Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis [3. neu bearb. Aufl.] 9783110332070, 9783110332056

This handbook systematically presents methodological issues in European law. The work combines an in-depth examination o

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German Pages 714 [716] Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur
1. Europäische Methodenlehre – Einführung Und Übersicht
1. Teil Grundlagen
2. Juristenmethode in Rom
3. Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts
4. Die Rechtsvergleichung
5. Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt
Teil Allgemeiner Teil
Abschnitt 1. Rechtsquellen
6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts
Abschnitt 2. Primärrecht
7. Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts
8. Die primärrechtskonforme Auslegung
Abschnitt 3. Sekundärrecht
9. Systemdenken und Systembildung
10. Die Auslegung
11. Die Konkretisierung von Generalklauseln
12. Die Rechtsfortbildung
Abschnitt 4. Mitgliedstaatliches Recht
13. Die richtlinienkonforme Auslegung
14. Die überschießende Umsetzung von Richtlinien
15. Die Vorwirkung Von Richtlinien
16. Die Zeitliche Wirkung Der EuGH-Rechtsprechung
3. Teil Besonderer Teil
Abschnitt 1. Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten
17. Europäisches Vertragsrecht
18. Europäisches Arbeitsrecht
19. Europäisches Gesellschaftsrecht
20. Kapitalmarktrecht
21. Europäisches Kartellrecht
Abschnitt 2. Methodenfragen in der Rechtsprechung
22. Die Rechtsprechung des EuGH
23. Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)
Abschnitt 3. Perspektiven anderer Mitgliedstaaten
24. Frankreich
25. Vereinigtes Königreich
26. Die Anwendung des Unionsrechts in Italien
27. Spanien
28. Polen
Stichwortregister
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Europäische Methodenlehre: Handbuch für Ausbildung und Praxis [3. neu bearb. Aufl.]
 9783110332070, 9783110332056

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I

Karl Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre De Gruyter Handbuch

II

III

Europäische Methodenlehre Handbuch für Ausbildung und Praxis

Herausgegeben von Karl Riesenhuber 3., neu bearbeitete Auflage

IV

Zitiervorschlag: Neuner, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, 3. Aufl., § 12 Rn 25

ISBN 978-3-11-033205-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-033207-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039007-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

V

Vorwort Vorwort Vorwort

Seit der Vorauflage sind vier Jahre vergangen. Die Rechtsprechung hat sich weiterentwickelt und in der Literatur ist eine Vielzahl neuer Beiträge zur „Europäischen Methodenlehre“ erschienen. Das ließ eine Neuauflage des Bandes geboten erscheinen. Das Grundkonzept des Handbuchs ist nach wie vor unverändert. Alle Kapitel sind aktualisiert und überarbeitet. Besonderes Augenmerk haben Autoren und Herausgeber bei der Neuauflage auf die Konsistenz und innere Abstimmung des Gesamtwerks gelegt. Durch den plötzlichen und viel zu frühen Tod von Christian Kirchner ist sein Beitrag entfallen. Neu hinzugekommen ist ein Beitrag über die zeitlichen Wirkungen von Entscheidungen des EuGH. Für die Mitwirkung an der Neuauflage danke ich meinen Mitarbeitern, die mich bei der Redaktion tatkräftig unterstützt haben, vor allem Herrn Akad. Rat Dr. Frank Rosenkranz sowie Frau stud. iur. Nathalie Muckhoff und den Herren stud. iur. Dominik Ortwald und Hakan Ayaz. Bochum, im Juni 2014

Karl Riesenhuber

VI

Vorwort

Inhaltsübersicht

Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht Inhaltsübersicht

Vorwort | V Inhaltsverzeichnis | XI Autorenverzeichnis | XXIX Abkürzungsverzeichnis | XXXI Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur | XLVII

Karl Riesenhuber § 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht | 1

1. Teil: Grundlagen Jan Dirk Harke § 2 Juristenmethode in Rom | 7 Christian Baldus § 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts | 22 Andreas Schwartze § 4 Die Rechtsvergleichung | 53 Jens-Uwe Franck § 5 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt | 70

2. Teil: Allgemeiner Teil Abschnitt 1. Rechtsquellen Johannes Köndgen § 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts | 95

Abschnitt 2. Primärrecht Matthias Pechstein/Carola Drechsler § 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts | 125 Stefan Leible/Ronny Domröse § 8 Die primärrechtskonforme Auslegung | 146

Abschnitt 3. Sekundärrecht Stefan Grundmann § 9 Systemdenken und Systembildung | 172

VII

VIII

Inhaltsübersicht

Karl Riesenhuber § 10 Die Auslegung | 199 Anne Röthel § 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln | 225 Jörg Neuner § 12 Die Rechtsfortbildung | 245

Abschnitt 4. Mitgliedstaatliches Recht Wulf-Henning Roth/Christian Jopen § 13 Die richtlinienkonforme Auslegung | 263 Mathias Habersack/Christian Mayer § 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien | 297 Christian Hofmann § 15 Die Vorwirkung von Richtlinien | 326 Frank Rosenkranz § 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung | 347

3. Teil: Besonderer Teil Abschnitt 1. Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten Martin Schmidt-Kessel § 17 Europäisches Vertragsrecht | 373 Robert Rebhahn § 18 Europäisches Arbeitsrecht | 395 Kaspar Krolop § 19 Europäisches Gesellschaftsrecht | 425 Susanne Kalss § 20 Kapitalmarktrecht | 453 Thomas Ackermann § 21 Europäisches Kartellrecht | 473

Abschnitt 2. Methodenfragen in der Rechtsprechung Rüdiger Stotz § 22 Die Rechtsprechung des EuGH | 491 Johanna Schmidt-Räntsch § 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) | 519

Inhaltsübersicht

Abschnitt 3. Perspektiven anderer Mitgliedstaaten Ulrike Babusiaux § 24 Frankreich | 549 Michael Schillig § 25 Vereinigtes Königreich | 570 Remo Caponi/Andreas Piekenbrock § 26 Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Italien | 594 Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo § 27 Spanien | 611 Ulrich Ernst § 28 Polen | 629

Stichwortregister | 649

IX

X

Inhaltsübersicht

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

Vorwort | V Inhaltsübersicht | VII Autorenverzeichnis | XXIX Abkürzungsverzeichnis | XXXI Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur | XLVII

Karl Riesenhuber § 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht I. Europa und Methodenlehre | 1 II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre | 2 III. Begriff der Europäischen Methodenlehre | 5

1. Teil Grundlagen Jan Dirk Harke § 2 Juristenmethode in Rom I. Die Art und Weise römischer Rechtsfindung | 7 1. Intuition oder Plan? | 7 2. Induktion, Deduktion und systemüberschreitende Rechtsfindung | 9 3. Systematische Rechtsfindung | 10 II. Deduktion | 11 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis | 11 2. Gesetzesauslegung | 13 III. Rechtsfortbildung | 16 1. Fortentwicklung des Juristenrechts | 17 2. Fortbildung des Gesetzesrechts | 20 IV. Zusammenfassung | 21 Christian Baldus § 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts Vorbemerkung | 23 I. Einführung | 23 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen | 23 2. Rechtsvergleichender Überblick | 24 3. Untersuchungsgegenstand. Grenzen. Geltendrechtliche Perspektiven | 26 II. Römische Tradition: Normbildung und interpretatio | 28 III. Hermeneutische Positionen um 1800 | 30 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld | 30 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys | 31 3. Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken | 34 IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys | 35

XI

XII

Inhaltsverzeichnis

1. Vorlesungen | 35 2. Der „Beruf“ | 38 3. Das „System“ | 39 V. Deutsche Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert | 44 1. Voraussetzungen | 44 2. Überblick zu einzelnen Autoren | 45 3. Fortwirkungen | 49 VI. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert und Überschneidungsbereiche | 51 VII. Epilog: Was interessiert uns das 19. Jahrhundert? | 52 Andreas Schwartze § 4 Die Rechtsvergleichung I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode | 53 II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht | 56 1. Primärrechtliche Ebene | 56 2. Sekundärrechtliche Ebene | 57 a) Herkömmliche Rechtsangleichung | 58 b) Neuartige Regelungsinstrumente | 60 III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht | 62 1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH | 62 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte | 65 IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht | 67 1. Wissenschaftliche Projekte | 67 2. Juristische Ausbildung | 68 V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum | 69 Jens-Uwe Franck § 5 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt I. Einführung | 70 II. Grundlagen | 71 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik | 71 2. Posners „everyday pragmatism“ | 73 3. Kritik folgenorientierter Denkweise (Hayek) | 74 4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes | 74 a) Neue Institutionenökonomik | 74 b) Behavioural Law and Economics | 75 c) Economics of Happiness | 76 5. Zwischenfazit | 77 III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt | 77 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte | 77 2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz | 80 3. Zur Wahl der Regelungsebene | 82 a) Vorteile einheitlicher Regelungen | 83 b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung | 84

Inhaltsverzeichnis

XIII

4.

Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) | 85 IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt | 88 1. Grundfreiheiten | 88 2. Sekundärrecht | 90 3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren | 92

2. Teil Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen Johannes Köndgen § 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts I. Grundlagen | 97 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre | 97 2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe | 98 3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts | 100 a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ | 100 b) Vom klassischen zum „regulatorischen“ Privatrecht – und wieder zurück? | 102 II. Das Primärrecht, insbesondere die Grundfreiheiten, als Rechtsquelle des Privatrechts | 103 1. Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlicher Privatrechtsgesetzgebung | 104 2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) | 106 3. Die Geltung sonstigen Primärrechts in Privatrechtsbeziehungen | 108 III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion | 108 1. Richtlinien | 108 a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle | 108 b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts | 110 c) Die Bedeutung der Begründungserwägungen | 114 2. Verordnungen | 116 a) Verordnungen mit vertragsrechtlichem und deliktsrechtlichem Inhalt | 117 b) „Optionale Instrumente“ | 118 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts | 119 4. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung | 120 IV. „Indirekte“ Wirkungen von Unionsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts | 120 V. Europäisches Soft Law | 121 1. Mitteilungen und Aktionspläne | 121 a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission | 121 b) Empfehlungen und Aktionspläne | 122 2. Ko-Regulierung und „privatisierte“ Regulierung durch Expertenrecht | 122 VI. Résumé und Ausblick | 123

XIV

Inhaltsverzeichnis

Abschnitt 2 Primärrecht Matthias Pechstein/Carola Drechsler § 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts I. Einleitung | 126 II. Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht | 126 1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts | 127 2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts | 128 III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht | 129 IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht | 130 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen | 131 2. Einzelne Auslegungsmethoden | 132 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung | 132 b) Systematische Auslegung | 133 c) Teleologische Auslegung | 135 d) Historische Auslegung | 137 e) Rechtsvergleichende Methode | 138 3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander | 139 V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht | 139 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge | 140 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK | 140 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung | 141 b) Systematische Auslegung | 141 c) Teleologische Auslegung | 141 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK | 142 a) Historische Auslegung | 142 b) Rechtsvergleichende Auslegung | 142 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander | 143 VI. Rechtsfortbildung | 143 Stefan Leible/Ronny Domröse § 8 Die primärrechtskonforme Auslegung I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung | 148 II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts | 150 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 150 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht | 150 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grundrechtskonforme Auslegung | 151 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 155 a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts | 155 b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers | 155 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre | 158

Inhaltsverzeichnis

4.

Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 158 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 159 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts | 159 b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts | 161 III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts | 162 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts | 162 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht | 162 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunktes: das Verhältnis von richtlinienund unionsgrundrechtskonformer Auslegung | 163 c) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts | 163 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts | 164 a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben | 165 b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? | 165 c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität | 166 3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre | 167 4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts | 167 a) Nationales Recht des forum | 167 b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten | 167 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts | 168 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts | 168 b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? | 170

Abschnitt 3 Sekundärrecht Stefan Grundmann § 9 Systemdenken und Systembildung I. Einleitung | 173 II. Gesamtsystem | 174 1. Zwei- bzw. Mehrebenensystem | 174 a) Phänomen | 174 b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft | 175

XV

XVI

Inhaltsverzeichnis

Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell | 176 a) Eckpunktemodell | 176 b) Alternativmodell | 177 3. Modell der materialen Freiheit | 178 a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materialer Freiheit | 178 b) Beispiele | 179 4. Einführung zu den Einzelgebieten – Verantwortung des EuGH | 182 III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht | 182 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz | 182 a) Vertragsrechtsregulierung | 182 b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht | 183 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit | 184 a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht | 184 b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil | 185 c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens | 185 d) Wettbewerb der Formen (auch Gemeinsames Europäisches Kaufrecht)? | 185 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells | 186 a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells | 186 b) Überblick zu weiteren Systemgedanken | 188 IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht | 189 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften | 189 a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften | 189 b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung | 191 c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften | 192 2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen | 194 a) Wettbewerb der Formen | 194 b) Kompatibilität der Formen | 195 c) Generalisierbarkeit? | 196 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells | 196 V. Ausblick | 197 2.

Karl Riesenhuber § 10 Die Auslegung I. Autonome Auslegung | 201 II. Ziel der Auslegung | 202 III. Kriterien der Auslegung | 204 1. Die grammatikalische Auslegung | 204 a) Ausgangspunkt für die Auslegung | 204 b) Wortlaut und Sprachenvielfalt | 205 c) Relativität der Rechtsbegriffe | 207 2. Die systematische Auslegung | 207 a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang | 207 b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang | 208

Inhaltsverzeichnis

c)

XVII

Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? | 210 d) Kollisionsregeln | 211 3. Die historische und genetische Auslegung | 211 a) Der Gesetzgeber | 212 b) Zugängliche Materialien | 212 c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen | 214 d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ | 214 e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten | 214 4. Die teleologische Auslegung | 215 a) Regelungszweck und Angleichungszweck | 215 b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) | 217 c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts | 218 d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung | 219 IV. Rangfolge der Auslegungskriterien | 220 V. Einzelne Auslegungsregeln | 221 1. „In dubio pro consumente“? | 222 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? | 223 Anne Röthel § 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung | 226 II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union | 227 1. Institutionelle Ordnung | 228 a) Auslegungsbefugnis des EuGH | 228 b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH | 229 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz | 229 a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht | 230 b) Rechtsangleichungsintention | 231 c) Anwendung auf die Klausel-Richtlinie | 232 III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH | 232 1. Rechtsprechungsübersicht | 233 2. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung | 234 3. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung | 235 IV. Konkretisierungsmethoden | 237 1. Unionsautonome Konkretisierungsmethode | 237 2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie | 237 3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung | 239 a) Referenzordnungen | 239 b) Prinzipien und Leitbilder | 241 c) Der gemeinsame Referenzrahmen | 242 d) Auf dem Weg zu einem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht | 243 V. Konkretisierung als Prozess | 243 Jörg Neuner § 12 Die Rechtsfortbildung I. Grundlagen | 246 1. Zur Terminologie des Unionsrechts | 246

XVIII

Inhaltsverzeichnis

2. Zur Eigenständigkeit des Unionsrechts | 247 3. Zur Besonderheit des Unionsrechts | 248 II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung | 248 1. Die rechtsprechende Gewalt | 249 2. Die gesetzgebende Gewalt | 249 3. Die faktische Gewalt | 249 III. Die Schranken der Rechtsfortbildung | 250 1. Die Bindung an das Gesetz | 250 a) Die kompetentielle Dimension | 250 b) Die inhaltliche Dimension | 251 c) Die zeitliche Dimension | 252 2. Die Bindung an das Präjudiz | 253 a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit | 253 b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes | 254 IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung | 255 1. Die Rechtsfindung praeter legem | 255 a) Die Lückenfeststellung | 255 b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung | 256 c) Die Grenzen der Lückenausfüllung | 260 2. Die Rechtsfindung contra legem | 260 a) Die Feststellung der Nichtigkeit | 261 b) Die Folgen der Nichtigkeit | 261 c) Die Einzelfallgerechtigkeit | 261 V. Schlussbetrachtung | 262

Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht Wulf-Henning Roth/Christian Jopen § 13 Die richtlinienkonforme Auslegung I. Einleitung | 265 II. Unionsrechtliche Vorgaben | 265 1. Grundlagen im Unionsrecht | 265 a) Auslegung der lex fori | 265 b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates | 266 2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung | 268 3. Zeitpunkt | 269 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit | 270 5. Anwendungsbereich | 271 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung | 272 7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte | 275 a) „So weit wie möglich“ | 275 b) Umsetzungsgesetzgebung | 275 c) Methodische Gleichbehandlung | 277 d) Besonderheiten bei „quasi wörtlicher Umsetzung“ von Richtlinienbestimmungen | 279 8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung | 280 a) Allgemeine Rechtsgrundsätze | 280

Inhaltsverzeichnis

XIX

b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zulasten des Einzelnen? | 280 c) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts | 280 III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht | 282 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts | 282 a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG | 282 b) Wille des deutschen Gesetzgebers | 283 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden | 283 3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel | 284 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht | 285 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung | 286 a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG | 286 b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? | 287 c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung | 289 d) Die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung | 290 e) Normenkollisionen | 294 Mathias Habersack/Christian Mayer § 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien I. Einleitung | 298 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung | 298 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem | 300 II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung | 301 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung | 301 a) Persönlicher Anwendungsbereich | 301 b) Sachlicher Anwendungsbereich | 302 c) Räumlicher Anwendungsbereich | 303 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen | 303 a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien | 303 b) Fakultative Umsetzung, opt-out | 304 c) Textgleiche Normen | 305 3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien | 305 III. Die Auslegung des nationalen Rechts | 307 1. Problemstellung | 307 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Unionsrecht? | 309 a) Unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? | 309 b) Mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung | 310 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht | 313 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich | 315 a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung | 315 b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens: Die Unterscheidung von Sach- und Strukturentscheidungen | 315 c) Vermutung für einheitliche Auslegung | 317 d) Gründe für eine gespaltene Auslegung | 318 IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht | 322

XX

Inhaltsverzeichnis

Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs | 323 1. Rechtsprechung des EuGH | 323 2. Präzisierung der Fragestellung | 324 3. Vorlagemöglichkeit? | 324 VI. Ausblick | 325

V.

Christian Hofmann § 15 Die Vorwirkung von Richtlinien I. Einleitung | 327 II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien | 327 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist | 327 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung | 328 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge | 329 III. Das sog. Frustrationsverbot | 329 1. Die Rechtsprechung des EuGH | 329 a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie | 329 b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold, Stichting und Abt | 330 2. Keine generelle Sperrwirkung | 332 3. Rechtsfolgen des Frustrationsverbots | 333 4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien | 334 IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts | 335 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist | 335 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden | 336 a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler | 336 b) Rechtsprechung deutscher Gerichte | 337 3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung | 339 a) Meinungsstand | 339 b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung | 340 c) Nationale Vorgaben | 342 d) Europäische Vorgaben | 342 V. Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung | 345 Frank Rosenkranz § 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung I. Überblick | 348 II. Theoretische Grundlagen | 349 1. Grundsatz der Rückwirkung | 349 a) Auslegungsrückwirkung aufgrund des Normanwendungsbefehls des Gesetzgebers | 349 b) Rückwirkung von Rechtsfortbildung | 350 c) Differenzierung bei Rechtsprechungsänderung | 351 d) Rückwirkung der Unwirksamkeitsentscheidungen | 351 2. Verhältnis zur Bindungswirkung von EuGH-Urteilen | 352 III. Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung | 353 1. Unwirksamkeit | 353 2. Auslegung | 353

Inhaltsverzeichnis

IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung | 354 1. Auslegung | 355 a) Keine Präklusion | 355 b) Guter Glaube | 356 c) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen | 359 2. Unwirksamkeit | 361 a) Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz | 361 b) Öffentliche Interessen | 362 V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung | 364 1. Dogmatische Einordnung | 364 2. Sachliche Reichweite | 365 3. Zeitliche Reichweite | 366 a) Auslegung | 366 b) Unwirksamkeit | 366 4. Personelle Reichweite und Ausnahmen | 367 5. Räumliche Reichweite | 368 VI. Prozessuales | 369 1. Entscheidung von Amts wegen und Antrag | 369 2. Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen | 369 VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht | 370

3. Teil Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten Martin Schmidt-Kessel § 17 Europäisches Vertragsrecht I. Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem | 375 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht | 375 2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand | 376 II. Methoden des Unionsrechts im Vertragsrecht | 377 III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium | 380 1. Instrumentarium des Vertragsrechts | 380 2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts | 380 3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit | 381 IV. Vertragsauslegung | 382 1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium | 382 2. Objektivierungen | 383 a) Bestimmung des Auslegungsmaterials | 383 b) Risikozuweisungen | 383 V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht | 384 1. Anpassung der Methodik | 385 2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons | 385 a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte | 386 b) Telos der Norm | 386 c) Systemgestützte Erwägungen | 387

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3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre | 388 4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht | 389 VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht | 389 1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive | 389 2. Anwendung des etablierten Kanons? | 390 3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts | 391 4. Verbot der Analogie? | 391 VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen und dem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht | 391 1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens | 392 2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen und das Gemeinsame Kaufrecht | 392 3. Zur künftigen Auslegung beider Instrumente | 393 Robert Rebhahn § 18 Europäisches Arbeitsrecht I. Grundlagen | 396 II. Übergreifende systematische Erwägungen | 399 1. Mindestvorschriften und Grad der Harmonisierung | 399 2. Inneres System und favor laboris als Argumente? | 401 3. Tarifautonomie und Unionsrecht | 402 III. Auslegung des Sekundärrechts | 403 1. Wortlaut | 404 2. Systematik | 405 3. Entstehungsgeschichte | 407 4. Regelungszweck | 407 5. Pragmatische Schlüsse | 411 6. Praktische Wirksamkeit | 412 7. Rechtsvergleichung | 413 8. Rechtsfortbildung | 414 III. Auslegung des Primärrechts | 415 1. Allgemeines | 415 2. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht | 416 3. Grundrechte | 418 4. Diskriminierungsverbote | 420 5. Primärrechtskonforme Interpretation | 422 6. Allgemeine Rechtsgrundsätze | 423 VI. Schlussbemerkung | 423 Kaspar Krolop § 19 Europäisches Gesellschaftsrecht I. „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht | 426 1. Eingrenzung | 426 2. Europäische Regelungsdichte | 427 a) Primärrecht | 427 b) Sekundärrecht | 429 c) Aktuelle Entwicklung | 431 d) Harmonisierung der zwei Geschwindigkeiten | 433 II. Die Auslegung von Richtlinien im Gesellschaftsrecht | 434 1. Dynamik der Rechtsentwicklung | 434

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Systemdenken: die Frage der Systemkonvergenz | 435 Auslegungsfragen bei der Kapitalrichtlinie als Anwendungsbeispiel | 436 a) Dynamisches Wechselspiel zwischen Rechtsentwicklung und Auslegung | 436 b) Methodenfragen bei der Hirmann-Entscheidung | 437 4. Erträge für eine am Harmonisierungsstand orientierte Auslegung | 440 a) Differenzierung nach dem Grad der Harmonisierung | 440 b) Folgerungen für die Bewertung der Spielräume im nationalen Recht | 440 III. Die primärrechtskonforme Auslegung im Gesellschaftsrecht | 441 1. Die primärrechtskonforme Auslegung im harmonisierten Bereich | 441 a) Nationale Sonderwege als Informationsproblem | 442 b) Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung | 443 2. Die primärrechtskonforme Auslegung und internationales Gesellschaftsrecht | 443 a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts | 444 b) Wechsel des Gesellschaftsstatuts durch Sitzverlegung | 445 c) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts | 446 IV. Die Verzahnung von europäischer Verordnung mit nationalem Recht bei der SE | 448 1. Das Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht und zur Satzung | 448 2. Besondere Methodenfragen bei der SE | 449 a) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie | 449 b) Rechtsfortbildung bei der SE | 451 V. Ausblick | 452 2. 3.

Susanne Kalss § 20 Kapitalmarktrecht I. Einleitung | 454 II. Junges dynamisches Rechtsgebiet | 454 1. Laufende Entwicklung des Markts | 454 2. Das kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren | 456 3. Besonderheiten für die Interpretation der Normen | 459 4. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards | 462 III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts | 465 IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie | 466 1. Öffentliches – Privates Recht | 466 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur | 466 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur | 468 4. Vertragliche Regelungen | 468 5. Schutzgesetzcharakter von Normen | 469 6. Gespaltene Interpretation | 470 V. Resümee | 471 Thomas Ackermann § 21 Europäisches Kartellrecht I. Die Quellen des EU-Kartellrechts | 474 1. Primärrecht | 474 2. Sekundärrecht | 475

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a) Die Kartellverordnung | 476 b) Gruppenfreistellungsverordnungen | 476 c) Die Fusionskontrollverordnung | 477 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission | 477 II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen | 479 1. Autonome Begrifflichkeit | 479 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung | 481 3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot | 483 4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? | 484 III. Die Ausstrahlung des europäischen Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht | 486 1. Vorrang des europäischen Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts | 486 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts | 487 a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen | 488 b) Vorlagemöglichkeit? | 488 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht | 489

Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung Rüdiger Stotz § 22 Die Rechtsprechung des EuGH I. Allgemeines | 491 II. Auslegung des Unionsrechts | 495 1. Auslegungskanon | 495 a) Wörtliche Auslegung | 495 b) Historische Auslegung | 496 c) Systematische Auslegung | 497 d) Teleologische Auslegung | 497 2. Unionsrechtstypische Auslegungsregeln | 499 a) Autonome und einheitliche Auslegung | 499 b) Primärrechtskonforme Auslegung | 499 c) Völkerrechtskonforme Auslegung | 500 d) Rechtsvergleichende Auslegung | 500 III. Auslegung des nationalen Rechts | 504 1. Vertragsverletzungsverfahren | 504 2. Schiedsverfahren | 504 3. Unionsrechtlicher Verweis auf nationales Recht | 505 4. Unionsrechtskonforme Auslegung | 505 IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht | 509 V. Bedeutung von Präjudizien | 516 VI. Ausblick | 517

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Johanna Schmidt-Räntsch § 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB | 521 1. Öffentliches Recht | 521 2. Zivil- und Arbeitsrecht | 522 3. Strafrecht | 522 II. Auslegungskompetenz der OGB | 523 1. Auslegungsmonopol des EuGH | 523 a) Auslegung des Unionsrechts | 523 b) Anwendung des Unionsrechts | 523 c) Gültigkeit des Unionsrechts | 524 2. Vorlagerecht | 525 a) Entscheidungserhebliche Fragen | 525 b) Vorlagezeitpunkt | 525 c) Vorlageberechtigte Gerichte | 526 d) Vorlageermessen | 526 3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV | 527 a) Grundsatz | 527 b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht | 527 c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht | 530 4. Vorlageverfahren vor den OGB | 531 a) Form und Anlass der Vorlage | 531 b) Inhalt des Vorlagebeschlusses | 532 c) Technische Abwicklung | 533 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH | 533 a) Schriftliches Vorverfahren | 533 b) Mündliche Verhandlung | 534 c) Urteil des EuGH | 534 d) Parallelverfahren | 534 III. Auslegungssituationen | 534 1. Vorabentscheidungsersuchen | 534 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen | 535 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts | 536 a) Primäres Gemeinschaftsrecht | 536 b) Verordnungsrecht | 536 c) Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse | 538 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften | 539 a) Umsetzungspflicht | 539 b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften | 540 c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln | 542 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften | 543 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht | 543 a) EU-rechtliche Haftung | 543 b) Amtshaftung | 544 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten | 544 a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten | 544 b) Überbrückung durch Rechtsprechung | 545 IV. Auslegungsmethoden | 546 1. Vorbemerkung | 546 2. Wortlautauslegung | 546

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V.

3. Systematische Auslegung | 546 4. Historische Auslegung | 547 5. Teleologische Auslegung | 547 Fazit | 548

Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten Ulrike Babusiaux § 24 Frankreich I. Ein Rechtssystem im Umbruch | 550 II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem | 550 III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht | 554 1. Allgemeines Verhältnis zum Völkerrecht | 555 2. Verhältnis zum Unionsrecht | 556 3. Veränderungen durch die Einführung der konkreten Normenkontrolle 2008 | 557 4. Anwendungsvorrang und sekundäres Unionsrecht, insbes. Richtlinien | 561 IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht | 562 1. Das traditionelle Verständnis der jurisdiktionellen Funktion | 563 2. Der nationale Richter als Anwender des Unionsrechts | 563 3. Die (notwendige) Koordination von Rechtsquellen nationalen und unionsrechtlichen Ursprungs | 566 V. Die Befreiung des Richters und der jurisdiktionelle Dialog in Europa | 569 Michael Schillig § 25 Vereinigtes Königreich I. Einleitung | 571 II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem | 572 1. Fallrecht | 572 a) Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung | 572 b) Methodik des Fallrechts | 573 c) Rechtsschöpfung durch die Gerichte? | 574 2. Gesetzesrecht | 575 a) Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut | 576 b) Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck | 577 c) Auslegung und Präjudizienbindung | 578 III. Unionsrecht und nationales Recht | 578 IV. Europäische Methodenlehre und nationales Recht | 580 1. Sekundärrecht und nationale Gerichte | 580 a) Die Auslegung des Sekundärrechts | 580 b) Vorlagepraxis | 582 2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts | 584 a) Spezifisches Umsetzungsrecht | 585 b) Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie | 588 c) Common Law | 590 d) Überschießende Umsetzung | 592 e) Vorwirkung | 592 V. Fazit | 592

Inhaltsverzeichnis

Remo Caponi/Andreas Piekenbrock § 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien I. Einleitung | 595 II. Grundlagen: Die Akzeptanz der EU in Italien | 595 1. Die Teilnahme Italiens am Aufbau Europas | 595 2. Bedeutung der gubernativen Rechtsetzung in Italien | 595 3. Jedes Europa rettet Italien! | 596 4. Unionsrecht in Theorie und Praxis | 596 5. Informationslücken | 596 III. Unionsrecht und italienisches Recht | 596 1. Der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs | 597 2. Die Doktrin der „controlimiti“: Stand der Dinge | 599 3. Die Doktrin der „controlimiti“: Kritische Aspekte | 599 IV. Die Umsetzung des Unionsrechts durch nationale Rechtsakte | 600 1. „Gemeinschaftsrechtsgesetz“, europäisches Delegationsgesetz und Europagesetz | 601 2. Die Rolle der Regionen | 602 V. Auslegung von Rechtsnormen: Grundlagen und aktuelle Tendenzen | 603 1. Gesetzliche Auslegungsregeln | 603 2. Die Wissenschaft | 604 3. Die Rechtsprechung | 605 a) Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs | 605 b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede | 606 c) Der Kassationshof als ‚faktischer Verfassungsgerichtshof‘ | 606 d) Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde | 607 VI. Auslegung des Unionsrechts | 608 VII. Schluss | 610 Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo § 27 Spanien I. Einleitung | 611 II. Das spanische Rechts- und Gerichtssystem | 612 III. Unionsrecht und spanisches Recht | 613 1. Vorrang des Unionsrechts | 613 2. Der besondere Rechtspluralismus | 615 IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht | 616 1. Allgemeine Fragen | 616 a) Auslegung und Rechtsfortbildung des Unionsrechts | 616 b) Die Rolle der Lehre | 619 c) Soft Law | 619 2. Primärrecht | 620 a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung | 620 b) Die primärrechtskonforme Auslegung | 621 3. Sekundärrecht | 622 a) Umsetzungstechniken | 622 b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist | 626 c) Die Vorwirkung von Richtlinien | 627 d) Die richtlinienkonforme Auslegung | 627

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Ulrich Ernst § 28 Polen I. Polen – junger Mitgliedstaat und Transformationsland | 629 II. Grundlagen | 630 1. Rechts- und Gerichtssystem | 630 2. Organisation von Forschung und Lehre | 631 3. Abstrakter Ansatz der überkommenen Rechtstheorie | 631 4. Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre | 633 III. Unionsrecht und nationales Recht | 634 1. Verfassungsrechtliche Sicht: Europarecht als Untersystem des polnischen Rechts | 634 2. Beitritt: Vorwirkung des EU-Rechts? | 636 3. Beitritt: Wirkung noch nicht in der Landessprache veröffentlichten EU-Rechts? | 637 IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht | 639 1. Europarechtskonforme Auslegung | 639 2. Vorlage nach Art. 267 AEUV | 641 3. Europarechtskonforme Rechtsanwendung auf dem Gebiet des Privatrechts | 644 V. Fazit | 647

Stichwortregister | 649

Autorenverzeichnis

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Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis Autorenverzeichnis

Thomas Ackermann Klaus Jochen Albiez Dohrmann Ulrike Babusiaux Christian Baldus Remo Caponi Ronny Domröse Carola Drechsler Ulrich Ernst Jens-Uwe Franck Stefan Grundmann Mathias Habersack Jan Dirk Harke Christian Hofmann Christian Jopen Susanne Kalss Johannes Köndgen Kaspar Krolop Stefan Leible Hans Christian Mayer Jörg Neuner Matthias Pechstein Andreas Piekenbrock Robert Rebhahn Karl Riesenhuber Frank Rosenkranz Wulf-Henning Roth Anne Röthel Michael Schillig Martin Schmidt-Kessel Johanna SchmidtRäntsch Andreas Schwartze Sixto Sánchez Lorenzo Rüdiger Stotz

Dr.iur., LL.M., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr.iur., Professor an der Universität Granada Dr.iur., Professorin an der Universität Zürich Dr.iur., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr.iur., Professor an der Universität Florenz Notarassessor im Land Brandenburg Dr.iur., Staatskanzlei des Landes Schleswig-Holstein Dr.iur., magister prawa, adiunkt an der Jagiellonen-Universität Krakau Dr.iur., LL.M., LL.M.oec., Akademischer Rat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr.iur., Dr.phil., LL.M., Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Dr.iur., Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München Dr.iur., Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Richter am Oberlandesgericht Nürnberg Dr.iur., LL.M., Assistant Professor an der National University of Singapore Wiss. Mitarbeiter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr.iur., LL.M., Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien Dr.iur., Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr.iur., Professor an der Universität Bremen Dr.iur., Professor an der Universität Bayreuth Dr.iur., M.Jur., Richter am Landgericht München I Dr.iur., Professor an der Universität Augsburg Dr.iur., Professor an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder) Dr.iur., Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Dr.iur., Professor an der Universität Wien Dr.iur., M.C.J., Professor an der Ruhr-Universität Bochum Dr.iur., Akademischer Rat an der Ruhr-Universität Bochum Dr.iur., LL.M., em. Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Dr.iur., Professorin an der Bucerius Law School, Hamburg Dr.iur., LL.M., Rechtsanwalt in London, Reader am King’s College London Dr.iur., Professor an der Universität Bayreuth Dr.iur., Richterin am Bundesgerichtshof Dr.iur., LL.M., Professor an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Dr.iur., Professor an der Universität Granada Dr.iur., LL.M., Honorarprofessor an der RWTH Aachen, Generaldirektor der Generaldirektion Bibliothek, Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation am Gerichtshof der Europäischen Union

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Autorenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

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Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis

A.A./a.A. A.C. a.E. a.F. A.M./a.M. aaO ABGB abgedr. ABI.

Abl./abl. Abs. abw. AcP ADC AEGRR AEL AEUV

AG AGB AGBG AGG AHGB ähnl. AJDA AktG All E.R. Am. Econ. Rev. ANAnh. Anm. AnwBl AöR AP Appl. ArbG ArbGG ArbRB ARC ARSP Art. ARUG AS ASCOLA Ass. AuAS Aufl.

andere(r) Ansicht Law Reports, Appeal Cases ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) am Ende alte Fassung anderer Meinung am angegebenen Ort (österreichisches) Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch abgedruckt 1. für Veröffentlichungen vor dem 1. Februar 2003: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (Jahr Reihe Nummer des Dokuments/Seite); 2. für Veröffentlichungen ab dem 1. Februar 2003: Amtsblatt der Europäischen Union (Jahr Reihe Nummer des Dokuments/Seite) ablehnend Absatz abweichend Archiv für die civilistische Praxis (Jahrgang [Jahr], Seite) Anuario de Derecho Civil (Jahr, Seite) Akademischer Entwurf eines Gemeinsamen Referenzrahmens; s.a. DCFR Academy of European Law – Distinguished Lectures of the Academy Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsolidierte und umbenannte Fassung des Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 1. Aktiengesellschaft; 2. Amtsgericht; 3. als Fundstelle: Die Aktiengesellschaft (Jahr, Seite) Allgemeine(n) Geschäftsbedingungen Gesetz zur Regelung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (österreichisches) Allgemeines Handelsgesetzbuch ähnlich/e Actualité Juridique de Droit Administratif (Jahr, Seite) Aktiengesetz All England Law Reports ([Jahr] Teilband, Seite) American Economic Review (Jahrgang [Jahr], Seite) ArbeitnehmerAnhang Anmerkung Anwaltsblatt (Jahr, Seite) Archiv für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Arbeitsrechtliche Praxis (Nummer zu Norm) Application; s. EGMR Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Der Arbeits-Rechts-Berater (Jahr, Seite) Accounting Regulatory Committee Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Band [Jahr], Seite) Artikel Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie Aranzadi Social (Jahr/Seite) Academic Society for Competition Law Assemblée du contentieux, s.a. C.E. Ausländer- und asylrechtlicher Rechtsprechungsdienst (Jahr, Seite) Auflage

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Abkürzungsverzeichnis

ausdr. ausf. Ausg. AuslInvestmG Außenwirtschaft AWD AWG AWV B.C.C. B.I.M.J. b2b b2c BaFin BAG BAGE BB Bd. Bde. BE bearb. BeckRS Begr. BEHG Beil. Benelux ber. bes. Beschl. BeschlE Bespr. BFH BFH/NV BFHE BGB BGBl. BGer BGH BGH-Report BGHSt BGHZ BIZ BKR Blutalkohol Brüssel I-VO Brüssel IIa-VO BSG BSGE Bsp. BStBl

ausdrücklich ausführlich Ausgabe Gesetz über den Vertrieb ausländischer Investmentanteile und über die Besteuerung der Erträge aus ausländischen Investmentanteilen Außenwirtschaft – Schweizerische Zeitschrift für internationale Wirtschaftsbeziehungen (Jahrgang [Jahr], Seite) Außenwirtschaftsdienst (Jahr, Seite); seit 1975 RIW (siehe dort) Außenwirtschaftsgesetz Verordnung zur Durchführung des Außenwirtschaftsgesetzes British Company (Law) Cases ([Jahr] – Seite) Boletín Informativo del Ministerio de Justicia (Nummer, Monat Jahr) business to business business to comsumer Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht Bundesarbeitsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesarbeitsgerichts (Band, Seite) Betriebs-Berater (Jahr, Seite) Band Bände Begründungserwägung(en) (vgl. Art. 296 AEUV/253 EG) bearbeitet Beck-Rechtsprechung (Jahr, Nummer) 1. Begründung; 2. bei Literaturangaben: Begründer (schweizerisches) Börsen- und Effektenhandelsgesetzes Beilage Belgien, Niederlande, Luxemburg berichtigt besonders Beschluss, s.a. Urt. Beschlussempfehlung Besprechung Bundesfinanzhof Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (Jahr, Seite) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesfinanzhofs (Band, Seite) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (ggfs. Jahr Teil, Seite) (schweizerisches) Bundesgericht Bundesgerichtshof BGH-Report, Schnelldienst zur Rechtsprechung des BGH (Jahr, Seite) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Band, Seite ggf. Randnummer) amtliche Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen (Band, Seite ggf. Randnummer) Bank für Internationalen Zahlungsausgleich Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (Jahr, Seite) Blutalkohol (Jahr, Seite) identisch mit EuGVVO (siehe dort) identisch mit EuEheVO (siehe dort) Bundessozialgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundessozialgerichts (Band, Seite) Beispiel Bundessteuerblatt (Teil Jahr, Seite)

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BT-Drs. BTR Buchholz Bull. civ. Bull. d’information Bull. crim. BÜRL

BÜRL 1977

BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE bzgl. bzw. C.A. C.civ. C.E. c.i.c. C.trav. CA ca. Cambr.L.J. Cass. Cass. Ass. Cass. civ. Cass. crim. Cass. com. Cass. mixte Cass. soc. Cc CCE CCom CE CESR CFR Ch. CISG CISG-online Cl. & Fin. CLOUT CMLR Colum. J. Transnat’l L. Colum. L. Rev.

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Bundestags-Drucksache (Legislaturperiode/Nummer der Vorlage, Seite) British Tax Review (Jahr, Seite) Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Ordnungsziffer Norm, Nummer) Bulletin des arrêts de la Cour de cassation en matière civile (ggf. Band, Nummer, ggf. Seite) Bulletin d’information de la Cour de cassation (Datum, Seite) Bulletin des arrêts de la Cour de cassation en matière criminelle (ggf. Band, Nummer, ggf. Seite) Richtlinie 2001/23/EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie) Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (Betriebsübergangsrichtlinie 1977) Bundesverfassungsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts (Band, Seite) Bundesverwaltungsgericht amtliche Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts (Band, Seite) bezüglich beziehungsweise (französischer) Cour d’appel (französischer) Code civil (französischer) Conseil d’État culpa in contrahendo (französischer) Code du travail Companies Act 2006 cirka Cambridge Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. (französische) Cour de Cassation; 2. (italienischer) Corte di cassazione (französische) Cour de Cassation, Assemblé plénière (französische) Cour de Cassation, Chambre civile (ggf. unter Angabe der Zahl der Kammer) (französische) Cour de Cassation, Chambre criminelle (französische) Cour de Cassation, Chambre commerciale (französische) Cour de Cassation, Chambre mixte (französische) Cour de Cassation, Chambre sociale (spanischer) Código civil, s.a. port. CC Communication et Commerce électronique (Jahr, Nummer) (spanischer) Código de Comercio (spanische) Constitución Española Comitee of European Securities Regulators (= Ausschusses der EUWertpapierregulierungsbehörden) Common Frame of Reference (= Gemeinsamer Referenzrahmen), s.a. GRR und DCFR Law Reports, Chancery Division ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) Convention on the International Sale of Goods vom 11. April 1980; auch UN-Kaufrecht oder Wiener Kaufrecht genannt Urteilsdatenbank unter www.cisg-online.ch (Nr.) Clark & Finelly’s House of Lords Reports ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. H.L.C. Case Law on UNCITRAL Texts Common Market Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Columbia Journal of Transnational Law (Jahrgang [Jahr], Seite) Columbia Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite)

XXXIV

Abkürzungsverzeichnis

Concurrences Cons. const. Cons. Stato Const. Cornell L. Rev. Corr. giur. Corte cost. CPI CYELP

Revue des droits de la concurrence (Jahr, Seite) (französischer) Conseil constitutionnel (italienischer) Consiglio di Stato (französische) Verfassung der Fünften Republik von 1958 Cornell Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Corriere giuridico (Jahr, Seite) (italienischer) Corte costituzionale Competition Policy International (Jahrgang [Jahr], Seite) Croatian Yearbook of European Law and Policy (Jahrgang [Jahr], Seite)

d.h. DAR DB DCFR déc. Der Konzern

das heißt Deutsches Autorecht (Jahr, Seite) Der Betrieb (Jahr, Seite) Draft Common Frame of Reference, s.a. CFR und AEGRR décision (Nummer Datum), s.a. Cons. const. Der Konzern, Zeitschrift für Gesellschaftsrecht, Steuerrecht, Bilanzrecht und Rechnungslegung der verbundenen Unternehmen (Jahr, Seite) derselbe (spanische) Dirección General de los Registros y del Notariado dieselbe/n differenzierend(en) Digesten

ders. DGRN dies. diff. Dig. Dir. pubbl. comp. europeo Diss. DLRL DM DNotZ DÖV DPMA Dr Soc DRiZ DStR dt. DVBl. DZWiR E.H.R.L.R. E.L.Rev. E.L.Rep. E.R. E-SPE-VO EB EBA ebd. EBLR EBOR ECA ECJ ECLR ecolex EComRL

Diritto pubblico comparato europeo (Jahr, Seite) Dissertation Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) Deutsche Mark Deutsche Notar-Zeitschrift (Jahr, Seite) Die öffentliche Verwaltung (Jahr, Seite) Deutsches Patent- und Markenamt Droit Social (Jahr, Seite) Deutsche Richterzeitung (Jahr, Seite) Deutsches Steuerrecht (Jahr, Seite) deutsch(e) Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr, Seite) Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht (Jahr, Seite) European human rights law review (Jahr, Seite) European Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) European Law Reporter (Jahr, Seite) Englisch Reports ([Jahr] Band – Seite) Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft vom 25. Juni 2008 Erläuternde Bemerkungen (Gesetzesbegründung, Österreich) European Banking Authority (= Europäische Bankenaufsichtsbehörde) ebenda European Business Law Review (Jahr, Seite) European Business Organization Law Review (Jahr, Seite) European Communities Act 1972 European Competition Journal (Jahr, Seite) European Competition Law Review (Jahr, Seite) ecolex – Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft,

Abkürzungsverzeichnis

Economica ECTIL ECU EDP EFRAG EFSL EG

EGBGB EGMR EGV

EGZPO EHUG Einl. EIOPA EJ L. & Econ. EKG EL ELJ EMRK

endg engl. EPA EPC EPS ERA Forum ERCL ERPL ESC ESFS ESMA EU

EuEheVO

EuG EuGH EuGH-Satzung EuGH-VerfO EuGRZ

XXXV

insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (E-Commerce-Richtlinie) Economica (Jahr [Jahr], Seite) European Centre of Tort and Insurance Law European currency unit Europa e diritto privato (Jahr, Seite) European Financial Reporting Advisory Group European Financial Services Law (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. Europäische Gemeinschaft; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrags von Athen Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EG-Vertrag, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 7. Februar 1992 unterzeichneten Vertrags über die Europäische Union (Maastrichter Fassung) Gesetz betreffend die Einführung der Zivilprozeßordnung Gesetz über elektronische Handelsregister und Genossenschaftsregister sowie das Unternehmensregister Einleitung European Insurance and Occupational Pensions Authority (= Europäische Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung) European Journal of Law and Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Einheitliches Kaufgesetz Ergänzungslieferung European Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) vom 4. November 1950, idF der Bekanntmachung vom 17. Mai 2002 endgültig (als Zusatz zu KOM- und SEK-Dokumenten), s.a. KOM und SEK englisch(e) Equal Pay Act 1970 European Payment Council Europejski Przegląd Sądowy (Heftnummer/Jahr, Seite) Europäische Rechtsakademie Forum (Jahr, Seite) European Review of Contract Law (Band [Jahr], Seite) European Review of Private Law – Revue européenne de droit privé – Europäische Zeitschrift für Privatrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. European Securities Comitee (= EU-Wertpapierausschuss); 2. Europäische Sozialcharta European System of Financial Supervision (=Europäisches Finanzaufsichtssystem) European Securities and Markets Authority (= Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde) 1. Europäische Union; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen des am 16. April 2003 unterzeichneten Vertrags von Athen Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000; s.a. Brüssel IIa-VO Gericht Erster Instanz; s.a. EuGH Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, s.a. EuG Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Verfahrensordnung des Gerichtshofes des Europäischen Union Europäische Grundrecht-Zeitschrift (Jahr, Seite)

XXXVI

EuGVÜ EuGVVO

EuInsVO EuR EuroAS EUV

EUV a.F. EuZA EUZBLG EUZBBG EuZW EvBl evtl. EVÜ EWCA Civ EWG

EWHC (Comm) EWiR EWIV EWIV-VO EWR EWS EZB f., ff. F. FamRZ FARL

FFH FG FGO FIW FKVO FMA Fn. Fordham Int’l LJ Foro it.

Abkürzungsverzeichnis

Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; s.a. Brüssel I-VO Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über das Insolvenzverfahren Europarecht (Jahr, Seite) Informationsdienst Europäisches Arbeits- und Sozialrecht (Jahr, Seite) EU-Vertrag seit Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung mit den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007; s.a. EU, EUV a.F., AEUV EU-Vertrag, Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (Maastricht-Vertrag); s.a. EU, EUV Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) (österreichisches) Evidenzblatt der Rechtsmittelentscheidungen, veröffentlicht in der ÖJZ (Jahr/Nummer) eventuell(en) Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht aufgelegt zur Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom England and Wales Court of Appeal (Civil Division) Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) 1. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft; 2. nach Bezeichnung eines Artikels: Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag) vom 25. März 1957; s.a. AEUV, EG, EGV England & Wales High Court (Commercial Court) Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) Europäische Zentralbank folgende (singular/plural) bei Entscheidungen eines U.S. Courts of Appeals: Federal Reporter (Band – Serie Seite [Gericht Entscheidungsjahr]) Zeitschrift für das gesamte Familienrecht (Jahr, Seite) Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (Fernabsatzrichtlinie) Fauna-Flora-Habitat Festgabe Finanzgerichtsordnung Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. Fusionskontrollverordnung (österreichische) Finanzmarktaufsicht Fußnote Fordham International Law Journal (Jahr, Seite) Il Foro italiano (Jahr Abteilung, Seite)

Abkürzungsverzeichnis

XXXVII

fortgef. franz. frdl. FS FSAP FSMA

fortgeführt französisch(e) freundlicher Festschrift Financial Services Action Plan Financal Services and Markets Act

G. it. G.U. GA Ga. J. Int’l & Comp. L. GASP GbR GD GEK GeS Ges. GesRZ GewO GG ggf. Giur.cost. Giur. it. GLJ GmbH GmbHG GmbHR GPR GRCh

Giurisprudenza italiana (Jahr, Seite) Gazzetta Ufficiale Generalanwalt, Generalanwältin Georgia Journal of International and Comparative Law (Jahrgang [Jahr], Seite) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Gesellschaft bürgerlichen Rechts Generaldirektion (der Europäischen Kommission) Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, siehe V-GEK und V-GEKVO Zeitschrift für Gesellschafts- und Steuerrecht (Jahr, Seite) Gesetz Der Gesellschafter – Zeitschrift für Gesellschafts- und Unternehmensrecht (Jahr, Seite) Gewerbeordnung Grundgesetz gegebenfalls Giurisprudenza costituzionale (Jahr Abteilung, Seite) Giurisprudenza italiana (Jahr Abteilung, Seite) German Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GmbH-Rundschau (Jahr, Seite) Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht (Jahr, Seite) Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung grundsätzlich Gemeinsamer Referenzrahmen; s.a. AEGRR und CFR grundlegend Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (Jahrgang [Jahr], Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil (Jahr, Seite) Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht (Jahr, Seite) Gedächtnisschrift Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik Gewerbemiete und Teileigentum (Jahr, Seite) Gruppenfreistellungsverordnung Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

grds. GRR grundl. GrünhutsZ GRUR Int. GRUR GS GSVP GuT GVO GWB H.L.C. h.L. h.M. HABM Hastings Int’l & Comp. L. Rev. HGB HLL HRA Hrsg. hrsgg. Hs

Clark & Finelly’s House of Lords Reports New Series ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. Cl. & Fin. herrschende(n) Lehre herrschende(n) Meinung Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) Hastings International and Comparative Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Handelsgesetzbuch Handbuch der Lateinischen Literatur der Antike Human Rights Acts 1998 Herausgeber(in) herausgegeben Halbsatz

XXXVIII

Abkürzungsverzeichnis

HtWRL

HVertrRL

HVerwG HWiG I.C.R. i.d.S. i.E. i.Erg. i.e.S. i.O. i.S. i.S.d. i.S.v. i.Ü. i.w.S. IAS IAS-VO

Richtlinie 85/577/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen (Haustürgeschäfterichtlinie) Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter (Handelsvertreterrichtlinie) (polnisches) Hauptverwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny) Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften

IStR iVm IVRA IVU IWB

Industrial Cases Reports ([Jahr] – Seite) in diesem Sinne im Einzelnen im Ergebnis im engeren Sinne im Original im Sinne im Sinne des/der im Sinne von im Übrigen im weiteren Sinne International Accounting Standard (ggf. Nummer); International Accounting Standards Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards International Accounting Standards Board International Chamber of Commerce The International and Comparative Law Quarterly (Jahrgang [Jahr], Seite) in der Fassung in der Regel International Financial Reporting Interpretations Committee International Financial Reporting Standards Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Juli 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards Internationaler Gerichtshof Institutiones des Justinian Irish Journal of European Law (Jahrgang [Jahr], Seite) The Industrial Law Journal (Jahr, Seite) International Labour Organisation (= Internationale Arbeitsorganisation) insbesondere Insolvenzordnung International and Comparative Corporate Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) International Review of Law and Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Internationles Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrecht (Jahr, Seite) Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Internationalen Privatrechts (Entscheidungssammlung) (Jahr, Nummer) Internationales Steuerrecht (Jahr, Seite) in Verbindung mit Rivista internazionale di diritto romano e antico (Jahrgang [Jahr], Seite) Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung Internationale Wirtschafts-Briefe (Jahr, Seite)

J. Econ. Bahav. & Org. J. Int’l Econ. L. J. L. Econ. & Org.

Journal of Economic Behavior & Organization (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of International Economic Law Journal of Law, Economics and Organization (Jahrgang [Jahr], Seite)

IASB ICC ICLQ idF idR IFRIC IFRS IFRS-VO IGH IJ IJEL ILJ ILO insbes. InsO Int’l Comp. Corp. LJ Int’l Rev. L. & Econ. Internat. IPR IPRax IPRspr.

Abkürzungsverzeichnis

J. Law & Econ. J. Leg. Stud. JbFfSt JbJZ JBl. JBL JCE JCLE JCLS JCP Jh. JherJb JR JuMoG JUR juris Jura JuS JZ K.B. K&R Kap. KapRL

KG KGRL

KMU KOM

KPP krit. KSchG KWG L.Q.R. La Notaría LEC LeGes LEX Lex/el. LG LGDCU LIEI

XXXIX

Journal of Law & Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of Legal Studies (Jahrgang [Jahr], Seite) Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht (Jahr, Seite) Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler (Tagungsjahr, Seite) Juristische Blätter (Jahr, Seite) The Journal of Business Law (Jahr, Seite) Journal of Comparative Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) Journal of Competition Law & Economics (Jahr, Seite) Journal of Corporate Law Studies (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. Journal of Consumer Policy (Jahrgang [Jahr], Seite); 2. Juris-Classeur périodique (la semaine juridique) (Jahr, Sektion Ordnungsziffer, ggfs. Seite) Jahrhundert Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts (Jahrgang [Jahr], Seite) Juristische Rundschau (Jahr, Seite) Justizmodernisierungsgesetz Repertorio de resoluciones no publicadas en CD/DVD – Aranzadi/Westlaw (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) Urteilsdatenbank im Online-Rechtsportal www.juris.de Juristische Ausbildung (Jahr, Seite) Juristische Schulung (Jahr, Seite) Juristenzeitung (Jahr, Seite) The Law Reports, King’s Bench (England and Wales) ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) Kommunikation und Recht (Jahr, Seite) Kapitel Zweite Richtlinie des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitglied-staaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (77/91/EWG) (Kapitalrichtlinie) Kammergericht (Berlin) Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter (Kaufgewährleistungs-Richtlinie) Kleine und mittlere Unternehmen KOM-Dokumente: Legislativvorschläge und sonstige Mitteilungen der Europäischen Kommission an den Rat und/oder die anderen Organe sowie die entsprechenden vorbereitenden Dokumente ([Jahr] Nummer, ggf. Seite) Kwartalnik Prawa Prywatnego (Heftnummer/Jahr, Seite) kritisch (österreichisches) Konsumentenschutzgesetz Kreditwesengesetz Law Quarterly Review (Jahrgang [Jahr], Seite) La Notaría ([Heftnummer] Jahr, Seite) (spanisches) Ley de Enjuiciamiento Civil Gesetzgebung & Evaluation – Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Gesetzgebung und der Schweizerischen Evaluationsgesellschaft (Jahr, Seite) (polnische) Datenbank Lex (polnische) Datenbank LEX Prawo Europejskie Landgericht Ley para Defensa de los Consumidores y Usarios vom 19. Juli 1984 Legal Issues of European Integration (Jahrgang [Jahr], Seite)

XL

Lit. lit. LJ LMG LOPJ LRE LS LSA Ltd. LugÜ

LVersRL

m. M.E./m.E. M.P.

Abkürzungsverzeichnis

Literatur litera Lord Justice; Lady Justice (österreichisches) Bundesgesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Verzehrprodukten, Zusatzstoffen, kosmetischen Mitteln und Gebrauchsgegenständen (Lebensmittelgesetz) (spanisches) Ley Orgánica del Poder Judicial Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen (Band, Seite) Leitsatz; Leitsätze ley de sociedades anónimas = (spanisches) Aktiengesetz Company Limited by Shares Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, geschlossen in Lugano am 16. September 1988 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (Lebensversicherungsrichtlinie)

MiFID Mio. MLR MoMiG MR Mskr. mwN

mit meines Erachtens Dziennik Urzędowy Rzeczpospolitej Polskiej „Monitor Polski“ (Jahr/Heftnummer/ Positionsnummer) mit umfangreichen Nachweisen Verordnung über die Pflichten der Makler, Darlehens- und Anlagenvermittler, Anlageberater, Bauträger und Baubetreuer mit anderen Worten Monatsschrift für Deutsches Recht (Jahr, Seite) Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20.6.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (Massenentlassungsrichtlinie) Markets in Financial Instruments Directive Millionen The Modern Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen Master of the Rolls Manuskript(s) mit weiteren Nachweisen

n.Chr. n.F. N.F. Nachw. NBW NCPC Ndr. NJOZ NJW NJW-RR NOR NotBZ NS NuR NVwZ NZA NZA-RR NZG NZBau NZM

nach Christus neue Fassung bei Universitätsreden: Neue Folge (Jahrgang, Seite) Nachweis(e) Nieuw Burgerlijk Wetboek Nouveau Code de Procédure Civile Nachdruck Neue Juristische Online-Zeitschrift (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift (Jahr, Seite) Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungsreport (Jahr, Seite) système NOR (franz. Numerierungssystem für Rechtsvorschriften) Zeitschrift für die notarielle Beratungs- und Beurkundungspraxis (Jahr, Seite) Nationalsozialistisch(en) Natur + Recht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht – Rechtsprechungsreport (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Neue Zeitschrift für Baurecht Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht (Jahr, Seite)

m.umf.N. MaBV maW MDR MERL

Abkürzungsverzeichnis

ÖBA öBGBl öBörseG OG OGB OGH oHG/OHG OIR ÖJZ OLG ONSAiWSA ORDO Orig. OSNC OSNP OSP ÖStZ OTK-A Pace Int’l L. Rev. para. PECL PEICL PHRL

PIN PiP PJZS PKG plc. plnVerf port. CC pr.ALR PRRL

XLI

Zeitschrift für das gesamte Bank- und Börsenwesen (Jahr, Seite) Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (Nummer/Jahr) (österreichisches) Börsegesetz (polnisches) Oberstes Gericht (Sąd Najwyższy) Oberste Gerichtshöfe des Bundes (österreichischer) Oberster Gerichtshof offene Handelsgesellschaft Orbis Iuris Romani (Jahrgang [Jahr], Seite) Österreichische Juristen-Zeitung (Jahr, Seite); s.a. EvBl Oberlandesgericht Orzecznictwo Naczelnego Sądu Administracyjnego i wojewódzkich sądów administracyjnych (Heftnummer/Jahr, Seite) Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft (Jahrgang [Jahr], Seite) Original Orzecznictwo Sądu Najwyższego. Izba Cywilna (Heftnummer/Jahr, Seite) Orzecznictwo Sądu Najwyższego. Izba Pracy, Ubezpieczeń Społecznych i Spraw Publicznych (Heftnummer/Jahr, Seite) Orzecznictwo Sądów Polskich (Heftnummer/Jahr, Seite) Österreichische Steuer-Zeitung (Jahr, Seite) Orzecznictwo Trybunału Konstytucyjnego – Serie A (Heftnummer/Jahr, Seite) Pace International Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) paragraph Principles of European Contract Law Die Principles of European Insurance Contract Law Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25. Juli 1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (Produkthaftungsrichtlinie) Persönliche Identifikationsnummer Państwo i Prawo (Heftnummer/Jahr, Seite) Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (österreichisches) Pensionskassengesetz public limited company polnische Verfassung von 1997 (portugiesischer) Código Civil, s.a. Cc Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen (Pauschalreiserichtlinie)

Q.B. Q.B.D. QJE QPC

Law Reports, Queen’s Bench ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. Q.B.D., K.B. Law Reports, Queen’s Bench Division ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite), s.a. Q.B., K.B. The Quarterly Journal of Economics (Jahrgang [Jahr], Seite) question prioritaire de constitutionnalité

RabelsZ

Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) Recht der Arbeit (Jahr, Seite) Revista de Derecho Comunitario Europeo (Jahr, Seite) Recht der Landwirtschaft (Jahr, Seite) Revue de Droit du Travail (Jahr, Seite) Revue du Droit de l’Union Européenne (Jahr, Seite) Österreichisches Recht der Wirtschaft (Jahr, Seite) Recueil des décisions du Conseil constitutionnel (Seite); Recueil des décisions du Conseil d’Etat (Seite) Recueil Dalloz (Jahr, Seite); seit 1999: Recueil le Dalloz (Jahr, Seite)

RdA RDCE RdL RDT RDUE RdW Rec. Rec. Dalloz

XLII

Abkürzungsverzeichnis

Rec. Dalloz Chron. RefE RefE-EGBGB Reg. reg. RegE Rép. droit civil Rép. droit communautaire Resp.civ.e prev. Rev. crit. DIP RFDA RFDC RG RGD RGZ RIW RJ RJCA RL RLDI Rn. Rom I-VO Rom II-VO RPEiS RRa RRJ Rs. Rspr. RTC RTD civ. RTD eur. RZ S. s. s.a. s.o. S.r.o. s.u. s.v. SAE SARG SavZRG – Germ. Abt. – SavZRG – Rom. Abt. – sc. SCE SchiedsVZ

Recueil Dalloz (Jahr) Chronique (Seite) Referentenentwurf EGBGB nach dem Referentenentwurf eines Gesetzes zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften, Vereine und juristischen Personen; s.a. EGBGB Register regulation Regierungsentwurf Répertoire de droit civil ([Jahr], Nummer) Répertoire de droit communautaire ([Jahr] Nummer) Responsabilità civile e previdenza (Jahr, Seite) Revue critique de droit international privé Revue française de droit administratif (Jahr, Seite) Revue française de droit constitutionnel (Jahr, Seite) Reichsgericht Revista General de Derecho amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen (Band, Seite) Recht der Internationalen Wirtschaft – Betriebs-Berater International (Jahr, Seite) Repertorio de Jurisprudencia (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) Repertorio de Jurisprudencia de lo Contencioso-Administrativo (Jahr/Nummer, ggfs. Randnummer) Richtlinie Revue Lamy Droit de l'Immatériel (Jahr, Seite) Randnummer (s.a. Tz.) Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II) Ruch Prawniczy, Ekonomiczny i Społeczny (Heftnummer/Jahr, Seite) ReiseRecht aktuell (Jahr, Seite) Revue de la Recherche Juridique (Jahr, Seite) Rechtssache(n) Rechtsprechung Repertorio del Tribunal Constitucional – amtliche Entscheidungssammlung des spanischen Tribunal Constitucional (Jahr, Nummer, ggfs. Randnummer) Revue trimestrielle du droit civil (Jahr, Seite) Revue trimestrielle du droit européen (Jahr, Seite) Österreichische Richterzeitschrift (Jahr, Seite) 1. Satz; 2. Seite; 3. Siehe siehe siehe auch siehe oben Společnost s ručením omezeným (tschechische GmbH) siehe unten sub verbo Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen (Jahr, Seite) Standards Advice Review Group Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Germanistische Abteilung – (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung – (Jahrgang [Jahr], Seite) scilicet (nämlich, gemeint ist) Societas Cooperativa Europaea Zeitschrift für Schiedsverfahren (Jahr, Seite)

Abkürzungsverzeichnis

SchlA SDA SDHI SE SECOLA SE-VO SEBG sec. SEEG SEK SEPA SGA SGG SIC Slg.

