Art. 137 EG gilt.
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Wichtig war die Aussage, daß die Kompetenz zu „Mindestvorschriften“ nicht bloß zu einem sozialen Minimalprogramm ermächtigte, wie auch deutsche Autoren meinten, sondern den Mitgliedstaaten das Erlassen strengerer Vorschriften erlaubte. Heute sagt Art. 137 Abs. 4 TS. 2 EG, daß die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen die Mitgliedstaaten nicht daran hindern, „strengere Schutzmaßnahmen“ zu treffen. Fraglich ist, was „strenger“ hier bedeutet. Die Problematik ist anders als beim Günstigkeitsvergleich im nationalen Recht, weil es bei Art. 137 EG nicht auf die Günstigkeit für den oder die Arbeitnehmer ankommt, sondern nur darauf, ob eine nationale Bestimmung objektiv und für sich betrachtet die Arbeitnehmer mehr schützt. Die Frage von Kompensationsmöglichkeiten kommt in der Regel gar nicht ins Spiel.71
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Die bei vielen Richtlinien außerhalb des Arbeitsrechts relevante Frage, ob die Mitgliedstaaten strengere Vorschriften erlassen dürfen, stellt sich bei Richtlinien, die aufgrund des Art. 137 EG erlassen werden, daher gar nicht. Relevant ist sie im Bereich des Arbeitsrechts nur bei der Entsenderichtlinie.72 Für eine abschließende Regelung spricht vor allem deren Art. 3 Abs. 10, wonach das Recht der Mitgliedstaaten unberührt bleibt, bestimmte weitergehende Maßnahmen vorzuschreiben. Überdies spricht auch die Kompetenzgrundlage der Richtlinie dafür, nämlich die Art. 55 und 47 Abs. 2 EG.73 Gleichwohl wird die abschließende Regelung in der Literatur oft verneint. Meines Erachtens liegt darin primär ein methodisches Problem, nämlich welche Bedeutung die Kompetenzgrundlage für die Wirkungen einer Richtlinie hat.74
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Art. 137 EG gilt nach seinem Abs. 5 nicht für das Arbeitsentgelt. Fraglich ist daher, inwieweit bei Ausübung der Kompetenzen nach Abs. 1 und 3 auch Fragen des Arbeits-
70 EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755. 71 Vgl. zur Frage Rebhahn-Schwarze, Art. 137 EGV Rn. 30 f. 72 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1996 Nr. L 18/1. 73 Schlachter, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht (5. Aufl. 2005), § 1 AEntG Rn. 2; Rebhahn, DRdA 1999, 177. 74 Vgl. allgemein Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 323 ff. (wenig weiterführend).
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entgelts mitgeregelt werden dürfen.75 Konkret ist fraglich, ob etwa die Teilzeitrichtlinie76 die Gleichbehandlung auch beim Entgelt anordnen darf, die Mutterschutzrichtlinie 77 die Fortzahlung des Entgelts verlangen darf, oder jene zur Gleichbehandlung, daß nach dem Ende eines Elternurlaubes die Entgeltbedingungen fortgeschrieben werden. Der EuGH hat sich zur Frage noch nicht explizit geäußert, und aus dem Schweigen in Verfahren, in denen die Frage nicht aufgeworfen wird, darf man wohl nicht auf eine Billigung schließen. Methodisch geht es um eine Interpretation von Kompetenznormen. Meines Erachtens ist Abs. 5 zwar nicht eng auszulegen, aber nur auf eine Regelung des Entgelts selbst anzuwenden, nicht auch auf Normen, die bloß an das Entgelt anknüpfen. 8.
Inneres System und favor laboris als Argumente?
Fraglich ist, inwieweit zum Arbeitsrecht – so wie in anderen Teilgebieten des Gemeinschaftsrechts – von einem übergreifenden Zweck ausgegangen werden kann, der dann die Anwendung einzelner Vorschriften (zusätzlich) steuern könnte. Das gemeinschaftsrechtliche Arbeitsrecht dient, jedenfalls soweit es auf den Art. 137 ff. EG beruht, heute nicht primär dem Ziel des Binnenmarktes. Dessen Förderung kann daher auch nicht als Leitlinie der Interpretation herangezogen werden.
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Das Arbeitsrecht ist nun wohl jener Teil des wirtschaftsrelevanten Privatrechts, in dem die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten noch am größten sind.78 Die Vorgaben betreffen nur Teile des Arbeitsrechts. Im Individualarbeitsrecht sind vor allem Arbeitsschutz und Arbeitszeit einschließlich Mindesturlaub, Diskriminierungsverbote, Information über Arbeitsbedingungen, manche „atypischen“ Arbeitsverhältnisse wie Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse, Verfahren bei Massenentlassung, Betriebsübergang sowie Mutterschutz zu nennen, im Kollektivarbeitsrecht nur Europäischer Betriebsrat, Information und Konsultation sowie Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen bei der SE. Manche sehen zumindest in einem Teil dieser Regelungen ein inneres System.79 Geht man hingegen von dem aus, was in den Mitgliedstaaten üblicherweise geregelt ist, so stellen die gemeinschafts-
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75 Vgl. Rebhahn-Schwarze, Art. 137 EGV Rn. 23. 76 Richtlinie 97/81/EG des Rates v. 15.12.1997 zu der von UNICE, CEEP and EGB geschlossenen Rahmenvereinigung über Teilzeitarbeit – Anhang: Rahmenvereinbarung über Teilzeitarbeit, ABl. 1997 Nr. L 14/9. 77 Richtlinie 92/85/EWG des Rates v. 19.10.1992 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz (zehnte Einzelrichtlinie im Sinne des Artikels 16 Absatz 1 der Richtlinie 89/391/EWG), ABl. 1992 Nr. L 348/1. 78 Vgl. den Überblick bei Wank, in: Hanau/Steinmeyer/Wank, §§ 3, 11 f.; sowie z.B. Fuchs/Marhold, Europäisches Arbeitsrecht (2001), S. 3 ff. 79 Grundmann, Zum Harmonisierungskonzept des Europäischen Arbeitsrechts, in: Krause (Hrsg.), Gedächtnisschrift für W. Blomeyer (2004), S. 71–97; ders., Europäisches Schuldvertragsrecht, § 6 Rn. 35 ff. Auch Riesenhuber (§ 11 Rn. 12) meint, man müsse stets einen „Systembildungswillen“ vermuten und damit unterstellen. Robert Rebhahn
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rechtlichen Vorgaben zum Arbeitsrecht jedoch nur vereinzelte Regelungen dar, die wichtige Fragen aussparen, insbesondere folgende: Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung, Haftung, Risikoverteilung und Nebenpflichten, sowie das Recht der Koalitionen, der Tarifverträge und der Kollektiven Konflikte. Das Recht der Koalitionen und der Konflikte sind sogar ausdrücklich von der Kompetenz nach Art. 137 EG ausgenommen. Man kann daher sagen, daß das Gemeinschaftsrecht nur Bruchstücke des Arbeitsrechts regelt.80 Das erschwert eine systematische Interpretation, wie sie im Gemeinschaftsrecht etwa beim Wettbewerbsrecht und zunehmend beim Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht möglich ist.
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Jenes Teilstück, das am weitesten in sich geschlossen ist, sind die Diskriminierungsverbote. Dazu hat der EuGH lange Zeit im Zweifel häufig jene Interpretation gewählt, die das Verbot am weitesten ausdehnte, auch bei den erforderlichen Sanktionen.81 Für die letzten Jahre läßt sich dies so wohl nicht mehr sagen. Beleg dafür ist die Judikatur zur vergleichbaren Lage oder zur gemeinsamen Quelle der Regelung.82 Und auch zur extensiven Auslegung bleibt anzumerken: Das Diskriminierungsverbot normiert, sieht man vom Schutz der Schwangeren ab, keinen typischen Mindeststandard, weil es den Arbeitgeber nicht hindert, alle gleich schlecht zu behandeln.
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Bei den typischen arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften, die einen Mindeststandard setzen sollen, zeigt sich der Mangel eines einheitlichen Hintergrundes der Normen – und damit die Möglichkeit eines Vorverständnisses – besonders stark. Die Eigenschaft einer Richtlinie als Mindestvorschriften bewirkt, daß der Gedanke der wirklichen Vereinheitlichung des Rechts bei der Auslegung keine Rolle spielen kann. Es geht dann um die relative Position der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber.
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In der politischen Diskussion ist oft von einem Europäischen Sozialmodell die Rede. Diese Vorstellung hat aber in der Rechtsprechung des EuGH noch nie eine Rolle gespielt; und sie ist wohl auch sonst heute eher ein Mythos denn ein Postulat. Real stellt sich bei der Anwendung von Vorschriften, die einen arbeitsrechtlichen Mindeststandard vorsehen, rechtspolitisch vielmehr stets die Frage, inwieweit die EU aktiv dazu beitragen soll, diese Unterschiede einzuebnen. Die einen meinen, über die Unterschiede und deren Ausgleich solle der Markt entscheiden; geringere Arbeitsstandards und damit Arbeitskosten seien ein Wettbewerbsfaktor, den man den betroffenen Staaten nicht gegen ihren Willen nehmen dürfe, weder innerhalb der EG noch gegenüber anderen Staaten. Die anderen meinen, daß die staatlich gesetzten Sozialstandards von Lissabon bis Helsinki möglichst einheitlich sein sollen, um einen Wettbewerb mit Arbeitskosten insoweit zu verhindern, weil man befürchtet, daß es ein Wettbewerb nach unten wird.83 Das eine führt im Zweifel zu einer restriktiven Interpretation der Richt80 Vgl. zur Einschätzung z.B. Birk, in: Richardi/Wlotzke (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 18 Rn. 15 ff.; Steinmeyer, in: Hanau/Steinmeyer/Wank, § 12 Rn. 22; Kort, JZ 2004, 267 ff. 81 Zur Bedeutung des EuGH z.B. Barnard, EC Employment Law (2000), S. 28 ff. 82 Vgl. dazu Rn. 54. Ob die Entscheidung Mangold (Rn. 45) eine Tendenzwende anzeigt bleibt abzuwarten. 83 Vgl. zur Diskussion z.B. Barnard, EC Emplyoment Law (2000), S. 20 ff.; Rebhahn-Schwarze, Art. 136 EGV Rn. 34 ff.
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linie, das andere zu einer extensiven. Nach der Idee des Binnenmarktes sollen primär die Rahmenbedingungen für Unternehmen vereinheitlicht werden, um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Daraus könnte man ableiten, daß primär Unternehmen, nicht aber Staaten konkurrieren sollen, was für eine Angleichung sprechen könnte. Manche leiten aus Art. 136 und 137 EG ab, daß die Auslegung primär an der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen orientiert sein müsse.84 Diese Maxime hat in der Judikatur des EuGH bislang, soweit zu sehen, aber noch keine maßgebende Rolle gespielt. Methodisch bedeutet dies, daß die Gerichte bei der Auslegung einzelner Rechtsakte kaum von einem geschlossenen Konzept des Arbeitsrechts ausgehen können.85 Es gibt im Bereich des Arbeitsrechts kein wirkliches „Leitbild“.86 Man muß letztlich jeden arbeitsrechtlichen Rechtsakt – jedes der Fragmente – aus sich selbst heraus auslegen. In einer neuen Entscheidung spricht der EuGH allerdings von einem „Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft“, woraus man schließen könnte, daß der EuGH eine gewisse Systematik im Europäischen Arbeitsrecht zu erkennen vermag.87 Soweit zu sehen gibt es aber beim EuGH z.B. kein einheitliches Vorverständnis zur Frage, ob arbeitsrechtliche Mindestvorschriften eher extensiv oder restriktiv auszulegen sind. Zu manchen nicht eindeutigen Fragen urteilt er eher restriktiv, wie zum Begriff des Arbeitnehmers oder zur Bedeutung der Nachweisrichtlinie,88 zu anderen eher extensiv, wie zum Begriff der Arbeitszeit oder dem Vorliegen eines Betriebsüberganges. Allenfalls kann man sagen, daß der EuGH früher eher jene Auslegung gewählt hat, welche den Arbeitnehmerschutz stärkt. Man kann dafür etwa jene Entscheidungen nennen, die in Deutschland große Aufregung verursacht haben: Paletta zur Entgeltfortzahlung, Schmidt zum Betriebsübergang, und Bötel zur Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsräte. Junker hat von der „schwarzen Serie“ des EuGH gesprochen.89
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Fraglich ist dann, inwieweit der EuGH explizit den Schutz der Arbeitnehmer als Auslegungsargument – über den Zweck der konkreten Regelung hinaus – einsetzt. Denn bei den Mindestvorschriften geht es ja letztlich stets um die relativen Positionen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Auf der einen Seite hat der EuGH bis vor kurzem – soweit zu sehen – noch nie ausdrücklich in die Erwägung einbezogen, inwieweit eine Regelung die Arbeitgeber belastet. Offenkundig – und fast schon anstößig –
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84 Joussen, Auslegung, S. 246. Auch Joussen nennt keine einschlägige Entscheidung des EuGH. 85 Zur Bedeutung des normativen Umfeldes einer Norm für deren Verständnis vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 442 ff. (systematische Auslegung), S. 472 ff. (ergänzende Auslegung). 86 Vgl. zu diesem Auslegungstopos Riesenhuber, § 11 Rn. 44. 87 EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vokbeweging, (noch nicht in Slg.) Rn. 28. 88 Richtlinie 91/533/EWG des Rates v. 14.10.1991 über die Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung des Arbeitnehmers über die für seinen Arbeitsvertrag oder sein Arbeitsverhältnis geltenden Bedingungen, ABl. 1991 Nr. L 288/32. 89 Junker, NJW 1994, 2527 ff. Zu diesen Entscheidungen – weit zurückhaltender – Kaiser, NZA 2000, 1144 ff. Robert Rebhahn
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ist diese Nichtberücksichtigung insbesondere bei der Rückwirkung der Anwendung des Art. 141 EG auf Betriebspensionen (vgl. Rn. 49). In der Entscheidung Werhof berücksichtigt der EuGH erstmals ausdrücklich die Interessen der Arbeitgeber. Fraglich war, ob der Unternehmenserwerber (konkret: aufgrund einer Verweisung im Arbeitsvertrag) nach Betriebübergang Kollektivvertragsänderungen gegen sich gelten lassen muß. In diesen Zusammenhang sprach der EuGH aus: „Ausserdem können … die Interessen des Erwerbers nicht unberücksichtigt bleiben, der in der Lage sein muß, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen“.90 Auf der anderen Seite hat der EuGH aber noch nie explizit gesagt, daß arbeitsrechtliche Schutzvorschriften im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. Soweit zu sehen praktiziert er diese Regel bei den Mindestvorschriften auch nicht. Bei der Interpretation arbeitsrechtlicher Mindestvorschriften blickt der EuGH also wohl nur auf den konkreten Zweck der Richtlinie, und nicht auf einen dahinter stehenden allgemeinen Schutz der Arbeitnehmer. Allerdings nennen die arbeitsrechtlichen Richtlinien in der Regel letztlich nur den Schutz der Arbeitnehmer als Regelungsziel. Nationale Gerichte würden sich dadurch nicht abhalten lassen, auch die Interessen der anderen Seite und Dritter bei der Interpretation zu bedenken. Die eher knappe Argumentation des EuGH tut dies jedenfalls nicht ausdrücklich. Sie begünstigt die in der Literatur wiederholt konstatierte Eindimensionalität der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften.91 Die Interpretation arbeitsrechtlicher Normen wäre danach primär nur am Arbeitsverhältnis (und nicht der Gesamtheit der Rechtsordnung) und hier wiederum primär an den Arbeitnehmern ausgerichtet. Diese Eindimensionalität ist aber jedenfalls durch die Normen nicht zwingend vorgegeben.92
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Sonderfälle stellen die Richtlinien zum Betriebsübergang und zur Entsendung dar. Bei der Entsenderichtlinie ist fraglich, welche Arbeitnehmer sie schützen soll (dazu Rn. 58). Bei der Betriebsübergangsrichtlinie ist fraglich, ob und wenn ja wie sie Arbeitnehmer schützen will (Rn. 61). De facto dient die vom EuGH gepflogene extensive Interpretation dieser Richtlinie aber vorwiegend dem Schutz der Arbeitnehmer. Dies vergrößert die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten eher als sie zu verringern.
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Die Betriebsübergangsrichtlinie liefert auch ein Beispiel für das Nebeneinander verschiedener Regelungszwecke im Gemeinschaftsrecht und deren – fehlende – Abstimmung. Besonders auffällig ist die Entscheidung Abler, wo es um die Neuverpachtung einer Krankenhausküche ging; das bisherige Essen war den Patienten nicht länger zuzumuten.93 Sie verlangt bei einem gepachteten Betrieb, der auf der Seite des Pächters
90 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.) Rn. 32. 91 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, S. 461 ff.; Kaiser, NZA 2000, 1144, 1149. Soweit zu sehen gibt es in keinem Mitgliedstaat eine Interpretationsregel, daß arbeitsrechtliche Gesetze im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer ausgelegt werden, auch wenn die Gerichtspraxis mancher Länder in diese Richtung gehen mag. 92 So zutreffend schon Schlachter, Der Europäischer Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit, S. 36. 93 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler u.a., Slg. 2003, I-14023 Rn. 30 ff.
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im Wesentlichen aus Kundenbeziehungen und der verpachteten Kücheneinrichtung besteht, die Übernahme des Personals durch den neuen Pächter. Damit wird eine Ausschreibung zur Farce, jedenfalls wenn die bislang schlechte Qualität durch das Personal (mit)verursacht war. Der EuGH hat sich in der E Oy Liikenne bemüht, die Vereinbarkeit der Arbeitsvertragsübernahme mit den Wertungen des Vergaberechts (die er sonst bis zum Exzeß strapaziert) darzutun.94 Allerdings überzeugen diese Versuche m.E. bislang nicht. Im Ergebnis können so jedenfalls alle Bemühungen um eine Ausschreibung von Dienstleistungsaufträgen konterkariert werden. Man kann fragen, ob die Orientierung an den (bei uns) traditionellen Auslegungsregeln überhaupt geeignet ist, die Entscheidungspraxis des EuGH zu analysieren. Manche durchaus juristisch gedachte Stellungnahmen kommen bei ihrer kritischen Analyse ohne erkennbare Bezugnahme auf diese Auslegungsmittel aus.95 ME ist oder wäre die erkennbare Orientierung des EuGH an den genannten Auslegungsmitteln aber sinnvoll, um seinen Entscheidungen die erwünschte Legitimität zu geben. Auch wenn man dem folgt, kann man noch fragen, ob es nicht auch verdeckte Argumente gibt, welche die Entscheidung steuern. Zu denken wäre an bestimmte Vorstellungen über das Wirtschafts- und Sozialmodell. Diese Frage kann hier nicht verfolgt werden. 9.
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Pragmatische Schlüsse
Potacs faßt unter pragmatischen Schlüssen Umkehr-, Analogie- und Größenschluß zusammen. Soweit zu sehen, hat der EuGH noch in keinem Urteil zu arbeitsrechtlichen Fragen ausdrücklich einen Analogieschluß bejaht oder abgelehnt, obwohl er diesen Begriff in anderen Sachbereichen durchaus verwendet. Und auch die Schlußanträge argumentieren nur selten damit. Soweit zu sehen haben sie den von Verfahrensbeteiligten befürworteten Analogieschluß nur abgelehnt.96 Im Gegensatz dazu ist der Umkehrschluß in Verbindung mit der Wortlautinterpretation ein geläufiges Argumentationsmuster.97 In der Entscheidung Simap hat das vorlegende Gericht gefragt, ob die Ausnahme (nur) der Ärzte in Ausbildung e contrario für die Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie auf andere Ärzte spreche. Der EuGH geht darauf nicht ein, und bejaht die Anwendbarkeit ohne Bezugnahme auf die genannte Ausnahme.98 Auch in den einschlägigen Schlußanträgen kommt das Wort Umkehrschluß kaum vor.99 Daraus darf man aber nicht schließen, daß der EuGH auch faktisch nicht jene Erwägun-
94 EuGH v. 25.1.2001 – Rs. C-172/99 Oy Liikenne Ab ./. Pekka Liskojaervi und Pentti Juntunen, Slg. 2001, I-745 Rn. 22–25. 95 So z.B. O’Leary, Employment Law. 96 Vgl. GA van Gerven, Schlußanträge v. 30.1.1990 – Rs. 262/88 Barber ./. Guardian Royal Exchange Assurance Group, Slg. 1990, I-1889 Tz. 21; GA Cosmas, Schlußanträge v. 29.5.1997 – Rs. C-117/96 Mosbæk ./. Lønmodtagernes Garantifond, Slg. 1997, I-5017 Tz. 60; GA Jacobs, Schlußanträge v. 23.3.2000 – Rs. C-180/98 Pavel Pavlov u.a., Slg. 2000, I-6451 Tz. 94. 97 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 43; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 46 (BECTU). 98 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 29–38. 99 Vgl. aber GA Kokott, Schlußanträge v. 18.5.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Rn. 82. Robert Rebhahn
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gen und Interpretationen anstellt, die wir unter Analogie- und Umkehrschluß verstehen.100 Er spricht nur leider nicht davon, was die Diskussion der Begründungen erschwert. Relativ selten wird mit einem Größenschluss argumentiert 101.
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10.
Allgemeine Rechtsgrundsätze: Grundrechte, Verhältnismäßigkeit, Vertrauensschutz
a)
Grundrechte
Der EuGH argumentiert auch zum Arbeitsrecht nicht selten – und wohl mit zunehmender Häufigkeit – mit Grundrechten. Von allgemeiner Bedeutung ist die Aussage: „Die Befugnis des nationalen Gesetzgebers“, – hier: festzulegen, welche Leistungen zu Lasten der Garantieeinrichtung gehen – „findet ihre Grenze in der Beachtung der Grundrechte, zu denen insbesondere der allgemeine Grundsatz der Gleichheit und der Nichtdiskriminierung gehört. Nach diesem Grundsatz dürfen gleiche Sachverhalte nur unterschiedlich behandelt werden, wenn eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist.“ 102 Ferner gehört die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts.103 Jüngst hat der EuGH in der Entscheidung Mangold ausgesprochen, daß das primärrechtliche Diskriminierungsverbot auch die Diskriminierung aufgrund des Alters verbietet.104 Das ist für viele überraschend, wurde die Einführung dieses Verbots durch eine Richtlinie doch eben erst als große Neuerung angesehen.105 Die Entscheidung liest das Verbot ohne nähere Begründung in völkerrechtliche Verträge und die gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten hinein. Unklar bleibt daher, ob der EuGH damit einen allgemeinen Gleichheitssatz meint, den er anzuwenden befugt sei, oder aber ein spezielles Verbot der Diskriminierung wegen des Alters. In internationalen Verträgen anerkannte Grundrechte auf Nichtdiskriminierung können allerdings nicht die Zuständigkeiten der Gemeinschaft erweitern.106 Noch immer nimmt der EuGH in manchen Entscheidungen auf die Gemeinschaftscharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer aus 1989 Bezug,107 allerdings haben diese Hinweise nie tragende Bedeutung.
100 Vgl. z.B. EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund ./. Nielsen & Søn, Slg. 1985, 553 Rn. 10 zur Massenentlassungsrichtlinie. 101 EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-234/96 und 235/96 Deutsche Telekom AG, Slg. 2000, I-929 Rn. 55; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. 102 EuGH v. 12.12.2002 – Rs. C-442/00 Rodríguez Caballero, Slg. 2002, I-11915 Rn. 29 ff.; EuGH v. 16.12.2004 – Rs. C-520/03 Olaso Valero, Slg. 2004, I-12065 Rn. 34. 103 EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1978, 1365 Rn. 26 (Defrenne III); EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-13/94 P. ./. S. and Cornwall County Council, Slg. 1996, I-2143 Rn. 19. 104 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg. 2005, I-9981. Das Urteil wird von vielen als dunkel bis unverständlich gekennzeichnet. 105 Vgl. kritisch z.B. Preis, NZA 2006, 401. 106 EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 Grant ./. South-West Trains, Slg. 1998, I-621 Rn. 45 f. 107 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 40.
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Die Vereinigungsfreiheit wurde erstmals im Fall Bosman als Gemeinschaftsgrundrecht anerkannt.108 Allerdings ging die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vor. Auch die Tarifautonomie wurde in einigen Verfahren an sich anerkannt, konnte bisher aber die Anwendung des Gemeinschaftsrechts i.d.R. nicht verhindern.109 Die Frage eines Grundrechts auf Tarifautonomie oder jenes auf Arbeitskampf hat sich dem EuGH bislang noch nicht ausdrücklich gestellt. Am nächsten kam er der Tarifautonomie in der Entscheidung Albany aus 1999.110 Dort hat er entschieden, daß Tarifverträge, welche von Sozialpartnern ausgehandelt wurden und der Verbesserung von Arbeitsbedingungen dienen, nicht unter Art. 85 EG fallen. Der EuGH konzentriert seine Überlegungen hier aber auf das Allernotwendigste. Generalanwalt Jacobs hat hingegen umfassende Überlegungen angestellt. 2006 hat der EuGH bei der Auslegung von Art. 3 der Betriebsübergangsrichtlinie – für viele überraschend – mit dem Grundrecht (des Arbeitgebers) auf negative Koalitionsfreiheit argumentiert.111 Diese Bezugnahme war m.E. nicht notwendig; sie ist zu kursorisch begründet (setzt sich insbesondere nicht mit der Judikatur des EGMR auseinander); und sie ist überdies m.E. verfehlt, weil sie nicht ausreichend zwischen der Anordnung einer dynamischen Verweisung durch Gesetz oder durch Vertrag oder durch ergänzende Auslegung unterscheidet. Ein derart (fahrlässig) oberflächlicher Umgang mit Grundrechten dürfte diesen auf Dauer mehr schaden als nutzen. Mit dem Streik von Arbeitnehmern hatte der EuGH sich noch nie explizit zu befassen, auch nicht im Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit.112 Der Abwägung zwischen arbeitsrechtlichen Grundrechten auf der einen und Grundfreiheiten auf der anderen Seite mußte sich der EuGH daher noch nicht stellen. Allerdings wird er bald Gelegenheit haben, sich zur Frage zu äußern, inwieweit nationale Regelungen, die einen Streik zulassen, die Dienstleistungsfreiheit verletzen können.113
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Entscheidungswesentlich war das Argument des Grundrechts wohl in der Entscheidung Katsikas. Es ging um die Frage, ob die in der Betriebsübergangsrichtlinie vorgesehenen Rechtsfolgen auch eintreten, falls der Arbeitnehmer dem Übergang des
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108 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 79. 109 Vgl. z.B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz ./. Freie und Hansestadt Hamburg, Slg. 1991, I-297 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1999, I-7713 Rn. 46, alle zu Art. 141 EGV. Ferner z.B. EuGH v. 30.1.1985 – Rs. 143/83 Kommission ./. Dänemark, Slg. 1985, 427 Rn. 8. 110 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751. 111 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, (noch nicht in Slg.). Dazu Thüsing, NZA 2006, 473. 112 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6959 (Bauernproteste). Bisher ging es um Blockaden. Vgl. nun Art. 2 der Verordnung 2679/98 des Rates vom 7.12.1998 über das Funktionieren des Binnenmarktes im Zusammenhang mit dem freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. 1998 L 337/8. 113 Es geht um die Fälle Laval / Vaxhholm (Rs. C-341/05 Laval un Partneri Ltd ./. Svenska Byggnadsarbetareförbundet) sowie und Viking Line (Rs. C-438/05 The International Transport Workers’ Federation and The Finnish Seamen’s Union). Robert Rebhahn
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Arbeitsverhältnisses ausdrücklich widerspricht. Frühere Entscheidungen waren von manchen dahin interpretiert worden, daß ein Widerspruch unbeachtlich sei. 1992 erklärte der EuGH aber, daß er derartiges nie entschieden habe, und läßt den Widerspruch ausdrücklich zu.114 Ein wesentliches Argument dafür ist auch, daß eine Verpflichtung der Arbeitnehmer, gegen ihren Willen beim Erwerber zu arbeiten, gegen Grundrechte des Arbeitnehmers verstieße, der bei der Wahl seines Arbeitgebers frei sein muß. Allerdings überläßt der EuGH die Regelung der Rechtsfolgen eines Widerspruchs ausdrücklich dem nationalen Recht. Das nationale Recht darf daher auch das Ende des Arbeitsverhältnis als Rechtsfolge vorsehen, und vielleicht auch das Einhalten einer Kündigungsfrist. b)
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Der EuGH hat schon früh zur mittelbaren Diskriminierung eine Rechtfertigung – nur – zugelassen, wenn die Unterscheidung zum Erreichen eines legitimen Zieles geeignet und erforderlich ist. Er hat damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ohne direkte Grundlage im positiven Recht der Gemeinschaft – in das Arbeitsverhältnis eingeführt. Inzwischen hat der Gemeinschaftsgesetzgeber nachgezogen.115 Das Anwenden des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zwischen Privaten ist aus unserer Sicht durchaus bemerkenswert wenn nicht systemfremd. Die Frage, ob eine Differenzierung dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, ist derzeit wohl der wichtigste unbestimmte Begriff im gemeinschaftsrechtlichen Arbeitsrecht. Der EuGH überläßt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit aber in weitem Umfang den nationalen Gerichten, und gibt nur wenige Vorgaben. Das ist dort, wo es um die Anwendung einer Richtlinie geht, durchaus nachvollziehbar, weil die Richtlinie hier die Entscheidung eben nicht voll determiniert. Allerdings zerfällt auf diese Weise gerade der entscheidende Teil der mittelbaren Diskriminierung in nationale Teilrechtsordnungen. Auch methodisch fragwürdig ist die Verweisung auf die nationale Judikatur hingegen bei der mittelbaren Diskriminierung beim Entgelt, weil das Verbot des Art. 141 EG unmittelbar anwendbar ist. Allerdings erreicht der EuGH so einen Gleichklang der Kontrolldichte bei Entgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen. c)
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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Vertrauensschutz
Der EuGH berücksichtigt im allgemeinen bei der Auslegung auch das Argument des Vertrauensschutzes, auch wenn die Norm es nicht ausdrücklich nennt. Im Arbeitsrecht stellt sich die Frage des Vertrauensschutzes vor allem bei den Sanktionen für Diskriminierung insbesondere bei Betriebspensionen. Hat der Arbeitgeber etwa teilzeitbeschäftigte Frauen benachteiligt, so fragt sich, inwieweit er auch für die Vergangenheit nachträglich Anwartschaften begründen oder Pensionen nachbezahlen muß. Der EuGH vertritt nun grundsätzlich eine sehr scharfe Haltung zur Frage, inwieweit seine Judikatur auch dann zurückwirkt, wenn die Rechtslage eher unklar ist.
114 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91 Katsikas u.a. ./. Konstantinidis u.a., Slg. 1992, I-6577. 115 Z.B. Art. 2 Abs. 2 2. Spst. der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 idF RL 2002/73.
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Er hat diese Haltung auch bei den Betriebspensionen grundsätzlich vertreten.116 Die Judikatur zum Verbot der mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere von teilzeitbeschäftigten Frauen, wirkt daher bereits seit jenem Zeitpunkt, zu dem der EuGH erstmals die unmittelbare Wirkung des Art. 119 EGV im Arbeitsverhältnis und dessen Anwendbarkeit auf Betriebspensionen ausgesprochen hat, also seit 1976 – auch wenn der EuGH das Verbot der mittelbaren Diskriminierung erst später konkret angewendet hat. Der EuGH kümmert sich hier wenig um die methodische Frage, ob es nicht Gründe gegen diese Rückwirkung gibt, zumal die Rückwirkung für die Durchsetzung in der Zukunft nicht notwendig ist. Der EuGH begrenzt die Rückwirkung vielmehr nur dann, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber selbst den Eindruck erweckt hat, daß eine Diskriminierung auch den privaten Arbeitgebern erlaubt sei, nämlich beim Anfallsalter der Betriebspensionen. Vertrauensschutz wird also nur bei Maßnahmen des Gesetzgebers gewährt.117 11.
Rechtsfortbildung
Wie erwähnt haben häufig arbeitsrechtliche Fälle dem EuGH den Anlaß für entscheidende Schritte bei der Ausdehnung/Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts gegeben, die man nur mehr als Rechtsfortbildung einordnen kann.118 Am Anfang war es insbesondere das Verbot der Entgeltdiskriminierung des alten Art. 119 EGV. 1976 hat die Entscheidung Defrenne II die unmittelbare Anwendung zwischen Privaten bejaht.119 Begründet wurde dies vergleichsweise wenig und nur mit Argumenten, welche die Mitgliedstaaten betreffen; auf die Pflichten, die sich daraus für Private ergeben, geht die Entscheidung mit keinem Wort ein. Sie spricht auch schon von den mittelbaren Diskriminierungen, verweist dafür aber noch auf nationale Vorschriften. 1981 wurde dann auch das Verbot der mittelbaren Diskriminierung als unmittelbar anwendbar angesehen, ohne Anhaltspunkt im Normtext.120 Auch die Begründung entspricht bei weitem nicht jenen methodischen Anforderungen, die in vielen Rechtsordnungen gestellt werden. 1986 wurde dann für die Gleichbehandlungsrichtlinie erstmals die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat bejaht.121 Ebenfalls 1986 wurde erstmals gesagt, daß eine mittelbare Diskriminierung nur zulässig ist, wenn die vom Arbeitgeber „gewählten Mittel einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.“ 122 Damit hat der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in das
116 Vgl. z.B. EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-57/93 Vroege ./. NCIV, Slg. 1994, I-4541. 117 Vgl. Blomeyer, NZA 1995, 49 ff.; ders., NZA-RR 1999, 337 f. 118 Umstritten ist allerdings schon die Grenze, ab der Rechtsfortbildung vorliegt. Vgl. z.B. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 277 ff., der die Grenze eher spät zieht. 119 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne ./. SABENA, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. (Defrenne II). 120 EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins ./. Kingsgate, Slg. 1981, 911 Rn. 17 f.; vgl. auch EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 Macarthys ./. Smith, Slg. 1980, 1275; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham and Humphreys ./. Lloyds Bank, Slg. 1981, 767. 121 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall ./. Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723 Rn. 48 f. (Marshall I). 122 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka ./. Weber von Hartz, Slg. 1986, 1607 Rn. 36. Robert Rebhahn
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Arbeitsrechtsverhältnis eingeführt. Er hatte dafür zwar Vorbilder bei den Grundfreiheiten, die Geltung des Grundsatzes zwischen Privaten ist aber doch eine andere Dimension. 1991 hat die Entscheidung Francovich an der Insolvenzschutzrichtlinie die Haftung der Mitgliedstaaten für eine fehlerhafte Ausführung von Richtlinien begründet.123 2004 schließlich hat die Entscheidung Pfeiffer die Anforderungen an die richtlinienkonforme Interpretation nach Ansicht vieler entscheidend erhöht.124 Damit wurde der Unterschied zwischen Richtlinie und Verordnung weiter eingeebnet, weil sich Richtlinien nun im Ergebnis auch an Private wenden. In all diesen Entscheidungen begnügt sich der EuGH zum wesentlichen Punkt letztlich mit der folgenden Aussage: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Näher kann auf diese allgemeinen Fragen hier nicht eingegangen werden.125
III. Ausgewählte Entscheidungen und Fragen 1.
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Begriff des Arbeitnehmers
Ausgangspunkt der arbeitsrechtlichen Normen der EG ist der Begriff Arbeitnehmer. Das Primärrecht verwendet ihn vor allem in Art. 39 EG zur Freizügigkeit, in Art. 137 EG zur Kompetenz der Gemeinschaft, und in Art. 141 EG zum Diskriminierungsverbot. Die Judikatur hatte sich lange nur mit der Freizügigkeit zu befassen, und diesen Begriff eher traditionell ausgelegt.126 Dabei konnte und mußte sie den systematischen Zusammenhang mit den Grundfreiheiten der Selbständigen beachten; eine Tätigkeit konnte nur entweder unter die Arbeitnehmer- oder unter die Niederlassungsfreiheit fallen. Bei Art. 137 EG und Art. 141 EG fehlt diese Beschränkung durch systematische Interpretation.127 In der ersten Entscheidung, in der es zentral um den Arbeitnehmerbegriff des Art. 141 EG ging, der Entscheidung Allonby aus 2004, geht der EuGH zwar davon aus, daß das Gemeinschaftsrecht keinen einheitlichen Begriff des Arbeitnehmers kennt.128 Gleichwohl hat er die Rechtsprechung zu Art. 39 EG im wesentlichen auf Art. 141 EG übertragen und setzt sich mit dem Vortrag der Kommission, daß man bei Art. 141 EG den Begriff der Arbeitnehmer weiter
123 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci ./. Italien, Slg. 1991, I-5357 (Francovich I). Die Rechtsfortbildung lag hier darin, daß nationale Parlamente als Vollzugsorgane angesehen werden. 124 EuGH v. 5. 10. 2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. 125 Verteidiger des EuGH bieten dafür regelmäßig verschiedene „Erklärungen“ an, wie Arbeitslast, schwierige Entscheidungsbedingungen und Zwang eines Kollegialorgans; z.B. O’Leary, Employment Law, S. 25 ff. mwN. Diese Umstände mögen Ursachen sein, ändern aber nichts am Defizit. Noch weniger tauglich zur Rechtfertigung ist der Hinweis, der EuGH habe sich dem französischen Stil angeschlossen (z.B. Joussen, Auslegung, S. 54.), weil der EuGH eben kein nationales Gericht ist und sich die Gemeinschaft nicht mit dem abspeisen lassen muß, was in manchen Ländern ausreicht. 126 Vgl. z.B. Wank, in: Hanau/Steinmeyer/Wank, § 14 Rn. 3 ff. 127 Vgl. Rebhahn-Schwarze, Art. 136 EGV Rn. 22. 128 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, Slg. 2004, I-873 Rn. 62 ff.
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verstehen könne, nicht wirklich auseinander. Den Begriff des Arbeitnehmers versteht er als typologischen Begriff, bei dem es im wesentlichen auf die persönliche Unterordnung, und nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit ankommt. Dies entspricht zwar dem Verständnis der meisten Mitgliedstaaten,129 allerdings läßt der EuGH hier jene Orientierung am effet utile und ähnlichem vermissen, die ihn ansonsten angeblich so auszeichnet. Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts könnten grundsätzlich auch Personen sein, die nach nationalem Recht nicht Arbeitnehmer sind. Wohl aus diesem Grund verwenden viele arbeitsrechtlichen Richtlinien aber keinen einheitlichen Begriff der Arbeitnehmer, sondern wollen nur auf jene Personen Anwendung finden, welche nach nationalem Recht Arbeitnehmer sind. Die Entscheidung, ob eine Richtlinie einen einheitlichen Begriff verwendet oder auf die nationalen Begriffe verweist, erfolgte primär nach dem Wortlaut und subsidiär nach dem Regelungszweck.130 Neuere Richtlinien verbieten allenfalls zusätzlich, die Arbeitnehmereigenschaft aus bestimmten Gründen zu verneinen.131 Das führt zu dem seltsamen Ergebnis, daß das Gemeinschaftsrecht für dasselbe wirtschaftliche Phänomen in manchen Staaten gilt, in anderen nicht. Und die Bedeutung dieser Unterschiede wächst mit der Zahl der Fälle im Bereich zwischen eindeutiger Unselbständigkeit und eindeutiger Selbständigkeit. Inhaltlich halte ich diesen national unterschiedlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts für fragwürdig.132 2.
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Verbot der Diskriminierung
Gerade bei den Verboten der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hat der EuGH in wichtigen Fragen wohl die Grenzen dessen überschritten, was in Deutschland und Österreich als Aufgabe der Rechtsprechung angesehen würde; darauf wurde bereits hingewiesen (vgl. insbesondere Rn. 3, 53). Hier soll nur auf drei weitere Fragen hingewiesen werden. Zentral für Art. 141 EG ist auch der Begriff des Entgelts. Der EuGH interpretiert hier Entgelt sehr weit und schließt jede Zuwendung ein, die ihre Ursache im Arbeitsverhältnis hat. Ob auch das nationale Arbeitsrecht einen Vorteil als Entgelt ansieht, oder im Gegenteil als entgeltfremden Vorteil, spiele keine Rolle. Die Diskussion um die Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsratsmitglieder hat dies deutlich gezeigt.133 Die weite Auslegung kann sich auf den Wortlaut des
129 Vgl. z.B. Supiot (Hrsg.), Au-delà de l’emploi, S. 36 ff. 130 Vgl. z.B EuGH – Rs. C-105/84 V. 11.7.1985 Foreningen af arbejdsledere i Danmark ./. Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639; EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035; Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 23 ff. 131 Vgl. ausführlich Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 200 ff. 132 So kann z.B. die Betriebsübergangs-RL bei Privatisierung auf Beschäftigte mit öffentlichrechtlichem Dienstverhältnis unanwendbar sein; vgl. GA Maduro v. 27.1.2005 zur Rs. C-478/03 Celtec, Slg. 2005, I-4389 Tz. 16 f. 133 Vgl. EuGH v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90 Arbeiterwohlfahrt der Stadt Berlin ./. Bötel, Slg. 1992, I-3589 und EuGH v. 6.2.1996 – Rs. C-457/93 Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation ./. Lewark, Slg. 1996, I-243 und dazu z.B. Kaiser NZA 2000, 1144, 1146 f. mwN. Robert Rebhahn
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EG-Vertrags stützen, der schon früher in Art. 119 „aufgrund des Dienstverhältnisses“ sagte. Überdies führt der EuGH für die weite Auslegung wiederholt auch den Zweck an. Methodisch ist die weite Auslegung des EuGH grundsätzlich überzeugend; die konkrete Entscheidung zu den Betriebsratsmitgliedern soll hier nicht beurteilt werden.
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Ein zunehmend aktuelles Problem zum Inhalt des Verbotes stellt der Satz dar, daß die Diskriminierungsverbote nur gelten, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage befinden. Differenziert eine Regelung direkt nach einem mißbilligten Kriterium, etwa zwischen Frauen und Männern, so läßt sich mit der Behauptung, es liege gar keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Denn eine unmittelbare Diskriminierung kann in der Regel nicht gerechtfertigt werden. Der Ausgangssatz ist kaum angreifbar, weil jede Anwendung des Gleichheitssatzes voraussetzt, daß vergleichbare Lagen vorliegen. Der EuGH verwendet die genannte Behauptung aber zunehmend. So hat sich zum Fall Hlozek, es ging um Sozialplanzahlungen,134 Generalanwältin Kokott bemüht darzutun, daß die Lagen vergleichbar sind, der EuGH hat mit wenigen Absätzen anders befunden, ohne sich mit den Ausführungen der Generalanwältin auseinanderzusetzen. Meist wird mit dem Argument der nicht vergleichbaren Lage einer nachprüfbaren Diskussion ausgewichen. Es wäre besser, statt dessen auch bei unmittelbarer Diskriminierung eine Rechtfertigung potentiell zuzulassen, und diese dafür streng zu handhaben. Als Konkretisierung der vergleichbaren Lage kann man ansehen, daß das Diskriminierungsverbot nur für Regelungen anwendbar ist, die von derselben Quelle stammen.135 Dies erlaubt auch unterschiedliche Marktergebnisse auf unterschiedlichen Teilmärkten; dies wiederum berücksichtigt systematische und teleologische Aspekte bei der Anwendung des Verbotes.
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Besondere Probleme haben Reaktionen der Arbeitgeber auf die Schwangerschaft bereitet. Der EuGH hat sich hier für die Einordnung einer Benachteiligung als direkte Diskriminierung entschieden.136 Gründe dafür waren wohl der damals nur rudimentäre Normenbestand sowie das Streben nach besonders gutem Schutz. Er hat dabei wirtschaftliche Überlegungen zu den Kosten für die Arbeitgeber so wie sonst bei Diskriminierungen weitgehend nicht beachtet. In einem Teilbereich dürfte dieses Kostenargument aber doch eine – wenn auch nicht offen gelegte – Rolle gespielt haben, und zwar bei den Zahlungen während des Mutterschaftsurlaubes.137 Ähnlich dürfte es m.E. beim Schutz gegen eine Entlassung aufgrund schwangerschaftsbedingter Krankheit sein. Der EuGH hat diesen, ohne nähere Begründung, mit dem Ende des Mutterschaftsurlaubes enden lassen.138 Man wird dies am ehesten als (verdeckte)
134 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, Slg. 2004, I-11491 insb. Rn. 44 ff. 135 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence ./. Regent Office Care Ltd, Slg. 2002, I-7325 Rn. 18. 136 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 177/88 Elisabeth Dekker ./. Stichting Vormingscentrum voor jong Volwassenen, Slg. 1990, I-3941 Rn. 12 f. 137 Vgl. dazu O’Leary, Employment Law, 197 ff. 138 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. 179/88 Hertz, Slg. 1990, I-3979. Vgl. O’Leary, Employment Law, 193 ff.
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teleologische Interpretation deuten. Aus methodischer Sicht interessant ist die Korrektur in einem Teilbereich. Die 6. Kammer sah 1997 in der Begründung einer Entlassung mit Fehlzeiten aufgrund schwangerschaftsbedingter Krankheit vor Beginn des Mutterschaftsurlaubes keine Diskriminierung, das Plenum ein Jahr später sehr wohl eine Diskriminierung.139 Das Plenum argumentiert hier – vergleichsweise ausführlich – mit Wortlaut und Zweck der Richtlinie. Methodisch interessant sind auch die Entscheidungen zur erforderlichen Sanktion. In den Entscheidungen Dekker und Draehmpaehl wurde primär aus dem Wortlaut der Richtlinie abgeleitet, daß es nicht auf Verschulden oder Rechtfertigungsgründe ankommen darf, weil die Richtlinie eine solche Einschränkung nicht vorsieht. Überdies wird gesagt, daß andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wäre.140 Das überzeugt in der Sache jedenfalls dort, wo der Arbeitgeber die Diskriminierung noch in der Zukunft beheben kann sowie in jenen Fällen, in denen die Diskriminierung durch Nachzahlung des Vorenthaltenen beseitigt werden kann. Bei weitergehenden Ersatzansprüchen ist die Lage hingegen fraglicher, auch weil der Mitgliedstaat damals auch eine rein öffentlichrechtliche Strafsanktion hätte wählen können, und diese schon wegen der EMRK wohl nur bei Verschulden verhängt werden kann. Der EuGH hätte sein Ergebnis also wohl besser begründen sollen. Heute verlangen die Richtlinien nur bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes ausdrücklich einen verschuldensunabhängigen Ersatzanspruch, während die Antidiskriminierungsrichtlinie141 nur abschreckende Sanktionen verlangt. Man steht dann vor der Frage, ob aus dem Vergleich sachlich verwandter Richtlinien ein Analogie- oder ein Gegenschluß gezogen werden kann.142 3.
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Grundfreiheiten und Arbeitsrecht
Die arbeitsrechtlichen Vorschriften stehen zuweilen in engem Zusammenhang mit anderen Teilgebieten des Gemeinschaftsrechts. Dies gilt vor allem für die Grundfreiheiten. Zuweilen wurde vorgetragen, daß arbeitsrechtliche Vorschriften, welche die Betriebstreue belohnen, die Freizügigkeit behindern. Der EuGH hat hier den Eigenwert der arbeitsrechtlichen Vorschriften berücksichtigt.143 Anders ist es bei den Entsendefällen.
139 EuGH v. 29.5.1997 – Rs. C-400/95 Helle Larsson ./. Føtex Supermarked A/S, Slg. 1997, I-2757; EuGH v. 30.6.1998 – Rs. C-394/96 Mary Brown ./. Rentokil, Slg. 1998, I-4185 Rn. 21 ff. 140 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88 Dekker ./. Stichting Vormingscentrum voor Jong Volwassenen, Slg. 1990, I-3941 Rn. 22; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl ./. Urania Immobilienservice, Slg. 1997, I-2195 Rn. 17 ff. 141 Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 Nr. L 303/16. 142 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 159 ff. und Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 68 ff. nehmen dazu nicht Stellung. 143 Z.B. EuGH v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 24 f. Robert Rebhahn
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Bei Entsendungen von Arbeitnehmern über die Grenze darf der Dienstleistungsverkehr nur durch Regelungen beschränkt werden, die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind, soweit dieses Interesse nicht bereits durch die Vorschriften des Herkunftsstaates geschützt wird. Zu den vom EuGH anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört auch der Schutz der Arbeitnehmer.144 Fraglich war allerdings, welche Arbeitnehmer bei Entsendungen geschützt werden dürfen – nur die Entsendeten oder auch die Arbeitnehmer in jenem Gebiet, in das entsendet wird. In der Entscheidung Finalarte aus 2001 hat der EuGH erstmals deutlich ausgeführt, das vorlegende Gericht müsse „prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer fördert.“ Er lehnt zwar den Schutz der inländischen Arbeitnehmer als Rechtfertigungsgrund nicht ausdrücklich ab, sagt aber sehr wohl, daß Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs nicht durch den Schutz der inländischen Unternehmen gerechtfertigt werden können.145 Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts werden die inländischen Arbeitnehmer so zu unselbständigen Bestandteilen der inländischen Unternehmen. Sie sind der 5. Kammer des EuGH keine Ausführungen wert. Der Schutz einer nationalen Arbeitsrechtsordnung ist kein legitimes Ziel. 1974 hat der EuGH noch anders entschieden: Die in Art. 39 Abs. 2 EG ausgesprochene Pflicht, die „freizügigen“ Arbeitnehmer bei den Arbeitsbedingungen mit den heimischen Arbeitnehmer gleichzubehandeln, diene auch dem Schutz der inländischen Arbeitnehmer.146 Allerdings läßt der EuGH es ausreichen, wenn das nationale Recht die entsendeten Arbeitnehmer faktisch schützt, etwa durch einen Mindestlohn, auch wenn dies die Entsendung weniger wahrscheinlich macht.147 Und Ende 2004 hat der EuGH nun erkannt, daß die Einhaltung eines Mindestlohnes neben dem Schutz der entsendeten Arbeitnehmer auch dem Schutz des fairen Wettbewerbes dienen kann.148 Wie gesagt hat der EuGH bald Gelegenheit, sich zur Frage zu äußern, inwieweit nationale Regelungen, die einen Streik zulassen, die Dienstleistungsfreiheit verletzen können (vgl Rn. 46). Methodisch geht es in all diesen Fällen um die legitimen Gründe, eine Grundfreiheit zu beschränken und in der Folge um die Verhältnismäßigkeit. Die traditionellen Fragen und Mittel der Auslegung können primär bei der erstgenannten Frage relevant sein.
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In der Sache geht es hier um das Grundproblem, daß der EG-Vertrag noch immer keine umfassende Grundlage für eine rechtliche Organisation der Unionsbürger ist. Er konzentriert sich noch immer auf wirtschaftliche Fragen, und regelt damit nur
144 Vgl. Insb. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 Arblade, Slg. 1999, I-8453 Rn. 36; EuGH v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98 Mazzoleni und ISA, Slg. 2001, I-2189 Rn. 27 ff.; EuGH v. 25.10. 2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f. Vgl. zur Entsendproblematik z.B. Junker, JZ 2005, 481 ff. 145 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f. 146 EuGH v. 4.4.1974 – Rs. 167/73 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1974, 359. 147 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 Portugaia Construções, Slg. 2002, I-787. 148 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 Wolff & Müller, Slg. I-9553 Rn. 42. Vgl. nun auch EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2005 I-2733.
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einen Teil des Ganzen.149 Auch die Überführung in die Verfassung würde daran nichts ändern. Soziale Ziele sind nach wir vor nur ungeschriebene Rechtfertigungsgründe und daher von vorneherein in der schwächeren Position. Methodisch bemerkenswert ist auch, daß der EuGH in der Entscheidung Finalarte inhaltlich überhaupt nicht auf die Entsenderichtlinie eingeht, die zwar auf den Sachverhalt nicht anwendbar war, aber doch schon seit 1996 vorlag. 4.
Individualarbeitsrecht: Arbeitszeit, Betriebsübergang, Nachweis
Auf die Interpretation der Begriffe „Entgelt“ und „Entlassung“ wurde bereits eingegangen. Ein weiterer Zentralbegriff ist die Arbeitszeit. Das Gemeinschaftsrecht verwendet ihn in der Arbeitszeitrichtlinie. Der EuGH hatte erstmals 2000 darüber zu entscheiden, inwieweit Bereitschaftszeiten, während derer die Arbeitnehmer am Arbeitsort nur anwesend zu sein haben (aber auch schlafen können), unter Arbeitszeit fallen.150 Bei der Verabschiedung der Richtlinie 1989 ist man politisch wohl davon ausgegangen, daß diese Arbeitsbereitschaft nicht zur Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie zählt.151 Der Wortlaut des zentralen Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie ist zwar nicht eindeutig, er spricht aber für eine restriktive Interpretation.152 Der EuGH kommt in der Entscheidung Simap hingegen in bloß sechs Sätzen zum gegenteiligen Ergebnis. Er argumentiert kaum zum Wortlaut, sondern behauptet nur, daß die Bereitschaftszeiten die charakteristischen Merkmale der Arbeitszeit aufweisen und das weite Verständnis dem Ziel der Richtlinie entspreche. Methodisch ist die Begründung des EuGH äußerst dünn. Die Entscheidung Simap wurde in mehreren Mitgliedstaaten heftig kritisiert, auch in Deutschland.153 Obwohl sie eine Entscheidung des Plenums war, wurde auch die nächste einschlägige Vorlage – der deutsche Fall Jaeger – im Plenum behandelt. Die Begründung ist eindeutig ausführlicher als in Simap.154 Das stärkste Argument wird aber auch hier kaum entwickelt, nämlich der Zusammenhang mit der Ruhezeit; allerdings hätte dann geprüft werden müssen, ob es nicht auch möglich gewesen wäre, Bereitschaftsdienst weder als Arbeitszeit noch als Ruhezeit zu qualifizieren. Keine der Entscheidungen schöpft also die Möglichkeiten der Argumentation
149 Vgl. dazu z.B. Supiot, Critique du Droit du travail, Préface, XXII; Birk, in: Richardi/ Wlotzke (Hrsg.), Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, § 18 Rn. 4 ff. 150 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 47–49; seither einige andere Entscheidungen. Vgl. zum Problem Kreft, Grundfragen von Arbeitszeitdauerregulierungen, S. 138 ff. 151 Vgl. GA Saggio, Schlußanträge v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 33. 152 Dies sagt auch GA Saggio, Schlußanträge v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 34–36, der für das Einbeziehen plädiert. 153 Allerdings hatte sich die deutsche Regierung gar nicht am Verfahren beteiligt – man hat wohl die Bedeutung des Verfahrens nicht erkannt. 154 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 58–67. Dazu mag auch der Wechsel des Berichterstatters beigetragen von Moitinho de Almeida zu Schintgen beigetragen haben, der allerdings schon deshalb notwendig war, weil der Erstgenannte nicht mehr Richter war. Robert Rebhahn
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aus, sondern begnügt sich mit jenen Erwägungen, die am besten geeignet scheinen, das gefundene (und wohl gewünschte) Ergebnis zu stützen.
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Die Betriebsübergangsrichtlinie knüpft ihre Rechtsfolgen an den Übergang eines Betriebs oder Betriebsteiles. Der EuGH hatte und hat die größten Schwierigkeiten mit diesem Tatbestand. Erinnert sei nur an die Entscheidungen Schmidt und Süzen.155 Die Entscheidung Süzen korrigiert die Entscheidung Schmidt im entscheidenden Punkt, nämlich daß allein der Übergang des Dienstleistungsauftrags zum Betriebsübergang führt.156 Methodisch fällt allerdings auf, daß die Entscheidung Süzen die Änderung der Rechtssprechung nicht offenlegt und sich auch nicht mit der Entscheidung Schmidt auseinandersetzt. In der Sache hatte sich der EuGH schon vor der Entscheidung Schmidt vom Wortlaut der ursprünglichen Richtlinie weit entfernt und gesagt, diese finde auf den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit Anwendung, und diesen Begriff dann als typologischen entfaltet, bei dem mehrere Elemente in einer Zusammenschau zu würdigen sind.157 Der EuGH nahm für dieses Verständnis wohl die Orientierung am Zweck der Richtlinie in Anspruch, allerdings ist gerade hier der Zweck fraglich: geht es um den Schutz der Arbeitnehmer oder um die Gleichheit der Investitionsbedingungen oder um das Interesse des Arbeitgebers, eine lebende Einheit übertragen zu können.158 Dieses Problem wird bei der Darstellung der Richtlinie jedoch nur selten offen angesprochen; die zentrale Entscheidung Spijkers, auf der alle Folgeentscheidungen aufbauen, stellt in einem Satz die „soziale Zielsetzung“ der Richtlinie in den Vordergrund.159 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat die Auslegung des EuGH in die Neufassung durch die Richtlinie 98/50/EG ausdrücklich aufgenommen, allerdings neben dem alten Text. Die neue Fassung könnte – falls man den Normtext heranzieht – Probleme aufwerfen, weil der neue Tatbestand nur vorbehaltlich des alten gelten soll.160 Auch in der neueren Judikatur steht wohl der soziale Zweck im Vordergrund, weil der EuGH die Arbeitsverhältnisse auch bei der Neuausschreibung eines Dienstleistungsauftrages übergehen läßt, wenn Aufgabe (Kunden)
155 EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Schmidt ./. Spar- und Leihkasse der früheren Ämter Bordesholm, Kiel und Cronshagen, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95, Süzen ./. Zehnacker Gebäudereinigung Krankenhausservice, Slg. 1997, I-1259 Rn. 16 ff. 156 Im Sachverhalt der Entscheidung Schmidt hat der neue Auftragnehmer nämlich der Arbeitnehmerin die Übernahme nur angeboten, diese hat sie aber abgelehnt, so daß die „Hauptbelegschaft“ rechtlich nicht übernommen wurde. Hätte Frau Schmidt das Angebot mit den schlechteren Arbeitsbedingungen akzeptiert und sich dann auf die Rechte bei Betriebsübergang berufen, so wäre auch nach den Kriterien der Entscheidung Süzen ein Betriebsübergang vorgelegen. 157 Vgl. insb. EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 12 f. 158 Die RL wurde nicht mit dem Schutz der Arbeitnehmer sondern mit der Beeinträchtigung des Binnenmarktes durch Unterschiede in der Rechtslage begründet. Vgl. auch Bercusson, European Labour Law (1196), S. 234 ff. 159 EuGH v. 18.3.1986 – Rs. 24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 10 f. 160 In der ersten Entscheidung zur neuen Fassung hat er keine Probleme der Vereinbarkeit gesehene; EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 Nurten Güney-Görres u.a. ./. Securicor Aviation Ltd u.a., Slg. 2005, I-11237 Rn. 30.
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sowie sachliche Betriebsmittel übergehen.161 Allerdings kann dieser weite Anwendungsbereich mit dem genannten Zweck in Konflikt geraten, falls der Arbeitgeber den Übergang einsetzt, um Arbeitnehmer einfacher und billiger „loszuwerden“ (etwa durch Übergang auf eine GmbH, die nach einiger Zeit den Betrieb einstellt). Man wird sehen, ob der EuGH nationale Regelungen akzeptiert, welche den Betriebsübergang in solchen Fällen ausschließen wollen.162 Die Nachweisrichtlinie verpflichtet den Arbeitgeber zu einer Mitteilung an den Arbeitnehmer über Arbeitsbedingungen. Praktisch relevant ist, welcher Beweiswert der Mitteilung zukommt. Nach Art. 6 der Richtlinie berührt diese an sich nicht die nationalen Beweislastregeln. Gleichwohl hat der EuGH zuerst dargelegt, der Zweck der Richtlinie verlange, daß die Mitteilung eine gewisse Beweiskraft habe, die der Arbeitgeber – nur – durch den Beweis des Gegenteils entkräften könne.163 In der Entscheidung Lange hat er hingegen wieder mehr den Wortlaut des Art. 6 in den Vordergrund gerückt und gesagt, daß sich die Folgen einer fehlenden Mitteilung allein nach nationalem Recht richten – obwohl der Regelungszweck mehr rechtfertigen könnte.164 5.
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Kollektives Arbeitsrecht und Mitwirkung der Sozialpartner
Zum Kollektiven Arbeitsrecht gibt es nur wenige Richtlinien. Auf jene zum Betriebsrat wurde bereits eingegangen. Schwierige Auslegungsprobleme wird die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer aufwerfen. Zum einen ist es bei allen Informationspflichten schwer, das geschuldete Ausmaß an Information zu bestimmen. Darüber hinaus verlangt die Richtlinie „Sanktionen, die wirksam, angemessen und abschreckend“ sind (Art. 8 Abs. 2). Die Kommission hatte viel schärfere Formulierungen vorgeschlagen, die bei Nichtunterrichtung über die geplante Schließung eines Betriebes auch dessen Wiedereröffnung oder doch die finanzielle Abgeltung für das Nichtwiedereröffnen eingeschlossen hätten.165 Die Diskussion darüber hat die Verabschiedung der Richtlinie um Jahre verschoben. Methodisch käme in Betracht aus dem Gesetzgebungsverfahren zu schließen, daß die Richtlinie nun nicht so scharfe Sanktionen verlangt. Es ist aber fraglich, ob der EuGH solche Schlüsse zieht.166
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Für das – kollektive – Arbeitsrecht ist die Mitwirkung der Sozialpartner charakteristisch, und auch diese kann spezifische Methodenprobleme aufwerfen. Auf Gemeinschaftsebene können die Sozialpartner an der Rechtssetzung der Gemeinschaft
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161 Vgl. bereits bei Rn. 42. 162 In manchen Fällen könnte der EuGH dies durch ein Abstellen auf den Wortlaut der neuen Richtlinie berücksichtigen, die verlangt daß die Einheit ihre Identität bewahrt, also schon vor dem Übergang eine Einheit mit Identität war. 163 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 29 ff. 164 EuGH v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99 Lange, Slg. 2001, I-1061 Rn. 32 f. 165 Vgl. KOM/98/0612, ABl. 1999 C 2, S 3 und dort Art. 7 Abs. 3. 166 Vgl. dazu Riesenhuber, § 11 Rn. 28; sowie Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 64 ff., S. 258 ff. zum genetischen Argument. Robert Rebhahn
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beteiligt sein, indem ein von den Europäischen Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarung vom Gemeinschaftsgesetzgeber beschlossen und damit übernommen wird. In der Folge findet sich der eigentliche Normtext – die Vereinbarung der Sozialpartner – als Anhang zu einer Richtlinie des Rates und des Parlamentes. Das kann zur Frage führen, wessen Vorstellungen bei einer historischen Interpretation mehr zählen, die der Gemeinschaft oder jene der Sozialpartner. Da der EuGH aber ohnehin kaum nachprüfbar historisch interpretiert,167 spielt dies praktisch keine große Rolle. Störender ist schon die Verdoppelung der Erwägungsgründe, welche zu den mit diesen verbundenen Problemen noch zusätzlich beitragen.
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Auf der Ebene der Mitgliedstaaten können die Vorschriften des Gemeinschaftsrechtes auch für Kollektive Verträge gelten. Das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht hat Vorrang vor einem Kollektivvertrag, der – wie in den meisten Mitgliedstaaten – aufgrund staatlicher Ermächtigung Normwirkung entfaltet. Unbestritten ist dies für das Diskriminierungsverbot des Art. 141 EG in Bezug auf das Entgelt. Fraglich kann nur die Sanktion sein. Aber auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit darf durch Kollektive Verträge nicht beschränkt werden, auch nicht für Fußballer.168 Richtlinien wirken sich auf normativ wirkende Kollektivverträge sicher nicht stärker aus als auf Gesetze. So wie diese werden sie so weit wie möglich gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren sein, wenn und weil es sich um Normenverträge handelt.169 Im übrigen hängt die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen die Richtlinie primär vom nationalen Recht ab (Nichtigkeit mit Anpassung oder nicht). Schließlich können die Mitgliedstaaten die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts auch den Sozialpartnern anvertrauen. Auch das kann Methodenfragen aufwerfen, etwa inwieweit dann das staatliche Recht zur systematischen Interpretation heranzuziehen ist. 6.
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Unmittelbare Wirkung von Richtlinien
Die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie kommt jedenfalls im Verhältnis zum Staat in Betracht, auch wenn dieser nicht als Hoheitsträger, sondern als Arbeitgeber auftritt.170 Für die Zurechnung einer juristischen Person zum Staat hat der EuGH eine Formel entwickelt, die zwar eher weit ist, aber in vielen Fällen keine klaren Schlüsse erlaubt.171 Die genauen Kriterien blieben bisher eher im Dunkeln. Der EuGH hat die Formel offenbar nach reinen Zwecküberlegungen gebildet; eine methodische Begründung ist nicht ersichtlich. Die allgemeine Formel ist auch zum Arbeits-
167 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 256 ff. 168 Vgl. zu Art. 141 z.B. EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; zur Freizügigkeit EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921. 169 Vgl. in diesem Sinn z.B. Löwisch/Rieble, TVG (2. Aufl. 2004), § 1 TVG Rn. 414. 170 So z.B. zur Gleichbehandlungsrichtlinie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 46 ff. (Marshall I); EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster u.a. ./. British Gas, Slg. 1990, I-3313; EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 Marshall, Slg.1993, I-4367 Rn. 21 (Marshall II); EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 71. 171 EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster u.a. ./. British Gas, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18–20; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 46. Vgl. allgemein Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht.
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recht maßgebend. Im Verhältnis zu anderen Arbeitgebern, die also dem Staat nicht zurechenbar sind, sind Richtlinien nach der wohl noch h.M. hingegen nicht unmittelbar anwendbar – jedenfalls dann, wenn der Private dadurch verpflichtet würde.172 Das führt gerade im Arbeitsrecht zu unerfreulichen Diskrepanzen, weil der Staat und seine Trabanten viele Arbeitnehmer beschäftigen. Wird eine Richtlinie für beide Bereiche nicht ausgeführt, so können sich nur die Arbeitnehmer des Staates auf die Richtlinie berufen, nicht aber jene der Privatwirtschaft. Diese sehen darin eine erneute Bevorzugung der Staatsbediensteten, obwohl die dogmatische Begründung für die Unterscheidung gerade den Staat treffen und benachteiligen will. In der Entscheidung Pfeiffer zur Arbeitszeitrichtlinie sehen viele eine Tendenzwende.173 Fraglich war, ob sich ein Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber unmittelbar auf die Beschränkung der wöchentlichen Arbeitszeit mit 48 Stunden berufen kann, wenn das nationale Recht – hier aufgrund des Tarifvertrages – längere Arbeitszeiten zuläßt. Aus arbeitsrechtlicher Sicht ist anzumerken, daß der EuGH in Rn. 82 zwar von einem dem Arbeitnehmer „unmittelbar durch die Richtlinie eingeräumte(n) soziale(n) Recht“ spricht, in der Folge aber die unmittelbare Anwendbarkeit prüft. Offenbar steht die Einräumung des Rechts unter dem Vorbehalt der unmittelbaren Anwendbarkeit.
IV.
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Richter und Urteilsstile 174
Ausgangspunkt der nachfolgenden Darstellung war die Frage, ob arbeitsrechtliche Fälle den Kammern ohne erkennbare Geschäftsverteilung zur Entscheidung zugewiesen werden, oder ob eine gezielte Zuweisung in dem Sinne erfolgt, daß bestimmte Kammern bzw. Richter regelmäßig einschlägige Fälle bearbeiten und damit eventuell unterschiedliche Urteilsstile verortet werden können. Dies könnte zu einer Spezialisierung führen.175 Zu diesem Zwecke wurde die Verteilung in Arbeitsrechtssachen bei Vorabentscheidungsverfahren gem Art. 234 EGV in den Jahren 1999 bis April 2006 betrachtet. Es stellte sich heraus, daß zumindest bis zur EU-Osterweitung im Mai 2004 die Geschäftsverteilung systematisch erfolgte, danach ist das Bild weniger eindeutig.
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Weiters war zu fragen, ob auch die Berichterstatter gezielt eingesetzt werden. Die Berichterstatter üben wohl de facto idR den größeren Einfluß auf das Urteil und dessen Formulierung und Begründung aus. Im Berichtszeitraum waren bei den ca. 70 arbeitsrechtlichen Urteilen einige wenige Richter überdurchschnittlich häufig Berichterstatter.
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172 Vgl. z.B. Schroeder-Streinz, Art. 249 EGV Rn. 116. 173 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 102 ff. Vgl. aus arbeitsrechtlicher Sicht z.B. Schlachter, RdA 2005, 115 ff. 174 Dieser Abschnitt wurde v.a. von Mag. M. Reiner konzipiert; eine erweiterte Fassung soll als selbständiger, erweiterter Aufsatz erscheinen. 175 Allerdings stellte sich heraus, daß es zweckmäßiger ist, weniger die Kammern, sondern die einzelnen Richter zu betrachten, denn erstens ändert sich die Zusammensetzung der Kammern und zweitens sind Wissensträger ja immer konkrete Personen. Robert Rebhahn
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Es handelt sich um die Richter J. P. Puissochet (zwölf Urteile 176), R. Schingten (neun Urteile), N. Colneric (neun Urteile), P. J. C. Kapteyn (neun Urteile) und F. Macken (sieben Urteile). Die folgende Darstellung folgt den Urteils- und Argumentationselementen. Allgemeine Aussagen, wie daß die Wortlautinterpretation im Vergleich zu nationalen Rechtsordnungen regelmäßig hinter dem Möglichen zurückbleibt werden nicht wiederholt.
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Nicht selbstverständlich, aber für Verständnis und Akzeptanz des Urteils hilfreich, sind die Anführung und die Auseinandersetzung mit den abgegebenen Erklärungen. Während Macken 177 und v.a. Puissochet 178 die Erklärungen oft berücksichtigen, ist dies bei Kapteyn179 und v.a. Schingten sowie Colneric nicht der Fall. Auffallend sind auch die Unterschiede bei der Bezugnahme auf die Schlußanträge des Generalanwaltes. Nur Kapteyn 180 und v.a. Schingten berufen sich relativ oft auf den Generalanwalt, während die anderen drei kaum oder nie Bezug auf die Schlußanträge nehmen.181
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Bei allen Berichterstattern überwiegen die Verweise auf Vorjudikatur. Unterschiede existieren in der Quantität und Qualität dieser Bezugnahme. Kapteyn dürfte quantitativ die stärkste Bindung an die Vorjudikatur aufweisen und möglichst oft von dieser ausgehen; die anderen weniger oft. Qualitativ ist die Auseinandersetzung mit der Vorjudikatur bei Schingten bemerkenswert. Nicht selten wird die angeführte Rsp. zusätzlich erörtert182. Bei den anderen erfolgt eher ein pauschaler Verweis auf die Vorjudikatur.