SLIM sog. SPE SPE-VO Sps. SS Stan. L. Rev. Stat.L.R. StGB str. stud.iur. StudZR StuW sub SUP SVN Syst. Darst. SZ

TA TC TGI TS tschech. HGB TSJ TSRL

TUPE TVG Tz. TzBfG

XLIII

Schlussanträge(n) Sex Discrimination Act 1975 Studia et Documenta Historiae Iuris (Jahrgang [Jahr], Seite) Societas Europea Society of European Contract Law Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 8. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz) section Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft SEK-Dokumente: interne Arbeitsdokumente der Europäischen Kommission ([Jahr] Nummer, ggf. Seite) Standard European Payment Area Sale of Goods Act 1979 Sozialgerichtsgesetz Standing Interpretations Committee Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Teil I) und (seit dem 15. November 1989) des Gerichts Erster Instanz (Teil II) (bis zum 14. November 1989: Jahr, Seite ggf. Randnummer, ab dem 15. November 1989: Jahr, Teil-Seite ggf. Randnummer) Simpler Legislation for the Internal Market sogenannte(n) Societas Privata Europaea Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft; s.a. E-SPE-VO Spiegelstrich Sommersemester Stanford Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Statute Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) Strafgesetzbuch streitig, strittig studiosus iuris Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft (Jahr, Seite) Steuer und Wirtschaft (Jahr, Seite) (lat.) unten Strategische Umweltprüfung Satzung der Vereinten Nationen Systematische Darstellung Entscheidungen des österreichischen Obersten Gerichtshofs in Zivilsachen (Band/Nummer) (französisches) Tribunal administratif (spanisches) Tribunal Constitucional (französisches) Tribunal de grande instance (spanisches) Tribunal Supremo tschechisches Handelsgesetzbuch (spanisches) Tribunal Superior de Justicia Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen (Timesharingrichtlinie) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 1981 Tarifvertragsgesetz Textziffer; s.a. Rn. Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz)

XLIV

Abkürzungsverzeichnis

u.a. U. Chi. L. Rev. u.ö. U.Pa.J.Int’l Econ.L. U.S. u.U. UAbs. uam UCC UCTA UG UGP UKHL UKlaG UKSC ULR umstr. UN UN-Kaufrecht UNIDROIT unstr. unveröff. UP UPR UrhG Urt. USA Usf./usf. usw. UTCCR UVP UVR UWG v. v.a. V-GEK V-GEKVO Vaugh. verb. Rs. verb. SchlA VerbrKrG VerfGH VfGH VfSlg Vgl./vgl. VIZ VO Vorbem VwGO VwGH

1. unter anderem; 2. und andere University of Chicago Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) und öfter University of Pennsylvania Journal of International Economic Law (Jahrgang [Jahr], Seite) 1. United States; 2. als Fundstelle: (Jahrgang) United States Supreme Court Reports (Seite [Jahr]) unter Umständen Unterabsatz und andere(s) mehr Uniform Commercial Code Unfair Contract Terms Act 1977 Unternehmergesellschaft unlautere Geschäftspraktiken United Kingdom House of Lords Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Gesetz über Unterlassungsklagen bei Verbraucherrechts- und anderen Verstößen United Kingdom Supreme Court Decisions (neutral citation) ([Jahr] – Fallnummer) Utrecht Law Review (Jahrgang [Jahr], Seite) umstritten United Nations identisch mit CISG (siehe dort) Institut international pour l’unification du droit unstreitig unveröffentlichte UNIDROIT Principles of International Commercial Contracts; s.a. UNIDROIT Umwelt- und Planungsrecht (Jahr, Seite) Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte Urteil(s) United States of America Und so fort und so weiter Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1999 Umweltverträglichkeitsprüfung Umsatzsteuer- und Verkehrssteuer-Recht (Jahr, Seite) Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb 1. bei Datum: vom; 2. bei Namen: von; 3. bei angloamerikanischen Gerichtsentscheidungen: versus vor allem Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (Anhang I zu V-GEKVO, s. dort) Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635 endg Vaughan’s Common Pleas Reports (Jahr – Seite) verbundene Rechtssachen; s.a. Rs. verbundene Schlussanträge; s.a. SchlA Verbraucherkreditgesetz (polnischer) Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) (österreichischer) Verfassungsgerichtshof amtliche Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des (österreichischen) Verfassungsgerichtshofes (Nummer/Jahr) vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht (Jahr, Seite) Verordnung (ggfs. [Organisation] Nummer/Jahr) Vorbemerkung Verwaltungsgerichtsordnung (österreichischer) Verwaltungsgerichtshof

Abkürzungsverzeichnis

XLV

VwSlg

amtliche Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse des (österreichischen) Verwaltungsgerichtshofes (Nummer Teil/Jahr)

W.L.R. WAG wbl. WiB WIRO

WVerwG WVK

Weekly Law Reports ([Jahr] ggfs. Teilband – Seite) (österreichisches) Wertpapieraufsichtsgesetz Wirtschaftsrechtliche Blätter (Jahr, Seite) Wirtschaftsrechtliche Beratung (Jahr, Seite) Wirtschaft und Recht in Osteuropa – Zeitschrift zur Rechts- und Wirtschaftsentwicklung in den Staaten Mittel- und Osteuropas (Jahr, Seite) Wertpapier-Mitteilungen (Jahr, Seite) World Competition (Jahrgang [Jahr], Seite) Wertpapierhandelsgesetz Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz Wettbewerb in Recht und Praxis (Jahr, Seite) Wintersemester Wirtschafts- und Sozialausschuß Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht (Ordnungsziffer Rechts- und Teilgebiet §/Art. Rechtsakt Ordnungsziffer der Entscheidung) Wirtschaft und Wettbewerb (Jahr, Seite) Wirtschaft und Wettbewerb/Entscheidungssammlung Deutschland Rechtsprechung (Seite ggfs. Randnummer) (polnisches) Woiwodschaftsverwaltungsgericht Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969

Yale L. J. YEL

Yale Law Journal (Jahrgang [Jahr], Seite) Yearbook of European Law (Jahrgang [Jahr], Seite)

z.B./Z.B. z.T. ZBB ZDRL

zum Beispiel/Zum Beispiel zum Teil Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft (Jahr, Seite) Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über Zahlungs-dienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie) Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Europarechtliche Studien (Jahr, Seite) Zeitschrift für Arbeitsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Finanzmarktrecht (Jahr/Beitragsnummer, ggfs. Seite) Zeitschrift für Rechtssoziologie (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Jahr, Seite) Zeitschrift für Verwaltung Judikaturbeilage (Jahr/Nummer) Zeitschrift für Gesetzgebung (Jahr, Seite) 1. (polnisches) Zivilgesetzbuch; 2. (schweizerisches) Zivilgesetzbuch Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Schuldrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (Jahrgang [Jahr], Seite) Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für das Juristische Studium (Jahr, Seite) Zeitschrift für das gesamte Lebensmittelrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für öffentliches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für offene Vermögensfragen (Jahr, Seite)

WM World Comp WpHG WpÜG WRP WS WSA WuB WuW WuW/E DE-R

ZESAR ZEuP ZEuS ZfA ZFR ZfRSoz ZfRV ZfVB ZG ZGB ZGR ZGS ZHR Ziff. ZIP ZJS ZLR ZNR ZöR ZOV

XLVI

ZPO ZSchwR ZSR ZUM Zust./zust. zutr. ZVerzRL ZVglRWiss zw. ZWeR ZZP

Abkürzungsverzeichnis

Zivilprozessordnung Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Schweizerisches Recht (Jahrgang [Jahr], Seite) Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (Jahr, Seite) zustimmend zutreffend Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft (Jahrgang [Jahr], Seite) zweifelnd Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (Jahr, Seite) Zeitschrift für Zivilprozess (Jahrgang [Jahr], Seite)

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

XLVII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre AnwaltKommBGBBearbeiter

Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs Bamberger/RothBearbeiter v. Bar/Clive/SchulteNölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition v. Bar/Clive, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition Bengoetxea, Legal Reasoning Bleckmann, Europarecht

Adrian, Axel, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre – Die begrifflichen und („fuzzy“-)logischen Grenzen der Befugnisnormen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, Berlin 2009 Dauner-Lieb, Barbara/Heidel, Thomas/Ring, Gerhard (Hrsg.), AnwaltKommentar zum BGB – Band 1: Allgemeiner Teil und EGBGB, hrsgg. v. Thomas Heidel, Rainer Hüßtege, Heinz-Peter Mansel und Ulrich Noack, 2. Auflage, Baden-Baden 2012 – Band 2: Schuldrecht, Teilband 1: §§ 241 bis 610 BGB, hrsgg. v. Barbara Dauner-Lieb und Werner Langen, 2. Auflage, Baden-Baden 2012 Anweiler, Jochen, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien 1997 Bamberger, Heinz Georg/Roth, Herbert (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 1: §§ 1–610 BGB, CISG, 3. Auflage, München 2012 v. Bar, Christian/Clive, Eric/Schulte-Nölke, Hans u.a. for the Study Group on a European Civil Code and Research Group on EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference (DCFR), München 2009 v. Bar, Christian/Clive, Eric (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law. Draft Common Frame of Reference (DCFR). Full Edition, 6 Bände, München 2009

Bengoetxea, Joxerramon, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence, Oxford 1993 Bleckmann, Albert, Europarecht: das Recht der Europäischen Union und der Europäischen Gemeinschaften, bearb. von Martin Coen, Rolf Eckhoff und Hanns Eiden, 6. Auflage, Köln u.a. 1997 v. Bogdandy/Bastv. Bogdandy, Armin/Bast, Jürgen (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische Bearbeiter und dogmatische Grundzüge, 2. Auflage, Heidelberg 2009 Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Buck, Auslegungsmethoden des EuGH Gemeinschaft, Frankfurt am Main 1998 Bydlinski, Juristische Bydlinski, Franz, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Auflage, Wien, New Methodenlehre York 1991 Calliess, Christian/Ruffert, Matthias, Kommentar zu EUV und AEUV, 4. Auflage, München Calliess/RuffertBearbeiter 2011 Canaris, Die FeststelCanaris, Claus-Wilhelm, Die Feststellung von Lücken im Gesetz – Eine methodologische lung von Lücken im Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter Gesetz legem, 2. Auflage, Berlin 1983 Canaris, Systemdenken Canaris, Claus-Wilhelm, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz – und Systembegriff entwickelt am Beispiel des deutschen Privatrechts, 2. Auflage, Berlin 1983 Dederichs, Die Methodik Dederichs, Mariele, Die Methodik des EuGH – Häufigkeit und Bedeutung methodischer des EuGH Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Baden-Baden 2004 Drexl, Die wirtschaftliDrexl, Josef, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers – Eine Studie zum che Selbstbestimmung Privat- und Wirtschaftsrecht unter Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Bezüge, des Verbrauchers Tübingen 1998 Ehlers-Bearbeiter Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage, Berlin 2009 Eidenmüller, Effizienz Eidenmüller, Horst, Effizienz als Rechtsprinzip, 3. Auflage, Tübingen 2005 als Rechtsprinzip

XLVIII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Engisch, Einführung in das juristische Denken Erman-Bearbeiter

Engisch, Karl, Einführung in das juristische Denken, hrsgg. und bearb. von Thomas Würtenberger und Dirk Otto, 11. Auflage, Stuttgart 2010 Erman, Walter (Begr.), BGB – Handkommentar mit AGG, EGBGB (Auszug), ErbbauRG, HausratsVO, LPartG, ProdHaftG, UKlaG, VAHRG und WEG, hrsgg. von Barbara Grunewald, Georg Meier-Reimer und Harm Peter Westermann, 14. Auflage, Köln 2014 Fikentscher, Methoden Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band I: des Rechts I Frühe und religiöse Rechte – Romanischer Rechtskreis, Tübingen 1975 Fikentscher, Methoden Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band II: des Rechts II Angloamerikanischer Rechtskreis, Tübingen 1975 Fikentscher, Methoden Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band III: des Rechts III Mitteleuropäischer Rechtskreis, Tübingen 1976 (Nachdruck 2002) Fikentscher, Methoden Fikentscher, Wolfgang, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Band IV: des Rechts IV Dogmatischer Teil, Tübingen 1977 Franzen, PrivatrechtsFranzen, Martin, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft, Berlin angleichung 1999 Gebauer/WiedmannGebauer, Martin/Wiedmann, Thomas (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss – Bearbeiter Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB und anderer Gesetze – Kommentierung der wichtigsten EU-Verordnungen, 2. Auflage, Stuttgart/München/Hannover/Berlin/Weimar/ Dresden 2010 Grabitz/Hilf/NettesGrabitz, Eberhard (Begr.), Das Recht der Europäischen Union: EUV/AEUV, fortgef. von heim-Bearbeiter Meinhard Hilf, hrsgg. von Martin Nettesheim, Loseblattsammlung in drei Bänden, Stand: 52. EL 2014, München v.d. Groeben/Schwarze- von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die EuroBearbeiter päische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage, BadenBaden 2004 GroßkommAktGHopt, Klaus J./Wiedemann, Herbert (Hrsg.), Aktiengesetz – Großkommentar, 4. Auflage, Bearbeiter Berlin/New York seit 1992 in Einzellieferungen Gruber, Methoden des Gruber, Urs Peter, Methoden des Internationalen Einheitsrechts, Tübingen 2004 internationalen Einheitsrechts Grundmann, EuroGrundmann, Stefan, Europäisches Schuldvertragsrecht – Das europäische Recht der päisches SchuldUnternehmensgeschäfte, Berlin/New York 1999 vertragsrecht Grundmann, EuroGrundmann, Stefan, Europäisches Gesellschaftsrecht – Eine systematische Darstellung päisches Gesellschafts- unter Einbeziehung des Kapitalmarktrechts, 2. Auflage, Heidelberg 2011 recht Grundmann, European Stefan Grundmann, European Company Law – Organization, Finance and Capital Company Law Markets, unter Mitarbeit von Florian Möslein, 2. Auflage, Antwerpen/ Oxford 2011 Grundmann, Stefan/Kerber, Wolfgang/Weatherill, Stephen (Hrsg.), Party Autonomy and Grundmann/Kerber/ Weatherill, Party the Role of Information in the Internal Market, Berlin/New York 2001 Autonomy Hager, Rechtsmethoden Hager, Günter, Rechtsmethoden in Europa, Tübingen 2009 in Europa Habersack/Verse, Euro- Habersack, Mathias/Verse, Dirk, Europäisches Gesellschaftsrecht – Einführung für päisches Gesellschafts- Studium und Praxis, 4. Auflage, München 2011 recht HWEurPrivR-Bearbeiter, Basedow, Jürgen/Hopt, Klaus J./Zimmermann, Reinhard (Hrsg.), Handwörterbuch des [Stichwort] Europäischen Privatrechts, Tübingen 2009 Heiderhoff, EuroHeiderhoff, Bettina, Europäisches Privatrecht, 3. bearbeitete Auflage, München 2012 päisches Privatrecht Henninger, EuroHenninger, Thomas, Europäisches Privatrecht und Methode – Entwurf einer rechtspäisches Privatrecht vergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre, Tübingen 2009 und Methode Hüffer Hüffer, Uwe, Aktiengesetz, 11. Auflage, München 2014

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Jauernig-Bearbeiter Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen Kilian, Europäisches Wirtschaftsrecht Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht Kramer, Methodenlehre LangenbucherBearbeiter Larenz, Methodenlehre Larenz/Canaris, Methodenlehre Lenz/BorchardtBearbeiter Martens, Methodenlehre des Unionsrechts Müller/Christensen, Juristische Methodik I Müller/Christensen, Juristische Methodik II MünchKommAktGBearbeiter

MünchKommBGBBearbeiter

Neuner, Die Rechtsfindung contra legem Neuner, Privatrecht und Sozialstaat Oppermann/Classen/ Nettesheim, Europarecht Palandt-Bearbeiter

XLIX

Jauernig, Othmar, Bürgerliches Gesetzbuch mit Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Kommentar, 15. Auflage, München 2014 Kieninger, Eva-Maria, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt – Studien zur Privatrechtskoordinierung in der Europäischen Union auf den Gebieten des Gesellschafts- und Vertragsrechts, Tübingen 2002 Kilian, Wolfgang, Europäisches Wirtschaftsrecht, 4. Auflage, München 2010 Koch, Hans-Joachim/Rüßmann, Helmut, Juristische Begründungslehre – Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft, München 1982 Körber, Torsten, Grundfreiheiten und Privatrecht, Tübingen 2004 Kramer, Ernst A., Juristische Methodenlehre, 4. Auflage, Bern/Wien/München 2013 Langenbucher, Katja (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, 3. Auflage, Baden-Baden 2013 Larenz, Karl, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York/London/Paris/Tokyo/Hongkong/Barcelona/Budapest 1991 Larenz, Karl/Canaris, Claus-Wilhelm, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Studienausgabe), 3. Auflage, 1995 Lenz, Carl Otto/Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg.), EU-Verträge, Kommentar, 6. Auflage, Köln 2012 Martens, Sebastian A.E., Methodenlehre des Unionsrechts, Tübingen 2013 Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische Methodik, Band I: Grundlagen, Öffentliches Recht, 11. Auflage, Berlin 2013 Müller, Friedrich/Christensen, Ralph, Juristische Methodik, Band II: Europarecht, 3. Auflage, Berlin 2012 Münchener Kommentar zum Aktiengesetz – Band 1: §§ 1–75, 3. Auflage, hrsgg. von Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2008 – Band 2: §§ 76–117, MitbestG, DrittelbG, 4. Auflage, hrsgg. von Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2014 – Band 4: §§ 179–277, 3. Auflage, hrsgg. von Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2011 – Band 5 : §§ 329–410, WpÜG, Österreichisches Übernahmerecht, 3. Auflage, hrsgg. von Wulf Goette und Mathias Habersack, München 2011 Säcker, Franz Jürgen/Rixecker, Roland/Oetker, Hartmut (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 6. Auflage – Band 1: §§ 1–240 BGB, ProstG, AGG, München 2012 – Band 2: Schuldrecht – Allgemeiner Teil: §§ 241–432, München 2012 – Band 3: Schuldrecht – Besonderer Teil I: §§ 433–610, Finanzierungsleasing, HeizkostenV, BetriebskostenV, CISG, München 2012 – Band 4: Schuldrecht – Besonderer Teil II: §§ 611–704 EFZG, TzBfG, KSchG, München 2012 – Band 6: Sachenrecht: §§ 854–1296, Wohnungseigentumsgesetz, Erbbaurechtsgesetz, München 2013 – Band 10: Internationales Privatrecht, Rom I-Verordnung, Rom II-Verordnung, Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche (Art. 1–24), 5. Auflage, München 2010 Neuner, Jörg, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Auflage, München 2005 Neuner, Jörg, Privatrecht und Sozialstaat, München 1999 Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter/Nettesheim, Martin, Europarecht – ein Studienbuch, 6. Auflage, München 2014 Palandt, Otto (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 73. Auflage, München 2014

L

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Pawlowski, Methodenlehre Pechstein/Koenig, Die Europäische Union Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht Rauscher-Bearbeiter Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik Riesenhuber, System und Prinzipien Riesenhuber, EUVertragsrecht Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse Schlechtriem/ Schwenzer-Bearbeiter Schmidt-Kessel, Der Gemeinsame Referenzrahmen Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht Schuppert/Pernice/ Haltern, Europawissenschaft Schwarze-Bearbeiter Staudinger-Bearbeiter

Streinz-Bearbeiter Streinz, Europarecht Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH

Pawlowski, Hans-Martin, Methodenlehre für Juristen, 3. Auflage, Heidelberg 1999 Pechstein, Matthias/Koenig, Christian, Die Europäische Union, 3. Auflage, Tübingen 2000 Potacs, Michael, Auslegung im öffentlichen Recht, Baden-Baden 1994 Rauscher, Thomas (Hrsg.), Europäisches Zivilprozessrecht mit Insolvenzverordnung und Vollstreckungsverordnung – Kommentar, 4 Bände, München 2010/2011 Richter, Rudolf/Furubotn, Eirik G., Neue Institutionenökonomik, 4. Auflage, Tübingen 2010 Riesenhuber, Karl, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, Berlin 2003 Riesenhuber, Karl, EU-Vertragsrecht, Tübingen 2013 Riesenhuber, Karl, Europäisches Arbeitsrecht, Heidelberg 2009 Röhl, Klaus F./Röhl, Hans Christian, Allgemeine Rechtslehre – Ein Lehrbuch, 3. Auflage, Köln/Berlin/Bonn/München 2008 Rüthers, Bernd/Fischer, Christian/Birk, Axel, Rechtstheorie – Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts mit juristischer Methodenlehre, 7. Auflage, München 2013 Schäfer, Hans-Bernd/Ott, Claus, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 5. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York/Barcelona/Hongkong/London/Mailand/Paris/ Singapur/Tokio 2013 Schlechtriem, Peter/Schwenzer, Ingeborg (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UNKaufrecht – Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über Verträge über den internationalen Warenkauf – CISG, 6. Auflage, München 2013 Schmidt-Kessel, Martin (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen – Entstehung, Inhalte, Anwendung, München 2009 Schübel-Pfister, Isabel, Sprache und Gemeinschaftsrecht – Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof, Berlin 2004 Schuppert, Gunnar Folke/Pernice, Ingolf/Haltern, Ulrich (Hrsg.), Europawissenschaft, Baden-Baden 2005 Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Auflage, Baden-Baden 2012 v. Staudinger, Julius (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen – Buch 1: Allgemeiner Teil, §§ 164–240, Neubearbeitung, Berlin 2009 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, Einleitung zum Schuldrecht; §§ 241–243, Neubearbeitung, Berlin 2009 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 305–310; UKlaG, Neubearbeitung, Berlin 2013 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, §§ 433–480; Leasing, Neubearbeitung, Berlin 2013 – Buch 2: Recht der Schuldverhältnisse, Wiener UN-Kaufrecht (CISG), Neubearbeitung, Berlin 2005 Streinz, Rudolf (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Auflage, München 2012 Streinz, Rudolf, Europarecht, 9. Auflage, Heidelberg 2012 Vogenauer, Stefan, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent – Eine vergleichende Untersuchung der Rechtsprechung und ihrer historischen Grundlagen, 2 Bände, Tübingen 2001 Walter, Konrad, Rechtsfortbildung durch den EuGH. Eine rechtsmethodische Untersuchung ausgehend von der deutschen und französischen Methodenlehre, Berlin 2009

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts Zippelius, Methodenlehre Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung

LI

Wolf, Manfred/Neuner, Jörg, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 10. Auflage, München 2012 Zippelius, Reinhold, Juristische Methodenlehre, 11. Auflage, München 2012 Zweigert, Konrad/Kötz, Hein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Auflage, Tübingen 1996

LII

Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

1

§1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht § 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

Karl Riesenhuber § 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht Riesenhuber Literatur Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre (2009); Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence (1993); Wolfgang Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts – Ein Leitfaden (2006); Christoph Busch u.a. (Hrsg.), Europäische Methodik: Konvergenz und Diskrepanz europäischen und nationalen Privatrechts, JbJZ 2009; Holger Fleischer, Europäische Methodenlehre: Stand und Perspektiven, RabelsZ 75 (2011), 700–729; Axel Flessner, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Beate Gsell, Zivilrechtsanwendung im Europäischen Mehrebenensystem, AcP 214 (2014), 99–150; Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa (2009); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode – Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Carsten Herresthal, Die Rechtsgewinnung in einer fragmentarischen supranationalen Rechtsordnung, in: Stefan Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2013), S. 49–78; Martijn Hesselink, A European Legal Method? – On European Private Law and Scientific Method, ELJ 15 (2009), 20–45; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (3. Aufl. 2013); Sebastian A.E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Thomas M.J. Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration – Zur Notwendigkeit einer europäischen Gesetzgebungs- und Methodenlehre (1999); Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II: Europarecht (3. Aufl. 2012); Ulla Neergaard/Ruth Nielsen/Lynn Roseberry (Hrsg.), European Legal Method – Paradoxes and Revitalisation (2011); Ulla Neergaard/Ruth Nielsen (Hrsg.), European Legal Method – in a Multi-Level Legal Order (2012); Ulla Neergaard/Ruth Nielsen (Hrsg.), European Legal Method – Towards a New Legal Realism (2013); Robert Rebhahn, Auslegung und Anwendung des Unionsrechts im Privatrecht, in: Attila Fenyves/Ferdinand Kerschner/Andreas Vonkilch (Hrsg.), Klang-Kommentar zum ABGB, Band I (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7. S. ferner das Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur, S. XLVII.

I. II.

Übersicht Europa und Methodenlehre | 1 Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre | 2–11

III.

Begriff der Europäischen Methodenlehre | 12

I. Europa und Methodenlehre Als 2006 die erste Auflage dieses Bandes erschien, gingen wir noch von dem Befund aus, dass 1 das Europarecht ungeachtet seiner zunehmenden Breite und Tiefe in vielen Bereichen unbeachtet blieb: dass Lehrbücher zum nationalen Recht die europarechtlichen Bezüge nicht oder doch nicht ausreichend ansprächen und diese mitunter nur in Form eines knappen Hinweises oder nur in Fußnoten berücksichtigt würden. Die Lage ändert sich spürbar, gerade auch im Bereich der Methodenlehre. Aufgrund der zunehmenden praktischen Bedeutung werden Fragen der Methoden des europäischen Rechts zunehmend wissenschaftlich vertieft. Der „Beginn einer Methodenlehre des Rechts der EWG“ war freilich schon in den 1970er Jahren beobachtet worden.1

_____ 1 Fikentscher, Methoden des Rechts III, S. 784–786: „Es kann nicht ausbleiben, dass auch das Recht der EWG eine eigene Methodik entwickelt.“ Als Forderung formuliert von Behrens, EuZW 1994, 289; auch Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (freilich weithin rechtspolitisch; zu Einzelfragen der Methodenlehre S. 66–76).

Riesenhuber

2

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

Insbesondere mit Blick auf die Rechtsangleichung in Europa war bereits in den 1990er Jahren einer „harmonisierenden Auslegung“2 sowie von einer „international brauchbaren Auslegung“3 die Rede. Man hat ein „europäisches Gemeinrecht der Methode“4 gefordert. Eine „europarechtliche Methodenlehre“, zu der neben methodischen Fragen wie der Auslegung und Rechtsfortbildung auch materiell-rechtliche Fragen gerechnet werden, ist konzipiert und näher ausgeführt worden.5 Man hat auf das Verhältnis von „juristischer Methode und Europäischem Privatrecht“ hingewiesen6 und die Ausbildung einer „gemeineuropäischen Methodenlehre“ gefordert und als Programm formuliert.7 In der Rechtsprechung des EuGH stellt man die Entwicklung einer eigenständigen Methodik fest.8 In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass sich die Zahl der Untersuchung von Einzelfragen der Europäischen Methodenlehre mehrt: etwa zur „Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen“9 oder zur methodischen Bedeutung des „effet utile“.10, 11 Hinzu treten aber auch Untersuchungen, die einen Gesamtentwurf einer Methodenlehre für das Europarecht unternehmen.12 Zu beobachten ist darüber hinaus ein Wandel in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Bot sein apodiktischer Urteilsstil lange Zeit gerade auch unter methodischen Gesichtspunkten Anlass für Kritik, so ist doch anzuerkennen, dass die Entscheidungen in jüngerer Zeit zunehmend eingehend begründet und mitunter methodisch reflektiert sind. Mag damit keineswegs jede Kritik erledigt sein,13 so ist doch auch insoweit eine fortschreitende Integration zu erkennen.

II. Gegenstände einer Europäischen Methodenlehre 2 In der Tat wirft das Europäische Recht – wie jedes Recht – seine eigenen Methodenfragen auf.14

Bevor diese im Einzelnen erörtert werden, sind zunächst einige Grundlagen zu legen. Nur in Einzelpunkten kann dabei freilich auf die reiche und vielfältige Geschichte des Rechtsdenkens in

_____ 2 Odersky, ZEuP 1994, 1–4. 3 Berger, FS Sandrock (2000), S. 49–64. 4 Berger, ZEuP 2001, 4–29. 5 Langenbucher, JbJZ 1999, S. 65, 67; dies., in: dies. (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (3. Aufl. 2012), S. 1–40; auch Müller/Christensen, Juristische Methodik II. 6 Flessner, JZ 2002, 14–23. S.a. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts. 7 Häberle, EuGRZ 1991, 261, 272; ders., Europäische Rechtskultur (1994), S. 66; ähnlich Kramer, in: Assmann/Brüggemeier/Sethe (Hrsg.), Unterschiedliche Rechtskulturen – Konvergenz des Rechtsdenkens (2001), S. 31–47; jetzt Vogenauer, ZEuP 2005, 234–263. 8 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 602 f. 9 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006); Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht – Eine Untersuchung zum Phänomen richterlicher Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (2011). 10 Tomasic, Effet utile – Die Relativität teleologischer Argumente im Unionsrecht (2013); Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008). 11 S. ferner insbesondere die Beiträge im „Schwerpunktheft Methodenlehre“ in RabelsZ (Einführung und Übersicht bei Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700 ff.; die Tagungsbände: Neergaard/Nielsen/Roseberry (Hrsg.), European Legal Method – Paradoxes and Revitalisation (2011); Neergaard/Nielsen (Hrsg.), European Legal Method – in a Multi-Level Legal Order (2012); Neergaard/Nielsen, European Legal Method – Towards a New Legal Realism (2013); sowie die eingehende Erörterung bei Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB, Nach §§ 6 und 7. 12 Jüngst Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013). Frühzeitig bereits Müller/Christensen, Juristische Methodik II (3. Aufl. 2012). 13 Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 72; Hesselink, ELJ 15 (2009), 20, 36 ff.; Riesenhuber, in: Hopt/Tzouganatos (Hrsg.), Das Europäische Wirtschaftsrecht vor neuen Herausforderungen (in Vorbereitung für 2015). 14 Herresthal, in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines Europäischen Vertragsrechts (2013), S. 49 ff.; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569–597; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 235–240. Riesenhuber

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

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Europa eingegangen werden. 15 Exemplarisch dafür stehen hier zwei Kapitel, die allerdings grundlegende Fragen von andauernder Bedeutung betreffen. Zum einen wird die „Juristenmethode in Rom“ erörtert: Fragen des Systemdenkens, der Auslegung und der Rechtsfortbildung im römischen Recht (§ 2). Zum anderen wird die zentrale Frage der Gesetzesbindung und des Verhältnisses von Auslegung und Analogie in historischer und vergleichender Sicht erörtert (§ 3). Zu den Grundlagen der Methodenlehre des Europäischen Rechts gehört weiterhin die Rechtsvergleichung (§ 4). In einem Rechtssystem das auf den vielfältigen Traditionen der Mitgliedstaaten aufbaut und an dessen gesetzgeberischer Gestaltung und richterlicher Anwendung und Fortbildung Juristen aus verschiedenen Ländern mitwirken, ist die Rechtsvergleichung ein naheliegendes Werkzeug. Doch ist umstritten, welche Rolle sie im Rahmen der Methodenlehre spielt. Ähnlich verhält es sich bei der ökonomischen Theorie (§ 5). Soweit das Recht der Europäischen Union primär auf die Herstellung eines Binnenmarktes ausgerichtet ist, so versteht sich, dass ökonomische Erwägungen eine verhältnismäßig größere Rolle spielen können. Doch auch hier wird die Bedeutung für die Methodenlehre kontrovers diskutiert.16 Nach diesen Grundlagen sind die Rechtsquellen des Europäischen (Privat-)Rechts zu bestimmen (§ 6). Sie finden sich im Primärrecht und im Sekundärrecht. Beide Bereiche weisen Besonderheiten auf und sind daher auch gesondert zu untersuchen. Zunächst ist die Auslegung und Fortbildung von primärem Unionsrecht zu erörtern (§ 7). Ebenfalls dem primärrechtlichen Bereich kann man auch die primärrechtskonforme Auslegung zurechnen (§ 8). Sie betrifft zwar nicht das Primärrecht selbst, sondern das Sekundärrecht und das nationale Recht, doch ist sie primärrechtlich determiniert. Das Europäische Privatrecht findet sich überwiegend im Sekundärrecht. Gerade für den Bereich des Privatrechts ist hier zunächst das grundlegende Thema der Systembildung zu untersuchen (§ 9), denn es ist nach wie vor umstritten, ob die Rechtsetzung der Europäischen Union im Privatrecht als System begriffen werden kann. Zudem weist das System aber durch seine Verbindung mit dem nationalen Recht Besonderheiten auf. Und nicht zuletzt ist es geradezu andauernd in der Entwicklung befindlich. Für die Praxis stehen drei methodische Einzelfragen im Vordergrund. Praktisch jeder europarechtlich beeinflusste Fall wirft Fragen der Auslegung des Sekundärrechts auf; sie sind in vielem ähnlich zu beantworten wie im nationalen Recht, doch gibt es schon hier Besonderheiten (§ 10). Öfter finden sich im Sekundärrecht Generalklauseln; prominente Beispiele sind die Klauselrichtlinie, die Handelsvertreter-Richtlinie sowie die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken. Auch bei der Konkretisierung von Generalklauseln im Gemeinschaftsrecht stellen sich teilweise besondere Fragen, der EuGH beginnt hier, eine eigene Methodik zu entwickeln (§ 11). Und endlich wirft auch die Rechtsfortbildung im Sekundärrecht Fragen auf. Hier gilt es besonders, die Legitimation der Rechtsfortbildung – sowohl im Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten (Verbandskompetenz) als auch im Verhältnis von Gesetzgebung und Rechtsprechung (Organkompetenz) – zu ergründen und ihre Grenzen zu bestimmen (§ 12). Da es sich bei dem System des Europäischen (Privat-)Rechts um ein „Zwei-Ebenen-System“ handelt, bei dem das Unionsrecht und die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zusammenwirken, wirft auch die Umsetzung des Unionsrechts im nationalen Recht spezifische Fragen auf. Das betrifft besonders die Umsetzung von Richtlinien. Vor allem stellt sich die Frage, ob und

_____ 15 S. dazu noch Fikentscher, Methoden des Rechts I (S. 375–586 – Romanischer Rechtskreis), II (S. 1–150 – Englischer Rechtskreis), III (Mitteleuropäischer Rechtskreis); Larenz, Methodenlehre, S. 9–185; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967). 16 Zu externen und internen Perspektiven auf das Recht Hesselink, ELJ 15 (2009), 20 ff.; Riesenhuber, Uetrecht L. Rev. 7 (2011), 117 ff.

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§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

inwieweit das mitgliedstaatliche Recht richtlinienkonform ausgelegt werden kann und muss (§ 3; zur primärrechtskonformen Auslegung bereits § 8). Hier wirken europarechtliche Anforderungen und mitgliedstaatliche Methodenlehre zusammen. Darüber hinaus wirft die sogenannte überschießende Umsetzung von Europarecht neben rechtlichen auch methodische Fragen auf (§ 4). Es geht insbesondere darum, ob nationales Recht, dass über den Anwendungsbereich der Richtlinien hinaus diesen entsprechend geregelt ist, europarechtskonform auszulegen ist und ob die mitgliedstaatlichen Gerichte dem EuGH Auslegungsfragen im Hinblick auf die überschießende Umsetzung vorlegen dürfen. Zwei übergreifende Fragen zu zeitlichen Wirkungen erörtern wir in diesem Zusammenhang. Die erste betrifft die zeitlichen Wirkungen von Gesetzen. Spezifisch europarechtlich stellt sie sich im nationalen Recht im Hinblick auf eine mögliche Vorwirkung von Richtlinien (§ 15): Inwieweit sind sie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist auch für die Rechtsfindung von Bedeutung? Die zweite Frage betrifft die zeitlichen Wirkungen von Gerichtsentscheidungen, die sich in unserem Zusammenhang für Entscheidungen des EuGH stellt (§ 16): Unter welchen Voraussetzungen können der Gerichtshof selbst oder, alternativ oder kumulativ, die mitgliedstaatlichen Gerichte die Berufung auf die grundsätzlich „rückwirkenden“ Entscheidungen des Gerichtshofs unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes beschränken? Fragen der Methodenlehre werden in diesem Band nicht nur theoretisch untersucht, sondern in einem Besonderen Teil für einzelne Teilgebiete des Privatrechts exemplarisch vertieft: für das Europäische Vertragsrecht (§ 17), das Europäisches Arbeitsrecht (§ 18), das Europäische Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht (§§ 19, 20) sowie das Europäische Kartellrecht (§ 21). Weiterhin wird erörtert, wie der Europäische Gerichtshof (§ 22) und die obersten deutschen Gerichtshöfe (§ 23) mit Methodenfragen des Europäischen Rechts umgehen. Das bietet nicht nur die Möglichkeit, Methodenaussagen zu überprüfen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit spezielle Rechtsgebiete spezielle Methodenfragen aufwerfen. Bei alledem geht es nicht nur darum, die vorgefundene Praxis zu resümieren.17 Auch an dieser Stelle soll „der Verzwergung der Rechtswissenschaft zur Rechtsprechungskunde“ entgegengewirkt werden.18 Methodenlehre wird – wie aus dem nationalen Bereich bekannt – nicht als eine empirische Beschreibung verstanden, sondern vielmehr als eine Lehre von der rechtlich richtigen, rationalen, überzeugenden und vorhersehbaren Rechtsfindung. Europäische Methodenlehre ist kein deutsches Reservat. Mit Recht wird im Schrifttum hervorgehoben, dass sich ein „Wettstreit der nationalen Methoden“ herausbilden muss.19 Institutionell angelegt ist ein solcher Wettstreit in der mitgliedstaatlich-pluralen Besetzung: „Der Gerichtshof besteht aus einem Richter je Mitgliedstaat“, Art. 19 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV (für das EuG Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Ein solcher Wettstreit verlangt zuerst, die mitgliedstaatlich unterschiedlichen Herangehensweisen offenzulegen. In verschiedenen Zusammenhängen, z.B. im Hinblick auf die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung oder die überschießende Umsetzung, wirkt sich eine unterschiedliche Methode auch praktisch auf die Reichweite des Unionsrechts aus. Den Zusammenhängen von nationaler Methode und Europarecht gehen wir in den Länderberichten nach: über Frankreich (§ 24), England (§ 25), Italien (§ 26), Spanien (§ 27) und Polen (§ 28). Hier werden die Grundlagen der nationalen Methodenlehre vorgestellt und die europarechtliche Methodendiskussion der Länder erörtert. Methodenlehre ist damit – ungeachtet mancher Vorurteile – eine ausgesprochen praktische Disziplin. Methodenfragen stellen sich schon den Organen der Europäischen Union, wenn sie

_____ 17 Das kritisiert mit Recht Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 243. 18 So für das nationale Schuldrecht Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. II/2 (13. Aufl. 1994), S. V f. 19 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 602. Riesenhuber

§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

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das Primärrecht anwenden, z.B. das Kartellrecht und die Grundfreiheiten. Methodenfragen stellen sich aber auch den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern, z.B. wenn sie Richtlinien umsetzen: Wie sind diese auszulegen? Welche Folgen hat eine überschießende Umsetzung? Vor allem muss der Rechtsanwender mit Methodenfragen umgehen. Welche Anforderungen stellt das Primärrecht, und sind Sekundärrecht oder mitgliedstaatliches Recht ggf. primärrechtskonform auszulegen? Was bedeutet das Sekundärrecht und ist das mitgliedstaatliche Recht etwa richtlinienkonform auszulegen? Wem steht die Befugnis zu, Generalklauseln zu konkretisieren: Kommt eine Vorlage an den EuGH in Betracht? Usf.

III. Begriff der Europäischen Methodenlehre Diese Methodenfragen werden hier unter dem Begriff der Europäischen Methodenlehre zusam- 12 mengefasst.20 Dass es dabei um eine Methodenlehre des Europäischen Rechts geht, wie die Begriffe der „europarechtlichen Methodenlehre“ oder der „Methodenlehre des Unionsrechts“ hervorheben, bedarf keiner besonderen Betonung. Die Kennzeichnung als „gemeineuropäisch“ weist auf der anderen Seite eher auf die Gemeinsamkeiten der nationalen Methoden europäischer Staaten (oder auch der Mitgliedstaaten) hin.21 Das ist zwar insoweit treffend, als das Europäische Recht weithin22 eine einheitliche (all-„gemeine“) Methodenlehre verlangt. Indes könnte der Begriff zu der Fehlvorstellung verleiten, es ginge um eine in den europäischen (Mitglied-) Staaten einheitliche Methodenlehre, die ebenso für das autonom-nationale Recht Geltung beansprucht. Ist auch nicht auszuschließen, dass es zukünftig zu einer solchen Konvergenz der nationalen Methoden kommen wird, so ist das doch derzeit nicht abzusehen.

neue rechte Seite

_____ 20 Ebenso Häberle, Europäische Verfassungslehre (7. Aufl. 2011), S. 270–272; Köndgen, GPR 2005, 105. Auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 323 ff. et passim, spricht von einer „europäischen Methodenlehre“, möchte sie aber stärker rechtsvergleichend fundieren, nämlich auf gemeinsame Grundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen stützen. 21 Ungeachtet weithin bestehender Übereinstimmung unterscheidet sich daher die von Vogenauer, ZEuP 2004, 234–263 skizzierte „gemeineuropäische“ Methodenlehre von dem vorliegenden Ansatz darin, dass dort Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte zentrale Bedeutung beigemessen wird (S. 246–252) und die „konstruktiv-dogmatischen“ Elemente erst „zu guter Letzt“ eine Rolle spielen (S. 253). 22 Bei der richtlinienkonformen Auslegung geht es hingegen um die unionsrechtlichen Anforderungen an die mitgliedstaatliche Methodenlehre.

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§ 1 Europäische Methodenlehre – Einführung und Übersicht

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§ 2 Juristenmethode in Rom

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1. Teil Grundlagen 1. Teil: Grundlagen Harke § 2 Juristenmethode in Rom

§2 Juristenmethode in Rom Jan Dirk Harke

Literatur Ulrike Babusiaux, Papinians quaestiones – Zur rhetorischen Methode eines spätklassischen Juristen (2011); Tomasz Giaro, Über methodologische Werkmittel der Romanistik, SavZRG – Rom. Abt. – 105 (1988), 181–262; Jan Dirk Harke, Argumenta Iuventiana – Entscheidungsbegründungen eines hochklassischen Juristen (1999); ders., Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana (2012); ders., Argumenta Pomponiana (2014); Franz Horak, Rationes decidendi, Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo (1969); Max Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse (1962), S. 49–78; Rolf Knütel, Zur Rechtsfindung der Römer, in: Alfred Söllner u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), S. 475–499; Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte – Ein Fragment aus dem Nachlass, Bd. 2 (2006), S. 45–52.

I.

Übersicht Die Art und Weise römischer Rechtsfindung | 1–8 1. Intuition oder Plan? | 1–3 2. Induktion, Deduktion und systemüberschreitende Rechtsfindung | 4–5 3. Systematische Rechtsfindung | 5–8

II.

III.

IV.

Deduktion | 9–17 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis | 9–12 2. Gesetzesauslegung | 13–18 Rechtsfortbildung | 19–34 1. Fortentwicklung des Juristenrechts | 20–31 2. Fortbildung des Gesetzesrechts | 32–34 Zusammenfassung | 35

I. Die Art und Weise römischer Rechtsfindung 1. Intuition oder Plan? Folgt man der Ansicht zweier der bedeutendsten Romanisten des 20. Jahrhunderts, war die 1 Rechtsfindung in Rom eher eine Sache des Gefühls als das Produkt rationaler Vorgehensweise. Franz Wieacker schreibt die Entscheidungen der römischen Juristen in erster Linie ihrem „Judiz“ zu.1 Dieses sei zwar das Ergebnis eines Lernprozesses, unterscheide sich aber doch erheblich von der planmäßigen Entscheidungsfindung moderner Prägung, zumal der römische Jurist in erster Linie Ähnlichkeitsurteile zwischen einem schon entschiedenen und einem noch zu entscheidenden Fall getroffen habe.2 Noch weiter geht Max Kaser, der den römischen Quellen zwar in vielfacher Hinsicht kohärente Regelungsbereiche entnimmt, ihre Genese jedoch auf die „Intuition“ der römischen Juristen zurückführt.3 Sie hätten den zu lösenden Fall „unmittelbar erfasst“ und sich bei seiner Entscheidung in erster Linie auf ihre Erfahrung und ihr Sachgefühl verlas-

_____ 1 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 45 f. 2 Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 48 ff. 3 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 49, 54. Harke

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1. Teil: Grundlagen

sen.4, 5 Zwar mache sich in der späten Republik eine gewisse Hinwendung zur Theorie bemerkbar; diese Tendenz sei jedoch rasch zugunsten einer Orientierung an Leitfällen überwunden worden,6 die Regeln, soweit sie überhaupt gebildet wurden, nur als Erfahrungsaussagen zugelassen habe.7 Wichtiger als das Argument sei für die römischen Rechtswissenschaftler stets die Autorität, also das Ansehen des Juristen gewesen, der denselben oder einen ähnlichen Fall schon entschieden habe.8 2 Das von Kaser und Wieacker gezeichnete Bild der römischen Jurisprudenz wird schon durch die bloße Zahl der überlieferten Entscheidungsbegründungen in Frage gestellt. Hätten die römischen Juristen ihre Falllösungen mehr erahnt als abgeleitet, dürfte es in den überlieferten Auszügen aus ihren Schriften kaum Argumentationen geben. Zwar ist nicht zu leugnen, dass es unter den Werken der römischen Jurisprudenz reine Entscheidungssammlungen gab, die sich wie etwa die in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts entstandenen Responsen des Scaevola durch eine regelrechte Begründungsabstinenz auszeichnen.9 Hieraus auf eine intuitive Rechtsfindung zu schließen wäre gleichwohl ebenso falsch wie anzunehmen, dass die französische Cour de Cassation ihre Entscheidungen weniger rational träfe als der deutsche Bundesgerichtshof, der deutlich größeren Begründungsaufwand als das oberste französische Zivilgericht treibt. Im juristischen Diskurs können durchaus auch Entscheidungen, die mit wenigen Argumenten unterlegt oder gar überhaupt nicht begründet sind, einen Beitrag zur planmäßigen Rechtsfindung leisten, sofern sie nur von Fachkollegen rezipiert werden, für die sich alle oder zumindest die meisten Schritte der Falllösung von selbst verstehen. Darf man Begründungslücken also von Vornherein nicht als Zeichen für intuitives Entscheiden ansehen, bedeutet die Existenz von Begründungen durchaus einen Beweis für eine rationale Falllösungstechnik. Dass es in den Quellen des römischen Rechts viele Entscheidungsbegründungen gibt,10 3 konnte im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts, als auch die Theorie von der intuitiven Rechtsfindung der Römer entstand, nur deshalb verborgen bleiben, weil man im Zuge einer völlig übersteigerten Textkritik die meisten der überlieferten Argumente für das Werk nachträglicher Textbearbeitung erklärt hatte.11 War diese Kritik zunächst noch von dem Ziel getragen, die überlieferten Begründungen durch Erwägungen zu ersetzen, die man in der modernen Forschung für die eigentlich ausschlaggebenden Gesichtspunkte hielt, hatte man die klassischen Quellen schließlich doch zu einem Torso gemacht, so dass in dem Moment, in dem man den willkürlichen Charakter der modernen Unterstellungen erkannte, nichts anderes übrigblieb, als die Entscheidungen der römischen Juristen einer weitgehend intuitiven Rechtsfindung zuzuschreiben. Geht man dagegen von der Echtheit des überlieferten Textes als Regel aus, findet man Entscheidungsbegründungen in nicht unbeträchtlicher Zahl, die die Rationalität der römischen Jurisprudenz außer Frage stellen. So enthalten die rund 1000 Fragmente, in denen Entscheidungen der

_____ 4 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 54 f. Ebenso heute noch Waldstein/Rainer, Römische Rechtsgeschichte (11. Aufl. 2014), Rn. 33.12. 5 Ähnlich Bund, Untersuchungen zur Methode Julians (1965), S. 178 ff., der den römischen Juristen ein konkretes Denken jenseits von Systemzusammenhängen attestiert. Etwas anders ist der Ansatz von Viehweg, Topik und Jurisprudenz (5. Aufl. 1974), S. 26 ff., der den römischen Juristen ein zwar rationales, aber unstetes „Problemdenken“ bescheinigt, das im Gegensatz zu einem „Systemdenken“ stehe; hiergegen nachdrücklich Horak, Rationes decidendi, S. 44 ff. 6 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 67. 7 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 60. 8 Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55. 9 Hierauf beruft sich denn auch Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55. 10 Dies übersehen Kaser, Zur Methode der römischen Rechtsfindung, S. 55 und Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 49. 11 Den Zusammenhang zwischen der Intuitionsthese und der Interpolationenkritik stellt, allerdings mit etwas anderer Tendenz, auch Knütel, GS Heinze, S. 477 f. heraus. Harke

§ 2 Juristenmethode in Rom

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bis zur Zeitenwende tätigen Juristen überliefert sind, annähernd 300 Begründungen.12 Für die hochklassischen Juristen Celsus, Julian und Pomponius kann man sogar ein Verhältnis zwischen den überlieferten Entscheidungen und den erhaltenen Begründungen angeben: Bei Celsus und Julian sind es gleichermaßen etwa ein Fünftel der überlieferten Entscheidungen,13 die mit einer Begründung versehen sind, bei Pomponius etwas weniger.14 Die deutlich höhere Argumentationsdichte in den Originalauszügen aus Celsus’ und Julians Werk lässt darauf schließen, dass viele Begründungen, die sich ursprünglich in den Texten dieser beiden Hochklassiker fanden, beim Zitat durch spätere Juristen weggefallen oder als eigene Argumentation des zitierten Juristen unkenntnlich gemacht worden sind.15 Bei Pomponius ist die Zurückhaltung, die er in seiner Argumentation zeigt, dagegen wohl der Eigenart seiner Tätigkeit geschuldet: Als erster der großen Kommentatoren war er eher auf das Sammeln des Rechtsstoffs als auf die Ableitung der Fallentscheidungen konzentriert.16

2. Induktion, Deduktion und systemüberschreitende Rechtsfindung Ein erheblicher Teil der überlieferten Entscheidungsbegründungen besteht nicht aus Bezug- 4 nahmen auf normative Vorgaben wie gesetzliche Bestimmungen oder anerkannte Juristenregeln, sondern aus dem Verweis auf einen Parallelfall. Dass hier häufig nicht das tertium comparationis angegeben wird, ist kein Grund, eine solche Fallanknüpfung nicht als Entscheidungsbegründung gelten zu lassen17 oder die Rechtsfindung in diesen Fällen gar für intuitiv zu halten. Sowohl für den antiken als auch für den modernen Leser hat der Verweis auf einen Vergleichsfall Begründungsfunktion, wenn er sich nicht darin erschöpft, die Gleichheit im Ergebnis herauszustellen, sondern erkennbar an die Ähnlichkeit oder Verschiedenheit der Fallgestaltungen anknüpft.18 Die Übertragung der Falllösung vom Vergleichs- auf den Ausgangsfall oder ein hieraus gezogener Gegenschluss folgen dem Grundsatz, dass wesentlich Gleiches gleich, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandelen ist. Das Vorgehen des Juristen ist dabei durchaus planmäßig; es zielt entweder auf den Einsatz der im Vergleichsfall wirksamen Regel im Ausgangsfall oder auf die Herausbildung einer Regel ab, deren Geltung der Jurist am Vergleichsfall nachweist und im Ausgangsfall zur Entscheidungsgrundlage macht. Beschreibt der Jurist sie oder nennt er ausdrücklich das tertium comparationis, macht er sogar einen Schritt in Richtung auf die deduktive Ableitung seines Ergebnisses. Ist die Grenze zwischen Induktion und Deduktion damit fließend, zeigt dies, dass beide Arten der Entscheidungsbegründung nur Erscheinungsformen einer systemimmanenten Argumentation sind. Systemüberschreitend ist eine Begründung erst dann, wenn sich ein Jurist auf außerrechtliche Werturteile stützt, die sich noch nicht zu einem Rechtssatz verdichtet haben. Außerrechtliche Werturteile sind bei den hochklassischen Juristen Celsus, Julian und Pom- 5 ponius überaus selten und machen deutlich weniger als 10 % der überlieferten Entscheidungsbegründungen aus.19 Größeren Stellenwert erlangen offene Wertungen zwar im Werk des Spät-

_____ 12 Horak, Rationes decidendi, S. 289. 13 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 13, 339. 14 Harke, Argumenta Pomponiana, S. 10, 168. 15 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 339. 16 Harke, Argumenta Pomponiana, S. 168. 17 So aber Bund, Untersuchungen zur Methode Julians (1965), S. 124 ff. und auch noch Harke, Argumenta Iuventiana, S. 29. 18 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 16 f.; ders., Argumenta Pomponiana, S. 14 f. 19 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 340; ders., Argumenta Pomponiana, S. 169 f. Harke

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1. Teil: Grundlagen

klassikers Papinian; sie stehen hier aber erkennbar im Zusammenhang mit einem starken Einfluss der Rhetorik,20 der seinerseits die Verwurzelung der Fallentscheidung im überkommenden Rechtsstoff nicht in Frage stellt.21 Die Verteilung der systemimmanenten Argumentation zwischen Fallanknüpfung und Deduktion schwankt von Jurist zu Jurist, lässt aber den durchgängigen Befund eines Übergewichts der deduktiven Argumentation zu: Bei Celsus macht sie mehr als vier Fünftel,22 bei Pomponius mehr als zwei Drittel23 der Begründungen aus, mit denen der Jurist seine Entscheidungen unmittelbar und ohne Zwischenschritt der Auslegung rechtfertigt. Bei Julian machen die deduktiven Begründungen einer unmittelbaren Fallentscheidung zwar nur etwas mehr als die Hälfte aus; die überwiegende Zahl der Fallvergleiche ist jedoch um die Darstellung des für den Ähnlichkeits- oder Gegenschluss maßgeblichen Kriteriums angereichert und damit einer deduktiven Entscheidungsbegründung angenähert.24 Zumindest für die Hochklassik lässt sich damit außer der deutlichen Dominanz systemimmanenter Argumentation sogar ein Übergewicht der regelhaften Fallentscheidung konstatieren, was der gängigen These einer intuitiven Rechtsfindung geradewegs zuwiderläuft.

3. Systematische Rechtsfindung 6 Zeugt die Argumentation der hochklassischen römischen Juristen von einer planmäßigen Fall-

entscheidung, verwundert nicht, dass wir in den Quellen auch auf Spuren regelrecht systematischer Rechtsfindung stoßen. Ein gutes Beispiel25 hierfür bietet Celsus’ Traktat zu der kaufähnlichen Vereinbarung über den Austausch des Eigentums an einem Sklaven gegen Geld: 7

D 12.4.16 Cels 3 dig Dedi tibi pecuniam, ut mihi Stichum dares: utrum id contractus genus pro portione emptionis et venditionis est, an nulla hic alia obligatio est quam ob rem dati re non secuta? in quod proclivior sum: et ideo, si mortuus est Stichus, repetere possum quod ideo tibi dedi, ut mihi Stichum dares. finge alienum esse Stichum, sed te tamen eum [tradidisse] : repetere a te pecuniam potero, quia hominem accipientis non feceris: et rursus, si tuus est Stichus et [pro evictione eius promittere] non vis, non liberaberis, quo minus a te pecuniam repetere possim. Ich habe dir Geld gegeben, damit du mir Stichus übereignest. Ist dieser Vertrag zumindest teilweise ein Kauf, oder entsteht hier keine andere Verpflichtung als die auf Rückgewähr dessen, was zu einem bestimmten Zweck gegeben worden ist, wenn der Zweck nicht eingetreten ist? Hierzu neige ich mehr. Und daher kann ich zurückfordern, was ich dir deswegen gegeben habe, damit du mir Stichus übereignest, wenn Stichus gestorben ist. Nimm an, der Sklave Stichus sei fremd, aber von dir durch mancipatio übereignet worden: Ich kann das Geld von dir zurückfordern, weil du den Sklaven nicht zu meinem Eigentum gemacht hast. Und umgekehrt, wenn der Sklave dir gehört, aber du ihn nicht durch mancipatio übereignen willst, wirst du nicht davon befreit, dass ich von dir das Geld zurückfordern kann.

_____ 20 Babusiaux, Papinians quaestiones, S. 226 ff. 21 Babusiaux, Papinians quaestiones, S. 265 f. 22 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 340. 23 Harke, Argumenta Pomponiana, S. 169. 24 Harke, Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 340. 25 Andere führt Knütel, GS Heinze, S. 479 ff. auf, der insbesondere zeigt, wie die römischen Juristen ein Prinzip bis hin zum Grenzfall verfolgen, in dem seine Geltung zweifelhaft wird.

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§ 2 Juristenmethode in Rom

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Da der römische Kaufvertrag den Verkäufer nicht zur Übereignung einer Kaufsache verpflichtete 8 (s.u. Rn. 21 ff.), kann Celsus die Abrede, gegen Geldzahlung das Eigentum an einem Sklaven zu übertragen, bestenfalls teilweise (pro portione) als Kauf gelten lassen und entscheidet sich sogar dafür, es als atypisches Tauschgeschäft anzusehen, das sich nicht den anerkannten Vertragsarten zuordnen lässt. Hieraus folgt, dass der Teil, der Geld vorgeleistet hat, um das Eigentum an dem Sklaven zu erlangen, nur einen Kondiktionsanspruch hat, wenn ihm das Eigentum an den Sklaven nicht verschafft wird.26 Ist diese Lösung für ihn auch insofern nachteilig, als er ein Klagerecht erst durch Vorleistung erwirbt, erweist sie sich im Fall der Leistungsstörung doch in mehrfacher Hinsicht als günstiger: Stirbt der Sklave vor der Übereignung, kann er den Geldbetrag zurückfordern, während er als Käufer ab Vertragsschluss die Preisgefahr trüge (periculum emptoris, s.u. Rn. 21 ff.) und keine Erstattung des Kaufpreises verlangen könnte. Gehört der Sklave nicht dem Veräußerer, kann der Erwerber ebenfalls umgehend eine Rückzahlung des Geldes fordern, wohingegen er als Käufer nur dann einen Anspruch gegen den Veräußerer hätte, wenn ihm der Sklave von seinem wahren Eigentümer wieder abgenommen worden wäre. Derselbe Unterschied besteht schließlich im dritten Fall, in dem der Veräußerer zwar Eigentümer des Sklaven ist, diesen aber nur übergeben und nicht übereignen will: Der Erwerber kann hier ebenfalls den gezahlten Geldbetrag zurückverlangen, während ihm, wenn er Käufer wäre, mangels Anspruchs auf Übereignung ein schätzbares Interesse am Eigentumserwerb fehlte, da der Sklave ihm ja schon übergeben worden ist und ihm nicht mehr mit Erfolg streitig gemacht werden kann. Die Lösungen aller drei Fallgestaltungen ergeben sich aus der Grundentscheidung gegen die Anwendung des Kaufrechts und für die Gewährung einer Zweckverfehlungskondiktion. Celsus stellt sie an den Anfang, um dann planmäßig Schlussfolgerungen zu ziehen, die den Unterschied von Kauf- und Kondiktionsrecht deutlich machen.

II. Deduktion 1. Juristenregeln als Subsumtionsbasis Die systematische Ableitung von Falllösungen aus der Zuordnung einer Vereinbarung zu einem 9 Geschäftstyp, wie sie Celsus für den Austausch von Geld und Sacheigentum vornimmt, demonstriert, wie sich deduktive Rechtsfindung in einer weitgehend ungeschriebenen Rechtsordnung vollzieht. Sie ist hier ebenso möglich und häufig wie in einem gesetzesfundierten System,27 nimmt ihren Ausgang aber eben nicht vom Gesetzesrecht, sondern von den Regeln, die die Jurisprudenz aufgestellt hat.28 Dass diese auch in Rom nicht völlig losgelöst vom Gesetz tätig wurde, aber weiten Spielraum durch die hiervon gelassenen Lücken hatte, zeigt der Fall des Celsus: Die Regel, dass der Austausch zweier Sachen mit dem Ziel des beiderseitigen Eigentumserwerbs kein Kaufvertrag war und auch nicht wie ein solcher behandelt wurde, hat sich in der Diskussion der beiden großen römischen Juristenschulen, der Sabinianer und der Prokulianer, herausgebildet, die im ersten Jahrhundert n.Chr. entstanden sind. Während die Sabinianer für die Anwendung des Kaufrechts eintraten, weil der Tausch die Vor- oder Urform des Kaufs sei, meinten die Prokulianer, zu denen auch Celsus gehörte, der Tausch könne keinesfalls wie ein

_____ 26 Zur Deutung dieser Grundentscheidung und zum Umfang der Textveränderung durch die byzantinischen Redaktoren ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 49 ff. 27 Richtig Giaro, SavZRG – Rom. Abt. – 105 (1988), 180, 207 ff.; vgl. auch ders., Römische Rechtswahrheiten (2007), S. 433 ff. und Harke, Argumenta Iuventiana, S. 39 ff. 28 Dass weniger das Juristenrecht als die kaiserliche Rechtsprechung die Ursache für einen regelrechten Rechtspositivismus der hochklassischen Jurisprudenz gelegt habe, glaubt dagegen Klami, Sacerdotes iustitiae (1978), S. 70 ff. Harke

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1. Teil: Grundlagen

Kaufvertrag behandelt werden. Denn es sei unklar, wer die Rolle des Käufers und wer die Rolle des Verkäufers übernehmen solle; und es könnten auch nicht beide zugleich jeweils Käufer und Verkäufer sein, da den einen mit der Zahlungspflicht ja auch eine Verpflichtung zur Übereignung treffe, während der andere die Sache nur übergeben müsse: 10

Gai 3.141 Item pretium in numerata pecunia consistere debet. nam in ceteris rebus an pretium esse possit, veluti homo aut toga aut fundus alterius rei pretium esse possit, valde quaeritur. nostri praeceptores putant etiam in alia re posse consistere pretium; unde illud est, quod vulgo putant per permutationem rerum emptionem et venditionem contrahi, eamque speciem emptionis venditionisque vetustissimam esse; argumentoque utuntur graeco poeta homero, qui aliqua parte sic ait: … diversae scholae auctores dissentiunt aliudque esse existimant permutationem rerum, aliud emptionem et venditionem; alioquin non posse rem expediri permutatis rebus, quae videatur res venisse et quae pretii nomine data esse, sed rursus utramque rem videri et venisse et utramque pretii nomine datam esse absurdum videri. … Ebenso muss der Preis in Geld bestehen. Es ist aber sehr umstritten, ob der Preis für eine Sache in etwas anderem als in Geld bestehen kann, ob zum Beispiel ein Sklave oder eine Toga oder ein Grundstück der Preis sein können. Unsere Lehrer sind der Ansicht, dass der Preis auch in einer anderen Sache bestehen kann. Hier liegt der Grund für die landläufige Auffassung, dass auch durch den Tausch von Sachen ein Kauf zustande komme und dass der Tausch die älteste Art des Kaufs sei. Zum Beweis führen sie den griechischen Dichter Homer an, der an einer Stelle sagt: … Die Lehrer der anderen Schule widersprechen und glauben, dass Tausch und Kauf verschiedene Dinge seien; sonst könne einerseits im Nachhinein nur schwer bestimmt werden, welche Sache verkauft und welche als Preis gegeben sei; andererseits sei es unsinnig, jede der beiden Sachen zugleich als Kaufsache und als Kaufpreis anzusehen. …

11 Einen gesetzlichen Anknüpfungspunkt hat die Auseinandersetzung über die Ähnlichkeit oder

Verschiedenheit von Kauf und Tausch nur insofern, als im Edikt des römischen Gerichtsmagistrats Rechtsschutz für die Parteien eines Kaufvertrags verheißen wird und ihnen die Käufer- (actio empti) und die Verkäuferklage (actio venditi) zugebilligt werden. Alles Weitere und insbesondere die Antwort auf die Frage, was denn ein Kauf sei und wozu er verpflichte, war im Einzelfall dem Richter, im Allgemeinen der Rechtswissenschaft überlassen, die eine Vorgabe bloß dadurch erhielt, dass die Beurteilung der Parteipflichten nach den Klageformularen dem Gebot der guten Treue (bona fides) unterlag. Für das Problem, ob der Verkäufer nur die Übergabe und nicht auch die Übereignung der Kaufsache schuldete und wie sich dies auf die Einordnung des Tauschs auswirkte, war diese Vorgabe unergiebig. Die Divergenz von Käufer- und Verkäuferpflicht, die für die Prokulianer entscheidend gegen die Anwendung des Kaufrechts sprach, hatte ihre Wurzel in der ursprünglichen Struktur des Kaufvertrags,29 der anfangs nicht Distanz-, sondern Bargeschäft war, also im sofortigen Austausch der beiderseitigen Leistungen bestand und die Funktion hatte, einen Rechtsgrund für den Verbleib dieser Leistungen beim jeweiligen Empfänger zu bieten. Als man hieraus allmählich ein Verpflichtungsgeschäft machte, indem man zunächst einer Seite, die schon vorgeleistet hatte, dann unabhängig hiervon aufgrund der bloßen Vereinbarung eine Klage auf die Leistung des anderen Teils einräumte, sparte man den Eigentumserwerb des Käufers von den geschaffenen Obligationen aus und beließ die entsprechende Leistung des Verkäufers gewissermaßen im Rechtsakt des Kaufvertrags: Schon mit seinem Abschluss hatte der Verkäufer das Eigentum an der Kaufsache dem Käufer zugestanden. Zwar hatte dieser so noch keine Rechtsposition erlangt, die Dritten gegenüber wirksam gewesen wäre; im Verhältnis der

_____ 29 Vgl. zum „Barkaufprinzip“ oder „Veräußerungscharakter“ des römischen Kaufs Ernst, SavZRG – Rom. Abt. – 96 (1979), 216 ff. und Wolf, IVRA 52 (2001), 29 ff., ferner Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 8.1 ff. Harke

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Vertragsparteien galt er jedoch schon als Inhaber der Kaufsache, so dass den Verkäufer nur noch die Verpflichtung zu ihrer Übergabe traf. Dieser Vorstellung, die sich aus der Weiterentwicklung des Kaufs vom Bar- zum Distanzgeschäft als reines Juristendogma entwickelt hatte, entsprang auch die Zuweisung der Preisgefahr an den Käufer (periculum emptoris), die Celsus mit seiner Entscheidung gegen das Kaufrecht dem an der Übereignung des Sklaven interessierten Teil gerade ersparte. Auch die von Celsus befürwortete Alternative eines Anspruchs auf Rückzahlung des Geldbe- 12 trags war mit dem Gesetz nur über eine Kette von Schlüssen verbunden, die wiederum reines Juristenwerk waren: Im Edikt des Gerichtsmagistrats fand sich lediglich die Klage mit Namen condictio aufgeführt, deren abstrakte Formel sie vielfältig verwendbar machte. Statt sie zum Universalinstrument für den Anspruch auf Leistung zu machen, beschränkten die römischen Juristen sie aber auf zwei Grundfälle, zum einen auf die Verpflichtung aus einem Vermächtnis und einem abstrakten Schuldversprechen, für die schon ihr Vorgänger im alten römischen Zivilprozess zuständig war, zum anderen auf die Verpflichtung aus ungerechtfertigter Bereicherung. Diese trat wiederum in zwei Varianten auf: Auf der einen Seite stand die vertragliche Verpflichtung zur Rückzahlung eines Darlehens, dessen Verbleib beim Darlehensnehmer nach dem Ende der Laufzeit des Darlehens ohne Rechtsgrund war; auf der anderen Seite gab es die nicht durch Vertragsschluss begründete Verpflichtung zur Herausgabe dessen, was unberechtigt erlangt worden war. Sie zerfiel wiederum in zwei Tatbestände, einerseits die Rückgewährpflicht aus unberechtigtem Eingriff (iniusta causa), insbesondere wegen Diebstahls, andererseits die Pflicht zur Erstattung einer rechtsgrundlosen Leistung (datio sine causa).30 Einen Unterfall dieses zweiten Tatbestands, dessen prominenter Anwendungsfall die irrtümliche Leistung auf eine Nichtschuld war, bildete nun die nicht von einer der Vertragsarten erfasste Leistung in Erwartung einer Gegenleistung, die der schon erfolgten Zuwendung ihren Rechtsgrund hätte geben können, dann aber ausblieb. Dass ihr Ausfall einen Rückgewähranspruch auslöst, ist also wiederum das Ergebnis einer Einordnung des zu entscheidenden Falles in ein Dogmensystem, das auf minimaler gesetzlicher Vorgabe durch die römische Jurisprudenz entwickelt worden war. Es verdient die Bezeichnung „Deduktion“ oder auch „Subsumtion“ nicht minder als der heutige Schluss auf eine Falllösung aus dem Gesetzesrecht.31

2. Gesetzesauslegung Bestand das römische Recht überwiegend aus Juristendogmen, deren Verständnis sich mangels 13 feststehenden Wortlauts und Kenntnis ihrer Urheberschaft zwangsläufig nur nach ihrem vernünftigen Sinn richten konnte, gab es in Rom – vor allem im Bereich der außervertraglichen Haftung – doch auch Gesetzesrecht, bei dem sich ein breiteres Interpretationsspektrum eröffnete.32 Genutzt wurde es nicht anders als heute durch Ermittlung des Ziels der gesetzlichen Bestimmung. Dabei war es auch hier der vernünftige Sinn einer Regel, oder modern gesprochen:

_____ 30 Hierzu Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 11.10 ff. 31 Zu eng scheint mir daher der Begriff der Subsumtion bei Horak, Rationes decidendi, S. 84 ff., der deduktive Entscheidungen häufig den abgesonderten „Wahrscheinlichkeitsbegründungen“ zuweist. Dass Fallentscheidungen unscharf sind, bedeutet noch nicht, dass man ihnen den Charakter der Deduktion absprechen kann. 32 Dieses wurde auch ausgenutzt; vgl. Giaro, Römische Rechtswahrheiten (2007), S. 460. Harke

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1. Teil: Grundlagen

die objektiv-teleologische Interpretation, die im Vordergrund stand,33 während sich eine Rücksicht auf die konkreten Vorstellungen des Gesetzgebers nur selten findet. Der Grund hierfür ist einfach: Gesetzgeberische Absichten waren entweder wie vor allem in der Gesetzgebung der römischen Kaiser durch Senatsbeschluss zum Teil des Gesetzestextes selbst oder seiner Einleitung gemacht und damit ihrerseits Gegenstand der Interpretation nach objektiven Gesichtspunkten; oder sie waren mangels Dokumentation nur noch schwer oder gar nicht greifbar und bloß aus dem sozialen Kontext der Gesetzgebung zu erschließen. Ein Fall einer solchen Auslegung, die nach moderner Terminologie als subjektiv-teleologisch gelten könnte, ist wiederum im Werk des Celsus überliefert, der sich mit der Haftung des Eigentümers eines Sklaven für eine von diesem verübte Untat beschäftigt: 14

D 9.4.2 Ulp 18 ed Si servus sciente domino occidit, in solidum dominum obligat, ipse enim videtur dominus occidisse: si autem insciente, noxalis est, nec enim debuit ex maleficio servi in plus teneri, quam ut noxae eum dedat. (1) Is qui non prohibuit, sive dominus manet sive desiit esse dominus, hac actione tenetur: sufficit enim, si eo tempore dominus, quo non prohibeat, fuit, in tantum, ut Celsus putet, si fuerit alienatus servus in totum vel in partem vel manumissus, noxam caput non sequi: nam servum nihil deliquisse, qui domino iubenti obtemperavit. … Celsus tamen differentiam facit inter legem Aquiliam et legem duodecim tabularum: nam in lege antiqua, si servus sciente domino furtum fecit vel aliam noxam commisit, servi nomine actio est noxalis nec dominus suo nomine tenetur, at in lege Aquilia, inquit, dominus suo nomine tenetur, non servi. utriusque legis reddit rationem, duodecim tabularum, quasi voluerit servos dominis in hac re non obtemperare, Aquiliae, quasi ignoverit servo, qui domino paruit, periturus si non fecisset. …34 Hat ein Sklave mit Wissen seines Eigentümers getötet, macht er diesen in vollem Umfang (aus der lex Aquilia) haftbar; denn der Eigentümer wird so angesehen, als habe er selbst getötet. Hat der Sklave dagegen ohne Wissen seines Eigentümers getötet, greift die Noxalhaftung ein, und der Eigentümer haftet für die Untat des Sklaven nur mit der Einschränkung, dass er ihn dem Geschädigten ausliefern kann. (1) Wer den Sklaven nicht an seiner Tat gehindert hat, haftet mit der Klage (aus der lex Aquilia), und zwar unabhängig davon, ob er der Eigentümer bleibt oder diese Rechtsstellung aufgibt; denn es genügt, dass er Eigentümer zu dem Zeitpunkt war, in dem er die Tat nicht verhindert hat. Dies geht, wie Celsus glaubt, so weit, dass die Noxalhaftung, wenn der Sklave ganz oder zum Teil veräußert oder freigelassen wird, nicht dem Sklaven folgt. Denn der Sklave, der nur dem Befehl seines Herrn gefolgt sei, habe nichts verbrochen. … Celsus differenziert zwischen der lex Aquilia und dem Zwölftafelgesetz. Denn nach dem älteren Gesetz greift auch dann, wenn der Sklave mit Wissen des Herrn einen Diebstahl oder eine andere Untat begangen hat, zulasten der Sklaven die Noxalhaftung ein, und der Eigentümer haftet nicht für eigenes Unrecht, während nach der lex Aquilia der Eigentümer für die eigene Tat verantwortlich ist, nicht für die des Sklaven. Er gibt auch für jedes der beiden Gesetze den Gesetzeszweck an: Das Zwölftafelgesetz habe gewollt, dass die Sklaven ihren Herrn in diesem Fall nicht gehorchen, die lex Aquilia habe einen Sklaven, der dem Befehl seines Eigentümers folgt, entschuldigt, da er zu sterben drohte, wenn er es nicht getan hätte. …

15 Nach einem Satz des 450 v. Chr. geschaffenen Zwölftafelgesetzes haftete der Eigentümer eines

Sklaven zwar für dessen Delikte, aber nur mit der Einschränkung, dass er sich durch die Auslieferung des Sklaven befreien konnte. Diese sogenannte Noxalhaftung traf ihn nur so lange, wie er Eigentümer des Sklaven war, und ging mit dessen Übereignung auf seinen Erwerber, bei einer Freilassung des Sklaven auf diesen selbst über. Etwas anderes galt, wenn der Sklave die Tat auf Geheiß oder zumindest mit Wissen des Eigentümers verübt hatte. In diesem Fall haftete der Ei-

_____ 33 Vgl. Vonglis, La lettre et l’esprit de la loi (1961), S. 180 und Medicus, in: ders./Seiler (Hrsg.), Studien im römischen Recht (1973), S. 77 ff. 34 Hierzu ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 70 ff. Harke

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gentümer, der sich des Sklaven wie eines Instruments bedient hatte, aufgrund der 286 v.Chr. entstandenen lex Aquilia selbst. Nach Ansicht von Celsus35 konkurrierte diese Eigenhaftung des Sklavenherrn nicht mit der älteren Noxalhaftung, so dass diese auch nicht auf dem Sklaven lasten und mit seiner Veräußerung oder Freilassung übergehen konnte. Als Grund für den Wegfall der Noxalhaftung beruft sich Celsus auf die unterschiedliche gesetzgeberische Absicht, die hinter dem Zwölftafelgesetz und der lex Aquilia stehe: Während die dem Sklaven anlastende Haftung aus dem älteren Gesetz auf der Erwägung beruhe, ein Sklave solle sich dem Befehl seines Herrn zur Untat widersetzen, liege der Eigenhaftung des Herrn nach der lex Aquilia die Erwägung zugrunde, ein Sklave könne sich der Anordnung seines Eigentümers kaum entziehen; er sei deshalb gewissermaßen entschuldigt und von einer ihn betreffenden Haftung ausgenommen. Für diese Auffassung spricht in der Tat der soziale Hintergrund der beiden Gesetze, der in der Behandlung des Sklaven als Objekt eines Delikts zum Ausdruck kommt: Während er im älteren Zwölftafelgesetz immerhin noch als ein – gegenüber einem Freigeborenen freilich geringwertiger – Mensch behandelt wurde,36 stand er in der lex Aquilia auf einer Stufe mit Tieren und Sachen. Diesem Wandel seiner sozialen Rolle entsprach es, wenn ihm zunächst Eigenverantwortung zugemutet, später erspart werden sollte. Unter den Zeugnissen objektiv-teleologischer Interpretation gibt es in den römischen Quel- 16 len auch solche, die man nach moderner Terminologie einer systematischen Gesetzesauslegung zuordnen würde. Richtig verstanden, handelt es sich bei ihr ebenso wenig um ein eigenständiges Interpretationskriterium wie bei der sogenannten Auslegung nach dem Wortlaut. Die Bedeutung eines Wortes lässt sich stets in zweifacher Weise ermitteln: Entweder man geht vom allgemeinen Sprachgebrauch aus, wie er sich aus der Perspektive des Rechtsanwenders darstellt; dann ist die Wortlautauslegung bloß ein Unterfall der objektiv-teleologischen Interpretation. Oder man geht vom individuellen Sprachgebrauch des Urhebers einer gesetzlichen Bestimmung aus; dann bemüht man sich darum, die subjektive Zwecksetzung des Gesetzgebers zu ermitteln. Entsprechendes gilt für die systematische Gesetzesauslegung: Zieht man eine andere Bestimmung desselben oder eines Gesetzes heran, das mit dem auszulegenden in einem Kontext steht, um hieraus auf seinen Zweck zu schließen, ist man dem Willen des Gesetzgebers auf der Spur. Blickt man auf die korrespondierenden Bestimmungen, um einen Widerspruch zwischen ihnen und der auszulegenden Norm zu vermeiden, trägt man an das Gesetz die Prämisse heran, ein vernünftiger Gesetzgeber widerspreche sich nicht selbst, und forscht so wieder nach dem objektiven Zweck des Gesetzes. Ein hervorragendes Beispiel für diese zweite Variante der systematischen Auslegung bietet die Interpretation des dritten Kapitels der lex Aquilia durch die römischen Juristen: 17

D 9.2.27.13, 15 f. Ulp 18 ed Inquit lex ‚ruperit‘. rupisse verbum fere omnes veteres sic intellexerunt ‚corruperit‘. … (15) Cum eo plane, qui vinum spurcavit vel effudit vel acetum fecit vel alio modo vitiavit, agi posse Aquilia Celsus ait, quia etiam effusum et acetum factum corrupti appellatione continentur. (16) Et non negat fractum et ustum contineri corrupti appellatione, sed non esse novum, ut lex specialiter quibusdam enumeratis generale subiciat verbum, quo specialia complectatur: quae sententia vera est.

_____ 35 Sie war, wie der Fortgang des Textes zeigt, nicht durchsetzungsfähig, sondern musste der gegensätzlichen Auffassung Julians weichen, die den Beifall Marcells und Ulpians fand. 36 Vgl. XII-T 8.3: Manu fustive si os fregit libero CCC, si servo CL poenae sunto. („Hat jemand mit der Hand oder mit einem Stock einem Freien einen Knochen gebrochen, soll die Strafe 300 Ass betragen, hat er den Knochen eines Sklaven gebrochen, 150 Ass.“

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1. Teil: Grundlagen

Das Gesetz sagt: ‚zerrissen hat‘. Fast alle alten Juristen haben den Ausdruck: ‚zerrissen haben‘, in der Bedeutung: ‚beschädigt haben‘, verstanden. … (15) Gegen denjenigen aber, der Wein verschnitten, ausgegossen, zu Essig gemacht oder auf eine andere Weise verdorben hat, kann, wie Celsus sagt, aus der lex Aquilia geklagt werden, weil auch ausgegossener oder zu Essig gemachter Wein vom Begriff ‚beschädigt‘ erfasst ist. (16) Und er leugnet nicht, dass die Ausdrücke ‚zerbrochen‘ und ‚verbrannt‘ ebenfalls von der Bezeichnung ‚beschädigt‘ erfasst werden. Es sei jedoch nicht ungewöhnlich, dass ein Gesetz erst spezielle Begriffe aufzähle und dann einen generellen Begriff aufführe, der die speziellen umfasse. Diese Ansicht ist richtig.37

18 In ihrem dritten Kapitel, das seit der Rezeption des römischen Rechts im Mittelalter zur Grundla-

ge der Deliktshaftung schlechthin werden sollte,38 ordnete die lex Aquilia an, dass jemand den Schaden zu ersetzen hat, den er einem anderen dadurch zufügt, dass er dessen Sache widerrechtlich verbrennt, zerbrochen oder zerrissen hat. Um die Haftung von diesen Tathandlungen zu lösen, begriffen schon die Juristen der römischen Republik das Verb rumpere, das eigentlich „zerreißen“ heißt, im Sinne von corrumpere, was „beschädigen“ bedeutet und damit jede körperliche Einwirkung auf die betroffene Sache abdeckt. War rumpere damit zu einem umfassenden Tatbestand geworden, stellte sich unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis zu den beiden anderen im Gesetz genannten Tatvarianten des Verbrennens (urere) und Zerbrechens (frangere). Celsus beantwortet sie, indem er sie zu Spezialtatbeständen erklärt, die das Gesetz gleichsam als Beispiele der Generalnorm voranstelle. So entzieht er das neue Verständnis der lex Aquilia dem Vorwurf, einen Widerspruch in das Gesetz hineinzutragen, und zeigt, dass sie nach wie vor dem Anspruch kohärenter Gesetzgebung gerecht wird.

III. Rechtsfortbildung 19 Begnügte man sich mit der Feststellung, die römische Jurisprudenz sei, wenn auch auf anderen

Grundlagen, ähnlich deduktiv vorgegangen wie die moderne Rechtswissenschaft, wäre dies nur die halbe Wahrheit. Schon um zu den Regeln zu gelangen, aus denen sich später Falllösungen deduktiv entwickeln ließen, bedurfte es rechtsschöpferischer Tätigkeit, die auf die Herausbildung neuer oder die Falsifizierung alter Juristenregeln angelegt war. Anders als das Gesetzesrecht konnten sie unter Berufung auf übergeordnete Wertmaßstäbe wie Güte (benignitas),39 Menschlichkeit (humanitas),40 Billigkeit (aequitas) oder Nützlichkeit (utilitas)41 ohne Weiteres vernachlässigt werden.42 Die römischen Juristen machten von dieser Möglichkeit auch tatsächlich Gebrauch, allerdings in höchst unterschiedlichem Maße und in ihrer Gesamtheit eher selten (s.o. Rn. 5). Nicht anders als in der heutigen Rechtsliteratur dienten Wertungen statt zur Rechtsschöpfung oder -kritik eher dazu, das bestehende Normenprogramm plausibel zu machen.

_____ 37 Hierzu ausführlich Harke, Argumenta Iuventiana, S. 60 ff. 38 Hierzu etwa Zimmermann, The Law of Obligations (1996), S. 953 ff. 39 Hierzu Wubbe, FG Herdlitczka (1972), S. 295 ff.; Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft (1998), S. 591 ff.; Harke, Argumenta Iuventiana, S. 114 ff. 40 Baldus, Regelhafte Vertragsauslegung nach Parteirollen im klassischen römischen Recht und in der modernen Völkerrechtswissenschaft (1998), S. 623 ff. 41 Hierzu Ankum, Utilitatis causa receptum, Symbolae juridicae et historicae (1968), S. 1 ff.; Harke, Argumenta Iuventiana, S. 118 ff. 42 Mit „Vorgegebenheiten“ im Allgemeinen befasst sich Waldstein, in: Temporini/Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Bd. II.15 (1976), S. 1 ff.

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1. Fortentwicklung des Juristenrechts Weitaus größere Bedeutung als dem Rekurs auf Wertmaßstäbe kam im Bereich des Juristen- 20 rechts zwei Faktoren zu, die von den römischen Juristen, wenn überhaupt, dann nur ansatzweise als Entscheidungskritierien benannt und in aller Regel einfach vorausgesetzt wurden: zum einen der Rücksicht auf den Geschäftsgebrauch, zum anderen dem Gebot der Gleichbehandlung, das unausgesprochen jeder Entscheidung über die Anwendung oder Vernachlässigung einer Rechtsregel in einem noch nicht entschiedenen Fall zugrunde liegt (s.o. Rn. 4).43 Wie diese beiden Faktoren zusammenwirkten und die Ausbildung eines neuen Rechtsprinzips zeitigten, zeigt eindrucksvoll die Entwicklung der Rechtsmängelhaftung:44 Dass die römischen Juristen sich zu keiner Zeit dazu durchringen konnten, dem Käufer ein 21 Recht auf Verschaffung des Eigentums an der Kaufsache zu geben,45 hatte seinen guten Grund darin, dass sich in der Praxis ein Äquivalent herausgebildet hatte, dessen Übernahme in das Kaufrecht weitaus einfacher war als dessen völlige Umgestaltung durch Einführung eines Übereignungsanspruchs: Im Anschluss an eine vermutlich auf das Zwölftafelgesetz zurückgehende Haftung des Verkäufers einer durch Ritualgeschäft veräußerten fremden Sache vereinbarten die Parteien eines Kaufvertrags regelmäßig in Form eines selbständigen Schuldversprechens (stipulatio), dass der Verkäufer für einen Rechtsmangel Gewähr zu leisten habe. Dies bedeutete, dass er, wenn dem Käufer die Sache abgenommen wurde, einen Geldbetrag zu leisten hatte, der entweder im doppelten oder einfachen Kaufpreis bestand oder dem Interesse entsprach, das der Käufer daran hatte, die Kaufsache zu behalten. Versprechen dieser Art wurden derart üblich, dass die römischen Juristen ab Beginn des zweiten Jahrhunderts n. Chr. annahmen, mangels abweichender Vereinbarung habe der Käufer kraft des Gebots der guten Treue (bona fides) einen Anspruch darauf, dass der Verkäufer eine solche Garantie abgibt. Der Inhalt des zu erzwingenden Versprechens variierte. Wo es dem örtlichen Geschäftsgebrauch entsprach, konnte der Käufer die Abgabe einer Zusage zur Zahlung des doppelten Kaufpreises verlangen: 22

D 21.1.31.20 Ulp 1 ed aed cur Quia adsidua est duplae stipulatio, idcirco placuit etiam ex empto agi posse, si duplam venditor mancipii non caveat: ea enim, quae sunt moris et consuetudinis, in bonae fidei iudiciis debent venire. Da die Stipulation des doppelten Kaufpreises ständig vorgenommen wird, ist die Ansicht herrschend, dass auch aus dem Kauf geklagt werden könne, falls der Verkäufer eines Sklaven keine Sicherheit in Höhe des Doppelten geleistet hat. Was Sitte und Gebräuchen entspricht, ist nämlich von Klagen auf gute Treue erfasst.

Im Übrigen hatte er nur ein Recht darauf, dass der Verkäufer ihm durch eine sogenannte stipula- 23 tio habere licere für den Fall einer Entwehrung der Kaufsache den Ersatz des Interesses versprach, das der Käufer am ungestörten Besitz der Kaufsache hatte:

_____ 43 Mit den theoretischen Stellungnahmen der römischen Juristen zur Rechtsfindung durch Fallanknüpfung und Regelbildung befasst sich vor allem Vacca, Metodo casistico e sistema prudenziale (2005). Da sich die überlieferten Fragmente aus den Digestentiteln 1.3, 50.16 und 50.17 meist auf einen oder wenige Sätze beschränken und der ursprüngliche Kontext dieser Aussagen unklar ist, darf man ihren Wert für die methodologische Analyse nicht überschätzen. 44 Hierzu Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht (20. Aufl. 2014), Rn. 41.25 ff.; Harke, Römisches Recht (2008), Rn. 8.14. 45 Richtig Ernst, Rechtsmängelhaftung (1995), S. 12 ff. gegen Rabel, Die Haftung des Verkäufers wegen Mangels im Rechte, Bd. I: Geschichtliche Studien über den Haftungserfolg (1902), S. 76 ff., der immerhin eine Entwicklung hin zu einer Rechtsverschaffungspflicht erkennt.

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D 19.1.11.8 Ulp 32 ed Idem Neratius, etiamsi alienum servum vendideris, ... ait et ex empto actionem esse, ut habere licere emptori caveatur, sed et ut tradatur ei possessio. Neraz sagt ferner, es sei allgemein anerkannt, dass auch dann, wenn du einen fremden Sklaven verkauft hast, … die Kaufklage dafür gegeben sei, dass dem Käufer durch Stipulation der ungestörte Besitz des Sklaven versprochen und dieser übertragen wird.

25 Hatte der Käufer die Sache schon an ihren wahren Eigentümer abgeben müssen, musste sich das

nutzlos gewordene Recht auf Abgabe einer Eviktionsgarantie in einen Anspruch auf Zahlung des Betrags wandeln, den der Verkäufer hätte versprechen müssen. Denn andernfalls hätte er gerade davon profitiert, dass er das geschuldete Versprechen noch nicht abgegeben hatte: 26

PS 2.17.2 Si res simpliciter traditae evincantur, tanto venditor emptori condemnandus est, quanto si stipulatione pro evictione cavisset. Hat er (der Verkäufer) die Sachen einfach übergeben und sind sie dann (dem Käufer) entwehrt worden, muss der Verkäufer dem Käufer in den Betrag verurteilt werden, in dessen Höhe er dem Käufer durch Stipulation für die Entwehrung Sicherheit geleistet hätte.

27 Gab es demnach eine regelrechte Garantiehaftung aufgrund des Kaufvertrags, konnte dies nicht

ohne Auswirkung auf die Entscheidung der Fälle bleiben, in denen dem Käufer die Kaufsache zwar nicht regelrecht abgenommen worden, der Kauf für ihn aber doch ebenso wertlos war. Ein Beispiel bildet der Fall, dass dem Käufer die Kaufsache schon aufgrund eines Vermächtnisses geschuldet war, aus dem ein Anspruch auf ihre Übereignung gegen den Verkäufer bestand. Der Jurist Julian, Zeitgenosse des Celsus und bedeutendster Vertreter der römischen Hochklassik, sprach sich dafür aus, dem Käufer unter diesen Umständen die Rückforderung des Kaufpreises zu gestatten. Denn nachdem der Verbleib der Kaufsache beim Käufer zum Gegenstand des Kaufvertrags gemacht geworden war, stellte er einen wesentlichen Teil der Leistung des Verkäufers dar, so dass er bei ihrem Ausfall auch den Kaufpreis nicht mehr beanspruchen könne, ohne das Gebot der guten Treue (bona fides) zu missachten:46 28

D 30.84.5 Iul 33 dig Qui servum testamento sibi legatum, ignorans eum sibi legatum, ab herede emit, si cognito legato ex testamento egerit et servum acceperit, actione ex vendito absolvi debet, quia hoc iudicium fidei bonae est et continet in se doli mali exceptionem. quod si pretio soluto ex testamento agere instituerit, hominem consequi debebit, actione ex empto pretium reciperabit, quemadmodum reciperaret, si homo evictus fuisset. quod si iudicio ex empto actum fuerit et tunc actor compererit legatum sibi hominem esse et agat ex testamento, non aliter absolvi heredem oportebit, quam si pretium restituerit et hominem actoris fecerit. Wer einen Sklaven, der ihm in einem Testament vermacht war, in Unkenntnis dieser Verfügung von dem Erben gekauft hat und, nachdem er von dem Vermächtnis erfahren hat, mit der Testamentsklage vorgegangen ist und den Sklaven erhalten hat, ist von der Verkäuferklage freizusprechen, weil sie auf Treu und Glauben ge-

_____ 46 Hierzu Harke, OIR 11 (2006), 63, 76 ff. und ders., Argumenta Iuventiana – Argumenta Salviana, S. 116 f.; anders Ernst, Rechtsmängelhaftung (1995), S. 34 ff. Harke

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richtet und ihr die Arglisteinrede inhärent ist. Hat er aber nach Zahlung des Kaufpreises die Testamentsklage angestellt, wird er den Sklaven erlangen; und aus dem Kauf erhält er den Kaufpreis ebenso wie in dem Fall zurück, dass der Sklave evinziert wird. Hat er aber aus dem Kauf geklagt, dann festgestellt, dass ihm der Sklave vermacht ist, und schließlich die Testamentsklage erhoben, ist der Erbe nur freizusprechen, wenn er den Kaufpreis zurückgibt und dem Kläger den Sklaven übereignet.

Die hinter dieser Entscheidung stehende ratio erzwang noch eine weitere Konsequenz: War der 29 Verbleib der Kaufsache beim Käufer wesentliche Gegenleistung für den vom Verkäufer vereinnahmten Kaufpreis, ließ sie sich ohne Verstoß gegen das Gebot der guten Treue auch nicht mehr abbedingen. Dies bedeutete, dass der Verkäufer den Kaufpreis im Fall einer Entwehrung der Kaufsache selbst dann zurückzahlen musste, wenn er ausdrücklich nur Gewähr dafür übernommen hatte, dass die Kaufsache dem Käufer weder von ihm selbst noch von seinen Erben streitig gemacht werde. Und sogar wenn der Verkäufer jegliche Haftung für Rechtsmängel ausgeschlossen hatte, sollte er bei einer Entwehrung der Kaufsache den Kaufpreis nicht behalten dürfen, weil der Käufer ja auch der Gegenleistung entbehrte: 30

D 19.1.11.18 Ulp 32 ed Qui autem habere licere vendidit, videamus quid debeat praestare. et multum interesse arbitror, utrum hoc polliceatur per se venientesque a se personas non fieri, quo minus habere liceat, an vero per omnes. nam si per se, non videtur id praestare, ne alius evincat: proinde si evicta res erit, sive stipulatio interposita est, ex stipulatu non tenebitur, sive non est interposita, ex empto non tenebitur. sed Iulianus libro quinto decimo digestorum scribit, etiamsi aperte venditor pronuntiet per se heredemque suum non fieri, quo minus habere liceat, posse defendi ex empto eum in hoc quidem non teneri, quod emptoris interest, verum tamen ut pretium reddat teneri. ibidem ait idem esse dicendum et si aperte in venditione comprehendatur nihil evictionis nomine praestatum iri: pretium quidem deberi re evicta, utilitatem non deberi: neque enim bonae fidei contractus hac patitur convenitone, ut emptor rem amitteret et pretium venditor retineret. … Sehen wir zu, wofür einstehen muss, wer eine Sache zum ungestörten Besitz verkauft hat. Ich glaube, dass es einen großen Unterschied macht, ob der Verkäufer lediglich verspricht, dass weder durch ihn noch durch seine Rechtsnachfolger bewirkt werde, dass der Käufer nicht ungestört besitzen kann, oder ob er aber verspricht, dass dies durch niemanden geschehe. Verspricht er nur, dass nichts durch ihn selbst geschehe, steht er nicht dafür ein, dass ein Dritter die Sache evinziert. Julian schreibt jedoch im 15. Buch seiner Digesten, es lasse sich die Ansicht vertreten, dass der Verkäufer mit der Kaufklage auch dann, wenn er ausdrücklich erklärt, es werde weder von ihm noch von seinen Erben bewirkt, dass der Käufer die Sache nicht ungestört besitzen könne, zwar nicht auf das Interesse des Käufers, wohl aber darauf hafte, dass er den Kaufpreis zurückerstatte. An derselben Stelle meint er, dasselbe sei zu sagen, wenn in den Vertrag ausdrücklich aufgenommen wird, dass wegen Eviktion nicht gehaftet werde. In diesem Fall werde allerdings nur der Kaufpreis geschuldet, nicht das Interesse. Ein Vertrag auf gute Treue duldet nämlich keine Vereinbarung mit der Wirkung, dass der Käufer die Sache verliert und der Verkäufer den Kaufpreis behält.

Aus dem Geschäftsgebrauch, den Käufer durch eine Garantie gegen das Risiko eines Rechts- 31 mangels abzusichern, war so, vermittelt durch mehrere Schlüsse aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung, ein zwingender Inhalt des Kaufvertrags geworden. Dass der Käufer außer der Übergabe der Kaufsache erwarten konnte, diese zu behalten, war nun Gegenstand einer neuen Juristenregel geworden, die den alten Grundsatz, dass der Käufer keinen Anspruch auf Eigentumsverschaffung hatte, praktisch entwertete.47

_____ 47 Dass die Fallanknüpfung der Herausbildung und Bewährung von Juristenregeln dient, macht auch Knütel, GS Heinze, S. 488 ff., 497 geltend.

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1. Teil: Grundlagen

2. Fortbildung des Gesetzesrechts 32 Ähnlich frei wie mit den von der Jurisprudenz aufgestellten Regeln gingen die römischen Juris-

ten mit dem Gesetzesrecht um. Motor der Rechtsentwicklung war auch hier wieder das Gebot der Gleichbehandlung wesentlich gleichgelagerter Fälle. Es gab den Ausschlag dafür, dass die römischen Juristen dem Gerichtsmagistrat empfahlen, eine Klage nach dem Vorbild eines gesetzlichen Anspruchs zu gewähren, um zu vermeiden, dass eine unerhebliche Abweichung vom gesetzlichen Tatbestand zu einer Rechtsschutzlücke führte. Besonders groß war die Zahl solcher nachgebildeter Klagen im Bereich der außervertraglichen Haftung. War die Schadensersatzpflicht aus der lex Aquilia durch das weite Verständnis des Tatbestandsmerkmals rumpere im Sinne von corrumpere auch von der Festlegung auf bestimmte Tathandlungen gelöst (s.o. Rn. 17 ff.), war sie doch immer noch an das Erfordernis einer körperlichen Einwirkung auf die geschädigte Sache oder den verletzten Sklaven gebunden. Hatte jemand den Schaden ohne eine körperliche Berührung, etwa durch Freiheitsentzug oder durch den Drang zu übermäßiger Anstrengung von Sklaven oder Tieren, verursacht, konnte der Geschädigte gegen ihn mit einer „analogen Klage“ (actio utilis) vorgehen, die nach dem Vorbild der „direkten Klage“ (actio directa) aus der lex Aquilia gewährt wurde: 33

IJ 4.3.16 Ceterum placuit, ita demum ex hac lege actionem esse, si quis praecipue corpore suo damnum dederit. ideoque in eum qui alio modo damnum dederit, utiles actiones dari solent: veluti si quis hominem alienum aut pecus ita incluserit ut fame necaretur, aut iumentum tam vehementer egerit ut rumperetur, aut pecus in tantum exagitaverit ut praecipitaretur, aut si quis alieno servo persuaserit ut in arborem ascenderet vel in puteum descenderet, et is ascendendo vel descendendo aut mortuus fuerit aut aliqua parte corporis laesus erit, utilis in eum actio datur. sed si quis alienum servum de ponte aut ripa in flumen deiecerit et is suffocatus fuerit, eo quod proiecerit corpore suo damnum dedisse non difficiliter intellegi poterit ideoque ipsa lege Aquilia tenetur. sed si non corpore damnum fuerit datum neque corpus laesum fuerit, sed alio modo damnum alicui contigit, cum non sufficit neque directa neque utilis Aquilia, placuit eum qui obnoxius fuerit in factum actione teneri: veluti si quis, misericordia ductus, alienum servum compeditum solverit, ut fugeret. Im Übrigen hat sich die Meinung durchgesetzt, dass nach diesem Gesetz eine Klage nur gegeben ist, wenn jemand den Schaden vornehmlich durch körperliche Einwirkung zugefügt hat. Deshalb pflegt man gegen den, der den Schaden auf andere Weise zugefügt hat, analoge Klagen zu gewähren. Eine solche wird zum Beispiel gegen den gewährt, der einen fremden Sklaven oder fremdes Vieh einsperrt, so dass sie verhungern, oder ein Zugtier so heftig antreibt, dass es Schaden nimmt, oder Herdenvieh so antreibt, dass es zugrunde geht, oder einen fremden Sklaven überredet, auf einen Baum oder in einen Brunnen zu steigen, wenn der Sklave beim Hinaufklettern oder Hinabsteigen entweder zu Tode kommt oder sich an irgendeinem Körperteil verletzt. Stößt aber jemand einen fremden Sklaven von einer Brücke oder vom Ufer in den Fluss und ertrinkt dieser, kann man unschwer erkennen, dass er, indem er stößt, den Schaden durch körperliche Einwirkung verursacht und deshalb aus der lex Aquilia selbst haftet. Wird der Schaden jedoch nicht durch körperliche Einwirkung zugefügt und auch kein Körper verletzt, sondern entsteht jemandem auf andere Weise ein Schaden, haftet der Schuldige, weil weder die unmittelbare noch eine analoge aquilische Klage in Betracht kommt, nach allgemeiner Meinung mit einer auf den Sachverhalt zugeschnittenen Klage: wie zum Beispiel, wenn jemand aus Mitleid einem fremden Sklaven die Fesseln löst, damit er fliehen kann.

34 Der byzantinische Kaiser Justinian, der von dieser Praxis der römischen Prätoren berichtet, ging

selbst noch einen Schritt weiter und ließ eine „auf den Sachverhalt zugeschnittene Klage“ (actio in factum) zu, falls jemand ohne körperliche Beeinträchtigung einer Sache oder eines Sklaven einen Schaden erlitten hatte. So führt er eine Ersatzpflicht für reine Vermögensschäden ein, die im klassischen römischen Recht eigentlich nur Gegenstand vertraglicher Ansprüche und der Klage wegen arglistiger Schädigung (actio de dolo) waren. Die zu diesem Zweck gewährte actio Harke

§ 2 Juristenmethode in Rom

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in factum ist ein schon im klassischen Recht gebräuchliches Instrument und ebenso wie die actio utilis in aller Regel das Produkt eines Analogieschlusses,48 der jedoch weiter reicht als bei der actio utilis und daher auch nicht durch einfache Umgestaltung des Formulars der gesetzlichen Klage auskommt, sondern auf die Nennung des anspruchsbegründenden Tatbestands im Klageformular angewiesen ist.49 Die so eröffnete Freiheit im Umgang mit dem Gesetzesrecht war hier wie dort geborgt von der Rechtssetzungsbefugnis des Gerichtsmagistrats, der das bestehende Gesetzesrecht ergänzen und korrigieren konnte, und von dieser Befugnis auf Empfehlung der ihn beratenden Rechtsgelehrten Gebrauch machte.

IV. Zusammenfassung Die Rechtsfindung war in Rom nicht der Intuition überlassen, sondern verlief planmäßig, zuwei- 35 len gar systematisch. Ausgangspunkt der Deduktion war weniger das lückenhafte Gesetzesrecht, bei dessen Anwendung die römischen Juristen in aller Regel auf seinen vernünftigen Sinn, gelegentlich aber auch auf die Absicht des historischen Gesetzgebers achteten. Im Zentrum der Entscheidungsfindung standen die Regeln des Juristenrechts, die ein dichtes Netz subsumtionsfähiger Sätze bildeten. Anders als das Gesetzesrecht war diese Regelungsmasse jedoch einem steten Wandel unterworfen, indem die römischen Juristen neue Regeln entwarfen, die ältere entweder ergänzten oder sogar obsolet machten. Triebfeder dieser Rechtsentwicklung waren zwei Faktoren: die Rücksicht auf den Geschäftsgebrauch und der Grundsatz der Gleichbehandlung, der unausgesprochen jeden Schluss von einer feststehenden Entscheidung oder einer schon geschaffenen Regel auf einen noch ungelösten Fall steuerte. Eine vergleichbare Freiheit bei der Fortbildung des Gesetzesrechts erlangten die römischen Juristen dadurch, dass der römische Gerichtsmagistrat auf ihre Empfehlung hin Rechtsschutz in Anlehnung an gesetzliche Ansprüche gewähren konnte, womit die Gesetzesbindung praktisch beseitigt war.

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_____ 48 Wesel, Rhetorische Statuslehre und Gesetzesauslegung der römischen Juristen (1967), S. 133 f. hält ihn für eine Zwischenstufe zwischen der sogenannten „identifizierenden Interpretation“, bei der man nicht wagte, sich über den Gesetzeswortlaut hinwegzusetzen, und der Argumentationsstufe, bei der man sich mit dem Sinn eines Gesetzes offen gegen dessen Wortlaut stellen konnte. 49 Zu den actiones in factum und ihrem Verhältnis zu den actiones utiles eingehend Gröschler, Actiones in factum (2002).

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1. Teil: Grundlagen

§3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrhunderts 1. Teil: Grundlagen Baldus

Christian Baldus § 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh. Literatur (weitere in der Vorauflage) Hidetake Akamatsu/Joachim Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen – Materialien zum „Geist der Gesetzgebung“ (2000); Emil Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik (2. Aufl. 2004); Charles Aubry/Charles Rau, Cours de droit civil français d’après la méthode de Zachariae (4. Aufl. 1869); Martin Avenarius (Hrsg.), Savigny, Pandekten – Obligationenrecht, Allgemeiner Teil (2008); Christian Baldus, „Historische Auslegung“ in Rom? Der Umgang römischer Juristen mit dem Normtext als Methodenfrage, in: Seminarios Complutenses de Derecho Romano 20–21 (2007/2008), S. 85–110; ders., Die Auslegung nach dem Willen: und eine Heidelberger These von Otto Gradenwitz, in: ders./Herbert Kronke/Ute Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit (2013), S. 207–225; ders./Thomas Raff, Richterliche Interpretation des Gemeinschaftsrechts, in: Martin Gebauer/Christoph Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Band 6: Europäisches Privat- und Unternehmensrecht (2014), im Druck; Christian Baldus/Frank Theisen/Friederike Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Entstehung und Auslegungsfähigkeit von Normen (2013); Olivier Cachard/François-Xavier Licari/François Lormant (sous la dir. de), La pensée de François Gény (2013); Franco Bianco, Introduzione all’ermeneutica (5. Aufl. 2007); Meinrad Böhl/Wolfgang Reinhard/Peter Walter (Hrsg.), Hermeneutik. Die Geschichte der abendländischen Textauslegung von der Antike bis zur Gegenwart (2013); Walter Boente, Nebeneinander und Einheit im Bürgerlichen Recht (2013); Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsg.), Festschrift für Labruna: Studi in onore di Luigi Labruna (2007); Francisco Cuena Boy, Sistema jurídico y Derecho Romano. La idea de sistema jurídico y su proyección en la experiencia jurídica romana (Santander 1998); ders., Una storia dell’interpretazione, Index 2005, 7–77; Jean-Louis Ferrary (Hrsg.), Leges publicae – La legge nell’esperienza giuridica romana (2012); François Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif (2. Aufl. 1919); Alejandro Guzmán Brito, Historia de la interpretación de las normas en el derecho romano (2000); Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“ (2004); ders., Methodengeschichte des BGB unter fünf Systemen, AcP 214 (2014), 60–92; Günter Hager, Methoden in Europa (2009); Horst Hammen (Hrsg.), Savigny, Pandektenvorlesung 1824/1825 (1993); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode. Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Benjamin Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien. Eine rechtsvergleichende Untersuchung aus genetischer, funktionaler und postmoderner Perspektive. Zugleich ein Plädoyer für mehr Savigny und weniger Jhering (2014); Ulrich Huber, Savignys Lehre von der Auslegung der Gesetze in heutiger Sicht, JZ 2003, 1–17; Matthias Jung, Hermeneutik zur Einführung (4. Aufl. 2012); Matthias Klatt, Theorie der Wortlautgrenze. Semantische Normativität in der juristischen Argumentation (2004); Aldo Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842 (2. Aufl. 2004); Stephan Meder, Mißverstehen und Verstehen (2004); Stephan Meder, Rechtsgeschichte, (4. Aufl. 2011); ders., Grundprobleme und Geschichte der juristischen Hermeneutik, in: Senn/Fritschi (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Hermeneutik (2009), S. 19–37; Stephan Meder u.a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik zwischen Vergangenheit und Zukunft (2012); Friederike Nüssel (Hrsg.), Schriftauslegung (2014); Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre (3. Aufl. 2008); Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (1984); ders., Die Historische Rechtsschule nach 200 Jahren – Mythos, Legende, Botschaft, JZ 2010, 1–9; Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methodenlehre in der Neuzeit (1500–1933) (2. Aufl. 2012); Letizia Vacca, L’interpretazione analogica nella giurisprudenza classica, in: Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsg.), Festschrift für Labruna: Studi in onore di Luigi Labruna, Bd. VII (2007), S. 5727–5746; Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840); C.S. Zachariae, Cours de Droit Civil Français, t. premier – Traduction par Aubry et Rau (1839); Giuseppe Zaccaria, La comprensione del diritto (2012); Karl Salomo Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts (1805); ders., Handbuch des Französischen Civilrechts. Erster Band (4. Aufl. 1837); Friederike Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode. Der Umgang mit dem sprachlichen Egalitätsprinzip im Unionsrecht (in Vorbereitung).

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

Übersicht Vorbemerkung | 1 I. Einführung | 2–21 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen | 2–3 2. Rechtsvergleichender Überblick | 4–11 3. Untersuchungsgegenstand. Grenzen. Geltendrechtliche Perspektiven | 12–21 II. Römische Tradition: Normbildung und interpretatio | 22–28 III. Hermeneutische Positionen um 1800 | 29–44 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld | 29 2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys | 30–40

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3.

Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken | 41–44 IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys | 45–78 1. Vorlesungen | 46–56 2. Der „Beruf“ | 57–61 3. Das „System“ | 62–78 V. Deutsche Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert | 79–97 1. Voraussetzungen | 79 2. Überblick zu einzelnen Autoren | 80–94 3. Fortwirkungen | 95–97 VI. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert und Überschneidungsbereiche | 98–101 VII. Epilog: Was interessiert uns das 19. Jahrhundert? | 102–104

Vorbemerkung Für die Neuauflage war eine starke Kürzung des Textes einschließlich der Fußnoten und Litera- 1 turangaben gegenüber der zweiten Auflage erforderlich. Die modernrechtlichen Passagen konnten teilweise an anderer Stelle fortentwickelt werden.1 Die geschichtliche Seite wird an anderer Stelle zu überarbeiten sein. Zur römischen Tradition vgl. zunächst § 2 dieses Handbuchs; das in der Vorauflage Ausgeführte ist in Rn. 22 ff. kurz zusammengefasst.

I. Einführung 1. Problemstellung: Entscheidungsmechanismen und Transparenzmechanismen Der folgende Text fragt geschichtlich nach einem zentralen Problem der heutigen juristischen 2 Methode und nach dessen Hintergründen: nach der Gesetzesbindung des Richters und hier nach der Abgrenzung von Auslegung und Analogie. Zentral ist diese Abgrenzung für die Gegenwart aus praktischen wie aus verfassungsrechtlichen Gründen. Der Richter soll so weit als möglich auf seine Funktion als Rechtsanwender beschränkt werden. Er soll sich nicht zum Gesetzgeber aufschwingen dürfen. Doch müssen auch solche Fälle entschieden werden, deren Lösung nicht als eindeutig gilt: Das Gesetz verspricht umfassenden Rechtsschutz. Daher braucht die Rechtsordnung einen Mechanismus, der richterliche Entscheidung und zugleich eine spezifische Kontrolle über die richterliche Entscheidungsfindung ermöglicht. Ein solcher Mechanismus wird auch durch ein noch so präzise gefasstes gesetzliches System 3 nicht entbehrlich. Das lehrt die Erfahrung mit den großen Kodifikationen. Ebenso hat sich gezeigt, dass es nicht genügt, prozedurale Bindung des Richters über die Pflicht zur Rückfrage

_____ 1 Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, im Druck; Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung.

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1. Teil: Grundlagen

etwa bei einer Gesetzgebungskommission zu schaffen (référé législatif): Solche Mechanismen funktionieren nicht.2 Die Freiheit des Richters lässt sich lenken, aber nicht vermeiden. Welche Lenkungsmechanismen eine Rechtsordnung ergreift, das spiegelt ihre Rechtsquellenlehre, aber auch das Maß ihres Vertrauens in den Richter.

2. Rechtsvergleichender Überblick 4 Allgemein kann man das Handeln des Richters jenseits des ihm eigentlich gezogenen Rahmens

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als Rechtsfortbildung bezeichnen. Die kontinentalen Rechtsordnungen nennen seine zentrale Erscheinungsform Analogie oder auch „analog(isch)e Auslegung“. Der erste Begriff ist, sprachlich unterschieden von der Auslegung, im deutschen Rechtskreis verbreitet, die „analoge Auslegung“ im romanischen. 1958 konnte man alle Rechtsordnungen der soeben gegründeten EWG diesen beiden Rechtsfamilien zuordnen. Daher liegt eine spezifische Prägung des acquis communautaire aus diesen Traditionen nahe. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, diese Technik von der schlichten Auslegung abzugrenzen; eine im Einzelnen vom jeweiligen Verständnis des Rechtssystems und der Auslegungsmethode geprägte Abgrenzung. Dabei ist zwischen äußerem System als formaler Ordnung (vor allem) der Gesetze und innerem System als Widerspruchsfreiheit der Lösungen und Entscheidungen zu trennen. Nach der im deutschen Rechtsraum heute dominierenden Sicht sieht der Abgrenzungsversuch wie folgt aus: Das – potentiell vollständige – systematisch gesetzte Recht bildet den Regelfall der Norm, der Richter schafft kein Recht; die Analogie operiert lediglich in der Gesetzeslücke. Neuerer deutscher Tradition entspricht es, die Auslegung diesseits, die Analogie jenseits der sog. Wortlautgrenze anzusiedeln und beide scharf zu trennen; neuerer französischer Tradition hingegen, eine interprétation par analogie von anderen Formen der Auslegung zu unterscheiden. Beiden Traditionen gelingt die Abgrenzung schlecht. Die Wortlautgrenze bereitet der deutschen Rechtskultur praktische wie theoretische Probleme; im romanischen Denken sind bereits die Grundkategorien der Unterscheidung streitig. Und doch beobachtet man namentlich in Deutschland mit besonderer Skepsis, wie Auslegung und Rechtsfortbildung beim EuGH ineinanderfließen. Manche flüchten sich gleich in ein anderes, nämlich angloamerikanisch geprägtes Konzept der „Rechtsfortbildung“, das aber für den Kontinent nicht passt. Die deutsche wie die französische Sicht gehen auf Vorstellungen der juristischen Neuzeit zurück, vereinfacht: die deutsche auf das frühe 19. Jahrhundert, die französische auf die davor liegenden Jahrhunderte. Keine von beiden folgt dem römischen Verständnis, wiewohl beide zahlreiche Versatzstücke der römischen Tradition verwerten. Die sachliche Distanz zur römischen Methodentradition ist leicht zu erklären: Das römische Recht kreist nicht, in einer auch äußerlich systematisierten Rechtsordnung, um das Gesetz. Vielmehr steht das innere System im Vordergrund, entstanden namentlich aus der Gutachtertätigkeit der Juristen (unten Rn. 22–27). Deshalb stellen sich in Rom weithin andere Methodenfragen als heute in den – inhaltlich gleichwohl römisch geprägten – Privatrechtssystemen.3 Aber

_____ 2 Das beginnt bereits bei Justinian (unten Rn. 26). Zum référé législatif Meder, JZ 2005, 477–484, 480 f.; zur Blütezeit des Glaubens an den Wert von Gesetzeskommissionen vgl. Alvazzi del Frate, L’interpretazione autentica nel XVIII secolo (2000); ders., Giurisprudenza e référé législatif in Francia nel periodo rivoluzionario e napoleonico (2005). In deutscher Sprache Miersch, Der sogenannte référé législatif (2000). Es gab durchaus Gesetzesautoren, die nicht der Illusion folgten, Auslegung könne durch ein gutes Gesetz entbehrlich werden; vgl. zu von Zeiller und dem ABGB Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen (2004), S. 259 ff. 3 Vgl. schon hier Vacca, FS Labruna, S. 5727–5746; zum geltenden Recht in diesem Band nach Register (Auslegung, systematische) sowie Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 32–35, 43, 49. Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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auch in die Zukunft führt kein gerader Weg: In der Integrationsgemeinschaft Europas passen einige Systemvoraussetzungen nicht mehr, die auf nationaler Ebene noch im 19. Jahrhundert realisierbar schienen. Die englische Tradition, weniger systemorientiert und stärker jurisprudentiell4 geprägt, 9 weist einige Parallelen zur römischen auf und hat sich auch genetisch nicht so isoliert von Kontinentaleuropa entwickelt, wie man lange glaubte; neuerdings zeigt sich Konvergenz in Methodenfragen; in historischem Zusammenhang mag England aber beiseite bleiben, soweit es um die Frage geht, welche Vorstellungen die Juristen der entstehenden EWG seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts prägen konnten. Die Methode der Auslegung und die Rolle der Analogie hängen überdies vom Grad der äu- 10 ßeren Systematisierung ab. Der Schritt von der lediglich inhaltlich strukturierten, wertungssensiblen und diskussionsoffenen Kasuistik, also vom inneren System, zur Schaffung einer subsumtionsfähigen Formalstruktur ist dem Kontinent gelungen, dem englischen Recht hingegen bislang nur in Teilen (und auch dies unter dem Druck unionsrechtlicher Vorgaben). Es verbleibt damit – bei oft großem Pragmatismus der einzelnen Lösung – auf einer Entwicklungsstufe, die gewisse strukturelle Parallelen zum römischen Recht aufweist, verbunden freilich mit historischen Besonderheiten inhaltlicher Art, die einer transparenten Systembildung entgegenstehen. Den auf dem Kontinent gelungenen Schritt zur Kodifikation rückgängig zu machen, verspricht keinerlei Vorteil. Das steht auch politisch nicht in Zweifel. Man mag in der Union also kasuistische Momente dort aufnehmen, wo sie passen: bei den 11 Streitfragen, deren Lösung auch der kontinentale Jurist nicht einem rein deduktiv begriffenen System entnehmen will. Dort entsteht notwendig Kasuistik, jedenfalls bis der Gesetzgeber sich entscheidet nachzukodifizieren. Das bedeutet übrigens auch, dass man den reichen Schatz römischrechtlicher Erfahrungen nicht ignorieren sollte, der hinter den kontinentalen Gesetzbüchern steht – die ja im Kern systematisierte römische Kasuistik sind. Es ist weiterhin zu erinnern an die spezifischen historischen Determinanten der englischen Auslegungslehre. Hingegen konzentrieren die folgenden Ausführungen sich auf die kontinentale, klassisch-systembildende Tradition5 – zumal denkbar ist, dass die englische Tradition sich gerade dann in diese systematische Linie stellen wird, wenn ihre Begriffe und Lösungen besondere Bedeutung für das Unionsprivatrecht6 erlangen sollten.7

_____ 4 „Jurisprudentiell“ in einem der kontinentalen Sinne des Wortes: bezogen auf die gelehrte Praxis, ähnlich dem römischen iuris prudentia, vgl. dann mit Betonung des praktischen Aspekts frz. jurisprudence; nicht wie das stärker theoretisch und universitär konnotierte dt. Jurisprudenz oder erst recht das engl. jurisprudence (i.S. etwa von John Austin). Aus der Lit. statt aller L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967). Zu den Gründen, aus denen England im 19. Jh. keine Kodifikation erreichte, demnächst ausführlich Zwanzger, Die Kodifikationsdiskussion im England des 19. Jahrhunderts (Habil. Bayreuth 2014). 5 Auch Manchester/Salter/Moodie (Hrsg.), The Dynamic of Precedent in Statutory Interpretation (2. Aufl. 2000), S. 77 betonen die Prägung des Luxemburger Argumentations- und Urteilsstils durch die sechs Gründerstaaten. 6 Ob der Begriff des Gemeinschaftsprivatrechts nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch passt, ist streitig. Vgl. Müller-Graff, GPR 2008, 105; Baldus u.a., GPR 2011, 270–276. 7 Das Problem liegt insbesondere darin, dass die traditionelle Terminologie des Common Law aus Sachgründen ebensowenig geeignet ist, klassische Zivilrechtsmaterien in auch für den Kontinent verständlicher Weise zu fassen, wie „Brussels English“. Vieles wird von der künftigen Rolle des Vereinigten Königreichs abhängen, innerhalb (Stichwort differenzierte Integration, dazu Baldus/Jung (Hrsg.), Differenzierte Integration im Gemeinschaftsprivatrecht (2007), vgl. http://www.sellier.de/pages/de/buecher_s_elp/europarecht/index.europaeisches_privatrecht. htm?reihe=51) oder ganz außerhalb der Union: Man mag die faktische Autonomie des in Brüssel praktizierten Englischen betonen, am Ende aber sind Sprachfragen auch Machtfragen.

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1. Teil: Grundlagen

3. Untersuchungsgegenstand. Grenzen. Geltendrechtliche Perspektiven 12 Es ist nach den großen Linien zu fragen, die im Hintergrund der Rechtsanwendung stehen, auch

wenn die Differenzierungen und Überschneidungen des 20. Jahrhunderts vieles modifiziert haben. Dies sind einerseits die deutsche Pandektenwissenschaft, andererseits die vom Code Civil geprägte Rechtskultur. Das bedeutet zeitliche Beschränkungen des Untersuchungszeitraumes ebenso wie inhaltliche Schnitte: dass diese beiden Traditionen nicht näher bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt werden, aber auch, dass die Wege zwischen den gemeinsamen römischen Wurzeln und der Kodifikationsbewegung um 1800 nicht nachgezeichnet werden können; schließlich, dass manche Rechtsquellen und manche wissenschaftlichen Bewegungen, die für die spätere Entwicklung in einzelnen Staaten Bedeutung erlangen sollten, nicht zu diskutieren sind. Für eine umfassende Bestandsaufnahme, die alle diese Lücken nicht aufwiese, fehlt es überdies an hinreichenden Vorarbeiten. Für den Einfluss Deutschlands und Frankreichs, der beiden Kerne kodifikatorischer Tradition im 19. Jahrhundert, fragt sich weiter: Was wird aus einem französisch geprägten Text, wenn man ihn pandektistisch interpretiert? Das geschah vor allem in weiten Teilen Südwesteuropas und Lateinamerikas. Ähnliche Fragen lassen sich für die Pandektisierung von Naturrechtskodizes stellen, wie in Österreich geschehen. Im Mittelpunkt der Betrachtung kann hier nur das 19. Jahrhundert in Mitteleuropa stehen. 13 Die Rechtswissenschaft dieser Zeit arbeitet ältere Elemente auf, vor allem aus der römischen Tradition, und passt sie den neuen Anforderungen an. Sie modernisiert, bündelt und systematisiert die Elemente und Instrumente des Privatrechts. So setzt sie die dogmatischen, konzeptuellen und systematischen Standards für das 20. Jahrhundert. Dadurch wirkt (in der Rechtsgeschichte noch stärker als in der allgemeinen Geschichte) das 19. Jahrhundert fort. Methoden konstituieren Wissenschaften; selbst hängen sie von Erkenntnisziel und sonstigen 14 Aufgaben der jeweiligen Wissenschaft ab. Die Rechtswissenschaft – als textorientierte Geisteswissenschaft und zugleich als praktische, an der Normanwendung orientierte Sozialwissenschaft – kann ihre Methode keiner anderen Disziplin entnehmen. Im Vordergrund steht immer die Normanwendung in der Gegenwart; auch der Rechtshistoriker untersucht primär Normanwendung, nur eben in der Vergangenheit. Das Recht hat seine eigene Realität und will die außerrechtliche Realität beeinflussen, es lebt in der Anwendung. Auch zur Verbesserung dieser Anwendung wird das Werden der Norm untersucht: Die Rechtsgeschichte hat nicht allein, aber auch dienende Funktion. Soweit Auslegung nun einen geschichtlichen Aspekt aufweist, muss entschieden werden (und zwar aus der Sicht der Gegenwart), wieviel Raum das geltende Recht diesem Aspekt geben will. Diese Sondersituation der Rechtswissenschaft wirkt sich auf Verständnis und Gewicht der historischen Auslegung aus, bekanntlich aber auch auf die Rezipierbarkeit geisteswissenschaftlicher Methoden. Eine Verstehenslehre, die etwa für die Philologie oder die Theologie entwickelt worden ist, aber auch eine Verstehenslehre, die für alle Wissenschaften oder zumindest alle Geisteswissenschaften gelten will, muss für die Rechtswissenschaft nicht passen. Die Autoren, denen wir die heutige Auslegungslehre im Kern verdanken, vor allem Savigny, 15 lebten im frühen 19. Jahrhundert: mitten in der Zeit, in der aus verschiedenen fachbezogenen Hermeneutiken und Auslegungslehren eine allgemeine Auslegungslehre entstand, unter starken philosophischen Einflüssen. Allenthalben wurden Auslegungskanones entwickelt und diskutiert; die Juristen fügten sich mit ihren Entwürfen in einen größeren Zusammenhang ein (Rn. 29).8 Wie weit welche juristischen Autoren durch welche nichtjuristischen Einflüsse geprägt waren, ist nicht immer zu ermitteln. Jedenfalls muss man sich klarmachen, dass zwar Savignys

_____ 8 Für geschichtlich angelegte Einführungen in Hermeneutik und Auslegungslehre vgl. nur Bianco, Introduzione all’ermeneutica (5. Aufl. 2007) und Jung, Hermeneutik zur Einführung (4. Aufl. 2012). Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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Privatrecht im Wesentlichen unser Privatrecht ist (weil er es geprägt hat und weil es von seit römischer Zeit durchlaufenden inhaltlichen Kontinuitäten geprägt ist), aber Savignys geistige und politische Welt nicht die unsrige. Das setzt erhebliche Fragezeichen hinter den Versuch, überkommene Auslegungskategorien 16 tout court auf die Gegenwart zu übertragen. Zugleich erklärt es, warum wir schlecht neue Kategorien erfinden können. Wenn wir dazu neigen, trotz dieser philosophischen, geschichtlichen und praktischen Fragezeichen Sicherheit in Auslegungskanones und deren Rangordnung zu suchen oder zu postulieren, dann auch wegen der Notwendigkeit, das überkommene Privatrecht in vorhersehbarer und belastbarer Weise weiterzuentwickeln: Dass Juristen sich oft weniger auf Methodenreflexion einlassen als Vertreter anderer Fächer, hängt mit der legitimen Anwendungsorientierung ihrer Arbeit zusammen. Juristische Methode, soll sie mit dem gelebten Recht zu tun haben, also rechtswissenschaftlich bleiben, kann nicht jeden Zweifel aus den Nachbarwissenschaften aufnehmen. Sie muss im Zweifel der Praktikabilität Vorrang geben; eine nicht praktikable Methode ist auch nicht wissenschaftlich. Immer zwingend sind hingegen Vorgaben aus dem Rechtssystem selbst und hier aus höher- 17 rangigen Stufen der Rechtsordnung, also Unionsrecht und Verfassungsrecht. Heute stellt sich eine scharfe Trennung von Auslegung und Analogie als im Kern verfassungsrechtlich motiviert dar.9 Darin setzt sich aufklärerisches Denken fort. Der Gesetzgeber sichert sein Rechtssetzungsmonopol methodologisch, auf der Verfahrensebene, indem er dem Richter Überschreitungen der Sphäre, innerhalb derer er auslegen darf, nur im gleißenden Licht der Analogieprüfung gestattet. Das betrifft nicht nur Systeme, die von der Wortlautgrenze ausgehen. Im Kern geht es für jede Tradition um einen Transparenzmechanismus, der die Debatte, namentlich eine Überprüfung durch die Obergerichte und gegebenenfalls durch den Gesetzgeber fördert: Der Richter soll bei der Analogiebildung nach deutschem Verständnis offen sagen, dass und warum er weiter geht als der Gesetzgeber.10 Er soll einen transparenten Diskussionsprozess eröffnen, in dem die Richtigkeit seines Vorgehens besser überprüft werden kann als bei schlichter Subsumtion: durch Rechtsmittelinstanzen und durch den Gesetzgeber. Dieser kann sodann souverän entscheiden, wie er sich zu der als problematisch angesehenen Rechtsfrage stellt – ob er die Ausdehnung der Rechtsfolge kodifikatorisch nachvollzieht oder durch abweichende Gesetzgebung ausdrücklich missbilligt oder aber der richterlichen Rechtsfortbildung freien Lauf lässt, indem er nichts unternimmt. Zur Realisierung dieses Transparenzmechanismus scheint sich auf den ersten Blick die 18 Wortlautgrenze durchaus anzubieten; allein die rechtstheoretischen Bedenken gegen sie sind alt (die Aussage, ein Wortlaut sei klar, ist selbst schon ein Auslegungsergebnis).11 Im Unionsrecht kommt die ungelöste, mit jeder Erweiterung zunehmende Problematik der Gleichberechtigung aller Amtssprachen hinzu,12 weiterhin die Forderung des EuGH, die Grenzen nationaler Methodenlehre auszuschöpfen, wo unionsrechtskonforme Auslegung erforderlich ist:13 Eine Wortlautgrenze deutschen Stils gibt es eben nicht überall.