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Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Wortlautinterpretation: Schingten analysiert den Wortlaut am genauesten 183. Puissochet 184, Colneric 185, Kapteyn 186 und Macken 187 vari-
176 Gemeint ist die Anzahl jener Urteile im Untersuchungszeitraum, wo der jeweilige Richter als Berichterstatter fungiert hat. 177 EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 38 ff., 54, 59; EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, Slg. 2001, I-2579 Rn. 26 f.; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-77/02 Steinicke, Slg. 2003, I-9027 Rn. 38 ff. 178 EuGH v. 11.5.1999 – Rs. C-309/97 Wiener Gebietskrankenkasse, Slg. 1999, I-2865 Rn.12 ff.; EuGH v. 26.10.1999 – Rs. C-273/97 Sirdar, Slg. 1999, I-7403 Rn. 12 ff.; EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Kreil, Slg. 2000, I-69 Rn. 11 ff.; EuGH v. 25.1.2001 – Rs. C-172/99 Oy Liikenne Ab, Slg. 2001, I-745 Rn. 16 ff. 179 EuGH v. 14.9.1999 – Rs. C-249/97 Gruber ./. Silhouette International, Slg. 1999, I-5295 Rn. 28 ff. 180 EuGH v. 28.3.2000 – Rs. C-158/97 Badeck, Slg. 2000, I-1875 Rn. 42, 60; EuGH v. 25.5. 2000 – Rs C-50/99 Podesta ./. CRICA u.a., Slg. 2000, I-4039 Rn. 34, 40; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 50. 181 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 53, 73; EuGH v. 30.3. 2000 – Rs. C-236/98 Jämställdhetsombudsmannen, Slg. 2000, I-12189 Rn. 53; EuGH v. 26.6. 2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 53 (BECTU); EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 56. 182 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253, Rn. 40 f., 48; EuGH v. 10.2. 2000 – Rs. C-234/96 und 235/96 Deutsche Telekom AG, Slg. 2000, I-929 Rn. 41; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 48. 183 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 42; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 50 ff., 71 f. 184 EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Kreil, Slg. 2000, I-69 Rn. 20.
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ieren kaum und bleiben meist an der Oberfläche. Kapteyn dürfte aufgrund seiner überwiegenden Heranziehung der Vorjudikatur seltener als die anderen den Wortlaut betrachten. Grundsätzlich ist aber die Wortlautinterpretation nach der Rechtsprechung das häufigste Argumentationselement. Kein einziger Richter zog in den untersuchten Urteilen verschiedene Sprachfassungen heran. Bei der teleologischen Auslegung bestehen zum Teil beträchtliche Unterschiede. Sehr viel Zweckinterpretation findet sich bei Schingten, viel bei Puissochet, Colneric und Macken, weniger bei Kapteyn. Die Anzahl und Art jener Bestimmungen, die zur Zweckherleitung genannt werden, differieren ebenfalls. Schingten ist am ausführlichsten 188 und zieht oft die Begründungserwägungen 189, teilweise die Primärrechtsgrundlage 190 und manchmal die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte 191 heran. Daraus ergibt sich, daß Schingten meist eine Art systematisch-teleologischer Auslegung praktiziert. Die anderen Richter greifen ohne Unterschied nicht in nennenswertem Umfang auf die Bewegungsgründe, die Primärrechtsgrundlage und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte zurück; auch werden selten mehrere Bestimmungen desselben Rechtsaktes zusammen betrachtet. Trotzdem ist Puissochet etwas ausführlicher als Colneric, Kapteyn und Macken.
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Auch die systematische Interpretation kommt oft vor, wobei hier Schingten 192 und Colneric 193 die qualitativen Möglichkeiten am besten ausschöpfen. Quantitativ dürften Kapteyn und Macken dies weniger tun.
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185 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence ./. Regent Office Care u.a., Slg. 2002, I-7325 Rn. 17; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-201/01 Walcher, Slg. 2003, I-8827 Rn. 31 ff.; EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-131/04 und C-257/04 Robinson Steele ./. Retail Services u.a., (noch nicht in Slg.) Rn. 50. 186 EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen ./. Denda, Slg. 1999, I-7243 Rn. 30 ff.; EuGH v. 25.5.2000 – Rs. C-50/99 Podesta ./. CRICA u.a., Slg. 2000, I-4039 Rn. 31 f. 187 EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, Slg. 2001, I-2579 Rn. 30 f., 35; EuGH v. 13.1. 2004 – Rs. C-440/00 Kühne & Nagel; Slg. 2004, I-787 Rn. 52. 188 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 38 ff.; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 36 ff. (BECTU); EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 45 f. 189 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 36 ff., 59 (BECTU); EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 45, 67; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 91. 190 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 39; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 45; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 76, 91, 110. 191 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 40; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 47; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 91. 192 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 39; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 40 f. (BECTU); EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 71 ff. 193 EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-342/01 Gomez ./. Continental Industrias, Slg. 2004, I-2605 Rn. 29 ff.; EuGH v. 16.12.2004 – Rs. C-520/03 Valero ./. Fogasa, Slg. 2004, I-12065 Rn. 32.
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Betrachtet man resümierend die Anzahl der Argumente die jeweils eine Lösung stützen und die Länge der Begründung, kann folgendes gesagt werden: Schingten begründet mit Abstand am ausführlichsten194 und führt regelmäßig mehrere Argumente an.195 Puissochet, Colneric, Kapteyn und Macken bleiben mit Unterschieden im Detail (siehe oben) deutlich dahinter zurück und begnügen sich mit vergleichsweise knappen Begründungen und selten mehreren Argumenten.
V.
Schlußbemerkungen
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Mehrere Entscheidungen des EuGH, die für die Methodenlehre zu Fragen des Privatrechts wichtig sind, betrafen arbeitsrechtliche Probleme. Ein Grund dafür dürfte sein, daß es schon sehr früh gerade zum Arbeitsrecht gemeinschaftsrechtliche Vorschriften gab, die Gelegenheit zu Vorlagen boten. Im übrigen stellen sich im Arbeitsrecht der Gemeinschaft keine grundsätzlich anderen Probleme als in anderen Rechtsbereichen. Dies gilt auch für die spezifischen Phänomene des Arbeitsrechts, wie die Kollektiven Verträge. Das Arbeitsrecht bietet aber reiches Anschauungsmaterial für die vielfältigen methodischen Fragen, die sich bei der Auslegung, Interpretation und Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Privatrechts stellen. Allerdings bleiben die Begründungen des EuGH (auch) im Arbeitsrecht hinter jenem Argumentationsniveau zurück, das in einigen Mitgliedstaaten bisher üblich war. Darüber hinaus gelingt dem EuGH meines Erachtens gerade in zentralen Fragen oft nicht, seine Auffassung so zu begründen, daß man seine Entscheidung als überzeugende Ableitung aus dem geltenden Recht (an)erkennen kann. Der Begründungsaufwand sollte vor allem auch der Bedeutung der Entscheidung angemessen sein. Bei den Urteilen des EuGH wird die Anzahl der Wörter aber nicht selten um so geringer, je wichtiger der Inhalt ist. Damit nähert sich der Inhalt der „Begründung“ aber zuweilen den Worten eines Autokraten: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Das beeinträchtigt die Legitimität der Judikatur.
77
Nur erwähnt sei, daß die Politik – einschließlich der Kommission – auf die Entscheidungen des EuGH unterschiedlich reagiert. Die Entwicklungen des EuGH zur mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts fanden ebenso Eingang in spätere Richtlinien wie jene zum Anwendungsbereich der Betriebsübergangsrichtlinie. Deut-
194 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 48; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 36 ff. (BECTU); EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 76 ff. 195 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 38 f., 46 f., 49; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67 iVm 74, 71 iVm 73; EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-234/96 u 235/96 Deutsche Telekom AG, Slg. 2000, I-929 Rn. 43 ff.; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen, Slg. 2001, I-4881 Rn. 36 ff. (BECTU); EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-391/99 Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961 Rn. 35 f.; 39 f.; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 76 ff.; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 97.
446
Robert Rebhahn
§ 18 Europäisches Arbeitsrecht
lich irritiert reagierte die Politik hingegen auf die Entscheidungen Schmidt und Kalanke. In beiden Fällen ruderte der EuGH zurück. Durch die Politik korrigiert wurde u.a. eine Auslegung zur Insolvenzrichtlinie. Und über die Korrektur der Entscheidung zur Arbeitsbereitschaft durch eine neue Richtlinie wird noch immer gerungen.
Robert Rebhahn
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht Christine Windbichler/Kaspar Krolop
Übersicht I. „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eingrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europäische Regelungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamik der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Aktuelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . 4. Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz
. . . . . . . . . . . .
Rn. 1–27 1–5 6 6–9 10–14 10–11 12–14 15–26 15–17 18–20 21–26 27
II. Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praktisches Ausgangsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Sachverhalt in BGHZ 110, 47 – IBH/Lemmerz . . . . . . . . . . . . . . b) Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inferent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gesellschaft selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übrige Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ökonomische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtlicher Einstieg: Deutsches Gesellschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . a) Forderungseinbringung als Sacheinlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung c) Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion . . . . . . . . . . 3. Erschließung der europäischen Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorlage beim EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) 1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm . . . . . . . . . . . . . . bb) 2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes . . b) Methodische Erträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
28–59 28–38 28 29–36 30–31 32 33–34 35–36 37–39 39–45 39–40 41 42–45 46–59 46–55 48–50 51–55 56–59
. . . .
60–89 60–66 60–61 62–66
. . . . . . . . . . . .
67–75 68–49 70–75
III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive . . . . . . . . . . . 1. Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . 2. Kollisionsrechtliche Ebene: Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatus . . . . . . b) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts . . . . . . . .
448
. . . .
. . . .
. . . .
Christine Windbichler/Kaspar Krolop
§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht aa) Einordnung nach nationalem Kollisionsrecht: Fallbeispiel Insolvenzverschleppungshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die europarechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verzahnung von europäischer und nationaler Ebene: Methodenfragen bei der SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht . . . . . . . b) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie bei der SE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Stellung der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer bei der SE in der Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Nationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesellschaftsrecht allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . c) SE als besondere Herausforderung im Wettbewerb der Rechtsordnungen
. . .
71–72 73 74–75
. .
76–82 77–78
.
79–81
. . . . .
82 83–89 83 84–87 88–89
Literatur: Brandt, Ulrich, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft (SE), Frankfurt/M./Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien 2004; Davies, Paul L., Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, London (7. Aufl. 2003); Eidenmüller, Horst, (Hrsg.) Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht, München 2005; Einsele, Dorothee, Verdeckte Sacheinlage, Grundsatz der Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung, NJW 1996, 2681–2689; Everling, Ulrich, Das europäische Gesellschaftsrecht vor dem EuGH, Festschrift für Lutter 2000, 31–45; Gordon, Jeffrey N./Roe, Mark J. (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance, Cambridge 2004; Grundmann, Stefan, Europäisches Gesellschaftsrecht, Heidelberg 2004, insbesondere. §§ 3–6; Habersack, Mathias, Europäisches Gesellschaftsrecht, 2. Auflage München 2003, insbesondere §§ 3, 4, 6; Kraakmann, Reinier R. u.a., The Anatomy of Corporate Law, New York 2004; Lutter, Marcus (Hrsg.) Europäische Auslandsgesellschaften in Deutschland, Köln 2005; Lutter, Marcus/Gehling, Christian, Verdeckte Sacheinlagen – Zur Entwicklung und zu den europäischen Aspekten, WM 1989, 1445–1460; Ulmer, Peter, Gläubigerschutz bei Scheinauslandsgesellschaften, NJW 2004, 1201–1210; Ulmer, Michael J., Harmonisierungsschranken des Aktienrechts, Heidelberg 1998; Weller, Marc-Philippe, Neues Anwendungsfeld für die Existenzvernichtungshaftung, IPRax 2003, 207–210; Wymeersch, Eddy, Company Law in Europe and European Company Law, in: Referate für den 1. Europäischer Juristentag Nürnberg 2001, Baden-Baden 2002; Zöllter-Petzoldt, Irka, Die Verknüpfung von europäischem und nationalem Recht bei der Gründung einer Societas Europaea (SE) Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris/Wien 1998. Rechtsprechung: EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, Slg. 2005, I-10805; BGHZ 110, 47 IBH ./. Lemmerz.
I.
„Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht
1.
Eingrenzung
Das europäische Primärrecht bezeichnet grundsätzlich keine Rechtsgebiete. Art. 48 Abs. 1 EG stellt „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften“ natürlichen Personen gleich; Art. 44 Abs. 2, lit. g EG spricht die KoorChristine Windbichler/Kaspar Krolop
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1
3. Teil: Besonderer Teil
dination von Schutzbestimmungen an, die den Gesellschaften im Sinne des Art. 48 Abs. 2 EG vorgeschrieben sind. Damit ist nicht entscheidend, ob eine Materie, die das Kollisionsrecht, anderes nationales Recht oder die Definition in Lehrbüchern dem Gesellschaftsrecht zuweist, betroffen, sondern nur ob eine Gesellschaft iSd Art. 48 Abs. 1 EG 1 Regelungsadressat ist.2
2
Theoretisch kommen somit sämtliche Gesellschaftsformen als Gegenstand europäischen Rechts in Betracht; praktisch liegt der Schwerpunkt zur Zeit aber im Kapitalgesellschaftsrecht. Ferner bedeutet „Gesellschaftsrecht“ nicht nur Gesellschaftsorganisationsrecht, die „off the shelf housekeeping rules“,3 sondern auch andere Regelungskomplexe, die die Beziehungen von Gesellschaften zu ihrer wirtschaftlichen Umwelt gestalten.
3
In diesem umfassenden Sinne schließt „Gesellschaftsrecht“ Fragen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Gesellschaftsorganen, des Bilanz-, Insolvenz- und des Kollisionsrechts, vor allem aber auch des Kapitalmarktrechts ein.4 Letzteres hat seinen Hauptsitz bei der Kapitalverkehrsfreiheit, eine Reihe von älteren kapitalmarktrechtlichen Richtlinien5 wurde jedoch zumindest auch auf Art. 44 Abs. 2, lit. g EG gestützt.6 Bilanzrecht, in deutscher Rechtstradition dem Handelsrecht zugeordnet, und Kapitalmarktrecht wiederum sind eng verflochten.7 Teilweise wird das Bilanz-
1 Dieser Begriff ist sehr weit: Alle Gesellschaften des bürgerlichen und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts sowie nach h.M. auch nicht-rechtsfähige Gesellschaften, soweit sie einen Erwerbszweck verfolgen (Geiger-Geiger, Art. 48 EG Rn. 2 f.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 12 ff.). 2 Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 44 EG Rn. 14. 3 Hansmann/Kraakman, in: Kraakman u.a., The Anatomy of Corporate Law, S. 2. 4 Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 4, 20 mwN. Speziell zum Kollisionsrecht s. EuGH v. 27.9.1988 – Rs. C-81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, I-5505 Rn. 22 (Daily Mail). 5 Richtlinie 79/279/EWG des Rates vom 5.3.1979 zur Koordinierung der Bedingungen für die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung an einer Wertpapierbörse, ABl. 1979 L 16/21 (Börsenzulassungsrichtlinie, nicht mehr in Kraft); Richtlinie 89/298/EWG des Rates vom 17.4.1989 zur Koordinierung der Bedingungen für die Erstellung, Kontrolle und Verbreitung des Prospekts, der im Falle öffentlicher Angebote von Wertpapieren zu veröffentlichen ist, ABl. 1989 L 124/8 (Emissionsprospektrichtlinie); Richtlinie 89/592/EWG des Rates vom 13.11.1989 zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschäfte (Insiderrichtlinie), ABl. 1989 L 334/30. 6 Vgl. Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, Art. 44 EG Rn. 14. 7 Charakteristisch sind hier vor allem die vierte Richtlinie 78/660 EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11 (Jahresabschlußrichtlinie) und die siebente Richtlinie 83/ 349 EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g des Vertrages über den konsolidierten Abschluß ABl. 1983 L 193/1 (Konzernbilanzrichtlinie) sowie die VO (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002, L 243/1 (IFRS-VO). Näher zu dieser Überschneidung u.a. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff.; Schwark, WM 1997, 293, 304; Weitbrecht/Wilken, EWS 1994, 418 ff.
450
Christine Windbichler/Kaspar Krolop
§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
recht sogar als Herzstück des europäischen Gesellschaftsrechts bezeichnet.8 Das Steuerrecht, die unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts, ist nur in einem engen Bereich (Art. 90 ff. EG) nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung europäisiert. Mittelbar stehen allerdings auch steuerliche Vorschriften zunehmend auf dem Prüfstand der Grundfreiheiten.9 Einheitliche Mindeststandards für Transparenz und Anlegerschutz sind zentrale Anliegen der europäischen Rechtsangleichung zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes 10, die zu den Kernaufgaben der Gemeinschaft zählt (vgl. Art. 3 lit. c, 94, 95 EG). Zur Herstellung eines Mindeststandards bei der Transparenz von unternehmens- und bewertungsrelevanten Informationen wirken Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht einschließlich Bilanzrecht komplementär zusammen.11 Vielfach ist deshalb zwischen rechtlichen Vorgaben, die sich an kapitalmarktorientierte Unternehmen wenden und solchen, die Gesellschaften allgemein betreffen, zu unterscheiden. Das dürfte, sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch die Auslegung anhand von Regelungszielen, ertragreicher sein als eine formale Trennung von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht. Letztere ist gleichwohl wichtig und wird z.B. bei kollisionsrechtlichen Fragestellungen relevant. 8 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 491, vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff. 9 Vgl. EuGH v. 11.3.2004 – Rs. C-9/02 Hughes de Lasteyrie du Saillant ./. Ministère de l’Economie, Slg. 2004, I-2409. Die Entscheidung des EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03, Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837 zur Nutzung von Verlusten von ausländischen Tochtergesellschaften bei der (im vorliegenden Fall britischen) Gruppenbesteuerung wird Auswirkungen auf die Konzerngestaltung haben; vgl. Saß, DB 2006, 123 ff.; Palmes/Brück/Ribbrock, DB 2006, 186, 188f.); vgl. auch Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990 L 225/1 in der Fassung der Änderungsrichtlinie 2005/19/EG des Rates vom 17.2.2005, ABl. 2005 L 7/41, insbesondere Begründungserwägungen. 10 Vgl. nur Claussen, Bank- und Börsenrecht (3. Aufl. 2003), § 9 Rn. 11, 13. Dabei findet der Anlegerschutz im EG-Vertrag keine eigene Erwähnung. Zu kapitalmarktrechtlichen Schutzbestimmungen als Mittel zum Zweck zur Verwirklichung des europäischen Kapital- bzw. des Binnenmarkts vgl. Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2406 ff.; Mülbert, WM 2001, 2085, 2092 jeweils mwN. Zum Standpunkt der Kommission vgl. stellvertretend BE 6 des Vorschlags der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, KOM 2003/138: „ein gemeinschaftsweit hoher Anlegerschutz würde es ermöglichen, Hindernisse für die Zulassung von Wertpapieren zu geregelten Märkten … zu beseitigen“. Vgl. auch BE 43 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation, ABl. 2003 L 96/16 (Marktmißbrauchsrichtlinie), wo die Ziele des europäischen Kapitalmarktrechts beispielhaft zusammengefaßt sind. 11 Ein aktuelles Beispiel für die Überlappungen ist die Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12 (Übernahmerichtlinie); so Kleindieck, ZGR 2002, 546, 558 ff.; Schnorbus, ZHR 166 (2002), 72, 86 f. (im Hinblick auf das WpÜG). Ausdruck zunehmender Verzahnung ist auch, daß Grundmann in seinem Lehrbuch zum „Europäischen Gesellschaftsrecht“ im Kapitel „Finanzierung an Kapitalmärkten“ auch kapitalmarktrechtliche Richtlinien erläutert. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
451
4
3. Teil: Besonderer Teil
5
Das für Gesellschaften relevante Insolvenzrecht ist grundsätzlich mit einzubeziehen,12 denn die Qualifizierung einer Vorschrift als insolvenzrechtlich oder gesellschaftsrechtlich hängt von nationalen Traditionen ab, die Funktion mag gleichwohl dieselbe sein. Darauf wird noch zurückzukommen sein.13 2.
Europäische Regelungsdichte
a)
Primärrecht
6
Zentraler Anknüpfungspunkt für die Harmonisierung im Gesellschaftsrecht ist Art. 44 Abs. 2 lit. g EG, der bei der Niederlassungsfreiheit angesiedelt ist und zu Einzelmaßnahmen ermächtigt, die zur Beseitigung von Hindernissen erforderlich sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist diese Vorschrift weit auszulegen; sie ist im Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 1 lit. h EG zu sehen. Danach umfaßt die Tätigkeit der Gemeinschaft die Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Markts erforderlich ist.14 Somit kann Art. 44 Abs. 2 lit. g EG Grundlage für jede Regelung sein, die Gesellschafter oder Dritte schützt und dieser Schutz die Verwirklichung einer Grundfreiheit fördert.15
7
Gleichwohl ist Art. 44 Abs. 2, lit. g EG eine Einzelermächtigung und keine Grundlage für eine Vollharmonisierung. Die Kommission hat in ihren Planungen die Vollharmonisierung zugunsten einer Kombination von Mindeststandards durch punktuelle Harmonisierung und Wettbewerb der Rechtsordnungen im übrigen aufgegeben.16 Der Gemeinschaftsgesetzgeber unterliegt den Einschränkungen des Subsidiaritätsprinzips und dem Gebot der Erforderlichkeit (Art. 5 Abs. 2, 3 EG).17
8
Keine Kompetenzbeschränkung liegt in dem Begriff „Schutzbestimmung“. Letztlich erfolgt jeder gesetzgeberische Eingriff zum Schutze der Interessen eines Beteiligten. Im Gesellschaftsrecht sind das die typischen Gefahren opportunistischen Verhaltens
12 Ehricke, in: Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Privatgesellschaft (2001), S. 76 ff.; K. Schmidt, FS Großfeld (1999), S. 1037 ff. 13 Beispiel: § 64 GmbHG in Deutschland und Haftung für wrongful trading in England (dazu Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 197 ff.).Näher dazu unten bei Rn. 71 f. Allerdings hat der Rat die von ihm erlassene Verordnung Nr. 1346/2000 über das Insolvenzverfahren v. 29.5.2000, ABl. 2000 L 160/1 (EuInsVO) nicht auf Art. 44 Abs. 2 lit. g EG gestützt, in der weitgehend das europäische Abkommen über das Insolvenzverfahren (abgedr. in ZIP 1996, 976) übernommen wurde. Becker, ZEuP 2002, 287 ff. 14 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Daihatsu, Slg. 1997, I-6858 Rn. 18 = JZ 1998, 193 m. Anm. Schön; näher dazu Leible, ZHR 162 (1998), 594, 597 ff.; Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 20 f.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 98 f. 15 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 98; vgl. auch Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 14a, jeweils mwN. 16 Vgl. Aktionsplan zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union der Kommission v. 21.5.2003, KOM 2003/284; dazu van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484 ff.; Habersack, ZIP 2006, 445, 446 f.; vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1 ff.; zu den skeptischen Stimmen vgl. Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 ff. 17 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 100.
452
Christine Windbichler/Kaspar Krolop
§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
in Agentursituationen zwischen der Gesellschaft und ihren Gläubigern, den Gesellschaftern und dem Management und der Gesellschafter untereinander.18 Eine wachsende Rolle im Gesellschaftsrecht spielt die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Urteile des EuGH zu Beschränkungen des Anteilserwerbs haben diese vor allem an Art. 56 EG gemessen.19 Die Beschränkungen waren aber gesellschaftsrechtlich vermittelt, insbesondere in Form der berühmten golden shares. Die genannte Überschneidung von Gesellschafts- und Kapitalmarkrecht setzt sich in der Überlappung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit fort. Die Abgrenzung ist schwierig und nicht abschließend geklärt. Aber damit kann man leben, da sich mittlerweile die Vorgaben des EuGH für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit einerseits und der Kapitalverkehrsfreiheit anderseits nicht mehr wesentlich unterscheiden. Insofern verliert der Streit um die Reichweite der Kompetenzzuweisung in Art. 44 Abs. 2 lit. g EG an Bedeutung.20 Richtlinien, die primär der Gewährleistung der Kapitalverkehrsfreiheit dienen, sind unmittelbar für die Herstellung eines Europäischen Kapitalmarkts und damit unmittelbar für die Verwirklichung des Binnenmarkts relevant.21 Daher können diese Richtlinien unabhängig von der rechtssystematischen Einordnung auf Art. 94, 95 EG gestützt werden.22 b)
Sekundärrecht
aa)
Verordnungen
Die Verordnung ist das Instrument der Wahl zur Schaffung neuer, europäischer Gesellschaftsformen. Die EWIV und die SE sind die prominenten Beispiele dafür.23 Wegen ihrer vergleichsweise geringen praktischer Relevanz stehen sie (zunächst) nicht
18 Hansmann/Kraakman, in: Kraakman u.a., The Anatomy of Corporate Law, S. 21ff. 19 EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-503/99 Kommission ./. Belgien, Slg. 2002, I-4809; EuGH v. 4.6. 2002 – Rs. C-483/99 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-4781; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-367/98 Kommission ./. Portugal, Slg. 2002, I-4731. Zu weiteren Urteilen in Sachen golden shares und zur Entwicklung über diese Konstellation hinaus vgl. nur Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 ff. 20 Jedenfalls ist die Kapitalverkehrsfreiheit im Bereich des hier umrissenen Gesellschaftsrechts weitgehend nur als Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbot relevant. Nach Grundmann (FS Th. Raiser [2005], S. 81, 84) ergibt sich in der Gesamtschau von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ein allgemeines Gebot der Gewährleistung der Mobilität von Kapitalgesellschaften. 21 S.o. Fn. 10. 22 Vgl. Präambel der Marktmißbrauchsrichtlinie (s.o. Fn. 10): „gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere Artikel 95“. 23 VO (EWG) Nr. 2137/85 über die Schaffung einer Europäischen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 L 199/1; VO (EG) Nr. 2157/2001 v. 8.10.2001 über das Statut der SE (SE-VO), ABl. 2001 L 294/1; s. auch Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) v. 22.12.2004, BGBl. I 2004, S. 3675; zu diesem Gesetz vgl. Neye, BB Beilage 3/2005, 1 ff. mwN. Zum Zusammenspiel mit der SE-VO vgl. Münchener Kommentar AktG-Schäfer (Bd. 9/2, 2. Aufl. 2006), Art. 9 SE-VO; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 23 ff. Näher dazu unten Rn. 76 ff. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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im Vordergrund. Ein rechtstechnischer Hinweis erscheint aber angebracht. Die Verordnungen arbeiten mit zahlreichen Verweisen auf nationales Recht (die EWIV-VO auf das Recht der oHG-äquivalenten Rechtsform, die SE-VO auf das Recht der AG).24 Wie „europäisch“ die jeweilige Rechtsform ist, läßt sich am Umfang der Verweisungen jedoch nicht feststellen. Wenn nämlich die Materie keine oder nur mäßige Harmonisierung erfahren hat, ist die europäische Form nur eine äußerliche Hülle. Ist die Materie Gegenstand von Richtlinien, ist die Divergenz zwischen den nationalen Rechten verringert. Als Beispiel können das Gründungsrecht der SE25 einerseits, die Bilanzvorschriften für die SE andererseits dienen.
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Leben und Tod von Gesellschaften werden vom Insolvenzrecht wesentlich mitbestimmt. Hier findet die Insolvenzverordnung 26 als (teilweise) Vereinheitlichung von Kollisionsrecht ihren Platz im Gesellschaftsrecht. Wiederum im Überschneidungsbereich von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht bewegt sich die IFRS-Verordnung.27 Die IFRS-Verordnung ist nur der vorläufig letzte Akt einer verhältnismäßig weitgehenden Harmonisierung auf dem Gebiet der Rechnungslegung, das eine beträchtliche Regelungsdichte erreicht hat. Im Bereich der börsennotierten Gesellschaften hat der nationale Gesetzgeber immer weniger eigenen Gestaltungsspielraum. bb)
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Richtlinien
Zum Richtlinienbestand, der hier nicht im einzelnen vorzustellen ist, gehören auch die Bilanzrichtlinien, die für alle Kapitalgesellschaften und einige kapitalgesellschaftsähnliche Personengesellschaften gelten.28 Das Bilanzrecht hat im deutschen Recht seinen Platz im HGB und gilt nach h.M. als öffentliches Recht. Die gesellschaftsrechtliche Einordnung ergibt sich hier aber nicht nur durch die Bezeichnung durch den europäischen Gesetzgeber selbst, sondern auch materiell. Ferner wird die Kapitalrichtlinie 29, die für Aktiengesellschaften ein Mindestgrundkapital und dessen
24 Zur EWIV vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 1070; zur SE ders. ebd., Rn. 1006 ff.; Hopt/Cahn (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft – Umsetzungsfragen und Perspektiven (2004); Lächler/Oplustil, NZG 2005, 381ff. Dies kommt auch deutlich im SEEG (s.o. Fn. 23) zum Ausdruck. 25 S. dazu Zöllter-Petzoldt, Die Verknüpfung von europäischem und nationalem Recht bei der Gründung einer Societas Europaea (SE) (1998). 26 S.o. Fn. 13. 27 S.o. Fn. 7. 28 Jahresabschlußrichtlinie (s.o. Fn. 7); Konzernbilanzrichtlinie (s.o. Rn. 7); flankierend die achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates v. 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Abs. 3 lit. g des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, ABl. 1984 L 126/20 (Abschlußprüferrichtlinie); ersetzt durch die Richtlinie 2006/43/EG v. 17.5.2006, ABl. 2006 L 157/87. Zusammenfassende Darstellung dieses Komplexes mit Abdruck der Vorschriften in Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 260 ff.; s. auch Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 224 ff. 29 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesell-
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Aufbringung und Erhaltung vorschreibt, in ihrem Inhalt auch dadurch bestimmt, wie bilanziert wird. Entsprechendes gilt für die Einpersonengesellschaftsrichtlinie 30. Die insgesamt große Harmonisierungsdichte durch Richtlinien ist durch das sog. Informationsmodell geprägt. Ein zentraler Ansatzpunkt des europäischen Gesellschaftsrechts ist Gewährleistung von Information, nach der die Marktteilnehmer ihr Verhalten ausrichten können.31 Darin bestätigt sich die Binnenmarktdimension, die über die Niederlassungsfreiheit hinausgeht; die Vergleichbarkeit der Abschlüsse aufgrund eines gemeinsamen Mindeststandards ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Erwerb von Anteilen und für die grenzüberschreitende Kreditvergabe und damit für die Kapitalverkehrsfreiheit. Als erster und prägender Transparenzansatz ist die Publizitätsrichtlinie von 1968 32 zu nennen, welche die Offenlegung der Vertretungsverhältnisse von Kapitalgesellschaften gewährleistet.
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Jüngere und jüngste Aktivitäten konzentrieren sich auf Bereiche, die von besonderer Relevanz für den grenzüberschreitenden Verkehr sind: Gründung von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen (Zweigniederlassungsrichtlinie 33), grenzüberschreitende Verschmelzung (vgl. die jüngst verabschiedete Verschmelzungsrichtlinie) 34, Vorentwurf einer 14. Richtlinie zur Sitzverlegung35 sowie – in der Schnittmenge mit dem Kapitalmarktrecht – die Übernahmerichtlinie.36
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schaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1 (Kapitalrichtlinie). Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 L 395/40 (Einpersonengesellschaftsrichtlinie). Näher zum Informationsmodell als einem tragenden Leitgedanken der Harmonisierung im europäischen Gesellschaftsrecht Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 227 ff.; ders., ZIP 2004, 2401, 2405 ff. Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 065/8 (Publizitätsrichtlinie). Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 L 395/36. Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABlEG L 310/1; näheres in Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 895 ff.; Maul, BB 2006, Beilage zu Heft 34, 1, 11 ff.; Neye, ZIP 2005, 1893 ff.; Kallmeyer, AG 2006, 224 ff. Konsultationspapier der Kommission für die Grundzüge einer Richtlinie zur Koordinierung des für die Verlegung des Satzungssitzes maßgebenden Rechts v. 20.4.1997, abgedr. in ZIP 1997, 1721 und ZGR 1999, 157, im Internet unter http://europa.eu.int/comm/internal_ market/company/seat-transfer/2004-consult_de.htm; näher dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2004), Rn. 813 ff. S.o. Fn. 11; zur Relevanz des Übernahmerechts für die Grundfreiheiten näher Kaiser, ZHR 168 (2004), 542 ff.; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317, 355 ff.; näher zu Umsetzungsfragen Maul/ Muffat-Jeandet, AG 2004, 221 ff., 306 ff.; Mülbert, NZG 2004, 633 ff.; s.a. RegE eines Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetzes, BT-Drs. 16/1003; im Internet unter http://www.jura.uniaugsburg.de/prof/moellers/materialien/s_kapitalmarktrecht/wpneg_wertpapiererwerbs_u
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3. Teil: Besonderer Teil
3.
Dynamik der Rechtsentwicklung
a)
Aktuelle Entwicklung
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Die Publizitätsrichtlinie wurde kürzlich umfassend geändert 37 und der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt. Nach Ablauf der Umsetzungsfrist zum 31.12.2006 können sämtliche Angaben, die nach der Richtlinie offen zu legen sind, in elektronischer Form eingereicht werden, Art. 3 Abs. 2. Der Regierungsentwurf zur Umsetzung in Deutschland 38 zeigt ein typisches Problem für das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht: Die Handelsregister werden weiter von den Ländern geführt, darüber wird ein (Bundes-) Unternehmensregister gestülpt, was zu einigen Anpassungsschwierigkeiten führen dürfte.39
16
Der am 21.5.2003 vorgelegte Aktionsplan der Kommission „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union“ 40 sieht u.a. weitere Initiativen im Gesellschaftsrecht vor, die in einem gestuften Zeitplan in verschiedenen Formen (VO, RL, Empfehlung, Studien) ergriffen werden. Wiederum Schwerpunkte sind kapitalmarktorientierte Unternehmen und Transparenz.41
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Die Kapitalrichtlinie wurde teilweise als Keimzelle für eine Vollharmonisierung angesehen. Von diesem Ziel hat man sich mittlerweile verabschiedet.42 Gerade im Bereich der Kapitalrichtlinie sind im Vorschlag für eine Änderungsrichtlinie 43 sogar
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39 40 41
42 43
d_uebernahmegesetz; näher dazu Kann/Clemens, DStR 2006, 328 ff.; Seibt/Heiser, AG 2006, 301 ff. Richtlinie 2003/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.7.2003, ABl. 2003 L 221/13 zur Änderung der Publizitätsrichtlinie (s.o. Fn. 32). Regierungsentwurf eines Gesetzes über das elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister (EHUG), im Internet unter http://www.jura. uni-augsburg.de/prof/moellers/materialien/materialdateien/040_deutsche_ gesetzgebungsgeschichte/ehug. Dort auch Stellungnahme der Verbände; vgl. Dauner-Lieb/ Linke, DB 2006, 767 ff.; Spindler, WM 2006, 109 ff. Dauner-Lieb/Linke, DB 2006, 767 ff. S.o. Fn. 16. Nach 3.1.1. des Aktionsplans (s.o. Fn. 16) sollen z.B. – vergleichbar mit § 161 AktG – börsennotierte Gesellschaften zur Abgabe einer Corporate-Governance-Erklärung verpflichtet werden. S.o. die Nachweise in Fn. 16. Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf die Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals v. 21.9.2004 KOM 2004/endg, zurückgehend auf die Vorschläge der Empfehlung der Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des Gesellschaftsrechts bezüglich der Vereinfachung der ersten und der zweiten Gesellschaftsrechts-Richtlinie, KOM 1999/6037 (sog. SLIM-Gruppe), vgl. BE 2.1. des genannten Änderungsvorschlags; Regelungsschwerpunkte: Erleichterung bei der Einbringung von Sacheinlagen, wenn objektive Maßstäbe für die Bewertung zur Verfügung stehen (z.B. börsennotierte Wertpapiere als Sacheinlage, (vgl. Art. 10 ff.); Erleichterungen bei Erwerb eigener Aktien (vgl. Art. 19). Die Vorschläge zu Regelungen eines squeeze out und sell out haben sich mit der Einführung entsprechender Vorgaben in der Übernahmerichtlinie (s.o. Fn. 11) erledigt.
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
Lockerungen vorgesehen. Die ohnehin nur punktuellen Vorgaben für die Haftungsverfassung der Gesellschaft und die Rechte der Aktionäre bei Kapitalmaßnahmen sollen flexibilisiert werden. Das gesetzliche Mindestkapital steht langfristig insgesamt auf dem Prüfstand. b)
Allgemeine Tendenzen
Die Skizze der Entwicklung im Sekundärrecht zeigt, daß der Rechtsanwender mit den Anwendungsproblemen einer gestuften Rechtsordnung konfrontiert ist,44 darüber hinaus in verschiedener Hinsicht mitten in einer Trendwende steht.
18
Die klassische Richtlinie scheint an Bedeutung zu verlieren. Statt Richtlinien, die viel Umsetzungsspielraum lassen, werden entweder detaillierte Verordnungen oder sehr enge Richtlinien erlassen (Beispiele sind die IFRS-VO sowie die Sekundärrechtsnormen im Kapitalmarktrecht, welche kapitalmarktorientierte Gesellschaften betreffen, wie die Verordnung zur Durchführung der Prospektrichtlinie 45 oder die Richtlinie zur Durchführung der Marktmißbrauchsrichtlinie 46), oder es werden alternative flexiblere bzw. „weichere“ Instrumente eingesetzt wie Empfehlungen (Empfehlungen zur Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung 47 und zur Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder/nicht geschäftsführender Direktoren,48 geplante Verpflichtung zur Erklärung zur Corporate Governance 49). Die Übernahmerichtlinie ist hier kein geeignetes Gegenbeispiel. Zwar enthält sie ein sehr komplexes System von Wahlrechten für die Mitgliedstaaten, im übrigen aber sind die Vorgaben so ausführlich, daß sie nur wenig Raum für die individuelle Gestaltung durch den nationalen Gesetzgeber lassen.50
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44 Schönes Beispiel: Art. 9 SE-VO (s.o. Fn. 23). Zu den sich dabei ergebenden Methodenfragen näher unten Rn. 76 ff. 45 VO (EG) Nr. 809/2004 der Kommission v. 29.4.2004 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Informationen sowie das Format, die Aufnahme von Informationen mittels Verweis und die Veröffentlichung solcher Prospekte und die Verbreitung von Werbung (ABl. 2003 L 345/64, Prospektrichtlinie) ABl. 2004 L 149/1 (Prospekt-VO). 46 S.o. Fn. 10. 47 Empfehlung 2004/913/EG der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABl. 2004 L 385/55. 48 Empfehlung 2005/162/EG der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABl. 2005 L 52/51. 49 Vorgesehen im Vorschlag der Kommission v. 27.10.2004 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Abänderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG hinsichtlich der Jahresabschlüsse bestimmter Arten von Unternehmen und konsolidierter Abschlüsse, KOM 2004/endg. Daneben enthält der genannte Entwurf Erweiterungen der Transparenz, insbesondere im Bereich der Offenlegung von Geschäften zwischen Organmitgliedern und den Unternehmern sowie die Festschreibung des Prinzips der Gesamtverantwortung aller Organmitglieder für die korrekte Erstellung der Jahresabschlüsse. Näher dazu Habersack, NZG 2004, 1, 6 f.; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 490 f. 50 Zu Umsetzungsfragen s.o. Fn. 36. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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Die Aufgabe der Idee der Vollharmonisierung setzt an deren Stelle das Konzept der Gestaltung von Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber 51 und – im Bereich der kapitalmarktorientierten Gesellschaften – für einen funktionierenden Wettbewerb um das Kapital der Anleger in einem europäischen Kapitalmarkt.52 Zugespitzt formuliert geht die Entwicklung weg von einer Harmonisierung in die Breite und in die Richtung einer Harmonisierung in die Tiefe53 an den Punkten, die für die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit und der Schaffung eines funktionierenden europäischen Kapitalmarkts von besonderer Bedeutung sind. c)
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Methodische Aspekte der aktuellen Entwicklung
Das europäische Gesellschaftsrecht ist, was für das Europarecht allgemein gilt, in besonderem Maße „law in action“ 54 und die Gemeinschaft nicht Sein, sondern Werden.55 Der EuGH verlangt, bei der Auslegung europäischen Rechts den jeweiligen Stand der Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Integrationstiefe im entscheidungsrelevanten Bereich zu berücksichtigen.56 Methodisch wird das teilweise als „Grundsatz der dynamischen Auslegung“ bezeichnet.57 Dabei handelt es sich wohl um eine besondere Ausprägung der teleologischen Auslegung.58 Jedenfalls besteht im Ergebnis Einigkeit, daß bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht dessen Dynamik und Fortentwicklung eine besondere Rolle spielen. Damit ist der Integrationsfortschritt ein wichtiges Leitprinzip bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.59
51 So auch Grundmann, oben § 10 Rn. 54 ff.; ders., ZGR 2001, 783 ff.; Happ, ZHR 169 (2005), 6, 7 f.; Hommelhoff, ZGR 2001, 238 ff.; Roth, ZGR 2005, 348, 349 ff. Zu den Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber s. Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003). 52 Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2405 f.; ders, oben § 10 Rn. 54 ff.; ders., ZGR 2001, 783 ff. 53 Vgl. Habersack zum Aktionsplan (NZG 2004, 1, 3): „Konzentration auf punktuelle Maßnahmen“. 54 So zum Gemeinschaftsrecht allgemein bereits Oppermann, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht (1977), S. 428. 55 So Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 275, 277. 56 Das Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Wortlaut und Systematik der Richtlinie einerseits und der Vergemeinschaftung sowie den allgemeinen Zielen der europäischen Integration andererseits wird besonders deutlich bei der Rspr. des EuGH zu Art. 18 EG (Freizügigkeit), worin er ein Konzept der Unionsbürgerschaft entwickelt, wonach das Gebot der Gleichbehandlung mit Inländern auch den Zugang zu sozialen Leistungen beinhalte (EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96 Martínez Sala ./. Freistaat Bayern, Slg. 1998, I-2691; EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-413/99 Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091); sehr krit. Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff. 57 Vgl. Bleckmann, Europarecht (6. Aufl. 1997), Rn. 555; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH (1998), S. 213 f. mwN; Meyer, Jura 1994, 455, 457 f. 58 So auch Riesenhuber, oben, § 11 Rn. 43 ff.; vgl. auch Fn. 55. Nach der Kritik von Hailbronner (NJW 2004, 2185, 2187) soll es sich um ein Verdecken der Vernachlässigung „klassischer“ Auslegungsmethoden handeln. 59 S.o. Fn. 55, vgl. auch die in Fn. 56 zitierte Rspr.
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
Im einzelnen bedeutet das: Je stärker die Harmonisierung fortgeschritten ist, desto stärker rechtfertigungsbedürftig sind nationale Besonderheiten, desto eher sind europäische Vorgaben im Zweifel weit auszulegen, desto eher können Regelungslücken im Sekundärrecht angenommen werden, desto eher stellt sich die Frage, ob Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie nicht unmittelbar im Anwendungsbereich von Primär- oder Sekundärrecht liegen, europarechtskonform 60 oder wenigstens europarechtsfreundlich 61 auszulegen sind.
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Eine europarechtsfreundliche Auslegung kann auch darin bestehen, daß nationales Recht bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform angewandt wird. Diese Möglichkeit kann sich im Einzelfall zu einem europarechtlichen Gebot verdichten. Nach der Rechtsprechung des EuGH sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Maßnahmen zu unterlassen, durch welche die Erreichung der Ziele der Richtlinie gefährdet wird.62 Dies wird auch als Vorwirkung von Richtlinien bezeichnet.63 Im Gesellschaftsrecht ist diese Problematik im Zusammenhang mit der Sevic-Entscheidung des EuGH 64 aufgegriffen worden. Danach müssen die Mitgliedstaaten eine Möglichkeit für eine grenzüberschreitende Verschmelzung eröffnen. Die bisher verbreitete Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UmwG, daß nur Rechtsträger mit Sitz in Deutschland Gegenstand einer Umwandlung durch Verschmelzung sein können,65 sei mit der Niederlassungsfreiheit nicht zu vereinbaren. Diese Entscheidung hat Diskussionen ausgelöst, inwieweit die Vorgaben der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung, deren Umsetzungsfrist zum 1.1.2007 abläuft, bereits jetzt zu beachten sind.66 Zwar herrscht nunmehr weitgehend Konsens,67 daß deutsche Gerichte eine grenzüberschreitende Verschmelzung ermöglichen müssen. Mit einer echten Vorwirkung der Richtlinie ist das aber nicht zu begründen. Es geht vielmehr um eine primärrechtskonforme Anwendung nationalen Rechts.68 Die Gerichte sind grundsätzlich frei, ob sie sich dabei primär am Umwandlungsgesetz orientieren oder (zweckmäßigerweise) bereits jetzt
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60 Diese letzte Frage betrifft auch die Problematik der sogenannten überschießenden Umsetzung. Dazu eingehend Habersack/Mayer in diesen Band (§ 15). 61 Windbichler in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 1996), vor § 15 Rn. 48. 62 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, DStR 2005, 2138. Eingehend dazu Hofmann, oben, § 16 Rn. 12ff. 63 Callies/Ruffert-Ruffert, EGV, 2. Aufl. 2002 Art. 249 EGV Rn. 44; BVerwGE 107, 1 ff. 64 EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, Slg. 2005, I-10805. 65 Vgl. Semler/Stengel, UmwG (3. Aufl. 2003), Einleitung A Rn. 104 und den Vorlagebeschluß des LG Koblenz in Sachen Sevic (NZG 2003, 1123, 1124). 66 Forsthoff, DStR 2006, 613, 617 f.; Nagel, NZG 2006, 97, 98 f.; Neye, ZIP 2005, 1893, 1897 f. 67 Vgl. nur Forsthoff, DStR 2006, 613, 617 f.; Nagel, NZG 2006, 97, 98 f.; Neye, ZIP 2005, 1893, 1897f. So bereits vor der Sevic-Entscheidung Lutter-Lutter/Drygala, UmwG (3. Aufl. 2003), § 1 Rn. 6ff. 68 Ähnlich auch Forsthoff, DStR 2006, 613, 617 f.
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Vorgaben der Verschmelzungsrichtlinie maßgeblich berücksichtigen.69 Diskutiert wird allerdings auch eine Vorwirkung im Sinne eines Stillhaltegebots, wonach vor Ablauf der Umsetzungsfrist die nationalstaatlichen Gerichte keine Rechtsfortbildung betreiben dürfen, die von den Zielen und Vorgaben der Richtlinie wegführt.70 Nach dieser Auffassung würde die Verschmelzungsrichtlinie zumindest eine rechtsfortbildungsbegrenzende bzw. -leitende Vorwirkung entfalten.71 Da das deutsche Gesellschaftsrecht ein stark von richterlicher Rechtsfortbildung geprägtes Rechtsgebiet ist, wäre ein derartiges „Stillhaltegebot“ besonders relevant.72
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Damit gilt auch im Gesellschaftsrecht ganz allgemein, daß europarechtlich relevante Normen im Hinblick auf den Harmonisierungsstand und die Harmonisierungsziele auszulegen sind. Hinzu kommen Besonderheiten des Gesellschaftsrechts, die in der internationalen rechtsvergleichenden und empirischen Forschung herausgearbeitet wurden. Dieser Ansatz geht möglicherweise über die Frage nach einer europäischen Methodenlehre hinaus, ergänzt aber den speziellen Aspekt der Dynamik. Gleichwohl können die nachfolgend genannten Forschungen hilfreich sein für die Beurteilung, welche Auslegungsvariante im Hinblick auf die Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Zwecke und der europäischen Integration zielführend ist.
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Die „Sachgerechtigkeit“ ist ein Gesichtspunkt der – unter unterschiedlichen Bezeichnungen 73 – in Entscheidungen des EuGH immer wieder angesprochen wird, insbesondere im Rahmen der teleologischen Auslegung.74 Nach Pistor et al. gilt Gesellschaftsrecht als „gut“ und „leistungsfähig“, wenn es sich flexibel veränderten Verhältnissen anzupassen vermag. Die genannten Autoren haben Indizien für Anpas-
69 Eine zusätzliche Orientierungshilfe bietet auch der Referentenentwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Umwandlungsgesetzes v.12.2.2006, im Internet unter http://www.jura.uni-augsburg.de/prof/moellers/materialien/4_gesellschaftsrecht/125_ril_ 2005_56_EG_verschmelzung; dazu näher Seibt/Heiser, AG 2006, 301 ff. mwN. 70 Forsthoff, DStR 2006, 613, 617 f.; so auch bereits speziell im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1459; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, DStR 2005, 2138. Zum „Stillhaltegebot“ allgemein siehe Beitrag von Hofmann in diesem Band (§ 16 Rn. 27 ff.). 71 Ähnlich Forsthoff, DStR 2006, 613, 617 f. 72 Ähnlich Forsthoff, DStR 2006, 613, 617 f. Selbiges gilt für das in diesem Band (§ 16 Rn. 51) von Hofmann diskutierte Gebot zur frühzeitigen Anpassung der Rechtsprechung an die Vorgaben der Richtlinie zur Vermeidung „negativer Signalwirkungen“. 73 „Sinnvoll“ (EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération charbonnière de Belgium ./. Hohe Behörde, Slg. 1955/56, 297, 328); „Gesunder Menschenverstand“ (EuGH v. 17.12.1959 – Rs. 14/59 Société des Fondières de Pont-à Mousson ./. Hohe Behörde, Slg. 1958/59, 445, 491); Verhinderung von im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie „unsinnigen Ergebnissen“ (vgl. EuGH v. 21.4.1988 – Rs. 338/85 Pardini ./. Ministero del Commercio con l’estoro, Slg. 1988, 2041 Rn. 22, 24; EuGH v. 22.03.1990 – Rs C-234/88 Lampe-Mühle ./. Bundesanstalt für marktwirtschaftliche Marktordnung, Slg. 1990, I-1109 Rn. 16); vgl. dazu Buck, Auslegungsmethoden des EuGH (1998), S. 207 f. 74 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH (1998), S. 207 f.; vgl. auch Beitrag von Stotz, unten, § 22 Rn. 17ff.
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sungsfähigkeit entwickelt und untersucht, nämlich häufige Gesetzesänderungen, Entwicklung neuer Durchsetzungsmechanismen und ein hoher Anteil an Gestaltungsspielräumen bzw. dispositivem Recht.75 Vergleichsgruppen waren sog. „countries of origin“ und sog. „transplant countries“. Das besondere Zusammenspiel von europäischem und nationalem Recht wurde dabei nicht thematisiert, gleichwohl stellen sich hier dieselben Fragen. Insbesondere die neuen Mitglieder der EU haben zu großen Teilen den Prozeß der Institutionenbildung noch nicht vollständig abgeschlossen und finden sich vielfach in der Rolle der „transplant countries“. Ähnliches gilt für Mitgliedstaaten, die im Wege der Richtlinienumsetzung Modelle einführen, die ihrer eigenen Rechtsentwicklung fremd sind. Die Schwerfälligkeit der europäischen Gesetzgebung beschwört die Gefahr von Erstarrung herauf. Explizite Gegenmaßnahmen (die SLIM-Initiative, der Aktionsplan) wurden bereits ergriffen. Die Entwicklung nationalen Rechts könnte angesichts der Vielstufigkeit der europäischen Rechtsordnung an Dynamik verlieren. Vor diesem Hintergrund kommt der Tatsache, daß die europäische Rechtsetzung im Gesellschaftsrecht oft nationale Regulierung zurückdrängt – Grundfreiheiten als Beschränkungsverbot –, besondere Bedeutung zu. Das Informationsmodell fördert privatautonome Gestaltung und damit Innovation durch Kautelarjurisprudenz. Wie die Rechtsprechung des EuGH zu Inspire Art 76 zeigt, kommt der Wahlfreiheit im Hinblick auf Gesellschaftsstatut, Ort der Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft, Gründungsort und Sitz der Gesellschaft zentrale Bedeutung zu.77 Der Einsatz von Empfehlungen und anderen Formen des soft law ermöglicht die Herausbildung von akzeptanzgetragenen Strukturen.78 Diese andere Form von Dynamik steht im Einklang mit der Aufgabe des Ziels der Vollharmonisierung und der Betonung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 EGV). 4.
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Besonderheiten des Gesellschaftsrechts und die Frage der Systemkonvergenz
Bisher nur gestreift wurden inhaltliche Elemente des europäischen Gesellschaftsrechts. Das gesetzliche Mindestkapital, seine Aufbringung und Erhaltung iSd Kapitalrichtlinie79 könnten materielle Systemelemente sein. Gerade diese Regelung steht aber zur Reform an. Insgesamt gibt es im Gesellschaftsrecht wohl keinen so ausgeprägten gemeineuropäischen Rechtsbestand wie etwa im Vertragsrecht. Deshalb soll hier ein methodisch relevanter Gesichtspunkt aus der internationalen Corporate GovernanceDiskussion eingeführt werden. Dort geht es um die Frage, ob eine Konvergenz in
75 Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, Innovation in Corporate Law, http://ssrn.com/abstract =419861=JCE 2003, 676; dies., The Evolution of Corporate Law. A Cross-Country Comparison, http://ssrn.com/abstract=419881 = Pa.JIEL 2002, 791. 76 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; s. auch EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 77 Näher dazu unten bei Rn. 67 f. 78 Vgl. M.A. Eisenberg, 99 (1999) Colum.L.Rev., 1253. 79 S.o. Fn. 29. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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3. Teil: Besonderer Teil
Richtung auf ein optimales Governance-System möglich ist.80 Eine umfassende, einheitliche Antwort auf diese Frage wird es nicht geben. Hartnäckig fortbestehende Divergenzen erklären sich zumeist aus Pfadabhängigkeiten. Interessant ist aber auch die Feststellung, daß selbst bei Konsens über eine erstrebenswerte Regelung die Veränderung als solche Kosten verursacht (switching costs), mit vorhandenen anderen Regeln nicht harmoniert (Vernetzungsproblem) und deshalb unterbleibt oder doch zu suboptimalen Ergebnissen führt.81 Darüber hinaus haben die nationalen, pfadabhängigen Entwicklungen ihre eigene Optimierung erfahren. Im eigenen Land wurde nicht etwa ein europäischer Gipfel des besten Gesellschaftsrechts in Angriff genommen, sondern der lokale Hügel erstiegen (local hill phenomenon).82 Die im europäischen Kontext erforderliche Rechtsvergleichung auf der Ebene der Richtlinienumsetzung, der Ebene des sonstigen nationalen Rechts und auch von soft law ge-winnt an Gehalt und Plausibilität, indem sie Pfadabhängigkeiten, Vernetzungen und „lokale Hügel“ identifiziert.
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II.
Anwendungsbeispiel: Die verdeckte Sacheinlage
1.
Praktisches Ausgangsproblem
a)
Sachverhalt in BGHZ 110, 47 – IBH/Lemmerz
Im entschiedenen Fall war eine Aktiengesellschaft nicht mehr in der Lage, Lieferantenverbindlichkeiten in Höhe von rund 5 Mio. DM zu bedienen. Daraufhin einigte sie sich mit dem Gläubiger auf Folgendes: Die AG führte eine Kapitalerhöhung im Nennwert von ca. 1,5 Mio. DM (1.562.500 DM) gegen eine Bareinlage von 5 Mio. DM durch. Der Gläubiger (= Inferent) brachte die 5 Mio. DM auf und legte sie in bar ein. Entsprechend einer zuvor getroffenen Abrede tilgte der Vorstand daraus die Lieferantenverbindlichkeiten gegenüber dem Inferenten. Die Einlage des Inferenten war damit wirtschaftlich nicht die Barsumme von 5 Mio. DM, sondern die gegen die Gesellschaft gerichtete Forderung. Rechtstechnisch hätte die Forderung (nach deutschem Recht) offen als Sacheinlage eingebracht werden können. b)
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Interessenlage
Im internationalen Vergleich ist die Umwandlung von Forderungen in Einlagen, hauptsächlich im Sanierungsfall, aber auch zu anderen Zwecken, nichts Ungewöhnliches. Zur besseren Einordnung in den ökonomischen und europäischen Kontext sei deshalb ein kurzer Überblick über die betroffenen Interessen gegeben. 80 Hertig/Kanda, in: Kraakman u.a., The Anatomy of Corporate Law, S. 99; Bratton/McCahery, Comparative Corporate Governance and the Theory of the Firm: The Case Against Global Cross Reference, 38 Colum. J. Transnat’l L. 1999, 313, 333 ff.; Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004). 81 Bebchuk/Roe, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004), S. 69 ff. 82 Schmidt/Spindler, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004), S. 114 ff.
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aa)
Inferent
Für den Inferenten tritt eine Bilanzentlastung ein. Die Umwandlung der Forderung in Eigenkapital ist faktisch ein Besserungsschein für den Fall, daß die (wertlose) Forderung bei gelingender Sanierung als Beteiligung werthaltig wird. Für die Wahl der Konstruktion über eine Bareinlage wird die Umständlichkeit und Beschwerlichkeit der Sacheinlagevorschriften genannt. Das gilt auch außerhalb von Sanierungsfällen.
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Ist der Inferent ein Kreditinstitut, ist dieses grundsätzlich verpflichtet, Eigenmittel, d.h. sog. aufsichtsrechtliches Eigenkapital, zu halten, die in einem angemessenen Verhältnis zum Umfang der vergebenen Kredite und den damit verbundenen Ausfallrisiken stehen. Der Umfang der vorzuhaltenden Eigenmittel hängt von der Risikogewichtung ab, die sich wiederum nach der Bonität des Kreditnehmers richtet.83 Je gefährdeter der Kredit ist, desto mehr Eigenmittel müssen vorgehalten werden. Mit der Umwandlung in eine Einlage kann ohne Abschreibung die Bilanz um einen Risikokredit bereinigt werden, Eigenmittel werden frei. Letztlich besteht bei der Forderungseinbringung eine ähnliche Interessenlage wie diejenige, die dem Geschäftsmodell der Unternehmen zugrunde liegt, die Banken „faule“ Kredite abkaufen.
31
bb)
Die Gesellschaft selbst
Für die Gesellschaft ist die Umwandlung attraktiv, da sie die Forderung „aus den Büchern bekommt“, d.h. sie die Forderung nicht mehr passivieren muß und so die Überschuldung, bei der sie zur Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens verpflichtet ist, abwenden kann (§ 92 Abs. 2 S. 2 AktG iVm § 19 Abs. 2 S. 1 InsO). Ferner entfallen laufende Zinszahlungen (vgl. § 57 Abs. 2 AktG). Auch unabhängig von der Gefahr der Insolvenzantragspflicht hat die Umwandlung von Forderungen in Grundkapital Vorteile. Es erhöht sich die Eigenkapitalquote, die ein wichtiger Faktor für das Rating nach Basel II und damit für die Kreditbedingungen, insbesondere die Höhe der Zinsen ist. cc)
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Gläubiger
Auf den ersten Blick kommt die Transaktion den Gläubigern zugute. Die Forderung wird getilgt, ohne daß sich das Nettovermögen der Gesellschaft vermindert. Sie kann von dem Inferenten nicht mehr geltend gemacht werden. Damit gibt es einen weniger, mit dem der Kuchen geteilt werden muß. 83 Für diese Risikogewichtung sind die Vorgaben in §§ 10 ff. KWG iVm der Solvabilitätsverordnung der BaFin maßgeblich. Die Neue Baseler Eigenkapitalvereinbarung „Basel II“ (Wortlaut unter www.bundesbank.de/bankenaufsicht/bankenaufsicht_basel.php) ist eine internationale Vereinbarung, die u.a. die Konvergenz der Risikobewertung im Hinblick auf die gesetzlich vorgeschriebene Eigenkapitalausstattung der Banken zum Gegenstand hat. Die Implementierung soll bis Ende 2006 durch den Erlaß einer neuen Solvabilitätsverordnung erfolgen (s. dazu Wittig, ZHR 169 (2005), 212 f.) Diese wird tendenziell eine Verschärfung der Anforderungen an die Eigenmittelausstattung zur Folge haben (vgl. Wittig, ZHR 169 (2005), 231 ff.; Langenbucher, in: Hadding/Hopt/Schimansky (Hrsg.) Aktuelle Entwicklungen im Recht der Kreditsicherheiten – national und international, Bankrechtstag 2004 (2005), Schriftenreihe der Bankrechtlichen Vereinigung, Bd. 24. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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34
Dennoch ist die geschilderte verdeckte Sacheinlage im Hinblick auf den Gläubigerschutz problematisch. Durch die Barkapitalerhöhung entsteht der Eindruck, der Gesellschaft werde frisches Eigenkapital zugeführt. Für die sonstigen Gläubiger ist nur die Kapitalerhöhung erkennbar, die Rückzahlung an den Inferenten bleibt ihnen verborgen. Dadurch wird die wahre wirtschaftliche Lage, womöglich Insolvenzreife, verschleiert.84 dd)
Übrige Gesellschafter
35
Grundsätzlich besteht die Gefahr des Verwässerungseffekts: Es werden neue Anteile ohne einen wertmäßig adäquaten Vermögenszufluß ausgegeben. Hierdurch kommt es zu einer wirtschaftlichen Abwertung der bestehenden Anteile.85 Ferner sinkt aufgrund der Neuaufnahme eines Gesellschafters die nominelle Beteiligung, das Stimmgewicht verschiebt sich. Dadurch können Beteiligungen unter für die Ausübung von Minderheitsrechten relevante Quoren absinken. Anderseits droht den Gesellschaftern im Falle der Insolvenz der Totalverlust ihrer Einlagen. Daher dürfte bei einer stark insolvenzgefährdeten Gesellschaft die Verwässerung der Anteile von den übrigen Gesellschaftern häufig als das kleinere Übel angesehen werden.
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Der flexiblen Handhabung der Wiederanlage von Gewinnen dient das sog. Schüttaus-Hol-zurück-Verfahren, in dem ausgeschüttete Gewinne sogleich zur Kapitalerhöhung wieder eingezahlt werden. Auch hier handelt es sich um ein Hin- und-HerZahlen, das das Aufrechnungsverbot umgehen könnte. Bei transparenter Gestaltung sind nachteilige Effekte aber nicht zu befürchten. c)
37
Ökonomische Implikationen
Die geschilderten Interessen beschreiben bereits eine Reihe von ökonomischen Implikationen. Je komplizierter die Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital ist, desto schwerer wird es den Unternehmen gemacht, die in Deutschland vergleichsweise geringe Eigenkapitalquote zu erhöhen. Gesamtwirtschaftlich und im Hinblick auf Basel II ist das nicht unproblematisch. Ferner wird hier ein grundsätzliches ökonomisch-rechtspolitisches Problem berührt: Wie lange soll ein Unternehmen am Rande der Zahlungsunfähigkeit und/oder Überschuldung ohne geregeltes Reorganisationsverfahren am Markt agieren dürfen? 86 Die Bewertung hängt stark davon ab, wie man Sanierungschance und Gläubigergefährdung gewichtet. Das deutsche Gesellschaftsund Insolvenzrecht ist tendenziell eher gläubigerfreundlich, andere Rechtsordnungen stehen mehr in der Tradition der Unternehmensfortführung und Sanierung.87 Nicht zuletzt handelt es sich um ein Informationsproblem der übrigen Gläubiger und Gesellschafter, die durch die verdeckte Sacheinlage ein unzutreffendes Bild von der Gesellschaft erhalten. 84 BGHZ 110, 47, 62. 85 BGHZ 110, 47, 62. 86 Vgl. Kübler, ZHR 168 (2004), 216 ff. (mit vergleichendem Blick auf die Entwicklung in den USA); Paulus, ZGR 2005, 309, 312 ff. (mit Blick auf die internationale Entwicklung). 87 Vgl. Paulus, ZGR 2005, 309, 312 ff.; Kübler, ZHR 168 (2004), 216.
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Die Regeln zur Aufbringung und Erhaltung des Grundkapitals werden in ihrer Leistungsfähigkeit als Gläubigerschutz zunehmend kritisiert.88 Die Kapitalschutzvorschriften wiederum sind eng verbunden mit dem Bilanzrecht 89, das für die Bewertung maßgebend ist. 2.
Rechtlicher Einstieg: Deutsches Gesellschaftsrecht
a)
Forderungseinbringung als Sacheinlage
38
Eine Forderung ist als Sacheinlage einzubringen. Deren Wert bemißt sich nicht nur nach dem Nominalwert, sondern auch nach der Durchsetzbarkeit und Liquidität der Forderung, was wiederum von der Bonität und Liquidität des Schuldners, also hier der AG, abhängt. Um zu gewährleisten, daß der tatsächliche Wert von eingebrachten Vermögensgegenständen der nominellen Erhöhung des Stammkapitals entspricht, sieht das deutsche Aktiengesetz (und auch die Kapitalrichtlinie) vor, daß ein neutraler Sachverständiger die Werthaltigkeit prüfen muß (§§ 183, 27 AktG, Art. 10 Kapitalrichtlinie 90). Denn nur soweit die Einlage, hier: die Forderung, werthaltig ist, kommt es zu einer realen Vermögensmehrung bei der Gesellschaft. Daher sieht die ganz h.M. in Deutschland auch im Forderungsverzicht die Einbringung einer Sacheinlage. Diese geschieht durch Erlaßvertrag oder Abtretung an die Gesellschaft, woraufhin die Forderung infolge Konfusion erlischt.91
39
In dem oben geschilderten Sachverhalt handelt es sich in der Sache um den Verzicht auf eine Forderung gegen Gewährung von Gesellschaftsanteilen. Deshalb wurden die Vorschriften über Sacheinlagen angewandt mit der Folge, daß die Zahlung der 5 Mio. DM nicht befreiend wirkte (nicht zur freien Verfügung des Vorstands, vgl. §§ 188 Abs. 2 S. 1, 36 Abs. 2 S. 2 AktG) und der Inferent nochmals zahlen mußte.
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b)
„Lästigkeit“ des Sacheinlageverfahrens und der Versuch der Vermeidung
Die Durchführung einer Sachkapitalerhöhung nach den gesetzlichen Regeln ist „zeitraubend, teuer und lästig“.92 Gerade in Sanierungsfällen fehlt es meinst an Zeit und Geld. Hinzu kommt, daß bei realistischer Bewertung die Transaktion aus der Sicht des Inferenten oft wirtschaftlich sinnlos wird. Da in Sanierungsfällen die Bewertung
88 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 227 f.; Bericht der High Level Group of Company Law Experts v. 4.11.2002, abgedr. in ZIP 2002, 1310, 1318; Aktionsplan s.o. Fn. 16, 3.2.; Kübler in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.) Capital Markets and Company Law, (2003), 95 ff.; im deutschen Schrifttum grundlegend Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt (1989), S. 59 ff.; weitere Nachweise bei Merkt, ZGR 2004, 305, 310 Fn. 21. Näher dazu unten Rn. 62 f. und 84 ff. 89 Zur Verflechtung von deutschen und europäischen Vorschriften im Bilanzrecht s.o. Rn. 11 f. 90 S.o. Fn. 29. 91 BGHZ 110, 47, 60; ferner BGHZ 113, 225, 341; Hüffer, Aktiengesetz (7. Aufl. 2006), § 27 Rn. 25; Röhricht in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 1996), § 27 Rn. 80. 92 Lutter/Gehling, WM 1989, 1445. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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der Forderung der zu erwartenden Insolvenzquote entspricht, könnte die Gesellschaft nur Geschäftsanteile in Höhe dieses Werts neu ausgeben. Aber eine derart geringe Beteiligung ist für den Inferenten nicht attraktiv. Selbst wenn seine „Wette auf die Zukunft“ Erfolg haben sollte, wäre der Ertrag hieraus nicht ausreichend, um den durch den Verzicht entstandenen Nachteil zu kompensieren.93 Um diese Nachteile zu vermeiden, hat sich die Praxis der Barkapitalerhöhung bedient, bei der die Bareinlage hin- und hergezahlt wird. c)
Die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als Reaktion
42
Wenn, wie im vorliegenden Fall, der Aktionär zwar formal eine Bareinlage erbringt, er diese jedoch in einem engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang durch ein zweites Rechtsgeschäft gegen Zuführung einer anderen Leistung zurückerhält, liegt nach ständiger Rechtsprechung des BGH eine sog. verdeckte Sacheinlage vor.94 Es wird eine Abrede vermutet, in der sich die Gesellschaft zur Rückzahlung der auf die Bareinlage geleisteten Zahlungen verpflichtet. Wegen dieser Verwendungsabrede fehle es an einer ordnungsgemäßen Erbringung einer Bareinlage, da die Einlage zu keinem Zeitpunkt – wie von § 36 Abs. 2 S. 2 AktG verlangt – zur freien Verfügung des Vorstands gestanden habe. Zudem wird in dem Hin- und Herzahlen eine Umgehung des Verbots des § 66 Abs. 1 S. 2 AktG gesehen, das dem Inferenten die Aufrechnung gegen Einlageforderungen der Gesellschaft mit eigenen Forderungen verbietet. Einer Umgehungsabsicht bedarf es nicht. Es geht vielmehr um die Durchsetzung des Prinzips der realen Kapitalaufbringung.
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Die praktischen Folgen sind, um ein Wort von Lutter zu zitieren, „katastrophal“.95 Da der Anspruch der Gesellschaft auf Leistung der vereinbarten Bareinlage fortbesteht, muß der Aktionär die Bareinlage erneut aufbringen (§ 54 Abs. 1 AktG).96 Zwar steht dem Gesellschafter ein Gegenanspruch aus Bereicherungsrecht zu, da der mit der Zahlung auf die Bareinlage befolgte Leistungszweck – Erfüllung einer Verbindlichkeit – nicht eingetreten ist. Dieser ist aber meist wertlos. Häufig ist die Gesellschaft entreichert (§ 818 Abs. 3 BGB), die Forderung ist mangels Liquidität der Gesellschaft nicht werthaltig. Wegen des Aufrechnungsverbots kann der Aktionär weder Aufrechnung noch Zurückbehaltungsrechte geltend machen. Auch aus der Abrede mit der Gesellschaft kann der Aktionär nichts herleiten. Diese ist nämlich gemäß § 27 Abs. 3 S. 1 AktG nichtig.97
93 Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 94 BGH NJW 2000, 725, 726; Münchener Kommentar AktG-Pentz, (Bd. 1, 2. Aufl. 2000), § 27 AktG Rn. 85; Hüffer, Aktiengesetz, (7. Aufl. 2006), § 27 AktG Rn. 9 ff. 95 Lutter, FS Stiefel (1987), S. 517, 524; Lutter/Gehling, WM 1989, 446; vgl. auch Grunewald, FS Rowedder (1994), S. 114: „drakonisch“. 96 Eine Gegenansicht spricht sich für Differenzhaftung aus, Grunewald, FS Rowedder (1994), S. 111 ff.; Krieger, ZGR 1996, 674, 691; Schöpflin, GmbHR 2003, 57, 64; de lege ferenda Brandner, FS Boujong (1996), S. 44 ff.; vgl. auch Einsele, NJW 1996, 2681, 2688 f. 97 BGHZ 110, 47, 65. Mittlerweile gilt dies auch für eine verdeckte Sacheinlage bei der GmbH, vgl. BGHZ 155, 329 = NJW 2003, 867; BGH NZG 2006, 344, 346.