_____ 9 Der verfassungsrechtliche Aspekt wird allseits betont: Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 77 I (S. 603 ff.); Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 6. 10 Nicht notwendig: weiter als der historische Gesetzgeber. Methodisch lautet die Frage, ob die (planwidrige) Lücke historisch oder teleologisch zu bestimmen ist. Die besseren Argumente (namentlich: Kohärenz mit der Lehre von der Auslegung) sprechen für das teleologische Kriterium. 11 Zur Problematik des sens clair bei Savigny unten Rn. 41 ff., 56, 68–72; vorab Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18–24; vgl. zum Problem in rechtstheoretischer Hinsicht Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004). Differenzierend Kramer, Methodenlehre, S. 83–86. 12 Umfassend Zedler, Mehrsprachigkeit und Methode. Zu sprachlichen Fragen von EU-Beitritten: Ernst, in diesem Band, § 28 Rn. 18 ff. 13 Die Grenze richtlinienkonformer Auslegung wird von den methodischen Möglichkeiten des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechtsanwenders bestimmt. Es besteht lediglich eine Vorzugsregel. Das heißt: Richtlinienkonforme

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1. Teil: Grundlagen

Die Folgen für die Union sind hier nur zu skizzieren, namentlich unter dem Aspekt, welche Rolle dann die Geschichte spielen kann. Der Gerichtshof selbst fasst seine Auslegungspraxis nicht in den „deutschen“ Vierschritt Wortlaut – Geschichte – System – Telos; seine eigenen Standardformeln lassen sich aber teilweise auch in diesem Vierschritt abbilden. „Dem“ (mehrsprachig nur ansatzweise zu fassenden) Wortlaut kommt eher Orientierungsfunktion zu, entstehungsgeschichtliche Erwägungen erscheinen immerhin punktuell, das System wird selten über den einzelnen Rechtsakt hinaus in Bezug genommen; das Telos dominiert, freilich nicht im Sinne der gern gezeichneten Karikatur vom alles erschlagenden effet utile. Speziell zur Entstehungsgeschichte legen die kodifikatorischen Erfahrungen es nahe, „den 20 Gesetzgeber“ und seinen „Willen“ nicht zu hypostasieren, schon gar nicht auf der Grundlage der Materialien, die auf höchst unterschiedliche Weise zustandekommen können, erst recht in supranationalen Entscheidungsprozessen. Es kommuniziert nicht primär der Gesetzgeber durch Materialien mit dem Ausleger. Vielmehr kommunizieren die Ausleger untereinander über das Gesetz und auch über die Materialien. Was sich dabei mit einer gewissen Belastbarkeit ausmachen lässt, ist die Geschichte von Problemen, Einflüssen und Lösungen. Für diese aber sind Materialien nur ein Weg zur Erkenntnis.14 Aus der Sicht eines jeden Gesetzgebers, der gestalten will, bleibt ein praktisches Grundpro21 blem: Es ist der Richter selbst, der entscheidet, ob er auslegt oder Analogieschlüsse zieht. Der Richter, jedenfalls das letztinstanzliche Gericht, hat, rechtstheoretisch gesprochen, die Anwendung der Metaregel in der Hand; ein noch so perfektes Gesetz kann ihn nicht völlig fesseln. Einer Entscheidung der letzten Instanz über die Zulässigkeit einer Analogie15 kann der Gesetzgeber nur ex post entgegentreten. Deshalb ist historisch zu beleuchten, ob die Erfahrungen der das Europarecht prägenden Rechtsordnungen dafür sprechen, den skizzierten Transparenzmechanismus gerade jenseits einer Wortlautgrenze anzusiedeln, oder ob sich Gründe dafür finden, die richterliche Auslegung, namentlich die teleologische, großzügiger zu definieren. Dann wäre man bei der „extensiven“, vielleicht bei der „analog(isch)en Auslegung“. 19

II. Römische Tradition: Normbildung und interpretatio16 22 Im römischen Recht dominieren nicht gesetzliche Normen, sondern in republikanischer Zeit der

allmähliche Ausbau eines Rechtsbehelfssystems durch den Prätor – niedergelegt in seinem Edikt – und bis weit in die Kaiserzeit hinein die schöpferische Rechtsfindung der Juristen in Privatgutachten (responsa). Überdies sind fast alle Juristen ab dem 2. Jahrhundert n.Chr. auch für den Kaiser und in dessen Namen tätig. In dieser mehrfachen Funktion können sie die Entscheidungen (constitutiones, vor allem rescripta) des Kaisers respektieren, zugleich aber den Umstand nutzen, dass sie selbst an den Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligt sind. Sie können

_____ Auslegung ist nur insoweit möglich, als diese Methodenlehre es dem Richter erlaubt, auszulegen (und ggf., über Auslegung im deutschen Verständnis hinaus, Analogien zu ziehen), auch wenn das Europarecht weitergehende Ergebnisse verlangt; im Konfliktfall kann diese Grenze zur Staatshaftung führen. Vgl. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 26–38, 46–66. 14 Zum Gesetzgebungsakt als jeweils letzter Chance des Gesetzgebers s. Baldus, in: ders./Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung, S. 17–20. 15 In diesem Zusammenhang erlangt die prozessuale Frage Bedeutung, ob die letzte Instanz nur kassieren oder auch in der Sache entscheiden, wenigstens aber inhaltliche Vorgaben machen kann. Dazu bereits – in Orientierung am französischen Modell – Savigny, System I, S. 326 ff. Hervorgehoben bei Rückert, JZ 2010, 1, 8; vgl. S. 3, 5 zur politischen Verortung der Protagonisten. 16 S. näher oben Harke, in diesem Band, § 2 passim. Baldus

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daher auch die Reskripte mit einer gewissen Freiheit interpretieren.17 Zwischen responsum und rescriptum bestehen Parallelen, beginnend mit der Frage-Antwort-Struktur; jedenfalls prägt das Gutachten als Denkform die westliche Rechtsentwicklung. Das Recht entsteht mithin prozessual und jurisprudentiell. Dabei ist die Auslegung römischer Rechtstexte auch derjenigen kanonisierter Schriften in den frühen monotheistischen Religionen nicht ohne weiteres zu vergleichen.18 Praktisch wichtig ist namentlich das seit früher Zeit übliche Arbeiten mit Fiktionen. Juristen sind typischerweise also nicht abhängig tätige, einer generell-abstrakten Gesetzgebung unterworfene Rechtsanwender, sondern Angehörige der Führungsschicht, die als Gutachter, Politiker, Berater Rechtsfragen erörtern und Lösungen fortentwickeln. Rhetorische Figuren wie verba und voluntas, mens und sententia werden durchaus ver- 23 wandt. Sie sind jedoch nicht systematisch zu Elementen einer Auslegungslehre zu überhöhen: Wie so viele Versatzstücke aus der Philosophie und Rhetorik verwendet der römische Jurist – als wissenschaftlich denkender Praktiker – solche Figuren dort, wo sie ihm einer sinnvollen Falllösung dienlich scheinen, aber nicht als systematische Entscheidungsvorgabe. Das Recht entsteht solcherart als inneres System,19 als diskursive Ausarbeitung widerspruchsfreier Entscheidungsund Argumentationszusammenhänge von Fall zu Fall;20 ein äußeres, formalisiertes System vermisst die Praxis nicht, und gerade der Gedankenreichtum des inneren Systems ist es, der sachlich bis heute das europäische Privatrecht prägt. Die Auslegungspraxis bleibt damit ambivalent, aus traditionellen wie aus institutionellen 24 Gründen. Sie changiert zwischen Fortbildung des Juristenrechts und Anwendung zentralisierter Normsetzung. Die römischen Juristen stehen nicht in der strukturellen Distanz zur Normentstehung, die für den modernen (zumal konstitutionellen und gewaltenteilenden) Staat typisch ist; entsprechend ist ihre interpretatio keine moderne Auslegung. Der römische Jurist vergisst auch dort, wo er für den Kaiser tätig ist, nie den Primat des Gutachtens, und zwar als Rechtsquelle. Die innere Verbindung von Rechtsquellenlehre, juristischen Handlungsformen und Auslegungsmethode wird bereits in Rom deutlich; sie erklärt viele Unterschiede zur Gegenwart. Entsprechend bereitet eine Qualifikation einzelner klassischer Aussagen über das Vorgehen 25 ad similia, aber auch der häufigen Schaffung von actiones utiles (usw.) zu bereits existierenden actiones mit dem Begriff „Analogie“21 Probleme, wenn man Analogie im Sinne der heutigen deutschen Lehre versteht, also als Lückenfüllung: Es geht nicht um einen Ergänzungsmechanismus für ein vorgegebenes, im Prinzip geschlossenes System.

_____ 17 Vgl. Baldus/Miglietta/Santucci/Stolfi (Hrsg.), Dogmengeschichte und historische Individualität der römischen Juristen (2012). 18 Grundlegend (nicht nur zur Antike) L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenziale (1967), dort auch zur Begrifflichkeit. Für eine wiederum höhere Einschätzung des Gesetzes Mantovani, in: Ferrary (Hrsg.), Leges publicae, S. 707–767. Zuletzt Stolfi, in: Vacca (Hrsg.), Casistica e giurisprudenza (2014), S. 1–71. Wieder andere Ansätze bei Walter (Hrsg.), Gesetzgebung und politische Kultur in der römischen Republik (2014). Zu den wohl nicht vergleichbaren Erfahrungen namentlich des Judentums Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (7. Aufl. 2013); die Unterschiede dürften in der Andersartigkeit römischer religio wurzeln: Sie mutet unsere in religiöser Hinsicht jüdisch-christlich geprägte Kultur sehr „juristisch“ an, denn unser Recht nimmt hier seinen Ausgang. 19 So die h.M., vgl. Harke, in diesem Band, § 2 Rn. 5 ff.; für die Gegenmeinung, die auch am inneren System zweifelt, mwN Cuena Boy, Sistema jurídico (1998); s. jetzt Gokel, Sprachliche Indizien für inneres System bei Q. Cervidius Scaevola (2014). Zu offenen Wertungen Harke, aaO Rn. 18; Kleiter, Entscheidungskorrekturen mit unbestimmter Wertung durch die klassische römische Jurisprudenz (2010) und Babusiaux, SavZRG – Röm. Abt. – 129 (2012), 745–764. 20 Zentral ist der Begriff des ius controversum. Darüber zuletzt Bretone, „Ius controversum“ nella giurisprudenza classica (2008); Marotta/Stolfi (Hrsg.), Ius controversum e processo fra tarda repubblica ed età dei Severi (2012). 21 Vgl. Vacca, in: Romano (Hrsg.), Nozione formazione e interpretazione del diritto dall’età romana alle esperienze moderne. Ricerche dedicate al professor Filippo Gallo (1997), S. 441, 444–454. Dort wird auch deutlich, dass die romanische Rede von der „interpretazione analogica“ am historischen Qualifikationsproblem kaum etwas ändert.

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Justinian nimmt klassische Ansätze zum procedere ad similia zwar auf, aber in einer durchaus etatistisch zu nennenden Veränderung und ergänzt um einen frühen référé législatif, dem ebenso wenig Erfolg beschieden war wie späteren Versuchen dieser Art.22 27 Zusammengefasst: Die Tätigkeit der römischen Juristen wird erst im Prinzipat primär Rechtsanwendung, so wie die Rechtsquellen erst in dieser Zeit mehr oder minder einheitlich den Charakter zentraler Vorgaben annehmen. Zur Entwicklung einer geschlossen hieran orientierten Methodenlehre ist es nicht gekommen. Antike Gedanken prägen zwar die spätere Begrifflichkeit, doch unterdes wandelt sich das 28 Recht. Wir übergehen aus Raumgründen das Mittelalter. In der Neuzeit wird das staatliche Gesetz zum Paradigma; um 1800 wünscht man das klare und systematische Gesetz herbei, schon weil das späte gemeine Recht mit seinen zahlreichen Rechtsquellen, Normenkomplexen und Zuständigkeiten gänzlich unübersichtlich geworden war.23 Zugleich ist aus Theologie und dann auch Philologie eine Auslegungslehre entstanden, die anders mit Texten umgeht, als die Römer es getan hatten, und die schließlich zu einem Überdenken der gemeinrechtlichen wie der naturrechtlichen Auslegungslehren zwingt. An dieser Stelle setzen unsere weiteren Betrachtungen an, im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts und als Gegenbild zu Frankreich, wo in Gestalt des Code civil von 1804 bereits eine für das ganze Jahrhundert stilbildende Kodifikation gelungen war. 26

III. Hermeneutische Positionen um 1800 1. Spätes Gemeines Recht und geistiges Umfeld 29 Vom 18. zum 19. Jahrhundert hin entsteht eine allgemeine Hermeneutik und werden die speziel-

len Hermeneutiken (der Theologie, der Philologie, der Rechtswissenschaft) fortentwickelt.24 Dieser Prozess wirkt sich auf die Lehre von der Auslegung auch der juristischen Texte aus. So lässt sich die frühe Pandektenwissenschaft zeitlich in eine Umbruchphase der Hermeneutik und der Auslegungslehre25 einordnen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts hatte juristisch ein sehr weites Verständnis der Interpretation vorgeherrscht: Auslegung könne den Wortlaut erklären, ihn unteroder überschreiten; eine den Wortlaut überschreitende (extensive) Auslegung könne aber auch über den konkreten Sinn des Gesetzes hinausgehen, wenn nur eine „ähnliche“ ratio zu ermitteln sei. Diese Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund stieß ab dem späten 17. Jahrhundert auf Ablehnung. Doch blieb eine Über- oder Unterschreitung des Wortlauts nach dem Sinn des jeweiligen Gesetzes zulässig, wobei man mit Thomasius nunmehr die „grammatische“ Auslegung (aus den Worten des Gesetzes) von der „logischen“ (aus anderen Umständen) unterschied.26 Diese Bildung

_____ 22 Der référé ist angeordnet in der constitutio Tanta § 18 (remedium Augustum), vgl. auch das sog. Kommentierungsverbot in § 21 (über dessen Tragweite Kunkel/Schermaier, Römische Rechtsgeschichte [13. Aufl. 2001], S. 225 f.). Zur Aufklärung oben Fn. 2. 23 Überblick bei Meder, Rechtsgeschichte, S. 250 f. Zum Verständlichkeitspostulat etwa ders., SavZRG – Germ. Abt. – 123 (2006), 428–435. 24 Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 47 ff.; Bianco, Introduzione all’ermeneutica, insbes. S. 51–90. 25 Zum Verhältnis von Hermeneutik und Interpretation monographisch Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, passim; etwas anders Meder, Grundprobleme, S. 19–37: seit dem 17. Jahrhundert „Unterscheidung zwischen Hermeneutik als Theorie und Interpretation als Praxis der Auslegungskunst“; Hermeneutik heute als weiterer Begriff, da sie „– über die Interpretation einzelner Textstellen hinaus – auf eine grundlegende Analyse dessen zielt, was wir ‚Verstehen‘ nennen“. 26 Vgl. zu dieser Entwicklung und auch zum Folgenden Schröder, Recht als Wissenschaft; kurz ders., ZNR 2002, 52–64; zum Fortleben dieser und anderer naturrechtlicher bzw. aufklärerischer Unterteilungsschemata (authenti-

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juristischer Kanones fügt sich in eine Vielzahl ähnlicher Versuche vor allem in Theologie und Philologie ein.

2. Veränderungen zwischen Aufklärung und Romantik: Grundlinien der Methodenlehre Savignys Es ist dann im Wesentlichen der frühe Savigny, der die Auslegung in gewisser Weise auf den 30 Wortsinn beschränkt. Inwieweit man hierin eine Wortlautgrenze sehen kann, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob spätere Werke (vor allem das „System“) in der Kontinuität dieser Erwägungen stehen oder eher als Relativierungen, als Rückkehr zu Modellen zu deuten sind, die extensive Auslegung auch jenseits des Wortlauts kennen. Savigny will den Gedanken des Gesetzgebers rekonstruieren. Interpretation in diesem Sinne ist „Reconstruction des Gedankens, welchen das Gesetz aussprechen soll, insofern dieser Gedanke aus dem Gesetz selbst unmittelbar erkennbar ist“.27 Diese Erwägung ist in ihren Zusammenhang einzufügen. Dabei haben wir die Umbruchsituation der Jahre um 1800 zu betrachten: Denkfiguren der Auslegung werden unter anderem in zweierlei Hinsicht abgelöst, einerseits hinsichtlich hermeneutischer Grundansätze,28 andererseits – aber in geringerem Maße, als der moderne Betrachter es erwarten sollte – hinsichtlich der Kontrolle richterlichen Handelns. Die Hermeneutik der Aufklärung geht davon aus, dass der Sinn eines Textes prinzipiell er- 31 kennbar sei. Man müsse beispielsweise eine Rechtsnorm, wenn ihr Sinn dunkel sei, daraufhin untersuchen, was der Gesetzgeber habe sagen wollen,29 und zwar im Sinne einer Text und Ausleger verbindenden zeitlosen Vernunft; bei richtiger Anwendung der Auslegungsregeln lasse sich dieser Sinn erschöpfend bestimmen.30 Dazu werden die oben genannten Kategorien eingesetzt. Diese Position trägt in mancher Hinsicht noch Thibauts Theorie der logischen Auslegung31 von 1799, weithin auch Zachariäs Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts32 von 1805.

_____ sche, usuale, doktrinelle Auslegung, innerhalb der logischen die extensive und die restriktive) um die Mitte des 19. Jahrhunderts ders., Recht als Wissenschaft, S. 228 ff. Neuerdings Sorge, in: Meder u.a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik (2013), S. 137–224 (167–170). 27 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, das wörtliche Zitat auf S. 94, vgl. schon S. 93: „Interpretation = Reconstruction des Gesetzes“. Zum „System“ s.unten Rn. 62–78. Die folgenden Aussagen stehen unter dem Vorbehalt, dass noch nicht alle bekannten Savigny-Handschriften ediert sind. Zum „rekonstruktiven Verstehen“ i.S.d. modernen Hermeneutik s. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 72–91. 28 Vgl. zum Folgenden in Auseinandersetzung mit einigen überkommenen Meinungen Meder, Mißverstehen und Verstehen. Teilweise andere Akzente etwa bei Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, S. 353 f. 29 Auch wegen dieses subjektiven Ansatzes neigt die Aufklärung zur authentischen Auslegung und zum référé législatif: Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 20 f. 30 Kurz Meder, Grundprobleme, S. 24 f. 31 Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (1799), namentlich § 9, S. 27–46. Dazu Otte, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 191–201: Thibaut als dem mos geometricus verhafteter Gesetzespositivist (S. 193, 196 f.), der den tradierten Auslegungskategorien folge (S. 192 f.); freilich sehe auch er bereits die klaren Stellen für auslegungsfähig an (S. 194; Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 19 Fn. 6, meint zur 2. Aufl. der „Theorie“ wohl dasselbe, obwohl er schreibt „dunkle“). Die extensive Interpretation wird insoweit eingeschränkt, als die beigezogenen Gründe aus dem Gesetz selbst erhellen müssen (S. 195). 32 Zachariä, Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts. Ihm zufolge können nur die dunklen Stellen ausgelegt werden (S. 160; weitere Stellen sind nachgewiesen bei Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18 f. mit Fn. 6). Zur Charakterisierung Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 220, unter Hinweis darauf, dass Zachariä, insoweit modern, die Analogie von der „logischen“ Auslegung trennte – und damit „auf der Grundlage der alten Her-

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Thibaut steht der überkommenen Auslegungslehre, die er ausführlich referiert, in vielen Einzelpunkten und im qualitativen Gesamturteil durchaus kritisch gegenüber. Er unterzieht sie aber keiner erkenntnistheoretisch oder hermeneutisch motivierten Fundamentalkritik.33 In der Theologie, aber mit ausgeprägtem Interesse namentlich an philologischen Entwick33 lungen ist es vor allem Schleiermacher, der neue Standards setzt und einige Gedanken prägt, die möglicherweise zumindest mit Erwägungen des späten Savigny korrespondieren;34 präzise ideengeschichtliche Kausalitäten bleiben zu prüfen. Der Hintergrund dieses Umbruchs ist ein philosophischer. Kant betont die Rolle des erkennen34 den Subjekts im Erkenntnisprozess. Savigny, wie auch immer er philosophiegeschichtlich insgesamt einzuordnen sei,35 nimmt diese Einsicht auf und setzt sie in eine neue Hermeneutik auch der Rechtswissenschaft um: Jede Norm ist in ihrem Zusammenhang auslegungsfähig, vollständiges Verstehen nicht möglich.36 Daher bekämpft Savigny (wiewohl er in anderen Punkten durchaus Thibaut37 und Zachariä38 folgt) noch 1840 den „fast allgemein herrschende[n] Begriff der Auslegung als einer Erklärung dunkler Gesetze“:39 Dieser sei willkürlich und reduziere die Auslegung auf „die zufällige Natur einer bloßen Abhilfe von einem Übel, woraus von selbst folgt, dass sie in demselben Verhältnis entbehrlicher werden muss, als die Gesetze vollkommener werden“;40 in Wahrheit solle sie auch bei „nicht mangelhaften, also nicht dunklen Stellen den ganzen Reichthum ihres Inhalts und ihrer Beziehungen (…) enthüllen“.41 Ebenso lehnt er die zeitgenössischen Kategorien von deklaratorischer, extensiver, restriktiver, authentischer usw. Auslegung ab (näher Rn. 48). Auslegung ist demnach für Savigny nicht ein festen Regeln unterworfenes Streben nach um35 fassender und abschließender Erklärung eines Rechtssatzes. Vielmehr muss man sich ohne die Sicherheit fester Regeln in den Rechtssatz hineinversetzen, um seinen Inhalt so gut als möglich 32

_____ meneutik zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie die neue exegetische Richtung“ kam. Auch dieser Faden ließe sich für Zachariäs Fortwirkung in Frankreich aufnehmen. 33 Näher die 2015 zu veröffentlichenden Ergebnisse einer Tagung zu Thibaut (zur Methodik s. den Beitrag von Meder). Ein vergleichendes Gesamtbild der maßgeblichen Juristen um 1800 fehlt. Vgl. einstweilen Sorge, in: Meder u.a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik, S. 137–224 (170–176). 34 Zu ihm und seinen Vorläufern vgl. nur Bianco, Introduzione all’ermeneutica, v.a. S. 71–85; Frank, in: ders. (Hrsg.), Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik (1977), S. 7–65; Sorge, in: Meder u.a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik, S. 179 ff. 35 Wie weit philosophischer und speziell kantischer Einfluss Savigny im einzelnen geprägt hat, ist auch mit dem Grundlagenwerk von D. Nörr (Savignys philosophische Lehrjahre [1994]) nicht abschließend geklärt. Namentlich zum Einfluss der „Kritik der Urteilskraft“ (1790) Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 52–62; vgl. auch Nörr, S. 268 f. Überblick jetzt bei Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 59–69. 36 Den geistigen Hintergrund der neuen Lehre diskutiert Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 9–12, 28–62 u.ö. Stärker an den romantischen Wurzeln Savignys orientiert erklärt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 213, die Erkenntnis, jede Norm sei auslegungsbedürftig: „Man entdeckt die historische Dimension der Auslegung, die Individualität jeder geschichtlichen Epoche und die Schwierigkeit, frühere Zeiten vor dem eigenen Erkenntnishorizont zu verstehen.“ 37 Vgl. die Hinzufügung in Savignys Manuskript zur Marburger Methodenvorlesung von 1802 (unten Rn. 46 f.): Dort wird Thibaut (wie oben Fn. 31) zitiert; vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 94. 38 Das belegt etwa die Pandektenvorlesung zum Obligationenrecht, die in ihrer ersten Fassung auf die Jahre 1809/1810 zurückgeht und dann über 33 Jahre hinweg überarbeitet worden ist. 39 Savigny, System I, S. 318. Zur Metapher (deren Wurzeln und Tragweite weitere Untersuchung verdienten) unten Fn. 50. 40 Savigny, System I, S. 318. Vgl. noch die spitze Zusammenfassung S. 319: „Wenn man übrigens diese willkührliche Beschränkung der Auslegung auf dunkle Gesetze zusammenhält mit der oben aufgeführten Meynung, nach welcher wiederum sehr dunkle Gesetze durch Justinian der Auslegung entzogen seyn sollen (§ 48), so ergiebt sich daraus die sonderbare Folge, dass Gesetze weder zu klar noch zu dunkel seyn dürfen, dass sie sich vielmehr auf einem schmalen Raume mittelmäßiger Dunkelheit befinden müssen, um als Gegenstände der Auslegung gelten zu können.“ 41 Savigny, System I, S. 319. Baldus

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zu ermitteln. Dazu dienen Elemente, die bekannten Auslegungskanones,42 welche im Verbund wertend anzuwenden sind, nicht als mechanisches und hierarchisches Schema. Es sind dies nicht etwa die heute „kanonischen“ vier (Wortlaut, Geschichte, System, Telos), sondern Grammatik, Logik, Geschichte und System, wobei das historische Element präzise meint „den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen“.43

Savignys historisches Element ist also keine Fixierung des Gesetzesinhalts auf die Materialien. 36 Schon gar nicht trägt es das heute beliebte „Verwerfungsargument“, dem zufolge nicht Ergebnis der Auslegung sein kann, was im Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen, aber verworfen wurde: Dieses Argument44 ist eng mit der Personalisierung „des Gesetzgebers“45 und seines Meinungsbildungsprozesses verbunden. Vielmehr geht es Savigny um das Regelungsziel, das mit Hilfe eines durchaus objektiven Datums bestimmt wird, nämlich der Regelungssituation. Man beachte dabei das systematische Moment in der Wendung „neu eingefügt“:46 Hier geht es 37 nicht nur um subjektive Absichten. Vielmehr nimmt der Blick auf das Eingefügte seinen Ausgang bei dem System, in das eingefügt wird. Zugleich kann der objektive Zweck der Einfügung an dieser Stelle behandelt werden (unten Rn. 65). Es geht Savigny um das zu lösende Problem, in den Kategorien der allgemeinen Hermeneutik gesprochen: um die gestellte Frage, deren Verstehen das Verstehen der im Text gegebenen Antwort ermöglicht.47 Damit lässt Savigny die Tür zu einer (kritischen) Verwertung des historischen Regelungsumfeldes offen. Die Parallele zur mischief rule des Common Law (die freilich mit dem besonderen Stellenwert des Parlamentsgesetzes in England zusammenhängt)48 fällt auf. Zugleich gibt Savigny dem Text sein eigenes Recht gegenüber dem bloßen Meinen des Gesetzgebers und stellt sich damit durchaus auf die Grundlage klassischer Hermeneutik.49 Mit Savignys Kritik an den Engführungen der Aufklärungshermeneutik war der alte Schema- 38 tismus gebrochen, aber kein neues, allseits anerkanntes Verfahren geschaffen. Das wird besonders deutlich an der bereits erwähnten Frage, ob auch klare Normen auszulegen seien oder nur „dunkle“.50 Letztere Ansicht, also die sens clair-Regel, konnte sich in Deutschland im Ergebnis jedenfalls auf der rechtstheoretischen Ebene nicht durchsetzen; das mag auf Savignys Einfluss

_____ 42 Zu ihnen vgl. unten Rn. 63; weiterhin Huber, JZ 2003, 1–17. 43 Savigny, System I, S. 213 f., 214. Dahinter steht eine zeitbedingt andere Vorstellung vom Zweck des Gesetzes (aaO Fn. a) und der Rolle des Gesetzgebers als heute; jedenfalls geht es Savigny darum, die innere Seite des auszulegenden Textes und damit die Grammatik gegenüber der äußeren, gegenüber dem traditionell logisch genannten Element aufzuwerten (Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 216 f.). 44 Vgl. Baldus, in: ders./Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung, S. 75–85. 45 Dazu statt aller Meder, Grundprobleme, S. 31 f. 46 Bei Savigny selbst changiert das „Eingreifen“ zwischen Geschichte, System und Zweck. S. unten Fn. 102 zu den vier Elementen in der Fassung der Landshuter Methodenvorlesung vom Sommersemester 1809. 47 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 105 ff. 48 Vgl. Gisewski, Methodik der Auslegung im kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Recht (2008), S. 111 f. 49 Vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 63: „Zu verstehen ist der mitgeteilte Sinn, nicht das Meinen als subjektiver Akt“; weiterhin S. 75 u.ö. 50 Zur sens clair-Regel nochmals oben Fn. 11 und Rn. 38, 41; in historischer Hinsicht weiterhin Schott, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 155–189. Die Unterscheidung von dunkler Einzelstelle und verständlichem Zusammenhang als mittelalterliches und frühneuzeitliches Paradigma geht mindestens bis auf Augustinus zurück: vgl. Angehrn, Interpretation und Dekonstruktion, S. 46; Bianco, Introduzione all’ermeneutica, S. 30–33, 31. Zu Augustin jetzt Drecoll, in: Nüssel (Hrsg.), Schriftauslegung, S. 123–129.

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beruhen, auch wenn, wie sogleich zu zeigen sein wird, das Meinungsbild im 19. Jahrhundert alles andere als eindeutig war. Hingegen erhielt sie sich relativ unangefochten im französischen (und englischen) Recht, von wo sie in das internationale und europäische Recht gelangte.51 Deutlich wird die Unsicherheit aber auch an der gleichsam spiegelbildlichen Problematik, 39 die im Zentrum unserer Betrachtungen steht: wo nämlich die Auslegung endet, ob es extensive Auslegung in dem Sinne geben kann, dass der Wortlaut überschritten wird, inwieweit Analogien gezogen werden können, ob man diese als Auslegung oder als Rechtsfortbildung anzusehen hat. Die Leistungsfähigkeit des Wortlauts zeigt sich sozusagen an der unteren ebenso wie an der oberen Grenze der Auslegung: bei der Auslegungsbedürftigkeit „klarer“ Texte wie dort, wo die Auslegungstauglichkeit eines Textes angesichts weitgehender Auslegungsvorschläge mittels der „Wortlautgrenze“ bestimmt werden soll. In methodologischer Hinsicht ist das Grundproblem dieser beiden Grenzen dasselbe: Ob man einen Text überhaupt interpretieren und ob man etwas Bestimmtes in ihn hineinlesen darf, das kann beides am Wortlaut nur dann gemessen werden, wenn dieses Kriterium wirklich einen sicheren Führer darstellt. Damit ist zugleich die heute im Vordergrund stehende Frage berührt, wie weit die Hand40 lungsmöglichkeiten des Richters gehen. Hier handelt Savigny politisch unter den Bedingungen des fortwirkenden aufgeklärten Absolutismus, der weitgehender Richterfreiheit misstraute, philosophisch aber in dem Bewusstsein, dass es eben auch auf die Fähigkeiten des Interpreten ankomme. Daraus resultiert innere Spannung: Das Abgehen von der strikt regelgeleiteten Aufklärungshermeneutik und die Aufwertung der Rolle des Interpreten führten dazu, dass Savigny dem Wortlaut eine nur eingeschränkte Rolle bei der Abgrenzung verschiedener Formen richterlicher Rechtserkenntnis einräumte. Inwieweit diese Spannung dazu beigetragen hat, dass Savignys Auslegungslehre im ganzen 19. Jahrhundert umstritten blieb,52 ist hier nur anzudeuten. Diese Lehre konnte jedenfalls nicht so prägend wirken wie viele dogmatische Ansätze Savignys.

3. Überblick: Folgeentwicklungen im deutschen und französischen Rechtsdenken 41 Ein historisches Paradoxon: Savigny trägt dazu bei, dass der Wortlaut nur begrenzte Bedeutung

hat; er unterminiert den Glauben an die sens clair-Regel und bezieht auch die „klaren“ Fälle in den Bereich des Auszulegenden ein. Andererseits trennt er jedenfalls sprachlich Auslegung und Analogie (näher Rn. 52, 66–74, 78). Damit bedurfte die Historische Schule eines Abgrenzungskriteriums – das sie bei ihrem Gründer freilich so eindeutig nicht fand. Eine Wortlautorientierung bei Savigny kann zwar anhand bestimmter früher Texte konstruiert werden; als „Wortlautgrenze“ fasst er selbst sie jedenfalls nicht. Auf der anderen Seite bleibt die klassische, regelgeleitete Aufklärungshermeneutik in Deutschland präsent, was ihre Umsetzung in einzelne juristische Auslegungsregeln betrifft, und zwar bis zum heutigen Tag. Noch stärker lebt sie in Frankreich fort, wo man naturrechtliche und rationalistische Tradition in der Form aufnahm, in der Zachariä rezipiert wurde. Die letztgenannte Richtung trennt nicht anhand einer Wortlautgrenze zwischen extensiver Auslegung und Analogie, obwohl sie klare Wortlaute für denkbar hält. Damit entsteht in der deutschen Historischen Rechtsschule eine bemerkenswerte methodi42 sche Unübersichtlichkeit und in Frankreich eine vergleichsweise einheitliche Auffassung zur Zulässigkeit der interprétation par analogie. Das Aufkommen methodologischer Modernisierungs-

_____ 51 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 17 f. 52 Dazu sogleich sub V. (Rn. 79 ff.); s. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 224 f.; Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 97–122, 230 f. Auch in diesem Sinne haben wir es jedenfalls mit einem „langen 19. Jh.“ zu tun: Die vor Erlass des BGB geführte Diskussion wirkte nach 1900 fort; dazu jetzt Haferkamp, AcP 214 (2014), 60.

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bewegungen in beiden Ländern ändert an diesem Befund für lange Zeit nichts: Die Freirechtsschule bleibt minoritär, die école de la libre recherche scientifique setzt sich durch, sieht aber gleichfalls kein Bedürfnis für eine strikt wortlautorientierte Trennung von Auslegung und Analogie (vgl. Rn. 98 ff.). Beide Rechtskulturen und damit Europa stehen weiterhin vor fortdauernden Anwendungs- 43 problemen: Je weiter sich in Deutschland später die Lehre von der Wortlautgrenze durchsetzt, desto deutlicher stellt sich die – im Ansatz eben nicht gelöste – Frage, ob es einen klaren Wortlaut überhaupt geben könne; je mehr sich in Frankreich die Vorstellung verfestigt, es gebe „analogische Interpretation“ oder „Interpretation durch Analogie“, desto mehr fragt sich, warum und gegebenenfalls wie man diese von sonstigen Formen der Auslegung zu unterscheiden habe. Mit diesen Widersprüchen ging der Kontinent in die europäische Integration. Verbindendes 44 Element der kontinentaleuropäischen Tradition ist gerade die Unklarheit der Abgrenzung zwischen Auslegung und Analogie.

IV. Kernpunkte der Methodenlehre Savignys Bei Savigny unterscheidet man traditionell eine frühe Phase, gekennzeichnet durch die Marbur- 45 ger Methodologievorlesungen von 1802/1803, und eine späte im ersten Band des „System des heutigen römischen Rechts“ von 1840. Einzelheiten sind streitig. Eine wichtige Übergangsphase zeigt sich in den mittlerweile edierten Materialien zu seinen Landshuter Vorlesungen von 1809/1810. Die im „Beruf“ 1814 zu findenden Andeutungen gehen nach Savignys eigenen Vorstellungen im Wesentlichen auf die Methodenvorlesungen von Marburg und Landshut zurück.53

1. Vorlesungen Savigny betont immer wieder seine Ablehnung der aufklärerischen Schemata, und zwar aus me- 46 thodologischen Gründen. So steht in der Marburger Methodenvorlesung des Winters 180254 der berühmte Hinweis auf die „Rekonstruktion“:55 Gesetz soll einen Gedanken aussprechen um ihn objectiv zu machen und zu erhalten. Dieser Gedanke also soll nachgedacht, der Inhalt des Gesetzes nacherfunden werden. Interpretation = Reconstruction des Gesetzes. Wer es erklärt, muß es sich selbst wieder künstlich entstehen lassen, er muß sich selbst auf den Standpunct des Gesetzgebers stellen.

Das führt Savigny (mit erneuter Attacke gegen das überkommene Kategoriensystem) zu den vier 47 Elementen, dem grammatischen, logischen, historischen und systematischen. In der Marburger Methodenvorlesung56 heißt es weiter: Logischer Theil = genetische Darstellung des Gedankens den das Gesetz ausspricht. Grammatischer Theil = Darstellung des Mediums wodurch der Gedanke ausgesprochen worden.

_____ 53 Vgl. Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 101, 114. 54 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 93. 55 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 93. Später immer wieder in ähnlicher Form, s. etwa S. 143 f., 217, 251. 56 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 94. Leicht verändert in der Landshuter Version vom Sommersemester 1809 (aaO, S. 215, 217).

Baldus

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1. Teil: Grundlagen

Historischer Theil = Darstellung des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung des Moments überhaupt, in welchen das Gesetz fällt – Beyspiele.57 Beide lezte sind blos Bedingungen des ersten, welcher die eigentliche Interpretation unmittelbar enthält. Ferner: das Gesetz selbst soll objectiv seyn, d.h. es soll sich selbst aussprechen, also müssen alle Prämissen der Interpretation im Gesetz oder in allgemeinen Kenntnissen liegen, damit die Interpretation selbst allgemein und nothwendig sey. – Dadurch der Satz näher zu bestimmen: „man soll sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ – nämlich nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich ist.

48 Die Landshuter Methodenvorlesung von 1809 greift diese Gedanken auf: den Zusammenhang

von Auslegungsgegenstand und richtiger Kategorienbildung, den Begriff der ratio legis sowie die Unzulässigkeit der Analogie. Wie die verschiedenen Grundfehler der Aufklärungshermeneutik aus seiner Sicht zusammenhängen, entwickelt Savigny mit den folgenden Worten:58 1.) Falscher Begriff der Interpretation: „Erklärung eines dunkeln Gesetzes“ – dadurch wird die Interpretation etwas blos zufälliges, bey einem trefflichen Gesetz könnte sie gar nicht vorkommen, da sie gerade umgekehrt bey dem trefflichsten Gesetz am thätigsten und fruchtbarsten ist. Auf diesen falschen Begriff gründen sich zwey Eintheilungen: a) grammatische und logische, je nachdem die Dunkelheit durch Grammatik oder durch irgend eine andere, höhere Operation gehoben wird – aber jede Interpretation ist grammatisch und logisch zugleich, ja noch mehrere, obgleich Ein Element vorherrschend seyn kann (…) b) authentica, usualis (beide zusammen legalis) und doctrinalis – Interpretation ist gar nicht die Sache des Gesetzgebers, sondern des Juristen und Richters.

49 Damit steht der Rechtsanwender im Zentrum des Geschehens. Er bekommt durchaus keine abso-

lute Freiheit, aber er wird nicht an ein subjektives Meinen des Gesetzgebers gebunden. Der Jurist steht für Savigny eben nicht so weit unter dem Gesetzgeber wie der Theologe unter Gott; und er ist nicht so ausschließlich am geschichtlichen Inhalt eines Textes interessiert wie der historisch orientierte Philologe. So bleibt ihm die Entscheidungsfreiheit, die für den römischen Juristen bestimmend war. Savigny, gewiss ein konservativ und monarchisch gesonnener Mann, stellt sich den Juristen nicht als ein bloßes Medium des von anderen und Höheren bestimmten Sinnes vor. 50 Das führt zum – aus heutiger Sicht missverständlichen – Begriff der ratio des Gesetzes: Savigny versteht unter der ratio legis nicht etwa einen objektiven und folglich bindenden Gesetzeszweck, sondern ein subjektiv-historisches Moment, das er gerade nicht in den Vordergrund stellen will. Hier erklärt sich, warum der moderne Leser einen Begriff der „ratio legis“ im heutigen, objektiven, Sinne bei Savigny nicht findet – wohl aber das objektive Element der Auslegung, nur anders benannt. Die Passage lautet:59 2.) Falscher Grundsatz: man muß auf die Absicht des Gesetzgebers (nicht blos des Gesetzes) sehen, auf den Grund des Gesetzes (ratio legis, Zweydeutigkeit von ratio). Man behandelt also das Gesetz als Schlußsatz, sucht den Obersatz auf, und macht nach diesem das Gesetz selbst weiter oder enger, als es nach den Worten wirklich ist – interpretatio declarativa, extensiva, restrictiva. Eigentlich also nicht Interpretation, sondern Berichtigung des Gesetzes aus seinen Gründen unter dem Schein der Interpretation (…).

_____ 57 In diesem Satz sind die Worte „des historischen Gegenstands den das Gesetz bestimmt, vermittelst der Darstellung“ später von Savigny hinzugefügt worden. 58 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 221. 59 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 222. Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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Dass Zwecküberlegungen Savigny nicht fremd sind, zeigt die Passage zur Gesetzesumgehung in 51 der Obligationenvorlesung.60 Deshalb führt auch die These in die Irre, Savigny habe den Zweck als Auslegungsmittel verkannt, und erst Jhering habe ihn entdeckt.61 Selbstverständlich kannte Savigny den Zweck der Sache nach, so wie schon die Römer ihn kannten; so steht Jherings revolutionärer Gestus in einer gewissen Spannung zum realen Neuigkeitswert seines Ansatzes. Savigny hat freilich keinen gesonderten Kanon als „teleologische Auslegung“ benannt.62 Wer Savigny aber unterstellt, Zweckdenken sei ihm fremd gewesen, der unterschätzt ihn 52 nicht nur als Rechtsdogmatiker und Rechtspolitiker; er liest auch die Kanones als etwas, was sie erklärtermaßen gerade nicht sein wollen – sozusagen mit den Augen der von Savigny gerade überwundenen Hermeneutik oder mit denen späterer Schematisierung. Nähere Behandlung findet nun auch die Analogie. Hier nennt Savigny diese Figur zwar sprachlich eine „Interpretation“, lehnt sie aber noch deutlicher als vorher ab. Er unterscheidet (unter Berufung auf mehrere römische Stellen, die verba und Sinn eines Gesetzes begrifflich gegenüberstellen):63 Es gebe eine zulässige Auslegung des auf einen Einzelfall bezogenen Gesetzes als allgemeine Regel; unzulässig sei hingegen „die Analogie, d.h. die nothwendige Ergänzung der Gesetzgebung64 wo sie schweigt (…) Jenes nun ist unerlaubt, weil es dem allgemeinen Zweck des Gesetzes und der Interpretation widerspricht. Dieser Zweck ist, irgend ein Rechtsverhältniß zu fixiren, objectiv zu machen, also seine Beurtheilung aller Willkühr, allem Zufall individueller Ansicht zu entziehen – das ist nur möglich dadurch, dass man sich genau an das bindet, was das Gesetz als Regel ausspricht.“65

Solche Ergänzung aber sei unzulässig selbst dann, wenn der „Grund des Gesetzes“ im Gesetz 53 selbst genannt sei. Zulässig sei eine Analogie nur in gesetzlich nicht entschiedenen Fällen: Dann habe der Richter das Gesamtsystem in den Blick zu nehmen, das seinerseits aus den „Resultaten der Interpretation (…) in ihrem innern und nothwendigen Zusammenhang“ bestehe;66 er solle „entscheiden nach Analogie, indem er die Gesetzgebung aus sich selbst ergänzt, indem er in anderen Gesetzen die höhere Regel aufsucht, aus welcher der gegebene Fall zu entscheiden ist – Unterschied von der oben verworfenen interpretatio extensiva: hier ist gar nicht von der Interpretation die Rede, es wird gar nicht behauptet, dass der gegebene Fall in irgend einem Gesetz entschieden, sondern dass er vergessen sey, und dass er consequenterweise so entschieden werden müße.“

Damit sind im Zuge der Methodenvorlesungen zwei Punkte genannt, die vorsichtig in die Richtung 54 einer Art von Wortlautgrenze deuten, wohlgemerkt für ein „Gesetz“, das im Regelfall das römische war: Der Gedanke, dass das Gesetz „sich selbst aussprechen“ soll, dass „man sich auf des Gesetzgebers Standpunct stellen“ soll, „nur insofern das aus dem Gesetz selbst unmittelbar möglich

_____ 60 Edition Avenarius, Savigny, Pandekten. 61 Die Genese dieses Vorurteils lohnte eine selbständige Betrachtung. 62 Differenzierend zu objektiven und subjektiven Momenten in Savignys Auslegungslehre nunmehr Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 84–89. 63 D. 1,3,17 (Cels. 26. dig.): verba/vis und potestas, dazu Harke, Argumenta, Iuventiana (1999), S. 68 f., und Quadrato, L’interpretazione della legge in Celso, D. 1,3,29 (Paul. l. sg. leg. Cinc.): verba/sententia; C. 1,14,5 (Theod./ Valent., a. 439): verba/voluntas. 64 Ursprünglich statt „der Gesetzgebung“: „des Systems“. Vgl. Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 222, Fn. k. 65 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 222 f. (Hervorhebungen im Original). 66 Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 224, 226. Baldus

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1. Teil: Grundlagen

ist“, setzt eine semantische Grenze der Normaussage voraus. Gleiches gilt für die Erwägung, dass Dinge nicht aus dem Gesetz erkennbar sein können, dass es also auch schweigen kann. Bemerkenswert ist in der Landshuter Methodenvorlesung noch der Hinweis, dass die „Kunst 55 des Gesetzgebers“ die sei, den Weg zur Entscheidung neuer Fälle vorzuzeichnen. Die Kunst des Interpreten hingegen sei die, „recht viel im Gesetz zu finden“.66a Das verweist auf die wenige Jahre später im „Beruf“ (u. Rn. 57) geäußerten Zweifel an der aufklärerischen Vorstellung vom vollständigen Gesetz. Hier wird deutlich, wie Savigny ein gutes Gesetz mit verbleibender Freiheit des Juristen vereinbaren kann. In diesem Punkt hatten sich die Verhältnisse seit römischer Zeit so weit verändert, dass unter den neuen rechtspolitischen Verhältnissen die kreative Rolle des Juristen anders gedacht und gesichert werden musste. Savigny teilt insoweit Grundanliegen der Aufklärung, als er dem Gesetz methodisch Vorrang 56 vor Spekulationen über subjektive Zwecksetzungen des Gesetzgebers gibt. Der Objektivierung dient vor allem die Reflexion über die Eingriffssituation, die Savigny in der Gesetzgebung sieht, wie aus den vier Elementen (oben Rn. 47, 63) resultiert. Damit ist am Ende doch wieder der Interpret am Zuge, weil bei ihm die Beurteilung liegt. Die Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie erfolgt nicht nach einer so bezeichneten Wortlautgrenze, sondern über die Bestimmung dessen, was man – modern – vielleicht eine Lücke nennen könnte: Eine historische und systematische Analyse der Gesetzgebungssituation kann ergeben, dass eine Norm nötig ist.

2. Der „Beruf“ 57 Im „Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“67 finden sich immerhin Andeu-

tungen zu den „leitenden Grundsätze[n]“68 des Rechts, die zu erkennen das eigentlich Wissenschaftliche an juristischer Arbeit ausmache. Die Methode der römischen Juristen kennzeichne sich durch:69 „das Festhalten am Herkömmlichen, ohne sich durch dasselbe zu binden, wenn es einer neuen, volksmäßig herrschenden Ansicht nicht mehr entsprach. Darum zeigt die Geschichte des Römischen Rechts bis zur classischen Zeit überall allmähliche, völlig organische Entwicklung. Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft, und ihr so die Bestimmtheit und Ausbildung derselben zugewendet. Dieses ist der Begriff der Fiction, für die Entwicklung des Römischen Rechts höchst wichtig und von den Neueren oft lächerlich verkannt: so die bonorum possessio neben der hereditas, die publiciana actio neben der rei vindicatio, die actiones utiles neben den directae. Und indem auf diese Weise das juristische Denken von der größten Einfachheit zur mannigfaltigsten Ausbildung ganz stetig und ohne äußere Störung oder Unterbrechung fortschritt, wurde den Römischen Juristen auch in der späteren Zeit die vollendete Herrschaft über ihren Stoff möglich, die wir an ihnen bewundern.“70

58 Savigny hütet sich freilich davor, das Methodische auf konkrete Anwendungsfragen herunterzu-

brechen. Vielmehr dient ihm das römische Recht dazu, ein Gegenbild zur kodifikatorischen Tendenz aufzubauen. Ohne Rückprojektionen war dies freilich nicht möglich. Savigny wusste natür-

_____ 66a Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 219. 67 Hier zitiert nach der heute maßgeblichen Edition von erster Auflage (1814) und „Vorrede der zweyten Ausgabe“ von 1828: Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 215–300, 301–304. 68 Vgl. dazu auch Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), S. 265 f. 69 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 35 der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 215, 233. 70 Savigny, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), S. 32 f. der Originalausgabe = Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 215, 231 f. Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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lich, dass auch Rom punktuell Gesetzgebung kannte, dass eine linear-organische Entwicklung in der behaupteten Form in Rom nicht stattgefunden hatte, dass die Fiktionen des römischen Rechts wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprachen und das Werk einer hochqualifizierten Funktionselite waren. Die fictio setzt immer am Prozess an. Es werden bestehende actiones, soweit möglich, nur verändert; und der klassische Formularprozess war durch das Edikt geregelt, funktionell betrachtet also in einem Gesetz (oben Rn. 22; vgl. Harke, in diesem Band, § 5 Rn. 13–18). Wenn man überhaupt historische Parallelen ziehen wollte, dann müssten sie wohl eher zur 59 Einzel- als zur Gesamtanalogie führen (unten Rn. 74): Ob eine bestimmte Konstellation bei der einen actio ebenso zu behandeln sei wie bei der anderen, wo bereits Einigkeit über die beste Lösung bestand, pflegte die Römer weit mehr zu interessieren als „allgemeine Grundsätze“. Diese entstanden erst bei solcher Fallanalyse, und nicht „organisch“ von frühester Zeit an, sondern vor allem seit spätrepublikanischer Zeit unter griechischem Einfluss. Wenn es eines Beweises dafür bedürfte, dass Savigny all dies klar vor Augen stand, dann lie- 60 ferten ihn seine Notizen zur Methodenvorlesung: Nicht zusammengefasste Inhalte des römischen Rechts aus „Institutionencompendien“ sollten die Studenten lernen, sondern System und Methode, und zwar an ausgewählten Originaltexten, um sich später bei Bedarf in beliebige Quellen einarbeiten zu können;71 sie sollten selbst an den Normtexten arbeiten können. Er schlug also ein didaktisches Prinzip vor, das gerade von der naturrechtlichen Konstruktion und akademischen Vermittlung „leitender Grundsätze“ abwich. So blieb die Kompetenz dazu, solche Grundsätze zu konstruieren und zu postulieren, am 61 Ende in der Hand der Juristen. Im „Beruf“ ging es Savigny darum, die gesetzliche Fixierung solcher Grundsätze abzuwehren, angeblich wegen der Unfähigkeit der Zeit hierzu. Er vermeidet es dabei bewusst, die Konsequenzen seiner Ansicht für Auslegung und Analogie darzustellen. Die aufklärerische Kritik am Richter, dem niemand ins Dickicht der unkodifizierten Normen folgen könne, wird nicht defensiv angegangen. Vielmehr kontert Savigny durch Kritik an den Gesetzbüchern, die aus dieser Kritik erwachsen waren. Seinem rechtspolitischen Ziel, dem Richter auch unter den nunmehr herrschenden Bedingungen Bewegungsfreiheit zu lassen, war damit am besten gedient.

3. Das „System“ Ähnlich wie in der Methodenvorlesung schreibt Savigny im „System“:72

62

„Jedes Gesetz ist dazu bestimmt, die Natur eines Rechtsverhältnisses festzustellen, also irgend einen Gedanken (…) auszusprechen, wodurch das Daseyn jenes Rechtsverhältnisses gegen Irrthum und Willkühr gesichert werde. Soll dieser Zweck erreicht werden, so müssen Die, welche mit dem Rechtsverhältniß in Berührung kommen, jenen Gedanken rein und vollständig auffassen. Dieses geschieht, indem sie sich in Gedanken auf den Standpunkt des Gesetzgebers versetzen, und dessen Thätigkeit in sich künstlich wiederholen, also das Gesetz in ihrem Denken von Neuem entstehen lassen. Das ist das Geschäft der Auslegung, die wir daher bestimmen können als die Reconstruction des dem Gesetze innewohnenden Gedankens.“

_____ 71 Die preußische und die französische Studienreform in Savignys Zeit litten nach seiner Meinung an demselben Fehler: der Versuch, den Geist des römischen Rechts durch eine „allgemeine Übersicht seiner Grundsätze“ zu vermitteln: Institutionenvorlesung 1808/1809, nach Mazzacane (Hrsg.), Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, S. 213. Vgl. die Passagen zur Juristenausbildung in beiden Ländern im „Beruf“: Akamatsu/Rückert (Hrsg.), Savigny, Politik und Neuere Legislationen, S. 287–290 (S. 138–143 der Originalausgabe). 72 Savigny, System I, S. 212 f. Baldus

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63 Die berühmte Darstellung der einzelnen Auslegungselemente im „System“ nun lautet:73 „Das g r a m m a t i s c h e Element der Auslegung hat zum Gegenstand das Wort, welches den Übergang aus dem Denken des Gesetzgebers in unser Denken vermittelt. Es besteht daher in der Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze. Das l o g i s c h e Element geht auf die Gliederung des Gedankens, also auf das logische Verhältniß, in welchem die einzelnen Theile desselben zu einander stehen. Das h i s t o r i s c h e Element hat zum Gegenstand den zur Zeit des gegebenen Gesetzes für das vorliegende Rechtsverhältniß durch Rechtsregeln bestimmten Zustand. In diesen Zustand sollte das Gesetz auf bestimmte Weise eingreifen, und die Art dieses Eingreifens, das was dem Recht durch dieses Gesetz neu eingefügt worden ist, soll jenes Element zur Anschauung bringen. Das s y s t e m a t i s c h e Element endlich bezieht sich auf den inneren Zusammenhang, welcher alle Rechtsinstitute und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verknüpft (…). Dieser Zusammenhang, so gut als der historische, hat dem Gesetzgeber gleichfalls vorgeschwebt, und wir werden also seinen Gedanken nur dann vollständig erkennen, wenn wir uns klar machen, in welchem Verhältniß dieses Gesetz zu dem ganzen Rechtssystem steht, und wie es in das System wirksam eingreifen soll.

64 Diese Elemente verstehen sich nicht im Sinne eines Gesamtkanons mit Ausschluss- und Vor-

rangregeln,74 sondern im Sinne einzelner Kanones, mittels derer der Interpret sich in den Text hineindenkt. Das wird im „System“75 gleichfalls deutlich: „Mit diesen vier Elementen ist die Einsicht in den Inhalt des Gesetzes vollendet. Es sind also nicht vier Arten der Auslegung, unter denen man nach Geschmack und Belieben wählen könnte, sondern es sind verschiedene Thätigkeiten, die vereinigt wirken müssen, wenn die Auslegung gelingen soll. Nur wird freylich bald die eine, bald die andere wichtiger seyn und sichtbarer hervortreten, so dass nur die stete Richtung der Aufmerksamkeit nach allen diesen Seiten unerläßlich ist, wenngleich in vielen einzelnen Fällen die ausdrückliche Erwähnung eines jeden dieser Elemente als unnütz und schwerfällig unterlassen werden kann, ohne Gefahr für die Gründlichkeit der Auslegung.“

65 „Nachvollziehen“ und „Rekonstruktion“76 bezeichnen also nicht den Versuch, den historischen

Gedanken des Gesetzgebers im Sinne der subjektiven Auslegungstheorie77 abschließend zu ermitteln, sondern sie sollen gerade eine zeitgemäße Normanwendung ermöglichen.78 Jedenfalls

_____ 73 Savigny, System I, S. 213 f. 74 Solche Regeln bekämpft Savigny (wohlgemerkt als eine seinerzeit herrschende Ansicht) für das Verhältnis von grammatischer und logischer Auslegung weiterhin im „System“ (Bd. I, S. 319 f.). Sein Grund gegen feste Rangregeln ist nach Rückert (Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny [1984], S. 352 f.) das Bemühen um ganzheitliche Erfassung des „einheitlichen Gegenstandes“ hinter konkreten Texten (oder einer bestimmten Textart), das durch textartspezifische Rangregeln gefährdet sei. Bei der Lektüre einiger späterer Autoren des 19. Jh. drängt sich freilich der Eindruck auf, dass dort eine „Gesamtbetrachtung“ aus weitaus prosaischerem Grunde postuliert wird: wegen der methodologischen Unsicherheit hinsichtlich einzelner Kriterien (u. Rn. 82, 89, 94). Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 238, sieht die Gleichwertigkeit des grammatischen Elements mit den anderen beim frühen Savigny gerade darin, dass eine Überschreitung des Wortlautes nicht in Frage gekommen sei. 75 Savigny, System I, S. 215. 76 Zum geistigen Hintergrund Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 24–27. 77 Ob man Savigny ihr zurechnen kann, ist str.; s. nur Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 124–129, und Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 84–89. 78 Vgl. Meder, Grundprobleme, S. 26 mit Fn. 22: Es komme Savigny „weniger auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Inhalts einer Rechtsquelle als auf die Ermittlung ihres gegenwärtigen Sinnes an“.

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im Ergebnis gewinnt der Richter so Handlungsfreiheit. Deswegen handelt es sich auch nicht um eine subjektiv-historische Auslegung im heutigen79 Sinne;80 die historische Auslegung Savignys trägt einige der Funktionen, die wir heute der objektiv-teleologischen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegung zuweisen (Rn. 36 f., 50 ff.). Das leuchtet aus dem Grundanliegen der Historischen Schule unmittelbar ein: Geht es nicht darum, die Unübersichtlichkeit der bestehenden Rechtsquellen möglichst schnell und umfassend durch ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu beheben, sondern darum, aus diesen überkommenen Quellen ein organisches Ganzes entstehen zu lassen, dann müssen sie durch geschichtlich bewusstes Durchdenken für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Dazu aber braucht der Jurist methodische Bewegungsfreiheit. Dass die Grenze der Auslegungskunst gerade im Sinne der Lehre vom Wortlaut grammatisch zu bestimmen sei, ist nicht gesagt; es folgt auch nicht daraus, dass im „System“ das grammatische Element als „die Darlegung der von dem Gesetzgeber angewendeten Sprachgesetze“ bestimmt wird:81 Der Begriff der „Sprachgesetze“ ist weiter als der des „Wortlauts“. Überdies unterfällt auch das grammatische Element der genannten Metaregel, der zufolge eine Zusammenschau aller Kanones erforderlich ist und Vorrang eines Elements nicht angenommen werden kann. Umso mehr fragt sich, wo dann die Grenzen der Analogie liegen sollen. Dieses Institut hatte bemerkenswerte Veränderungen durchgemacht:82 Das 16. und 17. Jahrhundert kennt die Analogie der Sache nach im Rahmen der juristischen Topik, als Ähnlichkeitsschluss, verwendet den Begriff analogía aber nicht in diesem Sinne. Mit dem Niedergang der Topik als wissenschaftlicher Methode im 17. und 18. Jahrhundert geht diese Zuordnung des Ähnlichkeitsschlusses verloren; er überlebt diesen Niedergang als einziger Topos, den die Juristen noch akzeptieren. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts bekommt er auch den Namen Analogie, jedoch ohne sachlichen Unterschied zur „ausdehnenden Auslegung“. Erst indem man zu Beginn des 19. Jahrhunderts damit beginnt, den sprachlich möglichen Sinn als Grenze der Auslegung zu identifizieren, kann sich der Analogieschluss als definierter Bestandteil des juristischen Methodeninstrumentariums jenseits dieser Grenze etablieren (unten Rn. 79). Dieser Prozess aber findet jedenfalls bei den frühen Pandektisten noch nicht seinen Abschluss. Savigny fördert diese Entwicklung; und er bemüht sich im „System“ auch um die Bestimmung einer Grenze der Analogie. Diese ist systematisch aus dem positiven Recht zu bestimmen: Analogie ist nur in Gesetzeslücken möglich, und das Ergebnis darf anderen Normen nicht widersprechen.83 Fraglich ist, welche Tragweite dieser Ansatz in erst entstehenden Systemen hat: Setzt er Vollständigkeit des Systems voraus? Oder ist lediglich Widerspruchsfreiheit unter den vorhandenen Systemelementen verlangt?

_____ 79 Die Vielfalt der Definitionen und Verständnisse hinsichtlich dieses Kanons ist hier nicht wiederzugeben; vgl. differenzierend etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 78 III, 79 I (S. 619 f., 627 f.). Gemeinsam ist den meisten, dass ermittelt werden soll, was die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen wollten. Genau dort setzen Zweifel an; s. jetzt Baldus/Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. 80 Vgl. nochmals Huber, JZ 2003, 1–17; Meder, Grundprobleme, S. 124. Zur weiteren Entwicklung der historischen Auslegung (vor allem der zeitgenössischen Gesetze) vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 233 f. 81 Savigny, System I, S. 214. 82 Zum Folgenden ausführlich Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55. Über die antike Begrifflichkeit bereits oben Rn. 25. 83 Savigny, System I, S. 294: „(…) das ganze Verfahren nach Analogie beruht ja lediglich auf dem inneren Zusammenhang des Rechtssystems“; vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 155 ff., und zum Systemdenken bereits aufgrund der Methodologievorlesungen Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55, 45. Baldus

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An der Unzulässigkeit extensiver Auslegung (im Sinne einer Korrektur des gesetzlichen Gedankens) hält Savigny dem Grundsatz nach auch im „System“ fest.84 Freilich unterscheidet er nicht primär nach dem Wortlaut, sondern maßgeblich nach dem Grund des Korrekturbedarfs. Dass dies zu mannigfachen Abgrenzungsproblemen führt, sieht Savigny selbst deutlich. In § 37 heißt es zur „Auslegung mangelhafter Gesetze“ abschließend:85 „Ist nun also der specielle Gesetzgrund zur Berichtigung des Ausdrucks zulässig, der generelle unzulässig, so muss zugleich daran erinnert werden, dass es zwischen diesen beiden Arten von Gründen keine scharfe Gränze giebt (§ 34). Durch die mancherley allmäligen Übergänge, die sich hierin bilden, wird oft die Möglichkeit wahrer Auslegung zweifelhaft, und die Unterscheidung derselben von Fortbildung des Rechts schwierig werden. Dagegen ist es durchaus keinem Zweifel unterworfen, dass das dritte oben angegebene Hülfsmittel, der innere Werth des Resultats (§ 35), auf die Erkenntnis und Verbesserung des unrichtigen Ausdrucks niemals angewendet werden darf. Denn es ist einleuchtend, dass darin nicht eine Ausgleichung des Ausdrucks mit dem Gedanken, sondern eine versuchte Verbesserung des Gedankens selbst, enthalten seyn würde. Dieses kann als Fortbildung des Rechts heilsam seyn, von einer Auslegung kann es nur den Namen an sich tragen.“

71 An anderer Stelle86 formuliert er die Gegenposition so: Ausdehnende oder einschränkende Aus-

legung sei „eine Berichtigung des wirklichen Gedankens selbst (…) durch Zurückführung auf denjenigen Gedanken, den das Gesetz hätte enthalten sollen“; dies unter ausdrücklicher Abstraktion vom realen Bewusstsein des realen, personifizierten Gesetzgebers:87 „Dabey ist es gleichgültig, ob der Gesetzgeber mit Bewußtseyn einen logischen Fehler gemacht hat, oder ob er nur versäumte, an die consequenten Anwendungen des Grundes zu denken, wodurch man ihn jetzt berichtigt;(…).“

72 Das aber sei unzulässige, dem Ausleger als solchem, namentlich dem Richter nicht gestattete

Rechtsfortbildung, eine „Gränzverwirrung zwischen wesentlich verschiedenen Thätigkeiten“88 – Savigny freilich lehnt sie wiederum nicht wegen einer Überschreitung der Wortlautgrenze ab, sondern wegen eines Übergriffs auf den Gesetzesinhalt. Hingegen setzt er den „bloßen Buchstaben“ mit dem „Schein des Gesetzes“ gleich.89 Damit ist die Grenze von Auslegung und Analogie ausdrücklich nicht über den Wortlaut bestimmt. Darin liegt immerhin eine Akzentverschiebung gegenüber den frühen Ausführungen zur Methodenlehre, freilich keine so radikale Wende, wie oftmals behauptet worden ist. Die Analogie nun akzeptiert Savigny zum einen als Schaffung eines dem positiven Recht bis73 lang unbekannten Instituts, zum anderen

_____ 84 So knapp Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 137 gegen eine verbreitete Meinung, vgl. für diese etwa Bühler, in: Schröder (Hrsg.), Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik – Rechtswissenschaft, Philosophie, Theologie (2001), S. 331; neuestens mit beachtlichen Gründen Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 94 ff. 85 Savigny, System I, S. 240. Dass durch die Möglichkeit, einen unrichtigen Ausdruck im Wege der Auslegung zu korrigieren, die Abgrenzung von Auslegung und Analogie bei Savigny wieder unsicher wurde, betont Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 223. Vgl. zur Struktur der Ausführungen im „System“ Rückert, in: ders. (Hrsg.), Fälle und Fallen in der neueren Methodik des Zivilrechts seit Savigny (1997), S. 47 ff. 86 Savigny, System I, S. 321. 87 Savigny, System I, S. 321. 88 Savigny, System I, S. 322. 89 Savigny, System I, S. 322. Baldus

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„und viel häufiger, wenn in einem schon bekannten Rechtsinstitut eine einzelne Rechtsfrage neu entsteht. Diese wird zu beantworten seyn nach der inneren Verwandtschaft der diesem Institute angehörenden Rechtssätze, zu welchem Zweck die richtige Einsicht in die Gründe der einzelnen Gesetze (§ 34) sehr wichtig sein wird“.90

Freilich: Für Savigny ist „analogische Rechtsfindung“ nicht gleichbedeutend mit Rechtsfortbildung, sondern lediglich „Anstoß zur Fortbildung des Rechts, z.B. durch Gesetzgebung, in welchem Fall sie mit größerer Freyheit geübt werden kann“.91 Es versteht sich, dass von diesem Ausgangspunkt die Kategorien andere sein müssen als bei 74 der modernen Dichotomie von Auslegung diesseits, Analogie jenseits der Wortlautgrenze. Vielmehr unterscheidet Savigny, wie gesehen, danach, ob ein unrichtig gewählter Ausdruck aus dem „wirklichen Gedanken“ des Gesetzes korrigiert wird (ausdehnende Auslegung) oder ob eine Lücke vorliegt, so „dass es an dem wirklichen Gedanken irgend eines leitenden Gesetzes gänzlich fehlt, und wir suchen uns über diesen Mangel durch die organische Einheit des Rechts hinweg zu helfen“:92 nämlich anhand von „solchen Bestandtheilen der Rechtstheorie (…), die selbst schon auf dem künstlichen Wege der Abstraction entstanden waren“.93 Wir befinden uns also, modern gesprochen, im Felde der Gesamtanalogie, getragen vom Systemgedanken (vgl. bereits Rn. 59). Für Savigny geht es nicht um Sonderformen der Anwendung gesetzten Rechts, sondern um das Rechtssystem insgesamt. Die Wurzeln seiner Konzeption können hier weder in philosophischer94 noch in historischer 75 Hinsicht ausgeleuchtet werden. Savigny selbst nimmt „die Römer“ zunächst für seine Begriffsbildung in Anspruch, nennt insoweit freilich keine Juristen.95 Sie hätten „von der Ergänzung des Rechts durch Analogie sehr richtige Ansichten, nur unterscheiden sie in der Anwendung derselben nicht überall die Fortbildung des Rechts von der reinen Auslegung; von dieser Vermischung werden die Gründe weiter unten angegeben werden“.96

Diese „Gründe“ sieht Savigny, wie er in einer bemerkenswerten Passage schreibt, darin, 76 dass die Auslegungspraxis der römischen Juristen nicht immer auf der Höhe ihrer eigenen Theorie gewesen sei:97 „[Die Praxis der römischen Juristen] geht oft weit über die Gränzen wahrer Auslegung hinaus, und nimmt den Character einer wahren Fortbildung des Rechts an. (…) Diese Widersprüche erklären sich aus der eigenthümlichen Stellung der Römischen Juristen, welche allerdings auch die Fortbildung des Rechts unmittelbarer in ihre Hände legte, als dieses bey uns angenommen werden kann (§ 19). (…) Indessen mögen auch schon die alten Juristen selbst die unsichere Gränze erkannt haben, die dadurch zwischen ihrem eigenen Beruf, und den Befugnissen des Prätors oder gar des Kaisers entstehen musste; (…) In allen diesen Beziehungen stehen wir anders als sie, besonders wenn wir nicht unsere einheimischen Gesetze, sondern die uns so fern stehenden Justi-

_____ 90 Savigny, System I, S. 291. 91 Savigny, System I, S. 291 f. 92 Savigny, System I, S. 293. 93 Savigny, System I, S. 292. 94 Vgl. nochmals Rn. 33 f. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 94 f. u.ö. Savigny, System I, S. 291 Fn. a, beruft sich für „das eigentliche Wesen der Analogie“ auf „Stahl Philosophie des Rechts II.1. S. 166“ (= F.J. Stahl, Die Philosophie des Rechts nach geschichtlicher Ansicht, Bd. II (1833); vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 155, 170). Zu Stahl und Savigny Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), insbes. S. 291–295. 95 Savigny, System I, S. 291: Varro, Gellius, Isidor – also immerhin Personen, die zwar keine iuris prudentes im üblichen Sinn waren, aber doch juristische Interessen kultivierten. 96 Savigny, System I, S. 294 f. 97 Savigny, System I, S. 297 ff. Baldus

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1. Teil: Grundlagen

nianischen auszulegen haben. Unsere Lage ist darin ungleich schwieriger; aber hier (…) ist die durch die Schwierigkeit gebotene Anstrengung nicht ohne Frucht geblieben. Der Begriff und die Gränze wahrer Auslegung ist dadurch unter uns zu einer schärferen Ausbildung gelangt, als jemals bey den Römern, denen eine gleiche Nothwendigkeit nicht auferlegt war.“

Im Folgenden geht es namentlich um den référé législatif bei Justinian. Savigny sucht also in den römischen Quellen das, was seine Zeit beschäftigt; und dort sucht oder findet er einiges zum „Zweifel“ als Voraussetzung für die Pflicht zur Anfrage an den Kaiser, aber nichts zur Wortlautgrenze.98 Die aus moderner Sicht naheliegende Verbindung von Richterbindung und Orientierung am Wortlaut ist bei ihm gedanklich vorgezeichnet, aber jedenfalls nicht eindeutig zu Ende geführt. So lässt sich resümieren: Die Rechtsfortbildung ist auch nach dem späten Savigny in gewis78 sen Grenzen gestattet, nur unterscheidet er sie nicht nach dem Wortlautkriterium von der Auslegung. Eine entsprechende Unterscheidung hat sich, wie im nächsten Abschnitt (V.) zu zeigen sein wird, auch im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts in Deutschland nicht sicher etablieren können. Es gibt also in der deutschen Rechtswissenschaft keine einheitlich in die Richtung dieses Kriteriums weisende Tradition; und auch in der französischen sowie in den Überschneidungsgebieten französischer und deutscher Tradition nicht. Hier liegt ein historischer Grund dafür, dass es vermutlich nicht gelingen wird, die auf eben dieser Unterscheidung beruhende heutige deutsche Methodenlehre zur Gänze nach Luxemburg zu „exportieren“. 77

V. Deutsche Pandektenwissenschaft im 19. Jahrhundert 1. Voraussetzungen 79 Die Entwicklung bis in die ersten Jahrzehnte des BGB kann hier nur im Überblick nachgezeich-

net werden.99 Es entstehen zahlreiche Streitfragen, aber keine einheitliche Linie zu unserem Problem, schon gar nicht in dem von Savigny angeregten Sinne.100 Zuerst wird überhaupt eine Unterscheidung zwischen Auslegung und Analogie eingeführt, oft mit Andeutungen, die bereits in die Richtung der Wortlautgrenze weisen,101 oft auch unter Kritik an den bisherigen Kategorien der restriktiven, deklarativen und extensiven Auslegung102 oder daran, dass diese Kategorien nicht entschlossen genug beseitigt würden;103 aber erst allmählich wird die Wortlautgrenze als maßgeblich identifiziert.104 Bisweilen erscheinen die Kategorien auch nebeneinander.

_____ 98 Savigny, System I, S. 309 ff., 309. 99 Vgl. hier nur Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 220 ff.; Haferkamp, AcP 214 (2014), 60. 100 Oben Rn. 69–74 und nochmals Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 1–55, 35–39. 101 Vgl. etwa Gönner, Deutsches Staatsrecht (1805) 23 (zur Analogie: „der Rechtssatz darf weder geradehin noch mittelbar in dem Gesetze schon liegen“). 102 Hingegen trägt noch deutlich später und in strafrechtlichem Zusammenhang Binding keine Bedenken, die Analogie nach gemeinem Recht für grundsätzlich zulässig zu halten und für die Anwendung des StGB eine Umgehung des Analogieverbotes „optima fide durch sog. ausdehnende Auslegung“ zu empfehlen: Binding, Handbuch des Strafrechts, Erster Bd. (1885), S. 218 ff., 219. 103 Vgl. etwa Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 71–75; günstiger zu Thibaut: S. 75 f. 104 So etwa bei Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 85 (wörtliches Zitat sogleich im Sachtext). Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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2. Überblick zu einzelnen Autoren Hufeland kennt die Wortlautgrenze105 und ausdrücklich diesseits derselben die drei Arten der 80 Auslegung.106 Sachlich folgt daraus für ihn die Ablehnung der „ausdehnenden Auslegung“.107 Dem folgen alsbald weitere Autoren, teils unter Berufung auf andere, teils unter Hervorhebung der Neuigkeit, die in ihrer Lehre liege. Da zugleich ein – wenngleich nicht abschließendes108 – System des positiven Rechts postuliert wird, findet die Analogie nunmehr ihre Grundlage in logischen, nicht mehr in hermeneutischen Erwägungen.109 Das sozusagen staatsrechtliche Moment, der Wunsch nach Kontrolle des Richters, nenne man dieses Moment nun positivistisch,110 gewaltenteilend oder etatistisch, wird dabei selten angesprochen.111 Diese Position scheint geradewegs zur heutigen Betonung der Wortlautgrenze zu führen. Sie 81 bleibt anscheinend jedoch isoliert. Savignys Unterscheidung von Auslegung im engeren Sinne und „Auslegung vermittelst der Analogie“ wurde vielfach aufgegriffen und weitergeführt, sowohl bei späteren Autoren der deutschen Pandektistik als auch im Ausland. Eine systematische Untersuchung hätte diese Unterscheidung in sonstige Spannungsfel- 82 der einzubetten, die bei Lektüre der pandektistischen Werke deutlich werden: Manche argumentieren stärker historisch und zum römischen Recht, andere mehr aus dem im 19. Jahrhundert entstehenden System und auch zur Auslegung neuer Gesetze; manche lehnen sich (unter dem Schlagwort vom Willen des Gesetzgebers)112 stärker an die Rechtsgeschäftslehre an,113 andere mehr an öffentlich-rechtliche Erwägungen; viele bringen Detailkorrekturen an der überkommenen Terminologie an, bleiben aber dem traditionellen Schema der Auslegungsformen (grammatisch, logisch usw.) in unterschiedlicher Genauigkeit treu, bisweilen in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Savigny. Auch das strenge oder billige Recht wird erörtert, weiterhin die Frage, ob die Analogie nicht ein Drittes sei, ein Phänomen zwischen Auslegung und Anwendung; und es erscheint die Spannung zwischen Richterbindung und Verbot der Rechtsverweigerung. Eine solche systematische Lektüre hätte daher namentlich neuere Forschungsergebnisse zur Rechtsquellenlehre der Pandektenwissenschaft und zu den

_____ 105 „Keine Auslegung kann über den Wortverstand hinausgehen, den nemlich die gesetzliche Vorschrift in ihrer jetzigen Stelle und Verbindung haben kann“: Hufeland, Lehrbuch des in den deutschen Ländern geltenden gemeinen oder subsidiarischen Civilrechts, Bd. I (1808), S. 23. 106 AaO S. 24: „Alle Auslegung (…) kann nach verschiedenen Graden des Umfangs, den der gewöhnliche Wortverstand hat, ausdehnend, bloss erklärend, oder einschränkend seyn“ (dort Verweis auf Zachariä und Thibaut). Hufeland begründet dieses Nebeneinander später ausführlich aus der Mehrdeutigkeit der Worte: Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, Bd. I (1814), S. 62 ff. 107 Hufeland, Über den eigentümlichen Geist des römischen Rechts im Allgemeinen und im Einzelnen mit Vergleichungen neuer Gesetzgebung, Bd. I (1814), S. 64. 108 Nahezu alle relevanten Autoren des 19. Jahrhunderts lassen namentlich das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle zu. Vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 141–165 u.ö.; Meder, Ius non scriptum (2009). 109 Schröder, SavZRG – Germ. Abt. – 114 (1997), 34–38, 45–54 (namentlich zur Rolle Hufelands, Savignys und Kants; dazu näher Meder, Mißverstehen und Verstehen [2004], passim). 110 Differenzierungen bei Schröder, FS Otte (2005), S. 571–586. 111 S. aber Schoemann, Handbuch des Civilrechts (1806), S. 78 f., 84 f. 112 Dass hinter diesem Schlagwort um die Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist keine kohärente Theorie steht, zeigt Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 226 f. Zum späten 19. Jh. unten Rn. 85, 95. 113 Vgl. bereits Hammen (Hrsg.), Savigny, Pandektenvorlesung 1824/1825, S. 60. Die antiken Quellen freilich legen hier eine gewisse Vorsicht nahe, wie beispielsweise von Keller durchaus sah: Pandekten. Aus dem Nachlasse des Verf. hrsgg. von Emil Friedberg (1861), § 14, S. 26 Fn. 1 (zu D. 33,10,7,2; Cels. 19. dig.). Baldus

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1. Teil: Grundlagen

realen historischen Grundlagen des Schlagworts von der „Begriffsjurisprudenz“114 beizuziehen. Bei der überkommenen Einteilung der Auslegungsformen und der Zulässigkeit einer „än83 dernden“, „korrigierenden“ usw. Auslegung bleiben Mühlenbruch,115 Arndts116 und Dernburg.117 Mittelpositionen finden sich etwa bei Baron,118 Brinz119 und von Vangerow.120 So lässt sich die Hauptlinie der frühen Pandektenwissenschaft möglicherweise dahinge84 hend lesen, Ergebnisse jenseits des Wortsinns seien zwar möglich, aber nicht mehr als Auslegung, sondern als systemgetragene Analogie – dies jedoch nur solange, als nicht die neuerliche Erweiterung des Auslegungsbegriffs (soweit man hier denn eine echte Zäsur zwischen frühem und spätem Savigny sehen will) eine solche Unterscheidung wiederum weniger dringlich erscheinen ließ.121

_____ 114 Vgl. nur Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“; Rückert, Rechtsgeschichte 2005, S. 122–139, 127–138; Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien. 115 Mühlenbruch’s Lehrbuch des Pandecten-Rechts (…), 4. Aufl. hrsgg. von Madai, Erster Theil (1844), § 53, S. 129 ff. (authentische, Usual- und doctrinelle Interpretation); § 58, S. 136 ff. (grammatische Interpretation als Grundlage, dem entschiedenen Willen des Gesetzgebers gegenüber aber nachrangig); jeweils ausgehend von der Notwendigkeit, dunkle Stellen auszulegen; vgl. auch § 60 (S. 139 ff.) zur grammatischen Auslegung, § 64 (S. 147 f.) zur Analogie; letztere in der Bearbeitung von Madais auch unter Verweis auf Savigny erläutert. 116 Arndts (später: A. Ritter von Arnesberg), Lehrbuch der Pandekten, 6. Aufl. 1868 (vgl. noch die 10. und 11. Aufl., 1879/1883, jeweils besorgt von Pfaff und Hofmann), § 7, S. 8. Savignys Hermeneutik wird gleichwohl in Bezug genommen: § 6 Anm. 4 (S. 7 in der 6. Aufl.). 117 Dernburg, Pandekten, Erster Bd. (1884; vgl. von den weiteren Auflagen noch die 2. von 1888), §§ 34 f., 38, S. 73 ff., 84 f.: Dernburg argumentiert nicht zuletzt aus dem Geltungsgrund des jeweils angewandten Rechts; Auslegung nach dem Sinn entspreche der aequitas, solche nach dem Wort dem ius strictum; extensive Auslegung sei unterstellte Verwirklichung des gesetzgeberischen Willens, Analogie neues Recht. Ausdrücklich wendet sich Dernburg freilich gegen Windscheids (unten näher zu besprechende) Vorstellung, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeintlichen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigiren“ (S. 77, vgl. Fn. 11; etwas milder die 2. Aufl. von 1888, S. 77, unter Hinweis auf Kohler, und unverändert die 7. Aufl. 1902 sowie die 8. von 1911, fortgeführt von Sokolowski). Bei der Analogie wird namentlich der Systemgedanke betont (S. 84). 118 Baron, Pandekten (3. Aufl. 1879, vgl. auch die 9. Aufl. 1896), § 6, S. 15–19: Man solle den Begriff „auslegen“ verwenden, weil „interpretieren“ römisch auch die Analogie umfasse; grammatische und logische Auslegung (diese bezogen auf Geschichte, Savigny, System I und Zweck der Normen) seien stets zu verbinden, die logische Auslegung finde also immer statt, und im Konfliktfall setze sich die logische als „Prüfstein der grammatischen“ durch. 119 Brinz, Lehrbuch der Pandekten, Erster Bd. (2. Aufl. 1873), §§ 28 ff., 32 (S. 117–123, 124–129): Unzweideutige Gesetze auszulegen sei „bloße Schularbeit“, die Einteilung in grammatische und logische Auslegung eine „Vermengung der Auslegung und Anwendung, dazu von Anlaß und Mittel“; die (sogenannte) extensive Auslegung sei analoge Rechtsanwendung, die restriktive Korrektur (S. 119), letztere von der Auslegung unterschieden und ausnahmsweise bei einem „logischen Fehlgriff“ des Gesetzgebers zulässig (S. 122 f.). Hinsichtlich der analogischen Schlussfolgerung (Interpretation, nicht Auslegung) betont Brinz die Generalisierung des analog anzuwendenden Satzes gegenüber der bloßen Ähnlichkeit; nicht erfasst sind der absichtlich (dann arg. a contrario) und der versehentlich (dann Korrektur) zu eng gefasste Satz; den Begriff der Lücke lehnt Brinz ab (S. 127 ff.). 120 Von Vangerow, Leitfaden für Pandekten-Vorlesungen, Erster Bd. (1848; vgl. auch Lehrbuch der Pandekten, Erster Bd., 7. Aufl., Neuausg., 1876, gleiche Paragraphenzählung), §§ 24 f., S. 37–44: Thibaut fasse die Auslegung zu weit, Hufeland zu eng; maßgeblich sei der Wille des Gesetzgebers; die Auslegung beginne bei der grammatischen, wenn aber der wirkliche Wille aus den Worten des Gesetzes nicht ermittelbar sei, dann komme man zur logischen; hier lässt von Vangerow neben der deklaratorischen und restriktiven die extensive zu, wenn der Gesetzgeber sich „ungenauer Weise zu eng ausgedrückt“ habe; hingegen sei ein „von dem möglichen Wortsinn ganz verschiedenes Resultat“ nicht zulässig (S. 42, 40). Gegen Hofacker (nur für die interpretatio extensiva sei ein gleicher, für die Analogie hingegen ein lediglich ähnlicher Gesetzesgrund zu verlangen) lässt Puchta die Analogie nur bei Gleichheit der Gründe zu (S. 43). Savignys Vier-Elemente-Lehre hält von Vangerow mit einigen anderen für überflüssig, weil logisches, historisches und systematisches Element nichts anderes seien als logische Auslegung im überkommenen Sinne (7. Aufl. S. 51). 121 Vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 242 ff. mwN zum zeitgenössischen Meinungsbild; auch zu Puchta (sogleich, Rn. 86 f.).

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§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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Wie sich dies im Einzelnen zum Rekurs auf den „Willen des Gesetzgebers“ verhielt, wie da- 85 bei Methode und Rechtspolitik zusammenspielten, kann hier wiederum nicht vertieft werden. Unklarheiten folgen namentlich daraus, dass dieser Wille in unterschiedlichem Maße durch personalisierende Formulierungen bezeichnet wurde, so dass bisweilen Assoziationen zur rechtsgeschäftlichen Auslegung aufkommen konnten.122 Puchta betont im Rahmen seiner Rechtsquellenlehre,123 für „das gesetzliche Recht“ sei „das 86 bedeutendste Erkenntnismittel das Wort, in welches es gefasst, die Urkunde, in welcher es niedergelegt ist“, und weiter: „(…) der Sinn muss aus den Worten genommen werden können, er muss diesen gemäß seyn, denn Gesetz ist der in Worten ausgesprochene Wille des Gesetzgebers. Würde sich ergeben, dass der Gesetzgeber etwas ganz anderes gewollt, als was er ausgesprochen hat, so würde sein Wille nicht gelten, weil er nicht ausgesprochen ist, und die Worte nicht, weil sie den Willen des Gesetzgebers nicht enthalten“.124

Grammatische und logische Interpretation sind nach Puchta nicht trennbar:125 Auch und gerade 87 wer in der Pandektistik nicht an das Gesetz als primäres Mittel rechtlicher Steuerung glaubte,126 beschränkte sehr wohl die Tragweite der Wortlautauslegung. Wie Puchta sich genau die Analogie vorstellte, namentlich im Verhältnis zum System- und zum Konsequenzgedanken, wird in der Spezialliteratur noch erörtert.127 Josef Kohler, auf den entscheidende Impulse für eine objektive Auslegung zurückgehen, be- 88 hält die Kategorien der restriktiven und extensiven Auslegung bei. Er zieht dem Wortlaut weite

_____ 122 Vgl. nochmals Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 226 f. Ausdrücklich parallelisiert etwa Brinz, Lehrbuch der Pandekten (1873), § 29, S. 120. Vgl. auch Regelsberger, Festgabe der Göttinger Juristen-Fakultät für Jhering (1892, Ndr. 1970), S. 52. Zu Otto Gradenwitz Baldus, in: ders./Kronke/Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit, S. 207–225. 123 Zu dieser näher Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“; Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004), S. 86–106; Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta (2009). Angesichts der Rolle, die Puchta Gewohnheitsrecht und Wissenschaft zuwies, bereitete es ihm selbstverständlich keine Probleme, dem geschriebenen Gesetz relativ enge Schranken zu ziehen. Deswegen ist seine Aussage mit Vorsicht zu verwerten: Für ihn waren Auslegung und Analogie des postiven Rechts eben nicht die einzigen Mittel zur Rechtsgewinnung (vgl. auch die folgenden Fn.). 124 Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 40 f.; dort S. 37 die drei Rechtsquellen: unmittelbare Volksüberzeugung, Gesetzgebung, Wissenschaft. Die Wissenschaft erscheint hier nicht als (bloße) Quelle von Erkenntnissen über mögliche Analogien. Vielmehr: „Auch das Gewohnheitsrecht und das gesetzliche, in den Rechtssätzen nämlich, die einer inneren Begründung fähig sind, müssen diese durch die Wissenschaft erhalten; wir werden durch diese Behandlung erst, wodurch wir uns der inneren Gründe bewusst werden, des richtigen Verständnisses des unmittelbaren Volksrechts und der Gesetze sicher“ (S. 45). – Aus dem Gesagten folgt bei Puchta (in Abwendung von Savignys Lehre) eine klare Aufwertung der subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers gegenüber dem objektiven Entstehungszusammenhang der Norm (und für die römischen Quellen ein Bedeutungsgewinn des Wortlauts); vgl. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 361–368 (364, 367). 125 Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 42, freilich mit der Einschränkung, dass die sens clairRegel richtigerweise besage, bei Identität von Wortlaut und Sinn dürfe von dem so gewonnenen Ergebnis nicht abgewichen werden. 126 Vgl. noch den Hinweis bei Puchta, Cursus der Institutionen, Erster Bd. (1841), S. 40, es sei „eine bloße Illusion, wenn man geglaubt oder behauptet hat, das Recht bloß dadurch, dass es in die Form von Gesetzen gebracht wird, gewisser, unbestrittener, und für Jedermann erkennbarer zu machen“. 127 Vgl. Henkel, Begriffsjurisprudenz und Billigkeit. Zum Rechtsformalismus der Pandektistik nach G. F. Puchta (2004), S. 86–106 (die Aussagen S. 99 zum antiken Juristenrecht, in dessen Tradition Henkel Puchta sieht, S. 97 ff., wären weiter zu diskutieren; ebenso S. 158 zur Regel ambiguitas contra stipulatorem). Auch zum Kontext Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, S. 205, 222–230, 306 ff., 416 ff., 427–433; 361–368 u.ö. zur zentralen Abweichung von Savigny: Puchta privilegierte den Willen des historischen Gesetzgebers. Ausführlich jetzt Mecke, in: Meder u.a. (Hrsg.), Juristische Hermeneutik, S. 37–58, mit Betonung der nach Puchta im Ergebnis größeren Richterfreiheit (S. 56 ff.)

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Grenzen,128 unterscheidet Auslegung im allgemeinen aber scharf von der Analogie als „Neubildung auf Grund von Rechtsprincipien, welche ihrerseits allerdings aus dem Gesetze abstrahirt sind“.129 Zu untersuchen bleibt, inwieweit die Positionen der Zeitgenossen von ihrer Haltung zur Ko89 difikation insgesamt abhängen. Insgesamt schlägt jedenfalls seit der Mitte des 19. Jahrhunderts das Pendel gegenüber jener Wortlautorientierung zurück, die man in Savignys Methodenvorlesung angedeutet sehen mag. Im „System“ finden wir schon wieder einen recht großzügigen Umgang mit den Grenzen der Auslegung;130 und so bleibt es im Wesentlichen bis zu Windscheid, in dessen Pandekten eine wirklich exakte Grenzziehung nicht auszumachen ist: Bei Windscheid finden wir, wie so oft, die meisten Traditionen der Pandektenwissenschaft 90 gebündelt, hier freilich unter geringem argumentativem Aufwand und in geradezu auffälligem Bemühen darum, nichts Neues zu schaffen. Die grammatische Auslegung ist die „auf die Sprachgesetze gegründete“, ihr steht die logische gegenüber.131 Die logische Auslegung hat eine gegenüber der grammatischen berichtigende Funktion (als einschränkende, ausdehnende, abändernde Interpretation). Hier nun sieht sich Windscheid der zeitgenössischen Streitfrage gegenüber, ob eine abändernde Auslegung überhaupt zulässig sei, wiewohl die Worte des Gesetzgebers sich mit dem Sinn nicht deckten. Er greift Puchtas oben erwähnte Formulierung132 auf, um eine nicht ganz klare Mittelposition 91 einzunehmen: „Nur muss, was die abändernde Auslegung angeht, die Beschränkung hinzugefügt werden, dass auch sie, in gleicher Weise wie dieß die einschränkende und ausdehnende Auslegung thut, den Ausdruck des Gesetzgebers immer nur in dieser oder jener einzelnen Beziehung verbessern kann; entsprechen die von dem Gesetzgeber gebrauchten Worte dem Sinne, welchen er hat ausdrücken wollen, überhaupt nicht, so gilt zwar nicht, was er gesagt hat, weil er es nicht hat sagen wollen, aber auch nicht, was er hat sagen wollen, weil er es nicht gesagt hat.“133

92 Was „überhaupt nicht entsprechen“ bedeutet, sagt Windscheid nicht. Er führt aber im Anschluss

aus, „die höchste und edelste Aufgabe der Auslegung“ sei es, „hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen eigentlichen Gedanken hervorzuziehen“; dies sei Auslegung und als solche zulässig, weil nur ausgesprochen werde, was der Gesetzgeber „selbst ausgesprochen haben würde, wenn er auf die Punkte, welche er sich nicht zum Bewusstsein gebracht hat, aufmerksam geworden wäre“, immer unter der Voraussetzung, dass „in der vom Gesetzgeber abgegebenen Erklärung, wenn auch kein vollständig entsprechender Ausdruck seines eigentlichen Gedankens, doch jedenfalls ein Ausdruck überhaupt gefunden werden kann“.134 Die hypothetische Erwägung zum „Bewusstsein“ des Gesetzgebers jedenfalls gleicht auffällig derjenigen, die Savigny im „System“ bekämpft hatte.135

_____ 128 Kohler, GrünhutsZ 13 (1886) 1, 42–47. In seiner Einführung in die Rechtswissenschaft (5. Aufl. 1919) spielt das Thema übrigens keine nennenswerte Rolle. 129 Kohler, GrünhutsZ 13 (1886) 1, 48 f.; sodann (bis S. 56) zu fehlerhaft gezogenen Analogien. 130 Oben Rn. 99. 131 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 51; 54: „Eine jede Auslegung, welche über das durch Anwendung der Sprachgesetze gefundene Resultat hinausgeht, pflegt man eine logische zu nennen“. 132 Zitiert ist Puchta hier nicht. 133 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 21, S. 53. Naheliegenden Verbindungen zur Rechtsgeschäftslehre ist hier nicht nachzugehen (vgl. Rn. 85, 95). 134 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 54. Wiederum stellt sich die Frage nach rechtsgeschäftlichen Parallelen (etwa im Sinne einer „Andeutungstheorie“). 135 Oben Rn. 71. Baldus

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Dass dieses Vorgehen von der zuvor beschriebenen logischen Auslegung nicht klar abzu- 93 grenzen sei, sagt Windscheid selbst.136 Dass man es nach anderer Meinung auch als (Gesetzes-) Analogie bezeichnen könne,137 referiert er ohne weitere Kritik als „Ausdehnung des Gesetzes wegen Gleichheit des Grundes“, den man auch Prinzip nennen könne.138 Dann erst und getrennt hiervon, nämlich bei der Rechtsanalogie, erscheint die Gesetzeslücke als Analogievoraussetzung.139 Windscheid bleibt also an der zentralen Stelle unpräzise. Die folgenden Entwicklungen ge- 94 hen denn auch stärker von anderen Spätpandektisten aus, die sich darum bemühen, die Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts zu sichten und zu bündeln, so Dernburg140 und Regelsberger.141 Vor der Dogmatisierung einer Wortlautgrenze hüten aber auch sie sich – nicht zuletzt deswegen, weil auch ihre Methodenlehre von der Auslegung des justinianischen Rechts ausgeht, mögen auch Beispiele aus dem zeitgenössischen positiven Recht bereits bei ihnen zu finden sein.

3. Fortwirkungen Eine entscheidende Zäsur bildet dann das Inkrafttreten des BGB. Nun galt ein umfassendes und 95 modernes Gesetz, geschaffen von einem konstitutionellen Gesetzgeber, der freilich viele Fragen bewusst „Rechtsprechung und Wissenschaft überlassen“ hatte. Damit wurden viele Erwägungen hinfällig, die sich bis 1900 auf das justinianische „Gesetz“ bezogen hatten; es entstand mehr Raum, auch in der Methodenlehre, für die theoretischen Vorstellungen der Zeitgenossen vom Recht. Welche Rolle das pandektistische Traditionsgut für die weiteren methodologischen Entwicklungen noch spielte, ist bislang nicht vollständig ermittelt, etwa hinsichtlich der Betrachtung des Gesetzes als „Willenserklärung“ des Gesetzgebers.142 In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts herrscht jedenfalls eine erhebliche methodologische Unsicherheit. Vieles spricht dafür, dass es gerade die neue Gesetzeslage war, die intensiveres Nachdenken über die Rolle des Richters und über die Methoden, denen er zu folgen habe, mit sich brachte.143

_____ 136 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 55: „(…) die Frage: hat der Gesetzgeber nicht gesagt, was er hat sagen wollen, oder hat er nicht gedacht, was er hat denken wollen? wird sehr häufig nicht mit Sicherheit beantwortet werden können.“ In Fn. 2 folgen Beispiele. 137 Die Rechtsanalogie bespricht er im folgenden § 23. 138 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 22, S. 56. 139 Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts (1867), § 23, S. 57. Das späte 19. Jahrhundert streitet gerade im hier berührten Feld intensiv über Begriffe; vgl. im Zusammenhang des ius singulare über den „ganz unglückliche[n] Ausdruck ,Gesetzesanalogie‘“ Eisele, JhJb 1885, 119, 124 f.; der Angriff richtete sich vor allem gegen Wächter, dessen Gegenüberstellung von Rechts- und Gesetzesanalogie sich jedenfalls begrifflich durchsetzen sollte (vgl. Schröder, Recht als Wissenschaft, S. 259 f.). 140 Vgl. Dernburg, Pandekten I (1884), S. 73–77, vorsichtig: die extensive Interpretation „unterstellt dem Gesetz Dinge, welche der Wortsinn nicht zu erfassen scheint“; aber „der Interpret würde auf eine schlüpfrige Bahn gerathen und seine Aufgabe verkennen, wenn er dieselbe darin suchen wollte, hinter dem Sinne, welchen der Gesetzgeber hat ausdrücken wollen, dessen vermeinten eigentlichen Gedanken hervorzuziehen, um so Fehler des Gedankens des Gesetzgebers zu korrigieren“ (mit Fn. 11: ausdrücklich gegen Windscheid, vgl. oben Rn. 92). Jetzt Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien, S. 104 f. 141 Regelsberger, Pandekten, Bd. I (1893), S. 140–161 (aber noch nicht mit der heutigen Wortlautgrenze, vgl. S. 159 f.). 142 Vgl. Danz, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte (2. Aufl. 1906), S. 85; Hölder, Kommentar zum Allgemeinen Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1900), Einl. S. 16 ff., 20; ungeklärt ist u.a. die Position von Otto Gradenwitz (dazu Baldus, in: ders./Kronke/Mager (Hrsg.), Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit, S. 207–225). 143 Näher Haferkamp, AcP 214 (2014), 60, auch zu der Spannung zwischen den Modernisierungsbedürfnissen, die man wahrnahm, und dem Risiko (oder dem Vorsatz), dass die Rechtsanwendung sich politisierte.

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1. Teil: Grundlagen

Die Vorstellung, eine strenge und rechtssichere Abgrenzung zwischen beiden Phänomenen sei prägend für die deutsche Rechtskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, trifft nach alldem nicht zu; auch nicht für jene Mehrheitsströmung, die es ausdrücklich ablehnte, den Richter im Sinne der Freirechtsschule weithin von der Normbindung freizustellen. Die strenge Betonung des Unterschiedes von Auslegung und Analogie setzt sich erst unter dem BGB wirklich durch, und auch dies nicht ohne Debatten. „Antipositivistische“ Stimmungen des späten Kaiserreichs und der Weimarer Zeit zeigten unter dem NS-Regime ihr Potential. Die Protagonisten dieser Zeit und damit ihr Gedankengut blieben nach 1945 präsent, unter anderem mit dem Effekt eines Auseinanderfallens von privatrechtlicher und rechtstheoretischer Diskussion.144 Im Ergebnis blieb es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bei den angeblich savignyanischen „vier Auslegungsmethoden“ Wortlaut, Geschichte, System und télos, wobei von diesen Kanones der geschichtliche als nachrangig145 galt und die Dubiosität der Wortlautgrenze in der Praxis selten thematisiert wurde. Das spricht dafür, dass die Praxis ein Instrument wie die Wortlautgrenze braucht und dass eine strikte Rückbindung jedenfalls an Gesetzgebungsmaterialien für praktische Zwecke nicht taugt. Gegenpositionen146 zu dieser Hintanstellung des konkreten Gesetzgeberwillens, die vor dem Missbrauchspotential der „objektiven“ Auslegung ex nunc nach dem télos warnen, konnten sich nicht durchsetzen. Dies möglicherweise auch deswegen nicht, weil, wer konsequent für eine Bindung des Auslegers an subjektive Vorstellungen aus dem Gesetzgebungsverfahren eintrat, kaum umhin kam, dem Richter für schwierige Situationen offen eine Rechtsfortbildungsbefugnis einzuräumen.147 Geschichtlich lässt diese Entwicklung sich möglicherweise lesen als Ausdruck eines wiedergewonnenen Grundvertrauens in Richter und kodifiziertes Recht. Das wäre nicht der schlechteste Befund. Die Praxis gewann erst durch den zunehmenden Einfluss des Europarechts in den achtziger 97 Jahren des 20. Jahrhunderts stärkeres Interesse an der Methodendiskussion.148 Da den Vorgaben des EuGH nicht zu entrinnen war und da, positiv formuliert, manche Entscheidungen auch erst unter diesem Einfluss möglich wurden, suchte man die Neuigkeiten im überkommenen System zu begreifen und handhabbar zu machen. Relativ zügig setzte sich in der Lehre die Position durch, dass auch aus Unionsrecht keine Berechtigung folgt, gegen innerstaatliche Methoden zu entscheiden (sondern dass im Extremfall bei national richtigen, europarechtlich aber falschen Urteilen Staatshaftung eintritt).149 Was aus der europarechtlichen Überformung für den Methodenkanon insgesamt folgt, ist u.a.150 Thema dieses Bandes.

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_____ 144 Wiederum Haferkamp, AcP 214 (2014), 60; Herzog, Anwendung und Auslegung von Recht in Portugal und Brasilien. 145 Die vieldiskutierte Rangfrage resultiert aus den Problemen, die ein fester Kanon erzeugt. Repräsentativ für die in Deutschland stilprägenden Debatten Canaris, FS Medicus (1999), S. 25–61. Kritisch Baldus, in: ders./Theisen/ Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“. 146 Dafür namentlich Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1 ff. Und jetzt Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat (2014). 147 Vgl. nochmals Haferkamp, AcP 214 (2014), 60. 148 Weiterführend zu dieser Sichtweise N. Graf Vitzthum, GPR 2009, 129–132. Sie dürfte es sein, die auch über die außereuropäische Verwertbarkeit der in Europa erzielten Ergebnisse entscheidet; vgl. die weitere Besprechung der 1. Aufl. dieses Buches aus Lateinamerika, wo vielleicht das wichtigste Forum für neuere europäische Entwicklungen liegt: Nordmeier/Wingert Ody, Revista de Direito do Consumidor 69 (2009), 385–396. 149 Nicht gelöst ist mit dieser – richtigen – Grundentscheidung das bisweilen erscheinende Folgeproblem einer Wettbewerbsverzerrung zwischen Privaten durch falsche Rechtsanwendung, die dann nur durch Schadensersatz kompensiert wird, ohne dass der rechtswidrig Begünstigte seinen Vorteil hergeben müsste. Noch problematischer ist richterliche Selbstermächtigung zur „Rechtsfortbildung“; zur Quelle-Judikatur des BGH in diesem Band, u.a. § 13 Rn. 57 f. (großzügig), § 14 Rn. 22, 40 (vgl. Stichwort „Quelle-Urteil“ im Register). 150 Vgl. weiterhin Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht; speziell zur historischen Auslegung Baldus, in: ders./Theisen/Vogel (Hrsg.), „Gesetzgeber“ und Rechtsanwendung. Baldus

§ 3 Gesetzesbindung, Auslegung und Analogie: Grundlagen und Bedeutung des 19. Jahrh.

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VI. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert und Überschneidungsbereiche Unter dem Code civil kam es zunächst zu einer Neuorientierung der Rechtswissenschaft. Man spricht traditionell von der école de l’exégèse.151 In die Hochzeit der exegetischen Schule fällt ein zentraler Transfer aus der deutschen Rechtswissenschaft, nämlich die Übersetzung des Handbuches zum französischen Zivilrecht von Zachariä von Lingenthal durch Aubry und Rau (1. Auflage 1838), aus der das stilprägende Lehrbuch der Epoche wurde. Zachariä hatte auch im Handbuch im Wesentlichen die seinerzeit (jedenfalls vor Savigny) üblichen Kategorien übernommen: grammatische und logische Auslegung, letztere in der bekannten Dreiteilung.152 Er grenzt dann zwar formal von der Analogie ab, nicht aber nach dem Kriterium einer Wortlautgrenze. Als sich in Frankreich eine freiere Auslegungsmethode durchsetzte, die von Raymond Saleilles und François Gény153 begründete école de la libre recherche scientifique, eine entfernte154 Verwandte der Freirechtsschule, da postulierte diese neue Richtung ebenfalls keine Wortlautgrenze.155 Freilich hielt sie an der Vorstellung fest, es könne einen klaren Wortlaut geben: relevant für die Frage, ob auszulegen oder ob eine wissenschaftlich herzuleitende, eben „freie“ Entscheidung zu treffen sei.156 Das Ergebnis: In Frankreich vermochte sich eine strikte Richterbindung über die Wortlautgrenze auch später nicht zu etablieren, sehr wohl aber eine interprétation par analogie. Damit haben wir eine grundsätzliche Parallelität von deutscher und französischer Rechtsentwicklung im späten 19. Jahrhundert, die erst im 20. Jahrhundert abbricht, weil die deutsche Wissenschaft und Praxis – in Abwendung von Windscheid – nunmehr mit der Wortlautgrenze Ernst zu machen sucht. Zu diesem Zeitpunkt aber rezipierte Frankreich nicht mehr so viel deutsche Dogmatik, dass jene neuerliche Wendung mitvollzogen worden wäre; und damit ging das Europa der Sechs methodologisch gespalten in die fünfziger Jahre (Rn. 5 ff.). Vielerorts traf pandektistische Theorie auf französischen Gesetzestext. Im 19. Jahrhundert nach französischem Muster geschriebene Texte wurden mit dem Aufstieg der Pandektenwissenschaft zunehmend in deren Licht gelesen. Das ging so weit, dass gesetzesfremde Konstruktionen und Konzepte sich an die Stelle der gesetzlichen setzten Aber: In vielen dogmatischen Feldern war die pandektistische Tradition artikuliert und geschlossen, in der Methodenlehre nicht. Wohl deswegen konnte sich in den soeben genannten Rechten die französische Linie halten, was die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung angeht. Die Sachfragen wurden also pandektisiert, ohne dass dieser Prozess auch die Methodenlehre ins Kielwasser der deutschen gebracht hätte.

_____ 151 Grundlegend für ein zeitgemäßes Bild Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (1991), aktualisiert und synthetisiert in: ders., RTD civ. 2000, 1–24. Jetzt (auch zu geschichtlichen Aspekten) Babusiaux, in diesem Band, § 25 Rn. 5 und Fn. 23. 152 Das kann hier ebensowenig vertieft werden wie einzelne Berührungspunkte mit Savigny. Auch Zachariä begreift die Auslegung als ars: „Die Auslegung führt den Nahmen einer Kunst, weil sie sich unmittelbar auf die Praxis bezieht“ (Versuch einer allgemeinen Hermeneutik des Rechts, S. 5). – Savigny seinerseits verweist zum französischen Recht auf das Verbot des déni de justice (art. 4 CC) und problematisiert insbesondere die zeitgenössische Diskussion um die Kompetenzgrenzen der Cour de Cassation: Savigny, System I, S. 326 ff. (dies wird später Jhering aufgreifen, vgl. Rückert, Rechtsgeschichte 2005, 122–139, 137 f.); zu Abweichungen im rheinischen Recht S. 328 f. 153 Zu ihm jetzt Cachard/Licari/Lormant, La pensée de François Gény (2013); dort Baldus, Les lectures de François Gény: la doctrine française et l’Ecole des Pandectes, S. 37–48. 154 Vgl. Babusiaux, in diesem Band, § 25 Rn. 5 ff. 155 Gény, Méthode d’interprétation et sources du droit privé positif, S. 314. 156 Vgl. Babusiaux, in diesem Band, § 25 Rn. 5. Neuere Lit. zur Auslegungslehre im geltenden französischen Recht ist hier, im historischen Teil, nicht nachgetragen.

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1. Teil: Grundlagen

VII. Epilog: Was interessiert uns das 19. Jahrhundert? 102 Es ist eine Binsenweisheit, dass geschichtliche Prägungen umso stärker wirken, je weniger man

sich ihrer bewusst ist, weil sie die Wege des Wahrnehmens und Denkens vorzeichnen und beschränken. Für die juristische Methodenlehre gilt dies in besonderem Maße: Sie behandelt das Denken und Kommunizieren der Juristen untereinander. Das 19. Jahrhundert ist auch für die Rechtsgeschichte und speziell die Methodengeschichte ein „langes“. Es beginnt mit den von der Aufklärung ausgelösten Umbrüchen, die mit einer ersten Kodifikationswelle zusammenfallen, und endet nach einer zweiten Kodifikationswelle mit dem Zusammenbruch des nationalstaatlichen Systems im Ersten Weltkrieg. Die in diesem System entstandenen Gesetze gelten in vielen Staaten kaum verändert bis heute; die geistigen und politischen Grundlagen der Auslegungslehre hingegen haben sich verändert; bewältigt ist die hieraus resultierende Spannung nirgends. Unter den Bedingungen des Unionsrechts ist die Divergenz der Methoden zu einem praktisch 103 relevanten Problem geworden. Welche Elemente der nationalstaatlich gewachsenen Rechtsordnungen erhalten bleiben, schält sich in der täglichen politischen und rechtlichen Praxis heraus; ebenso, welche Methoden diese Praxis steuern. Es gibt außer dem Unionsverfassungsrecht keine Metaordnung, die diesen Prozess formell steuern könnte. Die Rechtspflege selbst hat damit weithin in der Hand, wie er verlaufen wird. Will sie sinnvolle Ergebnisse und damit Akzeptanz erzielen, muss sie die jeweiligen Vorprägungen der Akteure berücksichtigen, gerade weil diese Vorprägungen nicht aus dem Recht der Union stammen. Dem Gerichtshof ist es in beachtlicher Weise gelungen, einen pragmatischen Weg in Metho104 denfragen zu steuern, ohne dabei ganze Rechtskulturen durch Orientierung an einer einzigen Tradition zu verprellen. Die teils heftigen wissenschaftlichen Proteste gegen Entscheidungen erklären sich bisweilen mehr aus den Ergebnissen als aus deren Herleitung, und auch die deutsche Lehre konnte nicht ernstlich erwarten, ihre Weltsicht in Luxemburg getreulich abgebildet zu finden. Kein Obergericht kann in einen allzu ausführlichen Dialog über theoretische Fragen eintreten, und speziell das europäische Obergericht kann nationalen oder regionalen Traditionen nicht offen Raum geben. Wohl aber könnte der Gerichtshof, nachdem seine Autorität nunmehr fest etabliert ist, möglicherweise deutlicher machen, in welchem Sinne und in welchem Umfang er historischen Erwägungen Raum zu geben bereit ist.157 Die Rechtsanwender, namentlich europäische wie mitgliedstaatliche Behörden und vorlegende Gerichte, gewännen dadurch ein Mehr an Orientierung: das, was eine bloße Materialienschau gerade in Europa sicher nicht bieten kann. Der Blick auf den Gerichtshof, auf seinen denkbaren Umgang mit zu schaffenden Normen, beginnt praktisch schon heute in den Brüsseler Normbildungsprozessen, wie vor allem der Einsatz der Begründungserwägungen dokumentiert. Und der Gerichtshof überschritte seine Kompetenzen nicht, wenn er den Autoren künftiger wie den Anwendern bereits erlassener Gesetzestexte deutlicher machte, wie er all das einschätzt, was der Norm historisch vorausliegt. Sicher ist freilich: Er wird nichts explizieren, was seine Handlungsmöglichkeiten substantiell beeinträchtigte. Dies von einem historischen Akteur der Integration (und ihrer Grenzen) zu erwarten, wäre töricht.

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_____ 157 Ähnlich jetzt Schorkopf, JZ 2014, 421, 422 f. Für den Versuch einer Aufarbeitung des Materials, an dem der Gedanke sich möglicherweise belegen lässt, Baldus/Raff, in: Gebauer/Teichmann (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht.

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

§4 Die Rechtsvergleichung 1. Teil: Grundlagen

Andreas Schwartze § 4 Die Rechtsvergleichung Schwartze Literatur Klaus Peter Berger, Vom praktischen Nutzen der Rechtsvergleichung – Die „internationalbrauchbare“ Auslegung nationalen Rechts, in: ders. u.a. (Hrsg.), Festschrift für Otto Sandrock (2000), S. 49–64; Albert Bleckmann, Die Rolle der Rechtsvergleichung in den Europäischen Gemeinschaften, ZVglRWiss 75 (1976), 106–124; Axel Flessner, Juristische Methode und europäisches Privatrecht, JZ 2002, 14–23; Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Constantinos N. Kakouris, Use of the Comparative Method by the Court of Justice of the European Communities, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267–283; Hein Kötz, Alte und neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, JZ 2002, 257–264; Jan Kropholler, Internationales Einheitsrecht – Allgemeine Lehren (1975), S. 254–258, 278–285; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; HeinzPeter Mansel, Rechtsvergleichung und europäische Rechtseinheit, JZ 1991, 529–534; Ralf Michaels, Stichwort: Rechtsvergleichung, in: Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Bd. 2 (2009), S. 1265–1269; Walter Odersky, Harmonisierende Auslegung und europäische Rechtskultur, ZEuP 1994, 1–4; Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180–186; Reiner Schulze, Vergleichende Gesetzesauslegung und Rechtsangleichung, ZfRV 1997, 183–197; Jan M. Smits, European private law and the comparative method, in: Christian Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law (2010), S. 33–43; Stig Strömholm, Rechtsvergleichung und Rechtsangleichung – Theoretische Möglichkeiten und praktische Grenzen in der Gegenwart, RabelsZ 56 (1992), 611–623; Reinhard Zimmermann, Comparative Law and the Europeanization of Private Law, in: Mathias Reimann/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law (2006), S. 539–578.

I. II.

III.

Übersicht Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode | 1–5 Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht | 6–21 1. Primärrechtliche Ebene | 7–9 2. Sekundärrechtliche Ebene | 10–21 a) Herkömmliche Rechtsangleichung | 13–17 b) Neuartige Regelungsinstrumente | 18–21 Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht | 22–35

1.

IV.

V.

Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH | 24–30 2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte | 31–35 Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht | 36–42 1. Wissenschaftliche Projekte | 37–39 2. Juristische Ausbildung | 40–42 Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum | 43–45

I. Einleitung – Stellung und Funktionen der rechtsvergleichenden Methode Auf den ersten Blick scheint es keinen Zweifel zu geben, dass die Rechtsvergleichung für das 1 Europäische Privatrecht eine bedeutende Rolle spielt. Die Relevanz dieser Methode fällt besonders ins Auge, wenn man die nebeneinander stehenden nationalen Privatrechtssysteme in Europa, insbesondere in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) betrachtet, die seit jeher reichhaltiges Material für die vergleichende Rechtswissenschaft geliefert und sich auch mittels deren Unterstützung gegenseitig befruchtet haben.1 Aber Ähnliches gilt auch für das Euro-

_____ 1 Zu diesen Rezeptionsvorgängen etwa Rainer, Europäisches Privatrecht (2007), S. 75 ff.; Glendon/Gordon/Osakwe, Comparative Legal Traditions (1994), S. 54 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 2 (1972), S. 412 ff. Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

päische Privatrecht im engeren Sinne, nämlich für die privatrechtlichen Regeln der Europäischen Union,2 die zum einen nicht unberührt von den Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten im „rechtsleeren Raum“ entwickelt werden können – vielmehr finden sich dort regelmäßig Bezüge zu den verschiedensten nationalen Bestimmungen, die manchmal bis zu einer Übereinstimmung im Wortlaut gehen –3 und die zum anderen auf die innerstaatlichen Privatrechte zurückwirken. Das lässt darauf schließen, dass zumindest bei der Entstehung, vermutlich aber auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts die privatrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zur Kenntnis genommen und aus gemeinsamen, übergreifenden Perspektiven – hier: des Unionsrechts – betrachtet werden, wie es die vergleichende Methode verlangt.4 Inwieweit eine wertende Betrachtung der vorgefundenen Lösungsmöglichkeiten, die nach überwiegender Auffassung einen weiteren Bestandteil der Rechtsvergleichung bildet,5 die Entscheidungen über konkrete Regelungen des Europäischen Privatrechts oder deren Auslegung beeinflusst, kann dagegen nur für den jeweiligen Einzelfall festgestellt werden. Allerdings besteht insoweit kein grundlegender Unterschied zur Entwicklung in den mit2 gliedstaatlichen Privatrechten, denn auch dort wurde – und wird – die Rechtsvergleichung unabhängig vom Einfluss der europäischen Integration sowohl bei der Gesetzgebung6 wie in der Rechtsprechung7 zur Unterstützung herangezogen. Diese Hilfsfunktion wird allgemein sogar als eigentliche Aufgabe der „angewandten“ oder „legislativen“ Rechtsvergleichung angesehen, welche die in erster Linie zweckfreier Erkenntnis dienende „wissenschaftlich-theoretische“ Rechtsvergleichung für die Praxis nutzbar macht.8 Während jedoch auf nationaler Ebene der Vergleich mit ausländischen Regelungen Reformen 3 im Sinne einer inhaltlichen Weiterentwicklung des geltenden Rechts – sei es durch den Gesetzgeber oder den rechtsfortbildenden Richter – dient (Regelungsziel), dürfte für die Europäische Union die Rechtsvergleichung als Ausgangspunkt für die Zusammenführung der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unter einem „gemeinsamen Dach“ im Vordergrund stehen (Harmonisierungsziel).9 Besonders deutlich wird dies bei der Rechtssetzung auf europäischer

_____ 2 Diese sollen im Folgenden in Anschluss an Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 31 f., als „Europäisches Privatrecht“ bezeichnet werden. Flessner, JZ 2002, 14, 15, bezeichnet sie noch als „Gemeinschaftsprivatrecht“, nach Lissabon müsste man mittlerweile vom „Unionsprivatrecht“ sprechen, vgl. dazu Baldus u.a., GPR 2011, 270–276. 3 So etwa Art. 2 lit. d) Alt. 3 KGRL, der vor allem mit nordischen Kaufgesetzen übereinstimmt, Schwartze, Europäische Sachmängelgewährleistung beim Warenkauf (2000), S. 98 f.; vgl. auch Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 KGRL Rn. 34. Zu einem Beispiel aus dem Gesellschaftsrecht Lutter, JZ 1992, 593, 609. 4 Damit beginnt nach allgemeiner Ansicht erst die eigentliche Rechtsvergleichung, vgl. etwa Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 43; ähnlich Constantinesco, Rechtsvergleichung, Bd. 2 (1972), S. 277 ff. 5 So Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 46; a.A. Rabel, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze (1967), S. 3. 6 Zur Nutzung durch den deutschen Gesetzgeber Drobnig/Dopffel, RabelsZ 46 (1982), 253 ff.; Drobnig, RabelsZ 50 (1986), 610 ff. Aus schweizerischer Sicht Kunz, ZVglRWiss 108 (2009), 31, 34 ff. Zum Einfluss des österreichischen Zivilrechts auf das deutsche Bürgerliche Recht Schwartze, Das ABGB und das deutsche Zivilrecht, in: Barta u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel – 200 Jahre ABGB (2012), S. 201, 204 ff. 7 Zur Verwendung in der deutschen Rechtsprechung Aubin, RabelsZ 34 (1970), 458 ff.; Reinhart, FS Juristische Fakultät Heidelberg (1986), S. 599 ff.; Mansel, JZ 1991, 529, 529 f.; rechtsvergleichend Drobnig/van Erp, The Use of Comparative Law by the Courts (1999). Zur Schweiz G. Walter, Die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, recht (2004), S. 91 ff. Für das komparative Sichten von Urteilen zur Gewinnung von „europäisch vertretbaren“ Lösungen Flessner, JZ 2002, 14, 19 f. 8 Vgl. nur Brand, JuS 2003, 1082, 1084; Rösler, JuS 1999, 1084, 1087 f.; Koch/Magnus/Winkler von Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung (2010), S. 278 f. 9 Damit wird allerdings weder ausgeschlossen, dass Regelungen ohne Vorbild in einem der Mitgliedstaaten neu entwickelt werden, noch dass Reformgesichtspunkte ebenfalls eine Rolle spielen. Zur Unterscheidung von Harmonisierungsfunktion und Regulierungsfunktion bei der Rechtsangleichung bereits Schwartze, Deutsche Bankenrechnungslegung nach Europäischem Recht (1991), S. 115; ähnlich unterscheidet in Regelungs- und Angleichungszweck

Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

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Ebene, wo im Bereich des Privatrechts die bisher noch dominierende Rechtsangleichung gerade auf die Nivellierung von Unterschieden zwischen den nationalen Regelungen abzielt. Damit besitzt die Rechtsvergleichung für die Erarbeitung des Europäischen Privatrechts eine 4 ganz ähnliche Funktion wie in anderen Gebieten der Rechtsvereinheitlichung: So wurde mit Hilfe rechtsvergleichender Studien zunächst im Gefüge der neu gebildeten Nationalstaaten ein wesentlicher Teil der Bausteine zusammengetragen, welche für die Errichtung der Kodifikationsgebäude verwendet wurden,10 später sind dann auf dem Fundament derartiger Untersuchungen zu den nationalen Rechten wiederum internationale Einheitsrechte gegründet worden.11 Bei der Rechtsanwendung muss insbesondere ein unterschiedliches Verständnis internationalen Einheitsprivatrechts in den beteiligten Rechtsordnungen durch eine „autonome“, vom jeweiligen nationalen Recht unabhängige und daher andere Rechte mit einbeziehende Auslegung verhindert werden,12 ebenso wie für das Europäische Privatrecht eine einheitliche Anwendung zu sichern ist. Allerdings werden die mit der Verwendung der rechtsvergleichenden Methode im Unions- 5 recht, speziell auf dem Gebiete des Privatrechts, verbundenen Fragen bisher kaum grundlegend behandelt.13 In den einschlägigen Kommentaren und Lehrbüchern zum Europarecht finden sich nur wenige Hinweise,14 in den Werken zum Europäischen Privatrecht wird das Thema zwar angerissen, aber meist nur kurz erörtert.15 Auch in die Literatur zu Methodenfragen hat es bislang noch wenig Eingang gefunden.16 Ich werde daher im Folgenden versuchen, den Einsatz der Rechtsvergleichung sowohl bei der Herausbildung des Europäischen Privatrechts (unten II.) wie auch bei dessen Anwendung (unten III.), darüber hinaus ergänzend im Bereich von Forschung und Lehre auf diesem Gebiet (unten IV.), möglichst umfassend darzulegen und die damit verbundenen Problemlagen herauszuarbeiten. Zum Schluss soll deutlich gemacht werden, inwieweit die Rechtsvergleichung im Europäischen Privatrecht methodisch eine besondere Stellung einnimmt bzw. worin diese besteht (unten V.).

_____ Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 41, 44; als formale bzw. inhaltliche Regelungszwecke bei Heinrich, ÖJZ 2011, 1068, 1071. 10 Etwa für das schweizerische ZGB durch Huber in seinem „System und Geschichte des schweizerischen Privatrechts“, 4 Bände (1886–1893). 11 Am prominentesten dürften die Vorarbeiten von Rabel, Das Recht des Warenkaufs I und II (1936, 1958), für das Einheitliche Kaufgesetz (EKG/EAG) und damit auch für das diesem nachfolgende UN-Kaufrecht sein. Allgemein zum Einfluss der Rechtsvergleichung auf die Rechtsangleichung Strömholm, RabelsZ 56 (1992), 611 ff.; kritisch zu dieser Methode Smits, in: Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law (2010), S. 35 f. 12 Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Auslegung internationalen Einheitsrechts Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts (2004), S. 198 ff. 13 Dies kritisiert schon Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106. 14 Unter Bezug auf die Verflechtung von innerstaatlichem Recht und Unionsrecht allein zur Auslegung etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 59 f.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9 Rn. 33, 180, § 17 Rn. 4; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 16; Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Europarecht (6. Aufl. 2008), S. 72 zur Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, S. 82 zur Auslegung; speziell zum Verwaltungsrecht: Streinz, Europarecht (2012), Rn. 202; zu den Grundrechten v. d. Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EUV Rn. 63, Mayer/Stöger-Winkler, EUV/AEUV (175. EL 2011), Art. 6 EUV Rn. 27, 40; Schroeder, Grundkurs Europarecht (3. Aufl. 2013), § 15 Rn. 3. 15 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 47–51, 71; zur Auslegung Langenbucher-dies., § 1 Rn. 10a; bei der Auslegung nur kurz Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 143, etwas häufiger im Zusammenhang mit der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze aaO 1. Teil Rn. 184, 187, 189, 191; in Bezug auf die Hilfe bei der Kommentierung Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 65–75. Ähnlich wenig findet sich zu konkreten Unionsrechtsakten, z.B. Grundmann/Bianca-Grundmann, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Art. 2 KGRL Rn. 12, Art. 8 KGRL Rn. 6. 16 Sehr kurz bei Zippelius, Methodenlehre, S. 58; Pawlowski, Methodenlehre, S. 117 Rn. 227; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 15; etwas mehr bei Kramer, Methodenlehre, S. 265–268 zur Lückenfüllung; sowie Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 385–387 zur Rechtsgewinnung, S. 461–463 zur Auslegung. Daher das Plädoyer für eine gemeineuropäische Methodenlehre von Vogenauer, ZEuP 2005, 234 ff. Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

II. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Entstehung von Europäischem Privatrecht 6 Der Einfluss der rechtsvergleichenden Methode auf die Rechtssetzung im Bereich des Europäi-

schen Privatrechts ist bisher wissenschaftlich fast nicht thematisiert worden, während ihr Einfluss auf die Auslegung (dazu unten Rn. 22) immerhin ein wenig mehr Beachtung gefunden hat. Das liegt sicherlich nicht unwesentlich daran, dass die Vorgehensweise der Legislative in Ausbildung und Praxis unterbewertet wird und sich die juristische Methode auf die Arbeit mit gegebenen Regelungen konzentriert. Inwieweit die Rechtsvergleichung bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts eingesetzt werden kann, hängt jedoch zum Teil von ihrer Rolle bei der Rechtssetzung ab, so dass auch mit Blick auf die in der Praxis als wichtiger angesehenen Probleme der Interpretation und Fortbildung des Europäischen Privatrechts der legislative Bereich zunächst zu untersuchen ist.

1. Primärrechtliche Ebene 7 In den Unionsverträgen selbst sind auch mit Mühe Regelungen mit privatrechtlichem Inhalt nur

schwer zu entdecken, vielleicht einmal abgesehen vom Wettbewerbsrecht der Union, welches durch Art. 101 AEUV unmittelbar in die Wirksamkeit privater Verträge über konkretes Marktverhalten eingreift.17 Die vier Grundfreiheiten sowie die Kompetenznormen für die Rechtsangleichung, wie Art. 115 und 114 AEUV oder Art. 55 Abs. 2 lit. g) AEUV, wirken dagegen allenfalls mittelbar auf das Privatrecht ein, indem sie die Grundlage für eine negative18 oder aber eine positive Harmonisierung privatrechtlicher Vorschriften bieten, selbst jedoch keine inhaltlichen Vorgaben für diesen Bereich enthalten. 8 Damit verbleiben im Primärrecht – neben der Entwicklung der Unionsgrundrechte19 – allein die allgemeinen Rechtsgrundsätze, welche die Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union dort ergänzen, wo dieser Lücken aufweist. Ausdrücklich erfolgt ein Verweis auf derartige gemeinsame Prinzipien nur für den Bereich der außervertraglichen Haftung der Union (Art. 340 AEUV),20 aber der Europäische Gerichtshof ergänzt auch in anderen – allerdings wie bei den Grundrechten meist nicht privatrechtlich gelagerten – Fällen das unvollständige Primärrecht unter Berufung auf Art. 19 Abs. 1 EUV.21 Um in allen Mitgliedstaaten vorfindbare Grundregeln für eine bestimmte Fragestellung zu ermitteln, müssen sämtliche nationalen Rechtsordnungen innerhalb der Union daraufhin untersucht werden.22 So hat der EuGH, immerhin im weiteren Bereich des Schadensersatzrechts, die Haftung der Mitgliedstaaten gegenüber den Bürgern aufgrund einer Verletzung des Unionsrechts unter anderem mit dem Verweis auf die allgemeinen Haftungsgrundsätze in den nationalen Rechtsordnungen begrün-

_____ 17 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 33, der außerdem noch das Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV hinzurechnet. 18 Vom EuGH bisher abgelehnt, EuGH v. 24.1.1991 – Rs. C-339/89 Alsthom Atlantique, Slg. 1991, I–107; EuGH v. 13.10.1993 – Rs. C-93/92 CMC Motorradcenter, Slg. 1993, I-5009; dazu Foglar-Deinhardstein, ZfRV 2005, 22 ff. 19 Dazu etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 385 ff. 20 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 387 ff. Vgl. auch Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 23. 21 Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 273. Daig, FS Zweigert (1981), S. 401 nennt hier als weitere Beispiele die Frage, was unter einem „Gericht“ i.S.v. Art. 177 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) zu verstehen ist, oder wann eine Willenserklärung als zugegangen gilt. Vgl. auch R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 188; ders., ZEuP 1993, 442, 454 f. Vgl. allgemein Schroeder, Grundkurs Europarecht (3. Aufl. 2013), § 6 Rn. 4. 22 Zu dieser Lückenfüllungsfunktion der Rechtsvergleichung bereits Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 109 f.

Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

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det.23 Welcher Rechtssatz dann aus den vorgefundenen Regelungen abzuleiten ist, bleibt allerdings der Bewertung durch den EuGH überlassen, die er an den Aufgaben und Zielen der Union ausrichtet. Damit nimmt er eine rechtsvergleichende Analyse24 vor, was dazu führt, dass nicht etwa der gemeinsame Nenner gesucht wird: Konkret hält der EuGH in der eben erwähnten Entscheidung kein Verschulden für erforderlich, obwohl diese Voraussetzung in vielen Mitgliedstaaten für die Staatshaftung verlangt wird.25 Abgesehen vom dargestellten engen Bereich der ausschließlichen Rechtssetzungsbefugnis 9 der Union führt die vergleichende Ermittlung privatrechtlicher allgemeiner Rechtsgrundsätze jedoch nicht zu eigenständigem Unionsrecht,26 sondern kann nur bei der Anwendung und Auslegung bestehender Rechtsakte helfen (dazu unten Rn. 24). Im Bereich der Primärrechtssetzung hat die Rechtsvergleichung für das Europäische Privatrecht daher nur geringe Bedeutung.

2. Sekundärrechtliche Ebene Das Europäische Privatrecht im oben beschriebenen Sinne beruht bisher fast ausschließlich auf 10 Rechtsakten des sekundären Unionsrechts, vor allem auf Richtlinien und Verordnungen. Die früheren Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich des Internationalen Privatund Prozessrechts, deren Abschluss im EG-Vertrag vorgesehen war (Art. 293 EG, in der Lissabonner Fassung aufgehoben), vor allem das noch bis Ende 2009 geltende Europäische Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ)27 sowie das Europäische Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ),28 bildeten eine Ausnahme: Bei ihnen handelte es sich um völkerrechtliche Verträge, die jedoch eng mit dem Gemeinschaftsrecht verknüpft waren (wie sich insbesondere an der eigens festgelegten Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung dieser Instrumente zeigte). Sie wurden allerdings nach der Erweiterung der Unionskompetenzen durch Art. 81 AEUV als Verordnungen (Rom I-VO bzw. Brüssel I-VO) in das Sekundärrecht überführt. Mittels der Sekundärrechtsakte agieren die zuständigen Unionsorgane bisher ähnlich wie 11 nationale Gesetzgeber, indem sie bindende Regelungen für privatrechtliche Beziehungen aufstellen (unten a). Vor allem im Bereich des Vertragsrechts, aber in Ansätzen ebenso im Gesellschaftsrecht (etwa 12 bei der Koordinierung der nationalen Corporate Governance-Kodizes durch ein europäisches

_____ 23 „… eine Ausprägung des in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten geltenden allgemeinen Grundsatzes, dass eine rechtswidrige Handlung oder Unterlassung die Verpflichtung zum Ersatz des verursachten Schadens nach sich zieht …“, EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29; vgl. dazu Schroeder, JuS 2004, 180, 184. 24 Sog. „wertende“ Rechtsvergleichung, vgl. etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim-Bogdandy/Jacob, Art. 340 AEUV Rn. 31, wie sie sich vor allem im Bereich der Grundrechte herausgebildet hat; dazu näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 393 ff.; Schroeder, Grundkurs Europarecht (3. Aufl. 2013), § 15 Rn. 3; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 184 ff.; v. Danwitz, ZESAR 2008, 57, 60 ff. Im Grunde genommen wird die Herleitung rechtsfortbildend auf das Primärrecht gestützt, wobei die Rechtsvergleichung als Rechtserkenntnisquelle dient, Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 34 Fn. 18. 25 Schroeder, JuS 2004, 180, 184. Eine ähnlich selektive rechtsvergleichende Argumentation findet sich in EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 48 f., dazu v. Danwitz, ZESAR 2008, 57, 60. 26 So dezidiert Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 182, Rn. 187 ff.; ähnlich Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 27 Übereinkommen von Rom über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht v. 19.6.1980, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/34. 28 Übereinkommen von Brüssel über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968, konsolidierte Fassung, ABl. 1998 C 27/1.