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Als Hauptargument für diese drakonischen Rechtsfolgen wird vorgebracht, daß die Vorschriften zur Kapitalaufbringung zum Schutz der Gläubiger und auch der übrigen Gesellschafter gegen Umgehung abgesichert werden müssen.98 Die Möglichkeit der Umgehung der Vorschriften zur Einbringung von Sacheinlagen ist in Deutschland seit mehr als 100 Jahren bekannt. Bereits der Gesetzgeber des Aktiengesetzes von 1884 war mit der Problematik vertraut 99 und schon das Reichsgericht hat die Lehre von der verdeckten Sacheinlage entwickelt. Eine erste Entscheidung erging bereits 1898,100 weitere folgten.101 Hervorzuheben ist die IDUNA Transport- und Rückversicherungs-AG Entscheidung,102 bei der es – wie bei der hier besprochenen Problematik – um ein Hin- und Herzahlen ging. In Deutschland blickt man vorliegend auf einen langen Zeitraum mit Umgehungserfahrungen zurück.103 Das deutsche Recht hat hier offenbar nicht nur einen Hügel, sondern einen veritablen lokalen Berg erstiegen.
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In Großbritannien wurde erst mit der Umsetzung der Kapitalrichtlinie das Prinzip der Aufbringung eines Mindestgrundkapitals eingeführt; der Gläubigerschutz wird traditionell über insolvenzrechtliche Instrumente und Durchgriffstatbestände be-
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98 Vgl. nur BGHZ 110, 47 f.: „Ein Umgehungsschutz ist … um so dringlicher, als sich die Kapitalerhöhung mit Sacheinlagen in der modernen Wirtschaft zu einem für die Aktiengesellschaft bedeutenden und unverzichtbaren Finanzierungsinstitut entwickelt hat und … um die Institute der bedingten Kapitalerhöhung (§§ 192 ff. AktG), des genehmigten Kapitals (§§ 202 ff. AktG) und der Kapitalerhöhung aus Gesellschaftsmitteln (§§ 207ff. AktG) erweitert worden ist. […] Die Lehre von der „verdeckten Sacheinlage“ stellt angesichts der Bedeutung der Kapitalerhöhung in ihren verschiedenen Gestaltungsformen sowie mit Rücksicht auf die Ausgestaltung, die diese Formen bis zum heutigen Zeitpunkt vor allem im Zuge der europäischen Rechtsangleichung erfahren haben, nicht nur einen zweckmäßigen, sondern auch einen notwendigen Bestandteil des Aktienrechts dar, mit dem die Umgehung der Vorschriften über den präventiven Kapitalaufbringungsschutz verhindert werden kann.“ 99 Begr. zum Entwurf eines Aktiengesetzes, 1884, § 10 III, B, 3 abgedr. in Schubert/Hommelhoff, 100 Jahre Aktienrecht, ZGR Sonderheft 4 (1985), S. 453. 100 RGZ 41, 120, 122 zu § 186 Abs. 2 HGB 1897, der Vorgängervorschrift von § 27 Abs. 1 AktG 1965: „Auch das Gesetz vom 20. April 1892 will, wie sich aus dem Zusammenhange seiner Bestimmungen unzweideutig ergibt, das Erfordernis aufstellen, daß die Gesellschaft bei ihrer Entstehung nicht bloß in den Besitz gewisser Werte, sondern in den Besitz von Geldern gelangt, über welche sie – in deren Eigenschaft eben als Geldes entsprechend – verfügen, und zwar frei verfügen, kann. Es will ferner Vorkehrungen dagegen treffen, daß durch Einverständnis zwischen dem einzahlungspflichtigen Gesellschafter und dem Geschäftsführer anstelle der bedungenen Geldeinlagen Gegenstände gegeben werden, von deren Übernahme der Gesellschaftsvertrag nichts enthält, und für deren zutreffende Schätzung daher eine ausreichende Kontrolle mangelt“. 101 Vgl. RGZ 121, 99. 102 RGZ 157, 213, 223: Barkapitalerhöhung, bei welcher der zur Erfüllung hingegebene Scheck absprachegemäß sofort wieder zurückgegeben wurde. Schon in dieser Entscheidung war das tragende Argument, daß es an der freien Verfügbarkeit des gezeichneten Geldbetrags fehle. 103 Abriß der historischen Entwicklung bei Wiedemann in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 1995), § 183 Rn. 89; Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1448 ff. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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wirkt.104 Hier ist der Umgehungsschutz, obwohl die Problematik im Kern altbekannt ist,105 für den Gläubigerschutz von stark untergeordneter Bedeutung.106 Bei der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital kommt Umgehung der Vorschriften zur Aufbringung von Sacheinlagen ohnehin kaum in Betracht, da Section 738 (2) 107 Companies Act 1985 „Bareinlage“ sehr breit definiert und den Erlaß einer gegen die Gesellschaft gerichteten, fälligen Verbindlichkeit als ordnungsgemäße Erbringung der Bareinlage anerkennt.108
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3.
Erschließung der europäischen Dimension
a)
Vorlage beim EuGH
Wie bereits angedeutet war die Praxis in Deutschland mit der Rechtsprechung zur verdeckten Sacheinlage unglücklich. Davon zeugt auch die intensive Befassung von Rechtsprechung und Lehre mit Möglichkeiten für eine „Heilung“ der verdeckten Sacheinlage.109 Meilicke hatte die Kapitalrichtlinie gegen die Lehre von der ver-
104 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 226 f., 232 f. 105 Vgl. Entscheidung Ooeregum Gold Mining Co of India vs. Roper (1892): Keine Anerkennung einer Transaktion, die offensichtlich dazu führt, daß letztlich Anteile unter dem Nominalwert ausgegeben werden (zitiert in Hannigan, Annotated Guide to the Companies Act [2001], S. 157); vgl. auch Boyle/Birds, Company Law (5. Aufl. 2004), S. 181. Zwar bezieht sich der Umgehungsschutz auf das Verbot der Unterpariemmission, das auch für die private limited gilt (vgl. Section 100 I CA: „A company’s shares shall not be allotted at a discount“; näher dazu Micheler, ZGR 2004, 324, 325f.), aber mittelbar wird damit auch die Aufbringung des Mindesthaftkapitals geschützt. Daher trifft die Aussage von Lutter/Gehling (WM 1989, 1445, 1457f.), es fehlten Erfahrungen mit dem Umgehungsphänomen ganz, nur bedingt zu. 106 Zur geringen praktischen Relevanz vgl. Boyle/Birds, Company Law, (5. Aufl. 2004), S. 180: „… these rules often have less significance than their volume and complexity would otherwise suggest … It must be said that some of the Directive’s provisions appear to be rather pointless in practise …“ Zu Reformbestrebungen Micheler, ZGR 2004, 324, 330 ff. 107 Wortlaut von Section 738 (2): „For purposes of this Act, a share in a company is deemed paid up (as to its nominal value or any premium on it) in cash, or allotted for cash, if the consideration for the allotment or payment up is cash received by the company, or is a cheque received by it in good faith which the directors have no reason for suspecting will not be paid, or is a release of a liability of the company for a liquidated sum, or is an undertaking to pay cash to the company at a future date.“ 108 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 235 f. Allerdings werden für einen Forderungsverzicht iSv Section 738 (2) Bestimmtheit der Schuld und Zustimmung der Gesellschaft verlangt, vgl. Gansen, Kapitalaufbringung im englischen und deutschen Kapitalgesellschaftsrecht (1992), S. 36 ff.; Hannigan, Annotated Guide to the Companies Act (2001), S. 1092, jeweils mwN. 109 Für die GmbH läßt der BGH eine Heilung durch Satzungsänderung zu (BGHZ 132, 141, 150 ff.). Ob dies auf das Aktienrecht übertragen werden kann, ist umstr.; befürwortend Röhricht in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.) GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 1996), § 27 Rn. 31; die wohl h.M. will mit Hinweis auf § 27 Abs. 4 AktG Heilung nur zulassen, wenn die Satzungsänderung vor Eintragung der Kapitalerhöhung erfolgt, vgl. Hüffer, Aktiengesetz, (7. Aufl. 2006), § 27 Rn. 31; Münchener Kommentar AktG-Pentz, (Bd. 1, 2. Aufl. 2000), § 27 Rn. 81 f.). Daneben wird diskutiert, ob und inwieweit eine Heilung durch eine sog.
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deckten Sacheinlage mobilisiert.110 Er argumentierte, daß der europäische Gesetzgeber mit der Kapitalrichtlinie nicht nur einen Mindestschutz festschreiben wollte, sondern damit eine umfassende Harmonisierung der Vorgaben für die Kapitalaufbringung und Erhaltung bezwecke. Auch das Problem der Umgehung sei vom Richtliniengeber erkannt und in den Vorgaben zur Nachgründung in Art. 11 der Kapitalrichtlinie abschließend geregelt. Damit lege die Richtlinie nicht nur einen Mindest-, sondern auch einen Höchststandard fest, über den der nationale Gesetzgeber (und die Rechtsprechung) nicht hinausgehen dürfe. Damit war die Gretchenfrage gestellt: Ist die Kapitalrichtlinie allgemein bzw. Art. 10, 11 Mindest- oder Höchstnorm? Bei dem geschilderten Fall war es für den BGH derart eindeutig, daß es sich nur um eine Mindestnorm handele, daß er, wie es Habersack 111 formulierte, unter „beherztem“ Rückgriff auf die acte-clair-Doktrin 112 eine Vorlage an den EuGH ablehnte. Die Vereinbarkeit der Lehre der verdeckten Sacheinlage mit der Richtlinie stehe außerhalb jedes vernünftigen Zweifels.113 Angesichts der Kritik an der Nichtvorlage 114 hat im Verfahren Meilicke/ADV-ORGA, dem ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag, das LG Hannover dem EuGH die Frage, ob die Lehre von der verdeckten Sacheinlage mit der Richtlinie vereinbar sei, zur Entscheidung vorgelegt.115 Der EuGH hat eine Entscheidung über die Vorlagefragen aus prozessualen Gründen abgelehnt.116 Die angeschnittenen Fragen sind also nach wie vor nicht abschließend entschieden.117 Deshalb ist das Plädoyer des Generalanwalts beim EuGH Tesauro besonders beachtenswert, der eine sehr differenzierte Sichtweise dieser Problematik entwickelt und dabei sehr sauber zwischen verschiedenen Fragekreisen trennt.118
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Nachgründung nach § 52 AktG analog möglich ist (vgl. dazu Hüffer, ebd., Rn. 32; Pentz, ebd., Rn. 83). Meilicke, DB 1989, 1067 ff. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 162. Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T. ./. Ministero della Sanità, Slg. 1982, 3415 Rn.15. BGHZ 110, 47, 68 ff. Vgl. statt aller Steindorff, EuZW 1990, 251, 254; vergleichsweise wohlwollend Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 39: „sehr großzügige Interpretation“. LG Hannover, Beschl. v. 15.01.1991 – Meilicke ./. ADV-ORGA, ZIP 1991, 369; Vorlagefrage wörtlich: „Ist es mit dem Recht der Europäischen Gemeinschaft vereinbar, die Tilgung vor einer Kapitalerhöhung einer Aktiengesellschaft begründeten Darlehensverbindlichkeiten der Gesellschaft mit Barmitteln des Darlehensgläubigers nach den Schutzvorschriften für das Sacheinlagegeschäft abzuwickeln?“ Das Gericht stellte noch weitere sieben Vorlagefragen mit Alternativen und Unterfragen, u.a. ob die Vorschriften der Richtlinie unmittelbar anwendbar sind und ob Art. 10, 11 nur Mindestregelungen sind oder eine abschließende Regelung des Umgehungsschutzes darstellen; vgl. Darstellung im Schlußantrag des Generalanwalts (Slg. 1992, 4871, Tz. 16 ff.). EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871. Zur Kritik an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage aus europarechtlicher Sicht vgl. Einsele, NJW 1996, 2681, 2683 ff.; Wilhelm, Kapitalgesellschaftsrecht, (2. Aufl. 2005), Rn. 257 ff. GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, 4871 Tz. 16 ff.
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aa)
1. Fragenkreis: Mindest- oder Höchstnorm
48
In einem ersten Schritt stellt Tesauro fest, daß die abstrakte Frage, ob eine Richtlinie Mindest- oder Höchstnorm sei, nicht allgemein beantwortet werden könne. Es müsse vielmehr jede Bestimmung der Richtlinie individuell analysiert werden.119
49
Bei systematischer Betrachtung der Kapitalrichtlinie ergebe sich kein eindeutiges Bild. Einerseits sprechen die Begründungserwägungen lediglich von einem „Mindestmaß an Gleichwertigkeit“, andererseits sprechen einige Vorschriften expressis verbis von einem „Mindeststandard“ und wieder andere räumen Mitgliedstaaten ausdrücklich ein Ermessen ein. Dies lege nahe, daß strengere Vorschriften nur dann zulässig seien, wenn eine solche Möglichkeit ausdrücklich eingeräumt sei.120
50
Der zweite Schritt ist die Anwendung dieser Überlegung. Da Art. 11 den Mitgliedstaaten für zwei Fälle ausdrücklich das Recht einräume, strengere Regeln zu erlassen,121 sei im Umkehrschluß zu folgern, daß die Bestimmungen im übrigen abschließend seien und damit einen verbindlichen Mindest- und Höchststandard festlegten.122 Dabei sei zu berücksichtigen, daß jedes Hinausgehen über den Mindeststandard nicht nur den Schutz verbessere, sondern gleichzeitig andere schützenswerte Interessen beeinträchtige, da Gläubiger- und Gesellschafterinteressen nicht zwingend gleichlaufend seien.123 Damit sei die Kapitalrichtlinie zwar nicht generell eine Höchstnorm, aber der nationale Gesetzgeber dürfe nicht über den in Art. 10, 11 festgelegten Schutzstandard hinausgehen. bb)
51
2. Fragenkreis: Rechtfertigung allgemeinen Umgehungsschutzes
Im allgemeinen werden die Mitgliedstaaten durch eine Richtlinie nicht gehindert, ihre allgemeinen Rechtsvorschriften und Rechtsinstitute anzuwenden, zu denen auch der Umgehungsschutz zähle. Im deutschen Schrifttum zudem wird mit Hinweis auf den
119 Dieser Befund, auf den Tesauro in der Sache „Siemens Nold“ verwiesen hat, wurde vom EuGH bestätigt. In diesem Verfahren ging es um die Frage, ob die Vorgaben des AktG und des BGH zum Bezugsrecht bei Sachkapitalerhöhungen und dessen Ausschluß mit der Kapitalrichtlinie vereinbar sind. Der EuGH hat dies mit Hinweis darauf bejaht, daß die Richtlinie nur für die Barkapitalerhöhung Vorgaben mache; GA Tesauro, Schlußanträge v. 19.9. 1995 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1995, I-6017 Tz. 10; EuGH v. 19.11.1995 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1995, I-6017 Rn. 18. Daneben spielte die Erwägung eine Rolle, daß gegen eine Verstärkung des Aktionärsschutzes regelmäßig dann keine Einwände bestehen, wenn diese nicht unmittelbar auf Kosten des Gläubigerschutzes geht (EuGH ebd. Rn. 19); ähnlich auch Meilicke, DB 1989, 1067 ff. 120 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 12. 121 Vgl. Art. 11 Abs. 1 UAbs. 2: „Die Mitgliedstaaten können diese Vorschriften auch vorsehen, wenn der Vermögensgegenstand einem Aktionär oder einer anderen Person gehört.“ 122 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 18f. 123 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 12, 13.
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effet utile 124 darauf verwiesen, daß einer jeden europarechtlichen Norm das Gebot eines effektiven Umgehungsschutzes immanent sei 125. Die Frage der Umgehung stelle sich aber nicht, wenn es sich bei der Einbringung einer Forderung um eine Bareinlage iSd Kapitalrichtlinie handele, da ja dann nichts mehr umgangen werde.126 Dabei könne die Definition des Begriffs der Sacheinlage nicht dem nationalen Gesetzgeber überlassen werden, da es dieser sonst in der Hand hätte, über den Anwendungsbereich der Richtlinie zu entscheiden.127 Damit sind wir bei dem häufig behandelten Problem der „autonomen Auslegung“ von gemeischaftsrechtlichen Begriffen angelangt.128 Tesauro gelangt zu dem Ergebnis, daß die Einbringung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung jedenfalls dann als Bareinlage anzusehen sei, wenn diese liquide und fällig sei.129 Er begründet dies mit dem rechtsvergleichenden Hinweis, daß nahezu alle Mitgliedstaaten zu diesem Ergebnis kämen. Dies sei auch mit dem Zweck der Richtlinie zu vereinbaren, da – anders als bei den klassischen Sacheinlagen – der Nominalwert der Forderung eindeutig zu ermitteln sei und die Bilanz der Gesellschaft ja auch in voller nomineller Höhe der Forderung entlastet werde.130
52
Wenn nicht eindeutig feststellbar sei, ob die Forderung liquide ist, dann sei der nationale Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt, die Transaktion als Umgehung der Vorgaben zur Sacheinlage zu behandeln. Jedoch setze die Annahme eines Umgehungstatbestandes den Nachweis einer Umgehungsabsicht des Inferenten voraus.131
53
124 Das Gebot der möglichst effektiven Umsetzung des Europarechts ist ständige Rspr. und gilt auch im Gesellschaftsrecht; vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 37 mwN. 125 Vgl. Habersack, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 6 Rn. 163; Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1456 ff.; Kindler, FS Boujong (1996), S. 299, 308 f.; Röhricht in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 1996) § 27 Rn. 192. 126 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 11. 127 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 13. 128 Vgl. dazu Beiträge von Riesenhuber, oben, § 11 Rn. 4 ff.; Röthel, oben, § 12 Rn. 32 f. und Roth, oben, § 14 Rn. 22, 39. 129 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 14. Wenn man der Auffassung des Generalanwalts folgt, daß der Bareinlagebegriff richtlinienautonom im Hinblick auf die Übung in der übergroßen Mehrzahl der Länder einheitlich auszulegen ist, dann ist die Einbringung einer Forderung als Bareinlage anzusehen, und damit die Behandlung des Hin- und Herzahlens als verdeckte Sacheinlage problematisch. Denn daß die Richtlinie erlaubt, bei einer Sacheinlage über die Mindestanforderungen hinauszugehen, bedeutet nicht zwangsläufig, daß die Richtlinie erlaubt, einen Vorgang, der nach der Richtlinie (vermeintlich) zwingend als Bareinlage anzusehen ist, wie eine Sacheinlage zu behandeln. 130 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 14. So auch das Argument der deutschen Stimmen im Schrifttum, die sich für die Behandlung der sanierenden Forderungseinbringung als Bareinlage aussprechen; vgl. Geßler, FS Möhring (1971), S. 173, 191; Meilicke, Die verschleierte Sacheinlage (1989), S. 2. 131 GA Tesauro, Schlußanträge v. 8.4.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871 Tz. 20, 21. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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Die rechtsvergleichende Aussage, die Tesauro zum Ausgangspunkt seiner Argumentation macht, ist allerdings verkürzt und teilweise auch überholt. Eine echte Gleichstellung mit der Bareinlage findet sich vor allem in England.132 Frankreich und Belgien differenzieren durchaus zwischen Bareinlage und Einlage der Forderung, lassen aber eine Aufrechnung bzw. Verrechnung von Forderungen des Gesellschafters mit Bareinlageforderungen zum Wert der Forderung zu,133 wobei es umstritten ist, ob und wann die Aufrechnung zum nominellen Wert erfolgen darf und wann eine Prüfung der Werthaltigkeit der Forderung erfolgen muß.134 Ähnlich ist die Rechtslage in Spanien.135 Angesichts dieses doch verhältnismäßig uneinheitlichen Bildes wäre es exakter zu formulieren: Die Einbringung einer Forderung wird oft wie eine Bareinlage behandelt.
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Andere Länder haben sich hingegen der strengen Auffassung des deutschen Rechts angenähert. So ist in Österreich unter dem Gesichtspunkt der Verhinderung von „Umwegkonstruktionen“ die Aufrechnung gegen die Bareinlageverpflichtung nur dann zulässig, wenn die Forderung vollwertig sowie fällig ist, bereits vor der Kapitalerhöhung bestand und die Aufrechnung von allen Beteiligten zum Zeitpunkt der Kapitalerhöhung vereinbart war.136 In Italien ist die Einlage einer Forderung hingegen als eine eigene, dritte Art der Einlage geregelt (stima die conferementi di crediti), wobei Forderungen grundsätzlich wie eine Sacheinlage behandelt werden (Art. 2343 Codice Civile). Ob bei Forderungen gegen die Gesellschaft eine Ausnahme zu machen ist und diese wie Bareinlagen zu behandeln sind, wurde in der Kommission zur Umsetzung der Kapitalrichtlinie kontrovers diskutiert.137 Um die oben angesprochenen Transformationsländer nicht unberücksichtigt zu lassen, sei als weiteres Beispiel Tschechien erwähnt. Hier ist weitgehend unstreitig, daß dieser als „Kapitalisierung von Forderungen“ bezeichnete Vorgang als Sacheinlage anzusehen ist und eine entsprechende Prüfung der Werthaltigkeit stattfinden muß.138
132 S. o. Rn. 45 bei Fn. 104–108. 133 Art. 178 Abs. 2 loi 66; vgl. dazu Meilicke, DB 1989, 1070; Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm (1998), S. 158. 134 Darstellung bei Meilicke und Drinkuth (vorige Fn.) insoweit mißverständlich und verkürzt. Eingehend zu dieser Problematik Hansen, Die verdeckten Sacheinlagen in Frankreich, Belgien und Deutschland (1996), S. 160 ff. 135 Art. 156 Abs. 1 LSA (spanisches AktG); näher dazu Franzmann, Kapitalaufbringung im spanischen Kapitalgesellschaftsrecht (1995), S. 75 ff., 80. 136 OGH SZ 66/90 = ÖJZ 1993, 155; näher dazu Münchener Kommentar AktG-Doralt (Bd. 1, 2. Aufl. 2000), § 27 AktG Rn. 145. 137 Zu dieser Diskussion Meilicke, DB 1989, 1069, 1070. Die Darstellung des Streitstands bei Meilicke ist allerdings teilweise überholt; zum aktuellen Stand vgl. Cian/Trabucchi, Commentario breve al Codice Civile (2. Aufl. 2004), S. 2343 m.N. 138 „Kapitalizace pohledávky“, vgl. Stenglová/Plíva/Tomas, Obchodní zákoník (8. Aufl. 2004), S. 187, 193. Seit der Handelsrechtsnovelle von 1998 wurde in § 59 Abs. 2 TschechHGB das Erfordernis eingeführt, daß die Gesellschaft den Einlagegegenstand für die Zwecke des Unternehmens wirtschaftlich nutzen können muß. Inwieweit die Einbringung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung mit diesem Merkmal vereinbar ist, ist nicht abschlie-
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
b)
Methodische Erträge
Das Beispiel zeigt, daß im Gesellschaftsrecht – wie meist – ein konkreter Konflikt der Ausgangspunkt ist, der zunächst die nationalen Gerichte beschäftigt. Es wird aber auch deutlich, daß die europäische Dimension oftmals nicht wegen ihrer selbst erschlossen wird, sondern als Instrument im Rechtsstreit139 oder gegen eine nationale Rechtsentwicklung. Der europäische Gehalt gesellschaftsrechtlicher Fragestellungen ist gleichwohl unabhängig von der Instrumentalisierung sowohl in der Beratungspraxis wie in der richterlichen Tätigkeit.140 An erster Stelle steht die Ermittlung primären und sekundären Gemeinschaftsrechts und des Stands der Harmonisierung einschließlich des Entwicklungszieles. Vorliegend ist der Abschied vom Gedanken der Vollharmonisierung des Gesellschaftsrechts also von unmittelbarer Bedeutung für die Auslegung der Richtlinien. Bei der (richtlinienkonformen) Auslegung des nationalen Rechts ist der so ermittelte Stand zugrunde zu legen. Desweiteren ist das nationale Recht im europäischen Kontext zu positionieren, d.h. der nationale Regelgeber muß entscheiden, welches Angebot im Wettbewerb der Rechtsordnungen unterbreitet werden soll. Insofern besteht eine Wechselwirkung mit der Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts.
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Rechtsvergleichende Betrachtungen helfen, das local-hill-Phänomen zu erkennen.141 Das dient aber nicht nur der reiferen Selbsterkenntnis, sondern auch dem europäischen Überblick über die nationalen Täler und Hügel. Denn dort, wo ein Tal durch Harmonisierung aufgefüllt wurde, bleibt meist immer noch eine gewisse Senke – in Großbritannien etwa erfreut sich das Mindestgrundkapital nach wie vor keiner überwältigenden Sympathie. Eine lebendige Fortentwicklung ist nicht zu erwarten, es handelt sich um ein legal transplant.142 Und das Abtragen von Hügeln ist mühsam, wie die Lehre von der verdeckten Sacheinlage zeigt.
57
139
140
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142
ßend geklärt, sodaß in diesem Punkt das tschechische Recht tendenziell sogar strenger ist als das deutsche. So im Ausgangsfall „Überseering“ (EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919), der der Abwehr von Gewährleistungsansprüchen diente, vgl. Eidenmüller, ZIP 2002, 2233 ff.; Neye, EWiR 2002, 1113 f. Hier schon wegen des evtl. Erfordernisses einer Vorlage nach Art. 234 EG, das nach Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützt ist; BVerfGE 45, 142, 181 ff.; 73, 339, 366 ff.; Münch/Kunig-Kunig, Grundgesetz (Bd. 1, 5. Aufl. 2000), Art. 14 Rn. 14. Rechtsvergleichender Überblick zur verdeckten Sacheinlage etwa bei Wiedemann in: Hopt/ Wiedemann (Hrsg.), GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 1995), § 183 Rn. 10 ff.; Kindler, ZHR 158 (1994), 339, 342 ff.; vgl. auch rechtsvergleichende Betrachtungen o. Rn. 45, 51 f. Diese Metapher geht auf Alan Watson (Legal Transplants, An Approach to Comparative Law (1993), S. 21 ff.) zurück und soll die Übertragung von Rechtssätzen von einem Land zum anderen versinnbildlichen; näher dazu Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, Innovation in Corporate Law, http://ssrn.com/abstract=419861 = JCE 2003, 676; dies., The Evolution of Corporate Law. A Cross-Country Comparison, http://ssrn.com/abstract=419881 = Pa.JIEL 2002, 791. Zur umgekehrten Problematik der „Transplantation“ angelsächsischer Rechtsfiguren in das deutsche Aktienrecht Fleischer, NZG 2004, 1129 ff.
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Der Rechtsvergleich ist aber schon auf der vorgelagerten Ebene der Auslegung der Richtlinie erforderlich. Nur so ist nämlich zu verhindern, daß kraft nationalen Vorverständnisses die acte-clair-Doktrin in Anspruch genommen wird, obwohl für Unklarheiten aller Anlass besteht. Im vorliegenden Beispiel der verdeckten Sacheinlage ist die Frage, ob die Umwandlung von Forderungen in Eigenkapital Sacheinlagen iSd Richtlinie sind. Denn die Abgrenzung Bareinlage/Sacheinlage geht in den Mitgliedstaaten verschiedene Wege.143
59
Das Beispiel der Kapitalaufbringungsvorschriften und der Bekämpfung ihrer Umgehung verdeutlicht, daß die Anwendung von Gesellschaftsrecht im europarechtlichen Kontext einen breiten Zugriff braucht, der aktuelle europäische und internationale Entwicklungen einbezieht und die Gesamtkonzeption des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts berücksichtigt. Dieses Postulat gilt auch in Bereichen, in denen sekundäres Gemeinschaftsrecht keine zwingenden Vorgaben macht. Selbst wenn viel dafür spricht, daß der deutsche Gesetzgeber bzw. die deutsche Rechtsprechung die Freiheit haben, an der Lehre von der verdeckten Sacheinlage festzuhalten, sollte man den Gebrauch dieser Freiheit kritisch hinterfragen. Die strenge Handhabung dürfte insbesondere ausländische Inferenten überraschen,144 enthält also vor allem auch ein Informationsproblem.
III. Europäische und nationale Entwicklungsperspektive
60
1.
Europäische Ebene
a)
Gesellschaftsrecht allgemein
Wie oben ausgeführt, ist das europäische Gesellschaftsrecht in besonderem Maße „law in action“. Das betrifft nicht nur den Harmonisierungsstand, sondern ebenso materielle Weiterentwicklungen. Dieses hohe Maß an Dynamik bedarf eines stimmigen Zusammenspiels, einer laufenden Anpassung und Abstimmung. Dynamische Auslegung kann daher hier nicht bedeuten, von der schieren Anzahl der Rechtsakte 145
143 S.o. Rn. 45, 51 f. Hier zeigt sich auch die Gefahr einer spontanen Ausrichtung auf ein „Vorbildrecht“, nämlich des deutschen Rechts hinsichtlich der Kapitalaufbringungsgrundsätze. Der eigene Standort mag der Gipfel eines local hill sein. Methodisch gibt es aber keinen grundsätzlichen Vorrang eines „Vorbildrechts“, vgl. Beitrag von Riesenhuber, oben, § 11 Rn. 38. 144 Ein gravierender Fall der fehlgeschlagenen Einbringung von Forderungen betraf General Motors. Das Unternehmen wurde im Zuge des Konkurses der IBH Holding AG durch das LG Mainz (AG 1987, 91 ff.) zu einer Nachzahlung von 62,8 Millionen DM verurteilt, vgl. dazu Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1446; Hommelhoff, ZIP 1987, 477, 480 f.; vgl. auch BGH ZIP 1992, 1464 ff. (IBH/Scheich Kamel); dazu Wiedemann, EWiR 1992, 1153 f. 145 Vgl. Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, Innovation in Corporate Law, http://ssrn.com/ abstract=419861 = JCE 2003, 676; dies., The Evolution of Corporate Law. A Cross-Country Comparison, http://ssrn.com/abstract=419881 = Pa.JIEL 2002, 791: Anzahl von Veränderungen als Flexibilitätsmaßstab.
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
im Bereich des Gesellschaftsrechts auf einen hohen Harmonisierungsgrad zu schließen und die europarechtlichen Vorgaben allgemein im Zweifel weit mit dem Ziel einer möglichst weit gehenden Vereinheitlichung auszulegen. Da es aufwendiger ist, europarechtliche Vorgaben zu ändern als nationales Recht, würde bei einer Harmonisierung des Gesellschaftsrechts „in die Breite“ Erstarrung drohen. Hinzu kommt die besondere Problematik einer komplexen Vielstufigkeit und eines vielschichtigen Zusammenspiels von Normen. Ausgangspunkt sind nationale Vorgaben für das Gesellschaftsrecht. Darauf setzen die europäischen Regeln für Kapitalgesellschaften auf. Von denen gelten wiederum einige nur für die AG, von denen wiederum einige nur für börsennotierte AG. Bei letzteren kommt das Zusammenspiel mit dem Kapitalmarktrecht hinzu. Daher droht dem Recht gerade der börsennotierten Gesellschaften bzw. nationalem Aktiengesellschaftsrecht, daß es zwischen den mannigfaltigen kapitalmarktrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Vorgaben eingezwängt wird und Handlungs- und damit Anpassungsspielräume schrumpfen.146 Ein gesellschaftsrechtliches Gegengewicht können hier dispositive Vorschriften bilden, genauer: die europarechtliche Festschreibung der Dispositivität. Mittelbar ist das geschehen hinsichtlich der Auswahl des Gründungsstatuts (Inspire Art),147 unmittelbar im SE-Statut betreffend Aufsichtsrats- oder Board-System.148 Vor diesem Hintergrund bedeutet „dynamisch“ auslegen, den Harmonisierungsstand differenziert zu betrachten und zwischen Gewährleistung der primären Niederlassungsfreiheit (grenzüberschreitende Gründung und unternehmerische Beteiligung an Gesellschaften, Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts) einerseits 149 und Beurteilung des nationalen Rechts aufgrund des Gesellschaftsstatuts anderseits zu unterscheiden. b)
61
Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen
Das Konzept des Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringung und -erhaltung war nie unumstritten und seine Sinnhaftigkeit wird – vor allem aufgrund ökonomischer und rechtsvergleichender Überlegungen – zunehmend in Frage gestellt. Das System sei aufwendig, teuer, bewirke keinen wirklich effizienten Schutz 150 und benachteilige
146 Ähnlich für das deutsche Aktienrecht Ekkenga, ZGR 1999, 165, 200: „Die börsennotierte AG droht, zwischen zwei aufeinander nicht ausreichend abgestimmten Normenkomplexen eingezwängt zu werden: Hier das zwingende Aktienorganisationsrecht mit seinem institutionalisierten Minderheitenschutz, dort die zunehmende Reglementierung des Marktverhaltens zum Zwecke des Anlegerschutzes.“ 147 S.o. Fn. 76. Zur Wahlfreiheit in der Praxis s. Riegger, ZGR 2004, 510 ff. Näher dazu unten III. 2. 148 Die SE-VO (s.o. Fn. 23) gewährt in Art. 38 ein Wahlrecht und macht für beide Varianten Vorgaben (vgl. Art. 39 zum dualistischen System; Art. 43 ff. zum monistischen System). Näher zu den Methodenfragen bei der SE unten Rn. 76 ff. 149 Dazu näher unten Rn. 67 ff. 150 Enriques/Macey, 86 Cornell Law Review 2001, 1165 ff. „Creditors Versus Capital Formation: The Case Against the European Legal Capital Rules“; Hansmann/Kraakmann, 110 (2000) Yale L.J. 1879 ff.; so bereits aus rechtsvergleichender Sicht Kübler, ZHR 168 (2004), Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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unfreiwillige Gläubiger.151 Auch in ihrem Aktionsplan152 gelangt die Kommission zu dem Schluß, daß das Mindestkapitalkonzept zwar nicht aufgegeben werden soll, jedoch eine Vereinfachung der Kapitalrichtlinie153 wesentlich zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde. Ferner hat sie angekündigt, langfristig Überlegungen anzustellen, ob das System des festen Garantiekapitals durch alternative Systeme des Gläubigerschutzes ersetzt werden sollte. Spätestens 2008 soll hierzu eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben werden.154
63
Darauf folgte der Entwurf der Änderungsrichtlinie zur Kapitalrichtlinie.155 Diese sieht in einem neuen Art. 10a vor, daß die Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen von dem Erfordernis der Erstellung eines Sachgründungs- bzw. -einlageberichts über die Werthaltigkeit der Einlage absehen können. Dabei handelt es sich um Umstände, bei denen eine objektive Bewertung gewährleistet erscheint (als Einlage werden an einem geregelten Markt notierte Wertpapiere eingebracht, die Einlage wurde vor kurzem bereits bewertet, der Wert geht aus der Vermögensaufstellung eines gesetzlichen Abschlusses hervor, der im Einklang mit den entsprechenden europarechtlichen Vorgaben aufgestellt wurde). Dem Minderheitenschutz soll dadurch Rechnung getragen werden, daß Aktionäre, die zusammengenommen mindestens 5% des gezeichneten Kapitals halten, eine Neubewertung des betreffenden Vermögensgegenstands verlangen können.
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Was folgt aus dem Vorliegen eines solchen Entwurfs für die Auslegung der existierenden Richtlinie? Ein echtes Vorwirkungsproblem 156 stellt sich wohl nicht, da die gegenwärtige strenge Handhabung der Kapitalaufbringungspflicht keine vollendeten Tatsachen schafft, die die Zielsetzung einer späteren, großzügigeren Richtlinie vorab vereiteln würde.157 Jedenfalls aber wird es der aktuellen Entwicklung nicht gerecht, der Kapitalrichtlinie zu unterstellen, sie wolle einen möglichst umfassenden, in jeder Hinsicht abgesicherten Kapitalaufbringungsschutz gewährleisten.158 Ferner sieht die Richtlinie nicht eine generelle Absenkung des Schutzniveaus vor, sondern schafft ein
151
152 153 154 155 156 157 158
476
S. 216 ff.; ders., in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law (2003), S. 95 ff.; ders., EBLR 2004, 1031. Zur aktuellen Diskussion im Hinblick auf die Zukunft des deutschen Aktienrechts siehe Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151 ff.; Schön, Der Konzern (2004), S. 162 ff. Speziell zu diesem Aspekt Hansmann/Kraakmann, 110 (2000) Yale L.J., 1879; Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftsrecht (2002), S. 138 ff.; vgl. auch die Beiträge in der vorigen Fn. S.o. Fn. 16. S.o. Fn. 29. Dazu näher Habersack, NZG 2004, 1, 2; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 499. S.o. Fn. 43. Näher dazu Maul, BB 2005 (Beilage Heft 34), 11 ff. Zur Problematik der Vorwirkung allgemein siehe Beitrag von Hofmann, oben § 16; s. auch o. Rn. 23. Vgl. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie ./. Région wallonne, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44, näher zur Vorwirkung im Gesellschaftsrecht allgemein s.o. Rn. 23. Vgl. BE 2: „… gelangt die Kommission zu dem Schluß, daß eine Vereinfachung der Richtlinie 77/91/EWG wesentlich zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde, ohne den Aktionärs- und Gläubigerschutz zu verringern.“ Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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Wahlrecht. Dies bestätigt den bereits oben erhobenen Befund, daß keine vollständige Vereinheitlichung gewollt ist, sondern der Richtliniengeber in kauf nimmt, daß in einigen Staaten ein höherer Kapitalaufbringungsschutz betrieben wird als in anderen Staaten. Eine eindeutige Aussage, ob Höchst- oder Mindestnorm, läßt sich daraus aber nicht ableiten. Für die Frage Mindest- oder Höchstnorm ist auch zu berücksichtigen, inwieweit das nationale Recht, das für die Gesellschaft maßgeblich ist (Gesellschaftsstatut), frei wählbar ist. Eine tragende Erwägung, die wohl letztlich hinter der Befürwortung der Einordnung der Kapitalrichtlinie als Höchstnorm stehen dürfte, liegt darin, daß (vermeintlich) überzogene Schutzvorgaben nach deutschem Recht ausländische Gesellschafter/Gesellschaften von der Gründung und damit von der wirtschaftlichen Betätigung in dem jeweiligen Mitgliedstaat abhalten.159 Hier kommt nun die neuere Rechtsprechung des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht für die Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten zum Tragen. Grundsätzlich darf einer im EG-Ausland gegründeten Gesellschaft die Eintragung einer Zweigniederlassung in das Handelsregister nicht mit Hinweis auf die Gefahr der Umgehung nationaler gesellschaftsrechtlichen Bestimmungen verweigert werden. Wenn aber der Ort der Gründung der Gesellschaft für deren Rechtsstatut maßgeblich ist und die Gesellschaft dieses huckepack überall hin mitnehmen kann, dann ist nicht einzusehen, inwieweit Vorgaben im deutschen Gesellschaftsrecht, die über den Mindeststandard hinausgehen, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen sollen.
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Daher ist die Interpretation als Höchstnorm zur Förderung der Niederlassungsfreiheit nicht zwingend erforderlich, so daß sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2, 3 EG) stellt. Wenn man davon ausgeht, daß das Ziel der Vollharmonisierung zugunsten des Konzepts eines transparenten (s.o. Rn. 13, 26 „Informationsmodell“) Wettbewerbs der Regelungsgeber aufgegeben wurde, dann ist das Verständnis der Richtlinie als Mindest- und Höchstnorm sogar kontraproduktiv. Denn dem nationalen Gesetzgeber werden Gestaltungsspielräume verschlossen, innerhalb seiner eigenen Pfadabhängigkeiten individuelle Lösungen, die eben keinen gleichen, aber gleichwertigen Gläubiger- und Minderheitenschutz bieten, zu suchen. Es droht die oben genannte Gefahr der Erstarrung. In Sachen „Siemens ./. Nold“ hat der EuGH auch angedeutet, daß ein über die Richtlinie hinausgehendes Schutzniveau durchaus im Sinne der Vorschriften zur Rechtsangleichung sein könne.160
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159 Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm (1998), S. 174 f.; Steindorff, EuZW 1990, 251, 252 f. 160 S. dazu o. Rn. 48 mit Fn. 119. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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2.
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Wie bereits erwähnt, liegt ein Schwerpunkt der europarechtlichen Harmonisierung bei Vorgaben für grenzüberschreitende Transaktionen. Diese werfen die Frage des anwendbaren Rechts auf. Auf dieser kollisionsrechtlichen Ebene ist nicht nur spezielles Sekundärrecht 161, sondern auch das Primärrecht zu berücksichtigen. Ein anschauliches Beispiel für das Einwirken der Niederlassungsfreiheit auf das Kollisionsrecht ist die Behandlung von europäischen Auslandsgesellschaften, insbesondere der (fälschlicherweise) so genannten Scheinauslandsgesellschaft. Bei dieser handelt es sich um eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat (Gründungsstaat) ausschließlich zum Zweck der wirtschaftlichen Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat (Zuzugsstaat) gegründet wird. In Sachen Überseering 162 und Inspire Art 163 hat der EuGH statuiert, daß der Zuzugsstaat diese Gesellschaften grundsätzlich ohne Einschränkungen als rechts- und parteifähig anerkennen muß. Die Umgehung bzw. Vermeidung des Gesellschaftsrechts des Zuzugsstaats sei kein Missbrauch, sondern Ausübung der Niederlassungsfreiheit, die nur aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls beschränkt werden dürfe. Bei der Umsetzung dieser Vorgabe im Rahmen der Anwendung des nationalen Rechts sind zwei Ebenen zu trennen, die häufig miteinander vermengt werden: Gewährleistung der Wahlfreiheit der für die Gesellschaft maßgeblichen Gesellschaftsrechtsordnung (Wahl des Gesellschaftsstatuts, dazu a) und Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts (dazu b). a)
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Kollisionsrechtliche Ebene: Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts
Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts
Zunächst geht es um die Frage, wie das nationale Kollisionsrecht anzuwenden ist, damit die Anerkennung der im Ausland gegründeten Gesellschaft im Zuzugsstaat gewährleistet ist. Folgte man der in Deutschland lange Zeit herrschenden Sitztheorie 164, wäre der tatsächliche Verwaltungssitz Anknüpfungspunkt für das anzuwendende Sachrecht. Die Rechts- und Parteifähigkeit einer in Großbritannien wirksam gegründeten und eingetragenen Company Limited by Shares (nachfolgend: Limited), deren tatsächliche Hauptverwaltung in Deutschland betrieben wird, würden hiernach nach deutschem Gesellschaftsrecht beurteilt. Dies hätte zur Folge, daß in Ermangelung der Eintragung ins Handelsregister die Anerkennung als Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung versagt und sie als Vor-GmbH, OHG oder GbR qualifiziert werden würde, u.a. mit der Konsequenz der unbeschränkten Haftung der Gesellschafter.165 Hierdurch würde die
161 S. z.B. Art. 12 der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung (s.o. Fn. 34); Art. 4 Abs. 2, lit. a Übernahmerichtlinie (s.o. Fn. 36). Die EuInsVO (s.o. Fn. 13), zielt sogar primär auf die Regelung des Kollisionsrechts. 162 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 163 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 164 Vgl. nur Darstellung bei Münchener Kommentar AktG-Altmeppen (Bd. 9/2, 2. Aufl. 2006) Europäische Niederlassungsfreiheit, Rn. 36 ff. mwN und Eidenmüller in: ders. (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften, § 1 Rn. 4 ff. 165 So der BGH (NZG 2000, 926 = ZIP 2000, 967) im Vorlagebeschluß, der zu der Überseering-Entscheidung des EuGH (s.o. Fn. 162) geführt hat.
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Rechtsformwahl letztlich vereitelt und damit die Niederlassungsfreiheit unzulässig beschränkt. Die Vorgaben des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit durch freie Rechtsformwahl lassen sich im Ergebnis sinnvoll nur dadurch umsetzen, daß die Rechtsverhältnisse der Gesellschaft, insbesondere die Rechts- und Parteifähigkeit, nach dem Recht des Gründungstaates beurteilt werden (Gründungstheorie). Die Gründungstheorie an sich ist aber damit keine unmittelbar geltende europarechtliche Norm oder gar selbst Schutzgegenstand der Niederlassungsfreiheit, sondern sie ist die Methode des nationalen Kollisionsrechts zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH bzw. zur Verwirklichung der Grundfreiheit.166 Dafür sprechen auch Art. 7 und 64 der SE-VO, die für die Europäische Gesellschaft verbindlich Sitz und Hauptverwaltung am selben Ort verlangen. b)
Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts
Da zumindest im europäischen Zusammenhang nunmehr auch der BGH der Gründungstheorie folgt 167, hat sich die Debatte von der Frage „Gründungs- oder Sitztheorie“ (Bestimmung des Gesellschaftsstatuts) auf die Frage verlagert, welche Regelungsbereiche von dem Verweis auf das materielle Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates erfaßt werden (Inhalt des Gesellschaftsstatuts). aa)
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Einordnung nach nationalem Kollisionsrecht: Fallbeispiel Insolvenzverschleppungshaftung
Besonders diskutiert wird derzeit die Haftung der Gesellschafter und Geschäftsführer einer in Deutschland aktiven, in England gegründeten Limited.168 Der BGH hat jüngst in einer Grundsatzentscheidung anerkannt, daß das Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates nicht nur für die Rechts- und Parteifähigkeit, sondern auch für die Haftung der im Namen der Gesellschaft begründeten rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten maßgeblich ist.169 Daraus ist aber nicht der Schluß zu ziehen, daß sich Haftungsfragen ausschließlich nach englischem Recht richten. So spricht der BGH von der Haftung für rechtsgeschäftliche Verbindlichkeiten. Damit ist die Haftung gegen-
166 Dies ebenfalls besonders betonend Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 665. Deshalb sind auch Ansätze im Schrifttum, die bei einzelnen Anknüpfungsfragen weiterhin die Sitztheorie anwenden wollen (Altmeppen, NJW 2004, 97 ff.; vgl. auch Ulmer, NJW 2004 , 1201, 1208), nicht von vornherein europarechtswidrig, sondern erst dann, wenn die Folge der konkreten Rechtsanknüpfung eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt. 167 BGHZ 154, 185 = JZ 2003, 525 Überseering (1. Leitsatz der Abschlußentscheidung). Auch der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat ist dem gefolgt (BGH NJW 2005, 1648 = ZIP 2005, 805, 806; BGH NJW 2003, 2609). 168 Eidenmüller in: ders. (Hrsg.), Europäische Kapitalgesellschaften, § 4 Rn. 5 ff.; § 9 Rn. 31 ff.; eingehend Huber und Fleischer in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften, S. 307 ff. bzw. S. 49 ff.; instruktiver Überblick über den Meinungsstand bei Schall, ZIP 2005, 965, 970 ff. 169 BGH NJW 2005, 1648 = ZIP 2005, 805, 806. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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über unfreiwilligen Gläubigern, insbesondere Inhabern von deliktischen Ansprüchen, nicht erfaßt. Aus Art. 40 EGBGB ergibt sich in diesen Fällen häufig die Anwendbarkeit deutschen Rechts, da der Handlungs- und/oder Erfolgsort regelmäßig in Deutschland liegen wird. Aus diesem Grund wirft insbesondere die Qualifikation der Haftung der Geschäftsführer in der Krise, vor allem die Insolvenzverschleppungshaftung nach § 823 Abs. 2 BGB iVm § 64 Abs. 1 GmbHG, Probleme auf. Als Vorschrift des Deliktsrechts wäre § 823 Abs. 2 BGB grundsätzlich anwendbar, während § 64 Abs. 1 GmbHG als Norm des Gesellschaftsrechts zumindest im Ausgangspunkt durch das englische Gesellschaftsstatut verdrängt wird. Hinzu kommt, daß § 64 Abs. 1 GmbHG wiederum an die Begriffe Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung anknüpft, die in der Insolvenzordnung (§§ 17, 19 InsO) geregelt sind. Aus Art. 4 Abs. 1 iVm Art. 3 Abs. 1 der EUInsVO 170 ergibt sich für die ausschließlich oder ganz vorwiegend in Deutschland aktive Auslandsgesellschaft regelmäßig die Anwendbarkeit des deutschen Insolvenzrechts. Aus dem Regelungsstandort läßt sich damit keine eindeutige Aussage ableiten. Ohnehin wird im IPR die kollisionsrechtliche Qualifikation einer Rechtsfrage nicht allein formal anhand des Standorts der Regelung im deutschen Recht bestimmt. Die Reichweite des Gesellschaftsstatuts wird zwar auch bei Auslandsgesellschaften nach der lex fori von den deutschen Gerichten nach deutschem Kollisionsrecht ermittelt. Es handelt sich aber um einen sogenannten Rahmenbegriff. Dieser ist, da er ja auch ausländische Rechtserscheinungen erfassen soll, autonom nach den Maßstäben des internationalen Privatrechts zu definieren. Für diese autonome Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts ist eine funktionale Betrachtungsweise angezeigt, die sich vor allem daran orientiert, zu welchem Statut die Regelung nach materiellem Regelungsgehalt sowie Sinn und Zweck die größte Nähe aufweist.171
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Bei der Ermittlung des materiellen Regelungsgehalts ist ein rechtsvergleichender Blick, insbesondere eine Suche eines etwaigen funktionalen Pendants in der Rechtsordnung des Gründungsstaates, hilfreich.172 Dieses Pendant ist bei der vorliegenden Problematik das sogenannte wrongful trading, welches in Art. 214 Insolvency Act 1986 geregelt ist 173 und nach ganz überwiegender Ansicht insolvenzrechtlich qualifiziert wird.174 Für den Anwender des deutschen Kollisionsrechts ergibt sich daraus, daß viel dafür spricht, die Insolvenzverschleppungshaftung dem Insolvenzstatut
170 S.o. Fn. 23. Hiernach ist maßgebend, in welchem Staat der „Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen“ liegt. Die Vermutung von Art. 3 Abs. 1 S. 2 dürfte bei der Auslandsgesellschaft regelmäßig als widerlegt gelten. 171 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 338 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (5. Aufl. 2004), S. 125 ff. 172 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 343 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (5. Aufl. 2004), S. 124 f.; grundlegend Rabel, RabelsZ 5 (1931), 249 ff. 173 Hannigan, Company Law (2001), S. 844 f.; Habersack/Verse, ZHR 168 (2004), 174, 182 ff. Gower/Davies, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, 196 ff. 174 Vgl. stellvertretend für das deutsche Recht Eidenmüller in: ders. (Hrsg.), Europäische Kapitalgesellschaften, § 9 Rn. 32 und Höfling, Das englische internationale Gesellschaftsrecht (2002), S. 218 ff. jeweils mwN.
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zuzuordnen.175 Denn würde man sie gesellschaftsrechtlich qualifizieren, gäbe es einen negativen Kompetenzkonflikt der Rechtsordnungen: Das deutsche Gesellschaftsrecht wird bei der in Deutschland aktiven Limited verdrängt. Aber auch die Haftung für wrongful trading käme in Ermangelung der Anwendbarkeit des englischen Insolvenzrechts nicht zum Zuge. bb)
Die europarechtliche Dimension
In Sachen Überseering 176 und Inspire Art 177 hat der EuGH statuiert, daß der Zuzugsstaat diese Gesellschaften grundsätzlich ohne Einschränkungen als rechts- und parteifähig anerkennen muß. Dies beinhaltet im Hinblick auf die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit für europäische Auslandsgesellschaften ein allgemeines Beschränkungsverbot im Sinne der „Dassonville“ bzw. „Gebhard“-Formel.178 Die Anwendung der Insolvenzverschleppungshaftung auf eine in Deutschland aktive Limited ist grundsätzlich geeignet, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv zu machen. Allein durch die Umsetzung von Rechtsinstituten aus dem Gesellschaftsrecht in benachbarte Rechtsgebiete qua kollisionsrechtlicher Qualifikation wird deren Anwendung aber nicht gemeinschaftskonform.179 Vielmehr muß sich die Anwendung der Insolvenzverschleppungshaftung am allgemeinen, für Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit geltenden Maßstab messen lassen. Sie darf daher nicht diskriminierend sein. Sofern nicht bereits die Grundsätze der Keck-Rspr. des EuGH 180 zu rein tätigkeitsbezogenen Regelungen, die den Marktzugang nicht nennenswert erschweren, eingreifen 181, muß die Maßnahme darüber hinaus für die Wahrung eines zwingenden Belangs des Allgemeinwohls geeignet und erforderlich sein
175 So auch Goette, DStR 2005, 197, 199; Eidenmüller, NJW 2005, 1618, 1620; im Ergebnis die Anwendbarkeit ebenfalls bejahend Ulmer, NJW 2004, 2101, 1208; zur Gegenansicht vgl. Schall, ZIP 2005, 965, 974; Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 12. 176 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 177 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 178 Die in der Dassonville-Entscheidung aufgestellten Grundsätze zur Warenverkehrsfreiheit (EuGH v. 11.7.1974, Rs. 8/74, Slg. 1974, 855) hat der EuGH in Gebhard (EuGH v. 30.11. 1995 – Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37) auf die Niederlassungsfreiheit übertragen. S.a.o. Rn. 26. 179 Ähnlich Bayer, BB 2003, 2357, 2362 f.; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 182; Eidenmüller NJW 2005, 1618, 1619 f.; Baumbach/Hueck-Hueck/Fastrich, GmbHG, (18. Aufl. 2006), § 13 Rn. 13; Leible/Hofmann, EuZW 2003, 677 ff; Lutter/Hommelhoff-Lutter/Bayer, GmbHG, (16. Aufl. 2004), § 4a Rn. 18; Meilicke, GmbHR 2003, 1271, 1272; Spindler/Berner RIW 2004, 7 ff. 180 EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 und 268/91 Keck, Slg. 1993, I-6097. 181 Dies bejahend Eidenmüller, in: ders. (Hrsg.), Europäische Kapitalgesellschaften, § 9 Rn. 33. Zur Gegenansicht vgl. Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 12. Allerdings ist umstritten, inwieweit die Keck-Rspr. des EuGH (s. vorige Fn.) auf die Niederlassungsfreiheit übertragbar ist. Die Rspr. des EuGH ist insoweit nicht eindeutig. Zur Diskussion dieser Frage allgemein vgl. Grabitz/Hilf-Randelzhofer/Forsthoff, EGV, Art. 43 Rn. 102, 103; Art. 48 Rn. 35 ff.; speziell im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht Eidenmüller, ebd., § 3 Rn. 14, 16 mwN. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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3. Teil: Besonderer Teil
(sogenannter Vier-Kriterien-Test) 182. Dies dürfte man aus folgenden Gründen bei diesem Beispiel bejahen können: Die Insolvenzverschleppungshaftung nach deutschem Recht springt in die Bresche, die erst durch das kollisionsrechtlich veranlaßte Auseinanderfallen von Gesellschafts- und Insolvenzstatut entsteht: Auf eine ausschließlich in Deutschland aktive Limited ist, wie eben gezeigt, das englische Pendant zur Insolvenzverschleppungshaftung, die Haftung für wrongful trading, gar nicht anwendbar. Wenn lediglich verhindert wird, daß der Gläubigerschutz bei einer Gesellschaft ausländischen Rechts hinter das in ihrem „Heimatstaat“ gewährleistete Niveau zurückfällt, ist eine unzulässige Behinderung der Niederlassungsfreiheit eher fern liegend, da die Anerkennung der Gleichwertigkeit der ausländischen Teilrechtsordnung kaum in Frage gestellt wird.183 cc)
Folgerungen
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Wenn auf eine Gesellschaft ausländisches Gesellschaftsrecht Anwendung findet, handelt es sich um eine Teilrechtsordnung, die es in die Rechtsordnung des Zuzugsstaates und dort insbesondere in die angrenzenden Rechtsgebiete, vor allem das allgemeine Zivilrecht sowie in das Insolvenz- und Arbeitsrecht einzubetten gilt. So vielfältig die nationalen Gesellschaftsrechte sind, so vielfältig sind auch deren Abgrenzungen zu den benachbarten Rechtsgebieten.
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Da die Anerkennung der ausländischen (Teil)rechtsordnung als gleichwertig ein Gebot der Niederlassungsfreiheit darstellt, ist die Vermeidung einer Aufdoppelung von Instituten, insbesondere von Haftungsnormen, nicht nur sachgerecht, sondern europarechtlich geboten. Das petitum der modernen IPR-Wissenschaft, zur Vermeidung von Doppelregelungen und negativen Kompetenzkonflikten (auch als „Normmangel“ bezeichnet) bei der kollisionsrechtlichen Qualifikation die Rechtsfolgen zu berücksichtigen,184 erhält damit eine europarechtliche Dimension. Solange das IPR des Gesellschaftsrechts nicht gesetzlich geregelt ist 185, wird dem Rechtsanwender daher bei jeder einzelnen Frage hinsichtlich der Qualifikation einer auf der Grenze
182 Entwickelt in EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Cassis de Dijon, Slg. 1979, 649 Rn. 8 und 14; übertragen auf die Niederlassungsfreiheit durch EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Krauss, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32 und EuGH v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37. Zur Anwendung dieser Grundsätze auf die Niederlassungsfreiheit von Gesellschaften siehe statt aller Fleischer, in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften, S. 102 mwN. 183 Ähnlich Eidenmüller, NJW 2005, 1618, 1621; Huber in: Lutter (Hrsg.), Europäische Auslandsgesellschaften, S. 349 f. 184 Teilweise wird daher auch von einer funktionell-teleologischen Qualifikation gesprochen, vgl. Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 338 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (5. Aufl. 2004), S. 125 ff. 185 Vgl. Sonnenberger/Bauer, Vorschlag des Deutschen Rates für Internationales Privatrecht für eine Regelung des Internationalen Gesellschaftsrechts auf europäischer/nationaler Ebene, RIW Beilage 1/Heft 4 2006. Eine gesetzliche Lösung für die hier besprochene Problematik der Insolvenzverschleppungshaftung sieht auch dieser Vorschlag wegen des „drohenden Übergriffs auf das internationale Insolvenzrecht“ nicht vor (vgl. ebd., S. 16).
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
zwischen Gesellschaftsrecht und einem „benachbarten“ Statut liegenden Norm eine funktional-rechtsvergleichende Würdigung abverlangt. 3.
Verzahnung von europäischer und nationaler Ebene: Methodenfragen bei der SE
Die Europäische Gesellschaft wurde durch die SE-VO 186 eingeführt. Diese trifft keine vollständige Regelung, sondern verweist für die nicht geregelten Bereiche auf das Recht des Sitzstaates der SE (Art. 9 Abs. 1, lit. c SE-VO). Dort haben die zur Implementierung der SE erlassenen Vorschriften des nationalen Rechts – in Deutschland das Gesetz zur Einführung der SE (SEEG) – Vorrang vor dem allgemeinen Gesellschaftsrecht (Art. 9 Abs. 1, lit. c ii) SE-VO). Daraus ergibt sich ein komplexes Wechselspiel von europäischer Regelungsebene (SE-VO), nationalem Recht und den Regelungen der Satzung in der SE, deren Spielräume sich teilweise aus den europäischen Vorgaben, teilweise aus nationalem Recht ergeben. Hinzu kommen noch Bilanzierungsvorschriften, branchenspezifische Regulierungen, ggf. Kapitalmarktrecht(e) und, last but not least, Mitbestimmungsvereinbarungen und nationale (Auffang-)Regelungen in Umsetzung der Ergänzungsrichtlinie zur SE-VO. a)
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Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht
Da die SE-VO keine speziellen Regelungen zur Kapitalaufbringung bei Kapitalerhöhungen sowie zur Kapitalerhaltung vorsieht, gelangt gemäß Art. 9 Abs. 1, lit. c SE-VO das (mit der 2. Richtlinie konforme) nationale Recht des Sitzstaates der SE zur Anwendung. Da auch das SEEG187 keine speziellen Vorgaben enthält, unterliegen Kapitalaufbringung und -erhaltung bei einer in Deutschland gegründeten SE grundsätzlich den allgemeinen Vorgaben des deutschen Aktienrechts. Damit stellt sich die Frage, ob auch die Lehre von der verdecken Sacheinlage als Produkt einer richterlichen Rechtsfortbildung uneingeschränkt auf die SE anwendbar ist. Zwar wird allgemein davon ausgegangen, daß Gesetze im formellen Sinne und Richterrecht eine Einheit bilden, und die Verweisung daher auch das Richterrecht erfaßt.188 Allerdings können sich im Einzelfall Einschränkungen ergeben. So wird von einer verbreiteten Auffassung aus dem Grundsatz des effet utile abgeleitet, daß die Vorgaben für die SE so ausgelegt werden müssen, daß die Funktionsfähigkeit und die Praktikabilität dieser Rechtsform möglichst wirksam gesichert wird.189 Vor diesem Hintergrund könnte folgende Argumentationskette aufgebaut werden: Der europäische Gesetzgeber hat deshalb auf Vorgaben zur Kapitalaufbringung und -erhaltung in der SE verzichtet, da dieser Bereich durch die Kapitalrichtlinie harmonisiert ist. Im Hinblick auf das
186 S.o. Fn. 23. 187 S.o. Fn. 23. 188 Vgl. Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 48 f.; Casper, FS Ulmer (2003), S. 51, 65; Wagner, NZG 2002, 985, 987. 189 Vgl. Casper, FS Ulmer (2003), S. 51, 55; Teichmann, ZGR 2002, 383, 398; Wagner, NZG 2002, 985, 987; Nagel/Freis/Kleinsorge-Nagel, Kommentar SE-Beteiligungsgesetz (2005), 2 B. Rn. 9 mwN. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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durch die SE-VO verfolgte Ziel der Herstellung eines Mindestmaßes an Rechtsvereinheitlichung könnte es daher angezeigt sein, die Kapitalrichtlinie, zumindest soweit die SE betroffen ist, als Höchstnorm zu begreifen.
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Ob dem zu folgen ist, soll hier nicht vertieft werden. Wichtiger ist der Ertrag für die Methode: Wenn die SE-VO auf das nationale Recht verweist, sollten in richterlicher Rechtsfortbildung gewonnene Grundsätze nicht mechanisch auf die SE übertragen werden. Vielmehr ist sorgfältig zu überprüfen, ob der Verweis in der SE-VO den gesamten geregelten Bereich erfaßt, also eine vom europäischen Verordnungsgeber geplante Lücke ausgefüllt wird, oder ob die Rechtsfortbildung in Bereiche ausgreift, die auch von der SE-VO erfaßt werden. Vor diesem Hintergrund wäre zum Beispiel zu problematisieren, ob der Verweis in Art. 52 Unterabs. 2 SE-VO nur geschriebene Hauptversammlungskompetenzen des nationalen Rechts oder auch die Grundsätze des BGH zur ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenz 190 umfaßt.191 Die alltägliche Aufgabe des Rechtsanwenders der „Feststellung von Lücken im Gesetz“ 192 bzw. Auslassungen 193 und die sorgfältige Differenzierung zwischen Planwidrigkeit und Planmäßigkeit derselben 194 wird damit durch die ständige Orientierung in und an den Ebenen der Normhierarchie ergänzt. b)
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Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie bei der SE
Die Satzung der SE ist in Art. 9 der SE-VO zweimal erwähnt, in Abs. 1, lit. b und Abs. 1, lit. c iii).195 Zur Verdeutlichung der sich daraus ergebenden Probleme sei hier eine Satzungsbestimmung einer SE mit Sitz in Deutschland genannt, welche das Aufsichtsratsmodell wählt, Ausschüsse des Aufsichtsrates sowie die Beschlußfassung und Beschlußfähigkeit im Aufsichtsrat regelt. Der Satzungsgeber einer in Deutschland ansässigen SE sieht sich einer doppelten Kompetenzregelung gegenüber: Die Satzung darf Bestimmungen treffen, wenn die SE-VO es ausdrücklich zuläßt.196 In einigen
190 Ausführlich (im Ergebnis verneinend) dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 142 ff.; ablehnend auch Münchener Kommentar AktG-Kubis, (Band 9/2, 2. Aufl. 2006), Art. 52 SE-VO, Rn. 22. 191 Vgl. BGHZ 83, 455 = NJW 1982, 1703 Holzmüller; BGHZ 159, 30 = NJW 2004, 1860 Gelatine. 192 So der Titel des „Klassikers“ der Methodenlehre von Canaris (2. Aufl. 1993). 193 Die deutsche Literatur zur Feststellung und Ausfüllung von Lücken im Gesetz hat das Kodifikationskonzept oder doch die Vorstellung einer einigermaßen vollständigen Regelung für einen bestimmten Bereich zum Hintergrund. Auf die SE-VO paßt dies kaum, vgl. Teichmann, ZGR 2002, 383, 394 ff. 194 Vgl. Dazu die Beiträge im 2. Teil dieses Bandes, insbesondere von Riesenhuber (§ 11 Rn. 23ff.) und Neuner (§ 13 Rn. 27 ff.). 195 Art. 9 Abs. 1 SE-VO: Die SE unterliegt … b) sofern die vorliegende Verordnung dies ausdrücklich zuläßt, den Bestimmungen der Satzung der SE, c) … iii) den Bestimmungen ihrer Satzung unter den gleichen Voraussetzungen wie im Falle einer nach dem Recht des Sitzstaates der SE gegründeten Aktiengesellschaft … 196 Dies wird teilweise als SE-spezifische oder auch gemeinschaftsrechtliche Satzungsstrenge bezeichnet; vgl. Hommelhoff, FS Ulmer (2003), S. 267, 273.; Brandt, Die Hauptversamm-
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
Fällen verlangt die VO sogar eine Regelung durch die Satzung. Das gilt z.B. für die Wahl zwischen dem Verwaltungsrats- und dem Aufsichtsratsmodell, Art. 38 SE-VO. Im übrigen weist die VO die Regelungskompetenz dem nationalen Recht zu, womit auch die Reichweite der Satzungsautonomie sich nach nationalem Recht richtet. Über den Verweis in Art. 9 Abs. 1, lit. c, iii) SE-VO gilt daher grundsätzlich die Satzungsstrenge des § 23 Abs. 5 S. 1 AktG. Allerdings gebührt ausweislich Art. 9 Abs. 1, lit. b SE-VO einer aufgrund einer Ermächtigung in der SE-VO getroffenen Satzungsbestimmung Vorrang vor den Vorgaben des nationalen Rechts, mögen diese auch nach § 23 Abs. 5 AktG zwingend sein.197 Daraus ergibt sich eine doppelte Satzungsdimension: Teilweise hat die Satzung Vorrang vor dem nationalen Recht, teilweise ist sie nachrangig. Für das genannte Beispiel folgt daraus, daß zunächst die Wahl des Leitungsmodells nicht nur zulässig, sondern sogar geboten ist. Zu untersuchen ist weiter, ob die SE-VO Aufsichtsratsausschüsse und Beschlußfähigkeit regelt und gegebenenfalls eine ermächtigende Satzungsbestimmung vorsieht. Die SE-VO trifft zwar Bestimmungen hinsichtlich verschiedener, den Aufsichtsrat betreffenden Einzelfragen, die aber wiederum gespickt sind mit Verweisungen auf Satzungsbestimmungen und das nationale Recht. Insofern ist die VO nicht abschließend.198 Es liegt eine planmäßige Lücke vor, die nach Maßgabe der VO zu füllen ist. Wenn (ausnahmsweise) eine Planwidrigkeit der Lücke festgestellt werden kann, erhebt sich die Frage, inwieweit auch eine Lückenschließung auf Gemeinschaftsrechtsebene, etwa durch analoge Vorschriften der SE-VO in Betracht kommt.199
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Damit richten sich die rechtlichen Vorgaben für die innere Ordnung des Aufsichtsrates nach deutschem Recht, namentlich nach den §§ 107–110 AktG.200 Im deutschen Aktienrecht gilt jedoch der aus § 107 Abs. 3 S. 1 AktG abgeleitete Grundsatz der Organisationsautonomie des Aufsichtsrates, wonach die Bildung und die Zusammensetzung von Ausschüssen grundsätzlich Sache des Aufsichtsrates selbst sind und die Satzung in diese Autonomie nicht eingreifen darf.201 Hiernach wäre die in diesem Beispiel untersuchte Regelung auch bei der SE unzulässig. Entsprechendes könnte nach
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lung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 36 ff.; Casper, FS Ulmer (2003), S. 51, 71; Münchener Kommentar AktG-Schäfer, (Bd. 9/2, 2. Aufl. 2006), Art. 9 SE-VO Rn. 26 mwN. Allerdings begrenzt die SE-VO die Gestaltungsermächtigung an vielen Stellen mit (Rück)verweis auf das nationale Recht, vgl. Art. 39 Abs. 2, Unterabs. 2, Art. 47 Abs. 1, Abs. 3; Art. 55 Abs. 1 SE-VO. Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 349. Dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 36 ff.; Münchener Kommentar AktG-Schäfer, (Bd. 9/2, 2. Aufl. 2006), Art. 9 SE-VO Rn. 15 mwN. Zur Rechtsfortbildung des europäischen Sekundärrechts allgemein siehe Beitrag von Neuner, oben, § 13 Rn. 28ff. Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 349. BGHZ 83, 106, 115 = NJW 1982, 1525; BGHZ 122, 342, 355 = NJW 1993, 2307; Hopt/ M.Roth in: Hopt/Wiedemann (Hrsg.), GroßkommAktG (4. Aufl., Stand 2005), § 107 Rn. 246 ff.; Hüffer, AktG (7. Aufl. 2006), § 107 Rn. 16, 21; zustimmend Habersack, AG 2006, 345, 349.