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1. Teil: Grundlagen

Forum29 sowie bei der Bereitstellung eigenständiger europäischer Gesellschaftstypen)30, ist jedoch mittlerweile eine neuartige Strategie der Kommission zu erkennen, mit der sie sich aus der Rolle eines klassischen Rechtssetzers zurückzieht: Nach ihrem Aktionsplan zum Vertragsrecht31 sowie ihrer Mitteilung zum weiteren Vorgehen32 sollte auf die herkömmliche Rechtsangleichung weitgehend verzichtet werden, vielmehr wurden Regelungssysteme in Aussicht gestellt, an denen sich auch die privaten Parteien orientieren sollen (Gemeinsamer Referenzrahmen – GRR, dazu unten Rn. 19) oder vermittels derer sie ihre vertraglichen Beziehungen gestalten können (optionales Instrument, dazu unten Rn. 20). Damit operiert die Union wie „Formulierungsagenturen“ (formulating agencies),33 etwa UNIDROIT oder die International Chamber of Commerce (ICC), welche ohne legislative Befugnis im internationalen Wirtschaftsrecht den Akteuren einheitliche Bestimmungen an die Hand geben. Der Einfluss der Rechtsvergleichung soll für diese beiden unterschiedlichen Arten der Rechtssetzung im Europäischen Privatrecht getrennt dargestellt werden.

a) Herkömmliche Rechtsangleichung 13 Üblicherweise wird dem Entwurf eines Rechtsaktes der Union auf dem Gebiet des Privatrechts

eine – regelmäßig eher kurz gehaltene – Bestandsaufnahme vorausgeschickt, in der die Regelungen des betroffenen Sachgebiets in den Mitgliedstaaten dargestellt werden.34 Teilweise geschieht dies im Rahmen eines „Grünbuchs“,35 mit dem das Bedürfnis einer Maßnahme auf europäischer Ebene begründet werden soll (so etwa zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie36 oder zur Umwelthaftungsrichtlinie,37 im Zivilprozessrecht zum Mahnverfahren,38 im IPR zum Erb- und Testamentsrecht,39 sehr viel detaillierter rechtsvergleichend waren dagegen die Berichte zum EuGVÜ40 sowie zum EVÜ41 verfasst). Damit wird auch bereits eine wichtige Funktion dieser Art der Darstellung der verschiedenen Rechtsordnungen deutlich: Den dort angeführten Regelungsunterschieden zwischen den Rechten der Mitgliedstaaten werden negative Auswirkungen auf den Binnenmarkt zugeschrieben, so dass eine rechtsangleichende Maßnahme auf EU-Ebene zumindest sinnvoll erscheint und insoweit die Voraussetzungen der Kompetenzgrundlagen,

_____ 29 Vgl. Spindler/Stilz-Sester, Aktiengesetz (2. Aufl. 2010), § 161 AktG Rn. 5. 30 Dazu etwa Fleischer, ZHR 174 (2010), 385–428. Vgl. Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 57. 31 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1. 32 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg. 33 Vgl. Berger, The Creeping Codification of the New Lex Mercatoria (2010), S. 88 ff. 34 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 32 Rn. 2; Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 576. 35 Eine Liste der seit 1993 veröffentlichten Grünbücher findet sich unter http://ec.europa.eu/green-papers/index_ de.htm. 36 Grünbuch der Kommission v. 15.11.1993 über Verbrauchsgütergarantien und Kundendienst, KOM(1993) 509 endg. 37 Grünbuch der Kommission v. 14.3.1993 über die Sanierung von Umweltschäden, KOM(1993) 47 endg. 38 Grünbuch der Kommission v. 20.12.2002 über ein Europäisches Mahnverfahren und über Maßnahmen zur einfacheren und schnelleren Beilegung von Streitigkeiten mit geringen Streitwert, KOM(2002) 746 endg, S. 53 ff. 39 Grünbuch der Kommission v. 1.3.2005 zum Erb- und Testamentsrecht, KOM(2005) 65 endg. 40 Bericht von Herrn P. Jenard zu dem Übereinkommen v. 27.9.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 1979 C 59/1 (Jenard-Bericht). 41 Bericht über das Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht von Herrn Mario Giuliano, Professor an der Universität Mailand, und Herrn Paul Lagarde, Professor an der Universität Paris I, ABl. 1980 C 282/1 (Giuliano-Lagarde-Bericht).

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

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etwa der Art. 114 oder Art. 55 Abs. 2 lit. g) AEUV, als gegeben angesehen werden können.42 Zur Rechtfertigung der Harmonisierung reicht jedoch regelmäßig das Aufzeigen von Unterschieden zwischen den nationalen Rechtsordnungen aus, ohne dass es einer vertieften inhaltlichen Bewertung dieser Regelungsdifferenzen bedarf.43 Somit kommt es auf einen als wesentlich angesehenen Bestandteil der Rechtsvergleichung gar nicht mehr an, sondern es bleibt bei der bloßen Darstellung unterschiedlicher Bestimmungen. Außerdem genügt in der Regel eine Gegenüberstellung der Gesetzeslage im Sinne einer Normenvergleichung, ohne dass noch auf Unterschiede in Rechtsprechung oder Rechtspraxis einzugehen ist. Schließlich ist auch die Auswahl der Rechtsordnungen begrenzt: Sie beschränkt sich auf die Mitgliedstaaten der Union, weil nur diese für die Frage des Regelungsbedarfs ausschlaggebend sind. Die letztlich aufgrund der begrenzten Einzelermächtigung des Unionsgesetzgebers erforderliche Methode der Kompetenzbegründung erfordert daher nur eine reduzierte Art der Rechtsvergleichung. Eine weitere Funktion der Rechtsvergleichung bei der Angleichung des Privatrechts auf eu- 14 ropäischer Ebene könnte in der Orientierung der zu erlassenden Bestimmungen an in einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen bestehen. Dies entspräche der klassischen Verwendung komparativer Studien bei der Rechtssetzung sowohl für Reformen auf nationaler Ebene44 wie bei der Schaffung internationalen Einheitsrechts.45 Ebenso wenig wie staatliche Gesetzgeber und internationale Regelsetzer ist die Union jedoch gehalten, ihre Rechtsvorschriften an denen von Mitgliedstaaten auszurichten. Unterschiede zwischen den mitgliedstaatlichen Privatrechten können vielmehr auch dadurch entschärft oder ausgeglichen werden, dass in sämtlichen Rechtsordnungen völlig neuartige Bestimmungen eingeführt werden. Andererseits muss sich die Union bei der rechtsvergleichenden Ermittlung einer angemes- 15 senen Problemlösung im Bereich des Rechtsangleichungsakts nicht auf die Rechtslage in den Mitgliedstaaten beschränken, sondern kann auch „externe“ Regelungen berücksichtigen (so etwa bei der Abstimmung der europäischen Rechnungslegungsstandards mit den International Accounting Standards durch die IAS/IFRS-Verordnung 46 sowie die Änderung der Jahresabschluss-Richtlinien47 oder bei den vom U.S.-amerikanischen System beeinflussten Überlegungen zum zukünftigen Kapitalschutz im Gesellschaftsrecht)48 – immer vorausgesetzt, ihre Rezeption führt nicht zu Friktionen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, deren negative Folgen die positiven Wirkungen der Rechtsangleichung überwiegen.

_____ 42 Ähnlich Bleckmann, ZVglRWiss 75 (1976), 106, 116 ff., der für die Rechtsangleichung allerdings den Nachweis verlangt, dass zumindest in einem Mitgliedstaat bereits eine Regelung vorhanden sein müsse. 43 Vgl. auch Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1268. Allenfalls muss noch festgestellt werden, ob das Ausmaß der Unterschiede die Unionsziele in dem Maße beeinträchtigt, dass ein Tätigwerden auf EU-Ebene erforderlich ist. 44 So etwa bei der Erarbeitung des niederländischen „Nieuw“ Burgerlijk Wetboek, vgl. Hondius, AcP 191 (1991), 378, 394 f. Dazu oben Rn. 2, 4. 45 Dazu bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 254 ff. Vgl. oben Rn. 4. 46 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1, inhaltlich ausgeführt durch Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission v. 3.11.2008, ABl. 2008 L 320/1. Vgl. dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 592 ff. 47 Richtlinie 2003/51/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2003 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG, 86/635/EWG und 91/674/EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, von Banken und anderen Finanzinstituten sowie von Versicherungsunternehmen, ABl. 2003 L 178/16. 48 Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament v. 21.5.2003 „Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union – Aktionsplan“, KOM(2003) 284 endg, S. 21.

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1. Teil: Grundlagen

Interessanterweise legt die Europäische Kommission ihre aus den Mitgliedstaaten übernommenen Anregungen für harmonisierende Bestimmungen weniger offen, als dies bei nationalen Gesetzgebungsprojekten oder Entwürfen internationalen Einheitsrechts der Fall ist.49 Anscheinend soll vermieden werden, dass die jeweilige Vorbildrechtsordnung als Grundlage für die Auslegung herangezogen und auf diese Weise das Unionsrecht vom Recht einzelner Mitgliedstaaten geprägt wird. Das wäre mit der Vorstellung einer „autonomen“ Rechtsordnung auf der Ebene der EU nicht vereinbar.50 Vielfach wird allerdings von außen, d.h. durch Wissenschaft und Praxis, versucht, das Ausmaß der Übereinstimmung von Unionsbestimmungen mit – meist nationalen – Vorschriften unter Zuhilfenahme der Rechtsvergleichung zu ermitteln: So wird etwa der Klauselrichtlinie ein prägender Einfluss des – mittlerweile in das BGB überführten – deutschen AGB-Gesetzes von 1976 zugeschrieben, insbesondere beim Prinzip der Überprüfung von missbräuchlichen Klauseln in jedem Zivilverfahren sowie bei der Ausrichtung dieser Kontrolle am Maßstab von Treu und Glauben.51 Auf ähnliche Weise wird der in der Bilanzrichtlinie verwendete „true and fair view“ dem englischen Recht zugeordnet.52 Sichtbar wird eine Verwendung rechtsvergleichender Methoden bei der herkömmli17 chen Rechtsangleichung daher meist ausschließlich in den zur Rechtfertigung der Harmonisierungsziele vorgenommenen Zusammenstellungen der Regelungsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, während ihr Einfluss auf die Inhalte und damit auf die Regelungsziele der Rechtsakte im Einzelnen erst nachträglich durch vergleichende Analysen zu entschlüsseln versucht wird.

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b) Neuartige Regelungsinstrumente 18 Im Aktionsplan für „ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht“ von 2003 wurden die

dort vorgeschlagenen Maßnahmen der Union soweit es den Inhalt, also das Regelungsziel betrifft, erstmals offen auf eine breite rechtsvergleichende Grundlage gestellt.53 So sollten als „Basisquellen“ für den Gemeinsamen Referenzrahmen „die geltenden nationalen Rechtsordnungen“ herangezogen werden.54 Dazu schienen auf den ersten Blick nur die der Mitgliedstaaten zu gehören, denn als Ziel wurde unter anderem ein „gemeinsamer Nenner“ ins Auge gefasst. Zumindest der Vergleich mit „geeigneten Drittstaaten“ wurde jedoch ebenfalls angeregt, da eine Annäherung der Vertragsrechte auch im Verhältnis zu diesen bezweckt war.55 Außerdem sollte es nicht beim bloßen Normenvergleich bleiben, vielmehr war ausdrücklich auch „die Rechtsprechung der nationalen Gerichte … und die bestehende Vertragspraxis“ zu be-

_____ 49 So auch Lutter, JZ 1992, 593, 602. 50 Davon abgesehen wäre es wohl auch politisch unklug, zumindest vor Verabschiedung der Rechtsakte die inhaltliche Nähe zum Recht bestimmter Mitgliedstaaten deutlich zu machen, da dies unter Umständen Abwehrreaktionen der übrigen, die weniger erfolgreich waren, zur Folge haben könnte. Ähnlich R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 189. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 39. 51 Daneben wird aber auch die französische Herkunft einiger Vorschriften vermutet, wie etwa beim Merkmal des erheblichen Ungleichgewichts, vgl. Grabitz/Hilf-Pfeiffer, Recht der Europäischen Union (40. EL 2009), A 5 (AGBRL) Vorbem. Rn. 32. Zum Einfluss des UN-Kaufrechts auf die Kaufgewährleistungsrichtlinie etwa Grundmann, AcP 202 (2002), 40 ff. 52 So etwa Claussen, AG 1993, 278, 279; MünchKommHGB-Reiner (3. Aufl. 2013), § 264 HGB Rn. 35. Vgl. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 466. 53 So auch Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 48, der von einer rechtsvergleichenden „Großstudie“ spricht. 54 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 63. 55 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 62.

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

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rücksichtigen. 56 Schließlich wurde der Vergleichsraum über die traditionelle Rechtsvergleichung hinaus vergrößert, indem Einheitsprivatrecht, sowohl in Form damals vorhandener Gemeinschaftsregelungen wie auch internationaler Instrumente, etwa das UN-Kaufrecht, mit einzubeziehen war,57 welches seinerseits wiederum auf rechtsvergleichenden Erwägungen beruht. Dabei wurde wohl auch erwartet, dass Regelungen des internationalen Einheitsrechts aufgrund ihres neutralen Charakters den Mitgliedstaaten akzeptabel erscheinen,58 jedoch könnten die in ihnen enthaltenen Einflüsse aus Rechtsordnungen außerhalb der Union das Gegenteil bewirken.59 Aufgrund des Aktionsplans wurde jedenfalls gegenüber der bisherigen Rechtsangleichung der Einfluss der – vergleichenden – Rechtswissenschaft erheblich vergrößert, denn deren Forschungstätigkeiten sollten mit einbezogen und wirtschaftlich gefördert werden.60 Dazu hat wohl auch beigetragen, dass die zunächst auf bloße akademische Initiative hin geleisteten Vorarbeiten bereits umfangreiche Ergebnisse hervorgebracht hatten.61 Der Gemeinsame Referenzrahmen basiert in seiner akademischen Entwurfsfassung (Draft 19 Common Frame of Reference – DCFR)62 somit auf intensiven rechtsvergleichenden Studien in den verschiedenen Forschungsgruppen des Joint Network on European Private Law (CoPECL).63 Es war zu erwarten, dass bereits der DCFR bei der zukünftigen Entwicklung des Unionsrechts berücksichtigt wird.64 Der eigentliche „politische“ Gemeinsame Referenzrahmen, der von der Europäischen Kommission auf der Grundlage des DCFR zu erarbeiten ist, soll dann ausdrücklich dem Ziel der Verbesserung des bestehenden und künftigen Unionsrechts dienen.65 Für bereits im Aktionsplan mittelfristig in Aussicht gestellte und nach der Mitteilung zum 20 weiteren Vorgehen auf ihre Zweckmäßigkeit zu überprüfende „optionale Instrumente“, also von den Parteien wählbare, neben die mitgliedstaatlichen Regelungssysteme tretende zusätzliche Vertragsordnungen, wird eine mögliche Hilfestellung der Rechtsvergleichung bei der inhaltlichen Erarbeitung nicht näher beschrieben. Da sie jedoch auf dem Gemeinsamen Referenzrahmen aufbauen sollen,66 wird die dort eingesetzte vergleichende Methode auf diese Weise weitergehend genutzt. Das erste Projekt eines derartigen den Akteuren zur Wahl gestellten Rege-

_____ 56 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 63. 57 Nachweis wie vorige Fn. Dafür plädiert schon Kropholler, Internationales Einheitsrecht, S. 257 f., sofern ein vergleichbarer sachlicher (oder räumlicher) Bereich gegeben ist. 58 So Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, Rn. 60. 59 Auch die Modernität des Einheitsrechts, Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, Rn. 60, ist relativ: Immerhin gibt etwa das UN-Kaufrecht von 1980 den Stand der Rechtsvergleichung vor mittlerweile vierzig Jahren wieder. 60 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 66 ff. 61 I.E. dazu unten Rn. 37. 62 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition. Zu den damit verbundenen Methodenfragen Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 47 ff. 63 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, S. 47. 64 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 8; s.a. Röthel, in diesem Band, § 11 Rn. 45. 65 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 59–64; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, S. 2 f. 66 Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003 „Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan“, ABl. 2003 C 63/1, Ziff. 95, vgl. auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg, S. 21, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 80.

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1. Teil: Grundlagen

lungssystems ist eine Verordnung für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (V-GEKVO), welches unter Berücksichtigung der Durchführbarkeitsstudie einer Gruppe von Experten als Vorschlag der Kommission67 auf der Grundlage des DCFR erarbeitet wurde und, nach einer kritschen Begutachtung durch das European Law Institute (ELI),68 unter Begrenzung des Anwendungsbereichs auf Fernabsatzverträge, insbesondere Online-Verträge, durch das Europäischen Parlament abgesegnet wurde.69 21 Vergleicht man den beschriebenen komparativen Aufwand für die neuartigen Regelungsinstrumente im Schuldrecht, insbesondere den DCFR (zum Gesellschaftsrecht finden sich diesbezüglich keine näheren Hinweise) mit dem früher eher reduzierten Einsatz der Rechtsvergleichung bei der herkömmlichen Harmonisierung durch Richtlinien, dann wird dieser nun für das gesamte Gebiet des Privatrechts anscheinend als lohnend angesehen, während ihn die Union in der Vergangenheit bei den überschaubaren Einzelregelungen eher gescheut hat. Die neue Strategie bei der Entwicklung des Europäischen Privatrechts hat daher dazu geführt, dass die Bedeutung der Rechtsvergleichung in diesem Prozess erheblich zugenommen hat.

III. Der Einsatz der Rechtsvergleichung bei der Anwendung von Europäischem Privatrecht 22 Während die Verwendung rechtsvergleichender Ansätze im Rahmen der Privatrechtssetzung der

Union bisher in der Literatur nur wenig Beachtung gefunden hat, scheint die „rechtsvergleichende Auslegung“ etwas mehr Interesse zu wecken. Dies mag – wie oben Rn. 6 bereits erwähnt – daran liegen, dass die Tätigkeit der Gerichte, die regelmäßig Normen interpretieren und damit laufend auf die Rechtsordnung einwirken, aus Sicht von Praxis und Lehre als wichtiger angesehen wird als der meist nur in größeren Abständen erfolgende Eingriff des Gesetzgebers. 23 Da die Auslegung und Fortbildung des primären Unionsrechts70 anderen Prinzipien folgt als die des auf sekundären Rechtsakten beruhenden Europäischen Privatrechts, wird hier nur letztere, d.h. im Wesentlichen die Interpretation von Richtlinien und Verordnungen mit privatrechtlichem Inhalt, auf ihren rechtsvergleichenden Hintergrund hin untersucht. Die Auslegungshoheit auch für diese Normen des Europarechts liegt letztlich beim EuGH, weshalb dessen Tätigkeit zunächst behandelt wird (unten 1.). Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben ebenfalls Europäisches Privatrecht anzuwenden und auch eigenständig auszulegen, solange sie diesbezüglich keine Zweifel haben, die sie gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vortragen müssten. Darüber hinaus sind sie aber allein für das auf dem Unionsrecht beruhende – in der Regel nach dessen Vorgabe angeglichene – jeweilige nationale Recht zuständig, bei dessen Anwendung die Rechtsvergleichung ebenfalls zum Einsatz kommen kann (unten 2.).

1. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch den EuGH 24 Bezieht sich der EuGH als Maßstab für seine Entscheidung auf ein nationales Recht, was nur

dann möglich ist, wenn das anzuwendende Unionsrecht im Ausnahmefall auf diese Rechtsord-

_____ 67 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM (2011) 635 endg. Vgl. Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 58. 68 Abrufbar als S-2-2012 unter http://europeanlawinstitute.eu/projects/publications/, vgl. auch Wendehorst, AnwBl 2012, 536–538. Zu dieser Institution auch unten Rn. 37. 69 Legislative Entschließung v. 26.2.2014, Oral P7_TA-PROV(2014)0159. 70 Dazu ausführlich Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7. Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

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nung verweist,71 dann geht er keineswegs rechtsvergleichend vor, denn er stellt nicht mindestens zwei Regelungen einander gegenüber, um ihre Gemeinsamkeiten oder Unterschiede herauszuarbeiten. Vielmehr wendet er, ähnlich wie ein nationaler Richter aufgrund einer Anordnung durch eine Verweisungsnorm des Internationalen Privatrechts, von vornherein eine bestimmte Rechtsordnung an. Auch wenn der EuGH unterschiedliche Sprachfassungen eines Rechtsakts zur Interpretation 25 bestimmter Begriffe heranzieht, liegt darin keine Rechtsvergleichung, denn es handelt sich ja um ein und dieselbe Regelung in gleichermaßen verbindlichen Versionen. Damit ist aus den verschiedenen Sprachen zunächst der genaue, „eigentlich“ beabsichtigte Wortlaut zu ermitteln,72 der dann zum Gegenstand weiterer Auslegung wird. Wenn allerdings die Begriffe jeweils unter Zuhilfenahme der Rechtsordnungen analysiert werden, denen sie entstammen, liegt eine Art indirekte Rechtsvergleichung vor.73 Rein linguistische Vergleiche wird man dagegen regelmäßig weiterhin der Auslegung nach dem Wortlaut zuordnen.74 Damit bleibt – wenn man von der oben in Rn. 8 bereits erörterten Ermittlung allgemeiner 26 Rechtsgrundsätze absieht, welche als Lückenschließung der Rechtssetzung zugeordnet wurde – die Nutzung der Rechtsvergleichung durch den EuGH, um im Rahmen der unionsautonomen Auslegung Erkenntnisse über mögliche Interpretationsvarianten des Europäischen Privatrechts zu gewinnen75 und vor allem die privatrechtliche Argumentationsbasis zu verbreitern. Dies ist deshalb erforderlich, weil der EuGH sich bei der Auslegung des EU-Rechts traditionellerweise ganz überwiegend an der Sichtweise des institutionellen Europarechts, im Bereich des Europäischen Privatrechts bisher vor allem an den Zielen des Binnenmarktes sowie der damit verbundenen Rechtsangleichung, kurz: dem Harmonisierungszweck (vgl. oben Rn. 3), orientiert. Die in Rede stehenden Rechtsakte, also derzeit – abgesehen von den früher geltenden gemeinschaftsnahen Übereinkommen (oben Rn. 10) – Richtlinien oder Verordnungen, bezwecken jedoch daneben immer auch eine inhaltliche, genuin privatrechtliche Problemlösung im Sinne eines Regelungsziels. 76 Daher sind Rechtsmeinungen und Streitpunkte aus dem von der Anpassung betroffenen Rechtsgebiet in die Auslegung mit einzubeziehen, um die Sachfragen angemessen zu klären. Während es auf EU-Ebene derzeit vor allem an einer übergreifenden privatrechtlichen Systematik mangelt, auch wenn der DCFR77 die Lage um Einiges verbessert hat, bieten die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten diesbezüglich einen reichen Fundus, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Diese Art der Rechtsvergleichung ist jedoch auf die jeweils verwendete Auslegungsmethode abzustimmen. Im Rahmen der historischen Auslegung einer Richtlinie oder Verordnung könnten etwa die 27 privatrechtlichen Anwendungserfahrungen aus denjenigen Mitgliedstaaten berücksichtigt wer-

_____ 71 Vgl. dazu Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 706 ff.; Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4. 72 Lutter, JZ 1992, 593, 599, sieht darin bloße Textkritik. Vgl. auch Martiny, ZEuP 1998, 227, 239 ff. 73 R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 190; Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 456. Häberle, JZ 1989, 913, spricht insoweit von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode. 74 Kohler/Knapp, ZEuP 2002, 701, 720 f., M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 574 ff., Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 49 (die sie allerdings alternativ der systematischen Auslegung zuordnet). So auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 14; ebenso bereits Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 266 ff. 75 Bei Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533, als Inspirationsfunktion bezeichnet. Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (2000), S. 98, spricht von der horizontalen Funktion einer „komparativen Dogmatik“. 76 So steht etwa bei der Kaufgewährleistungsrichtlinie neben der Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt (BE 3) als Harmonisierungsziel die Stärkung des Vertrauens sowie ein Mindestmaß an Schutz für den Verbraucherkäufer (BE 5, 7) als Regelungsziel. 77 Dazu oben Rn. 19. Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

den, bei denen bereits vor Erlass des Rechtsakts der EU ähnliche Bestimmungen galten;78 dies darf jedoch keinesfalls dazu führen, dass auf längere Sicht eine national geprägte Interpretation der unionsrechtlichen Regelung nach bestimmten Vorbildern festgeschrieben wird, denn dies widerspräche dem bereits erwähnten autonomen Charakter des Unionsrechts.79 Für die systematische Auslegung, die sich ansonsten meist auf benachbartes Unionsrecht – 28 hier etwa: andere Richtlinien im Bereich des Privatrechts – bezieht, wurde zunächst angeregt, zusätzlich die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Kommission (PECL)80 als Hilfsmittel heranzuziehen, wodurch die darin eingeflossene Rechtsvergleichung nutzbar gemacht würde.81 Die PECL wurden mittlerweile in den DCFR eingearbeitet,82 so dass nunmehr zur Auslegung auf dieses aktuelle Regelwerk zurückgegriffen werden kann. Zwar wurde damit – ebenso wie durch die Lando-Grundregeln – kein Unionsrecht geschaffen, aber in Anlehnung an die U.S.-amerikanischen Restatements bietet der DCFR ein privatrechtliches Argumentationsreservoir, welches leichter als die nationalen Rechtsordnungen zugänglich ist. Ebenso wie Regelungsentwürfe83 ergänzt er andere Auslegungsmittel. Auch im Europäischen Privatrecht könnten damit Lücken geschlossen werden, wie es für den DCFR angedeutet wird,84 während es in Art. 1:101 Abs. 4 PECL noch ausdrücklich vorgesehen wurde.85 Ob darüber hinaus speziell bei der Auslegung von Richtlinien durch den EuGH im Wege der 29 teleologischen Auslegung eine Einbeziehung des von den Mitgliedstaaten in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung angeglichenen nationalen Rechts – einschließlich der jeweiligen Rechtsprechung und Lehre – sinnvoll ist,86 dürfte dagegen zweifelhaft sein. In diesem Fall bestünde nämlich die Gefahr, dass die Auslegung der Richtlinie, an deren Inhalt die mitgliedstaatlichen Rechte auszurichten sind,87 von den Umsetzungsregeln in diesen Rechtsordnungen beeinflusst wird. Dieser Zirkelschluss ist jedoch zu vermeiden. Festzuhalten bleibt, dass die Auslegungsmethoden in unterschiedlichem Maße Raum für 30 eine Unterstützung durch die Rechtsvergleichung bieten, deren Anwendung in den Entschei-

_____ 78 Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 165; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 16 f.; zur Klauselrichtlinie Grabitz/Hilf-Pfeiffer, Recht der Europäischen Union (1999), RL 93/13/EWG, Vorbem. Rn. 20. Dies ist jedenfalls dort möglich, wo die Bestimmung, die Modell gestanden hat, hinreichend eindeutig zu erkennen ist, dazu etwa Gruber, Methoden des Internationalen Einheitsrechts (2004), S. 192 f., sowie oben Rn. 16 bei Fn. 49. Für das UN-Kaufrecht wird unter diesen Umständen eine derartige nationale Einfärbung der Interpretation als Ausnahme von der autonomen Auslegung angeregt, Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 10 mwN. 79 R. Schulze, ZfRV 1997, 183, 189; Lutter, JZ 1992, 593, 601 f. 80 v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts, Teil I und II (2002), Teil III, (2005). Einführend etwa Busch/Hondius, ZEuP 2001, 223–247, vgl. auch Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 560 ff. 81 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 48, ebenso Berger, FS Sandrock, S. 60 f., zur Verwendung der UNIDROIT-Principles. Vgl. auch Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 39. 82 Die PECL wurden bei der Erstellung des Gemeinsamen Referenzrahmens (dazu oben Rn. 18 f.) berücksichtigt, v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 49, vgl. auch Pfeiffer, ZEuP 2008, 679–707. 83 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 27 f. 84 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke, Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, Introduction Nr. 8. 85 Auch wenn in erster Linie an Lückenfüllung in einem nationalen Recht gedacht ist, v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002), S. 89 f. Vgl. dazu Schwartze, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007), S. 149. 86 So Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 274. Generell für eine Einbeziehung der Rechtsvergleichung in die teleologische Auslegung des Unionsrechts schon Grabitz/Hilf-Nettesheim (2009), Art. 1 EGV Rn. 79, 87; ähnlich nun Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 59. 87 Siehe dazu sogleich Rn. 32. Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

65

dungen des EuGH jedoch nur selten offen gelegt wird.88 Überdies stützt sich der EuGH meist nur auf ausgewählte Rechtsordnungen, um daraus Anregungen zu entnehmen.89 Allerdings ist auch bei der Anwendung des Europäischen Privatrechts das Unionsorgan, hier der EuGH, nicht verpflichtet, rechtsvergleichende Analysen vorzunehmen. Insofern besteht kein Unterschied zu den nationalen Gerichten, die bei der Auslegung ihres heimischen Rechts daran ebenso wenig gebunden sind.

2. Auslegung von Europäischem Privatrecht durch nationale Gerichte Für die Auslegung des Unionsrechts durch die Gerichte der Mitgliedstaaten gilt das eben zum 31 EuGH Ausgeführte (oben 1.). Die Anwendung des an die Vorgaben vor allem aufgrund von Richtlinien angepassten innerstaatlichen Rechts, bei dem es sich ebenfalls um Europäisches Privatrecht, allerdings in nationalem Gewande, handelt, steht jedoch allein den heimischen Gerichten zu, weshalb dieser Teil ihrer Tätigkeit hier getrennt zu untersuchen ist. Einhelligkeit besteht darüber, dass das vom Unionsrecht beeinflusste nationale Privatrecht 32 bei der Rechtsanwendung anders zu behandeln ist, als die allein auf innerstaatlichen Erwägungen gegründeten Rechtssätze. Dies beruht auf der Fortwirkung der europäischen Vorgaben im nationalen Recht.90 Damit wird es erforderlich, einer national geprägten Anwendung und Auslegung des unionsrechtlich angeglichenen Rechts entgegenzuwirken und zu einer möglichst einheitlichen Interpretation innerhalb der EU zu gelangen. Dazu kann vor allem ein Vergleich mit der Rechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten zu einem Rechtsakt der Union oder zu den darauf beruhenden Umsetzungsbestimmungen beitragen.91 Eine derartige „Beobachtung“ parallel ergangener Entscheidungen wird deshalb im internationalen Einheitsrecht vielfach durch spezielle teleologisch geprägte Auslegungsregeln angeregt. So verlangt etwa Art. 7 Abs. 1 CISG unter anderem, bei der Interpretation des Übereinkommens „seine einheitliche Anwendung … zu fördern“, wozu in erster Linie die Aufdeckung möglicher abweichender Auslegung durch die Ermittlung ausländischer Rechtsprechung beiträgt.92 Auch im europäisch verankerten Einheitsrecht wurde dieser Grundsatz etwa in Art. 18 EVÜ für die Auslegung des Europäischen Vertrags-

_____ 88 Vgl. Rodriguez Iglesias, NJW 1999, 1, 8; Kakouris, Pace Int’l L. Rev. 6 (1994), 267, 275 ff.; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 533; Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 576; Smits, in: Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law, S. 40; Everling, ZEuP 1997, 802, der auf deutlichere Hinweise in den Schlussanträgen der Generalanwälte verweist, ebenso Hess, IPRax 2006, 348, 352, zum Europäischen Zivilprozessrecht, ähnlich Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1269; krit. zur vernachlässigten Rechtsvergleichung in Bezug auf deliktsrechtliche Entscheidungen B. Koch, in: Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveranität der Mitgliedstaaten (2008), S. 507. Beispiele bieten etwa GA Tizzano, SchlA v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Simone Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 40– 42, wo recht pauschal die Entwicklung in den Mitgliedstaaten zum Ersatz entgangener Urlaubsfreude verglichen wird, oder GA Darmin SchlA v. 2.12.1992 – Rs. C-172/91 Sonntag, Slg. 1993, I-1963 Tz. 28–40, der im Überblick die Art des Rechtsweges bei Schadensersatzansprüchen gegen Beamte in den damaligen zwölf Mitgliedstaaten darstellt. S.a. Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 44; Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 8, 31. 89 Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 48. 90 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 38 ff. 91 Basedow, in: Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Privatrechtsdogmatik (1999), 79, 98. Zudem können auf diese Weise mögliche Umsetzungswidersprüche des eigenen Rechts aufgedeckt werden, vgl. Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 9. Vgl. auch Michaels, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1269. 92 Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 17; Staudinger-Magnus, Art. 7 CISG Rn. 21; Kramer, Juristische Methodenlehre, S. 304.

Schwartze

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1. Teil: Grundlagen

kollisionsrechts ganz ähnlich formuliert und verstanden,93 ebenso in den Europäischen Vertragsgrundregeln (Art. 1:106 Abs. 1 S. 2 PECL)94 sowie in Art. I.-1:102 Abs. 3 lit. a) DCFR. Wenn auch in den EU-Richtlinien entsprechende Anweisungen fehlen, so verlangt der Vorrang des selbstverständlich einheitlich anzuwendenden Unionsrechts eine entsprechende rechtsvergleichend ausgerichtete Interpretation für das angeglichene Privatrecht der Mitgliedstaaten.95 Für den Vergleich heranzuziehen sind allerdings allein die Rechtsordnungen, für die eine 33 einheitliche Auslegung verlangt wird, also die EU-Mitgliedstaaten (einschließlich wohl auch der EWR-Staaten)96 – diese haben in Erfüllung der Umsetzungsverpflichtung ihr nationales Recht angeglichen, so dass jeweils erkennbar wird, wie ihre Gesetzgeber und Gerichte die Zielvorgaben der Union verstehen. Dafür ist es allerdings erforderlich, den Gerichten die notwendigen Informationen über ausländische Gerichtsentscheidungen zugänglich zu machen. Der Aufbau entsprechender Datenbanken, ähnlich wie zum UN-Kaufrecht CLOUT oder UNILEX,97 steht jedoch noch am Anfang.98 Auch die aufbereitende Literatur fehlt bisher nahezu vollständig, da Kommentare zu den nationalen Umsetzungsregelungen kaum auf ausländische Entscheidungen zu parallelen Normen in anderen Mitgliedstaaten eingehen.99 34 Inwieweit eine Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte bezüglich dieser Art der Rechtsvergleichung angenommen werden kann, ist wie regelmäßig bei Auslegungsfragen nur schwer zu bestimmen: Zumindest sollte eine Auseinandersetzung mit dem Richtlinienverständnis in anderen Mitgliedstaaten erkennbar werden, die Bewertung unterliegt dagegen dem Ermessen der Richter. Natürlich besteht keine Bindung an die Entscheidungen ausländischer Gerichte, man sollte ihnen allerdings eine nicht unerhebliche persuasive authority zumessen.100 35 Da der Bestand des Europäischen Privatrechts in den letzten Jahren weiterhin zugenommen hat, dürfte vor allem bei den Gerichten der Mitgliedstaaten die Zahl der Entscheidungen zum umgesetzten Recht ansteigen. Damit müsste auch die Bedeutung der rechtsvergleichenden Methode bei der Anwendung dieser Regelungen wachsen.

_____ 93 Zur rechtsvergleichenden Orientierung an ausländischer Rechtsprechung etwa Rummel-Verschraegen, ABGB (3. Aufl. 2004), Art. 18 EVÜ Rn. 13. 94 Inhaltlich übereinstimmend Art. 1.6. UPICC. 95 Dafür auch Lutter, JZ 1992, 593, 604; Kötz, JZ 2002, 257, 258; Mansel, JZ 1991, 529, 531; Gruber, ZVglRWiss 101 (2002), 38, 42; weitergehend Odersky, ZEuP 1994, 1, 3 f., aus schweizerischer Sicht G. Walter, ZSR 125 (2007), 259, 273. Zum dadurch entstehenden Aufwand skeptisch Berger, FS Sandrock, S. 60. Krit. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 34 f. Ähnlich in Bezug auf Art. 4 V-GEK Schulze-Schulte-Nölke, CESL (2012), Art. 4 Rn. 3. 96 Die Schweiz oder andere, etwa osteuropäische, Staaten, in denen Unionsrecht teilweise freiwillig übernommen wird („autonomer Nachvollzug“, dazu etwa Schnyder, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 206), sind aus dieser Perspektive nicht in die rechtsvergleichenden Überlegungen mit einzubeziehen. 97 Zu diesen Projekten etwa Herber, RIW 1995, 502–504. 98 Eines der ersten Projekte dieser Art stellte die „JURE Database – Jurisdiction Recognition Enforcement“ zur EuGVVO, http://ec.europa.eu/civiljustice/jure/, dar, an der der Verfasser als zuliefernder Experte für österreichische Entscheidungen mitwirkte. Eine Weiterentwicklung führte zur, allerdings kostenpflichtigen, Datenbank zum internationalen und europäischen Einheitsrecht „Unalex“ (http://www.unalex.eu/), die eine Vielzahl von Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte etwa zur Rom I- und Rom II-VO sowie zur Brüssel I-VO enthält. 99 So wird etwa in deutschen Kommentierungen zum Widerrufsrecht bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, welches in allen Mitgliedstaaten früher auf der Haustürgeschäfterichtlinie nunmehr auf der Verbraucherrechterichtlinie basiert, meist gar nicht auf die Rechtsprechung anderer EU-Mitglieder eingegangen, ein wenig mehr findet sich im traditionell stärker auf Nachbarrechtsordnungen Bezug nehmenden Österreich, vgl. etwa Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Mayrhofer/Tangl, ABGB (3. Aufl. 2006), § 3 KSchG Rn. 23 Fn. 73, Rn. 35 Fn. 92, jedoch jeweils allein zur deutschen Rechtsprechung. Ausführlich auf Urteile aus zahlreichen Mitgliedstaaten gestützt wird die Kommentierung der EuGVVO dagegen von Simons/Hausmann (Hrsg.), unalex Kommentar Brüssel IVerordnung (2012). 100 Ähnlich für das UN-Kaufrecht Schlechtriem/Schwenzer-Ferrari, Art. 7 CISG Rn. 24. Schwartze

§ 4 Die Rechtsvergleichung

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IV. Der Einsatz der Rechtsvergleichung in Forschung und Lehre zum Europäischen Privatrecht Im Bereich der Wissenschaft tritt der bislang erörterte praxisorientierte Anwendungsbezug der 36 rechtsvergleichenden Methode in den Hintergrund. Dort dient sie weniger als Hilfsmittel, vielmehr erfüllt sie vor allem ihre primäre Funktion, die Erkenntnisse über rechtliche Normen zu bereichern und die Vielfalt möglicher Regelungsmodelle zu veranschaulichen.101 Dadurch eignet sie sich besonders für die juristische Ausbildung,102 wo sie allerdings wiederum eine unterstützende Aufgabe wahrnimmt und ihre praktische Verwertung dominiert. Beide Aspekte, Forschung wie Lehre, wirken sich im Gegenzug auf die zuvor dargestellte Rechtssetzung und Rechtsanwendung aus, soweit die Ergebnisse der wissenschaftlichen Rechtsvergleichung wahrgenommen werden und die rechtsvergleichend ausgebildeten Juristen ihre erworbenen Kenntnisse anwenden. In welchem Maße dies für das Europäische Privatrecht gilt, soll daher ergänzend dargestellt werden.

1. Wissenschaftliche Projekte Es drängt sich der Eindruck auf, dass in den letzten Jahren die wissenschaftlich fundierte 37 Rechtsvergleichung mit Bezug zum Europäischen Privatrecht einen starken Aufschwung erlebt hat. Das liegt sicherlich daran, dass eine ganze Anzahl unterschiedlicher Forschungsgruppen oder akademischer Netzwerke gebildet wurden, die sich mit verschiedenen Aspekten dieser Materie befassen:103 Neben der bereits Anfang der Achtziger Jahre von Ole Lando (Kopenhagen) gegründeten, aber erst etwa zehn Jahre später an die Öffentlichkeit getretenen104 „Commission on European Contract Law“, welche die bereits erwähnten PECL erarbeitete (vgl. oben Rn. 28), beschäftigen sich sowohl die „Academia dei Giusprivatisti Europei“ unter dem Vorsitz von Giuseppe Gandolfi (Pavia) wie auch die von Stefan Grundmann (Berlin/Florenz) geleitete „Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht (SECOLA)“ mit den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten. Ein breiteres Gebiet bearbeiten sowohl die durch Christian von Bar (Osnabrück) geführte „Study Group on a European Civil Code“ mit ihren Untergruppen (einschließlich des in Innsbruck beheimateten Restatement-Projekts zum Versicherungsvertragsrecht unter der Leitung von Helmut Heiss, Zürich) wie die von Hans Schulte-Nölke (Osnabrück) koordinierte „Acquis Group“, die sich am geltenden Privatrecht der Europäischen Union ausrichtet. Weitere derartige think tanks befassen sich mit dem Deliktsrecht („European Centre of Tort and Insurance Law – ECTIL“,105 geleitet von Helmut Koziol, Wien), dem Verfahrensrecht (Storme-Kommission, mittlerweile unter der Obhut von UNIDROIT) oder generell mit dem „Common Core of European Private Law“106 (Mauro Bussani/ Ugo Mattei, Trento). Eine völlig neue Dimension gewinnt die rechtsvergleichende Zusammenarbeit in Europa mit dem nach dem Vorbild des American Law Institute im November 2011 gegründeten European Law Institute (ELI), welches explizit praxisorientiert sowohl durch ELI-State-

_____ 101 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 14; Siems, Comparative Law (2014), S. 2 f. 102 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 20; vgl. auch Brand, JuS 2003, 1083, 1084. 103 Dazu auch Schmidt-Kessel, RIW 2003, 481, 483 f.; Smits, in: Twigg-Flesner (Hrsg.), European Union Private Law, S. 41 f.; sowie ausführlich Riedl, Vereinheitlichung des Privatrechts in Europa (2004), S. 161 ff. 104 Lando, RabelsZ 56 (1992), 261 ff. 105 Zu den Principles of European Tort Law etwa Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 564 f. 106 Vgl. etwa Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 557 f.

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1. Teil: Grundlagen

ments aktuelle Entwicklungen im Unionsrecht kritisch beleuchten als auch durch ELI-Instruments neue Projekte auf den Weg bringen will.107 Allen diesen Gruppen ist gemeinsam, dass sie dezidiert rechtsvergleichend arbeiten, einige 38 vorwiegend (Acquis Group) oder teilweise (SECOLA) innerhalb des von der Union erlassenen Privatrechts. Ebenfalls sämtliche Initiativen haben bereits umfangreiche Ergebnisse vorgelegt oder planen dies in naher Zukunft, wobei sowohl Regelungstexte entstanden sind – am bekanntesten bisher die Europäischen Vertragsgrundregeln der Lando-Gruppe, mittlerweile jedoch der DCFR – wie auch monographisch-deskriptive Untersuchungen. Es war allerdings notwendig, die zwar personell teilweise verknüpften aber inhaltlich unabhängig voneinander operierenden Netzwerke zu koordinieren oder zumindest die Früchte ihrer Arbeit zu konsolidieren,108 was innerhalb des zur Erarbeitung des Gemeinsamen Referenzrahmens errichteten „Joint Network on European Private Law – CoPECL“ weitgehend geschehen ist. 39 Auf jeden Fall steht nicht zuletzt mit der voluminösen Full Edition des DCFR109 mittlerweile umfangreiches rechtsvergleichendes Material zur Verfügung, welches von Rechtssetzung und Rechtsprechung sowohl auf europäischer Ebene als auch in den Mitgliedstaaten, aber ebenso von Rechtsanwendern wie etwa Vertragsparteien, verwendet werden kann. In dem Maße, in dem dieses Angebot genutzt wird, steigt auch die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Weiterentwicklung des Europäischen Privatrechts. Der Aktionsplan der Kommission zum Vertragsrecht, in dem die Einbeziehung der Europäischen Vertragsgrundregeln vorgesehen war und dessen Ausführung zum gewichtigen Teil dem „CoPECL“ übertragen wurde, hat wesentlich dazu beigetragen, die Vorteile einer wissenschaftlich fundierten Rechtsvergleichung umfassend auszuschöpfen – auch wenn einige der oben erwähnten Ressourcen dabei noch wenig genutzt bleiben.

2. Juristische Ausbildung 40 Eine ähnliche Entwicklung wie in der rechtsvergleichenden Forschung deutet sich in den ju-

ristischen Studiengängen an: Auf der Grundlage des DCFR sowie der vermehrt erscheinenden rechtsvergleichend angelegten Lehr- und Handbücher, vom „Europäischen Vertragsrecht“ (Kötz/ Flessner sowie Kadner Graziano)110 sowie dem „European Tort Law“111 über das „Europäische Obligationenrecht“ (Ranieri)112 bis hin zum „Ius Commune Casebook – Contract Law“ (Beale/ Kötz/Hartkamp/Tallon),113 wird eine Einbeziehung der verschiedenen Privatrechte der Mitgliedstaaten im Sinne eines „gemeineuropäischen Privatrechts“ in die Veranstaltungen zum inner-

_____ 107 Wendehorst, RZ 2012, 58, 59; Wicke, DNotZ 2011, 803, 806. 108 So für die Privatrechtsvereinheitlichung allgemein bereits die Forderung von Kramer, JBl. 1988, 477, 487. 109 v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition (2004), 6563 Seiten. 110 Bisher nur Kötz, Europäisches Vertragsrecht, Bd. I: Abschluss, Gültigkeit und Inhalt des Vertrages – Die Beteiligung Dritter am Vertrag (1996) bzw. Kadner Graziano, Europäisches Vertragsrecht (2008). 111 Van Dam, European Tort Law (2. Aufl. 2013); rechtsvergleichend auch Brüggemeier, Haftungsrecht: Struktur, Prinzipien, Schutzbereich (2006) sowie v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I (1996), Bd. II (1999). 112 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (3. Aufl. 2009). 113 Beale u.a. (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Contract Law (2. Aufl. 2010). In der gleichen Reihe van Gerven/Larouche/Lever, Cases, Materials and Text on National, Supranational and International Tort Law (2000); Beatson/Schrage Hrsg.), Cases, Materials and Text on Unjustified Enrichment (2003); Micklitz u.a. (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Consumer Law (2010) sowie van Erp/Akkermans (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Property Law (2012).

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§ 4 Die Rechtsvergleichung

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staatlichen Recht erleichtert.114 Auf diese Weise gelangt die Rechtsvergleichung sinnvollerweise aus der Abgeschiedenheit der Wahl- oder Nebenfächer in das Zentrum des Rechtsunterrichts.115 Darüber hinaus werden Studiengänge entwickelt, in denen die Grundlagen auch des Privat- 41 rechts ohne Beschränkung auf eine bestimmte nationale Rechtsordnung vermittelt werden, wie etwa das Beispiel der von Bremen, Oldenburg sowie Groningen getragenen „Hanse Law School“116 zeigt. Ähnlich wie in den USA wird in diesem Programm nicht mehr ein regionales (dort: Bundesstaaten-, hier: Mitgliedstaaten-)Recht gelehrt, sondern es werden die wesentlichen Elemente der europäischen Rechtsordnungen übergreifend dargestellt.117 Auch auf diesem Feld, der Vermittlung des Europäischen Privatrechts, ist damit zu erwar- 42 ten, dass die Bedeutung der Rechtsvergleichung zunimmt, was durch die Verbreitung von auf dieses Gebiet ausgerichteten Fachzeitschriften118 erleichtert wird.

V. Ausblick – Rechtsvergleichung in einem zunehmend integrierten Rechtsraum Die bisher vorgenommene Einschätzung der Bedeutung der Rechtsvergleichung für das Europäi- 43 sche Privatrecht, nach der diese insgesamt eher ansteigt, basiert auf der derzeitigen Situation, in der sich eine gemeinsame europäische Rechtsordnung noch im Werden befindet – wenn dieser Prozess anscheinend auch weiterhin an Dynamik gewinnt. Geht man davon aus, dass in der EU mehr und mehr einheitliches Recht entsteht, bis diese Entwicklung irgendwann einmal an ihr Ende kommt, dann sinkt allerdings die Relevanz eines Vergleichs nationaler Rechtsordnungen innerhalb der Union, weil es dafür zunehmend weniger Material gibt sowie ein immer geringeres Bedürfnis besteht. Ähnlich wie früher zwischen den nationalen Rechtsordnungen nach der jeweiligen internen Vereinheitlichung durch die Zivilrechtskodifikationen Rechtsvergleichung betrieben wurde, könnte jedoch für den Vergleich mit außerhalb der EU bestehenden Privatrechten das Interesse zunehmen. Zumindest im Vertragsrecht, aber wohl auch im Gesellschaftsrecht, erscheint es nach der 44 „Wende“ hin zu freiwilligen statt verpflichtenden Unionsregelungen jedoch eher wahrscheinlich, dass in vielen Bereichen neben den derzeit 27 nationalen Regelungssystemen ein weiteres, europäisches Normengefüge dauerhaft etabliert wird. Auch im Hinblick auf die Wahl der Akteure zwischen diesen Rechtsordnungen müssen deren Vor- und Nachteile im Einzelfall verglichen werden, wodurch sich der Rechtsvergleichung ein zusätzliches Arbeitsfeld erschließt. Letztlich ist aber festzuhalten, dass die Anwendung der Rechtsvergleichung im Europarecht 45 – abgesehen vom Ausnahmebereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze (oben Rn. 8) – in keinem der betrachteten Gebiete vorgeschrieben wird. Vielmehr hängt ihr Einsatz davon ab, dass die jeweiligen Nutzer (Gesetzgeber, Richter, Praktiker, aber auch Wissenschaftler, Studierende und Lehrende) sich von ihr Vorteile versprechen. Daher kann die künftige Bedeutung dieser Methode auch im Bereich des Europäischen Privatrechts langfristig nur schwer eingeschätzt werden. neue Seite

_____ 114 So auch Kadner Graziano, ZVglRWiss 106 (2007), 249, 269. 115 Eine derartige Entwicklung unterstützt etwa Zimmermann, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 548. 116 Das Programm findet sich unter http://www.uni-oldenburg.de/hanselawschool/. 117 Befürwortend etwa Werro, in: Furrer (Hrsg.), Europäisches Privatrecht im wissenschaftlichen Diskurs (2006), S. 119. 118 Beginnend 1993 sowohl mit der Zeitschrift für Europäisches Privatrecht (ZEuP), als auch mit der European Review of Private Law (ERPL). Mittlerweile haben sich für einzelne Gebiete spezielle Titel etabliert, so etwa seit 2005 die European Review of Contract Law (ERCL) oder seit 2010 das Journal of European Tort Law (JETL).

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1. Teil: Grundlagen

§5 Vom Wert ökonomischer Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 1. Teil: Grundlagen Franck

Jens-Uwe Franck § 5 Vom Wert ökonom. Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt Literatur Horst Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995/3. Aufl. 2005); Thomas Eger/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung (2007); dies. (Hrsg.), Research Handbook on the Economics of European Union Law (2012); Eva-Maria Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Klaus Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit? (3. Aufl. 2009); ders. (Hrsg.), Law and Economics in Europe (2014); Willem Molle, The Economics of European Integration (5. Aufl. 2006); Richard A. Posner, Economic Analysis of Law (8. Aufl. 2011); Hans-Bernd Schäfer/Claus Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts (5. Aufl. 2012); Michael Schillig, The Contribution of Law and Economics as a Method of Legal Reasoning in European Private Law, ERPL 17 (2009), 853–893; Hal R. Varian, Intermediate Microeconomics (8. Aufl. 2010).

I. II.

III.

Übersicht Einführung | 1–2 Grundlagen | 3–17 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik | 3–5 2. Posners „everyday pragmatism“ | 6 3. Kritik folgenorientierter Denkweise (Hayek) | 7–8 4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes | 9–14 a) Neue Institutionenökonomik | 9–10 b) Behavioural Law and Economics | 11–12 c) Economics of Happiness | 13–14 5. Zwischenfazit | 15–16 Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt | 17–48 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte | 17–22

2.

IV.

Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz | 23–28 3. Zur Wahl der Regelungsebene | 29–40 a) Vorteile einheitlicher Regelungen | 32–34 b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung | 35–40 4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) | 41–46 Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt | 47–61 1. Grundfreiheiten | 47–51 2. Sekundärrecht | 52–58 3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren | 59–61

I. Einführung 1 Die Frage nach dem Wert ökonomischer Erkenntnisse für das Recht beschäftigt die Jurisprudenz

und insbesondere die Zivilistik seitdem „Law and Economics“ in den 1960er Jahren in den Vereinigten Staaten zum Siegeszug ansetzte1 und die Einsichten dieses Forschungsansatzes auch in

_____ 1 An U.S.-amerikanischen Law Schools ist „Law and Economics“ seit einigen Jahren der dominierende Forschungsansatz. Standardlehrbuch ist neben Posner, Economic Analysis of Law etwa Cooter/Ulen, Law & Economics (5. Aufl. 2007). Als enzyklopädisches Standardwerk gilt Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law (1998/2001).

Franck

§ 5 Vom Wert ökonom. Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt

71

Europa rezipiert wurden.2 Kaum zu bestreiten ist, dass das analytische und empirische Instrumentarium der Ökonomik in vielen Fällen geeignet ist, die Folgen einer Rechtsregel aufzuspüren und zu klären, ob sie im Sinne des Regelgebers wirkt bzw. wirken kann. Allerdings konzentriert sich die Diskussion um die „ökonomische Analyse“ häufig auf die Frage, inwieweit diese beeinflussen darf, wie Rechtsregeln auszugestalten und anzuwenden sein sollen. Die Grundlagen (wohlfahrts-)ökonomischer Analyse, zumal die rechtsphilosophischen, sind Gegenstand fortdauernder Kontroversen. Der Aussagewert ökonomischer Argumente für Normsetzung und -anwendung ist von Wertungen im Recht abhängig. Nachzugehen ist deshalb den normativen Vorgaben für die rechtlichen Regelungen, die dem Binnenmarktziel verpflichtet sind. Mit ihnen wird einschätzbar, inwieweit Effizienzanalysen für Ausformung, Auslegung und Fortbildung dieser marktbezogenen Rechtsnormen Gewicht zukommen kann. Anhand von Beispielen soll veranschaulicht werden, dass Raum ist für ökonomisch fundierte Argumente und mit ihrer Einbeziehung ein (Mehr-)Wert einhergeht. Ökonomische Theorie des Rechts ist kein Forschungsansatz „aus einem Guss“. Dies hat sei- 2 nen Grund darin, dass die Ökonomik wie jede Wissenschaft von Kontroversen hinsichtlich ihrer Methoden und Forschungsergebnisse geprägt wird. Die Überzeugungskraft ökonomischer Argumentationsmuster im rechtswissenschaftlichen Diskurs hängt deshalb davon ab, diese intradisziplinären Auseinandersetzungen nicht zu negieren, sondern auf Augenhöhe mit dem Stand der ökonomischen Forschung zu argumentieren. Gründete sich die „ökonomische Analyse des Rechts“ ursprünglich im Wesentlichen auf eine wohlfahrtsökonomische Analyse beschränkt auf das Instrumentarium neoklassischer Preistheorie,3 so muss eine zeitgemäße ökonomische Theorie des Rechts auch deren Erweiterungen und Alternativen in den Blick nehmen: spieltheoretische Ansätze, Auseinandersetzungen mit den „Unvollkommenheiten“ realer Märkte (externe Effekte, Transaktionskosten, systematische Informationsasymmetrien) und schließlich auch Herausforderungen durch von der Psychologie inspirierte Forschungsansätze der experimentellen Ökonomik („Behavioural Economics“ und „Economics of Happiness“).4

II. Grundlagen 1. Utilitarismus und Wohlfahrtsökonomik Die rechtsphilosophischen Grundlagen einer ökonomischen Theorie des (geltenden) Rechts sind 3 Gegenstand intensiver Debatten. Augenfällig ist der Traditionszusammenhang zum Utilitarismus.5 Das utilitaristische Prinzip geht davon aus, dass sich gesamtgesellschaftlicher Nutzen als Summe individueller Nutzen berechnen lässt. Ein Zustand höheren Gesamtnutzens ist vorzuziehen. In der Tat beruhte die klassische Wohlfahrtsökonomik Marshalls und Pigous auf utilitaristi-

_____ 2 Die Rezeption des Law and Economics-Ansatzes in Europa erfolgte zunächst nur zögerlich, s. Cooter/Gordley, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 261–263, sowie die Länderberichte im gleichen Heft von Kirchner (Deutschland), 277–292, Hertig (Schweiz), 292–300, Pastor (Spanien), 309–317, Skogh (Schweden), 319–324 und Weigel (Österreich), 325–329; zu den Ursachen der schleppenden Rezeption in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft Grechening/Gelter, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 31 (2008), 295–360. Zur Diskussion in Frankreich und dem Vereinigten Königreich s. Encinas de Munagorri, RTD civ 2006, 505–510 und Goodhart, MLR 60 (1997), 1–22. 3 Das gilt insbesondere für die Vertreter der sog. Chicago School, paradigmatisch hierfür Bork, The Antitrust Paradox (1978/1993), S. 117: „There is no body of knowledge other than conventional price theory that can serve as a guide to the effects of business behaviour upon consumer welfare.“ 4 Behandelt werden (fast) alle dieser Erweiterungen auch in Standardlehrbüchern zur Mikroökonomik, s. etwa Varian, Intermediate Microeconomics, Kapitel 28–30, 34, 36 f. 5 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 174–234. Franck

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1. Teil: Grundlagen

schen Grundannahmen, wie der Möglichkeit kardinaler Nutzenmessbarkeit6 und intersubjektiver Nutzenvergleiche. Unabhängig von der später einflussreich vorgetragenen sozialphilosophischen Kritik am Utilitarismus7 wendeten sich die Ökonomen von ihm ab, weil ihnen das Messproblem als nicht befriedigend lösbar erschien.8 Stattdessen tritt in der Mikroökonomik das Konzept der Präferenz in den Mittelpunkt: Aus beobachtbaren Wahlhandlungen wird eine individuelle Präferenzordnung und weiter eine individuelle Nutzenfunktion abgeleitet.9 Ordinale Skalierung ersetzt die Notwendigkeit kardinaler Nutzenmessung. Basierend auf beobachtbaren individuellen Präferenzen wurde auch das Pareto-Kriterium 4 formuliert: Die Veränderung eines sozialen Zustands, wie sie etwa durch Rechtsänderungen initiiert werden kann, sei dann vorzugswürdig, wenn mindestens ein Individuum den neuen Zustand präferiert, während alle anderen Individuen zumindest indifferent im Hinblick auf die Änderung sind.10 Praktisch gibt ein solches Einstimmigkeitspostulat einem Regelgeber kaum Hilfestellung an die Hand: Welche Umgestaltung rechtlicher Normen kennt keine Verlierer? Die Einführung eines Kompensationsmodells soll dem Rechnung tragen: Nach dem Kaldor-HicksKriterium liegt ein gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrtsvorteil auch dann vor, wenn die Gewinner die Verlierer entschädigen könnten und trotz dieser (hypothetischen) Kompensation noch besser stünden.11 Das Kriterium der möglichen Kompensation setzt nicht voraus, dass Nutzen transferierbar ist. Der Ausgleich erfolgt über den Transfer von Gütern oder auch Geld.12 Zu beachten ist, dass für den Fall des monetären Ausgleichs individuelle Zahlungsbereitschaften maßgeblich sind. Dem Kaldor-Hicks-Kriterium liegt deshalb konzeptionell kein interpersoneller Nutzenvergleich zugrunde.13 Allerdings ist zu bemerken, dass die hypothetische Kompensation in Geld zumindest fingiert, jeder Akteur ziehe aus einer Geldeinheit den gleichen Nutzen.14 Weniger als die für gewisse Konstellationen aufgezeigten Inkonsistenzen des Kaldor-Hicks-Kriteriums15 interessiert hier seine sozialphilosophische Überzeugungskraft. Ein Versuch konsenstheoretischer Legitimierung stützt sich auf die Idee der „Generalkompensation“ bei iterativer Anwendung des Kriteriums: Zwar werde jeder Rechtsunterworfene von staatlichen Entschei-

_____ 6 Nutzen ist kardinal messbar, wenn ihm verrechenbare Größen zugeordnet werden können. Demgegenüber setzt eine ordinale Nutzenmessung nur voraus, dass sich verschiedene Zustände im Hinblick auf den darin realisierten individuellen Nutzen in eine Rangfolge bringen lassen. 7 Als problematisch am Utilitarismus gelten insbesondere dessen Indifferenz gegenüber Einkommens- und Vermögensverteilung und die mangelnde Gewährleistung grundrechtlicher Positionen als unveräußerliche Rechte des Individuums, Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 140–143. Zu den herausgehobenen Kritikern des Utilitarismus zählen Rawls, A Theory of Justice (1971); Nozick, Anarchy, State, Utopia (1976); Fried, Right and Wrong (1978); Dworkin, Taking Rights Seriously (1978). Zu Modifizierungen utilitaristischer Positionen in Reaktion auf die Kritik siehe im Überblick Broome, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 651–656. 8 S. etwa Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 4.1, S. 57 f. 9 Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 4, S. 54–59. 10 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 13. 11 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 20. 12 Feldman, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 417, 418. 13 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 26 f. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 191 f., weist darauf hin, dass sich in der rechtspolitischen Praxis nicht mit individuellen Zahlungsbereitschaften argumentieren lasse und deshalb faktisch der Kaldor-Hicks-Test doch nur auf Basis kardinaler Nutzenmessung und interpersoneller Vergleiche angewandt werden könne; s. zum Messproblem auch Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 62 f. 14 Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 60. 15 Überblick bei Feldman, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 2 (1998/2001), S. 417, 418–421.

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dungen in prinzipiell nicht vorhersehbarer Weise bevorzugt oder benachteiligt. Stütze sich eine endliche Zahl dieser Entscheidungen aber auf eine Analyse nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium, so stehe jeder Betroffene nach einem gewissen Zeitraum besser da als ohne die Anwendung des Kriteriums.16 Angesichts des potentiell großen Ausmaßes individueller Benachteiligungen, des unbestimmten Zeithorizonts einer Kompensation und dem menschlichen Bedürfnis nach individueller, auf den Einzelfall bezogener Gerechtigkeit ist allerdings keineswegs ausgemacht, dass das Kaldor-Hicks-Kriterium als Sozialwahlregel aufgrund der Perspektive einer Generalkompensation allgemeine Zustimmung erfahren würde.17 In der Ökonomik werden verschiedene Effizienzbegriffe unterschieden.18 Wenn im Folgenden unspezifisch 5 von ökonomischer „Effizienz“ die Rede ist, bezieht sich dies auf Allokationseffizienz: Produktionsfaktoren sind danach so einzusetzen, dass der mit ihnen erzielte Nutzen maximiert und ein optimales Wohlfahrtsergebnis erzielt wird. Den Nachfragern am Markt sollen Güter in Qualität und Quantität entsprechend ihren Bedürfnissen zur Verfügung stehen. Ein Optimum an Allokationseffizienz wird modellhaft durch ein statisches Gleichgewicht beschrieben, bei dem die Grenzkosten der Produktion dem Grenznutzen der Nachfrager entsprechen.19 In diesem Zustand wird die volkswirtschaftliche Rente als Summe aus Konsumenten- und Produzentenrente maximiert. Davon zu unterscheiden ist der engere Blickwinkel der „Produktionseffizienz“ (oder auch „Inputeffizienz“), bei der die Verteilung der Konsumgüter vernachlässigt wird. Ihre Optimierung setzt voraus, dass für die Herstellung eines Gutes in einer Produktionseinheit bei gegebener Technologie ein möglichst geringes Maß an Produktionsfaktoren („Inputs“) verwendet wird. Von Bedeutung ist schließlich auch die sog. „dynamische Effizienz“ als Maß für die Innovationskraft eines Wirtschaftsprozesses. Für die Wohlfahrtsökonomik steht regelmäßig die Allokationseffizienz im Vordergrund. Dies hat seinen Grund vor allem darin, dass die Mikroökonomik zwar über eine ausgefeilte statische Theorie verfügt, es ihr aber an einer allgemein anerkannten Innovationstheorie mangelt.20 Es fehlen deshalb operable Mechanismen, statische und dynamische Effizienzvor- und -nachteile gegeneinander abzuwägen.21 Im Allgemeinen gilt deshalb aus ökonomischer Sicht Allokationseffizienz als aussagekräftiges Maß für die soziale Wohlfahrt.

2. Posners „everyday pragmatism“ Inwieweit der „ökonomischen Analyse“ eine überzeugende „Effizienzethik“ basierend auf kon- 6 senstheoretischen Ansätzen zugrunde liegt, bleibt nach dem Gesagten zweifelhaft. Posner als der markanteste Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts sieht mittlerweile ausdrücklich davon ab, Wohlfahrtsmaximierung und ökonomische Effizienz als Zwecke des Rechts philosophisch zu fundieren und hat sich auf die Position eines „everyday pragmatism“22 bzw. „empirischen Pragmatismus“23 zurückgezogen:24 Der Erfolg und die Überlegenheit des wirtschaftlichen und rechtlichen Systems nach U.S.-amerikanischem Vorbild – also: freie Marktwirtschaft, Ge-

_____ 16 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 22 f. 17 Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 67 f. Eingehend zu Einwänden gegen verschiedene Ansätze konsenstheoretischer Rechtfertigung des Kaldor-Hicks-Kriteriums Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 234–264. 18 S. für einen Überblick Schwalbe/Zimmer, Kartellrecht und Ökonomie (2006), S. 3–12; Schwalbe, in: Fleischer/ Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 43–68. 19 Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 16.2, S. 292 f. 20 S. hierzu Schwalbe, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 67. 21 S. etwa das Problem der Optimierung der Patentlaufzeiten aus wohlfahrtökonomischer Sicht, Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 24.5, S. 449 f. 22 Posner, Law, Pragmatism, and Democracy (2003), S. 49–56. 23 Posner, Overcoming Law (1995), S. 5. 24 Siehe im Überblick zum Wandel Posners Position hin zum „Rückzug in den Pragmatismus“ Mathis, Effizienz statt Gerechtigkeit?, S. 205–212.

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1. Teil: Grundlagen

währung individueller Freiheiten, Common Law – sei evident. Dessen immanente Rationalität offenbare sich durch die ökonomische Analyse und rechtfertige damit auch deren normativen Anspruch.25

3. Kritik folgenorientierter Denkweise (Hayek) 7 Ökonomische Analyse des Rechts basierend auf der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik argu-

mentiert folgenorientiert: Maßgeblich für ihr Urteil sind die Folgen einer Rechtsregel für den Wohlstand der Gesellschaft. In der ideengeschichtlichen Tradition Hayeks wird dagegen bestritten, dass ein Regelgeber oder -interpret Rechtsnormen am Ziele der Wohlfahrtsmaximierung ausrichten und damit sein Handeln legitimieren könne. Kosten-Nutzen-Analysen seien nur auf individueller Ebene möglich. Eine Förderung der sozialen Wohlfahrt könne sich nicht als Ergebnis einer exakten Folgenabwägung einstellen, sondern nur als nicht planbare Folge des Wirkens von Markt- und Wettbewerbskräften.26 8 Den Kritikern folgenorientierter Ansätze obliegt es freilich, darzutun, nach welchen inhaltlichen Kriterien der rechtliche Rahmen für ökonomisches Handeln ausgestaltet werden soll. Ein Verweis auf die Wettbewerbsfreiheit allein vermag sie nicht zu beantworten:27 Indem ein Regelgeber etwa die Preisbindung zweiter Hand erlaubt oder verbietet, entscheidet er darüber, der Wettbewerbsfreiheit des Produzenten oder der des Vertriebshändlers Vorrang einzuräumen.28

4. Ausdifferenzierung des ökonomischen Ansatzes a) Neue Institutionenökonomik 9 Die „Neue Institutionenökonomik“ integriert die Informations- und die Transaktionsökonomik

und hebt die Bedeutung von Verfügungsrechten hervor. Insoweit versteht sie sich als alternativer Ansatz zur neoklassischen ökonomischen Theorie, deren Modelle Transaktionskosten typischerweise vernachlässigen. Wie diese bedient sie sich aber im Ausgangspunkt des sog. ökonomischen Paradigmas, d.h. sie geht von Ressourcenknappheit aus, nimmt eigennütziges Rationalverhalten an29 und betrachtet als handelnden Akteur das Individuum mit seinen Präferenzen und Interessen (methodologischer Individualismus). Die Bedingungen, welche die reale Marktgestaltung, den Ressourceneinsatz und die Kosten von Transaktionen bestimmen, werden als „Institutionen“ begriffen und untersucht wird, „welches institutionelle Arrangement […] ‚rational‘ oder ökonomisch vorzuziehen ist“.30 Da auch Rechtsnormen, insbesondere solche, die das Marktverhalten betreffen, als institutionelle Gegebenheiten zu verstehen sind, sollen sie darauf ausgerichtet sein, Ineffizienzen durch Transaktionskosten, Informationsasymmetrien, Unternehmenskooperationen etc. gering zu halten.

_____ 25 Posner, The Problems of Jurisprudence (1990), S. 382–387. 26 Mestmäcker, A Legal Theory without Law, Posner v. Hayek on Economic Analysis of Law (2007), S. 33 f. 27 Ackermann, JZ 2008, 139, 140. 28 Eine Entscheidung nach dem Kriterium ökonomischer Effizienz liegt hier nahe, wie auch sonst, wenn marktliche Verhaltensweisen in Rede stehen. S. zu diesem und anderen Beispielen notwendiger Regulierungsentscheidungen im Kartellrecht von Weizsäcker, WuW 2007, 1078–1084. Gegen den Vorwurf, Wettbewerbsfreiheit führe zu einer Leerformel s. wiederum Mestmäcker, ORDO 59 (2008), 185, 195–206. 29 Diese Annahme wird allerdings eingeschränkt, s. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 12–21. 30 Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S. 319. Franck

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Ein wichtiger Unterschied gegenüber wohlfahrtstheoretischen Ansätzen besteht darin, dass 10 die Informations- und Transaktionskostenökonomik nicht das ganze System der Volkswirtschaft in den Blick nimmt, sondern einzelne Märkte bzw. soziale Transaktionen betrachtet. Dies muss sich nicht zwangsläufig auf die normative Ausrichtung des Forschungsansatzes auswirken: Die modellhafte Einbeziehung etwa von Informationsasymmetrien und Transaktionskosten hindert nicht, Allokationseffizienz und Maximierung der gesellschaftlichen Wohlfahrt als Ziel eines funktionierenden Marktes zu begreifen. Indes verzichtet die „Neue Institutionenökonomik“ in ihrer normativen Ausprägung im Gegensatz zur neoklassischen Wohlfahrtstheorie auf Allokationseffizienz und die Optimierung der sozialen Wohlfahrt als Zielsetzungen und kappt damit die utilitaristischen Wurzeln. Stattdessen soll auf einen „normativen Individualismus“ (Buchanan) abzustellen sein: Maßgeblich sei danach, Regeln des Zusammenlebens zu finden, auf die sich „individuelle Akteure in freier Entscheidung einigen können, wenn sie jeweils nicht wissen, in welcher konkreten Situation sie sind (Schleier des Nichtwissens)“.31 Es sollen dafür nicht die Gewinne der Gewinner mit den Verlusten der Verlierer abzuwägen sein, sondern es ist die Frage zu beantworten, ob ein individueller Akteur einem institutionellen Arrangement auch dann zustimmen würde, wenn er möglicherweise zu den Verlierern gehörte. Maßgeblich ist damit eine individuelle Abwägung zwischen potentiellen Gewinnen und Verlusten.

b) Behavioural Law and Economics Wohlfahrtsanalysen auf der Grundlage neoklassischer Modelle, erweitert um die Transaktions- 11 kosten- und Informationstheorie, unterstellen den handelnden Individuen stabile Präferenzen und rationales, eigennütziges Verhalten. Forschungsergebnisse der Kognitionspsychologie und der experimentellen Ökonomik offenbaren demgegenüber vielfältige Phänomene systematisch irrationalen Verhaltens, insbesondere bei der Informationsaufnahme und -verarbeitung und im Entscheidungsverhalten.32 Als „Behavioural Law & Economics“ hat sich ein Forschungsansatz etabliert, der sich den Auswirkungen des empirischen Befunds eingeschränkt rationalen Verhaltens auf die ökonomische Theorie des Rechts widmet.33 Unter Mikroökonomen herrscht Skepsis, ob es notwendig und möglich sei, kognitionspsy- 12 chologische Erkenntnisse in neoklassische und spieltheoretische Modelle zu integrieren.34 Vorgebracht wird vor allem, dass Märkten eine Tendenz inhärent sei, Rationalverhalten zu honorieren und irrationale Verhaltensweisen zu bestrafen. Es seien deshalb die rational handelnden Marktakteure, die Preise, Mengen und andere für Marktmechanismen wichtige Parameter entscheidend beeinflussen. Zudem werden die Einsichten der Verhaltensökonomik infrage gestellt: Nicht wenige Fälle angeblicher „Verhaltensanomalien“ lassen sich auf einem zweiten Blick auch als rational und eigennützig erklären. Die Aussagekraft der durch Laborexperimente gewonnenen Ergebnisse für individuelles Handeln in der Realität sei zweifelhaft. Der Verhaltensökonomik fehle es an einem eigenständigen operationablen Leitbild menschlichen Verhaltens.35 Deshalb hat dieser Ansatz zwar einerseits viel Beachtung gefunden und sind die auf seiner Grundlage ge-

_____ 31 Kirchner, Vorauflage dieses Bands, § 5 Rn. 55. Überblick zur Etablierung des normativen Individualismus als methodischen Grundsatz durch Buchanan bei Pies, Normative Institutionenökonomik (1993), S. 130–138 mwN. 32 S. für eine Zusammenfassung zahlreicher illustrativer Forschungsergebnisse Eisenberg, 47 Stan. L. Rev. (1995), 211, 216–218 mwN. Eine populärwissenschaftliche Darstellung findet sich bei Thaler/Sunstein, Nudge, Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness (2008). 33 S. für eine Einführung Jolls/Sunstein/Thaler, in: Sunstein (Hrsg.), Behavioral Law & Economics (2000), S. 13–58; Eidenmüller, JZ 2005, 216–224; Englerth, in: Engel u.a. (Hrsg.), Recht und Verhalten (2007), S. 60–130. 34 Varian, Intermediate Microeconomics, Kap. 30.5, S. 578 f. 35 Überblick mwN bei Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. 110–116. Franck

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1. Teil: Grundlagen

wonnenen Einsichten auch relevant, um die Wirkung von Rechtsnormen abschätzen zu können. Andererseits hat aber die Verhaltensökonomik bislang das Theoriegebäude neoklassischer Wohlfahrtsökonomik – einschließlich des Modells vom Homo Oeconomicus als tragenden Pfeiler – nicht grundlegend erschüttert.36

c) Economics of Happiness 13 Vertreter der „Economics of Happiness“ propagieren seit einigen Jahren ein Comeback kardinaler

Nutzenmessung: Empirische Methoden der „Glücksforschung“ sollen es ermöglichen, subjektives Wohlbefinden von Individuen zu messen. Die Ergebnisse bildeten praktikable Näherungswerte im Hinblick auf einen individuellen und in der Summe auch kollektiven „Nutzen“.37 Auf Basis dieses Forschungsansatzes scheint deshalb eine Rückbesinnung der Wohlfahrtsökonomik auf den Utilitarismus diskutabel.38 Allerdings sieht sich die empirische Erhebung der Lebenszufriedenheit (etwa: „Wie zufrieden sind Sie alles in allem gegenwärtig mit ihrem Leben auf einer Skala von 0 bis 10?“) mit nicht unerheblichen Messproblemen konfrontiert. Da befragte Personen eine vorgegebene Skala nicht einheitlich interpretieren, sind Daten intersubjektiv nicht vergleichbar.39 Die Glücksforschung kann deshalb zwar beispielsweise die Aussage treffen, dass höhere Einkommensungleichheit in einer Gesellschaft zu einer im Durchschnitt geringeren Lebenszufriedenheit führt.40 Ein höheres (geringeres) Aggregat an Lebenszufriedenheit lässt aber nicht den Schluss zu, dass beispielsweise eine bestimmte Umverteilungsmaßnahme wie die Bereitstellung eines öffentlichen Gutes aus Steuermitteln die Betroffenen im Ganzen zufriedener (unzufriedener) hinterlässt. Der Glücksforschung lassen sich verschiedentlich Handlungsempfehlungen an Gesetzgeber 14 entnehmen: Resultiert aus sozialen Kontakten und gemeinschaftlichen Erlebnissen eine höhere Lebenszufriedenheit, dann mag dies legitimieren, dass Vereine und gemeinnützige Organisationen steuerlich gefördert werden.41 Für die Überzeugungskraft der Vorstellung, dass dem Recht eine wohlfahrtsfördernde Funktion zukommt, indem es die Funktionsfähigkeit von Markt und Wettbewerb absichert, erscheint insbesondere die durch die neuere Forschung erfolgte Relativierung des sog. Easterlin-Paradoxon42 maßgeblich: Zwar trifft es zu, dass relative Positionen etwa im Hinblick auf das Einkommen die Lebenszufriedenheit wesentlich beeinflussen. Doch verliert erstens die absolute Position ihre Bedeutung für die Lebenszufriedenheit des Einzelnen erst ab einer bestimmten Einkommensschwelle, die letztlich nur von einem kleinen Teil an Personen überschritten wird. Zweitens tragen absolute Wohlfahrtsgewinne – verstanden in ihrer herkömmlichen Deutung als „Wirtschaftswachstum“, d.h. Steigerung des Bruttoinlandsprodukts – zu einer durchgehend höheren Lebenszufriedenheit bei, weil sie die allgemeinen Lebensbedingungen verbessern. Insbesondere ermöglichen sie, öffentliche Güter bereitzustellen.43

_____ 36 Und mithin auch nicht die ökonomische Analyse des Rechts, insoweit sie hierauf aufbaut, s. für eine Verteidigung des traditionellen Law and Economics-Ansatzes im Angesicht verhaltenswissenschaftlicher Herausforderungen etwa Posner, Stan. L. Rev. 50 (1998), 1551–1575. 37 Frey/Stutzer, Happiness & Economics (2002), S. 20–25. 38 Vgl. den insoweit programmatischen Titel bei Kahneman/Wakker/Sarin, QJE 112 (1997), 375–405: „Back to Bentham? Explorations of Experienced Utility“. 39 Weimann/Knabe/Schöb, Geld macht doch glücklich (2012), S. 150 f., 157. 40 Alesina/Di Tella/McCulloch, Journal of Public Economics 88 (2004), 2009–2042. 41 Weimann/Knabe/Schöb, Geld macht doch glücklich (2012), S. 52–54 mwN. 42 Easterlin, in: David/Reder (Hrsg.), Nations and households in economic growth (1974), 90–125, fand, dass nur relative Einkommensverbesserungen auch die Lebenszufriedenheit erhöhen. 43 Weimann/Knabe/Schöb, Geld macht doch glücklich (2012), S. 117–133 mwN. Franck

§ 5 Vom Wert ökonom. Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt

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5. Zwischenfazit Eine auf Förderung der sozialen Wohlfahrt (gemessen am Kaldor-Hicks-Kriterium) abzielende 15 ökonomische Analyse des Rechts ruht auf keinem gesicherten normativen Fundament. Dies delegitimiert freilich nicht schlechthin deren Aussagekraft. Schließlich postulieren auch ihre Protagonisten für sie keinen Absolutheitsanspruch.44 Es offenbart sich hierin aber die Notwendigkeit alternativer Konzepte, wie sie etwa von Vertretern der „Neuen Institutionenökonomik“ mit dem Ansatz des „normativen Individualismus“ vorgelegt worden sind. Ergebnisse der neoklassischen Wohlfahrtsökonomik beruhen auf Annahmen über mensch- 16 liches Verhalten, die teilweise durch empirische bzw. experimentelle Untersuchungen widerlegt worden sind. Deshalb kann es angezeigt sein, diese verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse bei der Normsetzung und -anwendung zu berücksichtigen. Andererseits können im Recht verankerte Wertungen normative Verhaltensannahmen rechtfertigen. Deutlich wird, dass die Berücksichtigung ökonomischer Erkenntnisse bei Rechtssetzung und -anwendung nicht per se legitimiert ist, sondern einer normativen Stütze im Einzelfall bedarf. Das Recht selbst kann darüber befinden, ob und welche ökonomischen Argumentationsmuster methodisch legitimiert sind und welches Gewicht ihnen zukommen soll.

III. Ausgestaltung der Rechtsregeln für den Binnenmarkt 1. Wirtschaftsverfassung und Wohlfahrtsgewinne durch die Integration der mitgliedstaatlichen Märkte Steht es prinzipiell im Ermessen eines Regelgebers, welchen Stellenwert er ökonomischen Über- 17 legungen beimisst, so handelt er doch jedenfalls im Wirkungsfeld verfassungsrechtlicher Vorgaben. Aus dem Grundgesetz sind keine Parameter für die hier interessierenden Fragen zu erwarten, soweit man dem Diktum des Bundesverfassungsgerichts von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes45 folgt: Wenn das Grundgesetz die Wirtschaftsordnung nicht auf eine Marktwirtschaft festlegt, dann kann der Gesetzgeber erst Recht nicht verpflichtet sein, die Rechts- und Wirtschaftsordnung auf ein Effizienzziel hin auszurichten.46 Demgegenüber prägt nach Art. 119 AEUV47 der „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit 18 freiem Wettbewerb“ die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union. Bemerkenswert ist, dass in Art. 120 und 127 AEUV diese wirtschaftsverfassungsrechtliche Grundaussage im Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungspolitik mit dem Ziel der Allokationseffizienz verknüpft wird: „Die Mitgliedstaaten und die Union“ bzw. „das ESZB [Europäische System der Zentralbanken]“ handeln „im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird […]“. Dieses Ordnungsprinzip verdichtet sich zusammen mit den konstitutionalisierten Freiheitsgewährleistungen durch die

_____ 44 S. etwa Posner, Economic Analysis of Law, S. 35: „Evidently there is more to justice than economics, and this is a point the reader should keep in mind in evaluating normative statements in this book“; s.a. Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse des Zivilrechts, S. XXXIX f. 45 BVerfGE 4, 7, 17 f.; 7, 377, 400; 50, 290, 336 ff.; hierzu Maunz/Dürig-Di Fabio, Grundgesetz (Stand der Bearbeitung: Juli 2001), Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 76, 87–90; Canaris, FS Lerche (1993), S. 878–880. 46 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 443–445. 47 Im Zuge der Reformen durch den Vertrag von Lissabon steht dieses Bekenntnis zur „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ als Grundsatz der Wirtschafts- und Währungspolitik damit nicht mehr an herausgehobener Stelle, s. hierzu v. Bogdandy/Bast-Drexl, S. 916–918.

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1. Teil: Grundlagen

Grundfreiheiten und der Gewährleistung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs48 zu einer marktwirtschaftlich und freiheitlich geprägten Wirtschaftsverfassung. Im Lichte dieser Systementscheidung und Funktionsgarantie sind alle wirtschaftspolitisch relevanten Normen des Primär- und Sekundärrechts auszulegen.49 Relativiert werden diese wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundlagen durch den in Art. 3 19 Abs. 3 EUV enthaltenen Hinweis auf eine „soziale“ Marktwirtschaft sowie durch konkurrierende Zielvorgaben etwa im Rahmen der Sozial-, Kultur-, Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltpolitik, die durch die Vertragsreformen beginnend mit dem Vertrag von Maastricht kontinuierlich an Bedeutung gewonnen haben und nicht unmittelbar mit Effizienzüberlegungen verknüpft sind. Zudem setzen Verfassungsvorgaben – also insbesondere Grundrechte aber auch Verfassungsprinzipien wie das Sozialstaatsprinzip – dem Regelgeber Grenzen bei der Berücksichtigung von Effizienzüberlegungen.50 Das gilt auf Europäischer Ebene grundsätzlich gleichermaßen wie für das nationale Recht. Eine Analyse der teils konkurrierenden und kollidierenden Zielsetzungen im Unionsrecht anhand der hierfür bereit gehaltenen Kompetenzen zeigt jedoch, dass den marktintegrativen und damit ökonomischen Zielen auch nach den Vertragsänderungen von Maastricht bis Lissabon ein Vorrang zukommt gegenüber nichtwirtschaftlichen, insbesondere sozialen Zielen.51 Diese Überlegungen lassen sich für die Europäische Rechtsetzung präzisieren, insoweit sie 20 darauf ausgerichtet ist, die mitgliedstaatlichen Märkte zu einem Binnenmarkt zu integrieren. Das Projekt eines europäischen Binnenmarktes ruht auf Ideen klassischer Freihandelstheorie (Smith, Ricardo).52 Zentrales Anliegen der Binnenmarktintegration ist es, die soziale Wohlfahrt in der Europäischen Union zu steigern.53 Beredtes Zeugnis hierfür legt der Spaak-Bericht54 vom April 1956 ab, der das Konzept der wirtschaftlichen Integration vorbestimmte, wie es schließlich mit den Römischen Verträgen 1957 beschlossen wurde.55 Im Spaak-Bericht wird der Gemeinsame

_____ 48 Nach den Reformen durch den Vertrag von Lissabon ist das „System unverfälschten Wettbewerbs“ kein Ziel der Union i.S.v. Art. 3 EUV. Dafür wird im Protokoll (Nr. 27) „Über den Binnenmarkt und den Wettbewerb“ festgelegt, „dass der Binnenmarkt, wie er in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Damit wird der (verfassungs-)rechtliche Stellenwert des Schutzes des Wettbewerbs nicht verändert, so ausdrücklich auch BGHZ 188, 326 Rn. 33: „An der Verbindlichkeit des Wettbewerbsprinzips für die Union hat sich nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nichts geändert“. Die Verlagerung in ein Protokoll hat aber jedenfalls eine rechtspolitisch-symbolische Bedeutung, die (wohl) auf eine Initiative des französischen Präsidenten Sarkozy zurückgeht, nach dessen Verständnis Wettbewerb kein Ziel sei, sondern (allenfalls) ein Mittel, Woehrling, in: Schwarze/Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, 272, 273; v. Bogdandy/Bast-Drexl, S. 907–916. Kritikwürdig ist die Streichung des „unverfälschten Wettbewerbs“ als Ziel deshalb insbesondere aus Sicht derer, die in der Tradition Hayeks nicht-konsequentalistisch argumentieren, s. etwa Mestmäcker, ORDO 59 (2008), 185, 198. 49 v. Bogdandy/Bast-Hatje, S. 811. 50 Hierzu Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 445–449. 51 Vgl. Basedow, FS Buxbaum (2000), S. 21–26; Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 871–874. 52 S. hierzu Irwin, Against the Tide: An Intellectual History of Free Trade (1996). 53 Hertig, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 331, 333: „[T]he Treaty of Rome aims at efficiency gains“; vgl. auch v. Bar/ Beale/Clive/Schulte-Noelke, in: v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition, Bd. 1, S. 9 f.: „The most obvious way in which the welfare of the citizens and businesses of Europe can be promoted by the DCFR is the promotion of the smooth functioning of the internal market.“ 54 Regierungsausschuss, eingesetzt von der Konferenz von Messina, Bericht der Delegationsleiter an die Außenminister, MAE 120 d/56 (korr.), Brüssel, den 21. April 1956. 55 Einer Kommission unter Vorsitz des belgischen Außenministers Paul-Henri Spaak war die Aufgabe übertragen worden, mögliche Wege einer weiteren wirtschaftlichen Integration zu prüfen. Dies war notwendig geworden, nachdem 1955 die Konferenz von Messina die Unstimmigkeiten über diese Frage unter den sechs Mitgliedstaaten der Montanunion deutlich gemacht hatte. Der Spaak-Bericht, der empfahl, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und eine Europäische Atomgemeinschaft zu gründen, wurde im Mai 1956 von den Außenministern auf der Konferenz von Venedig angenommen und bildete die Grundlage für die Verhandlungen über die Vertragstexte. Zu

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Markt als Mittel beschrieben, um einen Wirtschaftsraum aufzubauen, „in dem die Voraussetzungen für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik geschaffen werden, die – gestützt auf die Einheit mächtiger Produktionskräfte – eine fortlaufende wirtschaftliche Ausweitung, größere Sicherheit gegen Rückschläge, eine beschleunigte Hebung des Lebensstandards und die Entwicklung harmonischer Beziehungen zwischen den Teilnehmerstaaten zum Ziele haben wird.“56 Der Binnenmarkt dient somit als Instrument, um den Wettbewerbsdruck in der Union zu erhöhen. Hiervon erhofften sich die Konstrukteure des Gemeinsamen Marktes eine höhere ökonomische Effizienz und mehr Wohlstand.57 Der Unionsgesetzgeber ist deshalb bei der Rechtsetzung für den Binnenmarkt58 dazu aufgerufen, Regulierung nach Effizienzgesichtspunkten auszurichten. Denn das Ziel der Binnenmarktintegration wird verfehlt, wenn die Wohlfahrtsnachteile durch ineffiziente inhaltliche Regelungen überwiegen gegenüber den Wohlfahrtsgewinnen durch Harmonisierung. Bei marktordnenden Eingriffen ist deshalb etwa im Vorhinein zu klären, ob tatsächlich ein 21 regulierungsbedürftiges Problem vorliegt. Hierfür bedarf es einer Anschauung von der Wirkung bestehender Marktmechanismen. Ein kollektives Handlungsproblem mag etwa der Grund sein, warum sich eine effiziente Lösung nicht ohne gesetzgeberische Intervention durchsetzt.59 Zum anderen muss geprüft werden, ob die vorgesehenen Regelungsinstrumente geeignet sind, den definierten Marktunvollkommenheiten auf effiziente Weise entgegenzuwirken.60 Hierbei ist die Gefahr zu bedenken, dass eine Überregulierung kontraintentional zur Schutzrichtung wirken kann. Mit Hilfe theoretischer und empirischer ökonomischer Argumente lässt sich dieses Risiko insbesondere bei verbraucherschützender Gesetzgebung beurteilen.61 Die Notwendigkeit von Effizienzüberlegungen setzt sich auf der Ebene der Rechtsanwen- 22 dung fort. So betonte Generalanwalt Geelhoed im Hinblick auf eine Auslegungsfrage zur Betriebsübergangsrichtlinie:62 „Die Richtlinie stützt sich auf Artikel 100 EG-Vertrag [jetzt Art. 115

_____ Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Spaak-Berichtes Küsters, Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1982), S. 135–268. 56 Spaak-Bericht (o. Fn. 54 f.), Erster Teil, Einl. S. 15. 57 Vgl. Molle, The Economics of European Integration, S. 9 ff., 35 ff., 67. 58 Eine große Zahl der privat- und wirtschaftsrechtlichen Normen im Unionsrecht ist der Marktintegration verpflichtet. Das gilt für Regelungen, die auf der Grundlage der Binnenmarktkompetenz gemäß Art. 114 AEUV und 115 AEUV erlassen wurden sowie für die gesellschaftsrechtlichen Rechtsakte, die sich auf Art. 54 AEUV stützen. Zudem wird auch eine Hauptfunktion der Wettbewerbspolitik darin gesehen, die Integration des Binnenmarktes zu fördern und abzusichern. Nicht unmittelbar mit der Binnenmarktintegration verknüpft sind die arbeitsrechtlichen Regelungen auf Basis des Art. 153 AEUV und Verbraucherschutzvorschriften auf der Grundlage von Art. 169 Abs. 2 lit. b), Abs. 3 AEUV. Als Korrelat zu Freihandel und Freizügigkeit haben freilich auch diese Normen einen Bezug zum Binnenmarkt. Anders als noch Art. 65 EG, der zusammen mit Art. 61 lit. c) EG die Kompetenz vor allem für Kollisionsund Verfahrensrecht begründet hat, verweist Art. 81 EUV nur als Beispiel auf die Erforderlichkeit der Rechtsetzung für den Binnenmarkt, setzt diese aber nicht mehr als notwendig voraus, um die Kompetenz zu begründen. 59 Siehe etwa Franck/Massari, WM 2009, 1117, 1125, zur Frage, warum gesetzlich vorgegebene nutzerfreundliche Haftungs- und Beweislastregeln im Zahlungsverkehr notwendig sind, obwohl nach dem vorliegenden Datenmaterial auch die Anbieter hiervon profitieren und deshalb auf den ersten Blick unklar erscheint, warum sich die effizientere Lösung nicht ohne Intervention am Markt durchsetzt. 60 Zur Regelung von Informationsdefiziten Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 218–223. 61 S. etwa van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht (1997), S. 77–106; Kirstein/Schäfer, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 369–405; Schillig, ERPL 17 (2009), 886, 889–892. Ein instruktives Beispiel für einen Fall, bei dem die Europäische Kommission eben dies versäumt hat, bildet der ursprüngliche Vorschlag Reform des Verbraucherkreditrechts aus dem Jahre 2002 (KOM [2002] 443 endg, ABl. 2002 C 331 E/200). Eine Überregulierung des Kreditmarktes wirkt letztlich kontraproduktiv für die Wohlfahrt der Verbraucher, die Darlehen nachfragen und deren Interessen eigentlich geschützt werden sollen, hierzu Franck, ZBB 2003, 334–342. 62 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26.

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AEUV]; aus diesem Grund dürfen Markt- und Wettbewerbserwägungen nicht aus den Augen verloren werden.“63 Die von ihm favorisierte enge Auslegung des Vorliegens eines „Betriebsübergangs“ begründete der Generalanwalt in der Folge wesentlich mit ökonomischen Erwägungen: „Unter Marktgesichtspunkten wäre eine zu weite Auffassung unverantwortlich und müsste zu irreführenden und unvorhersehbaren Folgen in einer dynamischen wirtschaftlichen Wirklichkeit führen.“64

2. Aussicht auf Wohlfahrtsgewinne und Binnenmarktkompetenz 23 Die Eignung einer Maßnahme, Märkte zu integrieren und hierdurch Effizienzvorteile zu kreieren,

wirkt kompetenzbegründend nach dem Art. 114 AEUV zu Grunde liegenden Konzept.65 Ob eine Harmonisierungsmaßnahme, die typischerweise ein Mehr an (einheitlicher) Regulierung mit sich bringt, auch tatsächlich Wohlfahrtsgewinne verspricht, muss deshalb ein wichtiges Kriterium bei der Frage sein, ob die Union sich auf die Binnenmarktkompetenz stützen kann. Allerdings entzieht eine mangelnde Berücksichtigung der Auswirkungen auf die soziale Wohlfahrt einer Harmonisierungsmaßnahme nicht die Kompetenz des Art. 114 AEUV. Bildet die Wohlfahrtsförderung auch ein zentrales Anliegen der Integration, so ist sie doch nicht das einzig legitime Ziel der Rechtsharmonisierung. Dies wird etwa an Art. 114 Abs. 3 AEUV deutlich. Dem Gesetzgeber bleibt bei der Frage, welche Maßnahmen er als geeignet für die Binnenmarktintegration ansieht, ein weiter Ermessensspielraum, um sonstige Ziele wie Verbraucherschutz oder Umweltschutz zu berücksichtigen. Die Auswirkung einer Harmonisierungsmaßnahme auf die soziale Wohlfahrt ist damit jeden24 falls ein wichtiger Prüfstein, um die rechtspolitische Überzeugungskraft einer gesetzgeberischen Initiative bewerten zu können, die sich auf Art. 114 AEUV stützt. Soweit Wohlfahrtsgewinne nicht zu erwarten sind und für die sonstigen Ziele einer Maßnahme eine Rechtsharmonisierung explizit ausgeschlossen ist, kann eine Binnenmarktkompetenz nicht begründet werden. Dies kann am Beispiel der Tabakwerberichtlinie66 verdeutlicht werden.67 Die Richtlinie beschränkt die Werbung für Tabakerzeugnisse in erheblichem Maße, sie verbietet insbesondere die Werbung in der Presse (Art. 3) sowie die Rundfunkwerbung (Art. 4).68 Eine Kompetenz des Unionsgesetzgebers hierfür erscheint zweifelhaft, weil die Richtlinie faktisch die Binnenmarktintegration allenfalls geringfügig verbessert. Sachlich ist sie vom Ziel des Gesundheitsschutzes dominiert. Damit um-

_____ 63 GA Geelhoed, SchlA v. 27.9.2001 – Rs. C-51/00 Temco, Slg. 2002, I-969 Tz. 40. 64 GA Geelhoed, SchlA v. 27.9.2001 – Rs. C-51/00 Temco, Slg. 2002, I-969 Tz. 67. 65 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. 66 Richtlinie 2003/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.5.2003 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. 2003 L 152/16. Zur Regulierung der Tabakwerbung siehe Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 95 f., 266–269. 67 Die gleichnamige Vorgängerrichtlinie 98/43/EG, ABl. 1998 L 213/9, die jegliche Absatzförderung von Tabakprodukten untersagte und die der europäische Gesetzgeber auch auf Art. 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) gestützt hatte, wurde vom EuGH wegen mangelnder Kompetenzgrundlage für nichtig erklärt, EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 LS 3. 68 Jede Form der audiovisuellen kommerziellen Kommunikation – also insbesondere die Fernsehwerbung – für Zigaretten und andere Tabakprodukte wird untersagt durch Art. 3e Abs. 1 lit. d) der Richtlinie 89/552/EWG des Rates v. 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 1989 L 298/23, zuletzt geändert durch Richtlinie 2007/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. 2007 L 332/27.

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ging der Gesetzgeber aber Art. 152 Abs. 4 lit. c) EG, wonach Rechtsharmonisierung zum Schutze und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit ausgeschlossen ist. Letzteres entspricht auch der Rechtslage nach den Reformen durch den Vertrag von Lissabon, wonach auf Unionsebene gem. Art. 168 AEUV lediglich Fördermaßnahmen zum Schutze der Gesundheit der Bevölkerung vor dem Tabakkonsum erlaubt sind, Harmonisierungsmaßnahmen aber ausgeschlossen bleiben. Ökonomische Argumente können die Ansicht69 stützen, dass die Tabakwerberichtlinie nicht 25 überzeugend auf Art. 114 AEUV gestützt werden konnte: Die Beschränkung der Tabakwerbung im von der Richtlinie erfassten Bereich lässt einerseits im Ganzen kaum Wohlfahrtsgewinne durch eine Förderung der Binnenmarktintegration erwarten. Zwar ist es denkbar, dass der freie Verkehr insbesondere von Zeitungen oder Zeitschriften durch unterschiedliche nationale Regelungen über die Tabakwerbung beschränkt wird. Doch sind die damit verbundenen Wohlfahrtsnachteile wohl eher gering, bedenkt man, dass bei Printmedien typischerweise auf Grund der Sprachbarrieren und ihres thematischen Zuschnitts nur ein geringer Bruchteil des Umsatzes durch grenzüberschreitenden Absatz erzielt wird. Erhebliche Wohlfahrtsnachteile drohen andererseits dadurch, dass die Richtlinie dem Markt für Tabakprodukte mit der Presse- und Rundfunkwerbung ein zentrales wettbewerbsstrategisches und transparenzförderndes Instrument entzieht. Werbeverbote zementieren damit tendenziell die Marktstruktur und schränken mithin die Funktionsfähigkeit des Marktes ein. Die Tabakwerberichtlinie wirkt damit in einer Art und Weise, die dem intendierten Wirkungsmechanismus der Binnenmarktintegration entgegensteht. Man mag einwenden, dass die Beschränkung der Tabakwerbung zu einem Rückgang des 26 Tabakkonsums führen werde und damit wiederum zu Wohlfahrtsgewinnen. Dafür spricht, dass der Konsum von Tabakprodukten gesundheitsschädlich, potentiell sogar lebensgefährlich ist und damit gesellschaftliche Kosten verursacht, weil Humankapital vernichtet wird und den sozialen Sicherungssystemen durch die Behandlungskosten und Beitragsausfälle hohe Kosten entstehen. Indes begründen Wohlfahrtsgewinne durch Gesundheitsschutz keine Kompetenz zur Rechtsharmonisierung auf der Grundlage des Art. 114 AEUV. Selbst wenn der Europäische Gesetzgeber Rechtsharmonisierung zum Zwecke des Gesundheitsschutzes be- 27 treiben dürfte, wäre er jedenfalls aufgerufen, alle marktkonformen Regulierungsmaßnahmen auszuschöpfen, bevor er auf ein umfassendes Tabakwerbeverbot zurückgreift. Durch Anti-Tabakkonsum-Kampagnen und durch die Etikettierungsvorschriften der Tabaketikettierungsrichtlinie wird bereits kontinuierlich auf die gesundheitlichen Risiken, die mit dem Rauchen verbunden sind, hingewiesen.70 Nichtraucher können durch Rauchverbote am Arbeitsplatz, in Restaurants, an öffentlichen Plätzen etc. geschützt werden. Den Schutz Minderjähriger können Vertriebsverbote und Werbebeschränkungen gewährleisten. Negative externe Effekte auf Grund der erhöhten Kosten für das Gesundheitswesen können durch die Tabaksteuer aufgefangen werden. Soweit dem Europäischen Gesetzgeber für derartige Maßnahmen die Kompetenz fehlt, muss er es den Mitgliedstaaten überlassen, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Zu bedenken sind schließlich auch die Grenzen der Wirkung von Werbebeschränkungen bzw. sogar mögliche 28 kontraintentionale Effekte, die erst bei ökonomischer Betrachtung verständlich werden. Eine empirische Stu-

_____ 69 Eine Kompetenz des Unionsgesetzgebers verneinten etwa Dauses, EuZW 2001, 577; Görlitz, ZUM 2002, 97; ders., EuZW 2003, 485; Oppermann, ZUM 2001, 950; Schwarze, ZUM 2002, 89; Wägenbauer, EuZW 2001, 450; anders allerdings EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-380/03 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573 Rn. 17–98. 70 Empirische Studien haben gezeigt, dass der Tabakkonsum gesenkt werden kann, klärt man über die Gesundheitsschäden des Rauchens auf, Schneider/Klein/Murphy, J. Law & Econ. 24 (1981), 575–612. Insbesondere wurde nachgewiesen, dass Werbespots gegen Zigaretten das Rauchen bei Teenagern signifikant reduzieren können, weil die Präferenzen in dieser Gruppe noch weniger stark ausgeprägt sind, Lewitt/Coate/Grossman, J. Law & Econ. 24 (1981), 545–569.

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die zu verschiedenen gesetzgeberischen Initiativen gegen das Rauchen und insbesondere auch zum Advertising Ban, mit dem amerikanisches Bundesrecht 1971 die Radio- und Fernsehwerbung für Zigaretten verbot,71 hat einerseits gezeigt, dass die Werbung die Nachfrage nach Zigaretten nur gering beeinflusst und deshalb ein Werbeverbot auch nur einen statistisch fast irrelevanten Rückgang der Nachfrage verursachte. Andererseits ist aber die Nachfrage nach Zigaretten sehr preiselastisch. Da die Werbeverbote eine Kostenersparnis für die Produzenten bedeutete, ermöglichten sie ihnen, die Preise für Zigaretten zu senken. Dies erklärt, warum der Advertising Ban nach dem in der Studie verwendeten Regressionsmodell zu einem Anstieg im Zigarettenkonsum führte. Sehr zweifelhaft ist deshalb, ob ein Werbeverbot tatsächlich ein geeignetes Mittel im „Kampf gegen den Tabakkonsum“ darstellt. Angesichts der hohen Preiselastizität der Nachfrage wäre eine Steuererhöhung jedenfalls ein effektiveres und wohl auch effizienteres Mittel.72

3. Zur Wahl der Regelungsebene 29 In einem Mehrebenensystem wie dem Privatrecht in der Europäischen Union73 können ökonomi-

sche Überlegungen auch maßgeblich sein für die Wahl des Regelungsinstruments. Dem Unionsgesetzgeber steht zur Förderung der Integration der Märkte nicht nur die Möglichkeit der Rechtsharmonisierung zur Verfügung. Der Verzicht auf eine Vereinheitlichung des Rechts stellt sich gerade aus ökonomischer Perspektive als grundsätzliche Alternative dar. Denn die Möglichkeit dezentraler Regulierung verspricht ökonomische Vorteile gegenüber einem einheitlichen Recht. Im Vordergrund steht die Überlegung, der Erhalt von Rechtsvielfalt sichere die Möglichkeit eines Wettbewerbs der Regulierungssysteme.74 Damit bleibt ein Mechanismus erhalten, der Innovation im Recht generiert. Ist der Binnenmarkt als eine Unternehmung zu begreifen, die die wirtschaftliche Effizienz in 30 der Europäischen Union fördern soll, so ist auch die Frage nach dem „ob“ einer Rechtsharmonisierung auf den Prüfstand der ökonomischen Theorie zu stellen. Im Recht des Binnenmarktes sind verschiedene Ansätze erkennbar, die Marktintegration zu fördern, ohne die mitgliedstaatlichen Rechte anzugleichen.75 Neben dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung auf Basis der EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten76 oder einem sekundärrechtlich installierten Herkunftslandprinzip77 ist in letzter Zeit insbesondere die Möglichkeit in den Fokus geraten, den Binnenmarktakteuren ein supranationales Instrument zur Verfügung zu stellen, das neben die nationalen Instrumente tritt.

_____ 71 Schneider/Klein/Murphy, J. Law & Econ. 24 (1981), 575, 599. 72 Van den Bergh, in: Ott/Schäfer (Hrsg.), Effiziente Verhaltenssteuerung und Kooperation im Zivilrecht (1997), S. 97. Es deutet sich hier das Potential ökonomischer Erwägungen für die Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit an, s. hierzu im Hinblick auf die Prüfung von Grundrechtseingriffen Lindner, JZ 2008, 957, 961 f. 73 S. Grundmann, in diesem Band, § 9 Rn. 2–12. 74 Zum Konzept des Wettbewerbs der Rechtsordnungen vor dem Hintergrund der Binnenmarktintegration: Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002). S. zur Diskussion um die Nützlichkeit von Rechtsvereinheitlichung auch Basedow, FS Mestmäcker (1996), S. 347–363; Behrens, RabelsZ 50 (1986), 19–34; Eidenmüller, JZ 2009, 641–653; Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118–121; Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1–18. 75 Hierzu Franck, in: Riesenhuber/Takayama (Hrsg.), Rechtsangleichung: Grundlagen, Methoden und Inhalte (2006), S. 53–58. 76 Die Einführung des Herkunftslandprinzips mit der Entscheidung Cassis de Dijon (EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe-Zentral AG ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 14) gab Anlass für eine vermehrte Auseinandersetzung mit der Binnenmarktintegration aus ökonomischer Perspektive, Hertig, Int’l Rev. L. & Econ. 11 (1991), 331, 337. 77 Siehe etwa Art. 3 EComRL (Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt, ABl. 2000 L 178/1).

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Optionale Instrumente sieht das Unionsrecht bereits im Gesellschaftsrecht mit der Europäischen wirtschaftli- 31 chen Interessenvereinigung (EWIV)78 und der Societas Europea (SE)79 vor, aber auch im Markenrecht mit der Gemeinschaftsmarke.80 Die Principles of European Insurance Contract Law (PEICL)81 sind im Gespräch als Grundlage für ein optionales Europäisches Versicherungsvertragsrecht.82 Ein optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex steht als Variante für die Zukunft des Europäischen Vertragsrechts und als Alternative zur weiteren Rechtsharmonisierung im Raum.83 Im Zuge der Diskussion über Sinn und Zweck des Draft Common Frame of Reference (DCFR) wurde ins Spiel gebracht, diesen oder Teile eines auf der Basis des DCFR akzeptierten Gemeinsamen Referenzrahmens als optionale Instrumente zu installieren.84 Seit Oktober 2011 liegt ein entsprechender Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht vor.85

a) Vorteile einheitlicher Regelungen86 Zentrale Regelungen können (negative) externe Effekte über die Grenzen der Zuständigkeitsbe- 32 reiche einzelner Regelgeber hinweg vermeiden. Anschauliches Beispiel ist das Umweltrecht: Ein (Teil-)Regelgeber könnte versucht sein, den Industrie- und Gewerbebetrieben in seinem Hoheitsgebiet durch niedrige Umweltstandards Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, wenn die negativen Folgen gar nicht oder nur zu einem kleinen Teil sein Gebiet betreffen, sondern etwa durch Wind oder Wasser „kostenlos“ in das Nachbargebiet „transportiert“ werden. Zweitens können durch einheitliche Regulierung Skalenerträge (economies of scale and sco- 33 pe) ausgenutzt und Transaktionskosten gespart werden. Sind rechtliche Lösungen lediglich einmal bereit zu stellen, kann dies Kosten bei Gesetzgebung und Rechtsprechung verringern. Unternehmen müssen weniger Mittel aufwenden, um sich über das geltende Recht und rechtsgestalterische Optionen zu informieren oder um ihre Produkte und Marketingstrategien unterschiedlichen Rechtsordnungen anzupassen. Schließlich wird gerade im Zusammenhang mit dem Europäischen Binnenmarkt vorge- 34 bracht, dass einheitliche Regelungen Wettbewerbsverzerrungen vermeiden können. Dieses Argument ist ökonomisch fragwürdig, können doch unterschiedliche Rechtsrahmen auch als natürliche Komponenten eines Standortwettbewerbes aufgefasst werden: Entsprechen sie den Präferenzen der betroffenen Individuen, sei es aus ökonomischer Sicht verfehlt, sie als „Wett-

_____ 78 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung, ABl. 1985 L 199/1. 79 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft, ABL. 2001 L 294/1. S. zu ökonomische Überlegungen hinsichtlich der Rolle der Societas Europea neben den nationalen Gesellschaftsrechten Enriques, ZGR 2004, 735; Röpke/Heine, JbJZ 2004, S. 265. 80 Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1. 81 Basedow u.a. (Hrsg.), Principles of European Insurance Contract Law (2009). 82 Basedow, ERA Forum 2008, 111, 115 f. Die Kommission hat eine Expertengruppe mandatiert, um zu klären, ob divergierendes Versicherungsvertragsrecht grenzüberschreitende Versicherungsgeschäfte tatsächlich erschwert, Art. 2 Beschluss v. 17.1.2013, ABl. C 16/6, hierzu Basedow, EuZW 2014, 1 f. 83 Dazu etwa Basedow, ZEuP 2004, 1–4; Staudenmayer, ZEuP 2003, 828–846. 84 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Outline Edition, S. 46 und v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition, S. 23; s. etwa auch Leible, BB 2008, 1469–1475; Beale, ERCL 3 (2007), 257, 269–272. 85 KOM(2011) 635 endg. Zu den binnenmarktrechtlichen und -politischen Hintergründen eines optionalen Kaufvertragsrechts und seiner Einordnung in den Prozess der Europäisierung des Vertragsrechts s. im Überblick Franck/Riesenhuber, ZJapanR Sonderheft 7 (2013), 179–202; zur Law and Economics-Perspektive auf das Europäische Vertragsrecht s. Gomez, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Economics of European Union Law, S. 229–259. 86 Zu den im Folgenden skizzierten Vor- und Nachteilen zentraler und dezentraler Regulierung aus ökonomischer Sicht siehe etwa Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The New Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 3 (1998), S. 271, 273–275; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 67, 84–87; Woolcock, in: McCahery u.a. (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298–301.

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bewerbsverzerrungen“ anzusehen. Zudem gewährleiste ein freier Markt die Mobilität von Individuen, Unternehmen und Produktionsfaktoren und damit die Option, ungünstigen Standortbedingungen auszuweichen.87

b) Vorteile dezentraler Rechtsetzung 35 Einen Markt kennzeichnen häufig räumlich unterschiedliche Präferenzen der Rechtsunterwor-

fenen und räumlich divergierende äußere Bedingungen. Ein einheitlicher Rechtsrahmen kann nur an durchschnittlichen Präferenzen ausgerichtet sein. Räumlich differenzierte Regelungen können demgegenüber heterogenen Präferenzen und Bedingungen gerecht werden.88 Dezentralität erleichtert es darüber hinaus, lokales Wissen für die Rechtsetzung fruchtbar zu machen. Spiegeln sich regionale und kulturelle Besonderheiten im Recht wider, so erhöht dies seine Überzeugungskraft und die Chancen auf dessen Akzeptanz und Beachtung. Dezentrale Rechtsetzung kann die Risiken des sog. Rent-seeking-Problems vermindern. 36 Recht wird durch Repräsentanten gesetzt. Es ist deshalb nicht gesichert, dass Recht tatsächlich darauf ausgerichtet ist, den Interessen und Präferenzen der Allgemeinheit bestmöglich zu entsprechen. Die Einflussnahme von Interessengruppen kann dazu führen, dass Partikularinteressen auf Kosten der Allgemeinheit bevorzugt werden. Kleinere Entscheidungseinheiten begrenzen Macht und Einfluss einzelner Regelgeber. Der Vergleich mit der rechtlichen Situation in anderen Gebieten kann einen Fehlgebrauch gesetzgeberischer Macht leichter erkennbar machen und damit erschweren. 37 Das Argument einer höheren Innovationskraft durch einen Wettbewerb rechtlicher Lösungen ist in den Vordergrund der ökonomischen Diskussion um die Vorteile dezentraler Lösungen gerückt.89 Regionalisiert man Regelungskompetenzen, können verschiedene Ansätze zum rechtlichen Umgang mit einem Problem parallel ausprobiert werden. Prozesse des Experimentierens mit verschiedenen rechtlichen Lösungen und des wechselseitigen Lernens sind wünschenswert, weil sich auch Gesetzgeber dem permanenten Problem mangelnden Wissens gegenübersehen:90 Für viele Probleme ist noch nicht die „richtige“ Lösung gefunden worden; zudem treten ständig neue Probleme auf, für die Lösungen entwickelt werden müssen. Durch die Beschränkung auf eine zentrale Regulierungsinstanz verzichtet man auf einen Wettbewerb der Regulierungsideen und damit auf den Wettbewerb als Mittel, neues Wissen zu generieren und zu verbreiten.91 Die stärkere Innovationsfähigkeit dezentraler Systeme hängt auch damit zusammen, dass 38 kleineren Einheiten eine einfachere, schnellere Anpassung an wandelnde Gegebenheiten möglich ist. Deutlich wird dies, vergleicht man die mitgliedstaatlichen Rechtssetzungsverfahren mit dem Verfahren nach Art. 294 AEUV, das der Rechtsharmonisierung zu Grunde liegt. Eine Reform von Rechtsakten der Union erfordert komplexere politische Kompromisse. Denn auszugleichen sind vielfach unterschiedliche Interessen und Anschauungen, einmal zwischen den Organen der Union (Parlament, Rat, Kommission) und zum anderen innerhalb des Europäischen Parlaments

_____ 87 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 85 mwN. 88 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 34–38. 89 Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 25–34. 90 v. Hayek, Die Irrtümer des Konstruktivismus und die Grundlagen legitimer Kritik gesellschaftlicher Gebilde (1970). 91 Grundlegend für diesen Ansatz einer evolutorischen Marktprozess- und Wettbewerbstheorie v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968). Zur Bedeutung des Lern- und Suchpotentials durch den Wettbewerb zwischen Vertragsrechtsordnungen Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 118 f. Skeptisch gegenüber dem Gewicht des Arguments des Verlusts an Regelungsvielfalt Basedow, FS Mestmäcker (1996), S. 360 f.; ablehnend zur Vorstellung eines – ähnlich dem Produktwettbewerb potentiell vorteilhaften – Wettbewerbs der Rechtsordnungen Rehberg, in: Towfigh u.a. (Hrsg.), Recht und Markt (2009), 29–51. Franck

§ 5 Vom Wert ökonom. Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt

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und – vermittelt durch die Auseinandersetzung im Rat – zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten. Dies begründet die Gefahr einer „Versteinerung“ juristischer Antworten bei sich wandelnden Sachfragen.92 Treten verschiedene Regelgeber als „Anbieter rechtlicher Regelungen“ auf einem gemein- 39 samen Markt in einen Wettbewerb, kann es allerdings ebenso wie beim Wettbewerb zwischen Unternehmen auf Gütermärkten zu einem Marktversagen kommen, also zu Ergebnissen, die nicht den Präferenzen der Marktgegenseite entsprechen. Diskutiert werden die Gefahr eines „race to the bottom“ im Regulierungsniveau (etwa aufgrund systematischer Informationsasymmetrien), das Risiko einer systematischen Unterversorgung mit öffentlichen Gütern, zu geringe Umverteilungseffekte angesichts eines Wettbewerbs der Steuersysteme, die Hemmung des technologischen Fortschritts aufgrund von Externalitäten oder die Möglichkeit von Wettbewerbsbeschränkungen durch Regelgeber.93 Die Gefahr eines Marktversagens verdeutlicht, dass auch der Markt für rechtliche Lösungen institutioneller, also auch rechtlicher Rahmenbedingungen bedarf, die den Wettbewerbsprozess zwischen Staaten und Rechtsordnungen absichern.94 Eine solche Metawettbewerbsordnung auszugestalten ist ein schwieriges Unterfangen. Notwendig ist hierbei vor allem, Regelungskompetenzen im Verhältnis zwischen Union und Mitgliedstaaten aufzuteilen und Mindeststandards zu definieren. Es stellt sich die Frage, wie man die Rechtsfindung für diese Metaregeln optimieren kann. Die verschiedenen theoretischen Argumente um die Vorteilhaftigkeit zentraler oder dezen- 40 traler Lösungen verdeutlichen, dass kaum generelle Aussagen hierzu getroffen werden können. Für die Wahl der optimalen Regelungsebene kann daraus nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass je nach Problembereich die Vor- und Nachteile zentraler bzw. dezentraler Regulierung gegeneinander abzuwägen sind.95 Für die Auslegung und Anwendung der verschiedenen Kompetenzen zur Förderung der Binnenmarktintegration folgt jedenfalls, dass neben der Rechtsvereinheitlichung auch die Option mitzudenken ist, auf Mechanismen zurückzugreifen, die Freiraum für dezentrale Regelungen lassen. Aus der Einsicht in das Innovationspotential eines Wettbewerbs der Ideen darf man schließlich auch die Forderung ableiten, das – politisch gewollte – binnenmarkt-einheitliche Regeln in einem möglichst offenen und unvoreingenommenen Diskurs mit angemessenem zeitlichen Rahmen gefunden werden.96

4. Verarbeitung verhaltenswissenschaftlicher Erkenntnisse (Behavioural Economics) Wir haben festgestellt, dass Phänomene systematisch eingeschränkter Rationalität jedenfalls 41 dann für die Normsetzung und -anwendung beachtenswert sind, wenn rechtliche Regelungen darauf abzielen, das Verhalten individueller Marktakteure zu beeinflussen. Das gilt insbesondere, wenn gerade deren Interessen geschützt werden sollen. Es überrascht deshalb nicht, dass sich die für Verbraucherschutzpolitik zuständige Generaldirektion der Europäischen Kommissi-

_____ 92 Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1, 12. Zur „Versteinerungsgefahr“ Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 185–187. 93 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 81 f. mwN; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 65–74; 93–103; 201–221; 261 f.; 314 f., 329–332. 94 Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 82–84 mwN. 95 Vgl. etwa die Einschätzungen Kieningers, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 375–380, über die Perspektiven der Entwicklung des Europäischen Gesellschaftsrechts und des Europäischen Vertragsrechts zwischen Rechtsharmonisierung und institutionellem Wettbewerb. 96 Dies gilt zumal, wenn es sich um eher „technische“, d.h. weniger vom (tages-)politischen Meinungskampf geprägte Materien wie das Vertragsrecht handelt, s. Riesenhuber, JZ 2011, 537–544. Franck

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1. Teil: Grundlagen

on des Themas „Behavioural Economics“ angenommen hat.97 Dem (Europäischen) Regelgeber scheint sich ein Feld für „libertären Paternalismus“98 zu eröffnen: Marktinterventionen können damit gerechtfertigt werden, dem einzelnen Marktakteur werde geholfen, präferenzkonforme Entscheidungen zu treffen bzw. damit, dass dieser daran gehindert werde, in irrationaler Weise gegen seine eigenen wohlverstandenen Interessen zu handeln. Die Sensibilität des Europäischen Gesetzgebers im Hinblick auf die Einsichten verhaltens42 wissenschaftlicher Forschung hat ihren Grund darin, dass sich hier ein Spannungsverhältnis zum bisher hoch gehandelten (und auch primärrechtlich fundierten)99 Informationsmodell abzeichnet. Nach diesem Paradigma soll es zum Schutz der Vermögensinteressen der Verbraucher weithin genügen, ihnen eine informierte Transaktionsentscheidung zu ermöglichen.100 Die erforschten Phänomene systematisch beschränkten Rationalverhaltens knüpfen nun aber nicht am Maß oder der Qualität der Informationen an, über die ein Marktteilnehmer für eine Transaktionsentscheidung verfügt. Es handelt sich vielmehr um nachgelagerte Mechanismen, die in der Phase der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen wirken. Informationsregeln können hier allenfalls graduell abhelfen: Vorgaben über die Modalitäten der Informationsgewährung (etwa Standardisierung) können dazu beitragen, die kognitiven Anforderungen an die Informationsauswertung und -verarbeitung zu senken.101 43

Wie die Erkenntnisse der kognitiven Psychologie die Wirksamkeit traditioneller Schutzinstrumente in Frage stellt, sei veranschaulicht am Beispiel des Widerrufsrechts, einem „Urgestein“102 Europäischen Verbraucherrechts. Eine cooling-off period soll dem Verbraucher die Chance geben, Informationsdefizite zu kompensieren und frei von suggestiven Einflüssen die eigene Transaktionsentscheidung zu überdenken und ggf. zu korrigieren. Verschiedene verhaltenswissenschaftlich fundierte Phänomene stehen dem Abnehmer allerdings hierbei im Wege: Individuen nehmen unbewusst Informationen selektiv auf, um vorgefasste Anschauungen aufrechterhalten zu können und damit kognitive Dissonanzen zu vermeiden und sich also nicht selbst eine Fehl-

_____ 97 Die GD Gesundheit und Verbraucherschutz veranstaltete etwa wiederholt Konferenzen zum Nutzen der Verhaltensökonomik für die Verbraucherpolitik, so zuletzt etwa im Jahre 2013 unter dem Titel: „Applying behavioural insights to EU policymaking“, s. http://ec.europa.eu/dgs/health_consumer/information_sources/consumer_affairs_ events_2013_en.htm. 98 Sunstein/Thaler, U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159–1202, mit dem programmatischen Titel „Libertarian Paternalism Is Not an Oxymoron“. 99 Nach der Rechtsprechung des EuGH dürfen die Mitgliedstaaten keine zwingenden Inhaltsbeschränkungen vorsehen, die den grenzüberschreitenden Verkehr behindern, wenn den jeweiligen Schutzinteressen auch durch Information genügt werden kann, grundlegend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 REWE ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 – Cassis de Dijon. Die Grundsätze eines freien Wirtschaftsverkehrs binden auch die Unionsorgane. Hieraus leitet der EuGH ab, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine allgemeine Schranke für harmonisierende Normen des Sekundärrechts bildet, die den Handel innerhalb der Union beschränken und besonderen Schutzinteressen, etwa dem Verbraucherschutz, verpflichtet sind, EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, Slg. 1994, I-3879 Rn. 9–22. 100 Zum Informationsmodell im Binnenmarkt s. etwa Grundmann, JZ 2000, 1133–1143; ders., in diesem Band, § 9 Rn. 41 f.; zu den Herausforderungen an das Informationsparadigma durch Behavioural Law & Economics s. Ulen, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy, S. 111–127; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 295–310. 101 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 221; Rehberg, in: Eger/Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analyse der europäischen Zivilrechtsentwicklung, S. 325–327. 102 Das Widerrufsrecht ist zentrales Schutzinstrument eines der ältesten Rechtsakte des Europäischen Verbrauchervertragsrechts, der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. Das Widerrufsrecht für Fernabsatzverträge und außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen findet sich jetzt in Art. 9 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Recht der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64.

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entscheidung eingestehen zu müssen.103 Hinzu kommt die empirisch belegte Einsicht, dass die subjektive Wertschätzung eines Gutes zunimmt, sobald man es besitzt (sog. Endowment-Effekt).104 Im Lichte dieser Erkenntnisse erscheint es zweifelhaft, inwieweit ein Widerrufsrecht verhindern kann, dass Verbraucher an Transaktionen wider ihre Präferenzen festhalten. Alternativ wird deshalb vorgeschlagen, dass Geschäfte, bei denen dies abhängig von der Vertragsschlusssituation oder dem Vertragsgegenstand angezeigt erscheint, nur wirksam werden, wenn der Verbraucher sie innerhalb einer bestimmten Frist bestätigt.105

Ob allerdings die verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse über die Verfeinerung und Neujus- 44 tierung von Informationsinstrumenten hinaus eine Abkehr vom Informationsparadigma verlangen, sollte mit Vorsicht diskutiert werden.106 Fraglich ist etwa, inwieweit es für die Überwindung systematischer Informationsdefizite auf Märkten tatsächlich darauf ankommt, dass der individuelle Verbraucher von einer Information Kenntnis nimmt und hiernach seine Transaktionsentscheidung ausrichtet. Angesichts von Marktmechanismen kann dies entbehrlich sein.107 Es mag beispielsweise auf manchen Märkten hinreichen, dass Informationsintermediäre (z.B. Verbraucherschutzinstitute, die unabhängige Produkttests durchführen) oder eine kritische Anzahl von Verbrauchern die am Markt vorhandenen Informationen verarbeiten und so eine adverse Selektion der Produktqualität aufgrund von Informationsasymmetrien verhindern.108 Zum anderen ist gerade das vom EuGH für die Auslegung der Grundfreiheiten und des Se- 45 kundärrechts postulierte Leitbild vom mündigen, selbstverantwortlich am Markt agierenden Verbraucher109 als normatives Konstrukt zu verstehen. Das individuell durchsetzbare Recht der Unionsbürger auf eine freie Teilnahme am grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr bildet mit dem im Binnenmarkt zu gewährleistenden System unverfälschten Wettbewerbs das Fundament der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsverfassung der Union. Es ist daher im Grundsatz folgerichtig, wird dem Verbraucher normativ die Rolle eines mündigen Marktbürgers zugewiesen, der durch Information zu selbstverantwortlichen Entscheidungen befähigt werden kann. 110 Die Überzeugungskraft dieses normativen Leitbildes nimmt allerdings ab mit zunehmender Distanz vom empirischen Befund und schwindet gänzlich, wenn dem Einzelnen irreversible Freiheitsverluste drohen, also Leib oder Leben auf dem Spiel stehen oder Vermögensverluste existenzbedrohenden Ausmaßes. Einstweilen ist noch nicht abzusehen, inwieweit die verhaltenswissenschaftlich fundierte 46 Kritik am Informationsmodell eine Renaissance formal verstandener Vertragsfreiheit oder marktregulierender Eingriffe und insbesondere der Produktregulierung befördern wird.111 Die Europäische Kommission zieht etwa im Bereich der Finanzdienstleistungen die Einführung einfacher, standardisierter Produkte als Antwort auf systematische Entscheidungsprobleme der Verbraucher

_____ 103 Grundlegend Festinger, A theory of cognitive dissonance (1957); zur ökonomischen Charakterisierung Akerlof/ Dickens, Am. Econ. Rev. 72 (1982), 307–319. 104 Thaler, J. Econ. Bahav. & Org. 1 (1980), 39, 44; Knetsch, Am. Econ. Rev. 79 (1989), 1277–1284. 105 Eidenmüller, JZ 2005, 216, 222. 106 S. mit Blick auf das Widerrufsrecht als Instrument des Binnenmarktvertragsrechts Riesenhuber, ULR 7 (2011), 117, 128 f. 107 Überblick bei Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 190–203. 108 S. etwa Tirole, Industrial Organization (1988/2001), S. 107 f. 109 Der Gerichtshof spricht formelhaft vom Leitbild des „normal informierten und angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“, so EuGH v. 16.9.2004 – Rs. C-329/02 P Sat.1, Slg. 2004, I-8317 Rn. 24; grundlegend zuvor mit noch leicht variierter Formulierung die 6-Korn-Eier-Entscheidung EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657 Rn. 37. 110 Zur normativen Begründung des Europäischen Verbraucherleitbildes Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 329–332; Franck/Purnhagen, in: Mathis (Hrsg.), Law and Economics in Europe, S. 329, 334 ff., 349 ff. 111 S. etwa Schön, FS Canaris (2007), Bd. I, S. 1211. Franck

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1. Teil: Grundlagen

in Betracht.112 Soweit solche Standardprodukte optional anzubieten wären, würde man dem Vorwurf der Einschränkung der Produktvielfalt entgehen. Allerdings deutet sich bereits an, dass es schwierig sein wird, auf Unionsebene einen politischen Konsens über solche Produktstandards zu erreichen und offenbart sich damit ein Problem, dass u.a. den Siegeszug des Informationsmodells befördert hat. Das Wissen um kognitionspsychologisch bedingte Grenzen der Informationsaufnahme und -verarbeitung ist in jedem Fall ein wichtiger Faktor, will man im Kampf gegen informationsbedingtes Marktversagen die Vor- und Nachteile von Informationsregelungen und einheitlichen (Mindest-)Produktstandards fair gegeneinander abwägen. Zu erwägen ist deshalb allemal, die kognitionspsychologischen Erkenntnisse nicht nur als Anlass dafür zu begreifen, marktunterstützende Regeln zu optimieren und marktregulierende Eingriffe neu zu legitimieren. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass sich in ihnen ein Menetekel offenbart, das uns mahnt, Steuerungsansprüche auf ein realistisches Maß zurückzuschrauben.113

IV. Ökonomische Argumente und Rechtsfindung für den Binnenmarkt 1. Grundfreiheiten 47 Die konstatierte Ausrichtung des Binnenmarktes auf eine Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt

setzt sich in den Grundfreiheiten 114 fort. Verschiedene dogmatische Entwicklungen zu den Grundfreiheiten lassen sich vor diesem Hintergrund erklären. Instruktiv hierfür ist die KeckRechtsprechung, wonach bestimmte nationale Bestimmungen, die Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, grundsätzlich nicht als Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit anzusehen sind.115 Der Gerichtshof hatte damit ein Kriterium zur Einschränkung des Tatbestandes des Art. 34 AEUV postuliert, dessen Ausformung und Begründung der Rechtspraxis und der Rechtswissenschaft einige Rätsel aufgab. Schnell wurde klar, dass eine schematische, rein begriffliche Abgrenzung der produkt- von den vertriebsbezogenen Regelungen zum einen teilweise schwer handhabbar sein würde und zum anderen in vielen Fällen nicht zu überzeugenden Abgrenzungen führen konnte. So stellen Werbeverbote im Grundsatz bloße Verkaufsmodalitäten dar.116 Befindet sich die Werbung indes auf dem Produkt, handelt es sich um eine produktbezogene Regelung.117 Zudem war der Formulierung des EuGH zu entnehmen, dass es weiterhin einen Bestand nationaler Regelungen geben konnte, die zwar begrifflich als Verkaufsmodalitäten verstanden werden konnten, trotzdem aber als rechtfertigungsbedürftige Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit zu werten waren. Dies hat den Raum geöffnet für zwei ökonomisch begründete Argumentationslinien, um die Keck-Rechtsprechung zu rationalisieren und zu operationalisieren.