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deutschem Aktienrecht auch für eine Regelung der Beschlußfähigkeit und Beschlußfassung in der Satzung gelten.202 Für diesen Bereich trifft aber die SE-VO in Art. 50 eine Regelung und unterstellt diese Punkte der Satzungsautonomie. Aufgrund des in Art. 9 Abs. 1, lit. b SE-VO angeordneten Vorrangs vor dem nationalen Recht für Satzungsbestimmungen, die ihre Grundlage in einer ausdrücklichen Ermächtigung in der SE-VO haben, ist bei der SE eine Satzungsregelung der Voraussetzungen für Beschlußfassung und Beschlußfähigkeit im Aufsichtsrat grundsätzlich zulässig. Etwas anderes kann sich ergeben, wenn ein Mitgliedstaat für den Fall der Arbeitnehmermitbestimmung abweichende Regeln vorsieht, die auch für nationale Aktiengesellschaften gelten (Art. 50, Abs. 2, Abs. 3 SE-VO), was in Deutschland allerdings nicht erfolgt ist. c)
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Stellung der Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer bei der SE in der Normenhierarchie
Der europäische Gesetzgeber sieht in der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung bei der SE, in das deutsche Recht umgesetzt durch das SEBG 203, vor, daß eine Vereinbarung mit einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer über die Arbeitnehmerbeteiligung getroffen werden soll (nachfolgend: AN-Beteiligungsvereinbarung, vgl. § 21 SEBG). Nur wenn es zu keiner Einigung kommt, finden die gesetzlichen Vorschriften der Auffangregelung zur Arbeitnehmerbeteiligung (§§ 34 ff. SEBG) Anwendung. Eine SE kann erst eingetragen werden, wenn die Mitbestimmungsfrage gelöst ist, Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 SE-VO. Zur Absicherung der AN-Beteiligungsvereinbarung statuiert Art. 12 Abs. 4 S. 1 SE-VO, daß die Satzung der SE zu keinem Zeitpunkt dieser Vereinbarung widersprechen darf. Daher erhebt sich die Frage, ob die AN-Beteiligungsvereinbarung die Einrichtung von Ausschüssen des Aufsichtsrates, Beschlußfähigkeit und Beschlußfassung regeln kann, und ob einer solchen Vereinbarung Vorrang vor der Satzung zukommt. Eine Einschränkung der Gestaltungsfreiheit für die Vereinbarung könnte sich aus den Grenzen der Satzungsautonomie der SE ergeben, wobei die unterschiedlichen Schranken aus der SE-VO und dem nationalen Recht zu unterscheiden wären. Die Position der AN-Beteiligungsvereinbarung in der Normenhierarchie insgesamt, also auch im Verhältnis zur SE-VO, dem SEEG, dem AktG und allgemeinen körperschaftsrechtlichen Grundsätzen wie der Verbandsautonomie und der Organisationsautonomie des Aufsichtsrates muß festgestellt werden.204 Methodisch gesehen ist hier eine teleologische Auslegung der Ermächtigung für die Vereinbarungslösung erforderlich. Dabei ist jedoch Vorsicht geboten; „Verbandsautonomie“ und „Organisationsautonomie des Aufsichtsrates“ sind zunächst etablierte Kategorien im deutschen Gesellschaftsrecht. Ob sie universelle
202 Habersack, AG 2006, 345, 349. 203 Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft – SE-Beteiligungsgesetz, BGBl. I 2004, S. 3675 ff. 204 Vgl. Habersack, AG 2006, 345, 346, 348 ff.; Münchener Kommentar AktG-Jacobs (Bd. 9/2, 2. Aufl. 2006), § 21 SEBG Rn. 6 f.
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
Prinzipien des europäischen Gesellschaftsrechts oder vielleicht nur local hills sind, ist zu prüfen. Auch wenn auf eine in Deutschland ansässige SE subsidiär deutsches Aktienrecht Anwendung findet, handelt es sich bei der SE doch um eine europäische Rechtsform, so daß die Rechtsbegriffe und Institute autonom „SE-spezifisch“ im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Rechtsform SE auszulegen sind.205 4.
Nationale Ebene
a)
Gesellschaftsrecht allgemein
Mit den Verbesserungen bei der Gewährleistung der Wahlfreiheit im Hinblick auf Sitz und Gesellschaftsstatut ist zunehmend Zurückhaltung bei der Annahme geboten, Schutzvorgaben, die über den in den Richtlinien vorgesehen Mindeststandard hinausgehen, seien wegen Beschränkung von Grundfreiheiten unzulässig. Zurückhaltung ist außerdem geboten, wenn punktuelle Regelungen in Richtlinien (vermeintlich) europarechtskonform auf weitere Sachverhalte angewandt werden sollen. Ferner bedarf es dann keiner zwingenden materiellen Schutzvorgaben, wenn durch Gewährleistung von Transparenz und Bereitstellung der erforderlichen Informationen den Marktteilnehmern ermöglicht wird, sich effektiv selbst zu schützen. Europarechtlich läßt sich der Vorrang des Informationsmodells vor inhaltlichen Vorgaben am Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 2 EG) festmachen.206 Der Wettbewerb der Regelungsgeber kann seinen Zweck – Optimierung der rechtlichen Regelungen – besser erreichen, wenn nicht nur die Nachfrager, sondern vor allem auch die Anbieter Rechtsvergleich betreiben.207 b)
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Kapitalaufbringungsschutz im Besonderen
Anhand des Rechtsvergleichs läßt sich feststellen, daß es sich bei der Lehre von der verdeckten Sacheinlage um einen local hill handelt. Daran schließt sich die Frage an, ob dieser gar nicht, teilweise oder ganz abgetragen werden soll. Die Rechtstechnik dafür wäre eine europarechtliche Höchstnorm, die (kraft besserer Erkenntnis guten Gesellschaftsrechts) unterhalb des Gipfels bleibt (s.o.). Dies vermag die Probleme der switching costs und der Vernetzungseffekte aber nicht zu lösen. Hier ist deshalb die Frage nach den Entwicklungsmöglichkeiten im nationalen Recht aufgeworfen.
205 Dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 58 f.; vgl. auch Casper, FS Ulmer (2003), S. 51, 55; Teichmann, ZGR 2002, 383, 398; Wagner, NZG 2002, 985, 987; Nagel/Freis/Kleinsorge-Nagel, Kommentar SE-Beteiligungsgesetz (2005), 2 B. Rn. 9 mwN. 206 Grundmann, ZIP 2004, 2401 ff. 207 So die Forderung von Flessner, JZ 2002, 14, 16, 21 hinsichtlich der Anwendung des Privatrechts und der Juristenausbildung allgemein. Zu den ökonomischen und institutionellen Bedingungen für wirksame ökonomische Anreize für die Regelungsgeber Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003), S. 120 ff.; vgl. auch Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 f.; zu den Grenzen des Regulierungswettbewerbs im Mitbestimmungsbereich A. Johnston, 6 JCLS 71 (2006). Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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3. Teil: Besonderer Teil
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Die Diskussion über Reformen ist lebhaft in Gang gekommen. Gerade der sich aufgrund von Inspire Art 208 verschärfende Wettbewerbsdruck auf das deutsche Gesellschaftsrecht hat den bereits seit geraumer Zeit angestellten Überlegungen zum deutschen Recht der Kapitalaufbringung bei der GmbH neue Bedeutung verliehen.209 Ähnlich wie auf der europäische Ebene spricht sich die überwiegende Anzahl der Stimmen für eine Reform anstatt Abschaffung aus.210 So sieht der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts in § 5 Abs. 1 GmbHG n.F. die Absenkung des Mindeststammkapitals von EUR 25.000 auf EUR 10.000 vor.211 Ferner ist mit der beabsichtigen Vereinfachung des Eigenkapitalersatzrechts die partielle Abtragung eines anderen local hill des deutschen Gesellschaftsrechts vorgesehen.212 Der zu erhaltende Kern des Eigenkapitalersatzrechts soll rechtsformunabhängig ausgestaltet werden, wodurch die Autoren des Referentenentwurfs u.a. erreichen wollen, daß Regelungen auch auf Auslandsgesellschaften Anwendung finden können.213 Auf die GmbH findet die Zweite Richtlinie zwar keine Anwendung. Es ist aber ein Beispiel für den Vernetzungseffekt, daß die Kapitalaufbringungsvorschriften bei harmonisierten und nicht harmonisierten Kapitalgesellschaften innerhalb einer nationalen Rechtsordnung nur begrenzt auseinander driften werden. Hinzu kommt ein anderer
208 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 209 Grundlegend Kübler, Aktie, Unternehmensfinanzierung und Kapitalmarkt (1989), S. 59 ff. Zur aktuellen Diskussion vgl. Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151 ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff.; vgl. Begründung des Referentenentwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG) v. 29.5.2006, (im Internet unter http://www.jura.uni-augsburg.de/prof/ moellers/materialien/materialdateien/040_deutsche_gesetzgebungsgeschichte/momig): S. 33 „… soll die Attraktivität der GmbH gegenüber konkurrierenden ausländischen Rechtsformen gesteigert werden.“ 210 Vgl. die differenzierenden Ansätze in Eidenmüller/Engert, AG 2005, 97 ff.; Mülbert, Der Konzern 2004, 151 ff.; Schön, Der Konzern 2004, 162 ff. Zu einer „Radikallösung“ tendierend hingegen Kübler, in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law (2003), S. 95 ff. Auch der Referentenentwurf des MoMiG (s. vorige Fn.) sieht zwar eine Aufhebung der Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz (näher dazu unten Fn. 212), jedoch keine Abschaffung der Regelungen zur Gewährleistung von Kapitalaufbringung und Kapitalerhaltung vor. Im Gegenteil: Teile des Entwurfes zielen auf deren Absicherung gegen Mißbrauch und Umgehung, vgl. RefE (ebd.), S. 34 f. 211 Vgl. § 5 GmbHAbs. 1 GmbHG RefE MoMiG (s.o. Fn. 209); zu sonstigen Reformvorschlägen siehe Happ, ZHR 169 (2005), 6 ff. 212 Eckpunkte dieser Vereinfachung sind: Aufgabe der Rechtsprechungsregeln zu § 30 GmbHG (§ 30 I S. 3 GmbHG RefE); Streichung der §§ 32, 32b GmbHG; Aufgabe der Unterscheidung zwischen „normalen“ Gesellschafterdarlehen und eigenkapitalersetzenden Gesellschafterdarlehen, vgl. Begründung des Referentenentwurfs zum MoMiG (s.o. Fn. 209), S 35, 55 ff. 213 So die Begründung des Referentenentwurfs des MoMiG (s.o. Fn. 209). Allerdings macht die Verpflanzung des Eigenkapitalersatzrechts in die InsO allein die Anwendung der Regelungen zum Eigenkapitalersatz bzw. zu Gesellschafterdarlehen auf Auslandsgesellschaften nicht gemeinschaftsrechtskonform. Auch bei einer insolvenzrechtlichen Regelung ist grundsätzlich zu prüfen, ob und inwieweit ihre Anwendung auf Auslandsgesellschaften deren Niederlassungsfreiheit auf unzulässige Weise beschränkt (näher dazu o. Rn. 73).
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
Aspekt des Vernetzungseffekts. Die strenge Einstellung zur Kapitalaufbringung in Deutschland geht einher mit einem tendenziell gläubigerfreundlichen Recht (das gilt nicht nur für das Gesellschaftsrecht, sondern auch für das Bilanz- und Insolvenzrecht).214 Die praktische Unhandlichkeit hat zu kautelarjuristischen Produkten geführt, die in anderen Ländern nicht geläufig sind und die über die nationale Umgehungsrechtsprechung eingefangen wurden. Diese Produkte sind in der Welt und werden im Falle einer Liberalisierung kräftig genutzt, ggf. sogar exportiert werden. Mit anderen Worten, man kann den erreichten Stand der Rechtswirklichkeit nicht zum Verschwinden bringen. Die Unschuld, die die Briten in puncto Kapitalaufbringung haben (weil sie diese sowieso nicht sehr ernst nehmen), haben die Deutschen schon vor langer Zeit verloren. Bei der Diskussion um Liberalisierung und Deregulierung darf nicht übersehen werden, daß die Lehre von der verdeckten Sacheinlage, flankiert vom umfassenden Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen und der Rechtsprechung zu den eigenkapitalersetzenden Leistungen, die Lücken ausfüllt, die das deutsche Insolvenzrecht läßt.215 Hinzu kommt die sogenannte Durchgriffshaftung. Das englische Recht kennt zwar keine Lehre von der verdeckten Sacheinlage, aber dafür wurde an der Schnittstelle von Gesellschafts- und Insolvenzrecht ein ausdifferenziertes System von Durchgriffstatbeständen entwickelt, die es erlauben, den Gesellschafter und/oder die Leitung des Unternehmens unter bestimmten Umständen, insbesondere bei Mißbrauch und vorsätzlicher Schädigung von Gläubigern, persönlich in Anspruch zu nehmen.216
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Es wäre also problematisch, die Lehre von der verdeckten Sacheinlage als „Investitionshindernis“ ersatzlos zu streichen 217, ohne zu prüfen, ob Schutzlücken entstehen, die im Hinblick auf Gläubigerinteressen nicht hingenommen werden können und auch in anderen Rechtsordnungen nicht hingenommen werden. Hier ist die Entwicklung von Rechtsprechung und Lehre zur Durchgriffshaftung zu nennen. Wenn auf
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214 Vgl. dazu nur Merkt, ZGR 2004, 305, 311 f. 215 Besonders deutlich wird dies im Recht der GmbH bei §§ 32a, 32b GmbHG, bei denen der Gesetzgeber die gesellschaftsrechtlichen Regelungen eng mit der Insolvenzordnung verknüpft. Dieser Schutz wird vom BGH als nicht ausreichend angesehen, der deshalb die Grundsätze der früheren Rechtsprechung zur Erweiterung des Verbots von § 30 GmbHG weiterhin neben §§ 32a, 32b GmbHG anwendet (grundlegend BGHZ 90, 370, 381). Dies hat zu einem sehr komplexen, selbst für Juristen nur schwer zu durchschauenden Geflecht von Gesetzes- und Rechtsprechungsregeln geführt. Daraus resultiert der Reformbedarf hinsichtlich einer Vereinfachung, wie sie nun durch den RefE des MoMiG (s.o. Fn. 209, 213) angestrebt wird. 216 Dazu Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law, S. 180 ff., 226 f.; 232 f. 217 Auch die Kritiker der Lehre von der verdeckten Sacheinlage verlangen keine ersatzlose Streichung, sondern Milderung, insbesondere der Rechtsfolgen (vgl. Einsele, NJW 1996, 2681, 2689; Heidenhain, GmbHR 2006, 455, 458 f.). Der Referentenentwurf des MoMiG (s.o. Fn. 209) sieht zwar eine Aufhebung der Rechtsprechungsregeln zum Eigenkapitalersatz vor (näher dazu oben Fn. 212), läßt aber die Grundsätze zur verdeckten Sacheinlage unangetastet. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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3. Teil: Besonderer Teil
der Grundlage der Urteile des BGH zu „Bremer Vulkan“ 218 und „KBV“ 219 praktikable, differenzierte und interessengerechte Fallgruppen entwickelt werden können,220 ist man in geringerem Maße auf die Konstruktion von Rückzahlungs- bzw. Ersatzansprüchen wegen Verletzung der Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsvorschriften angewiesen. Um auf unser Beispiel der Forderungseinbringung zurückzukommen: Wir hatten festgestellt, daß die Forderungseinbringung durchaus ein nützliches und stark nachgefragtes Sanierungsinstrument ist, aber auf der anderen Seite Risiken birgt, insbesondere im Hinblick auf den Gläubigerschutz. Man kann versuchen, diese Risiken präventiv auszuschalten, indem man die Einhaltung der Vorgaben für die Aufbringung einer Sacheinlage, insbesondere eine Werthaltigkeitskontrolle verlangt (so der traditionelle Ansatz). Das Aufstellen solcher Vorgaben macht aber einen großen Teil der Vorteile dieses Sanierungsinstruments zunichte.221 Statt dessen könnte es interessengerechter sein, auf die umfassende präventive Kontrolle zu verzichten und stattdessen ex post eine persönliche Haftung des Inferenten für den Mißbrauch dieses Instruments vorzusehen. Ansatzpunkt könnte die genannte Rechtsprechung 222 zum sogenannten existenzvernichtenden Eingriff sein.223 Ein anderer Weg wäre größere Transparenz iSd Informationsmodells. c)
SE als besondere Herausforderung im Wettbewerb der Rechtsordnungen
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Die SE mit ihrer mehrfach gestuften Normgrundlage verlangt methodisch besonders sorgfältigen Umgang mit den unterschiedlichen Rechtsquellen; die Gefahr, daß europäisches Recht nicht autonom, sondern selbstgewiß nach nationalen Gepflogenheiten, ähnlich wie die sog. verdeckte Sacheinlage, ausgelegt und angewandt wird, ist groß. Das nationale Recht fordert die SE insofern heraus, als versatzstückartig Teile des Aktienrechts zur Anwendung kommen und die notwendige Verzahnung zu leisten ist. Darüber hinaus sind Einstrahlungen des SE-Rechts in das nationale Gesellschaftsrecht denkbar. Diese sind weniger Europarechtsfreundlichkeit als Teil des Angebots des Normgeberwettbewerbs.224
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Was könnte sonst noch methodisch hilfreich sein? Zuvor wurde wiederholt die Bedeutung des Informationsmodells, insbesondere für das Gesellschaftsrecht, hervorgehoben.225 Wenn ein nationaler Gesetzgeber strenge Bräuche für gut und richtig hält,
218 BGHZ 149, 10 ff.; bestätigt durch BGH, ZIP 2004, 2138 ff. 219 BGHZ 151, 181 ff.; bestätigt durch BGH, GmbHR 2005, 229 ff. 220 Die Diskussion hierzu ist in vollem Gange; vgl. nur Kerber, ZGR 2005, 437 ff.; Schön, ZHR 168 (2004), 268 ff. 221 S. o. Rn. 29 ff. 222 S.o. Fn. 218, 219. 223 Vgl. auch Merkt, ZGR 2004, 305, 323, der fordert, im Gegenzug zur Liberalisierung bei der Kapitalaufbringung und -erhaltung die Insolvenzverschleppungshaftung auszubauen; zur Frage der Harmonisierbarkeit dieser Haftung nach dem Vorbild des wrongful trading s. Habersack/Verse, ZHR 168 (2005), 174 ff. 224 Zur Bedeutung der SE für den Regulierungswettbewerb Röpke/Heine, ORDO 56 (2005), 157. 225 Vgl. vor allem Grundmann, oben, § 10 Rn. 39, 43 ff.
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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht
muß das kommuniziert werden Gesellschafter und Gläubiger können dann klar darüber entscheiden, was ihnen wichtig ist. Local hills müssen bei diesem Ansatz nicht zwingend geschleift werden.226 Der durch die Rechtswahlfreiheit eröffnete Wettbewerb zwingt den Regelungsgeber aber dazu, sich Gedanken zu machen, welche Elemente local hills sind, die eigene „Hügellandschaft“ mit anderen zu vergleichen und sein Angebot entsprechend zu formulieren. Damit sind die Gewährleistung der Grundfreiheiten und die Offenheit für Gesellschaften mit einem ausländischen Gesellschaftsstatut nicht Bedrohung, sondern Fitneßstudio für das nationale Gesellschaftsrecht.
226 Nähere Analyse des Kapitalschutzsystems in Bezug auf die deutsche GmbH als „Qualitätssignal“ aus juristischer und ökonomischer Sicht bei Heine/Röpke, RabelsZ 70 (2006), 138, 151 ff. Christine Windbichler/Kaspar Krolop
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§ 20 Kapitalmarktrecht Susanne Kalss Übersicht I. Einleitung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Junges dynamisches Rechtsgebiet . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dramatische Änderung des Marktes . . . . . . . . . . . . 2. Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 3. Die Rolle von CESR bei Normsetzung und -auslegung . . 4. Besonderheiten für die Interpretation der Normen . . . . 5. CESR – Dritte Regelungsebene . . . . . . . . . . . . . .
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2–26 2–4 5–6 7–10 11–23 24–26
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27–35 27 28–29 30 31–32 33 34–35
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36–37
III. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 1. Öffentliches – Privates Recht . . . . . . . . 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur . 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 4. Vertragliche Regelungen . . . . . . . . . . 5. Schutzgesetzcharakter von Normen . . . . 6. Gespaltene Interpretation . . . . . . . . . . IV. Resümee
Rn. 1
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Literatur: Assmann/Schneider, Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006); Ferran, Building an EU Securities Market (2004); Kalss, New Challenges for Stock Exchanges, Investment Firms and Other Market Participants, in Basedow/Baum/Hopt/Kanda/Kono, Economic regulation and competition (2002); S. 111; Kalss, Kapitalmarktrecht als Schnittmenge mehrerer Regelungsfelder, in Rill (Hrsg.), FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien (1998), S. 183; Kalss/Oppitz/Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht (2005); Kalss/Zollner, Directors Dealings – Der neue § 48 Abs. 4 BörseG, GeS 2005, S. 106; Schäfer, Wertpapierhandelsgesetz, Börsengesetz, Verkaufsprospektgesetz (1998).
I. 1
Einleitung
Das europäische wie nationale Kapitalmarktrecht wird durch zwei Charakteristika geprägt, die sich unmittelbar in der Auslegung und Methodik widerspiegeln. Zum einen ist das Kapitalmarktrecht ein sehr junges Gebiet, das sich durch eine dynamische Entwicklung auszeichnet und das ganz wesentlich durch eine neue mehrstufige Regelungstechnik geprägt ist. Zum anderen bildet das Kapitalmarktrecht eine Querschnittsmaterie,1 was bedeutet, daß sich kapitalmarktrechtliche Regelungen sowohl 1 Siehe nur Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; Schneider, AG 2001, 269 f.
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Susanne Kalss
§ 20 Kapitalmarktrecht
aus dem traditionell öffentlich-rechtlichen (regulativen) als auch aus dem traditionell privatrechtlichen Rechtsbereich zusammen finden. Die großen Bereiche finden wiederum in unterschiedlichen Teildisziplinen Anknüpfungspunkte, wie etwa im Wertpapierrecht, Gesellschaftsrecht, Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsaufsichtsrecht, Strafrecht etc. Dieser Mix von Normen verschiedener Regelungsebenen des europäischen und nationalen Rechts und aus verschiedenen Rechtsbereichen erfordert gerade dort, wo Privat- und öffentliches Recht bzw. europäisches und nationales Recht unmittelbar aufeinander treffen, besonderes Augenmerk auf Fragen der Auslegung, um allfällige Diskrepanzen von Auslegungstraditionen bzw. Arbeitstechniken in den unterschiedlichen Disziplinen zu überbrücken und ein stimmiges Verständnis der Gesamtregelungen zu entwickeln.
II.
Junges dynamisches Rechtsgebiet
1.
Dramatische Änderung des Marktes
Das europäische ebenso wie das nationale Kapitalmarktrecht bilden ein junges Rechtsgebiet, das sich erst in den letzten rund 20 Jahren in breiter Form entwickelt hat. Zwar war den Architekten eines einheitlichen europäischen Markts von Anfang an klar, daß das Kapitalmarktrecht einer unverzüglichen einheitlichen Regelung bedürfe,2 dennoch dauerte es bis in die 80er und 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, daß sich ein relativ einheitliches europäisches Kapitalmarktrecht herausbilden konnte,3 das eine angemessene sachliche Reichweite der Regelungen und Regelungstiefe erreichte.4
2
Trotz dieses Schubs an sekundärrechtlichen Regelungen zeigte sich bald die Unzulänglichkeit des europäischen Normgefüges, um den Marktanforderungen auf Anbieter- und Nachfragerseite tatsächlich gerecht zu werden.5 Seit rund 10–15 Jahren unterliegen die Finanzindustrie und der Kapitalmarkt fundamentalen Änderungen.6 Verkürzt lassen sich die Ursachen in die Schlagworte Globalisierung der Weltwirtschaft, Internationalisierung der Finanzmärkte sowie die Institutionalisierung der Vermögensanlagen kleiden. Diese Veränderungskräfte wurden durch die enormen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie erst möglich und
3
2 Beredtes Zeugnis davon ist etwa der sogenannte Segré-Bericht: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – EG-Kommission, Der Aufbau eines europäischen Kapitalmarkts – Bericht einer von der EWG-Kommission eingesetzten Sachverständigengruppe 1966. 3 Siehe dazu etwa Assmann, in: Assmann/Schütze (Hrsg.), Handbuch zum Kapitalanlagerecht (2. Aufl. 2000), § 1 Rn. 81 ff; Weber, in: Dauses (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (1996), F III; Moloney, EC Securities Regulation (2002), S. 4 ff. 4 Moloney, EC Securities Regulation, S. 5; Moloney, EBOR 2002, 293, 309, 336. 5 Ferrarini, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 241. 6 Baum, in: Kono/Paulus/Rajak (Hrsg.), The legal issues of E-commerce (2000), S. 99; Kalss, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital markets in the Age of the Euro (2002), S. 193. Susanne Kalss
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3. Teil: Besonderer Teil
in Europa durch die EU-Harmonisierungsbestrebungen und die Einführung des Euro nachhaltig unterstützt.7 Die Globalisierung des Markts, die Zunahme der Mobilität der Marktteilnehmer, die in immer kürzeren Zyklen stattfindende Kreation neuer Finanzinstrumente und Techniken tragen ebenso zum neuen Umfeld bei wie eine offene Politik.
4
Die dramatischen Änderungen veranlaßten die europäische Kommission 1999 einen Aktionsplan für Finanzdienstleistungen vorzulegen (Financial Services Action Plan – FSAP).8 Die Kommission setzte eine Expertengruppe ein, um sowohl inhaltlich Prioritäten als auch verfahrensmäßige Regelungen für die Fortentwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts zu formulieren. Auf der Grundlage des Berichts dieser Experten (Bericht der Weisen – Lamfalussy-Bericht) vom November 2000 9 legte der europäische Rat in einer Entschließung im März 2001 seine Vorstellung einer wirksameren Regelung des Kapitalmarkts vor. Der Vorsitzende des „Ausschusses der Weisen“, Alexandre Baron Lamfalussy, hebt in seinem Abschlußbericht insbesondere die Fähigkeit zur raschen Anpassung des kapitalmarktrechtlichen Rechtsrahmens an den Wandel der wirtschaftlichen Marktrealität als Kennzeichen des neuen Legislativprozesses hervor.10 Im November 2005 bat die Kommission in einer Pressemitteilung um Kommentare betreffend der Bewertung des FSAP.11 2.
5
Das neue kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren
Auf der Grundlage des Lamfalussy-Berichts und der Entschließung des europäischen Rats wurde für das europäische Kapitalmarktrecht ein vierstufiges Regelungskonzept etabliert. Dabei wurde das bereits in anderen regelungsintensiven Bereichen wie Landwirtschaft, Lebensmittelrecht und ähnlichen Marktordnungen verwendete Komitologieverfahren auf das Kapitalmarktrecht übertragen. Das kapitalmarktrechtliche Regelungsregime ist vierstufig aufgebaut.12 Europaweit werden vom Rat nur mehr (i) einheitliche Rahmenregelungen und Prinzipien geschaffen; (ii) konkretisierende flexible Durchführungsmaßnahmen legt die Kommission unter Beiziehung von Sachverständigen fest, die (iii) möglichst einheitlich in den Mitgliedstaaten umgesetzt und (iv) durch die Kommission in effizienter Weise durchgesetzt werden sollen.13 Auf der ersten Stufe sollen nach dem üblichen Rechtsetzungsverfahren nach Art. 251 EG,
7 Rudolf, in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt (2005), § 1 Rn. 5. 8 Kommission – Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan Mitteilung der Kommission vom 11.5.1999, Komm (1999) 232 endgültig, abgedruckt in ZBB 1999, 103 f. 9 Bericht des Ausschusses der Weisen über die Reglementierung der europäischen Wertpapiermärkte vom 9.11.2000, s europa.eu.int/comm/internal_market/securities/lamfalussy/index_ de.htm. europa.eu.int/comm/internal_market/en/finances/banks/report/de.pdf. 10 Binder/Broichhausen, ZBB 2006, 85, 88. 11 IP/05/1377, 7.11.2005 12 Karpf/Kuras-Eder, ÖBA 2002, 758; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht (2005), § 1 Rn. 43 ff. 13 Siehe dazu nur Doralt/Kalss, in: Bermann/Pistor (Hrsg.), Law and governance in an enlarged European Union (2004), S. 272.
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Susanne Kalss
§ 20 Kapitalmarktrecht
in einem neuen Typus von Richtlinien, respektive Verordnungen die politischen Grundentscheidungen getroffen werden.14 Die Richtlinien sind bloß als Rahmenrichtlinien gestaltet und sollen nur die Eckpunkte der jeweiligen Regelungen erfassen. Gerade aber in der Festlegung der notwendigen Konkretheit liegt wiederum der entscheidende Punkt in der gesamten Festlegung des Regelungsprozederes.15 Da der genaue Grad der Konkretheit der Rahmenrichtlinien nicht voll ausgelotet und bei politisch heiklen Fragen tendenziell zu hoch ist,16 besteht die Gefahr, daß jede künftige kapitalmarktrechtliche Richtlinienbestimmung der Überprüfung durch den EuGH auf die Vertragskonformität insbesondere zur Konkretheit gem. Art. 202 EG unterzogen wird.17 Entsprechend dem Komitologieverfahren werden auf der zweiten Stufe des Regelungsprozesses die technischen Durchführungsmaßnahmen, entweder in Gestalt einer Durchführungsrichtlinie (DurchführungsRL) oder einer Durchführungsverordnung (DurchführungsVO), nur von der Kommission erlassen. Das Komitologieverfahren verschiebt somit die Kompetenz für die Festlegung von Durchführungsbestimmungen und technischen Einzelheiten von Rat und Parlament zur Kommission, die sich des Sachverstands von Expertengremien bedienen muß. Die Instrumente der DurchführungsRL oder -VO entsprechen funktional der bisher mehrfach von der Kommission eingesetzten „Amtlichen Mitteilung“,18 mittels der die Kommission den vom Rat gesetzten und von ihr nur vorbereiteten Rechtsakt mehr oder weniger authentisch interpretierte. Die Ermächtigung zur Erlassung von Durchführungsmaßnahmen gibt der Kommission nunmehr eine klare Kompetenz, zudem leistet sie nicht nur einen Auslegungsvorschlag, sondern erläßt eine verbindliche Regelung, um Regelungsspielräume zu konkretisieren. Die Stufen drei und vier betreffen nicht mehr die Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene, sondern die anschließende Umsetzung und Durchsetzung der auf Stufe eins und zwei erlassenen Vorschriften.19 3.
6
Die Rolle von CESR bei Normsetzung und -auslegung
Die im Jahr 2001 etablierten Ausschüsse, nämlich der EU-Wertpapierausschuß (European Securities Comitee – ESC) 20 und der Ausschuß der EU-Wertpapierregulierungs-
14 Schmolke, NZG 2005, 912 f. 15 Siehe zum Ausmaß der Konkretheit Ferran, Building an EU-securities market, S. 99, vor allem zur ProspektRL, S. 134 ff.; Ferrarini, Contract standards and the markets in financial instruments directive and assessment of the Lamfalussy regulatory achitecture (ILF working paper Nr. 39) (2005) zur RL über Märkte von Finanzinstrumenten, S. 12 ff.; ERCL 2005, 19, 29. 16 Krit. daher Ferrarini, ERCL 2005, 19, 27 ff. 17 Kalss, in: Basedow/Baum/Hopt/Kanda/Kono (Hrsg.), Economic regulation and competition, S. 118 f. 18 Vgl. etwa die Amtliche Mitteilung der Kommission zur zweiten Bankrechtsrichtlinie v. 15.12. 1989. ABl.L 386 v. 30.12.1989. 19 Schmolke, NZG 2005, 912, 913. 20 2001/528/EG: Beschluß der Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Europäischen Wertpapierausschusses, ABl. 2001 L 191/45. Susanne Kalss
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3. Teil: Besonderer Teil
behörden (Comitee of European Securities Regulators – CESR) 21 werden auf den ersten drei Ebenen in den Regelungsprozeß einbezogen. CESR 22 spielt gerade auch für die Auslegung des europäischen Kapitalmarktrechts eine herausragende Rolle. Während der EU-Wertpapierausschuß, der vorwiegend aus hochrangigen Vertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist, Beratungsfunktion auf der ersten und zweiten Regelungsebene ausübt, kommt dem Ausschuß der Wertpapierregulierungsbehörden (CESR), der aus Vertretern der nationalen Wertpapier- und Finanzmarktaufsichtsbehörden besteht, beratende Funktion auf der ersten, vor allem aber auf der zweiten Regelungsebene und schließlich vollziehende Funktion auf der dritten Regelungsebene zu.
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Auf der dritten Ebene soll CESR zur Sicherung der möglichst hohen Kohärenz des europäischen Kapitalmarktrechts Empfehlungen zu Auslegungsfragen und Leitlinien für die Umsetzung bzw. Anwendung der allgemeinen Rahmenrichtlinien der konkreten Durchführungsmaßnahmen erarbeiten, zusätzlich soll er gemeinsame Standards etablieren, sofern keine gemeinsamen Rechtsvorschriften bestehen. Auf der vierten Stufe des Regelungsregimes soll schließlich die Kommission um eine effiziente Durchsetzung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen bemüht sein, indem eine enge Kooperation der Wertpapieraufsichtsbehörden ebenso angestrebt wird wie eine effiziente sonstige Sanktionierung der Regelung.
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Von herausragender Bedeutung für die Auslegung des derart mehrschichtig aufgebauten europäischen Kapitalmarktrechts ist somit die Aufgabenstellung von CESR, des Ausschusses für Wertpapierregulierungsbehörden. Diese massive Einbindung des Ausschusses der Wertpapierregulierungsbehörden zeigt die Verlagerung der Regelungskompetenz von politischen Vertretern hin zu Experten, was einerseits eine Erhöhung fachlicher Kompetenz und auch Flexibilisierung des Regelungsprozesses bewirken kann,23 was gerade bei speziellen Aufsichtsfragen im Grundsatz gerechtfertigt ist; aber auch dort kann die zu hohe Detailliertheit und Kasuistik der Regelungen, die vielfach in Kompromissen enden, hemmende Wirkung haben. Zugleich markiert diese prominente Stellung der mit Experten besetzten Ausschüsse eine dramatische Zuspitzung der Regelungsdominanz von zum Teil eng ausgerichteten Sachverständigen, somit zu einer Regelung von fachlich hochspezialisierten Insidern,24 die vielfach den Markt durch die Brille des Aufsehers beobachten.25 Zudem besteht die Gefahr, 21 2001/527/EG. Beschluß der Kommission v. 6.6.2001 zur Einsetzung des Europäischen Wertpapierregulierungsbehörden, ABl. 2001 L 191/43. 22 Docters van Leeuwen, European Company Law (2005), S. 9 ff. 23 Ferrarini, Contract Standards and the Markets in Financial Instruments Directive (MiFID): an assessement of the Lamfalussy regulatory architecture (ILF working paper series Nr. 39) (2005), S. 12; CESR, The European regime of investor protection: The harmonisation of business rules, April 2002, 3; European Review of Contract Law (ERCL) 2005, 19, 27 ff. 24 Krit. Zimmer, BKR 2004, 421 f.: „Die Experten übernehmen“; ferner Hopt, Diskussionsbeitrag beim Symposion der deutsch-griechischen Juristenvereinigung, Europäisches Wirtschaftsrecht im Umbruch am 2.7.2004 in Hamburg. 25 Zahlreiche expert comitees und subgroups von CESR werden aber nicht nur aus Angehörigen der Kapitalmarktaufsichtsbehörden, sondern auch aus Praktikern (Marktteilnehmern) zusammengesetzt.
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daß die starke Einbindung von Aufsehern und Regulatoren in den Rechtssetzungsprozeß die Zahl und Dichte der Regelungen jedenfalls erhöht.26 Die Verschiebung der Verabschiedung der Ausführungsnormen der MiFiD sowie der Umsetzung in nationales Recht bis ins Jahr 2007 zeigen diese Problematik deutlich. Zwar wird von CESR im Stadium der Erarbeitung und Beratung der einzelnen Durchführungsmaßnahmen ein hoher Grad an Einbindung der gesamten Praxis und interessierten Öffentlichkeit durch umfangreiche elektronisch gestützte Konsultationsverfahren herbeigeführt, die ein hohes Maß an Publizität und Transparenz des Willensbildungsprozesses im Vergleich zu sonstigen Verfahren bewirken.27 Vielfach ist dieser Schub an Publizität und Transparenz im Normwerdungsprozeß aber bloß ein scheinbarer und führt die komplexe Regelsetzungsstruktur dazu, daß außenstehende Rechtsanwender und Interessierte einen klaren Informationsnachteil haben und daher Regelungen nur sehr schwer auf ihren tatsächlichen normativen Gehalt ausloten können.28 Gerade die Fragen der Regelungstechnik und -gestaltung sollen nunmehr noch einmal vertieft überprüft werden. (vgl. vorne 1) 4.
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Besonderheiten für die Interpretation der Normen
Bislang wurden nach dem neuen Vierstufen-Regelungsverfahren (Lamfalussy-Verfahren) die Marktmißbrauchsrichtlinie,29 die Prospektrichtlinie,30 die Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten (vormals Wertpapierdienstleistungsrichtlinie) 31 und schließlich zuletzt die Transparenzrichtlinie 32 in Kraft gesetzt.
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Die meisten im Folgenden angeführten Beispiele stammen aus der Marktmißbrauchsrichtlinie, was sich einfach daraus erklärt, daß diese als erste gemäß dem Komitologieverfahren in Kraft gesetzt wurde und auch bereits in nationales Recht umgesetzt ist. Die ProspektRL war bis zum Juli 2005 in nationales Recht umzusetzen, so daß die Fragen erst langsam hervorkommen.
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26 Vgl. nur Zimmer, BKR 2004, 421 f. 27 Ferran, Building an EU-securities market, S. 82; Kalss, in: Basedow/Baum/Hopt/Kanda/ Kono (Hrsg.), Economic regulation and competition; S. 117, Schmolke, NZG 2005, 912, 916. 28 So auch Hopt, Diskussionsbeitrag beim Symposion der deutsch-griechischen Juristenvereinigung am 2.7.2004 in Hamburg. 29 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 30 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 L 345/64. 31 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 32 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2004 L 390/38. Susanne Kalss
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Die Komplexität des Regelungsgeflechts zeigt sich etwa dadurch, daß die Marktmißbrauchsrichtlinie als Rahmenrichtlinie von drei Durchführungsrichtlinien 33 und einer Durchführungsverordnung 34 ergänzt wird und diese Ausführung der Normen der Kommission von einer Vielzahl vorbereitender und Beratungstexte von CESR begleitet wird. Allein dieser mehrschichtige Aufbau und die vielen begleitenden Unterlagen zeigen die neue Dimension des Kapitalmarktrechts.
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Welche Besonderheiten ergeben sich nun – abgesehen von den eben genannten Schwierigkeiten – aus diesem besonderen Rechtssetzungsregime für die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Bestimmungen?
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a) CESR wurde gerade auch zu dem Zweck geschaffen, eine einheitliche Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen. In diesem Bereich wurde somit zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung eine eigenständige Einrichtung etabliert, die Auslegungsaufgaben zu erfüllen hat, was sowohl auf der zweiten Ebene und explizit auf der dritten Ebene des Normsetzungsprozesses verwirklicht wird. Offenbar wird für den Kapitalmarkt und das Kapitalmarktrecht die Einheitlichkeit des Regelungsverständnisses aufgrund des hohen transnationalen Handelsvolumens und des Verflechtungsgrads zumindest von Teilbereichen (Wertpapiermärkte, Abwicklung etc) für so wichtig erachtet, daß die Auslegung nicht allein den Rechtsunterworfenen, sondern zusätzlich einem europaweit wirkenden Gremium überantwortet wird.
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b) Die Regelungstechnik zwingt den Anwender sowohl zur Zusammenschau und stimmigen Auslegung von mehreren Rechtstexten auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene, worin allein schon eine Komplizierung des Auslegungsprozesses und der Anwendung der Regelungen verbunden ist. Die nationalen Texte sind nicht allein auf ihre Europakonformität 35 zu überprüfen, zudem ist Sekundärrecht nicht allein am Primärrecht zu messen.36 Vielmehr wird eine eigene Stufe der Auslegung eingezogen, nämlich die Überprüfung der Konformität der DurchführungsRL bzw. -VO mit der RahmenRL, um den normativen Gehalt auszumessen.
33 Richtlinie 2004/72/EG der Kommission v. 29.4.2204 zur Durchführung der Richtlinie 2003/ 6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Zulässige Marktpraktiken, Definition von Insider-Informationen in Bezug auf Warenderivate, Erstellung von Insider-Verzeichnissen, Meldung von Eigengeschäften und Meldung verdächtiger Transaktionen, ABL. 2004 L 162/70; Richtlinie 2003/124/EG der Kommission vom 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation, ABl. 2003 L 399/70; Richtlinie 2003/125/EG der Kommission v. 22.12. 2203 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die sachgerechte Darbietung von Anlageempfehlungen und die Offenlegung von Interessenskonflikten, ABl. 2003 L 399/73. 34 Verordnung 2273/2003/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Ausnahmeregelungen für Rückkaufprogramme und Kursstabilisierungsmaßnahmen, ABl. 2003 L 336/33. 35 Vgl. dazu Roth, oben, § 14. 36 Vgl. dazu Leible/Domröse, oben, § 9.
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c) Die mehrfache Einbindung von CESR in den Regelungsprozeß, vor allem auf der zweiten Regelungsebene sowie auf der dritten Ebene, führen in der Realität zu einer Explosion von Dokumenten, Unterlagen und Materialien, die aufgrund der technischen Möglichkeiten (Download im Internet) dem Rechtsunterworfenen zwar relativ einfach zugänglich (ausgedruckt als Halbmeterstöße) sind, ihn aber vor die schwierige Aufgabe stellen, diese Informationsflut zu strukturieren und zu bewältigen, um sie sinnvoll für die Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Normen verwenden zu können (mangelnde Transparenz wegen Informationsfülle). Diese Flut von Materialien ist vielfach nur für Experten verfaßt worden. Dem Außenstehenden fehlen vielfach die notwendigen Insiderkenntnisse, zum Teil replizierende oder absichtlich knapp gehaltene Erläuterungen und Erklärungen richtig deuten zu können.
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d) Zwei unterschiedliche Arten von Unterlagen von CESR, die der Auslegung auf der zweiten Ebene dienen, stehen zur Verfügung: 37 Advices (38Beratungsunterlagen über einzelne Fragen der geplanten Regelungen der DurchführungsRL bzw. Verordnung der Kommission) und Feedback Statements. Advices sind nicht als schlichte Erläuterungen der geplanten Regelungen konzipiert, sondern geben Antwort auf eine Vielzahl von Fragen, die rund um einzelne Bestimmungen und Tatbestände gestellt werden. Diese Advice-Dokumente, die im Laufe eines Rechtsetzungsverfahrens mehrfach in verschiedenen Stadien erarbeitet und offen gelegt werden, akzentuieren die einzelnen Fragestellungen unterschiedlich, so daß auch die Qualität der Aussagen divergiert und der Nutzen für die konkrete Auslegung einer nationalen bzw. europarechtlichen Bestimmung unterschiedlich ist. Zwar sind die Advice-Dokumente chronologisch geordnet und legen offen, auf welchen Stand der geplanten Richtlinie oder Durchführungsmaßnahme sie sich beziehen; allerdings wird kein abschließendes vollständiges Schlußdokument, das alle erörterten Fragen zusammenfaßt, erstellt; vielmehr bleiben die Unterlagen Stückwerk.
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Feedback Statements sind die zusammengefaßten und ausgewerteten Antworten, die CESR im Rahmen der dem Rechtssetzungsakt vorgeschalteten Konsultationsverfahren erarbeitet; im Regelfall werden von CESR relativ präzise Fragen zu einzelnen Regelungsbereichen gestellt. Die Feedback Statements lassen die Autorenschaft der Antworten nicht mehr erkennen.39 Jedenfalls spiegelt sich aber die Diskussion wider und werden wesentliche Argumentationslinien erkennbar. Ein Feedback Statement bildet aber nicht den historischen Willen des Gesetzgebers ab, sondern gibt nur Einblick in die rechtspolitische Diskussion. Ein Advice von CESR stellt keine Erläuterung in dem Sinn dar, daß die Bestimmung vom Regelungsgeber selbst erläutert und erklärt wird, vielmehr bildet ein Advice den Meinungsstand der nationalen Regulierungsbehörden ab und verkörpert mit dem Feedback Statement den Succus der bear-
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37 Die Unterlagen sind unter: www.cesr-eu.org. abrufbar und sind chronologisch geordnet. 38 Technical Advices beschäftigen sich mit einzelnen Spezialfragen. 39 Dies unterscheidet das Verfahren auch von nationalen Begutachtungsverfahren, bei denen seit geraumer Zeit jedenfalls in Österreich nicht bloß der Ministerialentwurf im Netz von der Homepage des jeweiligen Ministeriums abrufbar ist, sondern auch alle Stellungnahmen dazu. Susanne Kalss
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beiteten und vereinheitlichten Antworten durch die Praxis. Aus den Unterlagen kann daher vor allem das Verständnis der kraft Gesetzes eingeschalteten Beratungsgremien ermittelt werden und kann vielfach, wenn nicht regelmäßig, auf eine Erarbeitung eines europäischen Verständnisses hingearbeitet werden, indem die Unterlagen zur Interpretation herangezogen werden. Es handelt sich dabei aber nicht um eine subjektiv historische Interpretation im engen eigentlichen Sinn, wonach die Überlegungen des Normgebers selbst zur Ermittlung des normativen Gehalts der Bestimmung herangezogen werden, vielmehr sind die CESR-Papiere Vorbereitungs- und sonstige Unterlagen, die die eine oder andere Konstellation derart aufhellen und illustrieren, so daß auch eine allgemeine Interpretation einer Bestimmung möglich wird.
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e) Ein Beispiel für die Bedeutung der Arbeit und Dokumente von CESR bildet etwa die Konkretisierung der meldepflichtigen Geschäfte von Führungskräften einer Gesellschaft. Gem. Art. 6 Abs. 4 der MarktmißbrauchsRL sind alle Eigengeschäfte mit Aktien bzw. gleichgestellten Wertpapieren des Emittenten von den Führungskräften der Wertpapieraufsichtsbehörde zu melden und dem Publikum offen zu legen. Nach Auffassung der Kommission sollten aber die Geschäfte, die im Rahmen von Dienstverhältnissen getätigt werden, von der Melde- und Offenlegungspflicht ausgeklammert werden. Eine Differenzierung, ob diese Transaktion im Zusammenhang mit einem Dienstverhältnis getätigt worden ist oder nicht, ist aber weder nach dem Regelungswortlaut geboten noch entspricht es dem Zweck der Offenlegungspflicht,40 soll doch gerade der Aktienerwerb bzw. die Disposition der Führungskräfte aus Anlaß von „Entgeltleistungen“ dem Markt offen gelegt werden.41 Entgegen der Kommission wandte sich CESR in den Stellungnahmen klar gegen die Ausklammerung von Aktienoptionsprogrammen und belegte damit wesentlich die Notwendigkeit der weiten Interpretation, was die Bedeutung dieser Unterlagen als Interpretationshilfe unterstreicht.42
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Ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit der Berücksichtigung der vorbereitenden Unterlagen von CESR liegt etwa im Begriff der Auslegung der sonstigen Führungskraft gem. Art. 6 Abs. 4 der MarktmißbrauchsRL. Nach § 48d Abs. 4 BörseG bzw. Art. 6 Abs. 4 der ersten DurchführungsRL haben nicht nur Organmitglieder des Emittenten, sondern auch sonstige geschäftsführende Führungskräfte, die die Befugnis haben, unternehmerische Entscheidungen über zukünftige Entwicklungen und Geschäftsperspektiven im Unternehmen zu treffen und auch regelmäßig Zugang zu Insiderinformation haben, die Geschäfte mit Aktien der Gesellschaft offen zu legen. Gerade aus den Unterlagen von CESR ist zu erkennen, daß damit tatsächlich nur Personen mit eigenständigen unternehmerischen Tätigkeiten erfaßt werden sollen.43
40 Zum Zweck siehe Fleischer, ZIP 2002, 1217, 1220; Kalss/Zollner, GeS 2005, 106. 41 Siehe dazu Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 110 f. 42 Vgl. Empfehlung Nr. 39 des advice for the market abuse directive on the second level, CESR/03-212c, 16; Empfehlung Nr. 80 des Feedback Statement, CESR/03-213b, 15. 43 Empfehlung Nr. 40 des Advice for the market abuse directive on the second level, CESR/03212c, 16 (the material responsabilities).
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Nach europäischem Verständnis ist der Begriff der sonstigen Führungskraft eng zu verstehen.44 Aus den Konkretisierungen in den Unterlagen von CESR ergibt sich für die Bestimmung von Art. 6 Abs. 4 klar ein europäisches Verständnis,45 wonach tatsächlich primär nur Organmitglieder erfaßt werden sollen. Nur in wenigen Ausnahmefällen, in denen sonstigen Führungskräften tatsächlich dieser eigenständige Entscheidungsspielraum zukommt, sollten diese ebenfalls dem Directors’ Dealings unterworfen werden. Als möglicher Beispielsfall kann der Geschäftsführer nach schwedischem Recht genannt werden, der in eigener Verantwortung unternehmerische Entscheidungen zu tätigen hat.46 f) Die Vorbereitungs- und Beratungsunterlagen von CESR sind Unterlagen eines Gremiums, dem selbst gerade nicht Gesetzgebungskompetenz, sondern bloß die – zweifellos wichtige – Begleitfunktion zukommt, so daß die Unterlagen (advices und feedback statements) zwar vielfach instruktiv und weiterführend, sie aber wegen der Verschiedenheit von Regelgeber und Verfasser der Unterlagen nur in begrenztem Maß einsetzbar sind. Ein Beispiel aus der Marktmißbrauchsrichtlinie soll dies veranschaulichen: Nach § 48d Abs. 4 BörseG sind alle Geschäfte der Führungskräfte offenlegungspflichtig. Der Zweck der Regelung spricht aber ebenso wie die systematische Einbettung dafür, daß bloß entgeltliche Geschäfte der Offenlegung unterworfen werden sollen; ganz deutlich weist auch der Wortlaut gem. Art. 6 Abs. 4 der englischen Fassung der RL und der DurchführungsRL in diese Richtung. Schenkungen oder Erbschaften als typisch unentgeltliche Geschäfte sind für den Erwerber risikolos und er wird sie daher jedenfalls annehmen. Es wird somit bei deren Erwerb kein Signal an den Markt gegeben, weshalb die Offenlegung nicht zweckgerecht ist, sondern sogar irreführend sein könnte.47 CESR argumentiert hingegen – unter Hinweis auf Umgehungsmöglichkeiten – genau in die gegenteilige Richtung.48 Darin zeigt sich, daß die Dokumente von CESR eben nur als ein wichtiger Baustein der Auslegung herangezogen werden können; daß aber die Meinung der Aufsichtsbehörden bzw. konsultierten Praxis durchaus auch fehlliegen kann, was bei Verwertung der Unterlagen stets im Auge zu behalten ist.
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g) Die Durchführungsrichtlinien sind von unterschiedlichem Determinierungsgrad; zum Teil wiederholen sie faktisch den Text der Rahmenrichtlinien, die ihrerseits schon sehr – zum Teil zu – detailliert ist,49 zum Teil sind sie derart gestaltet, daß sie beispielhaft aufzählen, was unter bestimmten Formulierungen der RahmenRL zu verstehen ist. Als Beispiel sei etwa der Begriff der „berechtigten Interessen“ gem. Art. 1 bzw. 2 der MarktmißbrauchsRL im Rahmen der Ad-hoc-Publizität genannt, die den Emittenten berechtigen, eine Insiderinformation nicht sofort zu veröffentlichen. Aus der
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44 Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 108 f. 45 Vgl. CESR Pkt. 79 des Feedback Statement, CESR/03-213b, 15. 46 Vgl. Art 43 Abs. 1 Verordnung 2001/2157 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2000 L. 249/1. 47 Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 110; von Buttlar, BB 2003, 2133, 2137. 48 CESR Empfehlung Nr. 80 des Feedback Statements CESR/03-213b, S. 15. 49 Krit. Ferrarini, ECLR 2005, 19, 27 ff. Susanne Kalss
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zusätzlichen Ebene auf europäischer Ebene ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber eine neue Form der Umsetzung. Wegen des weiter fortgeschrittenen Determinierungsgrades der Durchführungsbestimmungen verbleibt für den nationalen Gesetzgeber vielfach – abgesehen von ausdrücklichen Regelungsermächtigungen bzw. Aufträgen 50 – beinahe kein Regelungsspielraum. Die nationalen – etwa der österreichische – Gesetzgeber begnügen sich vielfach mit der wortwörtlichen Übernahme der europäischen Normtexte, ohne auf den nationalen Kontext einzugehen, d.h. ohne die Systematik der nationalen Gesetze, die Terminologie des nationalen Rechts, den bisherigen Regelungsbestand und das sonstige Regelungsumfeld in angemessener Weise zu berücksichtigen.51 Dies führt dazu, daß die nationalen Regelungen, die zum Teil tatsächlich bloße Abschreibübungen der europäischen Durchführungsnormen sind, bisweilen für das nationale Recht „überschießend“ sind und daher jeweils den nationalen Gegebenheiten entsprechend einschränkend interpretiert werden müssen. Die Besonderheit liegt dabei nicht in der Art der Interpretationstechnik, vielmehr in der unangemessenen Umsetzung, die zum Teil auch durch die mehrstufige Regelungstechnik gefördert wird. Als Beispiel dieser mangelnden Einpassung in den nationalen Normenkontext mag noch einmal – nunmehr unter einem anderen Blickwinkel – der Begriff der sonstigen Führungskräfte gem. § 48d Abs. 4 BörseG herangezogen werden. Die Einschränkung der Offenlegungs- und Meldepflicht auf Organmitglieder von österreichischen – sowie auch deutschen – Gesellschaften ergibt sich nicht bloß aus der europarechtlichen Auslegung mit Hilfe der CESR-Dokumente, sondern auch aus einer systematischen Interpretation der Kompetenzzuweisung in österreichischen oder deutschen Aktiengesellschaften, in denen allein dem Vorstand Leitungskompetenz und damit die Befugnis der strategischen Ausrichtung und der unternehmerischen Entscheidungsführung zukommt, die er zum Teil mit dem Aufsichtsrat teilt.52 Sonstige Einrichtungen bzw. Personen mit der Befugnis zu unternehmerischen Entscheidungen anerkennen das österreichische bzw. deutsche Aktienrecht nicht, woraus folgt, daß Führungskräfte im Sinne der RL nur Organmitglieder sein können. 5.
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CESR – Dritte Regelungsebene
Abschließend sei noch auf die Rolle von CESR bei der Vollziehung hingewiesen. Generell hat CESR auf der dritten Ebene dafür zu sorgen, konsistente Anwendungsleitlinien für die Verhaltenspflichten auf nationaler Ebene zu erstellen, Empfehlungen für eine gemeinschaftsweite Interpretation und gemeinsame Standards 53 für Bereiche, die noch nicht explizit geregelt sind,54 zu erlassen, Regulierungs- und Vollziehungs50 Vgl. etwa Art. 6 der MarktmißbrauchsRL bezogen auf den Zeitpunkt der Mitteilung einer aufgeschobenen Ad-hoc-Publizität gegenüber der Aufsichtsbehörde. 51 Vgl. krit. Kalss/Oppitz/Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht, § 14 Rn. 32. 52 Vgl. auch Münchener Kommentar AktG-Hefermehl/Spindler (2004), § 76 Rn. 18; Kalss/Zollner, GeS 2005, 106, 109. 53 Vgl. CESR-Standard: European Regime of Investor Protection the Harmonisation of Contact of Business Rules, 9. April 2002 REF CESR/01-014d, www.europefesco.org; siehe dazu Birnbaum/Kittelberger, WM 2002, 1911 f. 54 Ein weiteres Beispiel bilden etwa Standards zum Enforcement von Rechnungslegungsbestimmungen.
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praktiken zu vergleichen und zu überprüfen, um eine effektive Durchsetzung in der gesamten Gemeinschaft sicherzustellen und best practice zu definieren.55 Dabei sollen die im CESR vernetzten nationalen Regulierungsbehörden durch wirksame Maßnahmen eine „kohärente und gleichwertige Umsetzung der Rechtsvorschriften von Stufe eins und zwei gewährleisten“.56 CESR ist ermächtigt, Empfehlungen für die Vollziehung von einzelnen Durchführungsbestimmungen zu erteilen. Während auf der zweiten Ebene CESR bloß einen Rat (Advice) an die Kommission erteilt bzw. die Antworten aus der Praxis aufbereitet und derart auf den Regelungsvorgang einwirkt, kommt ihm auf der dritten Regelungsebene keine Mitwirkungsbefugnis unmittelbar bei einem Rechtsetzungsvorgang zu, vielmehr hat er bereits in Kraft gesetzte Normen zu interpretieren und dadurch zu konkretisieren. Vergleichbar ist diese Aufgabe mit der innerstaatlichen Befugnis, allgemeine Erlässe zur Konkretisierung von Gesetzen zu veröffentlichen; besonders häufig spricht dies etwa im Abgabenrecht eine Rolle.57 Noch näher als die Erlässe von Ministerien stehen die Richtlinien bzw. Empfehlungen, die die nationalen Aufsichtsbehörden zur Auslegung bestimmter Regelungsbereiche erlassen.58 CESR steht somit mit dieser Rolle grundsätzlich parallel zu den Rechtsanwendern; seine Aufgabe gibt ihm aber faktisch rechtsetzende Leitfunktion,59 zumal sich diese Auslegungsvorgaben gerade an die nationalen Aufsichtsbehörden richten. Zwar sind die Marktteilnehmer, d.h. die Rechtsunterworfenen, nicht die unmittelbaren Adressaten der Empfehlungen von CESR, die Normierungsfunktion folgt aber ganz entscheidend aus der ausdrücklich angeordneten und gerade intendierten Publizität der internen Anleitungen und der damit einhergehenden Vorhersehbarkeit und Planungssicherheit für die Rechtsunterworfenen.60 Gerichte sind daran bei einer nachfolgenden bzw. endgültigen Beurteilung ebenso wenig gebunden wie an nationale verwaltungsinterne Erlässe oder Richtlinien.61 Dabei darf CESR nicht über die in der Rahmen- bzw. Durchfüh-
55 CESR, Consultation paper, the role of CESR at level 3 under the Lamfalussy-Process, CESR/04-104b, www.cesr-eu.org. 56 Schmolke, NZG 2005, 912, 914. 57 Vgl. dazu Wiesner, in Lang/Schuch/Staringer (Hrsg.), Soft Law in der Praxis (2005), S. 79; ein historisches Beispiel in Österreich bildet das Aktienregulativ 1899, das als Verwaltungsverordnung das Aktienrecht des AHGB 1861 konkretisierte, indem es den Verwaltungsorganen der Konzessionsbehörden die Vorgaben machte, ob und unter welchen Voraussetzungen der Satzungsgestaltung der Aktiengesellschaften die Konzession zu erteilen wäre; vgl. dazu Kalss/Burger/Eckert, Die Entwicklung der österreichischen Rechts (2003), S. 245 ff.; Kalss/ Burger, GesRZ-Sonderheft 2002, 51 ff. 58 In Österreich: FMA, Mindeststandard für die Information der Pensionskassen an Leistungsund Anwartschaftsberechtigte; in Deutschland: BAFin, Richtlinie gem. § 35 Abs. 6 des Gesetzes über den Wertpapierhandel zur Konkretisierung der §§ 31 und 32 WpHG für das Kommissionsgeschäft, den Eigenhandel für andere und das Vermittlungsgeschäft der Wertpapierdienstleistungsunternehmen. 59 Ferran, Building an EU Securities Market, S. 100. 60 Siehe dazu Kalss/Burger, GesRZ-Sonderheft 2002, 51, 55 f., 60 f. 61 Siehe dazu etwa Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), § 35 WpHG Rn. 6. Susanne Kalss
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3. Teil: Besonderer Teil
rungsRL bzw. VO gesetzten Regelungsrahmen hinausgehen und etwa zusätzliche Kriterien verlangen.62
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Als Beispiel einer derartigen Empfehlung sei the Recommendation zur konsistenten Anwendung der DurchführungsVO zur ProspektRL genannt, in der die inhaltlichen Angaben für Prospekte, wie sie die DurchführungsVO sowie die ProspektRL vorsehen, beispielhaft konkretisiert werden. Diese Recommendation hat nur klarstellende Funktion, sie dient der Auslegung und Konkretisierung der allgemein gehaltenen Begriffe in den verschiedenen Regelwerken. Zwar ist die Empfehlung nicht verbindlich, jedenfalls kommt ihr aber hohe Präjudizwirkung zu und muß ein Abgehen von dieser interpretativen Leitlinie von einem Rechtsunterworfenen überzeugend begründet werden.
III. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittmaterie 1.
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Kapitalmarktrecht bildet – wie bereits erwähnt – eine Gemengelage und eine Querschnittsmaterie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsbereiche, die nach traditioneller Sichtweise einerseits eher dem öffentlichen (regulativen) Recht, andererseits eher dem Privatrecht zugeschlagen werden.63 Elemente finden sich aus dem Verwaltungsrecht, dem Wirtschaftsverwaltungsrecht, Privatrecht und Gesellschaftsrecht.64 Bei einem Vergleich einzelner Regelungsinstitute ist stets darauf zu achten, daß die Steuerungsinstrumente Privatrecht und Öffentliches Recht in unterschiedlichem Maß eingesetzt werden.65 Nicht zufällig spricht man in einzelnen Regelungsbereichen von der Zwitter- oder Mehrfachstellung einzelner Instrumente. 2.
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Öffentliches – Privates Recht
Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur
Als typisches Beispiel eines Instruments, das einer doppelten Rechtsnatur folgt, sind die Wohlverhaltensregeln (Art. 11 WertpapierdienstleistungsRL; §§ 31 ff. WpHG; §§ 13 ff. österreichisches WertpapieraufsichtsG) für Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Wertpapierfirmen nach der WertpapierdienstleistungsRL) zu nennen, die einerseits öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Verhaltensnormen verkörpern, zugleich aber auch als Ausdruck des privatrechtlichen vertraglichen bzw. vorvertrag-
62 Siehe etwa deutsches Aktieninstitut, Response to the consultation paper related to the role of CESR at level 3 under the Lamfalussy-process, CESR/04-104b, www.dai.de; siehe ferner Fischer zu Cramburg, AG 6/2005, 114 f. 63 Vgl. zu dieser Teilung Köndgen, oben, § 7. 64 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Gruber, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und europäisches Wirtschaftsprivatrecht (1998), Teil IV, S. 10; Klenke, WM 1995, 1089, 1092. 65 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Dallo, Das Verhältnis der öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Bestimmungen im Schweizer Anlagefondsrecht (1989), S. 49.
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§ 20 Kapitalmarktrecht
lichen Schuldverhältnisses (Geschäftsbesorgungsvertrag als zentrales Verbindungsglied) anzusehen sind.66 Der öffentlich-rechtliche Charakter der Wohlverhaltensregelungen wird durch einen CESR-Standard über die Berichtspflicht von schwerwiegenden Verstößen gegen Verhaltensregeln von Wertpapierdienstleistungsunternehmen untermauert.67 Während diese Doppelseitigkeit der Rechtsnatur der Wohlverhaltensregeln nach österreichischem Verständnis ziemlich eindeutig ist, und durch § 15 WAG, der ausdrücklich einen Schadenersatzanspruch bei Verletzung der Wohlverhaltensregeln vorsieht und zusätzlich eine Haftungsausschlußklausel enthält, noch unterstrichen wird, ist die privatrechtliche Seite der Wohlverhaltensregeln in anderen Ländern nicht von dieser Klarheit.68 Zum Teil wird geradezu umgekehrt der alleinige aufsichtsrechtlich-öffentliche Charakter der Wohlverhaltensregeln hervorgekehrt, wie etwa das englische Recht gem. Section 150 FSMA zeigt. Das englische Recht schließt die privatrechtliche Seite der Regelung aus und statuiert explizit, daß sich ein Anleger auf die Verletzung dieser Regelung nicht berufen könne, sondern diese bloß das Verhältnis zwischen dem Marktteilnehmer und der Aufsichtsbehörde regle.69 Zwar wird auch nach deutschem Recht zum Teil vertreten, daß den Wohlverhaltensregelungen ausschließlich öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlicher Charakter zukomme und die Durchsetzung ausschließlich Angelegenheit der Aufsichtsbehörde (BAFin) sei.70 Die überwiegende Lehre anerkennt aber zumindest eine Ausstrahlungswirkung auf das privatrechtliche Verhältnis,71auch wenn die Wohlverhaltensregelungen selbst eindeutig nur als gesetzliche Regelungen mit ausschließlich oder vorwiegend Aufsichtscharakter gesehen werden.72 Der Ausstrahlungswirkung der Wohlverhaltensregelungen 73 wird dadurch Rechnung getragen, daß die §§ 31 f. WpHG als Konkretisierungen des Rechtsgedankens von Geschäftsbesorgungsverträgen gem. § 675 BGB und § 383 HGB angesehen werden. Nur die Konkretisierung des Rechtsgedankens wird aner-
66 Knobl, in: Frölichsthal/Hausmaninger/Knobl/Oppitz/Zeipelt, Kommentar zum Wertpapieraufsichtsgesetz (1998) § 11 Rn. 1 ff.; Knobl, ÖBA 1997, 3 ff.; Winternitz, Wertpapieraufsichtsgesetz (1998), § 11 Rn. 1; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194. 67 Vgl. CESR-Standard: European regime of investor protection the harmonisation of contact of business rules, 9. April 2002 REF CESR/01-014d, www.europefesco.org; siehe dazu Birnbaum/Kittelberger, Diskussionsbeitrag zu einer möglichen Berichtspflicht nach dem WpHG – Praktische Notwendigkeit und rechtliche Grenzen, WM 2002, 1911 f. 68 Siehe dazu ausführlich Tison, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch, Capital Markets in the Age of the Euro, Crossboarder Transactions, Listed Companys and Regulation (2002), S. 77 f. 69 Tison, in: Ferrarini/Hopt/Wymeersch, Capital Markets in the age of the Euro (2002), S. 78. 70 Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel (1998), S. 140 ff. 71 Schäfer, in: Schäfer (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, Börsengesetz, Verkaufsprospektgesetz, Vor § 31 WpHG, Rn. 8, S. 350; Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), Vor § 31 Rn. 17, S. 920; Grundmann, in: Ebenroth/Boujong/Joost (Hrsg.), HGB (2001), Bankrecht VI, Rn. 184. 72 Lang, Informationspflichten bei Wertpapierdienstleistungen (2003), S. 215 ff.; Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel, S. 140 ff.; Koller, in: Assmann/ Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), Vor § 31 Rn. 17. 73 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), Vor § 31 Rn. 19; Balzer, ZBB 1997, 260, 267. Susanne Kalss
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kannt, hingegen wird nicht angenommen, daß die Wohlverhaltenspflichten eine Konkretisierung der ohnehin bestehenden vertraglichen bzw. vorvertraglichen Aufklärungs- und Beratungspflichten darstellen.74 Dogmatisch wird der Weg beschritten, daß die §§ 31 f. WpHG als Schutzgesetze iSv § 823 Abs. 2 BGB qualifiziert werden.75 Nach österreichischem Verständnis bilden die Wohlverhaltensregeln nicht bloß aufsichtsrechtliche Bestimmungen mit Schutzgesetzcharakter, sondern sind Bauelemente des jeweiligen vertraglichen oder vorvertraglichen Rechtsverhältnisses.76 Umgekehrt anerkennt aber ein Teil der deutschen Lehre auch bereits für die Wohlverhaltensregelungen nach der WertpapierdienstleistungsRL einen starken vertragsrechtlichen Charakter, der durch die Wohlverhaltensregelungen der Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten (MiFiD)77 noch verstärkt wird.78
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Ein weiteres Beispiel für die Zwitter- bzw. Doppelstellung von kapitalmarktrechtlichen Regelungen bilden die Bestimmungen über die Informationserteilung und die entsprechenden Dokumentationspflichten für Versicherungsvermittler, die in Umsetzung der VersicherungsvermittlerRL in Kraft gesetzt wurden. Gem. §§ 137 ff. GewO haben Versicherungsvermittler Informations- und spezielle Dokumentationspflichten einzuhalten, die auch verwaltungsstrafrechtlich sanktioniert werden. Zugleich sind sie aber auch Ausfluß der vertragsrechtlichen Beziehung und der damit einhergehenden Sorgfalts- und Schutzpflichten des Versicherungsvermittlers.79 Die Etablierung dieser eigenständigen Informationspflichten der Verwalter führt etwa dazu, daß nicht nur das Versicherungsunternehmen, sondern auch der bloße Verhandlungsgehilfe in Pflicht genommen wird und auch zur Haftung herangezogen werden kann.80 Jedenfalls kann aber auch auf sie die Aufsichtsbehörde unmittelbar zugreifen.81 Weiters lassen sich
74 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), Vor § 31 Rn. 19; Balzer, ZBB 1997, 260, 267. 75 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), Vor § 31 Rn. 17; Hopt, ZHR 1995, 135, 160; Schäfer, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz, Börsegesetz, Verkaufsprospektgesetz, Vor § 31 WpHG Rn. 8, S. 350. 76 So ausdrücklich der Gesetzgeber zum WAG; Knobl, Die Wohlverhaltensregeln der §§ 11–18 des österreichischen Wertpapieraufsichtsgesetzes, ÖBA 1997, 783, 784. 77 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 über Märkte für Finanzmärkte, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 78 Mülbert, The eclipse of contract law in the investment firm client relationship, paper presented at the Milan-Conference on investor protection and capital markets integration in Europe, 11.–12. November 2004, zitiert nach Ferrarini, Contract standards and the markets in financial instruments directive (MiFiD): An assessment of the Lamfalussy regulatory architecture; Institute for Law and Finance (ILF working paper series Nr. 39) (2005) 3 f.; ERCL 2005, 19, 22 ff.; Ferrarini selbst sieht dies eher gegenteilig. 79 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 1 Rn. 105, § 7 Rn. 12, 38, 42 f., siehe allg. ausdrücklich EB 616 BlgNR 22.GP 12, 13 (Gewerbenovelle 2004). 80 Schauer, in: Fenyves/Koban/Schauer (Hrsg.), Die Versicherungsvermittlungs-Richtlinie (2003), S. 77 f.; Fenyves, FS Kolhosser I (2004), S. 111; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 7 Rn. 37 ff. 81 Zur Doppelnatur der Aufklärungspflichten Kalss in FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität,
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die in Art. 9 der PensionsfondsRL sowie § 19 PKG statuierten expliziten Informationspflichten des Arbeitgebers nennen, die durch einen Mindeststandard der Finanzmarktaufsicht 82 konkretisiert werden und unter diesem Aspekt klar als öffentlichrechtlich aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu deuten sind. Bereits vorInkraftsetzung dieser Regelungen und der Konkretisierungen durch die Aufsichtsbehörde wurde aber schon aus dem Vertrags- bzw. Schuldverhältnis der hohe Standard an Informationsund Aufklärungspflichten abgeleitet.83 Wiederum zeigt sich, daß hier allgemeine vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten in Gestalt besonderer Informations- und Aufklärungspflichten bestehen, die vertragsrechtlich zu sanktionieren sind, d.h. jedenfalls zu Haftungsansprüchen führen können, umgekehrt zugleich eine aufsichtsrechtliche Komponente den Pflichten innewohnt und deren Verletzung zu aufsichtsrechtlichen und auch verwaltungsstrafrechtlichen Maßnahmen berechtigt. 3.
Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur
Die verschiedene Qualifikation der Wohlverhaltensregelungen hat unterschiedliche Auswirkungen auf das Verständnis der Wohlverhaltensregelungen, ihre unmittelbare Inanspruchnahmemöglichkeit durch den einzelnen Anleger und letztlich auch auf die Auslegung dieser Normen. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, daß das Aufsichtsrecht und das Privatrecht nicht auseinander laufen sollen; 84 für die Sanktionierung sind die Wege aber verschieden. Inwieweit wirkt sich nun diese zweifache Rechtsnatur auf die Gestaltung der zivilrechtlichen Position einerseits bzw. auf die Auslegung der jeweiligen Bestimmungen der Wohlverhaltensregeln aus? 4.
Vertragliche Regelungen
Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen tatsächlich als Ausdruck der vertraglichen und vorvertraglichen Pflichten, denen auch ein öffentlich-rechtlicher bzw. aufsichtsrechtlicher Charakter zukommt, sind sie jedenfalls als vertragsrechtliche Regelungen anzusehen und sind für den Zweck der Auslegung des Vertrags nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen auszulegen. Nach österreichischem Recht ist für die vertraglichen Regelungen vor allem § 914 ABGB anzuwenden, der seine Parallele in § 133 BGB hat, wonach der Wille der Vertragsparteien wesentliches Element der Auslegung darstellt.85 Wenn eine Regelung im Wortlaut der Vereinbarung keine Deckung mehr findet, ist auf die ergänzende Vertragsauslegung zurückzugreifen, d.h. es ist zu
82 83 84 85
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S. 194; Schwintowski, Anleger- und objektgerechte Beratung in der Lebensversicherung, FS Männer (1997), S. 384 f. FMA-Mindeststandard für die Information von Pensionskassen an Anwartschaft- und Leistungsberechtigte vom 1. Jänner 2005, abrufbar unter www.fma.gv.at. OGH 25.6.2003, ecolex 2003/349, 856 (ORF) sowie OGH 24.6.2004, 8 ObA 52/03k (BA-CA). Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), vor § 31 Rn. 19, S. 922 f; Knobl, ÖBA 1995, 741, 742. Siehe nur Rummel, in: Rummel, ABGB (3. Aufl. 2000), § 914 ABGB Rn. 4.
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überlegen, was vernünftige Parteien – wären sie in Kenntnis der Situation – vereinbart hätten.
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Betrachtet man die vertraglichen oder vorvertraglichen Pflichten hingegen unter dem Brennglas des öffentlichen Rechts, ist auf sie der Kanon der Gesetzesinterpretation öffentlicher und insbesondere strafrechtlicher Normen anzuwenden. Maßgeblich ist nicht der Wille der Parteien, sondern allein der normative Gehalt der gesetzlichen Norm. Für dessen Ermittlung stehen die traditionellen öffentlich-rechtlichen Instrumente der Wortlautinterpretation, der historischen und systematischen Interpretation und mit gebotener Vorsicht auch der teleologischen Interpretation zur Verfügung. Allein aus der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Interpretationstechniken können verschiedene Ergebnisse der Rechte- und Pflichtenkonkretisierung erzielt werden. 5.
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Schutzgesetzcharakter von Normen
Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen gem. §§ 31 WpHG als Schutzgesetze, ändert sich der Auslegungsmodus: Nicht mehr vertragliche, sondern gesetzliche Normen gilt es zu interpretieren, sodaß nicht das Repertoire der Vertragsauslegung, sondern jenes der Gesetzesauslegung heranzuziehen ist, woraus divergierende Ergebnisse bei der Ausfüllung der konkreten Pflicht möglich sind. Bedeutender ist aber die Doppelqualifikation Schutzgesetz – öffentlich rechtliche Verhaltensnorm. Diese Parallele gilt auch bei anderen Schutzgesetzen im Rahmen kapitalmarktrechtlicher Regelungen. Beispiele für Schutzgesetze bilden etwa die Offenlegungspflichten für Emittenten nach dem BörseG, die in Umsetzung einzelner Richtlinien ergangen sind. Als Schutzgesetz genannt sei nach österreichischem Verständnis die Ad-hoc-Publizitätspflicht 86 gem. § 48d BörseG (idF BörseG-Novelle 2004, früher § 82 Abs. 6 BörseG), der Art. 6 der MarktmißbrauchsRL umsetzt, und der die Offenlegung von Insiderinformationen, die einen Emittenten unmittelbar betreffen, anordnet. Nach deutschem Verständnis wird die Schutzgesetzqualifikation von § 15 WpHG abgelehnt.87 Ein weiteres Beispiel für ein Schutzgesetz stellt etwa das Verbot der Marktmanipulation gem. § 48a BörseG (entspricht § 20a WpHG) dar 88 sowie die Offenlegungspflicht der Stimmrechtsanteile durch einen Anleger gem. §§ 91 ff. BörseG (Beteiligungspublizität – §§ 21 ff. WpHG).89 Die Schutzgesetze sind im Regelfall kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten, insbesondere Informations- und sonstige Pflichten von Emittenten oder deren Organe oder sonstigen Marktteilnehmern (Wertpapierdienstleistungsunternehmen), deren Verletzung in Österreich mit von der Finanzmarktaufsicht (FMA) zu verhängenden verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen zu ahnden ist.
86 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 12; Kalss/Oppitz, in Hopt/Voigt, Prospekthaftung und Kapitalmarktinformationshaftung (2004), S. 857. 87 Vgl. nur Kümpel/Assmann, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (4. Aufl. 2006), § 15 Rn. 268. 88 Oppitz, ÖBA 2005, 169; Kalss/Puck, in: Aicher/Kalss/Oppitz, Grundfragen des neuen Börserechts (1998), S. 358; Altendorfer, in: Aicher/Kalss/Oppitz, Grundfragen des neuen Börserechts (1998), S. 234. 89 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 40, 42; Kalss, ÖBA 1993, 918.
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In Deutschland hat das BAF den Verstoß gegen die öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten mit der Verhängung von Bußgeldern zu sanktionieren. Die kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten stellen somit verwaltungsrechtliche Pflichten dar, die mit einer verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion bzw. einem Bußgeld bewehrt sind. 6.
Gespaltene Interpretation
Der Zwitterstellung der kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten (Schutzgesetz – öffentlich-rechtliche Pflicht) ist bei der Auslegung dadurch Rechnung zu tragen, daß sie weder zur Gänze den allgemeinen zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätzen unterliegen, noch allein der regelmäßig engeren Auslegung nach dem öffentlichen Recht. Insbesondere ist das im Verwaltungsstrafrecht geltende Analogieverbot nicht auf die zivilrechtliche Auslegung zu übernehmen,90 vielmehr ist – ähnlich wie etwa im Kartellrecht – von einer gespaltenen Gesetzesauslegung auszugehen.91 Dies bedeutet, daß die Auslegung der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten dem allgemeinen Bürgerlichen Recht folgt, soweit es um die Auslotung des Schutzgesetzes als Grundlage der Beurteilung von Haftungsfolgen geht. Unter dem Gesichtspunkt der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung gelten die für das Verwaltungsstrafrecht geltenden methodologischen Restriktionen. Insbesondere bedeutet dies, daß die Methodenbeschränkung des Verbots der Analogie und einer extensiven Interpretation innerhalb der äußersten Wortlautgrenze zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist.92 Während für die Interpretation der verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten somit im Lichte des öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlichen Regimes das Analogieverbot ebenso wie die Grenze des äußert möglichen Wortsinns zu beachten sind, gelten diese Auslegungsgrundsätze nicht für die zivilrechtliche Pflicht einschließlich ihrer Absicherung durch Haftungsansprüche. Die Auslegung der zivilrechtlich abgesicherten Verhaltenspflichten folgt den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen, insbesondere können auffüllungsbedürftige Gesetzeslücken durch Analogie beseitigt werden. Pflichten, die die Wohlverhaltensregeln widerspiegeln, können daher vor allem nach österreichischem Verständnis durch analoge Anwendung ausgedehnt werden. Die Zulässigkeit der analogen Anwendung beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbaren kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten, sondern schließt auch deren zivilrechtliche Absicherung durch Haftung ein.93 Die durch ausdehnende Interpretation oder durch Analogie gewonnene Verhaltenspflicht kann daher ebenso wie die ausdrücklich normierte Norm als Schutzgesetz iSv § 1311 ABGB (§ 823 BGB) qualifiziert werden, sodaß insbesondere auch die Verletzung der über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Pflichten eine Haftung auslösen kann.94 Für die deliktische Schutzgesetzhaftung können daher auch Straftatbestände, insbesondere auch Verwaltungs-
90 Vgl. nur Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht (8. Aufl. 2003), Rn. 731. 91 Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f. 92 Siehe nur Leukauf/Steininger, Kommentar zum StGB (2. Aufl. 1979), § 1 Rn. 16, 20; Kienapfel, ÖJZ 1986, 338 ff.; OGH EvBl 1975/268, OGH EvBl 1976/278. 93 Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f. 94 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218 f. Susanne Kalss
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straftatbestände, durch Analogie erweitert werden.95 Das Analogieverbot beschränkt sich unmittelbar auf die Verhängung der Strafsanktion. Für den deliktischen, d.h. zivilrechtlichen Bereich, besteht aber kein Anlaß, die auch sonst zulässige Analogie zu verbieten, weil durch die sekundäre deliktische Anknüpfung der strafrechtliche Anwendungsbereich nicht berührt wird.96 Das für das Analogieverbot maßgebliche Moment der Tatbestandsvorausbestimmtheit trägt nicht in der gleichen Intensität für die deliktische Haftung bei. Vom Straftatbestand wird nur die Verhaltenspflicht übernommen, der strafrechtliche Eingriff wird aber in das Zivilrecht nicht transferiert. Wegen Fehlens dieses Eingriffscharakters bedarf es im Zivilrecht nicht dieser engen wortlautabhängigen Auslegung.
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Beispiele für die Notwendigkeit derart gespaltener Gesetzesanlegungen bilden etwa die Herstellung einer parallelen Frist für die Mitteilung an die Aufsichtsbehörde und die Offenlegung gegenüber dem Publikum von directors’ dealings-Geschäften (Geschäfte von Führungskräften mit Aktien der eigenen Gesellschaft).97 Ein weiteres Beispiel bildet die Ausdehnung der Pflicht zur Beteiligungspublizität auf EU-Gesellschaften, die ihren Sitz nicht in Österreich haben, aber deren Aktien an der Wiener Börse notieren. Schließlich ist die Regelung von § 92 Z 9 BörseG zu nennen. § 92 BörseG stellt bestimmte Konstellationen dem unmittelbaren Erwerb bzw. der Veräußerung von Aktien gleich, die der Beteiligungspublizität gem. § 91 BörseG unterworfen werden. Nach § 92 Ziff. 9 sollen auch gemeinsam vorgehende Erwerber, wie sie § 23 ÜbG regelt, dem unmittelbaren Erwerber gleichgestellt werden. Da das BörseG auf das ÜbG verweist, das vom Bieter bzw. den erwerbenden Aktionären ausgeht, erfaßt der Wortlaut des Verweises auch nur Erwerber, sodaß unmittelbar nur gemeinsam vorgehende Erwerber der Offenlegungspflicht unterworfen werden, nicht aber gemeinsam vorgehende Veräußerer. Aus teleologischen Überlegungen muß die Pflicht aber auch auf den Veräußerer angewendet werden; 98 allein eine Bestrafung der gemeinsam vorgehenden, aber nicht offen legenden Veräußerer wird an den Grenzen des Wortlauts scheitern. Sollte aber einem Anleger bzw. der Gesellschaft daraus ein Schaden entstehen, könnte ein Schadenersatz auf die Verletzung der Offenlegungspflicht gestützt werden.
95 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218; Dellinger, ÖBA 1989, 1124; Dellinger, Vorstandshaftung und Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall insbesondere gegenüber sogenannten Neugläubigern (1989), S. 105 f.; Schmiedel, Deliktsobligationen (1974), S. 239 f. 96 Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht; erster Teil: Zivilrechtsdogmatische Grundlegung: Untersuchungen zu § 823 Abs. 2 BGB (1974), S. 240; Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 219. 97 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 18 Rn. 48; Kalss/Zollner, GeS 2005, S. 113 f. 98 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 17 Rn. 58.
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IV.
Resümee
Das europäische Kapitalmarktrecht stellt den Rechtsanwender mit seiner neuen mehrschichtigen Regelungstechnik bei Anwendung und Auslegung europäischer wie nationaler Normen vor neue Aufgaben. Wegen der Fülle des Materials, der neu gewichteten Bedeutung einzelner Auslegungshilfen und des Auslegungsprozederes müssen sich Markt- und Rechtsanwender neuen Fragen der Interpretation stellen. Die Umsetzung und erste Erfahrungen mit den einzelnen Richtlinien werden zeigen, wie gut das Instrumentarium für die neuen Aufgaben geeignet ist.
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Der querschnitthafte Charakter zahlreicher kapitalmarktrechtlicher Regelungen soll nicht durch eine krampfhaft verfolgte Einheitlichmachung der verschiedenen Regelungsaspekte hergestellt werden, sondern vielmehr muß der traditionellen Zuordnung durch Anerkennung verschiedener Auslegungsmethoden und gleichzeitige Anwendung dieser unterschiedlichen Methoden Rechnung getragen werden.
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§ 21 Europäisches Kartellrecht Thomas Ackermann Übersicht I. Die Quellen des Gemeinschaftskartellrechts . . . . . . 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kartellverordnung . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppenfreistellungsverordnungen . . . . . . . . c) Die Fusionskontrollverordnung . . . . . . . . . 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission?
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II. Die Interpretation EG-kartellrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Autonome Begrifflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung . 3. Das Verhältnis der gemeinschaftlichen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rolle der gemeinschaftlichen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ausstrahlung des Gemeinschaftskartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorrang des Gemeinschaftskartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts . . . a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeblicher GWB-Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorlagemöglichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
Rn. 3–4 4–5 6 7 8 9 10 12 15 18 23 27
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Literatur: Josef Drexl, Europäisierung und Ökonomisierung des deutschen Kartellrechts, in: Klaus J. Hopt/Dimitris Tzuganatos (Hrsg.): Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts, Tübingen 2006, S. 223–264; David Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe – Protecting Prometheus, Oxford 1998; Valentine Korah, An Introductory Guide to EC Competition Law and Practice, 8. Aufl. Oxford, Portland 2004; Ernst-Joachim Mestmäcker/Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, München 2004.
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Das europäische Kartellrecht genießt den Status einer weitgehend verselbständigten Materie, deren Behandlung vorwiegend auf den Kreis einschlägig ausgewiesener Wissenschaftler, Anwälte und Beamten der Kommission sowie nationaler Kartellbehörden beschränkt bleibt. Zeitschriften,1 Vereinigungen und periodische Diskussions1 Einen Schwerpunkt im europäischen Kartellrecht haben insbesondere die folgenden Zeit-
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§ 21 Europäisches Kartellrecht
foren,2 reichlich vorhandene Handbücher und Kommentare,3 die sich exklusiv den in diesem Bereich auftretenden Rechtsfragen widmen, sind äußere Zeichen für das Vorliegen einer juristischen Subdisziplin, die, wiewohl unter dem Dach des Europarechts zu Hause und in letzter Instanz auf die Rechtsprechung nicht spezialisierter Richter des EuGH angewiesen, seit langem ein Eigenleben führt. Dazu hat zweifellos beigetragen, daß die Durchdringung des Dickichts primär- und v.a. sekundärrechtlicher Wettbewerbsregeln und der sie überwuchernden Praxis schon wegen des dafür erforderlichen zeitlichen Aufwands ein Expertentum fordert. Aber darum geht es nicht allein: Die Auseinandersetzung mit Fragen des EG-Kartellrechts zeichnet sich auch durch eine besondere Herangehensweise aus, die ihrerseits auf Besonderheiten des Gegenstands zurückgeht. Hierzu gehört zunächst die – allen Kartellrechten gemeinsame – Ausrichtung auf einen ökonomischen Zweck, nämlich die Ermöglichung und Aufrechterhaltung des Wettbewerbs auf Märkten, sodann die – nur dem europäischen Kartellrecht eigene – Zugehörigkeit der Wettbewerbsregeln zu den konstitutionellen Merkmalen einer supranationalen Institution. Was folgt aus diesem Befund für die Interpretation EG-kartellrechtlicher Normen? Wie strahlt die daraus entwickelte Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auf die Kartellrechte der Mitgliedstaaten aus? Nach einer Bestandsaufnahme der Quellen des EG-Kartellrechts, welche die besonderen Schwierigkeiten der Rechts„findung“ und -anwendung in diesem Bereich offen legt, sei diesen Fragen nachgegangen. Ihre Beantwortung hat das Ziel, den Leser, dessen juristische Arbeitstechnik an Gegenständen des deutschen Rechts geschult ist, für die Eigenheiten des Umgangs mit den europäischen Wettbewerbsregeln zu sensibilisieren.
schriften: European Competition Law Review (ECLR), Journal of Competition Law & Economics (JCLE), European Competition Journal (ECJ), Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (ZWeR), Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) und World Competition (World Comp.). 2 In Deutschland zeichnen sich das Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. (FIW) sowie die Studienvereinigung Kartellrecht e.V. durch regelmäßige Veranstaltungen und Publikationen aus; auf internationaler Ebene seien das European Competition Law Forum am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und das Fordham Corporate Law Institute hervorgehoben. 3 Neben in den vorangestellten Literaturhinweisen angeführten Werken von Mestmäcker/ Schweitzer und Korah seien als wichtige Grundlagen für vertieftes inhaltliches Arbeiten genannt: Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht (2006); Bellamy/Child, European Community Law of Competition (5. Aufl. 2001); Faull/Nikpay, The EC Law of Competition (1999); Glassen u.a. (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Band VI: EG-Kartellrecht (Loseblatt); Gleiss/Hirsch, Kommentar zum EWG-Kartellrecht (1993); Goyder, EC Competition Law (4. Aufl. 2003), Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), EG-Wettbewerbsrecht – Kommentar (1997); Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 2: Europäisches Kartellrecht (10. Aufl. 2006); Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht, Band 1: Europäisches Recht (2005); Ritter/Braun, European Competition Law: A Practitioner’s Guide (3. Aufl. 2004); Van Bael/Bellis, Competition Law of the European Community (3. Aufl. 2005); Whish, Competition Law (5. Aufl. 2003). Thomas Ackermann
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3. Teil: Besonderer Teil
I. 3
Die Quellen des Gemeinschaftskartellrechts
Wirtschaftlichen Wettbewerb gilt es nicht nur vor Beschränkungen durch Unternehmen, sondern auch vor Beeinträchtigungen durch staatliches Handeln zu schützen. Die Wettbewerbsordnung der EG trägt beiden Schutzrichtungen Rechnung. Daher gesellen sich den unternehmensadressierten Normen weitere Regeln hinzu, die auf die Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen durch staatliche Marktregulierung, Beihilfen oder Vergabepraktiken gerichtet sind. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich indes auf den unternehmensadressierten Teil der Wettbewerbsregeln und damit auf den klassischen Kernbestand des Kartellrechts, wie er uns auch in nationalen Rechtsordnungen begegnet. 1.
Primärrecht
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Anders als etwa sein einfachgesetzliches Pendant im deutschen Recht (das GWB) hat das europäische Wettbewerbsrecht für Unternehmen Verfassungsrang. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. g EG zählt zu den Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft, die zur Verwirklichung der in Art. 2 EG normierten Ziele beitragen, „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“. Die Wettbewerbsregeln in Kapitel 1 des VI. Titels des EG-Vertrags setzen die primärrechtlichen Eckpfeiler dieses Systems. Von diesen Regeln nehmen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 81 Abs. 1 EG und das Verbot des Mißbrauchs einer beherrschenden Stellung in Art. 82 EG die Unternehmen in die Pflicht. Bereits seit der Frühzeit der Gemeinschaft ist anerkannt, daß diese Verbote unmittelbar anwendbar sind.4 Ebenso anerkannt ist ihr international zwingender Charakter: Ist der Anwendungsbereich der Verbote eröffnet, haben staatliche wie auch Schiedsgerichte ihnen in privaten Rechtsstreitigkeiten unabhängig von dem auf die rechtliche Beziehung zwischen den Parteien im übrigen anwendbaren (mitgliedstaatlichen oder drittstaatlichen) Recht Geltung zu verschaffen.5
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Schon bei oberflächlicher Lektüre der Vorschriften wird deutlich, daß diesem Rechtsanwendungsbefehl nicht leicht nachzukommen ist: Zentrale Tatbestandsvoraussetzungen der Verbote wie das Bezwecken oder Bewirken einer „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ in Art. 81 Abs. 1 EG oder die „mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung“ in Art. 82 EG erweisen sich von vornherein trotz der jeweils beigegebenen Regelbeispiele als ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe. Andere Begriffe wie der des „Unternehmens“ oder der „Vereinbarung“ wirken möglicherweise vertrauter; aber diese Vertrautheit ist trügerisch, da von einem zivilrechtlichen Vorverständnis getragen, das im Kartellrecht leicht in die Irre führt. Hier in Anbetracht schwankender wettbewerbspolitischer „Moden“ den festen Boden einer gesicherten und zugleich dem Anliegen des Wettbewerbs-
4 EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, Slg. 1962, 99, 112. 5 EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-126 97 Eco Swiss China Time, Slg. 1999, I-3055 Rn. 36 mit Bezug auf Schiedsverfahren.
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§ 21 Europäisches Kartellrecht
schutzes gerecht werdenden Auslegung zu gewinnen, ist ein zentrales methodisches Problem, das sich Richtern, Kartellbehörden und Kautelarjuristen gleichermaßen stellt. 2.
Sekundärrecht
Die primärrechtlichen Regeln werden durch Verordnungen zu einem umfassenden System des Wettbewerbsschutzes ausgebaut, und zwar mit Blick auf die verfahrensrechtliche Durchsetzung der Art. 81 und 82 EG, die Handhabung der Freistellungsregelung in Art. 81 Abs. 3 EG und die Ergänzung des Kartell- und des Mißbrauchsverbots um eine präventive Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. Die sekundärrechtliche Ebene des EG-Kartellrechts trägt indes in ihrer gegenwärtigen Gestalt nur in Ansätzen zur Lösung des soeben skizzierten Problems der schutzzweckgerechten Konkretisierung der Wettbewerbsregeln bei; teilweise verschärft sie es sogar. a)
Die Kartellverordnung
Die auf Art. 83 EG gestützte Kartellverordnung 17/62 6 des Rates, die bis 2004 das Verfahren zur Durchsetzung des Kartell- und des Mißbrauchsverbots regelte, gestaltete Art. 81 EG zunächst als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt aus. Das Monopol zur Erteilung von Freistellungen nach Art. 81 Abs. 3 EG wurde der Kommission übertragen. Die Bürde, das Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen wie das Erfordernis der „Verbesserung der Warenerzeugung und –verteilung“ oder der „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ im Einzelfall zu beurteilen, hatte demnach allein die Kommission – unter der zurückhaltenden Aufsicht des EuG und des EuGH 7 – zu tragen. Hiermit brach die am 1.5.2004 an die Stelle der VO 17/62 getretene VO 1/2003 8 zugunsten eines Systems der Legalausnahme: Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 erklärt nunmehr auch die Freistellungsvorschrift des Art. 81 Abs. 3 EG für unmittelbar anwendbar. Damit wird einer dezentralisierten Kartellrechtsanwendung durch die Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten der Boden bereitet. Insbesondere von deutscher Seite wurde und wird die Primärrechtskonformität dieser Neuerung nachhaltig bestritten.9 Unbestreitbar ist jedenfalls, daß sie die ohnehin beträchtliche Schwierigkeit einer gemeinschaftsweit einheitlichen und für die Rechtsunterworfenen vorhersehbaren Anwendung des Kartellverbots weiter erhöht: Den Problemen der Konkretisierung des Verbotstatbestandes in Art. 81 Abs. 1 EG gesellt sich nunmehr für jeden Rechtsanwender die weitere Herausforderung hinzu, die Frei-
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6
ABl. 1962 Nr. 13, S. 4. Zur Gewährung eines Beurteilungsspielraums durch EuGH und EuG s.u. Rn. 27 ff. ABl. 2003 Nr. L 1/1. Kritisch etwa Deringer, EuZW 2000, 5 ff.; Mestmäcker, EuZW 1999, 523 ff.; Mestmäcker/ Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13 Rn. 9 ff.; Möschel, JZ 2000, 61 ff.; Rittner, DB 1999, 1485 f. – Für die Position der Kommission (die außerhalb Deutschlands weit weniger heftig bekämpft wurde) z.B. Ehlermann, 37 CMLR 537 ff. (2000).
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3. Teil: Besonderer Teil
stellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG anhand komplexer ökonomischer Wertungen auszufüllen. b)
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Die mit Art. 81 Abs. 3 EG verbundenen „Subsumtionsrisiken“ werden durch die sogenannten Gruppenfreistellungsverordnungen (GVOen) in gewissem Umfang verringert. Die Kommission, der hierfür die Zuständigkeit vom Rat übertragen wurde,10 stellt durch diese Verordnungen bestimmte Kategorien von Vereinbarungen, für die bei typisierender Betrachtung eine einheitliche wettbewerbsrechtliche Würdigung getroffen werden kann, vom Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG frei. Nach der Preisgabe des Freistellungsmonopols haben diese Verordnungen ihre ursprüngliche Hauptaufgabe, die Kommission von einer nicht zu bewältigenden Masse von Einzelfreistellungsverfahren zu entlasten, verloren. Ihre Funktion besteht nunmehr darin, die dezentralisierte Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten zu steuern.11 Die vor diesem Hintergrund geschaffene, neue Generation von Freistellungsverordnungen 12 bedient sich allerdings in dem Bestreben, im Rahmen eines „more economic approach“ wettbewerbsbeschränkende Abreden (Rn. 22) nicht mehr „formalistisch“, sondern wirtschaftlich „realistisch“ zu bewerten, marktbezogener Beurteilungsmaßstäbe. Es versteht sich, daß diese Maßstäbe ihrerseits rechtlich wie tatsächlich nicht einfach zu handhaben sind: Wenn etwa Art. 3 VO 2790/99 eine Marktanteilsschwelle von 30 % vorsieht, jenseits derer die Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen nicht gilt, werden unweigerlich Fragen nach den Kriterien der Marktabgrenzung in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht laut, die sich aus der Verordnung selbst nicht beantworten lassen, und stellt sich das Problem der Ermittlung des für die Marktabgrenzung und -anteilsbestimmung erforderlichen Datenmaterials. c)
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Gruppenfreistellungsverordnungen
Die Fusionskontrollverordnung
Mit der Fusionskontrollverordnung (FKVO) 13 hat der Rat schließlich den unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln in Gestalt des Kartell- und des Mißbrauchsverbots eine „dritte Säule“ hinzugefügt, die Unternehmenszusammenschlüsse von 10 Für den Bereich der horizontalen Kooperation durch die VO 2821/71, ABl. 1972 Nr. L 285/46 zuletzt geändert durch VO 1/2003, ABl. 2003 Nr. L 1/1; für den Bereich der vertikalen Kooperation und des Technologietransfers durch die VO 19/65, ABl. 1965 Nr. 36, S. 533, zuletzt geändert durch VO 1/2003. – Sektorspezifische Regelungen bleiben hier außer Betracht. 11 Die Wirkung der Verordnungen nur noch deklaratorisch und nicht konstitutiv zu nennen, trifft allerdings nicht zu; dazu zutr. Fuchs, ZWeR 2005, 1, 9 ff., und Baron, WuW 2006, 358 ff.; a.A. etwa Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht (2005), Art. 83 Rn. 12. 12 Als nicht sektorspezifische Verordnungen sind zu nennen: VO 2790/99, ABl. 1999 Nr. L 336/21 (Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen); VO 772/2004, ABl. 2004 Nr. L 123/11 (Gruppenfreistellung für Technologietransfervereinbarungen); VO 2658/2000, ABl. 2000 Nr. L 304/3 (Gruppenfreistellung für Spezialisierungsvereinbarungen); VO 2659/2000, ABl. 2000 Nr. L 304/7 (Gruppenfreistellung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen). 13 VO 139/2004, ABl. 2004 Nr. L 24/1 (seit dem 1.5.2004 in Kraft); ursprüngliche Fassung war die VO 4064/89, ABl. 1989 Nr. L 395/1.
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gemeinschaftsweiter Bedeutung einer präventiven Kontrolle durch die Kommission unterwirft, wie sie allein auf der Grundlage der Art. 81 und 82 EG nicht möglich wäre.14 Nachdem der Gemeinschaftsgesetzgeber hierfür zunächst einen Marktbeherrschungstest herangezogen hatte, erhob er in der seit dem 1.5.2004 geltenden Fassung der FKVO das Kriterium der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs (nach der englischen Terminologie „significant impediment of effective competition“ SIEC-Test genannt) zum neuen materiellen Beurteilungsmaßstab. Die Anwendung dieses Maßstabs ist zwar allein der – einer Überprüfung durch das EuG und den EuGH ausgesetzten – Entscheidung der Kommission und nicht den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten anvertraut, seine relative Unbestimmtheit auch im Vergleich zum älteren Marktbeherrschungstest wirft jedoch die Frage auf, inwieweit die recht strenge Überwachung der Fusionskontrollpraxis der Kommission durch die europäische Judikative 15 auch künftig ihre Wirksamkeit behält. 3.
Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission?
Die begriffliche Unschärfe kartellrechtlicher Normen primär- wie sekundärrechtlicher Provenienz läßt den mit ihrer Anwendung betrauten Behörden und Gerichten faktisch einen beträchtlichen Wertungsspielraum, der durch Vorgaben in den Urteilen der europäischen Gerichte nur ansatzweise eingeengt wird. Dies verschafft der Kommission jenseits ihrer Normsetzungsaufgabe im Bereich der Gruppenfreistellungsverordnungen und ihrer kartellverwaltungsrechtlichen Entscheidungspraxis eine zentrale Rolle bei der Beantwortung von Auslegungsfragen: Nicht nur zur Erläuterung der eigenen Praxis, sondern auch zur Orientierung mitgliedstaatlicher Behörden und Gerichte über die Anwendung der gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln behandelt die Kommission zahlreiche der sich insoweit stellenden Fragen in Leitlinien und Bekanntmachungen.16 Diese sollen nach Ansicht der Kommission über eine dadurch herbeigeführte, in ihrer Reichweite noch nicht abschließend geklärte Selbstbindung 17
14 Zur Anwendbarkeit von Art. 81 EG auf Unternehmenszusammenschlüsse EuGH v. 17.11. 1987 – verb. Rs. 142 und 156/84 BAT und Reynolds ./.Kommission, Slg. 1987, 4487 Rn. 37, zur Anwendbarkeit von Art. 82 EG EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage und Continental Can./.Kommission, Slg. 1973, 215, 244 f. 15 Der Reform vorangegangen waren im Jahr 2002 drei Niederlagen der Kommission in Fusionskontrollfällen vor dem EuG; vgl. EuG v. 6.6.2002 – Rs. T-342/99 Airtours./.Kommission, Slg. 2002, II-2585; v. 22.10.2002 – Rs. T-77/02 Schneider Electric./.Kommission, Slg. 2002, II-4201; v. 25.10.2002 – Rs. T-5/02 Tetra Laval./.Kommission, Slg. 2002, II-4381. 16 Beispiele: Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikelbn 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 Nr. C 101/82; Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 Nr. C 372/1; Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Art. 81 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 Nr. C 368/13; Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 Nr. C 101/97. 17 Dazu Pampel, Rechtsnatur und Rechtswirkungen horizontaler und vertikaler Leitlinien im reformierten europäischen Wettbewerbsrecht (2005), S. 55 ff. Thomas Ackermann
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3. Teil: Besonderer Teil
hinaus mittelbar Außenwirkung entfalten. „Selbst wenn Bekanntmachungen und Leitlinien für die innerstaatlichen Instanzen nicht verbindlich sind“, geht die Kommission davon aus, daß sie „einen wertvollen Beitrag zur kohärenten Anwendung des Gemeinschaftsrechts leisten [dürften], da Einzelentscheidungen der Kommission ihren Inhalt bestätigen werden. Soweit diese Entscheidungen auch noch vom Gerichtshof bestätigt werden, bilden die Bekanntmachungen und Leitlinien, auf die sie sich beziehen, einen Teil des Regelwerks, das von den nationalen Behörden angewendet werden muß.“ 18
11
Der darin zum Ausdruck kommenden Vorstellung, die informellen Instrumente der Kommission könnten durch die richterrechtliche Billigung der auf ihrer Basis getroffenen Entscheidungen zur Rechtsquelle aufgewertet werden, ist zu widersprechen: 19 Die Nachprüfung von Entscheidungen der Kommission durch das EuG und den EuGH bezieht sich auf die Normanwendung im Einzelfall und nicht auf die abstrakt-generellen Aussagen der Leitlinien und Bekanntmachungen, deren Übernahme in die eigene Rechsprechung der EuGH bisher geflissentlich vermieden hat. Gleichwohl ist die hohe Meinung der Kommission von der Bedeutung des von ihr geschaffenen soft law nicht unberechtigt: Dessen faktischer Einfluss auf die Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten ist groß, weil nationale Behörden und Gerichte zwar nicht an die darin enthaltenen abstrakt-generellen Formulierungen, aber an die darauf beruhende Entscheidungspraxis der Kommission gebunden sind, die dadurch in die Rolle eines authentischen Interpreten der Wettbewerbsregeln hineingewachsen ist.20
II. 12
Die Interpretation EG-kartellrechtlicher Normen
Die Aufgabe, die prima facie schwer zu fassende Begrifflichkeit der europäischen Wettbewerbsregeln zu subsumtionsfähigen Aussagen zu verdichten, fällt nicht nur der Kommission, dem EuG und dem EuGH, sondern auch den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten zu, welche die Regeln (mit Ausnahme der FKVO) anzuwenden haben. Die praktische Bewältigung dieser Konkretisierungsaufgabe könnte im Ansatz durchaus mit den Mitteln der Auslegungskriterien beschrieben werden, wie sie in deutschen Hörsälen in loser Anknüpfung an Savigny gelehrt werden, und ebenso fiele es nicht schwer, in der gemeinschaftskartellrechtlichen Praxis die Verbindung der Auslegung mit rechtsfortbildenden Elementen nachzuweisen, wie sie nach deutscher Modellvorstellung für die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe charak-
18 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EGVertrag, KOM(1999)101 endg., ABl. 1999 Nr. C 132/1 Rn. 86. 19 Vgl. auch schon Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 3 Rn. 61. 20 Für eine faktische, aber nicht rechtliche Bindung auch Pohlmann, WuW 2005, 1005, 1008 f., in Erwiderung auf einen Beitrag von Schweda, WuW 2004, 1133 ff., der eine rechtliche Bindung postuliert. – Zur Rolle der Verwaltungspraxis der Kommission im Verhältnis zur nationalen Anwendungsebene s.u. Rn. 23 ff.
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teristisch ist.21 Die Validität der Argumente, mit denen die Diskussion um die Konkretisierung gemeinschaftskartellrechtlicher Begriffe geführt wird, hängt allerdings nicht in erster Linie von solchen Klassifikationen ab. Den methodischen Zugang zum gemeinschaftskartellrechtlichen Diskurs findet vielmehr leichter, wer von den beiden eingangs beschriebenen Besonderheiten dieses Rechtsgebiets ausgeht: Zum einen verlangt die Ausrichtung kartellrechtlicher Normen auf den Wettbewerbsschutz vom Rechtsanwender, die in diese Richtung zu steuernden Strukturen und Verhaltensweisen auf Märkten zu verstehen und zu bewerten, um den ausfüllungsbedürftigen Tatbeständen einen dem Normzweck entsprechenden Sinn geben zu können. Hierfür wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen, ist vor diesem Hintergrund im Kartellrecht weitaus selbstverständlicher als in anderen Bereichen, in denen über die Verhaltenssteuerung durch Recht als Einbruchstelle der ökonomischen Analyse in die Normauslegung gestritten wird.22 – Zum anderen hat die Interpretation der EG-Wettbewerbsregeln als Bestandteil der Gemeinschaftsverfassung jenen dynamischen Charakter, der den Umgang der EuGHRechtsprechung mit der Gemeinschaftsrechtsordnung im ganzen kennzeichnet: 23 Schon mit der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der in den Art. 81 Abs. 1 und 82 EG niedergelegten Verbote 24 hat der Gerichtshof den ersten Schritt getan, um die einzelnen Wettbewerbsregeln des Vertrags zu einer funktionierenden Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auszugestalten. Diese Aufgabe besteht fort.
13
Wie sich diese Grundaussagen auf die Interpretation des Gemeinschaftskartellrechts auswirken, sei nachfolgend anhand von vier Fragestellungen demonstriert. Die beiden ersten Fragen zielen auf das „Wie?“ der Interpretation, nämlich auf die Rolle des normativen und des ökonomischen Kontextes für die kartellrechtliche Begriffsbildung, die beiden letzten auf das „Wer?“, nämlich auf die Hierarchie der Norminterpreten in einem zwischen gemeinschaftlicher und nationaler Ebene sowie zwischen judikativen und administrativen Funktionen unterscheidenden supranationalen System.
14
1.
Autonome Begrifflichkeit
Eine erste Folgerung wurde bereits angedeutet: EG-kartellrechtliche Begriffe sind autonom auszulegen. Der Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt als besonderer normativer Kontext, in den sie gestellt sind, läßt es grundsätzlich nicht zu, ihnen Inhalte beizulegen, die aus anderen Verwendungszusammenhängen importiert werden. Gerade beim Umgang mit Begriffen, denen ein spezifisch kartellrechtlicher Gehalt nicht ins Gesicht geschrieben steht, hat der Norminterpret diese Einsicht zu beherzigen.
21 22 23 24
Vgl. hierzu Röthel, oben § 12 Rn. 24. Vgl. hierzu Kirchner, oben § 5, und Franck, oben § 6. Vgl. hierzu Riesenhuber, oben § 11 Rn. 43. EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, Slg. 1962, 99, 112.
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Betrachten wir beispielsweise den Begriff des „Unternehmens“ als Kennzeichnung der Normadressaten in den Art. 81 25 und 82 EG: 26 Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung ist Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln jede „eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit“ 27. Diese Definition ist darauf ausgerichtet, wirtschaftliches Handeln umfassend und unabhängig von der Substanz und der institutionellen Verfaßtheit des jeweiligen Handlungsträgers zu erfassen, damit nicht dem Schutzzweck der Wettbewerbsregeln zuwider ungeschriebene Ausnahmebereiche geschaffen werden, die einer kartellrechtlichen Kontrolle von vornherein entzogen sind. Unternehmen in diesem funktionalen Sinne sind etwa auch Freiberufler 28 und diejenigen, die auf den Gebieten des Sports, der Wissenschaft und der Kultur marktmäßig tätig sind 29. Daß die Ausübung dieser Tätigkeiten besonderen Regeln unterliegt und daß für die Zwecke des nationalen Steuer-, Handels- oder Gesellschaftsrechts möglicherweise andere Maßstäbe gelten, ändert nichts an der Einordnung der sich auf diesen Gebieten marktmäßig als Anbieter oder als Nachfrager (nicht notwendig mit Gewinnerzielungsabsicht) 30 Betätigenden als Unternehmen iSd Art. 81 f. EG. Nicht anders verhält es sich mit der Grenzziehung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht: Ist die ausgeübte Tätigkeit wirtschaftlicher und nicht hoheitlicher Natur, steht eine öffentlich-rechtliche Organisation oder Rechtsform nicht der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Staat und dessen Untergliederungen mit Blick auf diese Tätigkeit entgegen.31 Gewisse Inkonsequenzen bei der Handhabung des Unternehmensbegriffs – etwa bei der überwiegend abgelehnten Unternehmenseigenschaft von Arbeitnehmern beim Angebot von Arbeitsleistungen – 32 mögen zwar belegen, daß 25 Art. 81 EG ist außerdem an „Unternehmensvereinigungen“ gerichtet, deren Adressatenstellung von der Unternehmensqualität ihrer Mitglieder, jedoch nicht der Vereinigung selbst abhängt. 26 Vgl. zum Unternehmensbegriff außer der allgemeinen kartellrechtlichen Lit. insbes. die Monographie von Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht (1999), sowie die Beiträge von Benicke, EWS 1997, 373 ff.; Jennert, WuW 2004, 37 ff.; Louri, LIEI 29 (2002), 143 ff., und Slot, in: FS Everling, Bd. II (1995), S. 1413 ff. 27 EuGH v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90 Höfner, Slg. 1991, I-1979 Rn. 21; v. 11.12.1997 – Rs. C-55/96 Job Centre, Slg. 1997, I-7119 Rn. 21; v. 18.6.1998 – Rs. C-35/96 Kommission ./. Italien, Slg. 1998, I-3851 Rn. 36. 28 Dazu EuGH v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 Wouters, Slg. 2002, I-1577 Rn. 102 (Rechtsanwälte). 29 Vgl. dazu den Überblick bei Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 30 (Stand: 1999). 30 GA Lenz, Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4930 Tz. 255. 31 Im Grundsatz unstr., statt vieler Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 81 – Generelle Prinzipien Rn. 8. Mißverständlich, da scheinbar auf institutionelle Gegebenheiten abstellend, allerdings EuGH v. 19.1.1994 – Rs. C-364/92 SAT Fluggesellschaft ./. Eurocontrol, Slg. 1994, I-43 Rn. 31 (fehlender Unternehmenseigenschaft einer für die Luftüberwachung zuständigen internationalen Organisation). In der Sache kontrovers (kritisch etwa Jaeger, ZWeR 2005, 31, 49 ff.) beurteilt wird die Ablehnung der Unternehmens(vereinigungs)eigenschaft von Zusammenschlüssen von Krankenkassen im Zusammenhang mit Festbetragsregelungen durch EuGH v. 16.3.2004 – Rs. C-264/01 u.a. AOK Bundesverband, Slg. 2004, Slg. 2004, I-2493 Rn. 57. 32 So Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 81 – Generelle Prinzipien Rn. 7; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches
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sich auch die kartellrechtliche Praxis nicht ganz von wettbewerbsfremden Vorprägungen befreien kann, doch jedenfalls im Grundsatz dürfte die im funktionalen Unternehmensbegriff zum Ausdruck kommende Autonomie der kartellrechtlichen Begriffsbildung außer Frage stehen. Dieser Autonomie ist auch in umgekehrter Richtung Rechnung zu tragen: Kartellrechtliche Normaussagen dürfen aufgrund ihrer spezifisch wettbewerbsbezogenen Wertung nicht ohne weiteres in andere Rechtsgebiete exportiert werden. Symptomatisch für die Verkennung dieser Differenz ist der Versuch, die Klauselkataloge der Gruppenfreistellungsverordnungen für die zivilrechtliche AGB-Kontrolle fruchtbar zu machen. So heißt es etwa im deutschen Schrifttum, der Vertikal-GVO 2790/99 komme bei der Prüfung formularmäßiger Festlegungen der Laufzeit von Bierlieferungsverträgen Leitbildfunktion zu; die in Art. 5 VO 2790/99 zugelassene Obergrenze von fünf Jahren dürfe daher in AGB nicht überschritten werden.33 Diese Ansicht vernachlässigt, daß nicht Gesichtspunkte der Vertragsgerechtigkeit und des angemessenen Interessenausgleichs zwischen den Parteien eines Bierlieferungsvertrags, sondern die (pauschalierte) Einschätzung der Wettbewerbsschädlichkeit einer solchen Vereinbarung den Ausschlag für die kartellrechtliche Festlegung gegeben haben. 2.
17
Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung
Daß ökonomische Erkenntnisse für ein Rechtsgebiet relevant sind, das sich Märkten widmet, ist ohne weiteres nachzuvollziehen. Mit dieser Aussage wird das Verhältnis zwischen rechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Kriterien für die Bewertung des Wettbewerbsgeschehens aber noch nicht methodisch präzise erfaßt. Zwei Klarstellungen sind insoweit geboten:
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Einerseits wäre es naiv, sich von der Wirtschaftswissenschaft eine Definition des Wettbewerbs zu erhoffen, die sich für die Kartellrechtsanwendung unmittelbar fruchtbar machen läßt. Voraussetzungen und Ergebnisse des Wettbewerbs dürfen nicht als mechanistisch greifbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung mißverstanden werden, welcher der kartellrechtlichen Würdigung ein sicheres Fundament bieten könnte. Die Freiheit der Marktteilnehmer, über die dezentralen Koordinierungsvorgänge zu entscheiden, die das Marktgeschehen ausmachen, erlaubt solche Festlegungen nicht. Daher würde niemand behaupten, daß das Ziel der Formulierung und Auslegung wettbewerbsschützender Normen die Annäherung realen Marktgeschehens an die preistheoretische Modellvorstellung vollkommener Konkurrenz sein kann, unter deren (gedachten) Bedingungen ein Wohlfahrtsoptimum erzielt wird.
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Andererseits ginge es fehl, die Bedeutung der Ökonomik für das Kartellrecht auf die Bereitstellung des Datenmaterials zu reduzieren, das erforderlich ist, um im Einzelfall das Vorliegen feststehender rechtlicher Kriterien feststellen zu können. Die materiel-
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Wettbewerbsrecht, § 8 Rn. 31; a.A. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 24 (Stand: 1999). 33 Palandt-Heinrichs, § 307 Rn. 91 mwN zum Meinungsstand. Thomas Ackermann
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len Voraussetzungen, die im Zentrum der unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln stehen (nämlich das Bezwecken oder Bewirken einer Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs in Art. 81 Abs. 1 EG, die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung in Art. 82 EG und schließlich auch der SIEC-Test der reformierten FKVO), sind nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern können nur im Rückgriff auf die Ziele konkretisiert werden, welche die Gemeinschaft mit dem Wettbewerbsschutz verfolgt. Dies sind die – durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes zu fördernden – gesamtwirtschaftlichen Ziele, die Art. 2 EG normiert, und der Schutz wirtschaftlicher Freiheit, ohne die eine Öffnung und Offenhaltung nationaler Märkte und eine offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb (Art. 4 Abs. 1 EG) nicht gedacht werden kann. Wie aber können wettbewerbsbeschränkende Koordinierungen, mißbräuchliche Verhaltensweisen und Unternehmensfusionen identifiziert werden, die nicht im Einklang mit diesen Zielsetzungen stehen? An dieser Stelle gewinnen wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage wettbewerbspolitischer Empfehlungen normative Relevanz: Sie verhelfen den Rechtsanwendern dazu, aus den vergleichsweise unbestimmten Begriffen des Gemeinschaftskartellrechts anhand der dem EG-Vertrag zugrunde liegenden Funktionen des Wettbewerbsschutzes operable Kriterien zu gewinnen. Daß dies „nur unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der Rechtsanwendung“ 34 geschehen kann, zwingt allerdings zu selektivem Vorgehen, denn die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten in rechtsförmigen Verfahren vor Gerichten und Kartellbehörden lassen es nun einmal nicht zu, beliebig komplexe Analysen anzustellen.
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Die Verschränkung des Kartellrechts mit wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten über das Wettbewerbsgeschehen führt dazu, daß wechselnde ökonomische Strömungen um die wettbewerbspolitische Orientierung nicht nur der Kartellrechtsgesetzgebung, sondern auch der Kartellrechtsanwendung konkurrieren. Umschwünge auf der Ebene wettbewerbspolitischer Leitbilder können vor diesem Hintergrund zu einschneidenden Änderungen in der kartellrechtlichen Praxis führen. Geradezu klassisches Beispiel hierfür ist die unter dem Einfluß der Chicago School erfolgte Abkehr des US-Supreme Court von der bis Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfochtenen strengen Behandlung vertikaler Vertriebsbeschränkungen nach s. 1 Sherman Act.35 Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG hat solche Wendungen bisher nicht vollzogen und es geschafft, ohne deutliche Festlegung auf ein wettbewerbspolitisches Leitbild den Eindruck einer einigermaßen kontinuierlichen Entwicklung zu vermitteln.36
34 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2 Rn. 76. Diese Einsicht wird auch von wirtschaftswissenschaftlicher Seite Rechnung getragen, etwa von Evans, 28 World Comp. 93 ff. (2005), und Schmidt, WuW 2005, 877. 35 Grundlegend ist das Urteil Continental T.V., Inc. v. GTE Sylvania, Inc., 433 U.S. 36 (1977). Näher zu dieser US-amerikanischen Entwicklung Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason, 1998, S. 11 ff. 36 Gegen den (bereits einige Zeit zurückliegenden) Versuch Väths, Die Wettbewerbskonzeption des Europäischen Gerichtshofs (1987), aus einzelnen Aussagen des Gerichtshofs wettbewerbspolitische Modellvorstellungen abzuleiten, wendet sich zu Recht Everling, WuW 1990, 995,
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Anders sieht es dagegen bei der Kommission aus, die seit Ende der 90er Jahre auf allen Gebieten des europäischen Kartellrechts einen „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ („more economic approach“) vorantreibt. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich das Anliegen, mit den bereits umgesetzten Reformen im Bereich des Kartellverbots und der Fusionskontrolle 37 sowie mit der geplanten Modernisierung der Anwendung des Mißbrauchsverbots 38 die kartellrechtliche Bewertung unternehmerischer Praktiken stärker von ihren Marktwirkungen und weniger von formalen Kriterien abhängig zu machen. Dies ist nicht der Ort, das inhaltliche Für und Wider dieser Neuorientierung zu beurteilen.39 Der Zugang zu der hierüber geführten Diskussion erschließt sich jedoch nur, wenn man auch die methodische Dimension der Beeinflussung der Kartellrechtsgesetzgebung und -anwendung durch divergierende ökonomische Perspektiven in den Blick nimmt: Wenn von einem „more economic approach“ die Rede ist, geht es im Grunde nicht um eine mehr, sondern um eine andere ökonomische Fundierung der Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft 40, nämlich um die Ablösung des im Kern auf die ordoliberale Freiburger Schule zurückgehenden Wettbewerbsverständnisses, das auf die Erhaltung der Wettbewerbsfreiheit der Marktteilnehmer durch klar zugeschnittene Verbote freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen zielt, durch einen wohlfahrtsökonomischen Ansatz, der eine ergebnisbezogene Bewertung unternehmerischen Marktverhaltens nach Effizienzkriterien anstrebt.41 „More economic“ ist dieser Ansatz allerdings in seinen Auswirkungen auf die kartellrechtliche Praxis: Um den Einfluß einer bestimmten unternehmerischen Maßnahme auf das Marktergebnis im Einzelfall ex post feststellen oder zukunftsgerichtet prognostizieren zu können, müssen Rechtsanwender wie auch Rechtsunterworfene, die das Risiko eines Kartellrechtsverstoßes einschätzen wollen, den wirtschaftlichen Kontext der Maßnahme naturgemäß intensiver untersuchen, als dies bei Zugrundelegung eines eher „formalistischen“ Konzepts der Fall wäre.
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39 40
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1008. Den Versuch, die europäische Praxis zu einer neben die Harvard oder die Chicago School tretenden European School zu stilisieren, macht Hildebrand, The Role of Economic Analysis in the EC Competition Rules (2. Aufl. 2002). Zur „Ökonomisierung“ der Fusionskontrolle Christiansen, WuW 2005, 285 ff.; Díaz, 27 World Comp. 177 ff. (2004). Insoweit hat die Kommission im Dezember 2005 ein Diskussionspapier veröffentlicht (DG Competition discussion paper on the application of Article 82 of the Treaty to exclusionary abuses, erhältlich unter http://europa.eu.int/comm/competition/antitrust); dazu Albers, WuW 2006, 3; Wirtz/Möller, WuW 2006, 226 ff. Dieses Papier schließt an eine breite Diskussion über Art. 82 EG an, vgl. etwa Eilmansberger, 42 CMLR 129 ff. (2005); Sher, (2004) ECLR 243 ff. Näher zu inhaltlichen Aspekten Hildebrand, WuW 2005, 513 ff.; Schmidtchen, WuW 2006, 6 ff. Auch Kritiker des „more economic approach“ bestreiten daher nicht, daß eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Kartellrecht unerläßlich ist; so ausdrücklich Immenga, WuW 2006, 463. Eine gründliche Analyse der hier nur angedeuteten Entwicklung bietet Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe.
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3. Teil: Besonderer Teil
3.
Das Verhältnis der gemeinschaftlichen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot
23
Die Konkretisierung der unmittelbar anwendbaren Regeln des Gemeinschaftskartellrechts im Bereich des Kartell- und des Mißbrauchsverbots ist nicht nur das Alltagsgeschäft der Kommission, deren Generaldirektion Wettbewerb mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe betraut ist, sondern obliegt auch den nationalen Kartellbehörden (in Deutschland nach § 50 GWB dem Bundeskartellamt und den nach Landesrecht zuständigen obersten Landesbehörden) sowie jedem nationalen Richter, der im Rahmen eines Rechtsstreits über die Anwendung einer gemeinschaftskartellrechtlichen Norm zu entscheiden hat. Damit stellt sich eine für Rechtssysteme mit mehr als einer Anwendungsebene typische Frage: Wie wird die einheitliche Anwendung des Rechts bei parallelen Zuständigkeiten auf der „höheren“ (hier der gemeinschaftlichen) und auf der „niedrigeren“ (hier der nationalen) Ebene sichergestellt? Auch wenn wir Auslegung und Anwendung von Normen zu unterscheiden pflegen, hat die Beantwortung dieser Frage offenkundig Bedeutung für die Interpretationshoheit über die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln, denn die in der Normanwendung übergeordnete Instanz erlangt auch die interpretatorische Hegemonie über das anzuwendende Recht.
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Der schlichte Verweis auf den EuGH, der hier wie auch sonst im Gemeinschaftsrecht an der Spitze der Pyramide richterlicher Norminterpreten steht, wird dem Problem nicht gerecht. Zwar führen Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission über das EuG zum EuGH und eröffnet Art. 234 EG in jedem nationalen Anwendungsfall, soweit er nur (spätestens in der Rechtsmittelinstanz) vor ein nationales Gericht gelangt, den Zugang zum Gerichtshof, aber damit wird die Gefahr einander im Einzelfall widersprechender Entscheidungen über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf nationaler und auf europäischer Ebene nicht wirksam gebannt. Es bedarf vielmehr eines Regimes, das bereits die Entstehung von Anwendungskonflikten verhindert, um die Kohärenz der gemeinschaftlichen Wettbewerbsordnung zu wahren.
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Der EuGH mißt dieser Aufgabe primärrechtlichen Rang zu: Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten aus Geist und System des Vertrags, aber auch mit Blick auf einzelne Vorschriften wie Art. 10 EG dazu verpflichtet, die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu sichern.42 In den Entscheidungen Delimitis 43 und Masterfoods 44 hat der EuGH daraus aufsehenerregende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten bei der Kartellrechtsanwendung gezogen: Hat der nationale Richter über einen Sachverhalt zu entscheiden, der noch Gegenstand einer Kommissionsentscheidung werden
42 So die Zusammenfassung bei Streinz-Streinz, Art. 10 Rn. 16. Mit Blick auf die Wettbewerbsregeln wird die „uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die (unbeeinträchtigte) Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen oder zu treffenden Maßnahmen“ postuliert in EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 Rn. 9. 43 EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-234/89 Delimitis ./. Henninger Bräu, Slg. 1991, I-935 Rn. 47. 44 EuGH v. 14.12.2000 – Rs. C-344/98 Masterfoods ./. HB Ice Cream, Slg. 2000, I-11369 Rn. 48 ff.
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kann, ist er gehalten, eigene Entscheidungen zu vermeiden, die mit der beabsichtigten Kommissionsentscheidung kollidieren könnten. Liegt bereits eine Kommissionsentscheidung vor, die denselben Sachverhalt betrifft, darf er keine Entscheidung treffen, die dieser zuwiderläuft. Umgekehrt ist die Kommission an eine vorangehende Entscheidung des nationalen Richters nicht gebunden. Daraus ergibt sich ein absoluter Vorrang von Kommissionsentscheidungen gegenüber den Entscheidungen nationaler Gerichte. Das Resultat mag zu denken geben, weil es einer Vorstellung von gemeinschaftsrechtlicher Gewaltenteilung zuwiderläuft, in der die Gerichte der Mitgliedstaaten als Teil der das Gemeinschaftsrecht anwendenden Judikative der Kommission als Exekutive gleichrangig gegenüberstehen.45 Doch ist diese Sicht nicht zwingend: 46 Der Gewaltenteilungsgrundsatz wird in der Anwendungsstruktur, die der EuGH den Wettbewerbsregeln gegeben hat, im Verhältnis der Gemeinschaftsorgane EuGH und Kommission verwirklicht. Der nationale Richter hat an der judikativen Überwachungsfunktion gegenüber der Exekutive auf der Gemeinschaftsebene immerhin insoweit teil, als er den Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG anrufen kann. Der Rat hat diese Rechtsprechung zum Verhältnis der Kommission zu den nationalen Gerichten mittlerweile in Art. 16 VO 1/2003 kodifiziert und ihre Grundsätze zudem auf das Verhältnis der Kommission zu nationalen Behörden erstreckt. Der aus dem Kohärenzgebot abgeleitete Primat der europäischen vor der nationalen Anwendungsebene des Gemeinschaftskartellrechts ist damit vollständig abgesichert. Für die Interpretation der unmittelbar anwendbaren Wettbewerbsregeln folgt daraus eine eigentümliche Hierarchie: Die einzelfallbezogene Auslegung dieser Regeln in der Verwaltungspraxis der Kommission setzt sich gegenüber einer abweichenden Normkonkretisierung durch nationale Institutionen, und seien es auch Gerichte, durch und ist ihrerseits nur den Maßgaben der europäischen Gerichtsbarkeit unterworfen. 4.
26
Die Rolle der gemeinschaftlichen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume?
Es bleibt der zweite Teil der Frage nach der Hierarchie der Norminterpreten: Wie gestaltet sich die vom EuG und vom EuGH verantwortete Kontrolle der Konkretisierung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftskartellrechts?
27
Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage ist die Rechtsprechung des EuGH aus der Zeit vor Inkrafttreten der VO 1/2003. Wie bereits erwähnt, hatte die Kommission damals die alleinige Zuständigkeit zur Erteilung von Freistellungen nach Art. 81 Abs. 3 EG. Die Erwägungen, welche die Kommission bei der Würdigung der Voraussetzungen des Freistellungstatbestands anstellte, wurden vom EuGH (und seit 1989
28
45 Diese Vorstellung erschien mir vorzugswürdig (vgl. Ackermann, rule of reason, S. 139), hat sich aber nicht durchgesetzt. 46 Zustimmung findet die Masterfoods-Doktrin bei Langen/Bunte-Sura, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 16 VO 1/2003 Rn. 4; Kritik bei Geiger, EuZW 2001, 116, 117; Gröning, WRP 2001, 83, 89. Thomas Ackermann
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vom EuG) stets nur einer zurückhaltenden Überprüfung unterzogen. Die Kommission sei, heißt es bereits im Urteil Consten und Grundig aus dem Jahr 1966, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu schwierigen Wertungen wirtschaftlicher Sachverhalte gezwungen. Die gerichtliche Nachprüfung dieser Wertungen muß dem Rechnung tragen und sich deshalb auf die Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts beschränken.“ 47 Diese Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle der damals konstitutiven Freistellungsentscheidungen der Kommission hat die Rechtsprechung des EuGH und des EuG wiederholt bestätigt.48 Darüber hinaus hat der EuGH der Kommission aber auch einen Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung des auch damals schon unmittelbar anwendbaren Kartellverbots in Art. 81 Abs. 1 EGV zugebilligt. Dies brachte erstmals das Remia-Urteil unmißverständlich zum Ausdruck: In Anbetracht der in diesem Fall erforderlichen „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ habe der Gerichtshof „seine Prüfung … auf die Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob die Begründung ausreichend ist, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts und kein Ermessensmißbrauch vorliegen.“ 49
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Wenn die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte der Kommission auch bei unmittelbar anwendbarem Kartellrecht zugute kommen soll, ergibt sich unweigerlich die weitere, mit der Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung drängend gewordene Frage: Sollen nicht auch nationale Behörden und Gerichte, ja sogar die rechtsunterworfenen Unternehmen bei der Selbsteinschätzung ihres Wettbewerbsverhaltens einen Beurteilungsspielraum in Anspruch nehmen können, weil und soweit ihnen genauso wie der Kommission die „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ bei der Anwendung kartellrechtlicher Normen abverlangt wird? 50 In der Tat entstünde eine kaum erklärliche Schieflage, wenn der EuGH die Wahrnehmung seiner
47 EuGH v. 13.7.1966 – verb. Rs. 56 und 58/64 Consten und Grundig ./. Kommission, Slg. 1966, 321, 396. 48 Z.B. EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76 Metro ./. Kommission, Slg. 1977, 1875, 1917 Rn. 50; EuG v. 8.6.1995 – Rs. T-7/93 Langnese-Iglo ./. Kommission, Slg. 1995, II-1533 Rn. 178; v. 8.6. 1995 – Rs. T-9/93 Schöller ./. Kommission, Slg. 1995, II-1611 Rn. 140. 49 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 42/84 Remia ./. Kommission, Slg. 1985, 2545 Rn. 34; bestätigt durch EuGH v. 17.11.1987 – verb. Rs. 142 und 156/84 BAT und Reynolds ./.Kommission, Slg. 1987, 4487 Rn. 62; v. 15.6.1993 – Rs. C-225/91 Matra ./. Kommission, Slg. 1993, I-3203 Rn. 23 und 25; EuG v. 29.6.1993 – Rs. T-7/92 Asia Motor France ./. Kommission, Slg. 1993, II-669 Rn. 33; v. 23.10.2003 – Rs. T-65/98 Van den Bergh Foods ./. Kommission, Slg. 2003, II-4662 Rn. 80. In erweitertem (rechtsordnungs- oder disziplinübergreifendem) Zusammenhang behandeln diese Rspr. Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte (1993); Herdegen/Richter, in: Frowein (Hrsg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung (1993), S. 209 ff.; Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland (1997); ausführliche Würdigungen der zitierten Rspr. zu Art. 81 EG außerdem bei Bailey, 41 CMLR 1327 ff. (2004), und Koch, ZWeR 2005, 380 ff. 50 In dieser Richtung mit Bezug auf nationale Behörden und Gerichte Jaeger, WuW 2000, 1062, 1071 ff., mit Bezug auf die Unternehmen Bechtold, WuW 2003, 343.
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Auslegungszuständigkeit bei ein und derselben Norm danach differenzierte, ob sie von der Kommission, von einer nationalen Behörde oder von einem nationalen Gericht angewendet wird. Richtigerweise sollte diese Schieflage aber nicht dadurch behoben werden, daß der Gerichtshof die Normkonkretisierung im Kartellrecht generell nur noch auf die Verletzung bestimmter äußerer Grenzen überprüft und sich dadurch seiner Funktion als Wahrer der Einheit des Gemeinschaftsrechts teilweise begibt. Vielmehr sollte der EuGH den umgekehrten Weg beschreiten und im Zusammenhang mit den Art. 81 und 82 EG wie auch sonst bei unmittelbar anwendbaren Normen des Gemeinschaftsrechts keine Wertungsprärogative einer anderen Institution anerkennen.51
III. Die Ausstrahlung des Gemeinschaftskartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht In welcher Weise das Gemeinschaftsrecht im Allgemeinen die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts beeinflußt, erläutern die Beiträge zur primärrechts- und zur richtlinienkonformen Auslegung (einschließlich der Frage der überschießenden Umsetzung) in diesem Band.52 Die Ausstrahlung der gemeinschaftlichen auf die nationale Rechtsebene weist jedoch im Bereich des Kartellrechts Besonderheiten auf, die gerade auch im deutschen Kartellrecht Anlaß zu methodisch interessanten Neuerungen gegeben haben. 1.
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Vorrang des Gemeinschaftskartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts
Europäisches und nationales Kartellrecht koexistieren seit jeher, ohne daß Akte des Gemeinschaftsgesetzgebers für eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechte gesorgt hätten. Daß es dennoch zu einer Anpassung der nationalen Kartellrechte an das Vorbild der europäischen Wettbewerbsordnung gekommen ist, hat seine Ursache in Anpassungszwängen, die durch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Kartellrechtsebenen bedingt sind:
31
Die gemeinschaftlichen Wettbewerbsregeln genießen, soweit ihr Anwendungsbereich reicht, Vorrang gegenüber dem nationalen Kartellrecht. In der wegweisenden Entscheidung Walt Wilhelm 53 aus dem Jahre 1969 hat der EuGH dieses Rangverhältnis im Sinne eines Anwendungsvorrangs des EG-Rechts interpretiert (sog. modifizierte Zweischrankentheorie). Manches Rätsel, das dieses Urteil aufgibt,54 ist mittlerweile
32
51 I.E. ebenfalls kritisch zur Reduzierung der Kontrolldichte Fuchs, ZWeR 2005 1, 21; Koch, ZWeR 2005, 380, 395; etwas zurückhaltender Bailey, 41 CMLR 1327, 1360 (2004). 52 Vgl. Leible/Domröse, oben § 9; Roth, oben § 14; Habersack/Mayer, oben § 15. 53 EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 Rn. 3 ff. 54 Es fehlte in Anbetracht der als ungenügend empfundenen richterrechtlichen Vorrangregel vor Verabschiedung der VO 1/2003 nicht an Versuchen des Schrifttums, ein effektiveres Regime zu begründen; vgl. etwa Walz, Der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Kartellrecht (1994); Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen (1995). Thomas Ackermann
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durch sekundärrechtliche Regelungen auf der Grundlage von Art. 83 Abs. 2 lit. e EG gelöst worden. Zum einen schließt Art. 21 Abs. 3 FKVO die Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts auf die von der Verordnung erfaßten Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung grundsätzlich aus. Zum anderen schränkt Art. 3 VO 1/2003 den Anwendungsspielraum für nationales Recht im Bereich der von Art. 81 EG erfaßten Sachverhalte erheblich ein: Soweit eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel in der Gemeinschaft zu beeinträchtigen, und daher unter Art. 81 Abs. 1 EG fällt, kommt die Anwendung strengeren nationalen Rechts nicht in Betracht. Oberhalb der Schwelle der Zwischenstaatlichkeitsklausel bleibt damit im wesentlichen nur noch bei der Beurteilung einseitiger mißbräuchlicher Verhaltensweisen (also im Bereich des Art. 82 EG) Raum für eigene Wertungen des nationalen Kartellrechts. Etwas vergröbernd kann man also festhalten: „Große“ Fälle im Bereich der Fusionskontrolle und des Kartellverbots werden nur nach EG-Recht beurteilt, „kleine“ nur nach nationalem Recht.
33
Diese Vorrangregelung hat die mitgliedstaatlichen und namentlich den deutschen Gesetzgeber unter erheblichen Anpassungsdruck gesetzt. Zwar mag strengeres nationales Kartellrecht unterhalb der Eingriffsschwellen der EG-Wettbewerbsregeln gemeinschafts- wie auch verfassungsrechtlich zulässig sein,55 aber ein solches Wertungsgefälle zwischen europäischem und nationalem Recht wäre niemandem verständlich zu machen. Darüber hinaus führen jegliche Abweichungen des nationalen vom Gemeinschaftskartellrecht zumindest im Bereich des Art. 81 EG zu erheblicher Rechtsunsicherheit, weil in Anbetracht der in mancherlei Hinsicht unklaren Reichweite der Zwischenstaatlichkeitsklausel oft unsicher ist, ob nationales oder europäisches Recht Anwendung findet. Eine autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln an das europäische Vorbild war deshalb spätestens seit Verabschiedung der VO 1/2003 rechtspolitisch geradezu unumgänglich. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dieser Einsicht nicht verschlossen und, nachdem bereits die 6. GWB-Novelle 1998 erste Schritte in diese Richtung gemacht hatte, mit der am 1.7.2005 in Kraft getretenen 7. GWB-Novelle v.a. eine sehr weitreichende Angleichung der deutschen Regelung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen an das Regime des Art. 81 EG vollzogen.56 In methodischer Hinsicht sind zwei Aspekte dieses autonomen Angleichungsakts von besonderem Interesse: die europarechtsorientierte Auslegung der an das EGRecht angepaßten Normen des GWB und die vom Gesetzgeber in § 2 Abs. 2 GWB ausgesprochene dynamische Verweisung auf gemeinschaftliches Sekundärrecht, nämlich auf die zu Art. 81 Abs. 3 EG ergangenen Gruppenfreistellungsverordnungen.
55 Zum Fehlen einer – von Steindorff, in: FIW (Hrsg.), Schwerpunkte des Kartellrechts 1986/87, S. 27, 35 ff., befürworteten – gemeinschaftsrechtlichen Pflicht zur Anpassung des mitgliedstaatlichen Kartellrechts aus Art. 10 EG Ackermann, in: Weber u.a. (Hrsg.): Europäisierung des Privatrechts – Zwischenbilanz und Perspektiven, JbJZ 1997, S. 203, 210 ff. – Zur Nichtanwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG als Grundlage einer Anpassungspflicht mit Blick auf Unterschiede zwischen deutscher und europäischer Fusionskontrolle Westermann, Die Einwirkungen der europäischen auf die deutsche Fusionskontrolle (1996), S. 74 ff. 56 Eine informative Darstellung der 7. GWB-Novelle bieten Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006) S. 1 ff.
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2.
Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts
Die novellierten §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB übernehmen Art. 81 Abs. 1 und Abs. 3 EG mit Ausnahme der Zwischenstaatlichkeitsklausel im Wortlaut. Damit ist das normative Fundament für einen dies- und jenseits der gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsschwelle einheitlichen Schutz vor kooperativen Wettbewerbsbeschränkungen gelegt. Anders als etwa der italienische und der britische Gesetzgeber 57 hat der deutsche Gesetzgeber sich freilich nicht dazu durchringen können, so wie ursprünglich von der Bundesregierung geplant 58 die Auslegung dieser (und anderer) an das EGRecht angelehnter Normen des GWB in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des europäischen Wettbewerbsrechts gesetzlich vorzugeben. Gleichwohl führt – nicht anders als in den Konstellationen überschießender Richtlinienumsetzung – die Auslegung der angeglichenen GWB-Normen zur Orientierung am gemeinschaftsrechtlichen Vorbild, was – wiederum nicht anders als bei der überschießenden Richtlinienumsetzung – die Frage nach der Möglichkeit einer Anrufung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren hervorruft. a)
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Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen
Die Anwender der angeglichenen GWB-Normen sind zunächst nicht kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet, zu Auslegungsergebnissen zu gelangen, die mit der Handhabung der gemeinschaftsrechtlichen Vorbilder durch den EuGH, das EuG und die Kommission übereinstimmen. Der Vorrang des Gemeinschaftskartellrechts kommt hier nicht zum Tragen, da das GWB insoweit aufgrund der unmittelbar anwendbaren Normierung des Rangverhältnisses in Art. 3 VO 1/2003 (die eine deklaratorische Regelung in § 22 GWB wiederholt) ohnehin keinen Anwendungsanspruch erhebt. Ebensowenig droht eine vom Verständnis gleichlautender gemeinschaftsrechtlicher Begriffe abweichende Interpretation der im GWB verwendeten Begriffe die Auslegung des Gemeinschaftsrechts so zu beeinflussen, daß dessen Wirksamkeit in Frage gestellt sein könnte.59
35
Es bleibt die Möglichkeit, die Ausrichtung am europäischen Vorbild aus Gründen des nationalen Rechts herzuleiten, und zwar, weil es an einer gesetzlichen Anordnung fehlt, im Wege der Interpretation der autonom angeglichenen Normen. Die Übereinstimmung mit dem Wortlaut der entsprechenden EG-Regeln und das gesetzgeberische Anliegen, das deutsche Kartellrecht mit dieser Angleichung auch in der Sache an der gemeinschaftsrechtlichen Bewertung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und sonstiger Koordinierungsformen auszurichten, lassen die Europarechtsorientie-
36
57 Vgl. Art. 1 Abs. 4 legge antitrust No. 287 vom 10.10.1990 und sec. 60 Competition Act 1998. 58 Vgl. § 23 RegE und dazu BT-Drucks. 15/3640, S. 47. 59 Für eine ausführliche Diskussion der Erheblichkeit dieser Überlegung im Zusammenhang mit der überschießenden Richtlinienumsetzung vgl. in diesem Band Habersack/Mayer, oben § 15 Rn. 26ff, sowie Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, 2006, S. 107 ff. Thomas Ackermann
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rung unabweisbar erscheinen. Dies wird bestätigt durch die Begründung, mit der der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren die letztlich im Vermittlungsausschuss vorgenommene Streichung der gesetzlichen Auslegungsregel zugunsten des Europarechts forderte: Die Auslegung im Lichte der europäischen Regeln sei eine „methodische Selbstverständlichkeit“ 60. Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.61 b)
Vorlagemöglichkeit?
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Zu klären bleibt, ob der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen werden kann, wenn die europarechtsorientierte Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in Frage steht. Hier gelangt man in das Fahrwasser einer mittlerweile sattsam bekannten 62 EuGH-Rechtsprechung, zu der einerseits eine Reihe von Urteilen gehört, in denen der Gerichtshof Vorlagefragen beantwortete, die sich im Zusammenhang einer autonomen Anknüpfung nationalen Rechts an EG-Recht stellten 63, andererseits aber auch die Entscheidung Kleinwort Benson, in der der EuGH seine Zuständigkeit ablehnte, als der englische Court of Appeal eine Auslegung des EuGVÜ erbat, die er zur Abgrenzung einer englisch-schottischen Zuständigkeitsregelung nach dem Vorbild des EuGVÜ heranziehen wollte 64.
38
Nimmt man die §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in den Blick, so ist die Ähnlichkeit zu der Konstellation in Kleinwort Benson unverkennbar: Es handelt sich um Normen, die dem Art. 81 EG nachgebildet wurden und deren Auslegung nur im Sinne einer „methodischen Selbstverständlichkeit“, aber nicht durch rechtlich zwingende Vorgaben an diesem Vorbild ausgerichtet wird. Der vom EuGH zur Begründung seiner Unzuständigkeit angeführte Gesichtspunkt, daß das vorlegende Gericht frei entscheiden konnte, ob es die Auslegung des EuGVÜ für das nationale Recht übernehmen wollte, so daß sich der Gerichtshof in die Rolle einer beratenden Institution gedrängt sah,
60 BT-Drucks. 15/3640, S. 75. Bei der Auslegung des GWB in der Fassung der 7. Novelle wird die Orientierung am Europarecht nunmehr auch in der Praxis- und Ausbildungsliteratur zur Kenntnis genommen, vgl. Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2005), S. 14 („kein Auseinanderklaffen bei der Anwendung der §§ 1, 2 GWB und des Art. 81 EG zu erwarten“); Kapp, Kartellrecht in der Unternehmenspraxis (2005), S. 34 („nur noch wenig Raum für eine anderweitige Behandlung“); Lettl, Kartellrecht (2005), S. 216; zurückhaltender Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 1 (10. Aufl. 2006), Einführung zum GWB Rn. 60 („Abwägungsgesichtspunkt“). 61 Die inhaltlichen Konsequenzen aus dieser methodischen Einsicht sind dagegen nicht selbstverständlich. Bereits für das GWB in der Fassung der 6. Novelle hat Schanze, Die europaorientierte Auslegung des Kartellverbots (2003), eine Durchführung dieses Gedankens unternommen. 62 Dazu bereits Ackermann, in: Weber u.a. (Hrsg.): Europäisierung des Privatrechts – Zwischenbilanz und Perspektiven, JbJZ 1997, S. 203, 223, und zuletzt Drexl, in: FS Heldrich, 2005, S. 67, 78 ff., Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, 2006, S. 173 ff., sowie in diesem Band Habersack/Mayer, oben § 15 Rn. 49 ff. 63 EuGH v. 18.10.1990 – Rs. C-297/88 u.a. Dzodzi, Slg. 1990, I- 3763 Rn. 33 f.; v. 8.11.1990 – Rs. C-231/89 Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003 Rn. 18 f.; v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 24 f.; v. 17.7.1997 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 25. 64 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-343/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 22 ff.
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könnte auch hier zum Tragen kommen. Aber abgesehen davon, daß die restriktive Haltung in Kleinwort Benson möglicherweise rechtlich nicht überzeugt,65 darf man aus einem anderen Grund hoffen, daß der EuGH Mittel und Wege finden wird, der europaorientierten Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB seine Unterstützung im Vorabentscheidungsverfahren zu geben: Das Rechtsproblem, das der Court of Appeal in Kleinwort Benson mit Hilfe des EuGH lösen wollte, war integrationspolitisch irrelevant. Es scheint aber schwer vorstellbar, daß der Gerichtshof nicht einem nationalen Richter die Hand reichen würde, der sich bemüht, das Gebäude der europäischen Wettbewerbsordnung mit den Bausteinen des nationalen Kartellrechts zu vervollständigen. 3.
Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht
Ein gesetzgebungstechnisches Novum im GWB stellt schließlich die dynamische Verweisung auf gemeinschaftliches Sekundärrecht dar. § 2 Abs. 2 S. 1 GWB erklärt die europäischen Gruppenfreistellungsverordnungen in ihrer jeweils geltenden Fassung für entsprechend anwendbar, und zwar, wie S. 2 hinzufügt, „auch, soweit die dort genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu beeinträchtigen“. Die Formulierung ist irreführend: Weil Gruppenfreistellungsverordnungen oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle ohnehin unmittelbar anwendbar sind, hat nur die Anordnung der entsprechenden Anwendbarkeit unterhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle einen eigenständigen Gehalt. In methodischer Hinsicht wirft diese Verweisung Fragen auf: 66 Zu welchen Anpassungen an den nationalen Kontext ist der Rechtsanwender befugt, der über § 2 Abs. 2 GWB zur „entsprechenden“ Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung gelangt? Teilt sich die konstitutive (nämlich „abschirmende“) Bedeutung, welche die Gruppenfreistellungen im europäischen Recht haben,67 über die Verweisung auch dem deutschen Recht mit? Werden deutsche Gerichte die Möglichkeit haben, Auslegungsfragen, die sich im Zusammenhang mit einer im streitigen Fall nicht unmittelbar, sondern nur kraft Verweisung entsprechend anwendbaren Gruppenfreistellung ergeben, dem EuGH vorzulegen? Während die letzte Frage gewiß bejahen muß, wer schon die Zulässigkeit von Vorlagen aus dem Bereich der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB befürwortet, bieten die beiden ersten Fragen Schwierigkeiten, die über eine einführende Behandlung methodenrelevanter Fragen des Kartellrechts hinausgehen 68. Sie mögen als Beleg für die Fähigkeit des Kartellrechtsgesetzgebers auf deutscher wie auf europäischer Ebene stehen, die Rechtsanwender immer wieder mit neuen technischen Finessen zu erfreuen.
65 66 67 68
Kritisch Drexl, in: Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts, S. 223, 246. Zur hier nicht erörterten Verfassungsmäßigkeit (bejahend) Ehricke/Blask, JZ 2003, 722 ff. Dazu schon oben Fn. 11. Vgl. für eine Stellungnahme Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht Bd. 1 (10. Aufl. 2006), § 2 Rn. 68 ff., Rn. 76 f.
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Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung § 22 Die Rechtsprechung des EuGH Rüdiger Stotz Übersicht I. Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit . . . . . . . . . .
Rn. 2–9
II. Die Auslegung nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10–12
III. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Auslegungskanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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13–39 13–19
. .
20–29 30–39
IV. Die Bedeutung von Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40–42
V. Ausblick
1
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Der Focus der nachfolgenden Abhandlung zu Methodenfragen liegt auf der Rechtsprechung des EuGH. Alle Beiträge dieses Handbuchs haben sich aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Themenstellungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs auseinandergesetzt. Im folgenden sollen aus einer generellen Perspektive die Schwerpunkte dort gesetzt werden, wo die Rechtsprechung zur Auslegungsthematik noch in der Entwicklung begriffen ist bzw. sich aktuelle Fragen stellen. Dazu ist zunächst an bestimmte externe Faktoren zu erinnern, die auf die Methodik des Gerichtshofs Einfluß haben. Sodann wird die Auslegungsthematik im engeren Sinne behandelt und dabei insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten sowie die Problematik der richtlinienkonformen Auslegung näher untersucht. Abschließend werden einige Hinweise zum Wert von Präjudizien in der Rechtsprechung des EuGH gegeben.
I.
Die Herausforderung – Über Heterogenität zur Einheitlichkeit
2
Vorab ist auf einige Faktoren hinzuweisen, die die Schwierigkeiten verdeutlichen, unter denen der Gerichtshof seine Aufgabe wahrnimmt und die unmittelbaren Einfluß auf die Methode haben.
3
Zunächst zum Akteur: Die personelle Heterogenität der Mitglieder des EuGH – er ist mit Persönlichkeiten besetzt, die vor ihrer Berufung in unterschiedlichen Bereichen
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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH
als Richter, Hochschullehrer, Politiker, oberste Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte oder in vergleichbar herausgehobenen Positionen tätig waren – ist als solche nicht singulär. Eine solche Besetzung kennzeichnet, im Unterschied zu den regelmäßig homogen, d.h. mit spezialisierten Berufsrichtern besetzten obersten nationalen Fachgerichten, regelmäßig auch nationale Verfassungsgerichte. Die Heterogenität wird im Fall des Gerichtshofs aber dadurch signifikant verstärkt, daß die Richter und Generalanwälte in 25 unterschiedlichen Rechtskulturen beheimatet sind. Ulrich Everling, von 1980 bis 1988 Richter am Gerichtshof und bis heute unermüdlicher Mittler des europäischen Rechts, hebt diesen Umstand stets besonders hervor. Er weist darauf hin, daß die Mitglieder des Gerichtshofs ihre jeweiligen Traditionen, Grundvorstellungen, Wertungen und materiellen wie formellen Eigenheiten in die gemeinsame Willensbildung mit einbringen und sich aus den individuellen Beiträgen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten das vom Gerichtshof gesprochene Recht formt.1 Je mehr Europa politisch, rechtlich und kulturell zusammenwächst und sich vor allem die juristische Ausbildung noch stärker europäisch vernetzt, desto weniger markant mögen diese Unterschiede zukünftig sein. Gegenwärtig stellt diese heterogene Zusammensetzung für den Gerichtshof jedoch eine besondere Herausforderung dar. Denn ihm obliegen nicht lediglich verfassungsgerichtliche Aufgaben, d.h. die Kontrolle der Vertragskonformität sekundärrechtlicher und nationaler Maßnahmen, sondern er nimmt gerade bei der Auslegung des sekundären Gemeinschaftsrechts regelmäßig auch eine fachgerichtliche Funktion ein, die mittlerweile einen denkbar weiten Rechtsbereich umfaßt. Nicht nur wächst der Bestand sekundärrechtlicher Normen stetig an und erobert bislang rein national geregelte Bereiche – das Privatrecht ist hierfür das beste Beispiel. Auch die Komplexität der geregelten Materien nimmt stark zu – man denke nur an die in jüngster Zeit erlassenen oder noch im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Regelungen im Bereich des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts. Dies ist zwar von den gesetzgebenden Organen als Problem erkannt und wird unter den Stichworten „Bessere Rechtsetzung“, „Folgenabschätzung“ und „Rechtsvereinfachung“ gegenwärtig als wesentliches Element der Strategie für Wettbewerbsfähigkeit und des Lissabon-Prozesses im Rat diskutiert.2 In der Rechtssetzungspraxis finden diese Bemühungen aber bislang noch nicht den wünschenswerten Widerklang. Die Konsensfindung in einem Rat von 25 Mitgliedstaaten bei voller 1 Everling, JZ 2000, 217, 222. 2 Grundlegend Ratsdokument 7797/05 v. 5.4.2005, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament „Bessere Rechtsetzung für Wachstum und Arbeitsplätze in der Europäischen Union“; ferner Ratsdokument 13976/05 v. 3.11.2005, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuß und den Ausschuß der Regionen: „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Eine Strategie zur Vereinfachung des ordnungspolitischen Umfelds“, Ratsdokument 14531/05 v. 23.11.2005, Schlußfolgerungen des Rates vom 28./29.11.2005 zur Besseren Rechtsetzung, und Ratsdokument 14901/05 v. 24.11.2005, Bessere Rechtsetzung: Gemeinsames Interinstitutionelles Konzept für die Folgenabschätzung – Annahme, sowie zuletzt Ratsdokument 10558/06 v. 15.6.2006, Bericht der Kommission „Bessere Rechtsetzung 2005“ gemäß Artikel 9 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (13. Bericht). Rüdiger Stotz
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3. Teil: Besonderer Teil
Mitwirkung des Europäischen Parlaments gestaltet sich extrem schwierig und führt mitunter dazu, daß strittige Punkte im Text der Rechtsakte nicht geklärt, sondern im claire obscure gelassen werden, um nach langen und kontroversen Verhandlungen die Verabschiedung zu ermöglichen und der Ratspräsidentschaft den angestrebten Erfolg zu verschaffen. Es ist politische Realität, daß in der letzten Verhandlungsphase rechtsdogmatische und -systematische Erwägungen, denen bis dahin nicht Rechnung getragen wurde – entsprechenden Empfehlungen der Juristischen Dienste von Rat und Kommission wird insoweit durchaus nicht immer gefolgt –, einen erreichten Kompromiß nicht mehr in Frage stellen dürfen („Wir gewinnen hier keinen Schönheitspreis“). Die Folgen einer solchen Verfahrensweise zeigen sich, wenn die Rechtsakte von den nationalen Gesetzgebern umgesetzt, den Verwaltungen angewandt und letztlich den Gerichten ausgelegt werden. Der Gerichtshof muß sich dann mit Fragen auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsprozeß bewußt oder unbewußt offengeblieben sind und möglicherweise sogar widersprüchlich geregelt wurden.
5
Sicherlich ist die mangelhafte Qualität der Rechtsetzung kein typisch europäisches Phänomen, sondern hinlänglich auch aus dem nationalen Bereich bekannt. Auf europäischer Ebene potenzieren sich aber die Probleme, die damit einhergehen. Der Gerichtshof, dem es in letzter Instanz zufällt, eine in sich schlüssige und verbindliche Auslegung zu geben, muß bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe nicht nur der begrenzten Verbandskompetenz der Gemeinschaft, die auch für ihn gilt, Rechnung tragen sowie die Prärogativen des europäischen Gesetzgebers respektieren. Er muß auch und vor allem das ihm unterbreitete Rechtsproblem einer sachgerechten Lösung zuführen und dies mit Richtern, die aufgrund ihrer Herkunft, Ausbildung und beruflichen Erfahrung ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen. Dabei kommt ein Wertungselement ins Spiel, das Axel Flessner 3 trefflich als „Gedanken der Mäßigung und der Bescheidung“ identifiziert hat. „[Dieser muß] in der Union herrschen […], sollen alle gegensätzlichen nationalen und rechtskulturellen Interessen unter ihrem Dach ein Auskommen finden. Es darf nicht übertrieben oder auch nur bis ans logische Ende getrieben werden. Dieser Gedanke herrscht offenbar und muß herrschen bei der Schaffung von Normen und er wird (und darf) auch herrschen bei ihrer Anwendung, d.h. faktisch: unter den Mitgliedern des EuGH.“
6
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, daß der Gerichtshof jedem Versuch energisch widersteht, instrumentalisiert zu werden. Dies bedeutet in erster Linie, daß Mitgliedstaaten, denen es nicht gelungen ist, ihren Standpunkt in den Verhandlungen in Brüssel durchzusetzen, regelmäßig nicht darauf hoffen dürfen, diesen nachträglich in Luxemburg anerkannt zu bekommen. Aber auch subtileren Formen der Instrumentalisierung, selbst wenn sie unbewußt erfolgen, erteilt der Gerichtshof eine Absage. Diese bestehen darin, das Gemeinschaftsrecht ausschließlich oder vorwiegend aus dem Blickwinkel des vertrauten nationalen Rechts zu betrachten. Es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen des Gerichtshofs, daß Prozeßparteien immer wieder wie selbstverständlich davon ausgehen, daß europäische Normen denselben Bedeutungs-
3 Flessner, JZ 2002, 14, 20.
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gehalt haben wie entsprechende nationale Bestimmungen oder daß sie sich erkennbar länderspezifisch geprägter Argumentationsmuster bedienen. Bei den Richtern und Generalanwälten verfängt ein solcher Vortrag in der Regel schon allein deshalb nicht, weil diese mit den nationalen Vergleichsparametern nicht hinreichend vertraut sind. Ein solch einseitiger Vortrag kann daher nicht überzeugen. Nicht nur methodisch, sondern bereits rein faktisch besteht daher zu einem autonomen, ggf. rechtsvergleichend unterstützten, Ansatz bei der Interpretation des europäischen Rechts keine Alternative. Dies alles ist weitgehend bekannt, wird aber in der Praxis immer noch nicht hinreichend berücksichtigt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zwar ist die Kenntnis des europäischen Rechts im Vergleich zu früher mittlerweile stark gewachsen, in erster Linie dank einer wesentlich intensiveren universitären Ausbildung, der Blickwinkel bleibt aber dennoch oftmals interessengeleitet national. Fundierte rechtsvergleichende Analysen sind aufwendig und kostspielig. Von Rechtsanwaltskanzleien kleineren oder mittleren Zuschnitts sind sie per se kaum zu erwarten und selbst multinational operierende Kanzleien leisten dies nur in Ausnahmefällen. Allenfalls die Kommission ist hierzu in der Lage. Zwar bedarf es zur Lösung anhängiger Streitfragen in vielen Fällen nicht des Rechtsvergleichs im materiellrechtlichen Sinn, wenn etwa gemeinschaftliche Konzepte keiner unmittelbaren Ableitung aus dem nationalen Recht zugänglich sind.4 Auch dann ist aber der rechtsvergleichend geschulte Blick der Richter auf Wertung und Interessenausgleich im europäischen Kontext gerichtet und orientiert sich nicht an einseitigen nationalen Belangen.
7
Schließlich ist die Bedeutung des Parteivortrags für die Auslegung hervorzuheben. Bekanntlich prüft der Gerichtshof nach Klagegründen (moyens).5 Was nicht gerügt wird, sei es vom Kläger in Direktklagen oder vom nationalen Gericht im Verfahren der Gültigkeitsprüfung nach Art. 234 EG,6 ist regelmäßig auch nicht Gegenstand der rechtlichen Überprüfung. Qualität und Aussagekraft des Urteils hängen deshalb entscheidend vom Parteivortrag ab und können, falls dieser mangelhaft ist, durch das Urteil nur bedingt aufgefangen werden. Daher empfiehlt es sich, ähnlich wie bei Urteilen amerikanischer Gerichte, nicht nur abstrakt die Urteilsgründe zu analysieren, sondern sie stets im Lichte von Sachverhalt und Parteivortrag zu lesen.
8
Generell kann man feststellen, daß die Prozeßparteien die Möglichkeiten, die Rechtsprechung des EuGH und des Gerichts erster Instanz durch fundierte Argumentation zu beeinflussen, nicht in allen Fällen optimal ausschöpfen. Vor allem wird regelmäßig versäumt, dem Gerichtshof die ökonomischen und administrativen Auswirkungen
9
4 Edward, The Role and Relevance of the Civil Law Tradition in the Work of the European Court of Justice, in: Carey Miller/Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law – Aberdeen Quincentenary Essays (1997), S. 310. 5 Vgl. Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs. 6 Vgl. EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-408/95 Eurotunnel, Slg. 1997, I-6315 Rn. 34, im einzelnen Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen Umweltrecht, Bd. I (2. Aufl. 2003), § 45, Rn. 201. Rüdiger Stotz
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3. Teil: Besonderer Teil
seiner Rechtsprechung vor Augen zu führen.7 Adressat dieses Petitums sind aber nicht nur die Prozeßparteien und vor allem die Kommission, die in allen Vorabentscheidungsverfahren interveniert. Auch der europäische Gesetzgeber ist hier insoweit angesprochen, als er die Begründungserwägungen seiner Rechtsakte nicht entsprechend ausrichtet und dem Gerichtshof damit wesentliche Begründungselemente vorenthält. In dieser Hinsicht ist zu hoffen, daß die ins Auge gefaßte Folgenabschätzung 8 in Zukunft umfassend in den Rechtsakten ihren Niederschlag findet.
II.
Die Auslegung nationalen Rechts
10
Wendet man sich der Auslegung im engeren Sinn zu, so ist zunächst daran zu erinnern, daß der Gerichtshof nicht nur Gemeinschaftsrecht, sondern in bestimmten Fallkonstellationen auch unmittelbar nationales Recht auslegt bzw. anwendet. Der bekannteste Fall ist die Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG,9 bei der der Gerichtshof in einem streitigen Verfahren über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht befindet. Die Aufgabe, den Sinngehalt des nationalen Rechts zu ermitteln, wird ihm dadurch erleichtert, daß der betroffene Mitgliedstaat an dem Verfahren als Partei beteiligt ist und seine streitige Regelung erläutern und rechtfertigen kann und daß es letztlich der Kommission obliegt, den Beweis der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu erbringen.10 Unklarheiten des nationalen Rechts gehen allerdings zu Lasten des Mitgliedstaats. Der Gerichtshof kehrt in diesen Fällen die Beweislast um.
11
Wesentlich größere Probleme stellen sich in dem – allerdings seltenen – Fall, daß die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf der Schiedsklausel eines privatrechtlichen Vertrags zwischen der Kommission und einem Unternehmen nach Art. 238 EG beruht, in dem die Geltung nationalen Rechts vereinbart ist und der Gerichtshof die Vertragsklauseln im Lichte des nationalen Rechts auslegen muß. Von der Kommission, die in diesem Verfahren als Partei auftritt, kann der Gerichtshof insoweit keine „neutrale“ Stellungnahme wie üblicherweise in den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG erwarten. Der Mitgliedstaat wiederum, dessen Recht dem Vertrag zugrunde liegt, tritt dem Rechtsstreit in aller Regel nicht bei. Der Gerichtshof ist deshalb in der Situation eines jeden nationalen Richters, der in einem Fall mit Auslandsberührung nach den Regeln des Internationalen Privatrechts ausländisches Recht anwenden muß und dabei naturgemäß größeren Risiken der Fehlinterpretation ausgesetzt ist als bei der Auslegung des ihm vertrauten Rechts.
7 Vgl. Schwarze, Der Schutz der Grundrechte durch den EuGH, NJW 2005, 3459, 3464 f., der eine gesteigerte Sensibilität des EuGH auch für die finanziellen Folgen seiner Rechtsprechung anmahnt. 8 S.o. Rn. 4. 9 Entsprechendes gilt für die Staatenklage nach Art. 227 EG. 10 Unter bestimmten Umständen kommt es allerdings zur Beweislastumkehr.
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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH
Über eine solche Schiedsklausel, in der die Anwendung deutschen Rechts vereinbart war, war der Gerichtshof mit der Frage befaßt, ob die Kündigung eines Vertrags, mit dem die Kommission ein Pilotvorhaben im Energiebereich finanziell gefördert hatte, rechtmäßig war und diese zur Rückforderung geleisteter Vorschüsse berechtigte.11 Von Anfang an war absehbar, daß eine sachgerechte Lösung des komplexen Falles nur über eine souveräne Auslegung des deutschen Zivilrechts ereicht werden konnte. Aus den Urteilsgründen geht hervor, daß der Gerichtshof letztlich den Grundsatz von Treu und Glauben nach den §§ 157 und 242 BGB bemüht hat, um die Kündigung des Vertrags durch die Kommission zu rechtfertigen. In den seltenen Fällen, in denen der Gerichtshof mit derartigen rein nationalen Rechtsfragen konfrontiert ist, nutzt deshalb der Präsident seine Befugnis, den Berichterstatter zu bestimmen,12 regelmäßig dazu, entweder unmittelbar den mit dem jeweiligen nationalen Recht vertrauten Richter zum Berichterstatter zu ernennen oder doch mit der Benennung eines anderen Berichterstatters zugleich sicherzustellen, daß der mit dem nationalen Recht vertraute Richter Mitglied der entscheidenden Formation wird und damit bestimmenden Einfluß auf die Rechtsfindung nehmen kann. Im konkreten Fall wurde der deutsche Richter Hirsch zum Berichterstatter bestimmt.13
12
III. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts 1.
Der Auslegungskanon
Formal betrachtet folgt der Gerichtshof bei seiner Auslegung des Gemeinschaftsrechts, wie nationale Gerichte auch, dem hinlänglich bekannten Kanon der Auslegungsmethoden. Dies gilt auch für das Europäische Privat- und Schuldvertragsrecht.14 Es gelten allerdings einige gemeinschaftstypische Besonderheiten.
13
Ausgangspunkt jeder rationalen Interpretation ist zunächst der Wortlaut. Bei divergierenden Sprachversionen eines auszulegenden Textes gibt der Gerichtshof zunächst den stereotypen Hinweis, grundsätzlich sei allen Sprachfassungen einer Gemeinschaftsvorschrift der gleiche Wert beizumessen. Er folgert u.a. daraus, daß keine Unterschiede nach der Größe der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gemacht werden können, die die betreffende Sprache gebraucht.15 Um die einheitliche Auslegung des
14
11 EuGH v. 17.2.2000 – Rs. C-156/97 Van Balkom, Slg. 2000, I-1095. 12 Vgl. Art. 9 § 2 VerfO-EuGH. 13 Der Fall war der Dritten Kammer des Gerichtshofs, bestehend aus den Richtern Schintgen, Mancini und Hirsch zugewiesen worden. Bevor der Fall abschließend beraten werden konnte, starb Richter Mancini. Da das Quorum hierdurch nicht mehr erreicht war, mußte die mündliche Verhandlung in neuer Besetzung wiedereröffnet werden. Generalanwalt Mischo, der seine Schlußanträge erneut stellen mußte, nutzte die Gelegenheit, um seine rechtlichen Ausführungen zum deutschen Zivilrecht zu präzisieren. In der amtlichen Sammlung des Gerichtshofs sind lediglich die auf die letzte mündliche Verhandlung folgenden Schlußanträge veröffentlicht. 14 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 15 Vgl. zuletzt EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-152/01 Kyocera, Slg. 2003, I-13821 Rn. 32 f. Rüdiger Stotz
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3. Teil: Besonderer Teil
Gemeinschaftsrechts zu wahren, müsse dann, wenn die Sprachfassungen voneinander abweichen, die betreffende Vorschrift anhand von Sinn und Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört. Auch wenn die sprachliche Auslegung nicht divergiert, stützt sie der Gerichtshof bisweilen durch eine teleologische Interpretation ab. Eine Regel, wann dies der Fall ist, besteht nicht und hängt von den Umständen des Falles, nicht zuletzt vom individuellen Argumentationsstil des jeweiligen Berichterstatters ab. Die Arbeitssprachen, denen sich die Gemeinschaftsorgane im Gesetzgebungsprozeß ggf. bedienen, spielen dagegen, anders als in der Literatur bisweilen angenommen,16 keine Rolle bei der Lösung sprachlicher Divergenzen, weil dies die postulierte Gleichheit aller Sprachversionen gerade wieder in Frage stellen würde.
15
Die historische Auslegung, die sich auf Materialien bei der Genese der auszulegenden Bestimmungen stützt, kommt nur vergleichsweise selten zum Tragen. Diese Materialien werden zwar ggf. im Urteil bei der Schilderung der Entstehungsgeschichte des Rechtsstreits bzw. der Darstellung des rechtlichen Rahmens erwähnt, dienen aber sehr selten als eigentliches Begründungselement bei der rechtlichen „Wertung durch den Gerichtshof“.17 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs in diesem Punkt ist nachvollziehbar, denn bei den bis zu ihrem Erlaß regelmäßig höchst umstrittenen Gemeinschaftsrechtsakten kann letztlich nur der im Amtsblatt veröffentlichte Text autoritativen Charakter beanspruchen. Nach ständiger Rechtsprechung können deshalb auch Erklärungen, selbst wenn sie von Rat und Kommission gemeinsam aus Anlaß der Verabschiedung eines Rechtsakts zu Protokoll gegeben werden, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden, wenn ihr Inhalt in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hat.18
16
Die systematische Auslegung, d.h. die Auslegung einer Vorschrift nach ihrer Stellung der Vorschrift im äußeren System des Rechtsakts, ist dagegen recht verbreitet und dient vor allem der Abrundung von textlicher und teleologischer Interpretation.
17
Die teleologische Auslegung, die nach Sinn und Zweck der Regelung fragt, gibt dem Urteil schließlich die notwendige inhaltliche Fundierung. Sie „trägt“ in aller Regel das Judikat. Die Erwägungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang anstellt, reichen von grundlegenden Erkenntnissen über Legitimation und Substanz der Gemeinschaftsrechtsordnung bis hin zur Ermittlung des konkreten Sinngehalts einer einzelnen sekundärrechtlichen Vorschrift. Da der EG-Vertrag keine fertige Rechtsordnung geschaffen hat, liegt auch die Rechtsfortbildung im Spektrum der teleologi-
16 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530 unter Hinweis auf Oppermann, Europarecht, Rn. 683. 17 Vgl. etwa den Hinweis im Urteil EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, Slg. 2005, I-1946 Rn. 20, daß weder die Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG noch „die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten, Aufschluß über die genaue Bedeutung des in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie genannten Begriffs Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ geben. 18 EuGH v. 26.2.1991 – C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 29.5.1997 – C-329/95 VAG Sverige, Slg. 1997, I-2675 Rn. 23; EuGH v. 24.6.2004 – Rs. C-49/02 Heidelberger Bauchemie, Slg. 2004, I-6129 Rn. 17.
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schen Auslegung.19 So zählt gerade die wegweisende Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundlagen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zum kommunitären Besitzstand. Dabei sollte nicht verkannt werden, daß der Gerichtshof nur maßvoll und mit Zurückhaltung das primäre Gemeinschaftsrecht systemkonform fortentwickelt. Der Anteil rechtsfortbildender Judikate ist begrenzt und erstreckt sich von den Inkunabeln europäischer Rechtsprechung van Gend & Loos und Costa/E.N.E.L. über die Rechtsprechung zur Geltung der Grundrechte bis hin zur Entwicklung des gemeinschaftlichen Staatshaftungssystems in Francovich. In bestimmten Bereichen, so bei der Fortentwicklung des gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystems, hat der Gerichtshof die Tür zur Rechtsfortbildung zunächst aufgestoßen,20 in jüngster Zeit aber wieder geschlossen und auf den Verfassungsgesetzgeber verwiesen.21 Ein Indiz dafür, daß der Gerichtshof in den Bereich der Rechtsfortbildung vorstößt, ist regelmäßig die sonst sehr spärliche kombinierte Zitierung der Urteile van Gend & Loos und Costa/E.N.E.L. Ein Beispiel hierfür aus jüngerer Zeit ist das Urteil Courage,22 in dem der Gerichtshof begründet, daß ein Einzelner, auch wenn er selbst Partei eines wettbewerbsbeschränkenden Vertrags ist, berechtigt ist, sich auf die Nichtigkeit dieses Vertrages nach Art. 81 Abs. 2 EG zu berufen und Schadensersatz zu verlangen. Auch eine dieser Rechtsordnung entsprechende Auslegungsregel hat die Rechtsprechung entwickelt. Danach verlangen es die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und der Gleichheitsgrundsatz, die Begriffe einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Gemeinschaft autonom und einheitlich auszulegen.23
18
Handelt es sich um eine Norm des sekundären Gemeinschaftsrechts, so greift der Gerichtshof zur Interpretation regelmäßig auf die Begründungserwägungen des Rechtsakts zurück. Vielfach stellt dieser notwendige Vorspann zum verfügenden Teil der Regelung (Art. 253 EG) die wichtigste Orientierung für deren Zielsetzung und Sinngehalt dar.24 Ein allzu unkritischer Umgang mit den Begründungserwägungen ist
19
19 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem eindrucksvollen Urteil vom 8.4.1987 anerkannt, BVerfG 75, 223 – Kloppenburg. 20 EuGH v. 23.4.1986 – Rs. C-294/83 Les Verts ./. Parlament, Slg. 1986, 1339 und EuGH v. 22.5.1990 – Rs. 70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 (Tschernobyl). 21 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 Unión de Pequeños Agricultores ./. Rat, Slg. 2002, I-6677 Rn. 41 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-263/02 Kommission ./. Jégo-Quéré, Slg. 2004, I-3425 Rn. 31. 22 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rn. 19. 23 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43. Nach Auffassung des Gerichts erster Instanz kann jedoch auch ohne eine solche ausdrückliche Verweisung die Anwendung des Gemeinschaftsrechts eine Verweisung auf das Recht der Mitgliedstaaten einschließen, wenn der Gemeinschaftsrichter dem Gemeinschaftsrecht oder den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts keine Anhaltspunkte entnehmen kann, die es ihm erlauben, Inhalt und Tragweite einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift durch eine autonome Auslegung zu ermitteln, EuG v. 21.4.2004 – Rs. T-172/01 M ./. Gerichtshof, Slg. 2004, II-1075 Rn. 71. 24 S.o. Köndgen, § 7 Rn. 39 ff. Rüdiger Stotz
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3. Teil: Besonderer Teil
jedoch nicht angezeigt. Zu Recht hat der Gerichtshof darauf verwiesen, daß die Begründungserwägungen eines Rechtsakts der Gemeinschaften rechtlich nicht verbindlich sind und nicht zur Rechtfertigung einer Abweichung von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsaktes angeführt werden können.25 Aber selbst dann, wenn kein offensichtlicher Widerspruch zwischen dem Text des Rechtsakts und den Begründungserwägungen vorliegt, ist zu berücksichtigen, das letztere nach ständiger Rechtsprechung nur die „Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, […] zum Ausdruck bringen“.26 Begründungserwägungen können daher nicht den Rechtstext selbst inhaltlich konkretisieren.27 Dieser Maxime wird die Redaktion der Legislativakte nicht immer gerecht und auch der Gerichtshof greift die Problematik mangels entsprechender Rügen bislang nicht auf.28 Im Gegenteil, manche Urteilspassagen erwecken ebenfalls den Eindruck, als stünden Erwägungsgründe und verfügende Bestimmungen eines Rechtsakts auf derselben Stufe. Daß dies nicht so ist, sollten gerade die Urteile deutlich machen. Derartige redaktionelle Ungereimtheiten sind aber bei der Fülle der Verfahren unvermeidbar und auch solange unschädlich, als die Erwägungsgründe nicht qualitativ an die Stelle des Rechtstextes treten. 2.
„Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht
20
Der Gerichtshof betont insoweit in ständiger Rechtsprechung,29 daß das in Art. 234 EG vorgesehene Verfahren auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. In die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallen danach die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens sowie die Anwendung der vom Gerichtshof ausgelegten Gemeinschaftsvorschriften auf nationale Maßnahmen oder Gegebenheiten; ferner obliegt ihm die Prüfung der Erforderlichkeit der Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt.30 Dem Gerichtshof fällt die Aufgabe zu, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und ggf. die Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht mit dem Vertrag zu überprüfen.
21
a) Auch soweit die Aufgaben im Rahmen dieses justiziellen Dialogs den nationalen Gerichten obliegen, sieht sich der Gerichtshof zur Prüfung seiner eigenen Zuständig-
25 EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-162/97 Nilsson u. a., Slg. 1998, I-7477 Rn. 54. 26 Dies allerdings so klar und eindeutig, daß die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, vgl. EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-372/97 Italien ./. Kommission, Slg. 2004, I-3679 Rn. 69. 27 Zur insoweit parallelen Problematik der Protokollerklärungen vgl. EuGH v. 16.10.2003 – Rs. C-363/01 Flughafen Hannover-Langenhagen, Slg. 2003, I-11893 Rn. 51. 28 Vgl. allerdings GA Léger, Schlußanträge v. 27.1.2005 – Rs. C-444/03 Meta Fackler, Slg. 2005, I-3913 Tz. 69-71; dazu EuGH v. 12.5.2005 – Rs. C-444/03 Meta Fackler Slg. 2005, I-3913. 29 Vgl. EuGH v.19.2.2004 – Rs. C-329/01 British Sugar, Slg. 2004, I-1899 Rn. 70 f. 30 Vgl. zuletzt EuGH v. 7.10.2004 – Rs. C-247/02 Sintesi, Slg. 2004, I-9215 Rn. 22.
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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH
keit jedoch befugt, zu untersuchen, ob diese die formalen Mindestvoraussetzungen an eine aus sich heraus verständliche Vorlage erfüllt hat, d.h. den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellten Fragen einfügen, festgelegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert hat,31 auf denen seine Fragen beruhen. Ferner prüft er die Umstände, unter denen er von den nationalen Gerichten angerufen wird, um nicht über offensichtlich konstruierte Rechtsstreite entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben zu müssen, bei denen die begehrte Auslegung des Gemeinschaftsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits steht.32 Berücksicht man, daß auch das Urteil des Gerichtshofs in dem bekannten Fall Heininger, in dem sich der Gerichtshof erstmalig zu dieser Thematik geäußert hat, letztlich hypothetisch war, da eine Beweisaufnahme in letzter Instanz das Fehlen einer Haustürsituation feststellte,33 so wird verständlich, daß der Gerichtshof die Frage der Erheblichkeit der Vorlagefragen jedenfalls dann kritisch hinterfragt, wenn hierzu Anhaltspunkte vorliegen.34 Dies schließt nicht aus, daß der Gerichtshof gelegentlich Vorabentscheidungsersuchen aufgreift, deren Zulässigkeit zwar höchst zweifelhaft ist, die er aber nutzt, um sich aus gegebenem Anlaß zu bestimmten Rechtsfragen zu äußern. Prominentes Beispiel für diese Art von Judikatur ist das Urteil Draehmpaehl,35 in dem der Gerichtshof festgestellt hat, daß die Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG einer innerstaatlichen gesetzlichen Regelung entgegensteht, die für den Schadensersatz, den ein Bewerber verlangen kann, der bei einem Auswahlverfahren aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden ist, im Gegensatz zu sonstigen zivil- und arbeitsrechtlichen Regelungen eine Höchstgrenze von drei Monatsgehältern vorschreibt, wenn nachgewiesen wird, daß der Bewerber anderenfalls die zu besetzende Position erhalten hätte, oder sechs Monatsgehälter, wenn es mehrere Bewerber gibt. Im Ausgangsfall hatte
Vgl. zuletzt EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 – Enirisorse, (noch nicht in Slg.) Rn. 17. EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 89. Vgl. OLG München, WM 2003, 69. Im Fall Schulte, in dem es um die Auslegung der Haustürgeschäfterichtlinie (Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABL. 1985 Nr. L 372/31) im Zusammenhang mit dem Widerruf von Realkreditverträgen zur Finanzierung sog. Schrottimmobilien ging, schlug GA Léger dem Gerichtshof vor, das Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Bochum als hypothetisch und damit unzulässig zu verwerfen, da es das Gericht ausdrücklich offengelassen habe, ob im Ausgangsverfahren tatsächlich eine die Anwendung der Richtlinie rechtfertigende „Haustürsituation“ vorliege; Schlußanträge Tz. 43–47. Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt, sondern hat das Ersuchen für zulässig erklärt; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 44. Wenn die Eheleute Schulte die Darlehnsvaluta sofort vollständig zurückzahlen müßten, könne dahingestellt bleiben, ob die Bausparkasse den Darlehnsvertrag wirksam gekündigt oder die Eheleute Schulte ihre auf Abschluß des Darlehnsvertrags gerichtete Willenserklärung wirksam nach dem HWiG widerrufen hätten. In beiden Fällen wären sie nämlich zur sofortigen vollständigen Rückzahlung der Darlehnsvaluta verpflichtet. 35 EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, Sgl. 1997, I-2195.
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sich ein Arbeitnehmer auf eine an Frauen gerichtete und in einer Tageszeitung veröffentlichten Stellenanzeige beworben, ohne daß das Unternehmen ihm geantwortet oder ihm die eingereichten Unterlagen zurückgesandt hätte. Er rief das Arbeitsgericht Hamburg an und machte geltend, er sei der am besten Qualifizierte und sei diskriminiert worden. Das beklagte Unternehmen trat in keinem Verfahrensstadium vor dem Gericht auf,36 d.h. es erschien weder zum Gütetermin noch ließ es sich auf die anhängige Klage ein. Bemühungen des vorlegenden Gerichts und des Klägers, das Unternehmen zu erreichen, blieben erfolglos. Auch die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem EuGH scheiterte. Sie kam als unzustellbar zurück. Im Anschluß an das Urteil des Gerichtshofs verpflichtete das Arbeitsgericht Hamburg das beklagte Unternehmen im Wege des Versäumnisurteils dazu, dem Kläger wie beantragt einen Betrag in Höhe von dreieinhalb Monatsgehältern zuzusprechen. Nach den vom vorlegenden Gericht übermittelten Angaben wurde das Urteil nicht angefochten.37 Obwohl starke Indizien dafür sprachen, daß es sich hier um einen konstruierten Rechtsstreit handelte, beantwortete der Gerichtshof die gestellten Fragen. Offensichtlich hielt er die Zeit für gekommen, seine Rechtsprechung zur Entschädigung im Fall von Diskriminierung beim Zugang zur Beschäftigung zu konkretisieren.
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Aus derartigen Fällen sollte nicht abgeleitet werden, daß der Gerichtshof die Zulässigkeitskriterien bei Vorabentscheidungsersuchen generell dann besonders großzügig auslegt, wenn die (rechts)politische oder ökonomische Bedeutung der vorgelegten Fragen dies gebietet. Noch gar besteht ein Anspruch Einzelner darauf, daß der Gerichtshof so verfährt. Im Gegenteil, bei weiter wachsender Arbeitsbelastung dürfte der Gerichtshof in Zukunft noch eingehender darauf achten, daß seine Antworten im Ausgangsrechtsstreit auch tatsächlich entscheidungserheblich sind und daß nicht, wie im Fall Heininger, die Aussagen des Gerichtshofs zwar abstrakt zu einer Klärung wichtiger Rechtsfragen führen, für die konkrete Entscheidung des Ausgangsfalls aber irrelevant sind.
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Schließlich betont der Gerichtshof, daß er dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben kann, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen 38 Dementsprechend deutet er derartige Fragen nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht in eine abstrakte Auslegungsfrage um. Gerade weil der Gerichtshof dem nationalen Gericht eine „nützliche“ Antwort geben will, hält er sich bei der Beantwortung der Vorlagefragen nicht sklavisch an deren Wortlaut, sondern formuliert sie je nach Bedarf um, ändert ihre Reihenfolge oder faßt sie zusammen. Dabei präzisiert er ggf. auch die-
36 Vgl. GA Léger, Schlußanträge v. 14.1.1997 – Rs. C-180/95 Dreahmpaehl, Slg. 1997, 2195 Tz. 15. 37 Vgl. die Angaben in den Schlußanträgen des GA Colomer v. 27.1.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Tz. 33. 38 So bereits EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1268; zuletzt EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-265/01 Annie Pansard u.a., Slg. 2003, I-683, Rn. 18.
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jenigen gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, die aber unter Berücksichtigung des Streitgegenstands der Auslegung bedürfen.39 Dieses Vorgehen verdeutlicht, daß der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen vor ihrer Beantwortung sehr sorgfältig aufbereitet und sie ggf. im Hinblick auf die vorgelegte Problematik filtert. Ohne eine solche Steuerung könnte der Gerichtshof seiner Aufgabe, dem vorlegenden Gericht eine nützliche Antwort zu geben, nicht nachkommen. b) Vor diesem Hintergrund wird bereits deutlich, daß die Funktionsteilung, die nach der Rechtsprechung das Vorabentscheidungsverfahren bestimmt – der Gerichtshof ist für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, das nationale Gericht für dessen Anwendung im Einzelfall zuständig –, zwar primärrechtlich in Art. 220 und Art. 234 Abs. 1 EG angelegt ist, sich in der Praxis aber als problematisch erweist. Der ehemalige Präsident des Gerichtshofs, Rodríguez Iglesias, räumt ein, daß für eine effiziente Kooperation zwischen innerstaatlichen Gerichten und Gerichtshof nicht in jedem Fall eine abstrakte Aufgabentrennung möglich ist.40 So könne es Situationen geben, in denen der Gerichtshof zur Herstellung der Rechtssicherheit konkrete Aussagen zu treffen habe, die normalerweise den nationalen Richtern vorbehalten seien.41 Eine jüngst erschienene Studie 42 weist nach, daß die Zuordnung zahlreicher Beurteilungsvorgänge zu Auslegung bzw. Anwendung durch den Gerichtshof alles andere als einheitlich ist. So prüft er in einigen Fällen selbst, ob eine mitgliedstaatliche Maßnahme verhältnismäßig ist,43 in anderen überläßt er die Prüfung dagegen dem nationalen Gericht.44 Ebenso verfährt er bei Fragen, ob ein Betriebsübergang im Sinne von Art. 1 Abs. 1
EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-265/01 Annie Pansard u.a., Slg. 2003, I-683, Rn. 19. Iglesias/Carlos, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten, S. 10. Iglesias/Carlos, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten, S. 8. Siehe hierzu die jüngst erschienene brillante Studie von Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005). 43 Vgl. z.B. EuGH v. 18.5.1993 – Rs. C-126/91 Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361 Rn. 15 ff.; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 44; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-58/98 Corsten, Slg. 2000, I-7919 Rn. 39 f.; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-17/00 De Coster, Slg. 2001, I-9445 Rn. 36 ff.; EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-451/99 Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193 Rn. 47 und 50; EuGH v. 17.9. 2002 – Rs. C-413/99 Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 93. 44 Vgl. z.B. EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 41; und EuGH v. 1.2.2001 – Rs. C-108/96 Mac Quen, Slg. 2001, I-837 Rn. 31 ff. Vgl. ferner EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 Gourmet International Products, Slg. 2001, I-795 Rn. 33 und 41, wo die Verhältnismäßigkeitsprüfung dem nationalen Gericht überlassen wird, da dieses für die hierzu erforderliche Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände besser in der Lage sei als der EuGH (vgl. zur Notwendigkeit, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431 Rn. 67 f.). Mit entgegengesetzter Argumentation – die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme und damit ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht könne nicht von Sachverhaltsfeststellungen der nationalen Gerichte abhängen – prüfte der EuGH in seinem Urteil v. 16.12.1992 – Rs. C-169/91 B&Q, Slg. 1992, I-6635 Rn. 14 die Verhältnismäßigkeit selbst.
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der Betriebsübergangsrichtlinie 77/187/EWG 45 vorliegt 46, ob ein Verhalten irreführend ist 47 oder ob im Rahmen der gemeinschaftlichen Staatshaftung ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann.48
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In diesen Befund scheint sich auch die Rechtsprechung zur Generalklausel der Richtlinie 13/93/EWG über mißbräuchliche Klauseln einzureihen. Hatte der Gerichtshof im Urteil Océano Grupo 49 entschieden, daß eine von einem Gewerbetreibenden vorformulierte Vertragsklausel, die die Zuständigkeit für alle Rechtsstreitigkeiten dem Gericht zuwies, in dessen Bezirk dieser Gewerbetreibende seine Niederlassung hatte, als mißbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie anzusehen sei, so entschied er im Urteil Freiburger Kommunalbauten,50 es sei Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob eine Vertragsklausel wie die des Ausgangsverfahrens 51 die
45 Richtlinie 77/187 des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 Nr. L 61/26, inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 Nr. L 82/16. 46 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. C-144/87 und C-145/87 Berg ./. Besselsen, Slg. 1988, 2559 Rn. 18; EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Schmidt, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17 und 20; Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das nationale Gericht: EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 14; vom 19.5.1992 – Rs. C-29/91 Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189 Rn. 25 und 29; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen, Slg. 1997, I-1259 Rn. 22; EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen u.a., Slg. 1999, I-8643 Rn. 38; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-175/99 Mayeur, Slg. 2000, I-7755 Rn. 55. 47 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 21 ff.; EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-383/97 van der Laan, Slg. 1999, I-731 Rn. 41; EuGH v. 4.4.2000 – Rs. C-465/98 Darbo, Slg. 2000, I-2297 Rn. 33, anders im selben Urteil Rn. 20; Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36 mwN aus der früheren Rechtsprechung; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 30f. 48 Beispiele für die Beurteilung durch den EuGH selbst: EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/93 British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631 Rn. 45; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 53; Beispiel für die Überantwortung der Beurteilung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-302/97 Konle, Slg. 1999, I-3099 Rn. 59. 49 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Groupo Editorial und Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21–24. 50 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 51 Die Klausel verpflichtete die Erwerber eines Stellplatzes (Beklagte) in einem von einer kommunalen Baugesellschaft (Klägerin) zu errichtenden Parkhaus, den Preis für den Stellplatz nach Stellung einer Bürgschaft durch die Baugesellschaft zu zahlen, ohne daß die Klägerin bereits mit den Bauarbeiten begonnen haben mußte. Die Bürgschaft sollte als Ausgleich für die Vorleistungspflicht der Erwerber sämtliche Geldansprüche der Erwerber sichern, die ihnen wegen mangelhafter oder unterlassener Vertragserfüllung durch die Klägerin zustehen, und auch den Fall erfassen, daß die Klägerin in Insolvenz fällt. Der BGH neigte dazu, die Unwirksamkeit der Klausel nach §§ 24a, 9 AGBG zu verneinen, da sie nicht mißbräuchlich
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Kriterien erfüllt, um als mißbräuchlich im Sinne von Art. 3 der Klauselrichtlinie qualifiziert zu werden. Die unterschiedliche Beurteilung rechtfertigte der Gerichtshof damit, daß die Klausel in Océano Grupo ausschließlich und ohne Gegenleistung zugunsten des Gewerbetreibenden vorteilhaft war, weil sie unabhängig vom Vertragstyp die Wirksamkeit des gerichtlichen Schutzes der Rechte in Frage stellte, die die Klauselrichtlinie dem Verbraucher zuerkennt, während die Klausel im Fall Freiburger Kommunalbauten für beide Parteien sowohl vorteilhafte als auch nachteilige Aspekte aufwies. Daher konnte die Mißbräuchlichkeit wie die der streitigen Klausel im Fall Océano Grupo ohne weiteres festgestellt werden, ohne daß die Umstände des Vertragsschlusses im einzelnen zu prüfen waren, während im anderen Fall die mit der streitigen Klausel verbundenen Vor- und Nachteile im Rahmen des auf den Vertrag anwendbaren nationalen Rechts gewürdigt werden mußten. Der Gerichtshof betont, er könne zwar die vom Gemeinschaftsgesetzgeber verwendeten allgemeinen Kriterien zur Definition des Begriffs der mißbräuchlichen Klausel auslegen, sich aber nicht zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel äußern, die anhand der Umstände des konkreten Falles zu prüfen sei. Wo die Grenzlinie zwischen der Definition allgemeiner Kriterien und der Anwendung dieser Kriterien auf den Einzelfall verläuft, bleibt abzuwarten. Wulff-Henning Roth hat sich mit beachtlichen Argumenten für eine restriktive Rolle des Gerichtshofs bei der Konkretisierung von Generalklauseln in Richtlinien ausgesprochen.52 Dagegen setzen andere auf eine wichtige Rolle des Gerichtshofs bei der Fortentwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Mißbrauchskriteriums.53 Das Signal, das das Urteil im Fall Freiburger Kommunalbauten aussendet, geht eindeutig dahin, die nationalen Gerichte sollten die Mißbräuchlichkeit von Vertragsklauseln nach Möglichkeit in eigener Verantwortung prüfen. Es dürfte seine Wirkung schon deshalb nicht verfehlen, weil die Gerichte sich zukünftig wohl nicht sehenden Auges der Gefahr einer Zurückweisung ihrer Vorlage aussetzen werden. Ob die Bemerkung des Generalanwalts Geelhoed, aufgrund des allgemeinen Charakters des Begriffs „mißbräuchlich“ könnten Klauseln, die in einer großen Bandbreite an Formen und Inhalten in Verbraucherverträgen vorkommen, immer wieder Anlaß geben, Vorabentscheidungsfragen vorzulegen,54 den Gerichtshof zu einer in erster Linie prozeßökonomisch vorteilhafteren Lösung veranaßt haben, läßt das Urteil nicht erkennen. Näher liegt, daß der Gerichtshof gerade auf dem Feld der Konkretisierung von Generalklauseln der Gefahr des Dezisionismus vorbeugen wollte.
erscheine, legte die Klausel aber dennoch dem EuGH zur Prüfung nach Art. 3 der Klauselrichtlinie vor, da „die in der Klausel vorgesehene Bürgschaft […] bei einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der Vielfalt der Rechtsordnungen innerhalb der Europäischen Union nicht als ein angemessener Ausgleich für die vom dispositiven Recht abweichende Vorleistungspflicht der Erwerber anzusehen sein [könnte].“ Die Klausel könne deshalb mißbräuchlich sein. 52 W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 140 ff. 53 Vgl. Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. 54 GA Jacobs, Schlußanträge v. 5.7.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. Rüdiger Stotz
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Denn auf anderen Rechtsgebieten ist eine solche Entwicklung längst zu beobachten, etwa bei der Rechtsprechung zur zollrechtlichen Tarifierung, zum Betriebsübergang oder auch zur Gleichbehandlung von Mann und Frau, um nur diese Bereiche zu nennen. Daher verwundert es nicht, daß gerade anläßlich einer Vorlage zur zollrechtlichen Tarifierung Generalanwalt Jacobs die Diskussion darüber eröffnete, welche Fragen im Rahmen des Art. 234 EG sinnvollerweise dem Gerichtshof zur Auslegung vorzulegen seien und welche durch die nationalen Gerichte in eigener Verantwortung entschieden werden sollten.55 Dabei wandte er sich gegen eine immer filigranere Rechtsprechung, mit der nicht die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gefördert werde, sondern die tendenziell zu weniger denn zu mehr Rechtssicherheit führe.56 Vorlagen sollten deshalb dem Gerichtshof nur dann unterbreitet werden, wenn es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung handele und eine einheitliche Auslegung wirklich erforderlich sei.57 Die Kriterien der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung zur Reichweite der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte müßten hierzu angepaßt werden. In einem markenrechtlichen Fall präzisierte er, daß der Gerichtshof zur einheitlichen Anwendung der Richtlinie und der Rechtssicherheit effektiver dadurch beitragen könne, daß er die allgemeinen Kriterien und insbesondere den Maßstab für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr eindeutig festlege, als durch den Erlaß von Entscheidungen, die zu sehr auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls eingehen.58
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Trotz dieser Anregungen 59 hat der Gerichtshof die Gelegenheit bislang nicht genutzt, der Dichotomie – hier Auslegung durch den Gerichtshof, dort Anwendung durch das nationale Gericht – schärfere Konturen zu verleihen. Noch vermeidet er über die C.I.L.F.I.T-Formel hinausgehende Konkretisierungen und entscheidet die Zuordnungsproblematik fallweise, mit den genannten dezisionistischen Folgen. Eine jüngst erschienene Studie von Thomas Groh plädiert mit beachtlichen Argumenten dafür, das Auslegungsbedürfnis der Vorlagefragen kritischer als bisher an den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens zu messen, d.h. (1) ob sie zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts erforderlich sind, (2) ob sie den nationalen Gerichten bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dienen, sofern diese bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen, und (3) ob sie dem Schutz individueller Rechtspositionen förderlich sind, sofern die Vorlage zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt.60 Die Entwicklung hin zu einem dreistufigen Gerichtsaufbau auf europäischer Ebene mit dem Gerichtshof als Verfassungsgericht an der Spitze und die wachsende Arbeitslast werden es jenseits GA Jacobs, Schlußanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495. GA Jacobs, Schlußanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 20f. GA Jacobs, Schlußanträge v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 64. GA Jacobs, Schlußanträge v. 29.10.1998 – Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik, Slg. 1999, I-3821 Tz. 13. 59 Auch andere Generalanwälte haben sich gegen eine zu starke Einzelfallorientierung der Rechtsprechung ausgesprochen, vgl. GA van Gerven, Schlußanträge v. 22.11.1990 – Rs. C-312/89 Conforam u. a., Slg. 1990, I-1007, Tz. 7; GA Gulmann, Schlußanträge v. 29.9.1993, Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb Slg. 1994, I-319, Tz. 9 (Clinique) und GA Fennelly, Schlußanträge v. 16.9.1999, Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-119, Tz. 31. 60 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 118 f. 55 56 57 58
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institutioneller Änderungen zwangsläufig mit sich bringen, daß dieser die Arbeitsteilung mit den nationalen Gerichten neu wird justieren müssen. Möglicherweise ist das Urteil Freiburger Kommunalbauten hierfür ein Vorbote. 3.
Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Eine Auslegungsregel besonderer Art stellt die Forderung des Gerichtshofs dar, nationales Recht so weit wie möglich gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. Diese Regel kommt zum Einsatz, um einen Konflikt zwischen der kommunitären und der nationalen Rechtsordnung im Wege der Auslegung zu verhindern. Ihren Ursprung hat sie in dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz, eine Vorschrift nach Möglichkeit so auszulegen, daß ihre Gültigkeit nicht infrage steht.61 Diese Regel, als verfassungskonforme Auslegung aus dem innerstaatlichen Bereich bekannt und ebenso im Verhältnis des sekundären zum primären Gemeinschaftsrecht anwendbar, liegt auch der Rechtsprechung zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zugrunde.62 Den nationalen Gerichten obliegt es dabei, „das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“ 63 Gelingt dies nicht, wird der Konflikt im Falle unmittelbar wirksamen Gemeinschaftsrechts durch die Vorrangregel entschieden, d.h. die Gerichte dürfen entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden. Aber auch dort, wo die Vorrangregel nicht greift, verpflichtet der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung. Relevant wird dies bei Richtlinienbestimmungen, bei denen entweder nicht alle Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirksamkeit – inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt – vorliegen oder die zwar diese Voraussetzungen erfüllen, eine unmittelbare Wirkung aber dennoch nicht in Betracht kommt, weil die entsprechende Richtlinienbestimmung in einem Rechtsstreit, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, unmittelbar zur Anwendung kommen soll, was der der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bekanntlich zu Recht ablehnt.
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In dem jüngst entschiedenen Fall Pfeiffer 64 hat der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte noch einmal eindringlich daran erinnert, alle im nationalen Recht vorhandenen Auslegungsmethoden zu nutzen, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Konkret fordert er:
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„Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, daß eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet,
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61 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-403/99 Italien ./. Kommission, Slg. 2001, I-6883 Rn. 37. 62 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891; vgl. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff. 63 Vgl. zuletzt EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 64 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff. Rüdiger Stotz
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3. Teil: Besonderer Teil die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“65
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Riesenhuber und Domröse haben daraus nach deutschem Recht die Verpflichtung für das nationale Gericht abgeleitet, für den Fall, daß es dem nationalen Gesetzgeber unbewußt mißlungen sei, die Richtlinienvorgaben korrekt umzusetzen, diesem Mangel ggf. durch eine richtlinienkonforme contra legem-Auslegung des nationalen Rechts abzuhelfen.66 Diese weitreichende Forderung begegnet Bedenken.
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Zunächst dürfte die Unterscheidung zwischen bewußten und unbewußten Fehlern bei der Umsetzung von Richtlinien als Abgrenzungskriterium einer zulässigen contra legem-Auslegung wenig tauglich sein. Betrachtet man als contra legem-Auslegung eine Auslegung jenseits von Wortlaut und dem in den Gesetzesmaterialien verankerten Regelungszweck, so ermächtigt das ganz generelle Ziel des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, den nationalen Richter noch nicht, sich korrigierend über Wortlaut und konkreten Zweck einer Sachregelung hinwegzusetzen.67 Davon abgesehen wird ein Mitgliedstaat realistischerweise nicht eingestehen, Richtlinienvorgaben bewußt fehlerhaft umzusetzen, da er sich mit diesem Eingeständnis einer sicheren Verurteilung durch den Gerichtshof und dem unmittelbaren Risiko nachfolgender Sanktionen (Art. 228 EG) sowie von Staatshaftungsansprüchen aussetzt.68 Hält ein Mitgliedstaat eine Richtlinienbestimmung für primärrechtswidrig, muß er von sich aus den Gerichtshof im Wege der Nichtigkeitsklage anrufen und die Aufhebung der Bestimmung beantragen. An seiner unbedingten Verpflichtung, die aus seiner Sicht fehlerhafte Bestimmung in nationales Recht umzusetzen, ändert dies nichts. Zumindest in der jüngeren deutschen Umsetzungspraxis dürften Fälle des bewußten und offenen Abweichens von Richtlinienbestimmungen nicht mehr anzutreffen sein.69 Dann aber stellt sich die Frage, ob ein auf eine derartige, faktisch nicht feststellbare Intention des Gesetzgebers abstellendes Kriterium zuverlässig Auskunft über die Grenzen von contra legem-Auslegungen geben kann.
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Vor allem aber verlangt das Urteil Pfeiffer vom innerstaatlichen Gericht nicht, sein nationales Recht im Zweifel contra legem auszulegen.70 Der Gerichtshof mahnt in diesem Urteil lediglich in eindringlichen Worten an, das nationale Gericht möge alle ihm zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden zu nutzen, um im Sinne des Richtlinienziels entweder eine Kollision zwischen zwei Normen zu vermeiden 71 oder 65 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. 66 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 ff.; in diesem Sinne auch Roth, oben § 14 Rn. 54ff. 67 So aber Roth, oben § 14 Rn. 59. 68 Der Staatssekretärausschuß für Europafragen der Bundesregierung hat deshalb strikte Regeln zur rechtzeitigen Umsetzung von EU-Richtlinien sowie zur Abstellung von Vertragsverstößen sowie zur Abwendung drohender Sanktionen erlassen. 69 Auch Roth, oben § 14 Rn. 60, räumt ein, daß derartige Fälle in der Praxis „eher selten vorkommen“. 70 A.A. Riesenhuber, Diskussionsbeitrag in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, Grundfragen der Methoden des Europäischen Privatrechts (2006), S. 307. 71 Nicht den Fall der Derogation, wie Riesenhuber und Domröse meinen, Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51.
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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH
zumindest eine Norm teleologisch zu reduzieren. Durch eine Auslegung contra legem wird eine Kollision aber nicht vermieden – beide Normen gelten weiter, ggf. eingeschränkt –, sondern zu Lasten einer der Normen aufgelöst. In welche Richtung die Aussagen des Gerichtshofs zu verstehen sind, ergibt sich aus dem Hinweis in dem Urteil, der Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts betreffe zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Bestimmungen, beschränke sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlange, daß das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtige, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden könne, daß es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führe.72 Handelt es sich beispielsweise bei der im Widerspruch zum Richtlinienziel stehenden nationalen Bestimmung um eine Ausnahmevorschrift, die von einem im nationalen Recht geltenden Grundsatz abweicht, muß das nationale Gericht prüfen, inwieweit diese Ausnahmevorschrift eingeschränkt interpretiert werden kann. Eine contra legem-Auslegung ist damit nicht verbunden.
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Der Gerichtshof selbst hat dies jüngst eindrucksvoll bestätigt: In einem Urteil zur Auslegung des Rahmenbeschlußes 2001/220/JI des Rates vom 15.3.2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren73 hat er wie folgt argumentiert:
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„Die Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften seines nationalen Rechts den Inhalt eines Rahmenbeschlußes heranzuziehen, endet, wenn dieser nicht so angewandt werden kann, daß ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluß angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung nicht zu einer Auslegung contra legem des nationalen Rechts führen. Er verlangt jedoch, daß das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, daß kein dem Rahmenbeschluß widersprechendes Ergebnis erzielt wird.“74
Zwar erging dieses Urteil zu einem auf die dritte Säule gestützten Rahmenbeschluß und nicht zu einer Richtlinie gemäß Art. 249 Abs. 3 EG. Dies ist im vorliegenden Zusammenhang aber nicht relevant. Denn beide Rechtsakte unterscheiden sich lediglich darin, daß der EU-Vertrag in Art. 34 Abs. 2 lit. b die unmittelbare Wirksamkeit von Rahmenbeschlüssen explizit ausschließt, während die Rechtsprechung den Richtlinien nach dem EG-Vertrag diese Eigenschaft unter bestimmten Voraussetzungen zuerkennt. Wo die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung von EG-Richtlinien aber nicht gegeben sind, wie etwa im Bereich der Beziehungen zwischen den Bürgern, sind Rahmenbeschluß und Richtlinie identisch und unterliegen folglich denselben Auslegungsmaximen. Indirekt bestätigt der Gerichtshof mit dieser Entscheidung seine Rechtsprechung zur Ablehnung der horizontalen Wirkung von Richtlinien.75 Davon abgesehen dürfte die contra legem-Auslegung wohl in allen mitgliedstaatlichen
72 73 74 75
EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. ABl. L 82, S. 1. EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 45. Vgl. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24 f.; dieser Rechtsprechung stimmen auch Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48 zu.
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3. Teil: Besonderer Teil
Rechtsordnungen in höchstem Maße problematisch, wenn nicht gar generell unzulässig sein. Das Arbeitsgericht Lörrach hat daher auch in einem der Schlußurteile auf die Rechtssachen Pfeiffer u.a. eine richtlinienkonforme contra legem-Auslegung im Anschluß an das Bundesarbeitsgericht 76 zu Recht abgelehnt.77
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Kommt eine contra legem-Auslegung damit nicht in Betracht, so bleibt noch der vom Gerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung anerkannte Staatshaftungsanspruch, der bekanntlich aus Anlaß einer fehlgeschlagenen horizontalen Richtlinienanwendung kreiert worden ist.78
IV. 40
Die Bedeutung von Präjudizien
Eine bedeutende Rolle nehmen in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs die eigenen Präjudizien ein. Bekanntlich setzt sich der Gerichtshof in seinen Urteilen – sehr zum Leidwesen der rechtslehrenden Zunft – nicht mit der wissenschaftlichen Literatur auseinander. Die Gründe hierfür hat der erste deutsche Richter am Gerichtshof, Otto Riese, wie folgt beschrieben: „Bei seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Gerichtshof selbstverständlich soweit als möglich alle erreichbaren Quellen, setzt sich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur auseinander und nimmt häufig eingehende rechtsvergleichende Studien vor, die freilich zuweilen noch weiter hätten vertieft werden sollen. Dies alles kommt in den Urteilen – im Gegensatz zu den Schlußanträgen der Generalanwälte – nicht zum Ausdruck, da der Gerichtshof sich seit Beginn seiner Tätigkeit dazu entschlossen hat, in den Urteilen auf Zitate zu verzichten, ausgehend von der Ansicht, daß es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sei, zu wissenschaftlichen Diskussionen Stellung zu nehmen, aber auch aus der Erkenntnis, daß in einigen Mitgliedstaaten sehr zahlreiche Publikationen zum neuen europäischen Gemeinschaftsrecht erscheinen, in anderen nur weinige, und daß es dem Gemeinschaftsgefühl abträglich sein könnte, wenn ein Urteil sich nur oder ganz überwiegend auf die Literatur eines der Mitgliedstaaten stützte.“79
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Diese Aussage von Anfang der sechziger Jahre hat noch heute Gültigkeit. Mit Ausnahme von gelegentlichen Referenzen auf die Schlußanträge der Generalanwälte, mit denen der Gerichtshof Mitte der neunziger Jahre eine frühe Praxis wieder aufleben ließ, greift der Gerichtshof in der Begründung seiner Urteile ausschließlich auf seine frühere Rechtsprechung zurück. Nach der Wiedergabe des wesentlichen Parteivortrags und der anwendbaren Rechtsvorschrift zitiert er als Einstieg zu seiner Begründung in aller Regel zunächst die zu der streitigen Rechtsfrage bereits bestehende Rechtsprechung und entwickelt davon ausgehend seine Argumentationslinie. Diese Art der Urteilsbegründung hat interpretationsbegrenzende, teilweise sogar interpretationsersetzende Funktion. Sie begünstigt tendenziell das Denken in Fällen gegenüber dem Denken in allgemeinen Regeln. Die Auslegung anhand der üblichen Methoden
76 77 78 79
BAG, AP Nr. 14 zu § 17 KSchG 1969, unter B.III.4. mwN. ArbG Lörrach v. 15.4.2005 – 5 Ca 146/01, BeckRS 2005 41791, unter II.3. EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1990, I-5357. Riese, Das Sprachproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1963), S. 507, 516.
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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH
wird so gewissermaßen zum Sediment, das über die stetigen Verweise in späteren Entscheidungen kontinuierlich mitgetragen wird. Dieses schrittweise Vorgehen jeweils aufbauend auf vorherigen Urteilen dient der Vorhersehbarkeit, Kohärenz 80 und letztlich Akzeptanz der Rechtsprechung.81 Im Unterschied zum U.S. Supreme Court 82 hat der Gerichtshof die Existenz einer stare decisis Regel niemals anerkannt. Dennoch sind Fälle, in denen der Gerichtshof offen von seiner früheren Rechtsprechung abweicht, äußerst rar. Das ist nicht auf Mangel an Gelegenheit zurückzuführen. Der Gerichtshof steht bisweilen durchaus vor der Frage, ob er, statt einer einmal eingeschlagenen, sich mittlerweile als aber problematisch erweisenden Rechtsprechung weiterhin zu folgen, sich nicht besser offen von dieser distanziert, insbesondere wenn mehrere Generalanwälte ihm dies überzeugend nahelegen.83 Hält der Gerichtshof dennoch an seiner Rechtsprechung fest, so dürfte dies für ihn mehr noch als eine Frage der Rechtssicherheit eine Frage der eigenen Glaubwürdigkeit sein. Jedenfalls stellt ein Overruling heute keine Existenzfrage der Gemeinschaft mehr dar. Der Gerichtshof ist fest etabliert und genießt hohes Renommee. Ein sorgfältig begründetes Abweichen von früherer Rechtsprechung kann auch vom souveränen und lebendigen Umgang mit dem Recht zeugen.
V.
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Ausblick
Ein Blick in die Zukunft: Die größte Herausforderung für den Gerichtshof dürfte darin bestehen, angesichts komplexer werdender Sachverhalte und Rechtsnormen die Qualität seiner Rechtsprechung zu wahren. Hierzu müssen die Aufgaben zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens partiell neu justiert werden. Ferner wird er nicht umhin kommen, wie auch der Gesetzgeber, die ökonomischen und administrativen Folgen seines Handelns stärker als bisher ins Kalkül zu ziehen. Das wäre ein konkreter Beitrag zur Stärkung der Subsidiarität.
80 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 180 f. 81 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 227. 82 Vgl. Supreme Court of the United States v. 29.6.1992 Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, No. 91-744, 505 U.S. 833 (1992), Docket Number 91-744. 83 Vgl. etwa die Rechtssachen, in denen der Gerichtshof gegen die überzeugenden Stellungnahmen mehrerer Generalanwälte daran festgehalten hat, auch auf solche Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, in denen die Gemeinschaftsvorschriften, deren Auslegung begehrt wurde, nur aufgrund einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung anwendbar waren, vgl. u.a. EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763 Rn. 37; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28; sowie die entsprechenden Schlußanträge; seither st. Rspr., vgl. zuletzt EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-300/01 Salzmann, Slg. 2003, I-4899 Rn. 34; EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-222/01 British American Tobacco Manufacturing, Slg. 2004, I-4683 Rn. 40. Rüdiger Stotz
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Rn. 1–9 1–3 4–6 7–9
II. Auslegungskompetenz des BGH . . . . . . . . . . . . . . 1. Auslegungsmonopol des EuGH . . . . . . . . . . . . . a) Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . b) Anwendung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . 2. Vorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidungserhebliche Fragen . . . . . . . . . . . b) Vorlagezeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorlageberechtigte Gerichte . . . . . . . . . . . . . . d) Vorlageermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlagepflicht des BGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG . . . a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . aa) Klärung durch den EuGH . . . . . . . . . . . . bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EG-Rechts . cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . 4. Vorlageverfahren vor dem BGH . . . . . . . . . . . . . a) Form und Anlaß der Vorlage . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt des Vorlagebeschlusses . . . . . . . . . . . . . aa) Tenor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Praxis des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Technische Abwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH . . . . . . . . . . . . a) Schriftliches Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . b) Mündliche Verhandlung . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteil des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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10–52 10–14 10–12 13–14 15–23 15–16 17–19 20–22 23 24–38 24–26 27–35 28–29 30–32 33–35 36–38 39–47 39–40 41–46 41 42–45 46 47 48–52 48–49 50 51–52
III. Auslegungssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen . . . . . . . . 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts a) Primäres Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . b) Verordnungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . .
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53–97 53–55 56–57 58–69 58–59 60–66 60–63
I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch den BGH 1. Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
4.
5. 6.
7.
bb) Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Richtlinien und Rahmenbeschlüsse . . . . . . . . . . . . Anwendung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . . . a) Umsetzungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften . . . . . . . . . aa) EG-konformeAuslegung . . . . . . . . . . . . . . . bb) Überschießende Umsetzung . . . . . . . . . . . . . c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln . . . . . Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften Haftung für verspätete Umsetzung von EG-Recht . . . . . a) EG-rechtliche Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Amtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überbrückung von Umsetzungsdefiziten . . . . . . . . . . a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten . . . . . . b) Überbrückung durch Rechtsprechung . . . . . . . . . .
IV. Auslegungsmethoden . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . 2. Wortlautauslegung . . . 3. Systematische Auslegung 4. Historische Auslegung . 5. Teleologische Auslegung
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. 98–106 . 98 . 99 . 100–102 . 103 . 104–106
V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64–66 67–69 70–85 70–74 75–82 75–77 78–82 83–85 86–87 88–92 88–90 91–92 93–97 93–95 96–97
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Literatur: Basedow, Jürgen, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Brandner, Köln 1996, 651–681; Brück, Michael, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, Frankfurt am Main 2001; Colneric, Ninon, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, 225–233; Heymann, Ekkehardt von/Annertzok, Karen, Zur Bindung der Rechtsprechung an nationale Gesetze und EG Richtlinien, BKR 2002, 234–235; Hommelhoff, Peter, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris/Andreas Heldrich/Klaus J. Hopt/Claus Roxin/Karsten Schmidt/Gunter Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band II., München 2000, 889–925; Kokott, Juliane/Hense, Thomas/Sobotta, Christoph, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633–641; Piekenbrock, Andreas/Schulze, Götz, Die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung – autonomes Richterrecht oder horizontale Direktwirkung, WM 2002, 521–529; Pfeiffer, Thomas, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht, StudZR 2004, 171–194; Remien, Oliver, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; Riesenhuber, Karl/Domröse, Ronny, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a. –, RIW 2005, 47–54; Roth, Wulf-Henning, Die Europäisierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in: Barbara Dauner-Lieb/Karsten Schmidt/Horst Konzen, Das neue Schuldrecht in der Praxis, Köln/Berlin/ Bonn/München 2003, 25–39; Schöndorf-Haubold, Bettina, Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EG-Recht durch nationale Gerichte, JuS 2006, 112–115; Schulze, Reiner (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, Baden-Baden 1999; Schlachter, Monika, Richtlinienkonforme Rechtsfindung – ein neues Stadium im Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und den nationalen Gerichten – Besprechung des Urteils EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, RdA 2005, 116–120; Solar, Natascha, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, Berlin 2004; Thume, Matthias/Edelmann, Hervé, Keine Pflicht zur systemwidrigen richtlinienkonformen Rechtsfortbildung – zugleich eine Bespre-
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3. Teil: Besonderer Teil chung der Urteile des EuGH vom 25.10.2005 in den Rechtssachen C-229/04 („Crailsheimer Volksbank“) und C-350/03 („Schulte“), BKR 2005, 477–487. Rechtsprechung: EuGH v. 27.6.2000 – Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 5.10.2004 – verb.Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215; EuGH v. 22.11. 2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981.
I.
Mögliche Gegenstände der Auslegung durch den BGH
1.
Zivilrecht
1
Als oberster Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit hat der BGH in erster Linie Vorschriften des Zivilprozeßrechts, des materiellen Zivil- und Handelsrechts und des Strafrechts anzuwenden. Dazu gehören in inzwischen nicht unbeträchtlichem, allerdings gebietsweise unterschiedlichem Umfang auch unmittelbar geltende EGRechtsnormen. Das sind neben einigen Vorschriften des Primärrechts vor allem Normen des Verordnungsrechts.
2
Gelegenheit zur Anwendung von EG-Recht findet der BGH aber nicht nur hier. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des deutschen Zivilprozeßrechts und des materiellen deutschen Zivil- und Handelsrechts ist nämlich inzwischen durch Richtlinien inhaltlich mehr oder weniger weitgehend vorbestimmt. Die EG-rechtliche Durchdringung dieser Bereiche des deutschen Rechts ist unterschiedlich stark. Die Rechtsetzung der EG folgt dabei, was oft übersehen wird, nicht der Systematik der Zivilrechtskodifikationen der Mitgliedstaaten. Die EU hat nämlich, anders als z.B. der Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, keine umfassende Rechtsetzungskompetenz für das bürgerliche Recht und das Verfahrensrecht der Gerichte. Die Kompetenzen des EG-Gesetzgebers sind vielmehr nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung an den Zielen des Vertrags und den zu verwirklichenden Freiheiten ausgerichtet. Es sind Querschnittskompetenzen, die sich an der Erreichung des Ziels ausrichten und dazu alle Normbereiche des nationalen Rechts erfassen, die bei der Durchsetzung der Vertragsziele und der Freiheiten berührt werden, aber gleichzeitig alle Teile desselben Normbereichs ausblenden, die keinen Bezug hierzu haben.1 Das nationale Zivilrecht der Mitgliedstaaten wird deshalb von der Natur der Kompetenzen her nur im Bereich der Vertragsziele und -freiheiten EG-rechtlich vorbestimmt, auch wenn es vielleicht aus der Sicht des nationalen Rechts zweckmäßig wäre, andere Bereiche abzudecken.
3
Die EG-rechtlich vorbestimmten Bereiche des deutschen Zivilprozeß-, Zivil- und Handelsrechts sind vor allem: das internationale Zivilprozeß- und Insolvenzrecht, das Gesellschaftsrecht, das Recht der gewerblichen Schutzrechte und das Urheberrecht, das Handelsvertreterrecht, das Verbraucherschutzrecht und das Arbeitsrecht, das aber weitgehend von der Rechtsprechung des BAG und nicht des BGH abgedeckt wird. 1 Dazu: Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 132 ff.; Streinz-Leible, Art. 95 EGV Rn. 4.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
2.
Strafrecht
Das Strafrecht der Mitgliedstaaten der EG ist sehr heterogen und deshalb bislang in seinem Kernbestand noch nicht so tief EG-rechtlich vorbestimmt wie das Zivilrecht. Das bedeutet aber nicht, daß das Strafrecht einer solchen Durchdringung von vornherein entzogen wäre. Die Querschnittskompetenzen der EG erfassen auf ihrem Sektor alle Rechtsgebiete ohne Ausnahme, auch das Strafrecht.
4
Bislang hat die EG aber meist davon abgesehen, den Mitgliedstaaten speziell strafrechtliche Sanktionen vorzugeben, sondern ihnen die Wahl der Sanktion, oft auch das Durchsetzungsmittel überhaupt, freigestellt. Deshalb besteht meist kein EGrechtlicher Zwang zur Umsetzung in Form von Strafrechtsnormen, der aber entgegen verbreiteter Ansicht möglich wäre.2 Allerdings müssen auch Tatbestände von Strafrechtsnormen bisweilen unter Rückgriff auf Normen anderer Rechtsgebiete ausgefüllt werden. Soweit diese EG-rechtlich geregelt oder vorbestimmt sind, muß ggf. auch bei der Anwendung von Strafrechtsnormen EG-Recht angewendet werden. Bislang ist das meist auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts der Fall.
5
Eine solche Notwendigkeit kann aber auch bei den Normen des StGB auftreten. Beispiele sind das Steuer- und Umweltstrafrecht 3 oder § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, den der BGH unter Rückgriff auf Art. 72 ff. Börsenrechtsrichtlinie 4 und Kommentare der Kommission 5 auslegte.6 Neben der Ausfüllung von Straftatbeständen durch das Gemeinschaftsrecht ergibt sich bisweilen auch die Notwendigkeit, nationale Strafnormen EG-rechtskonform einzuschränken.7 Es ist zu erwarten, daß das EG-Recht nicht nur das Strafverfahrensrecht 8 weiter durchdringen wird.
6
2 EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 Kommission./.Rat, Slg. 2005, I-7879 Rn. 48. 3 Vgl. etwa BGHSt 43, 219, 224 ff.; 37, 168, 174 ff. 4 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 Nr. L 184/1. 5 Kommentare zu bestimmten Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 sowie zur Siebenten Richtlinie 83/349/EWG v. 13.6.1983 über Rechnungslegung vom November 2003, unveröffentlicht, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/docs/ias/ 200311-comments/ias/200311-comments_de.pdf. 6 BGHSt 49, 381, 389. 7 BGH, NJW 2003, 2842, 2843. 8 Daran ändert auch die Erklärung des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses zum europäischen Haftbefehl für nichtig durch das BVerfG, NJW 2005, 2289, nichts. Vorbehalte gegenüber dem Gemeinschaftsrecht hat das BVerfG in seiner Entscheidung nicht gemacht. Ein Beispiel ist der Rahmenbeschluß 2005/214/JI des Rates v. 24.2.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl. 2005 Nr. L 76/16. Jürgen Schmidt-Räntsch
555
3. Teil: Besonderer Teil
3.
Öffentliches Recht
7
Der weit überwiegende Bestand der Normen des EG-Rechts ist aber aus deutscher Sicht dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Fragen der Anwendung und Auslegung solcher EG-Rechtsnormen stellen sich deshalb in erster Linie nicht dem BGH, sondern den für das öffentliche Recht zuständigen obersten Gerichtshöfen des Bundes, dem BVerwG, dem BFH und dem BSG.
8
Das bedeutet aber nicht, daß solche EG-Rechtsnormen in der Rechtsprechung des BGH keine Rolle spielten. Wichtige Teilbereiche des öffentlichen Rechts sind nämlich dem BGH gesetzlich zugewiesen: das sind vor allem das Kartellrecht, das Vergaberecht, die Überprüfung der Entscheidungen des BPMA und das Berufsrecht der Rechtsanwälte und Notare. Die ersten drei Bereiche sind sehr stark, der vierte Bereich schon merklich EG-rechtlich durchdrungen.
9
Der BGH muß sich auch außerhalb solcher Rechtswegzuweisungen mit deutschem öffentlichem Recht und damit auch mit Verordnungen oder mit den das deutsche öffentliche Recht vorbestimmenden EG-Rechtsnormen befassen. Das ist beim Amtshaftungs- und Wettbewerbs- und auch im Strafrecht der Fall. Amtshaftungsfälle, Straftaten und Wettbewerbsverstöße können sich auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Rechts ereignen. Dementsprechend lassen sich die Gebiete des öffentlichen Rechts, mit denen der BGH auf diesen Wegen befaßt wird, nicht thematisch eingrenzen.
II.
Auslegungskompetenz des BGH
1.
Auslegungsmonopol des EuGH
a)
Auslegung des Gemeinschaftsrechts
10
Dieses thematisch breit angelegte Spektrum von Fallgestaltungen, die der BGH unter unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung und Auslegung von EG-Recht zu lösen hat, gibt inhaltlich vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung methodischer Grundsätze zur Anwendung und Auslegung des EG-Rechts. Diese kann der BGH aber nur in eingeschränktem Umfang nutzen.
11
Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist nach Art. 234 Abs. 1 EG Sache des EuGH. Ihm allein steht es zu, den Vertrag und das Sekundärrecht auszulegen und die Gültigkeit 9 von Handlungen der Organe zu überprüfen. Handlungen der Organe sind im vorliegenden Kontext vor allem die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung 10 (des Rates oder der Kommission) und, nach Maßgabe von Art. 35 EU, auch der Rahmenbeschluß 11 nach Art. 34 EU. Könnten die Mitgliedstaaten über den Inhalt des
9 Z.B. BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Omeprazol. 10 Z.B. BGHZ 146, 153, 160. 11 Zu dessen Wirkungen: EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 EuZW 2005, 433, 434; Adam, EuZW 2005, 558, 560.
556
Jürgen Schmidt-Räntsch
§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
Vertrages und des Gemeinschaftsrechts und über die Gültigkeit der Gemeinschaftsrechtsakte entscheiden, würde das die Durchsetzungskraft des Gemeinschaftsrechts entscheidend schwächen. Es bestünde nämlich die Gefahr, daß das Gemeinschaftsrecht in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich verstanden und auch die Gültigkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht dort unterschiedlich bewertet wird. Das läßt sich nur vermeiden, wenn die Kompetenz hierfür ausschließlich einem Gemeinschaftsorgan, nämlich dem EuGH, übertragen wird. Seine Auslegungskompetenz könnte der EuGH nicht wahrnehmen, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verpflichtung hätten, Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten dem EuGH vorzulegen. Das ist der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 2 und 3 EG. b)
12
Anwendung des Gemeinschaftsrechts
Von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist seine Anwendung auf den konkreten Einzelfall zu unterscheiden.12 Diese Unterscheidung hat der EuGH im Fall Freiburger Kommunalbauten 13 noch einmal herausgearbeitet. In jenem Fall hatte der VII. Zivilsenat des BGH dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das Klauselwerk einer Bürgschaft nach der MaBV mit der Klauselrichtlinie in Übereinstimmung steht.14 Diese Vorlage hat der EuGH als unzulässig zurückgewiesen. Er hat dabei in Abgrenzung zu seiner Océano-Entscheidung 15 entschieden, daß es bei der Auslegung des Rechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, wie im nationalen Recht, im wesentlichen darum geht, die für die Subsumtion eines Einzelfalls unter das Gesetz erforderlichen Obersätze und ihren Inhalt festzustellen. Ob aber im Einzelfall die Erfordernisse des so konkretisierten EG-Rechts erfüllt sind oder nicht, sei, so der EuGH,16 nicht mehr eine Frage der Auslegung des EG-Rechts, sondern seiner Anwendung auf den Einzelfall, die den Gerichten der Mitgliedstaaten obliege.
13
Weitere Beispiele hierfür sind die Anwendung des EuGVÜ bzw. der Brüssel-I-VO 17, des Marken- und Sortenschutzrechts 18 oder des Arznei- und Lebensmittelrechts 19 im konkreten Einzelfall oder die Prüfung von Mietvertragsklauseln in der Form von AGB.20
14
12 13 14 15 16 17 18 19
Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 32. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. BGH, BGH-Report 2002, 835, 836. EuGH v. 27.6.2000 – verb.Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21–24. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. BGH, NJW 2006, 230; GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet. BGH, BGH-Report 2005, 446, 447 – Maglite; BGHZ 139, 59, 63 f. – Fläminger; GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II; GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III. BGH, BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet, mwN zur Rechtsprechung des EuGH.
Jürgen Schmidt-Räntsch
557
3. Teil: Besonderer Teil
2.
Vorlagerecht
a)
Entscheidungserhebliche Fragen
15
Fragen der Auslegung des EG-Rechts können die Gerichte der Mitgliedstaaten nach Art. 234 Abs. 2 EG dem EuGH vorlegen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Aus welchen Gründen das der Fall ist, ist ohne Bedeutung. Die Entscheidungserheblichkeit kann sich schon daraus ergeben, daß es sich um eine unmittelbar anwendbare Verordnung handelt. Sie kann auch daraus folgen, daß eine nationale Vorschrift zur Umsetzung einer Richtlinie oder eine nicht speziell zur Umsetzung von EG-Recht geschaffene, dazu aber auch dienende allgemeine nationale Vorschrift unter Rückgriff auf die Richtlinie EG-konform auszulegen oder durch EG-Recht auszufüllen und zu diesem Zweck festzustellen ist, welche inhaltlichen Vorgaben das EG-Recht hierfür macht.
16
Bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit steht dem nationalen Richter ein Ermessen zu. Der EuGH prüft nicht, ob der vorlegende Richter die Erheblichkeit der ihm gestellten Frage nach dem nationalen Recht zutreffend angenomment hat.21 Die Grenzen des Ermessens sind aber erreicht, wenn die Erheblichkeit der dem EuGH vorgelegten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits aus dem Vorlagebeschluß nicht mehr erkennbar wird oder die dem EuGH vorgelegte Frage nur hypothetischen Charakter hat.22 Unerheblich ist etwa die Frage nach den Grenzen des Anwendungsbereichs einer Richtlinie dann, wenn der nationale Gesetzgeber über die Richtlinie hinausgehen kann.23 b)
Vorlagezeitpunkt
17
Art. 234 Abs. 2 EG schreibt nicht vor, wann der nationale Richter das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten hat. Der EuGH verlangt aber, daß der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen so weit geklärt sind, daß der Gerichtshof sich über alle Tatsachen- und Rechtsfragen unterrichten kann, auf die es bei der von ihm vorzunehmenden Auslegung des Gemeinschaftsrechts möglicherweise ankommt.24
18
Auch dabei hat der nationale Richter einen Beurteilungsspielraum, den er aber überschreitet, wenn im Zeitpunkt der Vorlage nicht absehbar ist, daß und weshalb es auf
21 Streinz-Ehricke, Art. 234 Rn. 34; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht (2. Aufl. 2002), Rn. 791 jeweils mwN. 22 EuGH v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099 Rn. 39; EuGH v. 17.5. 2001 – Rs. C-340/99 TNT Traco, Slg. 2001, I-4109 Rn. 31; EuGH v. 6.12.2001 – Rs. C-472/99 Clean Car Autoservice, Slg. 2001, I-9687 Rn. 14; in der Sache Mangold hat der EuGH ein objektives Bedürfnis zur Klärung der angesprochenen Fragen ausreichen lassen: EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 38. 23 BGH, NJW 2005, 53, 55 für Versteigerung nach § 312d Abs. 4 BGB; BGHSt 43, 219, 226 ff. für Umweltstrafrecht. 24 Nr. 19 der Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 Nr. C 143/1.
558
Jürgen Schmidt-Räntsch
§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
die Frage ankommt.25 Fehlt es an der Sachaufklärung, ist sie vor einer Vorlage an den EuGH nachzuholen.26 Wenn aber die Ermittlungen eine sachgerechte Beantwortung der Vorlagefrage erlauben, prüft der EuGH nicht nach, ob sich nach nationalem Recht oder nach dem Vortrag der Parteien eine Lösung ohne Beantwortung der Frage finden ließe. Dabei läßt sich nicht immer ausschließen, daß der EuGH eine Frage zur Auslegung des EG-Rechts beantwortet, obwohl dies ex post betrachtet nicht notwendig gewesen wäre. Ein Beispiel hierfür ist das Vorabentscheidungsersuchen des BGH im Fall Heininger zur Reichweite der Haustürwiderrufsrichtlinie 27, in dem sich nach der Entscheidung des EuGH28 und der Aufhebung des Berufungsurteils durch den BGH 29 ergab, daß es an einer Haustürsituation im Sinne der Richtlinie 30 fehlte.31 c)
19
Vorlageberechtigte Gerichte
Vorlageberechtigt ist jedes Gericht. Es kommt nicht darauf an, welchem Gerichtszweig es angehört. Unerheblich ist, ob es sich um ein erstinstanzliches, ein Berufungsoder ein Revisionsgericht handelt. Ohne Bedeutung ist auch, welcher Spruchkörper in dem Gericht zu entscheiden hat, ob es sich um einen allein entscheidenden Amtsrichter, einen Einzelrichter, eine Kammer oder einen Senat handelt. Ein zur Entscheidung berufener Einzelrichter müßte allerdings prüfen, ob das Erfordernis eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH die Sache nicht als rechtlich schwierig oder von grundsätzlicher Bedeutung erscheinen läßt. Er müßte dann vor einem Vorabentscheidungsersuchen die Sache der Kammer vorlegen, die dann ihrerseits den EuGH ersuchen müßte.
20
Unterbleibt eine Vorlage an die Kammer, dann bleibt das Ersuchen des Einzelrichters an den EuGH wirksam. Das hat der BGH für die Zulassung eines Einzelrichters wegen grundsätzlicher Bedeutung entschieden.32 Bei nationalen Verfahren wäre die Entscheidung aber wegen Verstoßes gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter aufzuheben und an das Vordergericht zurückzuverweisen.33 Diese Möglichkeit besteht bei einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nicht. Dieser prüft vielmehr nicht, ob der nationale Richter nach den nationalen Vorschriften zuständig war. Ent-
21
25 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke, Slg. 1992, I-4871 Rn. 23, 26, 29. 26 Z.B. BGH, NJW 1999, 3261, 3263; GRUR 2006, 405, 407 – Aufbereiter II: Zurückverweisung mit der Maßgabe, nach Aufklärung selbst vorzulegen. 27 BGH, NJW 2000, 521. 28 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 29 BGHZ 150, 248, 251. 30 Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1986 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1986 Nr. L 372/31 ist strenger als § 312 BGB, wonach der Vertrag nicht in der Haustürsituation geschlossen, sondern nur durch diese bestimmt werden muß: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA; AnwaltKommBGB-Ring (2005), § 312 BGB Rn. 2. 31 OLG München, WM 2003, 69 f. 32 BGHZ 154, 200, 201. 33 BGHZ 154, 200, 202. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
scheidend für ihn ist nur, daß ein wirksames Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vorliegt. Die Frage der Vorlage an die Kammer oder den Senat wird der Einzelrichter deshalb erst nach Rückkehr der Sache zu entscheiden haben.
22
Dabei ist nicht auszuschließen, daß die Sache nach Klärung durch den EuGH ihre rechtlichen Schwierigkeiten oder ihre grundsätzliche Bedeutung verloren hat, was in entsprechender Anwendung von den §§ 348a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 und 526 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO sowohl bei einer originären Einzelrichterzuständigkeit nach § 348 ZPO als auch bei der Übertragung nach den §§ 348a, 526 ZPO möglich sein sollte.34 d)
23
Vorlageermessen
Das nationale Gericht ist nach Art. 234 Abs. 2 EG grundsätzlich nicht verpflichtet, vorzulegen. Es kann die EG-rechtliche Vorfrage auch selbst entscheiden und die Anrufung des EuGH dem Berufungs- oder Revisionsverfahren überlassen. Bei der Ausübung des Ermessens sollte allerdings der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigt werden. Es soll in erster Linie divergierende Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten über den Inhalt des Gemeinschaftsrechts vermeiden. Deshalb sollte auch der nicht zur Vorlage verpflichtete Richter von einer Vorlage nur absehen, wenn ein zur Vorlage verpflichteter Richter dazu nicht verpflichtet wäre,35 also nur, wenn der Inhalt des EG-Rechts offenkundig oder anhand der gefestigten Rechtsprechung zu ermitteln ist.36 3.
Vorlagepflicht des BGH gemäß Art. 234 Abs. 3 EG
a)
Grundsatz
24
Vorlagepflichtig sind nach Art. 234 Abs. 3 EG Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmitteln nach dem innerstaatlichen Recht nicht mehr angefochten werden können. Das sind in erster Linie die obersten Gerichtshöfe des Bundes und damit auch der BGH. Dazu gehören aber auch andere Gerichte, wenn sie Entscheidungen erlassen, gegen die förmliche Rechtsmittel wie die Berufung oder Revision, die Beschwerde die Rechtsbeschwerde oder die Nichtzulassungsbeschwerde 37 nicht gegeben sind.
25
Das ist etwa bei Urteilen der Amtsgerichte ohne Berufungszulassung mit einem Streitwert bis zu 600 € und Berufungsurteilen der Landgerichte ohne Revisionszulassung in vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis zu 20.000 € der Fall. Denn hier ist nach § 26 Nr. 8 EGZPO eine Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen, so daß ein solches Urteil nicht mehr angefochten werden kann. Entsprechendes gilt nach § 574 Abs. 1 ZPO für Beschwerdeentscheidungen, die die Rechtsbeschwerde nicht zulassen.
34 Ein Grund, die Revision zuzulassen, entfiele in dieser Lage: BGH, NJW 2004, 3188; NJW 2005, 154; Ausnahme: Die Beschwerde war vor dem Wegfall des Zulassungsgrundes eingegangen und wäre in der Sache erfolgreich. 35 Davon gehen BGH, NJW 1999, 3261, 3263 und wohl auch BGHSt 37, 168, 175 aus. 36 In diesem Sinne wohl BVerwG, NVwZ 2005, 598, 601. 37 Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht (2. Aufl. 2002), Rn. 798.
560
Jürgen Schmidt-Räntsch
§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
Auch sie können nicht mehr angegriffen werden, es sei denn, daß die Rechtsbeschwerde ausnahmsweise kraft Gesetzes statthaft ist. Diese Gerichte haben anders als sonst nur die Wahl zwischen einer Vorlage an den EuGH und einer Zulassung des möglichen Rechtsmittels. Kommt eine Vorlage ernstlich in Betracht, ist das Rechtsmittel zuzulassen.38 Bislang hatte der BGH nicht zu entscheiden, ob die Zulassung unter dem Gesichtspunkt der grundsätzlichen Bedeutung oder unter dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu erfolgen hat. Dem Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens entspricht der erste Ansatz.39 Die Zulassung eines Rechtsmittels aus dem Gesichtspunkt der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung scheidet zwar nicht bei allen Rechtsmitteln,40 wohl aber bei der Zulassung der Revision aus, wenn sich die Entscheidung aus anderen Gründen als richtig darstellt.41 Dann aber bliebe eine u.U. fehlerhafte Auslegung des EG-Rechts gewissermaßen „stehen“, ohne daß der EuGH Gelegenheit hätte, sie zu korrigieren. Das entspricht nicht dem Ziel von Art. 234 EG. b)
Ausnahmen von der Vorlagepflicht
Die nach Wortlaut und Zweck des Art. 234 Abs. 3 EG an sich unbeschränkte Pflicht zur Vorlage kennt allerdings doch einige Ausnahmen. aa)
26
27
Klärung durch den EuGH
Eine Vorlage ist nicht erforderlich, wenn die anstehenden Fragen durch den EuGH bereits geklärt sind. Dann hat das Vorabentscheidungsverfahren nämlich seinen Zweck erreicht. Zu einer solchen wiederholten Anfrage kann es, außer bei einem Versehen des nationalen Gerichts, vor allem dann kommen, wenn das nationale Gericht nicht weiß, daß der EuGH mit der von ihm gestellten Frage bereits befaßt ist. Um das zu vermeiden, werden die Vorabentscheidungsersuchen der nationalen Gerichte und die von ihnen vorgelegten Fragen im Teil C des Amtsblatts der EU veröffentlicht. Allerdings geht der Sachverhalt, der dem Ersuchen zugrunde liegt, aus dem Veröffentlichungstext nicht hervor, so daß das nationale Gerichte nicht ohne weiteres beurteilen kann, ob das dem EuGH vorliegende Vorabentscheidungsersuchen alle Aspekte des zu entscheidenden Falls abdeckt. Das kann, wenn auch nicht beim BGH, zu Doppelvorlagen führen.
28
Vergleichbare Schwierigkeiten können sich auch bei der Zulassung der Revision zum BGH ergeben. Unnötige mehrfache Revisionsverfahren 42 lassen sich hier mit einer
29
38 BGH, LRE 46, 279. 39 Zweifelnd Streinz-Ehricke, Art. 234 EGV Rn. 48; in dem hier vorgeschlagenen Sinne aber Ehricke, ibid. Rn. 49 f., und für § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO: BVerwG, Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 7. 40 Nicht bei der Rechtsbeschwerde, BGH, NJW 2004, 367, 368. 41 BGH, NJW 2002, 3180, 3181; NJW 2003, 831; NJW 2003, 3205, 3206. 42 BT-Drs. 15/3482, S. 18 f. Jürgen Schmidt-Räntsch
561
3. Teil: Besonderer Teil
vereinfachten Zurückweisung durch Beschluß nach § 552a ZPO vermeiden. Oft ist es aber nicht das nationale Gericht, das ein unzulässiges Vorabentscheidungsersuchen stellt, sondern ein Verfahrensbeteiligter, der ein solches Ersuchen anregt, ohne zu wissen oder zu beachten, daß der EuGH die Frage bereits entschieden hat. Dann weist das Gericht die Anregung, meist im Urteil, unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EuGH zurück. bb)
Offenkundigkeit der Auslegung des EG-Rechts
30
Wie das nationale Recht ist auch das EG-Recht nicht immer auslegungsbedürftig. Es gibt auch im EG-Recht zahlreiche Vorschriften, deren Inhalt sich ohne weiteres erschließt. Solche Fragen können die nationalen Gerichte selbst entscheiden, ohne daß eine Schwächung des EG-Rechts durch widersprüchliche Auslegungen der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu befürchten ist.
31
Deshalb ist eine Vorlage nach ständiger Rechtsprechung des EuGH entbehrlich, wenn die Auslegung des EG-Rechts offenkundig ist. Offenkundig ist die Auslegung dann, wenn keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und der EuGH auch keine Zweifel an dem Auslegungsergebnis haben würden.43 Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH sind die Anforderungen an eine verdeckte Sacheinlage,44 die Eignung eines Zahlwortes als Marke 45, der Begriff des Reisenden in der Pauschalreiserichtlinie 46, das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht und Wettbewerbsrecht 47 oder die Anforderungen an die internationale Zuständigkeit für Unterlassungs-48 oder Klagen aus Verbraucherwerkverträgen 49.
32
Offenkundig ist eine Auslegung nach dem Verständnis des BGH nicht nur, wenn sie keiner weiteren Erklärung bedarf. Es genügt vielmehr, was aber regelmäßig nicht ausdrücklich ausgeführt wird, wenn das Auslegungsergebnis ohne Schwierigkeiten aus dem Gemeinschaftsrecht entwickelt werden kann.50 cc)
33
Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH
Zwischen den beiden vorgenannten Fallgruppen liegt ein Fall, der in der Praxis häufig vorkommt: Der Fall vor dem nationalen Gericht wirft eine Frage der Anwendung und Auslegung des EG-Rechts auf, die der EuGH zwar noch nicht exakt in dieser Form entschieden hat, die sich aber anhand der Rechtsprechung des EuGH ohne wei-
43 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16; Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 67; Streinz-Ehricke, Art. 234 EGV Rn. 44. 44 BGHZ 110, 47, 69 ff. 45 BGH, NJW 1995, 1752, 1754 – Quattro II. 46 BGH, NJW 2002, 2238, 2239 f. 47 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 48 BGH, NJW 2006, 689. 49 BGH, ZIP 2006, 1013, 1016. 50 Z.B. BGHZ 161, 79, 83 f.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
teres beantworten läßt. In dieser Fallgestaltung ist das EG-Recht durch die bereits vorhandene Rechtsprechung des EuGH so klar geworden, daß es weitergehender Konkretisierung nicht bedarf. Voraussetzung hierfür ist eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH, unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie sich gebildet hat; das nationale Gericht ist an einer neuen Vorlage nicht gehindert, wenn es diese für angebracht hält.51 Wann diese Voraussetzung zu bejahen ist, läßt sich naturgemäß nicht allgemein bestimmen. Dies richtet sich vielmehr nach dem Grad der Durchdringung des betreffenden Rechtsgebiets durch den EuGH und dem Inhalt der Frage. Allerdings lassen sich unter diesem Vorbehalt doch graduelle Unterschiede in der Rechtsprechung der Senate ausmachen. Es läßt sich eine Tendenz beobachten, daß in EG-rechtlich und durch die EuGH-Rechtsprechung stärker durchdrungenen Bereichen von der Ausnahme etwas großzügiger Gebrauch gemacht wird als in Bereichen, die durch das Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung des EuGH weniger durchdrungen sind.
34
Als Beispiele mögen der Umfang der Pflicht zur Anerkennung ausländischer Eignungsprüfungen für die Zulassung als Wirtschaftprüfer, der sich nach Ansicht des BGH aus der Rechtsprechung des EuGH ohne die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH ermitteln läßt 52, die Anwendung des Eignungsprüfungsgesetzes auf ausländische Rechtsanwälte 53, der Begriff des Aufbereiters nach EG-Sortenschutzrecht 54, die Voraussetzungen des sortenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs 55, Eintragungshindernisse bei Formmarken 56 oder die Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung der Milch-Referenzmengen auf den Verpächter nach der VO (EWG) Nr. 3950/92 57 oder seine Rechtsprechung zu den Schranken des markenrechtlichen Schutzes bei einer unzulässigen Beschränkung des freien Warenverkehrs 58 dienen.
35
c)
Verstöße gegen die Vorlagepflicht
Verstöße gegen die Vorlagepflicht stellen eine Verletzung des EG-Vertrages dar, die grundsätzlich mit den Mitteln des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgt werden kann.59 In der Regel wird es allerdings bei einem feststellenden Urteil des EuGH nach Art. 226 EG sein Bewenden haben.
36
Zu der Verhängung von Zwangsgeldern nach Art. 228 EG wird es kaum kommen können, da das einzelstaatliche Verfahren nicht wiederholbar ist.
37
51 52 53 54 55 56 57 58 59
EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 14 f. BGH, NJW 2005, 747 f. BGH, NJW 1997, 867, 868 f. BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. BGH, GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III. BGH, GRUR 2006, 589, 590 – Rasierer mit drei Scherköpfen. BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211. BGH, GRUR 2005, 52, 53. Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 106 ff.
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3. Teil: Besonderer Teil
38
Unter besonderen Umständen kann die Verletzung der Vorlagepflicht aber auch einen Staatshaftungsanspruch nach sich ziehen.60 Das setzt allerdings voraus, daß der Verstoß offenkundig 61 ist. Daran kann es fehlen, wenn das Gericht (wie im Fall Köbler der öst. VwGH) eine Vorlage in der irrigen Annahme zurückzieht, die Frage sei schon entschieden. Die Verletzung der Vorlagepflicht stellt zudem auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG dar. Eine Verfassungsbeschwerde läßt sich allerdings mit diesem Verstoß nur begründen, wenn die Verletzung der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.62 Das ist normalerweise der Fall, wenn das Gericht die europarechtlichen Dimensionen des Falles völlig verkannt und deshalb nicht vorgelegt hat, obwohl es von der Rechtsprechung des EuGH abwich, und wohl auch, wenn die Rechtsprechung des EuGH Lücken aufweist und es sich einer eindeutig vorzuziehenden Meinung nicht angeschlossen und dem EuGH die Frage nicht vorgelegt hat. Ob auch eine Anhörungsrüge analog § 321a ZPO auf eine Verletzung der Vorlagepflicht gestützt werden kann, hält der BGH für möglich, hat dies aber bislang offen gelassen 63. 4.
Vorlageverfahren vor dem BGH
a)
Form und Anlaß der Vorlage
39
Über die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens entscheiden das nationale Gericht und damit auch der BGH von Amts wegen. Das gilt nicht nur in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, sondern auch im Zivilrechtsstreit, der vom Beibringungsgrundsatz geprägt ist. Das ergibt sich daraus, daß die Vorlage an den EuGH nach Art. 234 EG nicht im Ermessen der Parteien steht, sondern in dem Ermessen des nationalen Gerichts, sofern dieses überhaupt ein Ermessen hat. Beim BGH und Gerichten, deren Entscheidungen nicht angegriffen werden können, ist dieses Ermessen nicht gegeben. Deshalb können die Parteien des Rechtsstreits eine Vorlage nur anregen, aber nicht beantragen.
40
Im Verfahren über eine Nichtzulassungsbeschwerde wird die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH regelmäßig als Grund für die Zulassung der Revision angeführt. In welcher Form die Vorlage des nationalen Gerichts zu erfolgen hat, legt das EG-Recht nicht fest. Das bestimmt sich vielmehr nach dem nationalen Verfahrensrecht. In Deutschland ist das der Beschluß, weil über eine Vorlagefrage an den EuGH regelmäßig nicht mündlich verhandelt werden muß.
60 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 54 ff., 116 ff.; BGH, NJW 2005, 747. 61 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 129 ff.; Schöndorf-Haubold, JuS 2006, 112, 113. 62 BVerfG, NVwZ 2001, 1148, 1149; Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 71; Streinz-Ehricke, Art. 234 Rn. 47. 63 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
b)
Inhalt des Vorlagebeschlusses
aa)
Tenor
Der Tenor des Beschlusses besteht aus der Aussetzung des Verfahrens 64 und Formulierung der Frage, die dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt werden soll. Da der EuGH nur abstrakte Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts klären darf, darf die Frage nicht konkret auf den Einzelfall bezogen werden. Das Gericht hat vielmehr aus dem ihm vorliegenden Sachverhalt eine abstrakte Rechtsfrage zu entwickeln, die der EuGH losgelöst vom Einzelfall und abstrakt beantworten kann. bb)
41
Begründung
Der Vorlagebeschluß ist zu begründen. Eine solche Begründung und ihre Ausgestaltung sind gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Allerdings ergeben sich aus der dem EuGH mit Art. 234 EG gestellten Aufgabe gewisse Mindestanforderungen, die der EuGH in Hinweisen 65 zusammengestellt hat. Diese Hinweise sind rechtlich nicht verbindlich. Ihre Beachtung empfiehlt sich aber, soll die Vorlage nicht als unzulässig zurückgewiesen werden.
42
Die Begründung des Vorlagebeschlusses besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil ist der tatsächliche und rechtliche Rahmen darzustellen, in dem sich die Vorlagefrage stellt. Der nationale Richter hat dem EuGH also den Sachverhalt zu schildern, den er zu beurteilen hat. Außerdem hat er dem EuGH darzulegen, wie der Fall vorbehaltlich der zu klärenden Rechtsfrage zu lösen ist und in welcher Hinsicht es auf die Klärung der dem EuGH vorgelegten Frage ankommt. Nach Nr. 22 Anstrich 2 der Hinweise des EuGH soll dabei auch der Wortlaut der einschlägigen nationalen Vorschriften mitgeteilt werden, was je nach dem Umfang im Text des Beschlusses oder durch Beifügung als Anlage geschehen kann.
43
Umfang und Ausführlichkeit stehen im Ermessen des vorlegenden Richters. Nr. 22 der Hinweise des EuGH gibt als Richtschnur einen Umfang von zehn Seiten an, weist aber darauf hin, daß sich der Umfang letztlich nach der Sache richten muß. Die Schilderung muß deshalb zwar nicht immer lang, wohl aber so ausführlich sein, daß der EuGH die Frage ggf. zuspitzen oder umformulieren kann, um sie sachgerecht und zielführend zu beantworten. Nur so können auch die anderen am Verfahren vor dem EuGH beteiligten Stellen eine sachgerechte Stellungnahme abgeben. Das sind neben den Organen der EG auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die jedenfalls an einem Verfahren vor dem BGH in dieser Eigenschaft nicht beteiligt sind. Im Verfahren vor dem BVerwG und dem BFH gilt das mit der Einschränkung, daß sich die
44
64 In der Praxis des BGH wird stets ausdrücklich ausgesetzt. Die von Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, S.133 ff., aufgeworfene Streitfrage spielt hier keine Rolle. Rein praktisch kann das Verfahren schon mangels Akten nicht betrieben werden. 65 Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 Nr. C 143/1. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
Bundesregierung an jedem Verfahren durch den Vertreter des Bundesinteresses beteiligen kann, was gerade bei Verfahren mit EG-Rechtsbezug angezeigt ist.
45
In einem zweiten Teil der Begründung ist die Fragestellung aufzubereiten. Dem EuGH ist darzustellen, welche Auslegungszweifel geklärt werden sollen, jedenfalls aber welche Auslegungsmöglichkeiten bestehen. Wird die Gültigkeit eines EG-Rechtsaktes in Zweifel gezogen, sind diese Zweifel näher zu erläutern. Auch hier haben die vorlegenden Gerichte ein Gestaltungsermessen. Zweck der Darstellung ist es, dem EuGH die Feststellung zu erlauben, worum es dem nationalen Richter geht. cc)
46
Die Vorlagebeschlüsse des BGH folgen durchweg dem dargestellten Grundmuster. In der Ausgestaltung dieses Grundmusters sind sie allerdings durchaus unterschiedlich. Es gibt eher knapp gehaltene Vorlagebeschlüsse.66 Andere Vorlagebeschlüsse setzen sich mit der Auslegung des EG-Rechts sehr eingehend auseinander 67 und entlasten damit im Ergebnis den Generalanwalt des EuGH. c)
47
48
Praxis des BGH
Technische Abwicklung
Der Beschluß wird den Verfahrensbeteiligten zugestellt und ist dann in 20facher Ausfertigung dem Kanzler des Gerichtshofs zuzustellen. Nach Nr. 29 der Hinweise des EuGH sollen auch die Verfahrensakten, jedenfalls aber Kopien davon, übersandt werden. Der BGH legt dem EuGH deshalb die gesamte Verfahrensakte, also die bei dem BGH selbst entstehende Akte und die bei den Vorinstanzen entstandenen Akten, vor.68 Zurück bleibt nur ein Senatsheft, in dem Kopien der Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten und Vorbereitungsunterlagen des Senats enthalten sind. Die Verfahrensakte wird beim EuGH, jedenfalls beim Generalanwalt, auch durchaus verwertet.69 5.
Vorlageverfahren vor dem EuGH
a)
Schriftliches Vorverfahren
Beim EuGH wird der Vorlagebeschluß in die anderen Amtssprachen übersetzt und den Verfahrensbeteiligten zur Stellungnahme zugeleitet. Verfahrensbeteiligte sind nicht nur die am nationalen Gerichtsverfahren beteiligten Parteien unter Einschluß
66 Z.B. BGH, WRP 2002, 547, 549 – GERRI/KERRY Spring; BB 2000, 1507, 1508 – Solokünstler; GRUR 1999, 600, 601 – Haarfärbemittel; GRUR 1998, 738 f. – Diät-Käse; NJW 1996, 930, 932 (Bürgschaft als Haustürgeschäft); ZIP 1995, 372, 373 f. – Siemens. 67 Z.B. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; EuZW 2005, 156, 158 f.; NJW 2002, 2464, 2467 f., 2468 ff. 68 Vgl. BGH, BGH-Report 2001, 223, insoweit nur bei juris veröffentlicht. 69 Vgl. z.B. GA Léger, Schlußanträge v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, ZfIR 2005, 455 Tz. 47.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
von Nebenintervenienten oder Beigeladenen. Dazu gehören darüber hinaus auch alle Mitgliedstaaten und die Kommission. Der Rat und die Europäische Zentralbank werden nur beteiligt, wenn die Vorlagefrage dies nahe legt. Im schriftlichen Vorverfahren haben die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. In der Regel äußern sich die Parteien des Rechtsstreits und die Kommission. Die Mitgliedstaaten äußern sich dann, wenn die Klärung der einen oder anderen Rechtsfrage für sie übergeordnete Bedeutung hat. Die Stellungnahmen werden den anderen Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis übersandt. Diese haben keinen Anspruch darauf, sich noch einmal schriftsätzlich zu diesen Stellungnahmen zu äußern. Sie können dies aber tun, wenn sie das für angezeigt halten und die Stellungnahmefrist noch nicht abgelaufen ist. b)
Mündliche Verhandlung
Im Anschluß an das schriftliche Vorverfahren findet eine mündliche Verhandlung vor dem EuGH statt. Sie wird eingeleitet durch die Schlußanträge des Generalanwalts, in welchen dieser den Fall EG-rechtlich aufarbeitet und dem EuGH eine Beantwortung der Vorlagefrage aus EG-rechtlicher Sicht vorschlägt. Hierüber wird vor dem EuGH mündlich verhandelt. An der mündlichen Verhandlung können alle Verfahrensbeteiligten teilnehmen.70 c)
49
50
Urteil des EuGH
Den Abschluß des Verfahrens bildet das Vorabentscheidungsurteil des EuGH. Darin schildert der EuGH gewöhnlich den ihm vorgestellten Sachverhalt. Er beantwortet dann die ihm vorgelegten Fragen der Reihe nach, indem er jeweils zunächst den EGrechtlichen Hintergrund erläutert und anschließend die Frage beantwortet. Das Urteil bindet das vorlegende Gericht.71
51
Das Verfahren vor dem EuGH ist kostenfrei. Über die sonst entstehenden Kosten entscheidet das nationale Gericht in seiner abschließenden Entscheidung.
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III. Auslegungssituationen 1.
Vorabentscheidungsersuchen
Die Situation, in welcher der BGH am intensivsten Gelegenheit zur Auslegung des EG-Rechts hat, ist das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Denn das Vorabentscheidungsersuchen stellt der BGH ja gerade dann, wenn er keine Auslegungskompetenz hat und die Auslegung dem EuGH im Wege eben seines Ersuchens überlassen muß. Wie ausgeführt, muß der BGH in
70 Streinz-Ehricke, Art. 234 EGV Rn. 57. 71 Zur Bindungswirkung im übrigen: Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 90 ff. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
seinem Ersuchen indes nicht nur die Vorlagefragen benennen, sondern auch darstellen, warum die EG-Norm Auslegungsfragen aufwirft und welche Auslegungsalternativen bestehen.
54
Dieses Erfordernis zwingt den BGH zwar nicht dazu, sich eingehend mit der Auslegung der EG-Norm auseinanderzusetzen. Es gibt ihm aber Gelegenheit dazu. Von dieser Möglichkeit macht der BGH in unterschiedlichem Umfang Gebrauch. Manche Senate nehmen zu der Auslegung des EG-Rechts sehr eingehend Stellung und schlagen auch eine konkrete Auslegung vor.72 Andere halten sich hier eher zurück. Dies hängt in erster Linie von den konkreten Fragen ab. Hierbei sollte aber auch nicht außer Acht gelassen werden, daß die deutschen Gerichte an dem Auslegungsprozeß nicht nur gewissermaßen passiv teilnehmen müssen. Sie haben vielmehr durchaus die Möglichkeit, sich aktiv in den judiziellen Dialog73 einzuschalten, indem sie aus ihrer Sicht zur Auslegung der Normen Stellung beziehen und ggf. auch einen Auslegungsvorschlag machen.
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Das ist gerade dann angezeigt, wenn der BGH für das fragliche Rechtsgebiet in Deutschland sozusagen federführend ist. Denn auf diesen Gebieten hat der BGH ausgeprägte Expertise, die er dem EuGH nicht vorenthalten sollte. 2.
Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen
56
Gelegenheit zur Auslegung des EG-Rechts hat der BGH auch im umgekehrten Fall der Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen. Darüber, ob ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen ist, entscheidet das nationale Gericht von Amts wegen. Das hindert die Parteien gerade auch beim BGH nicht daran, die Stellung eines solchen Ersuchens anzuregen. Mitunter hat ein solcher Vorschlag aber auch taktische Gründe, nämlich den Zweck, beim EuGH eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zu erreichen. Das ist legitim. Das nationale Gericht kann und muß aber prüfen, ob die Vorlage an den EuGH wirklich sachgerecht oder, beim BGH, rechtlich geboten ist. Fehlt es daran, muß der BGH die Ablehnung eines Vorabentscheidungsersuchens begründen.74 Auch das erfordert eine Auslegung des EG-Rechts, die allerdings von der Natur der Sache her nicht ausgeprägt sein kann.
57
Beispiele sind die sog. Schrottimmobilien 75 oder der vergebliche Versuch, den BGH dazu zu bewegen, den EuGH im Hinblick auf das Entfallen von Anerkennungshindernissen nach Art. 34 Nr. 2 EuGVVO erneut mit der Frage einer Anerkennung von Versäumnisurteilen76, dem Stromeinspeisungsgesetz 77, mit der Auslegung von Miet-
72 BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme. 73 Dazu Schmidt-Räntsch, EWiR 2005, 282. 74 Dazu genügt allerdings der Hinweis auf die erfolgte Umsetzung als solcher nicht, anders BGH, NJW-RR 1998, 1661, 1662. 75 BGH, NJW 2004, 153, 154; NJW 2004, 154, 155; WM 2003, 2186. 76 BGH, NJW 2004, 3189. 77 BGHZ 155, 141, 157 f.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
vertragsklauseln am Maßstab der Klauselrichtlinie 78, mit den Voraussetzungen der internationalen Zuständigkeit für Unterlassungsklagen 79, mit dem Schutzzweck der Jahresabschlusrichtlinien 80 zu befassen oder gar einer Anhörungsrüge analog § 321a ZPO stattzugeben, um eine Vorlage zum Verhältnis des Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechts zum Wettbewerbsrecht zu ermöglichen 81. 3.
Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts
a)
Primäres Gemeinschaftsrecht
Gelegenheit zur eigenständigen Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht hat der BGH, soweit er dazu nach den Ausführungen unter II. berufen ist, zunächst bei den unmittelbar auch für Bürger und Unternehmen geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Das primäre Gemeinschaftsrecht regelt zwar in erster Linie die Rechtsbeziehungen der Organe der Gemeinschaften untereinander und zwischen den Mitgliedstaaten. Es begründet auch Handlungspflichten der Mitgliedstaaten, die aber nicht der Einzelne, sondern nur die Organe der Gemeinschaft durchsetzen können. Streitigkeiten über die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Organe und der Mitgliedstaaten haben nicht die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu entscheiden, sondern die Gemeinschaftsgerichte, das Europäische Gericht erster Instanz (EuG) und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH).
58
Es gibt aber auch Vorschriften des primären Gemeinschaftsrechts, die unmittelbar gelten und in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten Bedeutung erlangen. Das sind vor allem die Vorschriften der Art. 81 und 82 EG über wettbewerbshindernde Vereinbarungen 82 und den Mißbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung. Die Vorschriften des EG-Beihilfenrechts der Art. 87 ff. EG gehören dazu.83 Auch andere Vorschriften der Gemeinschaftsverträge, z.B. Art. 30 EG,84 können unmittelbare Wirkung haben und in Verfahren vor dem BGH anzuwenden sein.
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b)
Verordnungsrecht
aa)
Öffentliches Recht
Häufiger werden die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten mit Verordnungsrecht konfrontiert. Es gilt nach Art. 249 Abs. 2 EG unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und ist auch für Bürger und Unternehmen und nicht nur für die Mitgliedstaaten verbindlich. Gegenstand des Verordnungsrechts sind aber überwiegend Materien, die nach
78 79 80 81 82 83
BGH, NZM 2004, 734. BGH, NJW 2006, 689. BGH, NJW 2006, 690, 691. BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. Beispiel: BGH, WRP 2004, 1378, 1380 f. – Citroën. Dazu Schmidt-Räntsch, NJW 2005, 106, 107 f.; aus der Rechtsprechung des BGH: BGH, EuZW 2003, 444; EuZW 2004, 252; VIZ 2004, 77; BGHZ 155, 141, 157 f. 84 BGHZ 155, 141, 158.
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3. Teil: Besonderer Teil
deutschem Rechtsverständnis dem öffentlichen Recht zuzuordnen und deshalb in erster Linie von den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit zu beurteilen sind.
61
Allerdings kann die Anwendung und Umsetzung von Verordnungsrecht auch von den ordentlichen Gerichten zu beurteilen sein. Das ist vor allem in Fällen aus dem Bereich des Amts- und Staatshaftungsrechts, des Wettbewerbsrechts und des Strafrechts der Fall. Verordnungen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt richten sich oft (auch) an die Behörden der Mitgliedstaaten und sind von ihnen bei ihrem Amtswalten zu beachten. Geschieht dies nicht, so löst dies unter den gleichen Voraussetzungen Schadensersatzansprüche aus wie ein Verstoß gegen nationale Vorschriften.
62
Vor allem Verordnungen mit lebensmittelrechtlichem oder gewerberechtlichem Inhalt richten sich oft nicht nur an Behörden, sondern in erster Linie an die Gewerbetreibenden selbst. Sie geben ihnen bestimmte Rezepturen vor, verbieten die Verwendung bestimmter Stoffe und Verfahren und dergleichen mehr. Hält sich ein Gewerbetreibender nicht an diese Vorschriften, verschafft er sich einen unerlaubten Sondervorteil gegenüber seinen Wettbewerbern, die sich an die Vorschriften halten und handelt deshalb wettbewerbswidrig im Sinne von § 3 UWG.85 Verlangt ein Wettbewerber nach § 13 UWG Unterlassung, haben die ordentlichen Gerichte in solchen Fällen im Kern zu prüfen, ob die lebensmittel- oder gewerberechtlichen Vorschriften eingehalten sind. Handelt es sich dabei um Verordnungsrecht, ist dieses heranzuziehen.86
63
Aus Verordnungsrecht können sich auch in anderen Bereichen Vorgaben für die Anwendung des nationalen Rechts ergeben. Das war etwa bei der pachtrechtlichen Zuordnung der Milchreferenzmenge der Fall, die durch das EG-Marktordnungsrecht 87 bestimmt wurde.88 bb)
64
Zivilrecht
Auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts gab und gibt es vergleichsweise wenig Verordnungsrecht. Der Gemeinschaftsgesetzgeber zieht hier bisher die Rechtsform der Richtlinie vor, weil sie den Mitgliedstaaten das Einpassen der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in die nationale Zivilrechtsordnung erleichtert. Die recht häufigen Verzögerungen bei der Umsetzung und vor allem die sich bei der Umsetzung ergebenden Regelungsunterschiede in den Mitgliedstaaten haben bei der Kommission die Neigung verstärkt, auch auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts unmittelbar geltendes Verordnungsrecht vorzuschlagen, das dann in Deutschland von den dazu in erster Linie berufenen ordentlichen Gerichten und dem BGH zu beurteilen ist.
85 BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut (betraf allerdings eine Richtlinie). 86 BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein. 87 Verordnung (EWG) Nr. 3950/92 des Rates v. 28.12.1992 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor, ABl. 1992 Nr. L 405/1, aufgehoben mit Wirkung v. 1.4.2004 durch Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 1788/2003 des Rates v. 29.9.2003 über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor, ABl. 2003 Nr. L 270/123. 88 BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211. Diese Beihilfe ist inzwischen durch eine unternehmensbezogene Beihilfe ersetzt worden.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
Zu nennen sind hier die Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (Brüssel I),89 die Brüssel II-Verordnung, 90 die Zustellungsverordnung,91 die Insolvenzverordnung 92, die Beweisaufnahmeverordnung 93 und die Vollstreckungsverordnung 94.
65
Verordnungsrecht gibt es nicht nur auf dem Gebiet des internationalen Insolvenzund Prozeßrechts. Es gibt dies, wenn auch in geringerem Umfang, im Bereich des materiellen Zivil- und Handelsrechts. Zu nennen sind hier vor allem gewerbliche Schutzrechte 95 und die supranationalen Gesellschaftsformen der EWIV 96 und der SE 97, etwa auch die Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro 98 und, im Zusammenhang mit der Umstellung auf den Euro die Vorschriften über die Einführung des Euro, die sich auch mit der Umstellung von vertraglichen Preisregelungen befassen.99
66
89 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001Nr. L 12/6. 90 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 Nr. L 338/1. 91 Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates vom 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 Nr. L 160/37. 92 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 Nr. L 160/1. 93 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. 2001 Nr. L 174/1. 94 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. 2004 Nr. L 143/15. 95 Vgl. z.B. Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1993 Nr. L 11/1 idF der Verordnung (EG) Nr. 422/2004 des Rates v. 19.2.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke, ABl 2004 Nr. 70/1; Verordnung (EG) Nr. 2100/94 v. 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 Nr. L 227/1, i.d.F. der Verordnung (EG) Nr. 873/2004 des Rates v. 29.4.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 2004 Nr. L 162/38; Verordnung (EG) Nr. 1610/96 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel, ABl. 1996 Nr. L 198/30; Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 Nr. L 182/1. 96 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 Nr. L 199/1. 97 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 Nr. L 294/1. 98 Verordnung (EG) Nr. 2569/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 Nr. L 344/13. 99 Vgl. etwa BGH, RdL 2005, 147; zu den Einzelheiten der Euro-Einführung Schmidt-Räntsch, ZIP 1998, 2041 ff. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
c)
Richtlinien und Rahmenbeschlüsse
67
Unmittelbar gelten können im Einzelfall auch Vorschriften von Richtlinien. Voraussetzung hierfür ist neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist vor allem, daß die Richtlinienvorschrift hinreichend bestimmt ist, der Mitgliedstaat also kein Gestaltungsermessen hat.100 Teilweise wird darüber hinaus auch verlangt, daß die Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen formuliert, was sich in der Rechtsprechung des EuGH aber nicht zwingend widerspiegelt.101 Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie kommt auch nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat in Frage.
68
Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien im Verhältnis der Bürger untereinander ist bislang außerhalb des Arbeitsrechts nicht anerkannt.102 Das bedeutet, daß die unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienvorschriften nur im Bereich des öffentlichen Rechts zum Tragen kommt. Die ordentlichen Gerichte werden hiermit nur im Rahmen von Haftungs-, Wettbewerbs- und Strafprozessen konfrontiert.
69
Rahmenbeschlüsse nach Art. 34 EU stehen funktionell den Richtlinien gleich. Nach dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Pupino 103 haben sie auch annähernd gleiche Rechtswirkungen. Entschieden ist das bislang nur für die Frage der EG-konformen Auslegung. Die Begründung des EuGH läßt aber erwarten, daß dies auch im übrigen so beurteilt werden wird. 4.
Anwendung von Umsetzungsvorschriften
a)
Umsetzungspflicht
70
Der weit überwiegende Teil des Gemeinschaftsrechts mit prozeßrechtlichem, ziviloder handelsrechtlichem Inhalt ist bislang nicht in der Form der Verordnung, sondern in der Form der Richtlinie erlassen worden. Richtlinien gelten aber, wie ausgeführt, im Unterschied zu Verordnungen im Verhältnis Privater untereinander nicht unmittelbar. Sie sind vielmehr an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese, ihre Rechtsordnung an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen.
71
Da die Vorgaben solcher Richtlinien regelmäßig das Verhältnis der Bürger und Unternehmen untereinander betreffen, liegen bei ihnen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendung in der Regel nicht vor. Das nationale Gericht hat deshalb grundsätzlich nicht die Richtlinie, sondern allein die Vorschriften zu ihrer Umsetzung auszulegen und anzuwenden und muß, auch wenn diese verspätet erlassen werden, grundsätzlich erst deren Erlaß abwarten. Es hat also vorbehaltlich noch zu erläu-
100 Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EGV Rn. 42; Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 106 ff. 101 Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 110. 102 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 108 f.; zum Arbeitsrecht vgl. jetzt aber EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 77. 103 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; dazu: Adam, EuZW 2005, 558, 560.
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Jürgen Schmidt-Räntsch
§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
ternder Ausnahmen zunächst keine Gelegenheit, solche Richtlinien selbst auszulegen und anzuwenden. Umzusetzen hat der nationale Gesetzgeber die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie. Sie sind in älteren Richtlinien auf dem Gebiet des Zivilrechts zurückhaltender als in neueren Richtlinien, deren Vorgaben zum Teil ausgesprochen engmaschig sind.
72
Wie der nationale Gesetzgeber das erreicht, steht ihm nach der Natur der Richtlinie frei. Er kann ein Sondergesetz erlassen, wie dies etwa mit dem Haustürwiderrufs-104 oder dem Teilzeit-Wohnrechtegesetz 105 geschehen ist, die jetzt beide in das BGB überführt worden sind. Er kann sich, wie etwa im Reiserecht 106 und im Recht der AGBKontrolle 107, zur Umsetzung der Richtlinie aber auch vorhandener Vorschriften bedienen. Der Gesetzgeber hat auch die Möglichkeit, neue allgemeine Vorschriften zu erlassen. Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung der Kaufrechtsrichtlinie.108
73
Wie auch immer der Mitgliedstaat seine Umsetzungspflicht erfüllt, sie endet wie stets nicht mit dem Erlaß der Gesetze. Vielmehr hat er durch die zuständigen Stellen sicherzustellen, daß die erlassenen Vorschriften auch so angewendet werden, daß die Vorgaben und Ziele der Richtlinie erreicht werden.
74
b)
Auslegung von Umsetzungsvorschriften
aa)
EG-konforme Auslegung
Bei der Auslegung der zur Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen nach Art. 34 EU 109 erlassenen Vorschriften ist der nationale Richter deshalb nicht frei. Er kann sie nicht autonom so auslegen, wie das aus nationaler deutscher Sicht empfehlenswert oder geboten ist. Die Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie nach Art. 249
104 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften idF der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. I S. 956, das die Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 Nr. L 372/31, umsetzte. 105 IdF der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. I S. 958, das die Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 Nr. L 280/82, umsetzte. 106 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates vom 23. Juni 1990 über Pauschalreisen vom 24.6.1994, BGBl. I S.1322, mit dem die Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59, umgesetzt wurde. 107 Gesetz zur Änderung des AGB-Gesetzes und der Insolvenzordnung vom 19.7.1996, BGBl. I S. 1013, mit dem die Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 Nr. L 95/29, umgesetzt wurde. 108 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 Nr. L 171/12. 109 EuGH v. 16. 6. 2005 – Rs. C-105/03 Pupino Slg. 2005, I-5285; dazu Adam, EuZW 2005, 558, 560. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
Abs. 3 EG erschöpft sich nicht in dem Erlaß der erforderlichen nationalen Umsetzungsvorschriften. Diese Umsetzungsvorschriften sind vielmehr von den Verwaltungsorganen und von den Gerichten so anzuwenden, daß Inhalt und Ziele der Richtlinie effektiv verwirklicht werden.
76
Zu diesem Zweck haben die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten das Umsetzungsrecht unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH EG-konform auszulegen.110 Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, inwieweit sich der zu entscheidende Fall von den in der Rechtsprechung des EuGH bereits entschiedenen Fällen unterscheidet.111
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Die Grenze der EG-konformen Auslegung bildet zwar grundsätzlich der Wortlaut des nationalen Umsetzungsrechts.112 Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben aber alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel der Auslegung zu nutzen, um ein der Richtlinie entsprechendes Rechtsanwendungsergebnis zu erzielen. Sie müssen deshalb die Techniken, mit denen im nationalen Kontext Normenkonflikte vermieden werden, auch in einem Konflikt des nationalen mit dem EG-Recht anwenden.113 Dieses Anforderungsprofil relativiert die Wortlautgrenze stark.114 bb)
Überschießende Umsetzung
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Eine EG-konforme Auslegung bereitet bei Vorschriften keine Schwierigkeiten, die ausschließlich Fälle betreffen, die von den Richtlinien erfaßt werden. Das ist regelmäßig bei Sondergesetzen der Fall, die zur Umsetzung einzelner Richtlinien erlassen werden. Anders liegt es aber bei allgemeinen oder besonderen Vorschriften, die auch auf Fälle anwendbar sind, die von den Richtlinien selbst nicht erfaßt werden.
79
Eine solch überschießende Umsetzung ergab sich etwa in dem früheren Verbraucherkreditgesetz, dessen Anwendungsbereich sich nicht vollständig mit der Verbraucherkreditrichtlinie deckte und das auch ein dort nicht vorgesehenes Widerrufsrecht einführte.115
80
Ein anderes Beispiel sind die Vorschriften des mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts umgestalteten Leistungsstörungs- und Kaufrechts, die nicht nur für Verbrauchsgüterkäufe im Sinne der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie gelten, sondern schlechthin für alle Kaufverträge und auch für ganz andere Verträge. In diesen Fällen besteht eine Verpflichtung zur EG-konformen Auslegung nur, soweit es sich um Fälle
Eingehend dazu Roth, oben § 14. Z.B. im Fall Zulassungsnummer III, BGH, NJW-RR 2003, 327, 328. BGH, NJW-RR 2005, 354, 355; BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, WM 2003, 2186, 2187. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 f.; ähnlich auch BGHZ 150, 248, 253. 114 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 f.; der BGH spricht in Roth, oben § 14 Rn. 30–34, 39; BGHZ 160, 134, 140 und NJW 2004, 2971 (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen) von „berichtigender Auslegung“, die er aber in casu verneint; sehr weit geht er bei der Auslegung von § 5 Abs. 2 HTWG in BGHZ 150, 248, 253. 115 Dazu Schmidt-Räntsch, MDR 2005, 6, 11 f.
110 111 112 113
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
handelt, die von den Richtlinien erfaßt werden. Im übrigen aber besteht eine EGrechtliche Pflicht zur EG-konformen Auslegung nicht.116 Sicherzustellen ist nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich, daß der Rechtsanwender klar erkennen kann, wie die von der Richtlinie erfaßten Fälle behandelt werden sollen.117 Das bedeutet, daß überschießende nationale Umsetzungsvorschriften EG-rechtlich gespalten ausgelegt werden können, nämlich EG-konform für die von den Richtlinien erfaßten Fälle und autonom im übrigen.118 Eine solche gespaltene Auslegung ist aber nur möglich, wenn sie den nationalen Vorgaben genügt. Sie darf also nicht im Widerspruch zu dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und zur Systematik des Gesetzes stehen 119, außerdem muß für eine unterschiedliche Behandlung der Fallgruppen ein sachlicher Grund gegeben sein.
81
Es läßt sich zwar nicht ausschließen, daß diese Vorgaben in dem einen oder anderen Fall erfüllt sind. In der Regel werden sie aber nicht erfüllt sein. Es wäre zum Beispiel nicht möglich, den Begriff des geringfügigen Mangels bei Verbrauchsgüterkäufen anders auszulegen als bei Immobilienkäufen120 oder das Widerrufsrecht nach den Haustürwiderrufsvorschriften nur bei Realkreditverträgen, nicht aber auch bei Personalkreditverträgen zu geben.121
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c)
Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln
Der nationale Gesetzgeber kann sich, wie ausgeführt, zur Umsetzung von Richtlinien auch vorhandener nationaler Vorschriften bedienen. Nationale Generalklauseln sind dafür aber nur geeignet, wenn sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine gefestigte Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, die die Vorgaben der umzusetzenden Richtlinie hinreichend konkret abbildet.122 Das war etwa bei § 1 UWG (heute § 3 UWG) der Fall, der in der Rechtsprechung des BGH eine Konkretisierung in festen Fallgruppen erfahren hat, die Vorgaben der früheren wettbewerbsrechtlichen Richtlinien deutlich abbildete. Dagegen hat der EuGH eine Vorschrift des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuchs nicht ausreichen lassen, die inhaltlich § 307 Abs. 1 BGB entsprach.123 Es fehlten nämlich konkretisierende Vorschriften, wie sie das BGB in den §§ 308 und 309 aufweist.
83
Ein solches Defizit ist für die meisten Generalklauseln typisch, die zwar eine gewisse Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, regelmäßig aber nicht so konturenscharf
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116 117 118 119 120 121 122 123
Einzelheiten dazu bei Schmidt-Räntsch, FS Wenzel, S. 413 f. EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 34. Eingehend dazu Habersack/Mayer, oben, § 15 Rn. 24 ff. Roth in: Dauner-Lieb/Schmidt/Konzen aaO S. 34 f.; Prütting in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, Einl. Rn. 35 a.E. Schmidt-Räntsch, FS Wenzel, S. 415 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch BGH, ZIP 2006, 904, 905 Rn. 11. BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, BB 2004, 2711, 2712. Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 93. EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17 f., 21; weniger streng aber EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18, 20.
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3. Teil: Besonderer Teil
sind, daß die Umsetzung einer Richtlinie durch Verweis auf die Generalklausel erspart werden kann. Das führt dazu, daß EG-Vorgaben bei der Auslegung von Generalklauseln in unterschiedlichem Umfang zu berücksichtigen sind.
85
Dient die Generalklausel des nationalen Rechts allein der Umsetzung einer Richtlinie, dann ist sie wie jede andere Umsetzungsvorschrift auch EG-konform auszulegen. Denn anders ließe sich in einem solchen Fall die Vorgabe zur effizienten Umsetzung der Richtlinie nicht erfüllen. Das bedeutet aber auch, daß die Rechtsprechung zur Auslegung der Generalklausel den Inhalt der Richtlinie und ihre Auslegung durch den EuGH genau abbilden muß.124 Geschieht das nicht, muß das nationale Recht um spezielle Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie ergänzt werden. 5.
Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften
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Anders liegt es bei Generalklauseln, die nicht speziell zur Umsetzung einer Richtlinie gedacht sind. Solche Generalklauseln müssen regelmäßig konkretisiert werden. Die Konkretisierung ist oft nur unter Rückgriff auf Vorschriften aus anderen Rechtsbereichen möglich. Dazu kann unmittelbar geltendes EG-Recht, dazu können aber auch EG-rechtlich vorbestimmte nationale Vorschriften gehören. Ein Beispiel ist die Beachtung der Verkehrssicherungspflicht, die sowohl im vertragsrechtlichen als auch im deliktsrechtlichen Kontext eine Rolle spielt. Die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht ergeben sich regelmäßig aus gewerberechtlichen Vorschriften oder DIN- und ähnlichen Normen.125 Diese können auf EG-Recht beruhen oder selbst EG-Recht sein.
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Ein anderes Beispiel ist eine jüngere Entscheidung des V. Zivilsenats des BGH.126 Hier verlangte der Nachbar eines Flughafens von der Betreibergesellschaft Ersatz der Kosten für Lärmschutzmaßnahmen nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB. Das setzt voraus, daß die Lärmimmissionen über das ortübliche Maß hinausgingen. Dafür kam es nach § 906 Abs. 1 S. 2 BGB auf das Vorhandensein technischer Vorschriften und Normen an. Solche Vorgaben konnten sich auch aus EG-Recht ergeben, weshalb der Senat auch geprüft hat, ob sie in der Richtlinie über Umgebungslärm127 vorgegeben waren, was nicht der Fall ist.128 Wäre das der Fall, hätte der Senat sie berücksichtigen müssen, obwohl die Richtlinie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht umgesetzt war. Ein anderes Beispiel ist die Ausfüllung von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG durch die einschlägigen EG-Rechtsnormen.129
124 BGH, NJW-RR 2005, 342, 343 f. – Streßtest; BGHZ 158, 26, 31 – Genealogie der Düfte; BGHZ 138, 55, 61 ff. – Testpreis-Angebot (vergleichende Werbung im Rahmen von § 1 UWG a.F. [§ 3 UWG n.F.]). 125 BGH, NJW 2004, 1449, 1450. 126 BGH, NJW 2005, 660. 127 Richtlinie 2002/49/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.6.2002 über die Bewertung und Bekämpfung von Umgebungslärm, ABl. 2002 Nr. L 189/12. 128 BGH, NJW 2005, 660, 663. 129 BGH, NJW 2005, 445, 448.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
6.
Haftung für verspätete Umsetzung von EG-Recht
a)
EG-rechtliche Haftung
Bürgern und Unternehmen kann aber aus der verspäteten Umsetzung ein Schaden entstehen. Diesen Schaden haben die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH dem Bürger unter besonderen Umständen zu ersetzen. Die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm muß den Zweck haben, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß muß hinreichend qualifiziert130 sein.
88
Außerdem muß zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat obliegende Verpflichtung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.131 Diese Voraussetzungen waren etwa bei Art. 7 der Pauschalreiserichtlinie132 gegeben, derzufolge der Mitgliedstaat den Pauschalreisenden gegen das Risiko einer Insolvenz des Reisenveranstalters abzusichern hat.133 Bei der Einlagensicherungsrichtlinie 134, nach der die Mitgliedstaaten zur Sicherung der Einlagen einen Fonds einzurichten haben, lag es genauso.135 Für das Versäumnis haftet in Deutschland die Körperschaft, die für die Umsetzung zuständig ist, bei Bundesvorschriften also der Bund, der sich aber entlasten kann, wenn die ausführenden Landesbehörden ein eigenes Verschulden bei der Umsetzung des nationalen Rechts trifft.136
89
Über solche Schadensersatzansprüche entscheiden die ordentlichen Gerichte. Der Schadensersatzanspruch hängt jedenfalls dem Grunde nach entscheidend davon ab, ob die nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen hinreichend konkret bestimmt oder nicht. Selbst wenn eine Richtlinie solche Rechte begründet, wie z.B. die von Deutschland nicht rechtzeitig umgesetzten137 Richtlinien 68/151/EWG und 78/660/EWG über die Offenlegung von Jahresabschlüssen138, kann der konkret geltend gemachte Schaden außerhalb des Schutzbereichs dieses Rechts liegen.139
90
130 Dazu z.B. BGHZ 146, 153, 160 ff. 131 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 30 f.; BGH, NJW 2005, 742. 132 Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 Nr. L 158/59. 133 EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178, 179, 188, 189 und 190/94 Dillenkofer u.a., Slg. 1996, I-4845 Rn. 22, 36 ff.; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Rn. 44 ff. 134 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.1994 über Einlagensicherungssysteme, ABl. 1994 Nr. L 135/5. 135 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Rn. 26 f. 136 BGHZ 161, 224, 231; ähnlich BGHZ 146, 153, 164. 137 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihaitsu, Slg. 1997, I-6843; EuGH v. 29.9.1998 – Rs. C-191/95 – Kommission ./. Deutschland, Slg. 1998, I-5449. 138 BGH, NJW 2006, 690, 691. 139 BGH, NJW 2006, 690, 691 Rn. 11. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
b)
Amtshaftung
91
Die Vorgaben einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie können allerdings von den ordentlichen Gerichten auch im Zusammenhang mit einem Amtshaftungsrechtsstreit zu beachten sein. Einmal kann es sein, daß die Richtlinie den Behörden der Mitgliedstaaten besondere Amtspflichten dafür auferlegt, daß die vorzusehenden Einrichtungen auch tatsächlich eingerichtet werden. Das war etwa der eigentliche Gegenstand der schon erwähnten Rechtssache Paul, in der eine solche Amtspflicht kraft Richtlinie aber verneint wurde.140
92
Ferner kann es sein, daß eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie mit öffentlichrechtlichem Inhalt unmittelbar anzuwenden und das Verhalten der Behörde an den Vorgaben der Richtlinie unmittelbar zu messen ist. Dem hätten die ordentlichen Gerichte im Amtshaftungsprozeß nachzugehen. 7.
Überbrückung von Umsetzungsdefiziten
a)
Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten
93
Das nationale Recht der Mitgliedstaaten kann dem EG-Recht widersprechen. Widerspricht es unmittelbar geltendem Verordnungsrecht, haben die nationalen Gerichte nur das vorrangige und unmittelbar geltende Verordnungsrecht anzuwenden. Das ihm widersprechende nationale Recht bleibt außer Anwendung.141 Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ausnahmsweise der Verfassungsvorbehalt greift.142 Das ist aber regelmäßig nicht der Fall, weil die bisher vorgenommenen Übertragungen von Kompetenzen an die Gemeinschaften verfassungsrechtlich unbedenklich waren und das Gemeinschaftsrecht jedenfalls nach Erlaß der Grundrechtscharta auch unabhängig von dem Scheitern des Verfassungsvertrages eine ausreichende Grundrechtsgarantie enthält.
94
Anders liegt es bei einem Widerspruch des nationalen Rechts zu einer EG-Richtlinie. Die EG-Richtlinie verpflichtet den Mitgliedstaat dazu, sein Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Sie kann aber das Recht der Mitgliedstaaten nicht ändern oder außer Kraft setzen. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist.
95
Der ergebnislose Ablauf der Umsetzungsfrist führt dazu, daß die Kommission nach Art. 226 EG gegen den säumigen Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet und daß der EuGH die nachgewiesene Vertragsverletzung in einem Urteil feststellt. Kommt der Mitgliedstaat auch nach einer solchen Feststellung einer ihm von der Kommission gesetzten Frist zur Umsetzung der Richtlinie nicht nach, kann die Kommission nach Art. 228 EG beim EuGH die Festsetzung eines Zwangsgeldes 140 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Rn. 30 f.; ihm folgend BGH, NJW 2005, 742, 743. 141 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270; Groeben/SchwarzeSchmidt, Art. 249 EGV Rn. 2, 6; Streinz-Schroeder, Art. 249 EGV Rn. 46, 62. 142 Dazu Grabitz/Hilf-Nettesheim, Art. 249 EGV Rn. 46 ff.; Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EGV Rn. 5.
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§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
gegen den Mitgliedstaat beantragen. Diese Möglichkeiten stehen aber ausschließlich der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten zur Verfügung. Bürger und Unternehmen haben diese Rechtsbehelfe nicht. b)
Überbrückung durch Rechtsprechung
Die Versäumung der Frist zur Umsetzung einer Richtlinie ist regelmäßig in erster Linie ein Versäumnis des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers. Der Gesetzund der Verordnungsgeber des Mitgliedstaates sind aber nicht die einzigen Adressaten der Umsetzungspflicht. Die Umsetzungspflicht trifft vielmehr alle Organe des Staates, die dazu beitragen können. Das sind auch die Gerichte.143 Sie können eine privatrechtswirksame Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist zwar nicht unmittelbar anwenden. Sie haben sich aber bei der Auslegung des nationalen Rechts unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, jedenfalls dann, wenn die Richtlinie unbedingt und hinreichend bestimmt ist 144, soweit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, so daß das mit dieser verfolgte Ziel, auch im Verhältnis von Privaten untereinander, in größtmöglichem Umfang erreicht wird 145.
96
Das gilt auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist.146 Deshalb hätten die ordentlichen Gerichte beispielsweise die Vorgaben der Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft 147 beachten müssen, wenn sich ein Farbiger gegen die Verweigerung eines Mietvertrags zivilrechtlich hätte wehren wollen oder ein Verbraucherverband im Unterlassungsklageverfahren nach § 1 UKlaG ethnische Gruppen benachteiligende Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Überprüfung gestellt hätte. Das gilt nicht nur im Rahmen der §§ 138, 826 BGB,148 sondern auch im Rahmen anderer offener Tatbestände wie z.B. der §§ 307, 906 BGB und der §§ 1, 2 UKlaG. Das allerdings enthebt den Gesetzgeber nicht seiner EG-rechtlichen Verpflichtungen.149
97
143 EuGH v. 5.10.2004 – verb.Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 110 f. 144 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; BGHZ 151, 300, 315 – Elektronischer Pressespiegel. 145 EuGH v. 27.6.2000 – verb.Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial and Salvat Editores, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; BGH, NJW 2001, 3698, 3699 f. – U-Bahn-Waggons; NJW 1993, 3139 – Dos; BGHSt 37, 168, 174 f. 146 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 ff.; BGHZ 138, 55, 62 – Testpreis-Angebot. 147 ABl. 2000 Nr. L 180/22. 148 So etwa Palandt-Heinrichs, Anh. nach § 319 BGB Rn. 10. 149 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 21. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
98
IV.
Auslegungsmethoden
1.
Vorbemerkung
Der BGH ist zwar inhaltlich mit den unterschiedlichsten Fragen der Anwendung des Gemeinschaftsrechts befaßt. Gelegenheit zu einer vertieften Auslegung dieser Vorschriften hat der BGH aber selten. Wenn sich nämlich das Bedürfnis nach der eingehenden Auslegung dieser Vorschriften stellt, ist der BGH zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. In den Vorabentscheidungsersuchen nimmt der BGH allerdings zum Teil sehr ausführlich zur Auslegung von Richtlinien Stellung. Wenn der BGH EG-Vorschriften auslegt, wendet er je nach den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalls die klassischen Auslegungsmethoden an und berücksichtigt bei dem EG-Recht zusätzlich auch die Erwägungsgründe. Gelegentlich greift er auch auf die Stellungnahme der EU-Kommission in einschlägigen Verfahren zurück150, deren Verständnis als sog. Hüterin der Verträge trotz des Auslegungsmonopols des EuGH durchaus Gewicht zukommt. Im einzelnen ergibt sich folgendes. 2.
99
Die in der Rechtsprechung des BGH am häufigsten verwandte Auslegungsmethode ist die Wortauslegung.151 Das ist auch nicht verwunderlich, da der BGH von einer Vorlagepflicht vor allem dann befreit und zu einer eigenständigen Auslegung des EGRechts vor allem dann befugt ist, wenn sein Inhalt klar und eindeutig ist. Das ist er normalerweise nur, wenn sich der Inhalt des EG-Rechts schon aus dem Wortlaut ergibt. Dabei greift der BGH, wenn es eine einschlägige EuGH-Rechtsprechung zur Auslegung der Vorschrift gibt, auch auf diese Rechtsprechung zurück.152 Gelegentlich spielen auch die verschiedenen Sprachfassungen eine Rolle.153 3.
100
Wortlautauslegung
Systematische Auslegung
Eine systematische Auslegung des EG-Rechts unter Einbeziehung auch der Erwägungsgründe kommt in der Rechtsprechung des BGH häufiger vor. Gelegenheit hierzu besteht bei Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Hier kann der BGH nur einen Auslegungsvorschlag unterbreiten, die Vorschriften allerdings nicht selbst verbindlich auslegen.
150 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. 151 Beispiele: BGH, NJW 2005, 747; GRUR 2005, 258, 260 – Roximycin; GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut; NJW 2004, 2664, 2665 – Informatec (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilung) ebenso NJW 2004, 2668 und 2971; WRP 2004, 1378, 1380 – Citroën; MDR 2004, 1415, 1416; BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein; GRUR 2004, 793, 796 – Sportlernahrung II; BGHZ 158, 236, 244, 247 f. – Internet-Versteigerung; WM 2003, 2186 (Schrottimmobilien); BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; NJW 2001, 2963, 2965 (Vollmacht für Verbraucherkreditvertrag). 152 Z.B. BGH, RdL 2005, 82, 83; NJW-RR 2004, 210, 211; MDR 2004, 1415, 1416; NJW-RR 2000, 438, 439. 153 Z.B. BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; EuZW 2004, 537 – Nachbauvergütung.
580
Jürgen Schmidt-Räntsch
§ 23 Die Rechtsprechung des BGH
Gerade im Bereich des Marken- und Wettbewerbsrechts finden sich oft sehr eingehende Ausführungen auch zu den systematischen Zusammenhängen. Beispiele sind der Fall Bestellnummernübernahme 154 zum Zusammenspiel von Art. 3a Abs. 1 lit. d und g der Werbungsrichtlinie 155 oder der Fall Omeprazol 156 zur Gültigkeit und Auslegung der Art. 15 und 19 der Arzneimittel-Schutzzertifikat-Richtlinie 157.
101
Eine systematische Auslegung ist aber auch möglich, wenn der BGH ohne Vorlage an den EuGH selbst entscheiden kann. Denn eine Vorschrift ist nicht nur dann klar und eindeutig, wenn sich ihr Inhalt aus dem Wortlaut ergibt. Das kann auch aus systematischen Zusammenhängen folgen. Beispiele sind das Reitunfall-Urteil des BGH zu den EG-rechtlichen Vorgaben für die Möglichkeit des Reiseveranstalters, sich von der Haftung für Schäden des Reisenden zu entlasten,158 oder der Fall Kerosinzuschlag I 159 zu den EG-Vorgaben für nachträgliche Preiserhöhungen bei Pauschalreisen. Ausführungen zur Systematik von Gemeinschaftsrecht finden sich in geeigneten Fällen auch in Urteilen ohne vorherige Befassung des EuGH.160
102
4.
Historische Auslegung
Die historische Auslegung ist bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts in der Rechtspraxis des BGH ebenso wie bei der Auslegung des nationalen Rechts eher selten.161 Sie findet sich tendenziell eher bei Entscheidungen, die EG-rechtlich stärker durchdrungen sind.162 Bei Rechtsgebieten, die EG-rechtlich weniger stark durchdrungen sind, findet sich eine historische Auslegung nicht. 5.
103
Teleologische Auslegung
In der Rechtsprechung des BGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts findet sich auch die teleologische Auslegung. Zu berücksichtigen ist aber, daß der Rückgriff auf einen Zweck der Vorschrift in der Regel dann erforderlich ist, wenn sie nicht mehr klar und eindeutig und deshalb verbindlich vom EuGH auszulegen ist. Einige Ansätze für eine teleologische Auslegung finden sich deshalb vor allem in Vorabentscheidungsersuchen, in denen der BGH nur einen Entscheidungsvorschlag machen, aber nicht selbst entscheiden kann.163 154 BGH, GRUR 2005, 348 f. 155 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 1984 Nr. L 250/17, idF der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 Nr. L 290/18. 156 BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 157 Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates vom 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 Nr. L 182/1. 158 BGH, NJW 2005, 418, 420. 159 BGH, NJW 2003, 507, 508 f. 160 Z.B. BGH, NJW 2000, 3212, 3214 – Programmfehlerbeseitigung. 161 Z.B. BGH, NJW-RR 2002, 1615, 1616 – Bodensee-Tafelwasser. 162 Z.B. BGH, GRUR 2000, 1020, 1021 – La Bohème; BGH, NJW 2000, 521, 523 (Vorlage Heininger); ansatzweise auch GRUR 2000, 392, 393ff. – Opremazol. 163 Z.B. BGH, GRUR Int. 2001, 462, 463 f. – Stabtaschenlampen I; GRUR Int. 2000, 1017, 1020 – Davidoff I. Jürgen Schmidt-Räntsch
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3. Teil: Besonderer Teil
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Allerdings gibt es auch Fälle, in denen eine am Zweck des EG-Rechts ausgerichtete Auslegung durch das nationale Gericht möglich ist. Ein Beispiel ist das unberechtigte Festhalten eines ausländischen Schiffs unter Verstoß gegen die Anforderung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hier hatten sich die Landesbehörden mit einem Hinweis auf die Richtlinie 95/21/EG164 zu verteidigen versucht. Dies hielt einer an ihrem Zweck ausgerichteten Auslegung der Richtlinie offensichtlich nicht stand.165
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Weitere Beispiele sind das Schriftformerfordernis nach Art. 17 Abs. 1 EuGVÜ/ LugÜ 166, die Auslegung des § 312b Abs. 2 BGB 167 nach dem Schutzzweck der Fernabsatzrichtlinie 168, die Auslegung des § 137h UrhG 169 unter Rückgriff auf den Zweck des Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/83/EWG 170, die Bewertung von Vergabeentscheidungen am Zweck der maßgeblichen Koordinierungsrichtlinie 171, die Anforderungen an Packungsbeilagen für Humanarzneimittel 172 oder die Vorlagebeschlüsse zur Bemessung der Nachbauentschädigung im Sortenschutz 173. Dabei werden auch die bei deutschen Normen nicht vorhandenen Erwägungsgründe 174 berücksichtigt.175
V. 107
Fazit
– Der BGH kann EG-Recht nur auslegen, wenn es klar oder in der Rechtsprechung des EuGH geklärt ist. – Der BGH befaßt sich mit der Auslegung des EG-Rechts häufiger, als es dieser enge Rahmen erwarten läßt. – Gegenstand der Auslegung sind nicht nur EG-Vorschriften mit typisch zivilrechtlichem Inhalt, sondern auch Normen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt. – Der BGH folgt den klassischen Auslegungsmethoden, meist in einer knappen Wortauslegung. Gerade bei Vorabentscheidungsersuchen, aber auch in anderen Fällen, wendet er auch die anderen möglichen Auslegungsmethoden an. 164 Richtlinie des Rates v. 19.6.1995 zur Durchsetzung internationaler Normen für die Schiffssicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die Gemeinschaftshäfen anlaufen und in Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren (Hafenstaatkontrolle), ABl. 1995 Nr. L 157/1. 165 BGHZ 161, 224, 230 f. 166 BGH, MDR 2004, 1371. 167 BGH, NJW 2004, 3699, 3670. 168 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. Nr. L 144/19. 169 BGH, GRUR 2005, 48, 50 – Man spricht deutsch. 170 Richtlinie 93/83/EWG des Rates v. 27.9.1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk- und Kabelweiterverbreitung, ABl. 1993 Nr. L 248/15. 171 BGH, NZBau 2004, 517, 518; BGHZ 148, 55, 62 f. 172 BGH, NJW 1998, 3412, 3413 – Neutrotat forte. 173 BGH, EuZW 2005, 156, 158f. 174 Dazu Riesenhuber, oben, § 11 Rn. 36 ff.; zu ihrer Bedeutung bei überschießender Umsetzung: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA. 175 BGH, NJW-RR 2000, 631, 632 f. – Generika-Werbung; NJW 2005, 747.
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Jürgen Schmidt-Räntsch
Stichwortregister Fette Zahlen bezeichnen Paragraphen, magere Zahlen Randnummern.
Academia dei Giusprivatisti Europei 4, 36 acquis communautaire 3, 2, 79; 13, 8 Acquis Group 4, 36 acte clair 11, 16, 48; 19, 47, 58; 23, 31; s.a. Auslegung Adeneler-Urteil 16, 28; s.a. Vorwirkung von Richtlinien Agent, siehe Principal-Agent-Verhältnis Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht 4, 12, 38 Aktionspläne 4, 12, 38; 7, 52, 54 allgemeine Rechtsgrundsätze 4, 8; 8, 28, 35, 59; 18, 45 Analogie 13, 32, 37; 17, 33, 43; 18, 44 – im 19. Jahrhundert 3, 2 – im römischen Recht 3, 10, 14f. – in der Topik des 16. und 17. Jahrhunderts 3, 36 – und Erwägungsgründe 7, 43 – und Grundrechte 13, 38 – und Rechtssetzungsmonopol 3, 7 – Wortsinngrenze 13, 38; s.a. Rechtsfortbildung Analogieverbote 13, 17, 38f.; s.a. Analogie analogische Auslegung; s. Analogie im 19. Jahrhundert Änderung der Europäischen Verträge 8, 5 Anhörungsrüge analog § 321a ZPO 23, 38 Anwendungsbefehl 13, 4 Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts 8, 5, 9, 16, 61; 21, 32 Arbeitnehmer – Begriff 18, 51 – Schutz des 18, 40, 58
Arbeitssprache; s. Europäischer Gerichtshof Arbeitszeit 18, 60 argumentum e contrario 17, 32, 51 Auslandsgesellschaft 19, 71, 85 Auslegung 8, 6, 35; 13, 2f.; 23, 11 – Amtssprachen 3, 81; 4, 24; 8, 18ff.; 28, 34, 46, 55; 11, 15; 13, 4; 18, 17 – ausdehnende 3, 42 – authentische 8, 43 – autonome; s. autonome Auslegung – contra legem 22, 34ff. – des nationalen Rechts 23, 96 – dynamische 8, 12; 19, 21, 60 – einheitliche 15, 4, 24ff.; 18, 13 – europarechtsfreundliche 19, 22, 23 – extensive 3, 36 – gemeinschaftskonforme; s. gemeinschaftskonforme Auslegung – gespaltene 23, 81 – grammatikalische 3, 35; 4, 24; 8, 18, 39; 18, 16; 22, 14 – Grundfreiheiten 8, 25 – historische 3, 32; 8, 31f.; 22,15 – Kanon 3, 21; 22, 13 ff. – nationales Recht 22, 10ff. – offenkundige; s. acte clair – Orientierung an traditioneller Methode 18, 43 – Parteierklärungen 17, 13 – Primärrecht – – grammatikalische 8, 18ff. – – historische 8, 14, 31f., 39 – – systematische 8, 23, 25, 62 – – teleologische 8, 28
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Stichwortregister
– primärrechtskonforme; s. primärrechtskonforme Auslegung – Rechtstextzusammenhang 18, 20 – rechtsvergleichende 8, 39; 22, 6f. – restriktive 3, 36 – richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Auslegung – Schutz der Arbeitnehmer 18, 39 – Sekundärrecht – – authentische 11, 29, 31 – – autonome 11, 4 – – historische 4, 26; 11, 30ff. – – grammatikalische 11, 14ff. – – integrationsfreundliche 11, 42 – – prinzipiell-systematische 11, 25 – – systematische 11, 22 ff. – – teleologische 7, 42f.; 11, 40ff. – Sprachfassungen 3, 81; 4, 24; 8, 18ff.; 28, 34, 46, 55; 11, 15; 13, 4; 18, 17 – objektiv-teleologische 5, 24 – subjektiv-historische 3, 32 – systematische 4, 27; 8, 58, 62; 18, 20; 22, 16 – teleologische 4, 28; 8, 3, 64; 22, 17 – und Konkretisierung von Generalklauseln 12, 26; s.a. dort – Unionsrechts 8, 9, 13f., 41ff., 54, 65 – verfassungskonforme; s. verfassungskonforme Auslegung – Vertrag 17, 17 – Völkerrecht – – grammatikalische 8, 46, 48 – – historische 8, 51 – – rechtsvergleichende 8, 52 – – systematische 8, 47 – – teleologische 8, 48, 49 – völkerrechtlicher Verträge 8, 42 – Vorrangregelung 8, 61 – Wortlaut; s. Auslegung – grammatikalische – Ziel 11, 9 – – objektive Theorie 11, 11 – – subjektive Theorie 11, 10; 13, 26, 42 – – Vereinigungstheorie 11, 12 Auslegungselemente 7, 42
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Auslegungsergebnisse 8, 55 Auslegungsgrundsätze 8, 1 – in dubio pro consumente 11, 60 Auslegungsmethoden 8, 1f; 13, 23, 39; s.a. Auslegung – Gemeinschaftsrecht 8, 1 – grammatikalische 8, 1 – historische 8, 1 – Rangverhältnis 8, 39, 54 – systematische 8, 1, 14, 20, 39 – teleologische 5, 5, 20f.; 8, 1, 14, 39, 58 – Verhältnis der Auslegungskriterien 11, 47ff. – völkerrechtliche 8, 9 Ausnahmen; s. singularia non sunt extendenda Ausnahmeregeln 11, 61 Ausschlußregeln 3, 31 Ausschuß der EU-Wertpapierregulierungsbehörden 20, 7 Außenverhältnisse 10, 43 authentische Auslegung 11, 29, 31 autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln 21, 33 autonome Auslegung 8, 21, 34; 13, 4; 22, 18 – Sekundärrecht 11, 4 – Vermutungsregel 11, 7 autonome Vertragsinterpretation 8, 6 Basel II 7, 34 Begründungserwägungen 7, 39ff.; 18, 23; 22, 19; 23, 106 – Rechtsnatur 11, 36 beschränkte Rationalität 5, 50 Bessere Rechtsetzung 22, 4 Betriebspensionen 18, 49 Betriebsübergangsrichtlinie 18, 61 Beurteilungsspielraum der Kommission 21, 28 Binnenmarkt 6, 6; 11, 42; 18, 38 Binnenmarktintegration 6, 5 Binnenmarktkompetenz 6, 5, 8, 24 Bosman-Urteil 7, 25 bounded rationality; s. eingeschränkte Rationalität Bundesverfassungsgericht 8, 56
Stichwortregister
C.I.L.F.I.T.-Urteil 22, 28f. CESR; s. Commitee of European Securities Regulators Coase-Theorem 5, 48 Code Civil 3, 6 Codes of Best Practice 7, 57 Commitee of European Securities Regulators (CESR) 7, 55; 20, 7 – Advices 20, 18 Commission on European Contract Law 4, 36 Common Core of European Private Law 4, 36 Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen contra legem 13, 3, 26, 43; s.a. Rechtsfortbildung contra legem-Rechtsfindung 13, 40 contra legem-Verbot 13, 3 Corporate Governance 19, 16, 19, 27 Corporate Governance-Kodex 7, 57 deklarative Auslegung 3, 36 Delegationsnormen 12, 4 Delimitis-Urteil 21, 25 Demokratieprinzip 13, 4, 18 déni de justice 17, 44 Direktwirkung 7, 37 Diskriminierungsverbot 13, 32; 18, 36, 53ff. – Europäisches Arbeitsrecht 18, 36, 53ff. – vergleichbare Lage 18, 54 dispositives Recht 17, 14 – Analogie 17, 33 – Anwendung klassischer Auslegungsregeln 17, 23 ff. – argumentum e contrario 17, 32 – Aufgabe 17, 14 – Inhaltskontrolle 17, 42 – Nachrangigkeit 17, 14 – Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht 17, 36 – Rechtsquelle 17, 34 – Selbstbeschränkung des Gemeinschaftsgesetzgebers 17, 28 – ständige Rechtsprechung 17, 35 – systematische Paradoxon 17, 30
Drittwirkung 7, 11, 15 Durchführungsrichtlinie 20, 13, 23 Dynamik des Europäischen Privatrechts 11, 43 Dynamik des Gemeinschaftsrecht 8, 12, 44 dynamische Auslegung; s. Auslegung dynamische Verweisung 21, 39 e contrario-Argument 11, 32 Eckpunktemodell 10, 13 école de la libre recherche scientifique 3, 25 economic analysis of law; s. Ökonomische Analyse des Rechts ECTIL; s. European Centre of Tort and Insurance Law Effektivitätsgrundsatz 8, 44 effet utile 7, 15, 31, 36f.; 8, 27, 30, 36, 60, 49; 19, 51, 77 Effizienzkriterien 21, 22 eigennutzorientiertes Rationalverhalten 5, 38, 45 eingeschränkte Rationalität (bounded rationality) 5, 52 einheitliche Auslegung 15, 4, 24ff.; 18, 13; s.a. Auslegung einheitliche Rechtsprechung, Sicherung der 23, 26 Einheitsrecht; s. internationales Einheitsrecht Einzelfallanwendung 23, 13 Einzelfallgerechtigkeit 13, 43 Einzelrichter 23, 20 EMRK 8, 37, 59 Entgelts, Begriff 18, 53 Entscheidungserheblichkeit; s. Vorabentscheidungsverfahren Entstehungsmaterialien im Völkerrecht 8, 51; s.a. Auslegung ergänzende Vertragsauslegung 17, 14 Erwägungsgründe; s. Begründungserwägungen estoppel-Prinzip 7, 15 EuGH; s. Europäischer Gerichtshof EuGVÜ; s. Europäisches Gerichtsstandund Vollstreckungsübereinkommen Euro-Marketing 6, 21
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Stichwortregister
Europäische Methodenlehre 5, 2 – Begriff 1,10 Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 4, 10 Europäische Union – Tempelmodell 8, 7 – Verfassungsvertrag 8, 61 Europäische Vertragsgrundregeln 4, 38 Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) 10, 17 Europäischer Gerichtshof (EuGH) – Arbeitssprache 18, 17 – Aufgaben 22, 4, 20ff. – Auslegungszuständigkeit 8, 15f. – Begründungsaufwand 18, 4 – Beurteilungsspielraum 21, 28 – faktische Rechtsquelle 13, 10 – Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts 18, 2 – Funktionsteilung 22, 20ff. – gesicherte Rechtsprechung 23, 33 – Gestaltungsspielraum 18, 17 – Gleichbehandlung der Fälle 13, 10 – Gleichberechtigung aller Amtssprachen 3, 8 – konkret-individuelle Entscheidungsfindung 13, 9 – obiter dicta 13, 10 – Präjudizienbindung 13, 10 – Richterrecht 13, 8 – Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung 23, 26 – stare decisis-Doktrin 13, 10 – Verweis auf Vorjudikatur 18, 9 – Vorabentscheidungsverfahren; s. dort – Zusammensetzung 22, 3f. Europäisches Arbeitsrecht – Arbeitgeberinteressen 18, 40 – arbeitsrechtliche Schutzvorschriften 18, 37 – Auslegung und Rechtstextzusammenhang 18, 20 – Diskriminierungsverbote 18, 36 – Entstehungsgeschichte 18, 28 – grammatikalische Auslegung 18, 16 – inneres System 18, 34 – kompetenzkonforme Interpretation 18, 29
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– – – –
Kollektives Arbeitsrecht 18, 63 Leitbild 18, 39 Mindestvorschriften 18, 37, 39 objektiv-teleologische Interpretation 18, 23 – Primärrechtsgrundlage 18, 23 – Rechtsfortbildung 18, 50 – Rechtstextzusammenhang 18, 20 – Rechtsvergleichung 18, 28 – Sanktion 18, 56 – Schwangerschaft 18, 55 – systematische Auslegung 18, 20 – Teilharmonisierung 18, 22 – Totalharmonisierung 18, 22 – und Grundfreiheiten 18, 57 – und Grundrechte 18, 45 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 18, 48 – Vertrauensschutz 18, 49 Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) 4, 10, 13 Europäisches Gesellschaftsrecht – Aktionärsschutzmodell 10, 53 – Aufsichtsrat 19, 81f. – Auslandsgesellschaft 19, 71 – Außenverhältnis 10, 43, 58 – dynamische Auslegung 19, 21, 60 – Generalisierbarkeit 10, 59 – Gesellschaftsstatut 19, 61, 65, 70f. – Gründungstheorie 19, 69f. – Hauptversammlungskompetenz 19, 78 – Informationsmodell 10, 63; 19, 13 – Kapitalverkehrsfreiheit 19, 3, 9, 13 – Kollisionsrecht 19, 1, 3, 67f. – Kompatibilität der Formen 10, 56 – Niederlassungsfreiheit 19, 6 – Quotenveränderung 10, 52 – Rechnungslegung 10, 44 – Scheinauslandsgesellschaft 19, 67 – Sitztheorie 19, 68, 70 – Umstrukturierung 10, 57 – Vier-Kriterien-Test 19, 73 – Wettbewerb der Rechtsordnungen 10, 54; 19, 7, 20, 56, 66, 83, 88 Europäisches Kapitalmarktrecht – Advices 20, 18 – Durchführungsrichtlinie 20, 13, 23
Stichwortregister
– Feedback Statements 20, 18 – Querschnittsmaterie 20, 1 – Rahmenrichtlinie 20, 13 – Recommendation 20, 26 Europäisches Kartellrecht – Bekanntmachungen 21, 10 – dezentralisierte Anwendung 21, 7 – Leitlinien 21, 10 – ökonomische Analyse 21, 13, 18 – Quellen 21, 3 – Selbstbindung der Kommission 21, 10 – und AGB-Kontrolle 21, 17 Europäisches Privatrecht, Grundfreiheiten 4, 7 Europäisches Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 4, 13 Europäisches Sozialmodell 18, 38 Europäisches Vertragsgesetzbuch 7, 47, 53 Europäisches Vertragsrecht 10, 26; 17, 1ff.; s.a. Vertrag – Aktionsplan der Kommission 4, 12, 38 – Informationsmodell 10, 39 – Wettbewerb der Formen 10, 35 Europarechtsfreundlichkeit 19, 88 European Centre of Tort an Insurance Law (ECTIL) 4, 36 European Civil Code 7, 17, 20 – Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen European Principles of the Law of Torts 17, 7 EVÜ; s. Europäisches Schuldvertragsübereinkommen Expertenrecht 7, 55 favor laboris 18, 34 Feedback Statements 20, 18 Feststellung der Nichtigkeit 13, 41f. Fernabsatzrichtlinie 7, 34 Fernabsatzmarkt 6, 26 Financial Services Action Plan 20, 4 FKVO; s. Fusionskontrollverordnung Folgenabschätzung 18, 23; 22, 4, 9 Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts 18, 2 Francovich-Urteil 7, 48
Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – analogie proprement dite 3, 74 – argumentum a contrario 3, 70 – Aubry 3, 68, 71 – ausdehnende Auslegung 3, 71 – beschränkende Auslegung 3, 71 – école de l’exégèse 3, 68 – école de la libre recherche scientifique 3, 74 – erläuternde Auslegung 3, 71 – François Gény 3, 74 – grammatische Auslegung 3, 71 – interprétation extensive de la loi 3, 74 – interprétation par analogie 3, 76 – logische Auslegung 3, 71 – Rau 3, 68, 71 – Raymond Saleilles 3, 74 – sens clair 3, 72 – Topos 3, 70 – Wortlautgrenze 3, 69 – Zachariä von Lingenthal 3, 19, 24, 68 Freiburger Kommunalbauten-Urteil 12, 19; 23, 13 Freiburger Schule 21, 22 Freirechtsschule 3, 25 Fristsetzungserfordernis 15, 23, 38 Frustrationsverbot 16, 19; s.a. Vorwirkung von Richtlinien funktionaler Unternehmensbegriff 21, 16 funktionelle Beschränkung 16, 48; s.a. Vorwirkung von Richtlinien Funktionentrennung 3, 81 Funktionsteilung EuGH/nat. Gericht 22, 20ff. Fusionskontrollverordnung (FKVO) 21, 9 GASP; s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Geltungsgrund, autonomer 13, 4 Gemeines Recht – Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund 3, 17 – extensive Auslegung 3, 17 – grammatische Auslegung 3, 17 – logische Auslegung 3, 17
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Stichwortregister
Gemeineuropäische Rechtsprinzipien 7, 48 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 8, 3, 7, 41, 61 Gemeinsamer Referenzrahmen 4, 18f., 17, 7, 45, 47 – Auslegungsgesichtspunkte 17, 48 – Systembildung 17, 47 – Toolbox 17, 46 – Zweck 17, 46 gemeinschaftsautonome Auslegung; s. Auslegung Gemeinschaftscharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 18, 23, 45 Gemeinschaftsgrundrechte – Analogieverbot 13, 38 – des Arbeitnehmers 18, 47 – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 45 – negative Koalitionsfreiheit (des Arbeitgebers) 18, 46 – Rechtsfortbildung 8, 57ff. – Tarifautonomie 18, 46 – Vereinigungsfreiheit 18, 46 Gemeinschaftsgrundrechtscharta 8, 59 Gemeinschaftsprivatrecht, System 3, 81 Gemeinschaftsrecht – Adressaten 17, 36 – Anwendbarkeit unter Privaten 17, 8 – Auslegung 17, 11; 23, 11 – Auslegungsmethoden 8, 1 – begrenzte Regelungskompetenz 13, 6 – dynamische Entwicklung 8, 12, 44 – Geltungsvorrang 8, 5 – methodische Vorgaben 17, 8 – Rechtsnatur 8, 11 gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch 8, 37; 23, 38 gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 7, 50; 9, 42ff.; 14, 9f.; 22, 30ff.; 23, 76 – Grundlage im Gemeinschaftsrecht 14, 10 – interpretatorische Vorrangregel 9, 50 – nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten 9, 52f. – nationales Recht des forum 9, 52 – Reichweite 9, 52ff.
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– Stellung im System der juristischen Methodenlehre 9, 50 – Verhältnis zur richtlinienkonformen Auslegung 14, 9f. – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 9, 50 Gemeinschaftsrechtsordnung 8, 10 Generalklauseln 12, 1ff.; 17, 31 – Konkretisierung; s. Konkretisierung von Generalklauseln – nationale 23, 83 Gesamtanalogie 3, 42; s.a. Analogie Gesamtkanon der Auslegungsmethoden Savignys 3, 31 Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht 4, 36 Gesellschaftsrecht 19, 72; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gesellschaftsstatut 19, 61, 65, 70f.; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gesetzeslücken 3, 37 Gesetzesmaterialien 7, 40 Gesetzesstruktur 8, 24 Gesetzesvorbehalt 17, 43 gesetzgeberische Regelungsabsicht 13, 18 Gesetzgebungskommission; s. refere legislatif 3, 1, 9 gespaltene Auslegung 15, 4, 40ff.; 20, 34; 23, 81 Gestaltungsspielraum des Europäischen Gerichtshofs 18, 17 Gewaltenteilungsprinzip 3, 81; 13, 14, 42, 44 Gewaltentrennung 3, 81 Gleichberechtigung der Rechtsordnungen 11, 6 Gleichheit der Staaten 8, 11, 53 Gleichheitssatz, allgemeiner 13, 32f. graduelle Wirkungsintensität 16, 6; s.a. Vorwirkung von Richtlinien Größenschluß 18, 44 Grundfreiheiten – Anwendung unter Privaten 7, 27; 17, 8 – Arbeitsrecht 18, 57 – Größenvorteile 6, 21 – Ökonomische Analyse 6, 16
Stichwortregister
– Rechtsfortbildung 8, 57 f. – Rechtsquellen 7, 21 – unmittelbare Drittwirkung 7, 25 grundfreiheitenkonforme Auslegung 9, 5, 39 – Begriff 9, 6 – bei Totalharmonisierung 9, 12ff. – rahmenbeschlußkonforme 9, 6 – Spielarten 9, 5 – und Mindestharmonisierung 9, 11 – von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht 9, 5 – von nationalem Recht 9, 5 grundrechtskonforme Auslegung 9, 5; 13, 35 – Begriff 9, 6 – rahmenbeschlußkonforme 9, 6 – Spielarten 9, 5 – von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht 9, 5 – von nationalem Recht 9, 5 Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft 18, 39 Gründungstheorie 19, 69f.; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gruppenfreistellungsverordnungen 21, 8 Gültigkeitskontrolle 8, 9 Hanse Law School 4, 40 Harmonisierungskonzept 11, 23 Harmonisierungsziel 4, 3, 25 Hauptversammlungskompetenz 19, 78; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Heininger-Urteil 15, 46 Hermeneutik der Aufklärung 3, 19 historische Auslegung; s. Auslegung Höchstnorm 19, 48, 50, 64, 65, 66 Horizontalwirkung 7, 11, 15, 20, 25, 37 hybride Normen 15, 2 hypothetischer Konsens 5, 9 internationales Einheitsrecht 4, 4, 14, 16, 31 IAS; s. International Accounting Standards IAS/IFRS-Verordnung 4, 15; s.a. International Accounting Standards ICC; s. International Chamber of Commerce
implication in fact 17, 14 implied powers 8, 27 in dubio pro consumatore 11, 54 in dubio pro consumente 11, 54 Informationsasymmetrie 6, 25 Informationsmodell 10, 39; 19, 13, 26, 66, 83, 89 inhaltliche Übererfüllung 15, 20 Inhaltskontrolle; s. Vertrag Inneres System des Europäischen Arbeitsrechts 18, 34 Inspire Art-Urteil 19, 26, 67, 73, 85 institutionelle Ordnung 12, 8; s.a. institutionelles Gleichgewicht institutionelles Gleichgewicht 13, 14, 18, 36; s.a. institutionelle Ordnung Institutionenökonomik 5, 5, 65 Inter-Environnement Wallonie-Urteil 16, 12 intergouvernementale Bereiche 8, 2, 7, 61; s.a. GASP bzw. PJZS International Accounting Standards (IAS) 4, 15 International Chamber of Commerce (ICC) 4, 12 interprétation par analogie 3, 3, 25 interpretatorische Gesamtabwägung 15, 37 Italienische Rechtswissenschaft – interpretazione autentica 3, 77 – interpretazione dichiarativa 3, 77 – interpretazione dottrinale 3, 77 – interpretazione estensiva 3, 77 – interpretazione giudiziale 3, 77 – interpretazione letterale 3, 77 – interpretazione logica 3, 77 – interpretazione restrittiva 3, 77 – voluntas legis 3, 77 ius commune 3, 84 Jahresabschluß-Richtlinien 4, 15 judikative Rechtsfortbildung; s. Rechtsfortbildung Junk-Urteil 11, 6 Kaldor-Hicks-Kriterium 5, 55 Kammervorlage; s. Vorabentscheidungsverfahren
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Kanon 3, 31; s.a. Auslegung Kant 3, 20 Kapitalaufbringung 19, 62 – und Umgehungsschutz 19, 59 Kapitalerhaltung 19, 62 Kapitalverkehrsfreiheit 19, 3, 9, 13 Kartellrecht 6, 2; 21, 1; s.a. Europäisches Kartellrecht Kasuistik 3, 85 Keck-Urteil 6, 16, 21 Klauselrichtlinie 12, 16; 22, 26f. Kleinwort Benson-Urteil 21, 37 Kodifikationsbewegung um 1800 3, 6 Kodifikationsvoraussetzungen 3, 37 Kohärenzgebot 8, 7; 21, 23 Kollektives Arbeitsrecht 18, 63; s.a. Europäisches Arbeitsrecht Kollisionsrecht 19, 1, 3, 67f., 71f. Komitologieverfahren 7, 55, 59; 20, 5 Kommission – Aktionspläne 4, 12, 38; 7, 52, 54; s.a. soft law – Beurteilungsspielraum 21, 28 – Mitteilungen 7, 52; s.a. soft law Kompetenz-Kompetenz 13, 15 kompetenzkonforme Interpretation im Europäischen Arbeitsrecht 18, 2 konkret-individuelle Entscheidungsfindung 13, 9 f., 15 Konkretisierung von Generalklauseln 12, 1ff. – Leitbilder 12, 37 – Prinzipien 12, 37 – Recht im Werden 12, 40 Konsensprinzip 8, 4, 7, 43 Konstitutionenökonomik 5, 5, 65; s.a. Ökonomische Analyse des Rechts Konzept des „informierten“ Verbrauchers 10, 22; s.a. Verbraucherleitbild, in dubio pro consumatore Koregulierung 7, 57, 59 Lamfalussy-Bericht 20, 5 Lamfalussy-Prozeß 7, 55 legal transplant 19, 57 Legalausnahme 21, 7 Leitbilder 11, 44ff.; 12, 37; 18, 39 Leur-Bloem-Urteil 15, 26ff.
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lex contractus 17, 34 lex posterior 8, 5 lex superior 13, 34 local hill phenomenon 19, 27, 57, 84f., 89 Lücke 13, 3, 27ff., 37, 39, 42; s.a. Auslegung bzw. Rechtsfortbildung – planmäßige 19, 80 – planwidrige 19, 80 Maastricht-Urteil 8, 56 Mahnverfahren 4, 13 Mangold-Urteil 16, 14 Marktbürger 7, 13 Marktmißbrauchsrichtlinie 6, 6 Marktwirtschaft 6, 3 Marktzutritt 6, 18, 20 Masterfoods-Urteil 21, 25 Materialien, Sekundärrecht 11, 33ff. materielle Freiheit 10, 19 Mehrheitsprinzip 8, 4, 7 Mehrsprachigkeit des Gemeinschaftsrechts 13, 6, 17; s.a. Auslegung, Sprachfassungen Methode; siehe Auslegungsmethode Methodengrundsätze 8, 1, 10, 12 Methodenlehre – europarechtliche 1,10 – gemeineuropäische 1, 1, 10 – Hauptfunktion 18, 4 Methodenwahl 7, 42, 51 methodologischer Individualismus 5, 39, 45, 70 Mindestharmonisierung 7, 29, 33ff.; 15, 20 Mindestnorm; s. Mindestvorschriften Mindestvorschriften 18, 31, 37, 40; 19, 48, 64ff. Mitbestimmungsvereinbarungen 19, 76 mitgliedstaatliche Gerichte 8, 16 mitgliedstaatliche Grundsätze – Demokratie 13, 4 – Rechtsstaatlichkeit 13, 4 mitgliedstaatliche Verwaltungsbehörden 8, 16 Mitteilungen der Kommission 7, 52; s.a. soft law mittelbare Wirkung 7, 11; s.a. unmittelbare Wirkung und Horizontalwirkung
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Modellgesetz 10, 4 more economic approach 21, 8, 22 Nachweisrichtlinie 18, 62 nationale Generalklauseln 23, 83 Neue Institutionenökonomik 5, 48, 49; s.a. Ökonomische Analyse des Rechts Nichtigkeit, Feststellung der 13, 41f. Nichtigkeitsklage 13, 36 Niederlassungsfreiheit 10, 55; 19, 6 Normspaltung 15, 36 ÖAR; s. Ökonomische Analyse des Rechts obiter dicta 13, 10 objektive Theorie, s. objektiv-teleologische Auslegung objektiv-teleologische Auslegung 3, 32; 11, 11 Obligationenrecht 17, 2 Océano-Urteil 12, 18; 23, 13 Ökonomik 5, 5, 8 Ökonomische Analyse des Rechts 5, 35, 46, 49 ökonomische Analyse im Europäischen Kartellrecht 21, 13 ökonomische Theorie 5, 2f. – normative 5, 3 – positive 5, 3 Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex 10, 9 optionelles Instrument 4, 19 opt-out 15, 16 Organisationsautonomie des Aufsichtsrates 19, 81f.; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Pandektenwissenschaft 3, 6 – (Gesetzes)-Analogie 3, 63 – ändernde Auslegung 3, 55 – Arndts 3, 55 – ausdehnende Auslegung 3, 64 – Baron 3, 55 – Brinz 3, 55 – deklarative Auslegung 3, 47 – deklaratorische Auslegung 3, 64 – Dernburg 3, 55 – Erxleben 3, 54 – extensive Auslegung 3, 47, 64
– Freirechtsschule 3, 65, 66 – Gesamtbetrachtung 3, 64 – Gesetzeslücke 3, 63 – Göschen 3, 54 – grammatische Auslegung 3, 64 – Hufeland 3, 48 – Kohler 3, 59 – Kontrolle des Richters 3, 50 – korrigierende Auslegung 3, 55 – logische Auslegung 3, 64 – Mühlenbruch 3, 55 – Puchta 3, 57 – Reichsgericht 3, 66 – restriktive Auslegung 3, 47, 64 – Richterbindung 3, 53 – Vangerow 3, 55 – verba legis 3, 52 – Verbot der Rechtsverweigerung 3, 53 – voluntas legis 3, 52f. – Windscheid 3, 60, 61, 62, 63 – Wortlautgrenze 3, 47, 51, 64 parol evidence rule 17, 20 Parteierklärungen 17, 13; s.a. Auslegung persuasive authority 4, 33 PJZS, siehe Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen planmäßige Lücke 19, 80; s.a. Lücke bzw. Rechtsfortbildung planwidrige Lücke 19, 80; s.a. Lücke bzw. Rechtsfortbildung Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 8, 3, 7, 41 positive Analyse 5, 7 Positivismus 3, 26 Pragmatische Schlüsse 18, 44 – Analogie 18, 44; s.a. dort – Größenschluß 18, 44 – Umkehrschluß 18, 44 Präjudizien 13, 10, 22f., 24; 22, 40ff. Primärrecht 4, 8; 7, 21; 8, 14, 31, 66; 9, 60 ff.; s.a. Auslegung – als Gegenstand der Konformauslegung 9, 60 ff. – national-verfassungskonforme Auslegung 9, 67 f. – sekundärrechtskonforme Auslegung 9, 66
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Stichwortregister
primärrechtskonforme Auslegung 9, 3, 7, 38, 42 – als interpretatorische Vorrangregel 9, 27 – Begriff 9, 4 – des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts 9, 7ff. – des Gemeinschaftsrechts 8, 14 – Funktion 9, 3, 25 – Geltungsgrund 9, 20ff., 42ff. – grundfreiheitenkonforme Auslegung 9, 9ff., 40; s.a. dort – grundrechtskonforme Auslegung 9, 9ff. – methodologische Grenze 9, 31ff. – mögliche Bezugspunkte der 9, 8, 39 – nationales Recht 9, 38ff. – Reichweite 9, 29ff. – Sekundärrecht 11, 49 – Stellung im System der juristischen Methodenlehre 9, 28 – und Anwendungsbereich des primären Gemeinschaftsrechts 9, 40 – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 9, 27 Primärrechtskonforme Rechtsfindung – Gemeinschaftsgrundrechte 13, 35 primärrechtskonforme Rechtsfortbildung 9, 32ff., 35, 55ff. – Analogieschluß 9, 35 – methodologische Grenzen 9, 55ff. – Mittel der 9, 35 – teleologische Reduktion 9, 35 – Verbot des contra-legem-Judizieres 9, 36 primärrechtsorientierte Auslegung 9, 41 principles, gemeineuropäische 12, 34 Principles of European Contract Law 17, 17, 50 – culpa in contrahendo 17, 7 – einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte 17, 7 – System der Rechtsbehelfe 17, 7 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 12, 7; 13, 6, 13, 15, 29; 15, 2; 23, 2 Prinzip der Gemeinschaftsverfassungsorgantreue 13, 20 Prinzipal-Agent-Verhältnis 5, 39, 65
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Prinzipien des Gemeinschaftsrechts 12, 37; s.a. Leitbilder Privatrecht 7, 16, 24 – dispositives 7, 24 – klassisches 7,16 – regulatives 7, 16, 18 – regulierendes 7, 24 – zwingendes 7, 24 Privatrechtsvereinheitlichung 7, 47 Qualität der Rechtsprechung 22, 4f. Querschnittskompetenzen 23, 2 Rahmenbeschluß 23, 69 Rahmenrichtlinien 20, 13 Rat 8, 4, 7, 33 ratio legis 3, 33 Rechnungslegung 10, 44 Recht im Werden 12, 40 Rechtsangleichung 4, 7; 7, 44 Rechtsangleichung und Harmonisierungskonzept 11, 23 Rechtsfortbildung 3, 4, 46; 5, 2, 18; 8, 36, 55, 63, 66; 9, 32, 55; 13, 2; 14, 1ff.; 22, 17 – Analogieschluß 9, 56 – beschränkte Regelungszuständigkeit 13, 13 – contra legem 7, 51 – Grenze 13, 2 – Grundfreiheiten 8, 57ff. – Grundrechte 8, 57ff. – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 50 – im Primärrecht 8, 2 – Lücke 13, 3, 27ff., 37, 39, 42; 19, 80 – Mittel der 9, 56 – primärrechtskonforme 9, 32 ff., 55 ff.; s.a. dort – richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Rechtsfortbildung (nationalen) Rechts – teleologische Reduktion 9, 56 – überlieferte Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EU 13, 8 – und teleologische Auslegung 8, 55 – Verbot des contra-legem-Judizierens 9, 57
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– Wortlautgrenze 3, 24; 35, 35, 81; 13, 1, 26, 36; 23, 77 – Wortsinngrenze 13, 2, 16 f., 38 – Zulässigkeit 9, 33 f. Rechtsgrundsätze – allgemeine 8, 27, 52 – effet utile, s. effet utile – implied powers, s. implied powers – völkerrechtliche 8, 52 rechtsgrundsatzkonforme Auslegung 9, 5 – Begriff 9, 6 – rahmenbeschlußkonforme 9, 6 – Spielarten 9, 5 – von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht 9, 5 – von nationalem Recht 9, 5 Rechtsnatur – des Gemeinschafts- und Unionsrechts 8, 1 – des Gemeinschaftsrechts 8, 6 – des Unionsrechts 8, 42 – von Begründungserwägungen; s. dort Rechtsökonomik 5, 45 Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union 8, 8, 61 Rechtsquellen – Gemeineuropäische Rechtsprinzipien 7, 48 – Primärrecht 7, 25ff. – Richtlinien 7, 28ff. – soft law 7, 52ff.; s.a. soft law – Verordnungen 7, 45ff. Rechtsquellenlehre 7, 1ff. – angelsächsische 7, 7 – europäische 7, 1, 7 – französische 7, 7 Rechtssetzungsbefugnis 8, 5 Rechtssicherheit 8, 33; 13, 10, 20f. rechtsstaatliche Grundsätze 13, 4, 41 Rechtstextzusammenhang im Europäischen Arbeitsrecht 18, 20 Rechtsunterricht 4, 39 Rechtsvereinheitlichung 4, 4; 7, 44; 11, 42 Rechtsvergleichung 4, 1ff. 8, 34, 35, 53 – Bedeutung bei der Rechtssetzung 4, 6 – Europäisches Arbeitsrecht 18, 28 – Europäisches Privatrecht 4, 1 – legislative 4, 2
Rechtsvergleichung in der juristischen Ausbildung 4, 35 Recommendation 20, 26 référé législatif 3, 1, 9, 15, 45 Referenzmaßstäbe – Beispiel: AGB-Kontrolle 12, 31 – gemeinschaftsautonome 12, 32; s.a. Gemeinsamer Referenzrahmen Regelsetzung – dezentrale 10, 6 – zentrale 10, 6, 15 Regelungsentwürfe 11, 28f. Regelungsinstrument 6, 31 Regelungsziel 4, 3, 25 Regelungszweck 18, 23, 42 Relativität der Rechtsbegriffe 11, 21 Ressourcenknappheit 5, 45 Richterrecht 13, 8 Richtlinie 7, 28, 37, 43f.; 14, 1ff.; 15, 5ff.; 17, 9 – Anwendungsbereich 15, 5ff. – Belastungsverbot 7, 37 – Direktwirkung 7, 13, 37 – graduelle Wirkungsintensität 16, 6 – mediatisierte Rechtssetzung 7, 29 – Optimierungsgebot 17, 9 – opt-out 15, 16 – örtlicher Anwendungsbereich 15, 12 – richtlinienkonforme Auslegung 17, 9 – sachlicher Anwendungsbereich 15, 10 – Sanktionen 7, 33, 36; 18, 56; 23, 5 – Stillhaltegebot 19, 23 – Übererfüllung 15, 14 – Umsetzungsverpflichtung 17, 9 – unmittelbare Anwendbarkeit 7, 37; 14, 12ff.; 16, 6; 23, 67, 71 – unmittelbare Geltung 17, 10 – unmittelbare Wirkung 18, 66 – vertragsrechtliche 17, 9 – Vorwirkung; s. Vorwirkung von Richtlinien – Wirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen 17, 10 – mißbräuchliche Klauseln; s. Klauselrichtlinie Richtlinien und Lücken 13, 30 richtlinienkonforme Auslegung 7, 9, 37, 49f.; 14, 1ff.
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– – – –
Adressat; s. Verpflichtete 14 Auslegung 14, 17ff. Begriff 14, 9, 24 Gegenstand – – nationales Recht 14, 3ff., 15 – – Recht anderer Mitgliedstaaten 14, 6ff. – Grundlagen – – im Gemeinschaftsrecht 14, 3ff., 10, 11 – – im nationalen Recht 14, 37 f. – (methodische) Vorgaben aus dem Gemeinschaftsrecht 14, 25ff. – – Auslegung contra legem? 14, 33 – – Gleichbehandlung 14, 30f. – – Normenkollision 14, 31 – – Vermutung richtlinienkonformer Umsetzung 14, 27ff. – – Vorzugsregel 14, 26 – Rechtsfindung 7, 30f.; 14, 17ff. – Schranken 14, 34ff., 44 f. – Subsidiarität 14, 14 – Umsetzung im nationalen Recht – – Auslegungsmethoden 14, 39 – – Normenkollision 14, 54ff. – – Rechtsfortbildung; s. richtlinienkonforme Rechtsfortbildung (nationalen Recht) 14, 46ff. – – Vorzugsregeln 14, 40ff., 45 – – Wille des Gesetzgebers 14, 37, 39, 45 – – Zeitpunkt 14, 11, 37 – Umsetzungsfrist 14, 11, 37 – Verhältnis 14 – – bei unmittelbarer Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung 14, 14, 56 – – zur gemeinschaftskonformen Auslegung 14, 9f. – Verpflichtete 14, 4 f. – Verpflichtungsumfang 14, 5, 26 – Vorrangregel 15, 37 – Vorzugsregel 14, 26, 40 ff. – Zeitpunkt 14, 11, 37 richtlinienkonforme Rechtsfindung; s. richtlinienkonforme Auslegung, Rechtsfindung
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richtlinienkonforme Rechtsfortbildung (nationalen Rechts) 14, 46 ff. – Grenze 4, 53 – Grundlage 14, 47 f. – Instrumente 14, 52 – Voraussetzungen 14, 49 ff. Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 16, 40 Römisches Recht – actio 3, 10 – actiones 3, 10 – argumentum a simili 3, 14 – constitutiones 3, 10 – Corpus Iuris Civilis 3, 13 – Edikt 3, 10 – Hadrian 3, 12 – interpretatio 3, 10 – Iulianus 3, 12 – Julian 3, 13 – Justinian 3, 13 – leges 3, 10 – mens legis 3, 11 – orationes 3, 10 – plebiscita 3, 10 – Prinzipat 3, 12 – responsa 3, 10 – senatus consulta 3, 10 – sententia legis 3, 11 – verba 3, 11 – voluntas 3, 11 Römisches Vertragsrecht – Auftrag 2, 2, 14, 24, 27 – Auslegung nach dem Willen (oder subjektive Auslegung) 2, 30ff. – Beweislast 2, 36 – condictio causa data causa non secuta 2, 8 – contractus 2, 1ff. – Darlehen 2, 5, 15, 17f., 20 – Dienstvertrag 2, 2, 25 – Geschäftsführung ohne Auftrag 2, 5, 14, 24, 27 – Gesellschaft 2, 2, 14, 24, 27 – Innominatrealverträge 2, 9, 20, 27 – interpretatio contra proferentem 2, 35 – Irrtum 2, 37 – Kauf 2, 2, 14, 26 f. – Konsensualverträge 2, 14, 23 ff.
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– Leihe 2, 7, 12, 15, 17, 20 – Miete 2, 2, 12, 25 – obligationes quasi ex contractu 2, 5 f. – Pacht 2, 2, 25 – pacta 2, 1 ff. – Realverträge 2, 15 ff., 24 – Stipulation 2, 3, 13, 21f., 30f. – Typenzwang 2, 1ff. – Vertragsauslegung 2, 30 ff. – Vertragsfreiheit 2, 1ff. – Vertragstypen 2, 1ff. – Verwahrung 2, 7, 15, 17, 20 – Werkvertrag 2, 2, 25 – Wortlautauslegung 2, 30 ff. Rückwirkung von Rechtsprechung 18, 49 Rückwirkung, als Rechtsfortbildungsschranke 13, 21 Sachentscheidung des Gesetzgebers 15, 38 Satzungsautonomie 19, 79, 81f. Satzungsstrenge 19, 79 Savigny 3, 20 Schadenersatzanspruch, gemeinschaftsrechtlicher 8, 60 Schadensersatzrecht 4, 8 Scheinauslandsgesellschaft 19, 67 Schiedsklausel 22, 11f. Schlußanträge der Generalanwälte 18, 11 Schutz des fairen Wettbewerbs; s. ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Schutzgesetzcharakter 20, 33 Schwangerschaft 18, 55; s.a. Europäisches Arbeitsrecht SE; s. Societas Europea SECOLA; s. Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht Sekundärrecht 4, 10; 7, 28; 8, 14 – Materialien 11, 33 ff. – Regelungsentwürfe 11, 28 f. – Relativität der Rechtsbegriffe 11, 21 – Rückwirkung 13, 21 – Sperrwirkung 13, 20 Selbstbestimmung 10, 41 sens clair 3, 22, 24 sententia legis 3, 89
SIEC-Test 21, 9 Signigicant impediment of effective competition, s. SIEC-Test singularia non sunt extendenda 11, 61; 18, 20 Sitztheorie 19, 68, 70; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Societas Europea (SE) 7, 46; 10, 17; 19, 60, 76, 79, 81, 88 – Satzungsautonomie 19, 79, 81 f. – Satzungsstrenge 19, 79 – Wettbewerb der Rechtsordnungen 19, 88 soft law 7, 52, 59 – Aktionspläne 4, 12, 38; 7, 52, 54 – Empfehlungen 7, 53 – Mitteilungen 7, 52 soziale Ziele; s. ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Sozialpartner 18, 64 Spaak-Bericht 6, 5 Sperrwirkung 13, 20; 16, 15, 18, 19, 21, 55 Sprachenvielfalt; s. Auslegung Sprachfassungen; s. Auslegung Sprachrisiken 17, 22 Staatensouveränität 8, 11, 44, 49 Staatshaftungsanspruch; s. Gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch Staatshaftungsrecht 8, 60 stare decisis-Doktrin 13, 10 Stellungnahme der EU-Kommission 23, 98 Strukturentscheidung des Gesetzgebers 15, 38 Study Group on a European Civil Code 4, 36 subjektive Theorie; s. Auslegung Subsidiarität; s. Subsidiaritätsprinzip Subsidiaritätsprinzip 10, 20; 13, 15, 29; 15, 2; 19, 26 Supranationalität der Europäischen Gemeinschaften 8, 2, 7, 61 Synergieeffekte 6, 21 Systematik des Gemeinschaftsrechts 8, 26; s.a. Auslegung, systematische systematische Auslegung; s. Auslegung
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Stichwortregister
systematische Auslegungsmethoden; s. Auslegungsmethoden Systembildung 3, 5, 37; 11, 26 Tabakwerberichtlinie 6, 10 taktische Vorlagefrage 15, 55 Tarifautonomie 18, 46; s.a. Europäisches Arbeitsrecht teleologische Auslegung; s. Auslegung teleologische Auslegungsmethoden; s. Auslegungsmethoden teleologische Reduktion 13, 33 Textgleichheit von Normen 15, 17 These von der Einheit der Rechtssprache 18, 20 Thibaut 3, 19 Transaktionskosten 5, 50 Transparenzmechanismus 3, 7 Treu und Glauben 12, 34 Trade-Relates Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS); s. Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum (TRIPS) 15, 33, 34 Übererfüllung von Richtlinien 15, 14 überschießende Umsetzung 15, 1; 23, 79 – Anwendungsbereich der Richtlinie 15, 5 ff. – interpretatorische Gesamtabwägung 15, 37 – taktische Vorlagefrage 15, 55 – verfassungskonforme Auslegung 15, 41 – Vorabentscheidungsverfahren 15, 49 – Vorlagemöglichkeit 15, 52 Überweisungsrichtlinie 7, 35f. Umgehungsschutz 19, 45 Umkehrschluß 18, 44 Umsetzung, verspätete 23, 88 Umsetzungsbestimmungen 4, 31 Umsetzungspflicht, Adressaten der 23, 96 Umwelthaftungsrichtlinie 4, 13 ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 18, 58ff. – Arbeitnehmerschutz 18, 59
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– Schutz des fairen Wettbewerbs 18, 58 – soziale Ziele 18, 59 UNIDROIT 4, 12, 36 Unionsrecht, Auslegung; s. Auslegung UN-Kaufrecht 4, 18, 32 Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinie; s. Richtlinie, unmittelbare Anwendbarkeit unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht 7, 9, 12; 8, 5, 16 unmittelbare Wirkung von Richtlinien; s. Richtlinie, unmittelbare Wirkung unmittelbarer Kausalzusammenhang 23, 89 Unternehmensaußenrecht 10, 41 Unternehmensbegriff 21, 16 Verbandsautonomie 19, 82 Verbot des contra-legem-Judizierens 13, 3 Verbraucher 15, 7 Verbraucherkreditrichtlinie 7, 34, 43 Verbraucherleitbild 11, 44, 45 Verbraucherrecht 7, 34; 10, 31 Verbraucherschutz 11, 57 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 4, 13; 12, 15 Vereinigungsfreiheit 18, 46 Vereinigungstheorie; s. Auslegung, teleologische Verfassung für Europa 8, 41, 59, 61 Verfassungsbeschwerde 23, 38 verfassungskonforme Auslegung 9, 41; 15, 41 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 8, 53 Verfassungsvertrag 8, 41, 59, 61 vergleichende Wirkungsanalysen 5, 29, 30 Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite 7, 57 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 13, 20, 35; 18, 48 Verordnungen als Mittel bei Vollharmonisierung 7, 34 Verordnung über die Societas Europea 7, 46 Verordnung über Gebühren beim grenzüberschreitenden Geldtransfer 7, 45
Stichwortregister
Verschiedene Rechtstraditionen 18, 4 verspätete Umsetzung 23, 88 Verstoß gegen die Vorlagepflicht 23, 36 Vertikalwirkung 7, 15, 20 Vertrag von Nizza 8, 3 Vertrag 17, 5 ff. – Anwendungsbereich 17, 6 – Auslegung 17, 17 – Begriff 17, 5 – Francovich-Haftung 17, 10 – Inhaltskontrolle 17, 42 – Konsens 17, 13 – Parteierklärung 17, 13 – Rechtsbehelfsseite 17, 6 – Selbstbindung 17, 6 – Vertragsfreiheit 17, 13 Vertragsauslegung 17, 17 – Auslegung contra proferentem 17, 21 – Auslegungsmaterial 17, 20 – falsa demonstratio non nocet 17, 18 – Parteiwille 17, 18 – Risiken 17, 21 Vertragsfreiheit 17, 39 Vertragsnormen 8, 1 Vertragsrecht 17, 2 ff. – dispositiv 17, 14, 23 ff. – zwingend 17, 15 f., 38 ff. – Aufgabe 17, 12 – Instrumentarium 17, 13 – Topos 17, 2 Vertragsschluß 8, 46 Vertragssprachen 13, 17 Vertragsverhandlungen 8, 32 Vertrauensschutz 12, 38; 13, 17, 21, 24, 44; 18, 49 Verweisung auf das nationale Recht 11, 6 Verweisung, dynamische 21, 39 Vier-Kriterien-Test 19, 73 VO 1/2003 21, 7 Vollharmonisierung 7, 34; 15, 20 Vorabentscheidungsverfahren 8, 9, 16; 15, 49 – Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 23, 56 – Begründung des Vorlagebeschlusses 23, 43
– Entscheidungserheblichkeit 23, 15 – grundsätzliche Bedeutung 23, 21, 26 – Hinweise zur Vorlage des Vorabentscheidungsersuchens 23, 42 – hypothetischer Charakter 23, 16 – judizieller Dialog 23, 54 – Kammervorlage 23, 21 – Kosten 23, 52 – mündliche Verhandlung 23, 50 – schriftliche Vorverfahren 23, 49 – und Konkretisierung von Generalklauseln 12, 10 – Verfahrensakten 23, 47 Vorbildrechtsordnungen 12, 32 Vorlagemöglichkeit 15, 52 Vorlagepflicht 23, 36 Vorrang des Gemeinschaftsrechts 7, 8; 8, 5, 19, 60 Vorrangregeln 3, 31 Vorwirkung von Richtlinien 16, 1ff.; 19, 64 – Frustrationsverbot 16, 19 – funktionelle Beschränkung 16, 48 – graduelle Wirkungsintensität 16, 6 – Rechtsfortbildung 13, 20 – Stillhaltegebot 19, 23 Walt Wilhelm-Urteil 21, 32 Wettbewerb der Privatrechtsordnungen 6, 31 Wettbewerb der Rechtsordnungen 10, 5; 19, 7, 20, 56, 66, 83, 88 – Europäisches Gesellschaftsrecht 10, 54; 19, 7, 20, 56, 66, 83, 88 – Europäisches Vertragsrecht 10, 35 Wettbewerb der Regelungsgeber; s. Wettbewerb der Rechtsordnungen Widerrufsrecht 6, 25 Wiener Vertragsrechtskonvention 8, 42, 50, 54 Wirkungsanalyse 5, 11 Wirtschaftsordnung 6, 3 Wirtschaftsverfassung 6, 4 wissenschaftlich-theoretische Rechtsvergleichung 4, 2 Wohlverhaltensregeln 20, 28 Wortlaut als Topos 3, 89
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Stichwortregister
Wortlautauslegung; s. Auslegung, grammatikalische Wortlautgrenze; s. Rechtsfortbildung Wortsinngrenze; s. Rechtsfortbildung WVK; s. Wiener Vertragsrechtskonvention Zivilrechtskodifikationen 4, 42 Zusammensetzung des EuGH 22, 3f.; s.a. Europäischer Gerichtshof Zwangsgelder 23, 37 Zweck-Mittel-Paradigma 5, 10f., 14, 24, 25, 26, 27, 28, 31, 42, 44, 59 Zweckverband funktioneller Integration 3, 81 Zweiebenensystem 10, 2
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Zweifelssatz 11, 54; s.a. in dubio pro consumatore zwingende Gründe des Allgemeininteresses 18, 58 f.; s.a. ungeschriebene Rechtfertigungsgründe zwingendes Vertragsrecht 17, 15 ff. – Abhängigkeit von dispositivem Recht 17, 16 – Analogie 17, 43 – Anwendung des etablierten Kanons 17, 40 – Kontrahierungszwang 17, 15 – Methodik 17, 38 – Schadensersatzhaftung 17, 15 – System 17, 41 – Vertragsfreiheit 17, 39