_____ 112 S. Arbeitsdokument der Dienststellen der Kommission v. 22.9.2009 über Folgemaßnahmen zum Verbraucherbarometer in Bezug auf Finanzdienstleistungen für Privatkunden, SEK(2009) 1251 endg, S. 16; s.a. nachfolgend „Consumer Decision Making in Retail Investment Services: A Behavioural Economics Perspective“, Final Report, November 2010. 113 Vgl. in Bezug auf die Umsetzung des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht Calliess, in: Riesenhuber/Nishitani (Hrsg.), Wandlungen oder Erosion der Privatautonomie? (2007), S. 111. 114 Zu den Grundfreiheiten als Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 24–32. 115 EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16. 116 EuGH v. 15.12.1993 – Rs. C-292/92 Hünermund u.a., Slg. 1993, I-6787 Rn. 21–24 (Werbeverbot für apothekenübliche Produkte außerhalb von Apotheken); EuGH v. 9.2.1995 – Rs. C-412/93 Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179 Rn. 21–24 (Verbot der Fernsehwerbung für eine bestimmte Form des Vertriebs von Kraftstoff). 117 EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 11–14. Franck

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Eine erste Argumentation betont, dass es Ziel der Warenverkehrsfreiheit sei, den Zutritt auf 48 andere mitgliedstaatliche Märkte nicht zu erschweren.118 Davon ausgehend sollen aber nationale Maßnahmen nicht an den Grundfreiheiten zu messen sein, die nach erfolgtem Marktzutritt lediglich die Modalitäten des Wettbewerbs regeln und auch faktisch die grenzüberschreitend gehandelten Waren nicht anders betreffen als die Waren, die rein inländisch vertrieben werden. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten beschränken danach die Warenverkehrsfreiheit, wenn sie den Marktzutritt erheblich erschweren. Hierunter können vor allem Regeln fallen, die die Absatzförderung für bestimmte Produkte verbieten. Denn neu auf einen Markt drängende Erzeugnisse sind in viel größerem Maße auf Werbung und andere Maßnahmen der Absatzförderung angewiesen als die etablierten inländischen Erzeugnisse, mit denen die Verbraucher bereits vertraut sind. In GIP entschied der EuGH, dass das nahezu vollständige Verbot der Absatzförderung für alkoholische Produk- 49 te in Schweden – obwohl es sich nur um eine Verkaufsmodalität handelte – eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit darstellte, die allerdings rechtfertigungsfähig war.119 Eine Erschwerung des Marktzutritts ist gleichfalls zu konstatieren, wenn eine nationale Regelung eine Absatztechnik für eine Produktgruppe untersagt. Folgerichtig qualifizierte der Gerichtshof auch das deutsche Verbot des Versandhandels mit Arzneimitteln, die in Deutschland nur in Apotheken verkauft werden durften, als eine Maßnahme gleicher Wirkung i.S.v. Art. 34 AEUV, obgleich es sich auch hier begrifflich lediglich um eine Verkaufsmodalität handelte.120

Eine zweite dezidiert ökonomisch begründete Argumentationslinie hebt hervor, dass Unterneh- 50 men von der Binnenmarktintegration profitieren sollen, indem sich für sie Synergieeffekte und Größenvorteile (economies of scale and scope) ergeben sollen. Mitgliedstaatliche Verkaufsmodalitäten können indes verhindern, dass ein Produzent die Kostenvorteile, die ein einheitlicher Binnenmarkt mit sich bringen soll, auch durch eine einheitliche Marketingstrategie umsetzt. Dementsprechend wird unter dem Stichwort des Euro-Marketing argumentiert, dass vertriebsbezogene Regelungen auch nach der Keck-Rechtsprechung in den Tatbestand des Art. 34 AEUV fallen, wenn ein Anbieter durch sie gezwungen ist, eine einheitlich für mehrere Länder oder sogar den gesamten Binnenmarkt konzipierte Marketingstrategie zu ändern, ihm dadurch Anpassungskosten entstehen und deshalb der grenzüberschreitende Warenverkehr gestört wird.121

_____ 118 Ehlers, Jura 2001, 482, 485. Mittlerweile hat der Gerichtshof das Kriterium der Behinderung des Zugangs zum Markt eines Mitgliedstaats als allgemein hinreichende Voraussetzung für eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit anerkannt, EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 36 f. Diese dogmatische Justierung eröffnet die Möglichkeit, das Merkmal der Beeinträchtigung mittels ökonomischer Überlegungen auszufüllen, s. Pecho, LIEI 36 (2009), 257, 264. 119 EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 GIP, Slg. 2001, I-1795 Rn. 18–25; zuvor bereits EuGH v. 9.7.1997 – verb. Rs. C-34/95 bis C-36/95 De Agostini u.a., Slg. 1997, I-3843 Rn. 42 f. Vgl. Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S. 174 f.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 92; W.-H. Roth, CMLR 31 (1994), 845, 853; Stein, EuZW 1995, 435, 436. 120 EuGH v. 11.12.2003 – Rs. C-322/01 Deutscher Apothekerverband ./. DocMorris und Jaques Waterval, Slg. 2003, I-14887 Rn. 55–76. 121 Ausdrücklich unter Hinweis auf den Aspekt der economies of scale Ackermann, RIW 1994, 189, 194; s.a. Leible/Sosnitza, K&R 1998, 283, 287 mwN; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 92; Dethloff, Europäisierung des Wettbewerbsrechts (2001), S.164 ff.; Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 102, stellt darauf ab, ob durch die mitgliedstaatlichen Normen „Werbung oder andere wichtige Vertriebsparameter in ihrem Kern“ beschränkt werden.

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1. Teil: Grundlagen

Die Ermöglichung einer einheitlichen Marketingstrategie durch die Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH im Urteil Douwe Egberts berücksichtigt. Dort wurde entschieden, dass das belgische Verbot der Werbung für Lebensmittel mit Bezugnahmen auf das „Schlankerwerden“ und „ärztliche Empfehlungen“ eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des freien Warenverkehrs darstelle, weil es die Aufgabe eines Werbesystems verlangt, welches der Anbieter für besonders wirksam hält.122

2. Sekundärrecht 52 Scheint die Berücksichtigung ökonomischer Argumente bei der Anwendung der Grundfreiheiten

jedenfalls dem Grunde nach nicht problematisch, so ist schwieriger zu beurteilen, inwieweit Effizienzüberlegungen als Maßstab für die Anwendung von Sekundärrecht heranzuziehen sind. Ökonomische Überlegungen für die Auslegung fruchtbar zu machen überzeugt dann, wenn sich dies dem Willen des Regelgebers bzw. dem Ziel einer interpretationsbedürftigen Norm entnehmen lässt. Sie dienen so als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung.123 Die Tatsache, dass sich ein Rechtsakt auf die Binnenmarktkompetenz stützt, erscheint für sich zu unspezifisch, um darin eine Anordnung der Berücksichtigung wohlfahrtsökonomischer Argumente bei der Auslegung erkennen zu können. Anhaltspunkte hierfür müssen sich also aus dem jeweiligen Rechtsakt und seinem Regelungsziel ergeben. Nahe liegend ist dies vor allem dann, wenn Märkte bzw. das Verhalten von Marktteilneh53 mern Gegenstand der Rechtssetzung sind. Lauterkeits- und kapitalmarktrechtliche Regelungen wollen das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Märkte schützen, indem sie das Marktverhalten reglementieren. In der zweiten Begründungserwägung zur Marktmissbrauchsrichtlinie124 wird dies explizit mit wohlfahrtsökonomischen Erwägungen verknüpft:125 „Ein integrierter und effizienter Finanzmarkt setzt Marktintegrität voraus. Das reibungslose Funktionieren der Wertpapiermärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Märkte sind Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum und Wohlstand.“ Betroffen ist mit dieser Funktion der Marktordnung ein originärer Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaften. Hier erscheint es deshalb geradezu zwingend, ökonomische Erkenntnisse heranzuziehen, um intendierte Wirkungsmechanismen aufzuzeigen und ihnen bei der Anwendung der Regeln zum Durchbruch zu verhelfen. 54 Eine Besonderheit des Binnenmarktrechts besteht darüber hinaus darin, dass nicht nur Normen des klassischen Wirtschaftsrechts, also etwa des Kartellrechts, als Regeln zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit von Märkten anzusehen sind. Vielmehr prägt dieses Ziel auch den wesentlichen Bestand des Europäischen (Verbraucher-)Vertragsrechts.126 Deutlich wird dies beispielsweise am Instrument des Widerrufsrechts, wie es u.a. in Art. 9 Verbraucherrechterichtlinie für Fernabsatzverträge vorgesehen ist. Wird den Abnehmern ein Widerrufsrecht eingeräumt, erhalten sie eine erweiterte Möglichkeit, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und noch (nachträglich) für ihre vertragliche Entscheidung zu berücksichtigen. Der Europäische Regelgeber versteht das Widerrufsrecht als Instrument zur Überwindung von Informationsasymmetrien,

_____ 122 EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-239/02 Douwe Egberts, Slg. 2004, I-7007 Rn. 52. 123 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Näher hierzu etwa Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, S. 450 ff., insbes. S. 452–454; Grundmann, RabelsZ 66 (1997), 423, 430–443; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts (1997), S. 29–31. 124 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 125 S. Kalss, in diesem Band, § 20 Rn. 37. 126 Grundmann, NJW 2000, 14, 17; s.a. Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 319 f. Franck

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um so den Fernabsatz als Absatztechnik zu unterstützen und ein Marktversagen infolge von strukturellen Informationsdefiziten zu verhindern.127 Grundgedanke der Regelung ist also, dass ein funktionsfähiger Fernabsatzmarkt wohl- 55 standsfördernd und ein Widerrufsrecht ein nützliches Instrument ist, die Funktionsfähigkeit des Fernabsatzmarktes zu gewährleisten. Der Ausgestaltung der Fernabsatzrichtlinie ist jedoch auch zu entnehmen, dass der Regelgeber für bestimmte Konstellationen davon ausging, dass Wohlfahrtsnachteile durch die Einräumung eines Widerrufsrechts gegenüber den Vorteilen überwiegen würden. Dies kann einerseits bei relativ hohen Transaktionskosten für die Ausübung des Widerrufsrechts oder angesichts hoher Kosten aufgrund eines in bestimmten Konstellationen gesteigerten Risikos opportunistischen Verhaltens der Abnehmer der Fall sein.128 Diese Kosten fallen zwar beim Händler an, können von diesem aber – in Abhängigkeit von der Preiselastizität der Nachfrage – über die Preise an die Abnehmer weitergegeben werden. Andererseits ist der Nutzen des Widerrufsrechts geringer, wenn Marktmechanismen bereits die Risiken der Informationsasymmetrien im Fernabsatz (teilweise) kompensieren. Dieser Gedanke liegt etwa Art. 3 Abs. 3 lit. j) Verbraucherrechterichtlinie zugrunde, wonach der Verbraucher- 56 schutz bei Fernabsatzverträgen bzw. bei außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen nicht für Verträge „über die Lieferung von Lebensmitteln, Getränken oder sonstigen Haushaltsgegenständen des täglichen Bedarfs“ gilt, wenn diese „im Rahmen häufiger und regelmäßiger Fahrten“ am Wohnsitz, Aufenthaltsort oder am Arbeitsplatz geliefert werden. Der Regelgeber vertraut hier darauf, dass das Interesse von Händlern, eine gute Reputation aufzubauen, in Bezug auf bestimmte Waren hinreicht, die Abnehmer zu schützen.129

Diese Mechanismen erschließen sich nicht unmittelbar aus der Regelung des Widerrufsrechts 57 bzw. seines Anwendungsbereichs. Ihre Offenlegung gibt dem Rechtsanwender operable Kriterien an die Hand, um etwa die Fülle von Detailproblemen hinsichtlich der Ausnahmetatbestände vom Widerrufsrecht zu klären. So muss die Anwendung des Art. 3 Abs. 3 lit. j) Verbraucherrechterichtlinie davon abhängen, dass der Reputa- 58 tionsmechanismus stark genug ist, um die Verbraucher vor den Risiken durch Informationsdefizite zu schützen. Dessen praktische Wirksamkeit hängt maßgeblich davon ab, dass sich gleichartige Transaktionen wiederholen, dass der Abnehmer vor einer wiederholten Transaktion die Qualität des Produktes verifizieren kann und dass der Anbieter seinem Geschäftsmodell entsprechend versuchen muss, eine gute Reputation aufzubauen und also auf Wiederholungskäufer angewiesen ist. Paradigmatisch hierfür stehen etwa Lieferservices für Pizzas.130

_____ 127 Bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz sind die Informationsnachteile offenkundig: Beim Vertrieb etwa über Kataloge oder das Internet können Güter, die im Ladengeschäft erworben als Suchgüter zu qualifizieren wären, über deren Qualität sich die Abnehmer also mit nur geringem Aufwand durch bloßes Betrachten oder einfaches Ausprobieren informieren können, die Eigenschaften von Erfahrungsgütern annehmen, deren Qualität sich erst nach Vertragsschluss erschließt, nämlich nachdem der Abnehmer das Produkt zugeschickt bekommen hat, vgl. BE 14 FARL; Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 288–290; Rekaiti/Van den Bergh, JCP 23 (2000), 371, 380. 128 Diese Wertung lässt sich u.a. Art. 3 Abs. 3 lit. c, Art. 16 lit. b), c), e), g) Verbraucherrechterichtlinie entnehmen. In EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, Slg. 2009, I-7315, Rn. 25 f., erkennt der Gerichtshof ausdrücklich an, dass dem Anbieter im Fernabsatz erlaubt sei, sich durch eine Wertersatzpflicht bei opportunistischem Verhalten des Kunden schadlos zu halten. 129 Rekaiti/van den Bergh, JCP 23 (2000), 371, 395. 130 Treffend wird die Bereichsausnahme denn auch als „Pizza-Klausel“ bezeichnet, MünchKommBGB-Wendehorst, § 312b BGB Rn. 78. Franck

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1. Teil: Grundlagen

3. Zur Zögerlichkeit des EuGH, explizit ökonomisch zu argumentieren 59 Das vorgenannte Beispiel der Keck-Rechtsprechung veranschaulicht, dass der Argumentation

des Gerichtshofs ökonomische Konzepte zugrunde liegen können, ohne dass dies in den Entscheidungsgründen explizit zum Ausdruck kommen würde. Die aus den Urteilen aufscheinende Zögerlichkeit des EuGH im Umgang mit ökonomischen Argumenten – die nicht nur im Hinblick auf die Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten zu konstatieren ist, sondern für das gesamte Binnenmarktrecht131 – erklärt sich zum Teil mit der generell unter Gerichten verbreiteten Sorge, sich bei weit gehender Offenlegung der Entscheidungsmotive über eine Einbettung in Präjudizien oder dogmatische Erwägungen hinaus ohne Not in eine angreifbare Position zu begeben. Diese Furcht ist im Hinblick auf ökonomische Argumente besonders ausgeprägt, bewegt sich der Richter doch hier auf fachfremdem Terrain.132 Erklärlich wird die Vorsicht aber auch angesichts der institutionellen Rahmenbedingungen: In Luxemburg treffen 28 Richterpersönlichkeiten mit heterogener juristischer Sozialisation und entsprechend differenziertem Methodenverständnis aufeinander.133 Schwierige und bedeutende Rechtssachen werden regelmäßig vor einer Großen Kammer mit 15 Richtern verhandelt; in außergewöhnlichen Fällen sogar durch das Plenum.134 Urteile sind deshalb nicht selten das Resultat einer schmerzhaften Kompromissfindung. Den beteiligten Richtern steht nicht die Möglichkeit offen, ein im Ergebnis zustimmendes, in der Begründung aber abweichendes Sondervotum zu formulieren (sog. „concurring opinion“). Unter diesen Bedingungen würden wohl auch exponierte Vertreter der „ökonomischen Analyse des Rechts“ wie Bork, Calabresi, Easterbrook oder Posner, die in den Vereinigten Staaten in hohe Richterämter gelangten,135 mit dem Versuch gezögert haben, einen Spruchkörper auf schneidige ökonomische Urteilsbegründungen festzulegen.136 60 Demgegenüber ist die institutionelle Stellung der Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof eher dazu angetan, ökonomische Zielsetzungen so klar zu artikulieren, wie etwa der bereits zitierte137 Generalanwalt Geelhoed im Fall Temco oder auch Generalanwalt Maduro in der Rechtssache Viking mit Bezug auf die wohlfahrtsfördernde Ratio der Grundfreiheiten: „Im Wesentlichen schützen [die Vorschriften über den freien Warenverkehr und die Wettbewerbsregelungen] die Marktteilnehmer, indem sie es ihnen ermöglichen, gegen bestimmte Hindernisse vorzugehen, die es ihnen verwehren, auf dem Gemeinsamen Markt unter gleichen Bedingungen miteinander in Wettbewerb zu treten. Dass eine derartige Möglichkeit besteht, ist das entschei-

_____ 131 Explizit auf ökonomische Erwägungen rekurrierte der Gerichtshof unter Hinweis auf die Gesetzgebungsmaterialien in EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov ./. Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 19: Einen Zwischenhändler gleich einem Hersteller verschuldensunabhängig für durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden haften zu lassen, ergebe keinen Sinn, weil „der Lieferant in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lediglich das gekaufte Produkt unverändert weitergebe und nur der Hersteller die Möglichkeit habe, auf die Qualität des Produktes einzuwirken“; anderenfalls würde „jeder Lieferant sich gegen eine solche Haftung […] versichern müssen, was zu einer starken Verteuerung der Produkte führen würde“. Der Gerichtshof begründet mithin die Konzentration der Produkthaftung beim Hersteller mit dessen Position als „cheapest cost avoider“, Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 883. 132 Nach Art. 25 EuGH-Satzung können die Richter Gutachten in Auftrag geben, die auch empirische oder theoretische ökonomische Fragen betreffen können, s.a. Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 893 f. 133 S.a. Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 3. 134 Art. 16 EuGH-Satzung und Art. 60 EuGH-VerfO. 135 Easterbrook und Posner sind Richter am U.S. Court of Appeals for the Seventh Circuit. Calabresi ist Senior Judge am U.S. Court of Appeals for the Second Circuit. Bork war Richter am U.S. Court of Appeals for the District of Columbia Circuit. Seine Nominierung für den U.S. Supreme Court durch Präsident Reagan scheiterte im Jahre 1987 am Votum des Senats. 136 S. etwa aus der U.S.-amerikanischen Rechtsprechung Eckstein v. Balcor Firm Investors, 8 F.3d 1121 (7th Cir. 1993) (Easterbrook, J.); Lake River Corp. v. Carborundum Co., 769 F.2d 1284 (7th Cir. 1985) (Posner, J.). 137 S. oben bei Fn. 64. Franck

§ 5 Vom Wert ökonom. Argumente bei Gesetzgebung und Rechtsfindung für den Binnenmarkt

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dende Element, wenn es darum geht, in der Union als Ganzem Kosteneffizienz [im Original heißt es präziser ‚eficiente afectação‘, also ‚Allokationseffizienz‘] herzustellen.“138 Gerade die dem Viking-Urteil zugrunde liegende Problematik einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer (Streiks) offenbart freilich auch die Schranken derlei Rhetorik. Denn Entscheidungen zu den Grundfreiheiten laufen nicht selten auf eine Abwägung mit Schutzzielen nichtwirtschaftlicher Art hinaus, insbesondere mit Grundrechten139 oder sozialpolitisch induzierten Interessen.140 Hier stoßen Effizienzargumente an ihre „natürliche“ normative Grenze: Zielkonflikte zwischen Allokationseffizienz und anderen Gerechtigkeitsprinzipien (Verteilungsgerechtigkeit, Schutz unantastbarer bzw. nur der Abwägung zugänglicher subjektiver Rechte) kann die ökonomische Analyse nicht auflösen.141 Der EuGH tut deshalb gut daran, ökonomische Wohlfahrtsargumente aus solchen Abwägungsentscheidungen herauszuhalten.142 Zwar ist der Gerichtshof Wächter eines freien Binnenmarktes und Garant der damit bezweckten Effizienzvorteile. Die Marktfreiheit steht aber nicht über allem und der EuGH versucht mit gutem Grund durch ausgleichende Urteile, sich nicht in die Rolle eines einseitig auf Liberalisierung und Freihandel ausgerichteten Protagonisten drängen zu lassen. Diese Relativierungen sollten allerdings keine Prozesspartei entmutigen, ökonomische Ar- 61 gumente in Form theoretischer oder empirischer Wirkungsanalysen hinsichtlich der Anwendung binnenmarktrechtlicher Normen vorzubringen.143 Fundierte ökonomische Argumente werden beim Europäischen Gerichtshof Gehör finden, auch wenn sie letztlich nicht explizit in einer Urteilsbegründung widerhallen.

_____ 138 GA Maduro, SchlA v. 23.5.2007 – Rs. C-438/05 Viking Line, Slg. 2007, I-10779 Rn. 33. 139 EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, I-5649 Rn. 70–94 (Versammlungsfreiheit); EuGH v. 14.10.2004 – Rs. C-36/02 Omega, Slg. 2004, I-9609 Rn. 32–41 (Menschenwürde). Vgl. mit Blick auf das normative Verbraucherleitbild der Binnenmarktregulierung Franck/Purnhagen, in: Mathis (Hrsg.), Law and Economics in Europe, S. 329, 353–355. 140 EuGH v. 25.10.2001 – verb. Rs. C-49, 50, 52–54, 68–71/98 Finalarte, Slg. 2001, I-7831 Rn. 31–34, 49–52 (Arbeitnehmerschutz); EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 77–89 (kollektive Maßnahmen der Arbeitnehmer). 141 Ott/Schäfer, JZ 1988, 213, 219. Die ökonomische Analyse kann allerdings Aussagen darüber treffen, auf welchem Wege verteilungspolitische Ambitionen in effizienter Weise verwirklicht werden können: Die Ausrichtung privatrechtlicher Normen, die Markttransaktionen betreffen, ist hierbei nicht erste Wahl, Zusammenfassung der wesentlichen Argumente bei Franck, Europäisches Absatzrecht (2006), S. 170–172 und Schillig, ERPL 17 (2009), 853, 874–876, jeweils mwN. 142 Damit sei nicht gesagt, dass eine Wohlfahrtsanalyse nicht möglich wäre, weil sich subjektiven Grundrechtspositionen etc. prinzipiell keine individuelle Zahlungsbereitschaft zuordnen ließe: Gegen Zahlung welcher Summe hätte sich wohl jeder einzelne Demonstrant, der am 12.6.1998 für mehr als 24 Stunden die Brenner-Autobahn blockierte und damit den freien Warenverkehr im Binnenmarkt behinderte (EuGH v. 12.6.2003 – Rs. C-112/00 Schmidberger, Slg. 2003, I-5649), sein Recht auf Versammlungsfreiheit „abkaufen“ lassen? Oder: Wieviel wäre er bereit gewesen, für ein Blockaderecht zu zahlen? Vertreter der „Glücksforschung“ nehmen in Anspruch, mit ihren Methoden den individuellen und damit auch kollektiven Nutzen messen zu können, den Bürger aus ihren Freiheitsrechten und politischen Mitwirkungsrechten schöpfen können, s. Frey/Stutzer, Happiness & Economics (2002), S. 134– 151. 143 Vgl. Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 10. Franck

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1. Teil: Grundlagen

neue rechte Seite Franck

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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2. Teil Allgemeiner Teil Abschnitt 1 Rechtsquellen 2. Teil: Allgemeiner Teil

§6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts § 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts Köndgen

Johannes Köndgen Literatur Christian Baldus, Ein weiterer Schritt zur horizontalen Direktwirkung? – Zu EuGH, C-201/02, 7.1.2001 (Delena Wells), GPR 2003/2004, 124–126; Jürgen Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge (2. Aufl. 2009), S. 489–557; Albert Bleckmann, Zur Funktion des Gewohnheitsrechts im Europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1981, 101–123; ders., Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Gerhard Lüke/Georg Ress/Michael R. Will (Hrsg.), Rechtsvergleichung, Europarecht und Staatsintegration, Gedächtnisschrift für Léontin-Jean Constantinesco (1983), S. 61–81; Fabrizio Cafaggi, Private Regulation in European Private Law, in: Arthur S. Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011), S. 91–126; Claus-Wilhelm Canaris, Drittwirkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten, in: Hartmut Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht – Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 65. Geburtstags von Reiner Schmidt (2000), S. 29–67; Thomas Eilmansberger, Zur Direktwirkung von Richtlinien gegenüber Privaten – Ist nach CIA, Unilever, Ingmar, Daehmpaehl, Ferreira und Heiniger jetzt alles ganz anders?, JBl. 2004, 283–295 und 364–376; Beate Gsell/Carsten Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht. Die Konzeption der Richtlinie am Scheideweg? (2009); Bettina Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts – Insbesondere zur Reichweite europäischer Auslegung (2004); dies., Europäisches Privatrecht (3. Aufl. 2011); Martijn W. Hesselink, Non-Mandatory Rules in European Contract Law, ERCL 1 (2005), 44–86; Michael Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten – Untersuchung der Verpflichtung von Privatpersonen durch Art. 30, 48, 52, 49, 73b EGV (1997); Christian Joerges, Europäisierung als Prozess: Überlegungen zur Vergemeinschaftung des Privatrechts, in: Stephan Lorenz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag (2005), S. 205–224; Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004); Katja Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in: dies. (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (3. Aufl. 2013), S. 1–40; Sebastian A.E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Christian Meurs, Normenhierarchien im europäischen Sekundärrecht (2012); Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Hans-Werner Micklitz, Europäisches Regulierungsprivatrecht: Plädoyer für ein neues Denken, GPR 2009, 254–263; Oliver Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, 219–240; Oliver Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003); Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., RIW 2005, 47–54; Wulf-Henning Roth, Secured Credit and the Internal Market: The Fundamental Freedoms and the EU’s Mandate for Legislation, in: Horst Eidenmüller/EvaMaria Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe (2008), S. 36–67; ders., Rechtssetzungskompetenzen für das Privatrecht in der Europäischen Union, EWS 2008, 401–413; ders., Privatautonomie und die Grundfreiheiten des EG-Vertrags, in: Volker Beuthien u.a. (Hrsg.), Perspektiven des Privatrechts am Anfang des 21. Jahrhunderts: Festschrift für Dieter Medicus (2009), 393–422; ders., The Importance of the Instruments Provided for in the Treaties for Developing a European Legal Method, in: Ulla Neergaard/Ruth Nielsen/Lynn Roseberry (Hrsg.), European Legal Method – Paradoxes and Revitalisation (2011), S. 75–94; Wolfgang Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002); Konrad Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009); Stephan Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002).

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Rechtsprechung EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, Slg. 1963, 1; EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103; EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-442/02 CaixaBank France, Slg. 2004, I-8961; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC Systems, Slg. 2005, I-10805; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779; EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C 402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; EuGH v. 1.3.2011 – Rs. 236/09 Test-Achats, Slg. 2011, I-773.

I.

II.

III.

Übersicht Grundlagen | 1–23 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre | 1–8 2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe | 9–12 3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts | 13–23 a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ | 14–18 b) Vom klassischen zum „regulatorischen“ Privatrecht – und wieder zurück? | 19–23 Das Primärrecht, insbesondere die Grundfreiheiten, als Rechtsquelle des Privatrechts | 24–34 1. Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlicher Privatrechtsgesetzgebung | 25–29 2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) | 30–32 3. Die Geltung sonstigen Primärrechts in Privatrechtsbeziehungen | 33–34 Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion | 35–60 1. Richtlinien | 35–52 a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle | 35–39 aa) Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung | 36–38 bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung | 39

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b)

IV.

V.

VI.

Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts | 40–47 aa) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? | 41–43 bb) Defizite bei den Sanktionen | 44 cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme | 45–47 c) Die Bedeutung der Begründungserwägungen | 48–52 2. Verordnungen | 53–58 a) Verordnungen mit vertragsrechtlichem und deliktsrechtlichem Inhalt | 54–55 b) „Optionale Instrumente“ | 56–58 3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts | 59 4. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung | 60 „Indirekte“ Wirkungen von Unionsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts | 61–63 Europäisches Soft Law | 64–70 1. Mitteilungen und Aktionspläne | 64–66 a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission | 64 b) Empfehlungen und Aktionspläne | 65–66 2. Ko-Regulierung und „privatisierte“ Regulierung durch Expertenrecht | 67–70 Résumé und Ausblick | 71–72

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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I. Grundlagen 1. Die Autonomie der europäischen Rechtsquellenlehre Seit geraumer Zeit schon rechnet die Rechtsquellenlehre zu jenen Gebieten der allgemeinen Rechtstheorie, die als eher steril und langweilig gelten und in denen theoretischer Fortschritt nicht mehr stattfindet. Sogar das Prädikat, eine „Theorie“ zu sein, wird ihr verweigert; man belässt sie auf dem Status einer Handvoll einfacher und praxistauglicher Definitions- und Systematisierungsregeln. Das provoziert geradezu die Grundsatzfrage: Wozu brauchen wir überhaupt eine Rechtsquellenlehre – von europäischer Rechtsquellenlehre ganz zu schweigen? Bei näherem Hinsehen erweist sich denn auch, dass die herkömmliche Rechtsquellenlehre mindestens1 vier ziemlich heterogene Grundfragen der Rechtstheorie zu beantworten sucht. Die erste Frage gilt der Herkunft von Recht. Dazu haben sich die Philosophen auf eine vorpositive Naturordnung, auf eine imaginäre volonté générale, eine Grundnorm oder schlicht auf die Verwirklichung der „Rechtsidee“ berufen. Die Soziologen – allen voran Max Weber – bevorzugen eine genetische Perspektive und sehen Recht entweder aus Tradition, aus autoritativer Setzung oder aus richterlicher Praxis (Präjudizien) entstehen. Ein zweites Thema der Rechtsquellenlehre ist die Abgrenzung der Rechtsquellen als Normen von anderen rechtserzeugenden Einzelakten wie Verwaltungsentscheidungen oder Verträgen, und zwar nach dem Kriterium der Allgemeinheit der Regelung. Die dritte Fragestellung begreift Rechtsquellen nicht nur als Verhaltensgebote und als Teil der normativen Struktur der Gesellschaft, sondern als Rechtserkenntnisquellen.2 Rechtsquellen haben demnach immer zwei Adressaten. Als Verhaltensprogramm berechtigen oder verpflichten sie ein (privates oder öffentliches) Rechtssubjekt. Als materielles Entscheidungsprogramm steuern sie das Entscheidungsverhalten des Rechtsanwenders. Diese mehrdimensionale Geltung wird sich gerade für die Rechtsquellen des Europarechts als wichtig erweisen. Mit dem Blick auf den Rechtssatz als Entscheidungsprogramm berührt die Rechtsquellenlehre sich mit der Methodenlehre der Rechtsanwendung. Aus dem so definierten Begriff der Rechtsquelle hat sich ein viertes Thema der Rechtsquellenlehre entwickelt. Es gilt jetzt, die Vielzahl vorfindlicher Quellen der Rechtsfindung definitorisch abzugrenzen und sie zugleich in ein hierarchisches System einzuordnen („Stufenbau der Rechtsordnung“).3 Wie schwierig dies im Einzelnen ist, hat sich jüngst bei der Frage gezeigt, inwieweit die Spruchpraxis der Europäischen Menschenrechtskommission (heute des EGMR) von der familienrechtlichen Judikatur deutscher Gerichte zu beachten ist.4 Angesichts der Abstraktionshöhe der meisten Theoreme der Rechtsquellenlehre möchte man meinen, dass diese sich in den luftigen Höhen der Rechtstheorie bewegt und der Rechtssetzungspraxis wenig zu sagen hat. Rechtsvergleicher wissen, dass dies ein Irrtum ist. Auch die Rechtsquellenlehre ist in weiten Bereichen durch nationalstaatliche oder zumindest rechtskreisspezifische und rechtskulturelle Eigenheiten geprägt, und sie ist als solche nicht nur Gegenstand der Theorie, sondern verbindliches normatives (Meta-)Programm. Die Eigenständigkeit der angelsächsischen5 oder der französischen6 Rechtsquellenlehre erbringt dafür schlagenden

_____ 1 Vgl. zu weiteren Fragestellungen etwa Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, § 64; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, § 6. 2 Vgl. bereits Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und des Staates (1949), S. 116; neuerdings auch wieder Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 537 f. 3 Dazu statt vieler Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 272 f. 4 BVerfGE 111, 307 – Görgülü, mit Rezensionsaufsatz H.-J. Cremer, EuGRZ 2004, 683–700. 5 Repräsentativ Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1997); Stone, Legal System and Lawyers’ Reasonings (1964). Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Beweis – von den Besonderheiten des Völkerrechts7 ganz zu schweigen. Auch ein Beitrag zur Europäischen Rechtsquellenlehre wird deshalb nicht umhin können, unter Vermeidung jeglichen „methodologischen Nationalismus“8 von der Hypothese einer autonomen und originär europäischen Lehre auszugehen und deren Spezifika herauszuarbeiten. Leicht haben es insoweit nur die Rechtsphilosophen, deren Suche nach den vorpositiven 8 Quellen des Rechts immer schon transnational war und sich auch im europäisch-supranationalen Raum zwanglos bewegen kann. Für erhebliche Irritationen, aber auch für durchaus neuartige Fragestellungen in der Rechtsquellenlehre sorgt hingegen der supranationale Charakter der Union.9 Die Produktion von Recht ist traditionell als nationalstaatliche Kompetenz begriffen worden. Im unionsrechtlichen Kontext verliert das Konzept eines „Stufenbaus der Rechtsordnung“, welches im deutschen Inlandsrecht kaum noch ein Streitgegenstand ist, bereits hinsichtlich der Existenz einer „Grundnorm“ seine Tragfähigkeit: Schon das Europäische Primärrecht ist nach der sog. Lissabon-Entscheidung des BVerfG eine von souveränen Mitgliedstaaten „abgeleitete Grundordnung“.10 Erst recht sind die sog. „Handlungsformen“ des Art. 288 AEUV in ihrer Gesamtheit abgeleitetes Recht „zweiter Ordnung“ – abgeleitet jedoch nicht aus einer Grundnorm „Verfassung“, sondern aus einem völkerrechtlichen Vertrag,11 dessen „Grundnorm“ nicht eine wie immer verstandene umfassende Rechtsidee, sondern der Integrationsauftrag ist.12

2. Mehrstufigkeit und Mehrdirektionalität: einige Grundbegriffe13 9 Die Eigenart der Europäischen Rechtsquellenlehre zeigt sich darin, dass sie nicht nur eine – so

gut wie allen Rechtsordnungen geläufige – „hierarchische“ Mehrstufigkeit verschiedener Regelungsebenen kennt, sondern auch drei verschiedene Normadressaten (Mehrdirektionalität), nämlich die Union selbst, die Mitgliedstaaten und – für das Europäische Privatrecht besonders wichtig – die Unionsbürger. Im Mehrebenensystem der Rechtsquellen14 steht hierarchisch obenan das Primärrecht, ver10 körpert im EU-Vertrag, im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, letzterer in der Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), und in der Europäischen Grundrechte-Charta. Im Rang unter dem Primärrecht und auf dessen Grundlage geschaffen (vgl. allgemein Art. 288 AEUV) existiert das Sekundärrecht, bestehend aus Richtlinien und Verordnungen.15 Die Binnenstruktur des Sekundärrechts wird durch die geradezu ahierarchische Mehrfachzuständigkeit gleichberechtigter Rechtssetzungsorgane16 herausgefordert. Ebenfalls unklar ist der hierarchische Status der als „ungeschriebenes Unionsrecht“ geltenden

_____ 6 Dazu Sonnenberger, FS Lerche (1993), S. 548 ff. 7 Dazu zuletzt Tietje, ZfRSoz 24 (2003), 27. 8 Davor warnt zuletzt wieder Joerges, FS Heldrich, S. 206. Ein – vereinzelter – Vertreter dieser Richtung ist P. Kirchhof, DRiZ 1995, 253, 259; ders., JZ 1998, 965 Fn. 96. 9 I.E. zuletzt W.-H. Roth, The Importance of the Instruments, S. 79 ff. 10 BVerfGE 123, 267 Rn. 231 – Lissabon-Vertrag. 11 Dies hat sich auch nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags nicht geändert. 12 Vertiefend hierzu Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 205 ff. 13 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf das für das Verständnis des Folgenden Unerlässliche. 14 Statt vieler und mwN Schwarze-Schwarze, Art. 288 AEUV Rn. 11 ff. 15 Die in Art. 288 AEUV ebenfalls genannte Handlungsform des Beschlusses ist ein polyvalentes Konzept, das von verwaltungsaktähnlichen Einzelfallregelungen (z.B. Art. 108 Abs. 2, 122 Abs. 2 AEUV) über abstrakt-generelle Rahmennormen (z.B. Art. 95 Abs. 4, 96 Abs. 2 AEUV) bis zu Änderungen des Primärrechts im Wege des vereinfachten Änderungsverfahrens und des sog. Brückenverfahrens (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV) reicht. 16 Hierzu vertiefend v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 529 ff. Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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Allgemeinen Rechtsgrundsätze,17 die als lückenfüllende Prinzipien sowohl primärrechtlichen18 als auch sekundärrechtlichen Rang einnehmen können. Als „in“ der Union geltendes Recht kann schließlich auf einer dritten Ebene das Recht der Mitgliedstaaten in das Mehrebenensystem einbezogen werden. Während das hierarchische Verhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht grob gesagt je- 11 nem zwischen deutschem Verfassungs- und einfachgesetzlichem Recht entspricht,19 ist das Verhältnis zwischen Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht durchaus komplex. Auch der Lissabon-Vertrag hat insoweit keine Klärung herbeigeführt. Statt einer einfachen derogatorischen Regel „Unionsrecht bricht Mitgliedstaatenrecht“ hat sich hier ein – terminologisch allerdings wenig unterscheidungskräftiges20 – Zweistufenkonzept durchgesetzt, welches sich auch das BVerfG zu eigen gemacht hat.21 Hiernach kommt bestimmten Normen des Unionsrechts zunächst „unmittelbare Geltung“ auch gegenüber einzelnen Bürgern und Unternehmen zu, ohne dass es hierzu eines mitgliedstaatlichen Transformationsakts bedarf; dies jedenfalls, soweit solche Normen einen derartigen Geltungsanspruch überhaupt erheben, was gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV ohne weiteres für Verordnungen zutrifft, nach der Rechtsprechung des EuGH aber auch für andere Normen, soweit sie klar und eindeutig, unbedingt, vollständig und rechtlich vollkommen sind, darunter insbesondere die Vorschriften über die Grundfreiheiten.22 Gilt hiernach eine unionsrechtliche Norm unmittelbar, dann stellt sich – in Stufe 2 – die Frage der Verdrängung entgegenstehenden Mitgliedstaatenrechts. Statt einer vollständigen Derogation durch „Geltungsvorrang“ besteht hier lediglich ein „Anwendungsvorrang“ des Unionsrechts,23 der das mitgliedstaatliche Recht nur insoweit zurückdrängt, „wie es die Verträge erfordern und nach dem (…) innerstaatlichen Anwendungsbefehl auch erlauben“24 – also eine Art Teilnichtigkeit, die die Geltung des Mitgliedstaatenrechts namentlich im nicht grenzüberschreitenden Bereich unberührt lässt. Auch die Mehrdirektionalität des Unionsrechts folgt keinem einheitlichen Prinzip. Während 12 es zumeist offensichtlich ist, wann eine Norm die Union selbst oder die Mitgliedstaaten adressiert, ist die Geltung einer Vorschrift im Privatrechtsverhältnis unter den Bürgern (bzw. den Unternehmen) teilweise strittig. Einige Normen – wie etwa Verordnungen mit rein privatrechtlichem Gehalt (unten Rn. 54 f.) oder die kartellrechtlichen Vorschriften des AEUV (unten Rn. 33) – zielen überhaupt nur auf solche „Privatwirkung“.25 Für mehrdirektionale Vorschriften, insbesondere für die Grundfreiheiten und die Unionsgrundrechte, hat sich in Deutschland der der nationalen Grundrechtsdogmatik entlehnte Begriff der – unmittelbaren oder mittelbaren – „Drittwirkung“ eingebürgert. Diese Begriffsbildung ist nicht unproblematisch; darauf ist zurückzukommen (Rn. 17 f. und 30 ff.).

_____ 17 Nicht zu verwechseln mit den in Art. 2, 6 und 9 f. EUV formulierten „Werten“ und „Grundsätzen“. Vgl. im Übrigen wieder Schwarze-Schwarze, Art. 288 AEUV Rn. 11, 14–16. 18 Z.B. als gemeineuropäisches Verfassungsrecht. 19 I.E. Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 15 f. 20 Rechtssoziologisch gesehen ist die Unterscheidung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „Anwendungsvorrang“ eher künstlich, kann man sich doch eine Normgeltung ohne gleichzeitige allgemeine Anwendbarkeit schwer vorstellen. 21 BVerfGE 123, 267 Rn. 335–339 – Lissabon-Vertrag. 22 Leading Case ist EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 Rn. 25 f.; Meinungsstand bei Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 1 AEUV Rn. 25 f. 23 Aus der Rechtsprechung des EuGH zuletzt EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 54. 24 BVerfGE 123, 267 Rn. 335 – Lissabon-Vertrag. 25 Dies der Titel der gleichnamigen Schrift von Wernicke, Die Privatwirkung im Europäischen Gemeinschaftsrecht. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3. Grundfragen einer Rechtsquellenlehre des Europäischen Privatrechts 13 Bei den folgenden Überlegungen zu den privatrechtsspezifischen Grundfragen der europäischen

Rechtsquellenlehre kann es nicht dabei bewenden, lediglich deskriptiv die verschiedenen Handlungsformen europäischer Rechtssetzung auf ihren privatrechtlichen Gehalt durchzudeklinieren. Fundamental für europäische Privatrechtsquellen sind vor allem zwei Einsichten. Beide sind nicht mehr unbedingt neu; und doch ziehen sie sich wie ein roter Faden durch die Beiträge zu diesem Band.

a) Der Marktbürger als Adressat europäischer Rechtsquellen: von der „Drittwirkung“ zur „Horizontalwirkung“ 14 In ihrer Doppelfunktion als berechtigende bzw. verpflichtende Rechtssätze und als Rechtserkenntnisquelle richten Rechtsquellen sich üblicherweise an zwei Adressaten: Für den Rechtsanwender bedeutet der Rechtssatz einen Anwendungsbefehl; für den oder die Normadressaten begründet er ein Recht, eine Pflicht oder eine Verhaltensnorm. Normwirkungen zugunsten oder zulasten von Nichtadressaten sind die große Ausnahme (wenn man einmal von der banalen Einsicht absieht, dass, was man dem einen durch Normbefehl gibt, häufig einem anderen wegnimmt). Im europäischen Recht ist alles ganz anders. In kaum einem Rechtsgebiet ist so viel von Drittwirkung, von unmittelbarer oder mittelbarer Wirkung die Rede wie im Europarecht; zugleich wird sie dort als hochproblematisch empfunden. Woher dieses Paradox? 15 Die Erklärung liegt darin, dass die europäische Rechtsquellenlehre bis heute die Eierschalen der völkerrechtlichen Rechtsquellenlehre noch nicht ganz abgestreift hat. Wie im Völkerrecht war auch unter den Römischen Verträgen nur den einzelnen Mitgliedstaaten Staatlichkeit (nach innen) und Rechtssubjektivität (nach außen) zu eigen. Selbst die Grundfreiheiten waren eher ein Rechtssetzungsauftrag für die Mitgliedstaaten zur Herstellung des Binnenmarktes als ein subjektives Recht der Marktbürger. Deren Rechtssubjektivität erschöpfte sich in einigen eher kümmerlichen und als akzidentielle Sanktionsdrohungen für mitgliedstaatliche Rechtsverletzungen begriffenen Klagerechten vor dem EuGH.26 Die den Vorrang des Unionsrechts prozessual sicherstellende Vorlagepflicht der nationalen Gerichte ist eine Verpflichtung der dritten Gewalt, kein Recht des privaten Klägers. Dass die Union als solche Adressatin des europäischen Primärrechts, insbesondere der Grundfreiheiten, sein könnte, blieb ebenso einer viel späteren Einsicht vorbehalten wie dass der Marktbürger – bzw. der Unionsbürger (Art. 9 EUV) – zentrales Subjekt des europäischen Rechts und seiner Rechtsquellen ist. Welch langen Weg das Europäische Recht inzwischen gegangen ist, erweist sich nicht zuletzt an einem Vergleich mit dem heutigen Entwicklungsstand der Institutionen und des Individualrechtsschutzes in der WTO. 16 Trotz alledem bedurfte es noch eines weiteren und grundsätzlichen Schritts, um den Unionsbürger auch mit europäischer Privatrechtssubjektivität auszustatten. Lange Zeit erschöpfte sich die europäische Rechtssubjektivität des Marktbürgers darin, dass er sich gegen unionsrechtswidriges Verhalten eines Mitgliedsstaates, insbesondere gegen Verletzungen der Grundfreiheiten, zur Wehr setzen konnte – ein sozusagen öffentlichrechtliches Verständnis,27 wissenschaftshistorisch nicht zuletzt dadurch erklärbar, dass die Spezialisten des Europarechts sich seinerzeit primär aus dem Lager der Öffentlichrechtler rekrutierten. Nur zögerlich setzte sich alsdann die Vorstellung durch, dass europäisches Recht auch im Privatrechtsverhältnis von

_____ 26 Vgl. zum früheren Rechtszustand etwa noch v.d. Groeben/Thiesing/Ehlermann-Krück, Kommentar zum EU-/EGVertrag (5. Aufl. 1997), Art. 173 EGV Rn. 38 ff. 27 Zu einem Rückblick aus heutiger Sicht Langenbucher-dies., § 1 Rn. 29 ff. Köndgen

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Marktbürger zu Marktbürger28 unmittelbare Wirkung äußern könnte. Die beiden Marksteine der Entwicklung (auf die im Einzelnen unten Rn. 30 ff. und Rn. 45 f. noch einzugehen sein wird) sind heute bekannt: die unmittelbare Geltung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis und die sog. Direktwirkung von Richtlinien. Diese Multidirektionalität der Normgeltung gegenüber verschiedenen Adressaten mit je ver- 17 schiedener Wirkung ist bei den Rechtsquellen des nationalen Rechts eher die Ausnahme; wir kennen sie dort aus der Diskussion um die Drittwirkung der Grundrechte, aber auch in Verbindung mit doppelseitigen Verwaltungsakten. Im Europäischen Recht ist die Multidirektionalität von Rechtsquellen zwar ebenfalls nicht der Regelfall, aber sie expandiert im Gleichschritt mit dem Unionsprivatrecht selbst. In der rechtsquellentheoretischen und methodologischen Begrifflichkeit ist dieser Paradig- 18 menwechsel noch nicht ganz angekommen. Der EuGH selbst scheint die sog. unmittelbare Drittwirkung in erster Linie als Konsequenz des effet utile-Prinzips oder als einen Fall unzulässiger Berufung auf eigenes Fehlverhalten (in der Terminologie des Common Law: estoppel) zu verstehen29 – also wiederum nur als eine Art Reflex des im Grunde immer noch völkervertragsrechtlich begriffenen Unionsrechts. Auch im Schrifttum zum Europäischen Privatrecht30 herrscht noch wenig terminologische Eindeutigkeit. Man spricht im selben Atemzug von „unmittelbarer Drittwirkung“, von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ im Privatrechtsverhältnis und eröffnet noch die weitere Dimension, dass Privatrechtssubjekte sich auf bestimmte Rechtssätze „berufen können“.31 Für die Zwecke einer Europäischen Privatrechtsquellenlehre sind diese fein gesponnenen Differenzierungen wenig hilfreich. Der Terminus „Drittwirkung“ verfehlt das Faktum, dass der Marktbürger, der – ob als Unternehmer oder Verbraucher – ohne zwischenstaatliche Behinderungen privatautonom am Marktgeschehen teilnimmt, zentrales Rechtssubjekt des Unionsprivatrechts ist. Auch sein Recht, sich, sei es auch nur ausnahmsweise, auf eine Richtlinienvorschrift zu berufen, ist „eine Funktion der objektiven Geltung und Anwendbarkeit der in einer Richtlinienvorschrift angelegten Verpflichtung“.32 In ihrer Konnotation des Ausnahmecharakters mag die Vorstellung einer Drittwirkung allenfalls noch für das Richtlinienrecht adäquat sein. Ansonsten geht die dynamische Entwicklung des Europäischen Privatrechts – dies liegt in der Natur der Sache und kulminiert im Projekt eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs (unten Rn. 58) – langfristig in die Richtung einer unmittelbaren Geltung unionsrechtlicher Normen im Privatrechtsverhältnis. Dazu bedarf es nicht der Vorstellung einer vollendeten Staatlichkeit der Union, sondern nur des Ernstnehmens ihres freiheitssichernden Auftrages. Diese Entwicklung sollte sich auch in der Begrifflichkeit widerspiegeln. So wie man im IPR immer schon mit Selbstverständlichkeit zwischen einseitigen und allseitigen Kollisionsnormen unterscheidet, sollte man auch in der europäischen Rechtsquellenlehre schlicht zwischen „Vertikalwirkung“ (Verhältnis Bürger zum Mitgliedstaat bzw. zur Union) und „Horizontalwirkung“33 (Privatrechtsverhältnis unter Marktbürgern) differenzieren.

_____ 28 Hier als Oberbegriff über Unternehmer/Unternehmer-Beziehungen („b2b“) und Unternehmer/Verbraucher-Beziehungen („b2c“). 29 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 22. 30 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 28–47. 31 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 32. 32 Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 288. 33 In Anlehnung an Nicolaysens Begriff der „horizontalen Drittwirkung“, EuR 1986, 370 f. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

b) Vom klassischen zum „regulatorischen“ Privatrecht – und wieder zurück? 19 Der Begriff des Europäischen Privatrechts leidet in seinen Randzonen noch unter erheblichen

Unschärfen. Sie beruhen nicht unwesentlich auf der für das kontinentaleuropäische Recht (welches seinerseits in romanistischer Tradition steht) immer noch geradezu axiomatischen Trennung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht. Würden wir das klassische und immer noch verbreitete Privatrechtsverständnis zugrunde 20 legen, dann gäbe es Europäisches Privatrecht allenfalls als Projekt – in Gestalt des European Civil Code.34 Dieses traditionelle Verständnis begreift nämlich Privatrecht35 als den Inbegriff der Normen, die – im Regelfall als dispositives Recht – die Rechtsbeziehungen unter Privaten regeln. Die Funktion dieses Privatrechts ist, mit einem treffenden englischen Ausdruck, „facilitative“, d.h. es will den Marktbürgern die Ordnung ihrer privaten Beziehungen erleichtern, indem es jenen Regelungsmuster offeriert, deren sie sich bedienen können oder auch nicht. Im Laufe der Zeit ist diesem klassischen Kernprivatrecht eine weitere Dimension zugewachsen, die man in den 1970er- und 80er-Jahren in Anknüpfung an Max Weber als „Materialisierung“ oder auch als „soziales Privatrecht“ zu bezeichnen pflegte und die heute, stark verkürzt, zumeist unter der Etikette „zwingendes Verbraucherrecht“ läuft. In der Ökonomie begreift man diese neue Dimension als regulierende Korrekturen des klassischen Privatrechts aufgrund von Marktversagen oder genauer: von Informationsasymmetrien.36 So weit, so bekannt. 21 Was an dieser Entwicklung eher unbemerkt blieb, sind ihre Konsequenzen für die tradierte Zweiteilung zwischen Öffentlichem und Privatrecht, mit der man sich nicht nur in Deutschland, sondern weitgehend auch im Europäischen Recht so bequem eingerichtet hat.37 Ähnlich wie im Wirtschaftsrecht das Konzept der Regulierung die Grenzlinien zwischen (privatrechtlicher) Wettbewerbsfreiheit und (öffentlicher) Wirtschaftsverwaltung flüssig gemacht hat,38 so stellt in individualrechtlicher Perspektive ein „regulatorisches“ Privatrecht den traditionellen Gegensatz von privatautonomer Gestaltung und hoheitlichem Eingriff in Frage.39 Regulierungsrecht ist längst zu einer intermediären Kategorie geworden, bei der die formale Zuordnung zum privaten oder zum öffentlichen Recht eher ein Produkt des Zufalls als von Systemgerechtigkeit ist. 22 Einige wenige Beispiele: Die sog. Wohlverhaltenspflichten der Wertpapierdienstleister stehen in einem öffentlichrechtlichen Gesetz, dem WpHG (§§ 31 ff.). In ihrem materiellen Kern beruhen sie aber auf traditionellem Geschäftsbesorgungsrecht, also Privatrecht reinsten Wassers. Öffentlichrechtlich ist daran allenfalls, dass diese Pflichten weniger von den Zivilgerichten als von einer sachnäheren Regulierungsbehörde konkretisiert werden und dass ebendiese Behörde wegen eines zivilrechtlichen Sanktionsdefizits auch über die Einhaltung der Pflichten wacht.40 Das Gegenbeispiel: Die besonderen Informationspflichten beim Vertragsabschluss mit Verbrauchern – sämtlich ein Produkt des Europäischen Richtlinien-Privatrechts – verunzieren seit 2002 zunehmend das BGB (§§ 312a, 312d, 312j Abs. 2, 491a f. BGB; Art. 246a f. EGBGB). Aber diese vorgeblichen Vertragspflichten ermangeln letztlich jeder spezifisch individual-zivilrechtlichen

_____ 34 Dazu der Beitrag von Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 47 ff. 35 Hier ausschließlich verstanden als privates Vermögensrecht, d.h. unter Ausschluss personenrechtlich gefärbter Regelungsbereiche wie dem Familien- und Erbrecht. 36 Vgl. dazu nur Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse, S. 341 f. 37 Vgl. aber von Wilmowsky, JZ 1996, 590. 38 Zum aktuellen Stand der Diskussion Basedow, in: ders. u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 15 ff.; vgl. auch daselbst, S. 322 f. 39 In diese Richtung auch Micklitz, GPR 2009, 245, 255 ff. Illustrativ ferner die bereichsspezifischen Analysen in Cafaggi/Muir Watt (Hrsg.), The Regulatory Function of European Private Law (2009). 40 Vgl. i.E. Köndgen, FS Canaris (2007), S. 204 ff.; a.A. freilich BGH, ZIP 2013, 2001, dazu kritisch J. Koch, ZBB 2014, 211, 215 f.

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Sanktion – etwa einer Erfüllungs- oder Schadensersatzklage.41 Im Übrigen besteht auch der ganz überwiegende Teil der Arbeitsmarktregulierung aus zwingendem Vertragsrecht.42 Zurück zum Europäischen Privatrecht. Während wir im nationalen Privatrecht einen weiten 23 Weg vom klassischen Privatrecht zu einer stetigen Expansion des regulatorischen Privatrechts gegangen sind, scheint die Entwicklung im Europäischen Privatrecht geradezu entgegengesetzt zu verlaufen.43 Das gesamte Europäische Sekundärprivatrecht besteht bis heute fast ausschließlich aus regulativem Recht.44 Im Recht der Finanzdienstleistungen hat sich infolge der Weltfinanzkrise diese Schwergewichtsbildung sogar noch verstärkt. Diese Selektivität hat im Wesentlichen kompetenzrechtliche Gründe.45 Erst in jüngster Zeit schickt sich die Union mit ihren Initiativen zu einem Europäischen Vertragsgesetzbuch und zu einem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht (GEK) (vgl. noch unten Rn. 58) an, auch in der Domäne des klassischen Privatrechts zu kodifizieren. Nach unseren bisher gewonnenen Einsichten löst sich dieses scheinbare Paradox unschwer auf: Es reflektiert einmal mehr die Schwerpunktverschiebung von der Vertikalwirkung des Unionsrechts zur Horizontalwirkung. Dass der Marktbürger unionsweit ein einheitliches regulatorisches Schutzniveau erwarten darf und dass er diese Erwartung auch gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen kann, erschloss sich einem auf die Herstellung eines Binnenmarkts und auf ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes verpflichteten europäischen Gesetzgeber leichter als die Notwendigkeit, auch im Kernbereich der Privatautonomie für einheitliche und nach der Natur der Sache lediglich dispositive, d.h. lediglich wählbare Regelungsmuster Sorge zu tragen.

II. Das Primärrecht, insbesondere die Grundfreiheiten, als Rechtsquelle des Privatrechts Ob und inwieweit die Normen des Primärrechts, insbesondere die Grundfreiheiten, eine multidi- 24 rektionale Rechtsquelle sind, zählt immer noch zu den umstrittensten Fragen der europäischen Rechtsquellenlehre. Weitgehend zweifelsfrei ist immerhin der Geltungsanspruch des Primärrechts gegenüber der Union selbst – Stichwort: primärrechtswidriges Sekundärrecht46 – sowie gegenüber den Mitgliedstaaten (als sog. Beschränkungsverbote bzw. Angleichungsgebote). Diskussionsschwerpunkt ist die Geltung im Vertikalverhältnis Staat–Bürger und schließlich im Ho-

_____ 41 Schadensersatzansprüche werden in der Literatur zwar teilweise befürwortet (etwa von MüKoBGB/Wendehorst § 312c Rn. 139, 144), dürften in der Praxis aber meist an einem fehlenden Schaden des Verbrauchers scheitern. Nach h.L. soll die Versäumung dieser Pflichten auch keine Vertragsnichtigkeit zur Folge haben; vgl. nur Bamberger/RothSchmidt-Räntsch, § 312c BGB Rn. 27 mwN; a.A. Reich, EuZW 1997, 581, 585. 42 Vgl. den Diskussionsbeitrag von Basedow, in: ders. u.a. (Hrsg.), Economic Regulation and Competition (2002), S. 322. 43 Eingehender hierzu der Beitrag von Grundmann, in diesem Band, § 9 Rn. 26 ff.; vgl. auch ders., JZ 1996, 274, 274 ff. 44 Beispielhaft die Richtlinien über Verbraucherkredite, über Verbraucherrechte oder die Klauselrichtlinie. Wichtiges Gegenbeispiel ist die Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie), ABl. 2007 L 319/1 (Zahlungsdiensterichtlinie; ZDRL), der es nicht primär um Verbraucherschutz, sondern um die Etablierung eines Binnenmarktes für Zahlungsdienste geht und die zu diesem Zweck einen neuen Vertragstypus kodifiziert hat. Das ist von der binnenmarktfunktionalen Angleichungskompetenz des Art. 114 Abs. 1 AEUV ohne weiteres gedeckt. 45 Grundlegend W.-H. Roth, EWS 2008, 401 ff., 412 ff.; ähnlich Joerges, FS Heldrich, S. 218. 46 Aus der privatrechtsrelevanten Rechtsprechung dazu EuGH v. 1.3.2011 – Rs. 236/09 Test-Achats, Slg. 2011, I-773. Das Urteil erklärt die den Mitgliedstaaten in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113 (Gender-Richtlinie) zugestandenen Ausnahmen von den sog. Unisex-Versicherungstarifen als Verstoß gegen Art. 21 und 23 der Grundrechtecharta für nichtig.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

rizontalverhältnis unter Bürgern. Für das Privatrecht geht es einerseits um die Unanwendbarkeit nichtdiskriminierender, aber grundfreiheitenbeschränkender Privatrechtsnormen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte; zum anderen um den Schutz Privater gegenüber freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch Private.

1. Die Grundfreiheiten als Grenze und Inpflichtnahme mitgliedstaatlicher Privatrechtsgesetzgebung 25 Als sog. Beschränkungsverbot etablieren die Grundfreiheiten rechtfertigungsbedürftige (Art. 36

AEUV) inhaltliche Grenzen der mitgliedstaatlichen Privatrechtsgesetzgebung, jedenfalls soweit diese zwingendes Recht enthält.47 Voraussetzung ist, nach der sog. Dassonville-Formel zur Warenverkehrsfreiheit, dass nichtdiskriminierende zwingende Normen des Privatrechts als Beschränkung von Grundfreiheiten wirken, soweit jene „geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern“:48 Freilich ist dieser extensive Beschränkungsbegriff vor allem49 durch die Keck-Entscheidung des EuGH50 und deren Folgerechtsprechung insofern wieder reduziert worden, als die Regelung bestimmter, nicht dem Marktzutritt und der Marktdurchdringung dienender „vertriebsbezogener Verkaufsmodalitäten“ nicht von der Warenverkehrsfreiheit erfasst wird.51 Im Privatrecht betrifft diese Einschränkung nicht nur Teile des Lauterkeitsrechts (UWG), sondern auch das gesamte Recht des Vertragsabschlusses. Andererseits sind produktgestaltende Vertragsvorschriften typischerweise vom Beschränkungsverbot der Grundfreiheiten erfasst. Dies gilt insbesondere für Dienstleistungen in Form sog. Rechtsprodukte, deren Inhalt und Charakteristik erst durch ein Geflecht vertragsgesetzlicher und formularmäßiger Inhaltsbestimmungen konstituiert ist.52 Hauptbeispiele sind etwa Versicherungen, Konsumentenkredite oder Investmentanteile; nicht von ungefähr sah sich die Union gerade hier zur Vermeidung von Behinderungen des Binnenmarkts zu umfangreicher Harmonisierung veranlasst. Exemplarisch ist dazu eine Entscheidung des EuGH, die das im französischen Bankrecht bestehende Verbot verzinslich geführter Girokonten als Beschränkung des Marktzugangs ausländischer Anbieter solcher Konten verworfen hat.53 Im übrigen Privatrecht haben die Grundfreiheiten vor allem im Kapitalgesellschaftsrecht54 sowie im Arbeitsrecht55 – beides weitgehend zwingende Regelungskomplexe – die mitgliedstaatliche Privatrechtsgesetzgebung in erheblichem Umfang beschränkt. Im Gesellschaftsrecht wird sich dies fortsetzen, wenn Arbeitnehmer-, Minderheiten- und Gläubigerschutzrechte auf den Prüfstand der jüngst durch den EuGH stark aufgewerteten Niederlassungsfreiheit56 zu stellen sind.

_____ 47 Vgl. nur Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 399; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, S. 178 und passim; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 22 ff. 48 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 837, 852. 49 Zu anderen, hier nicht zu vertiefenden Einschränkungen vgl. Ehlers-Epiney, § 8 Rn. 38; ferner Franck, in diesem Band, § 5 Rn. 46 ff. 50 EuGH v. 24.11.1993 – Rs. C-267/91 Keck, Slg. 1993, I-6097 ff. 51 Zu den i.E. streitigen Fragen dieser Alternativität vertiefend und mwN Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 50 ff. 52 I.E. Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 3 Rn. 84–86. 53 EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-442/02 CaixaBank France, Slg. 2004, I-8961 Rn. 11–16. 54 Übersicht mit Rechtsprechungsnachweisen bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 537 ff.; Langenbucher-Engert, § 5 Rn. 7–22; Pechstein, Entscheidungen des EuGH (5. Aufl. 2009), S. 527 ff. 55 Rechtsprechungsnachweise bei Schiek, Europäisches Arbeitsrecht (3. Aufl. 2007), S. 340 ff.; Pechstein, Entscheidungen des EuGH (8. Aufl. 2014), S. 476 ff. 56 Vgl. zuletzt EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641. Köndgen

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Weitere zwingende Gebiete des Privatrechts mit Beschränkungspotential sind das Sachenrecht und das Inter- 26 nationale Privatrecht (soweit dieses keine kollisionsrechtliche Abwahl gestattet).57 Gerade im IPR können die Grundfreiheiten nicht nur als Beschränkungsverbot wirken, sondern auch als „positive“ Pflicht der Mitgliedstaaten, den zwischenstaatlichen Güterverkehr erleichternde „internationale Sachnormen“ zu schaffen.58 Auf der Schnittstelle zwischen Sachenrecht und IPR liegt hier das Recht der Mobiliarsicherheiten im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr. Hier mag zwar die lex situs-Regel des IPR (Art. 43 EGBGB), soweit sie lediglich die Begründung dinglicher Mobiliarsicherheiten betrifft, keine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit darstellen (Art. 63 AEUV).59 Mit guten Gründen lässt sich jedoch behaupten, dass die Nichtanerkennung eines im Heimatstaat rechtswirksam begründeten Eigentumsvorbehalts im Fall der Grenzüberschreitung der Vorbehaltssache sich vor der Warenverkehrs- und der Kapitalverkehrsfreiheit nur rechtfertigen lässt, wenn der Vorbehalt in eine gleichwertige Sicherheit des „Importlandes“ umgewandelt wird.60

Soweit es um grundfreiheitenbeschränkendes dispositives Privatrecht geht, stehen sich rechts- 27 quellentheoretisch zwei hierarchische Kollisionsregeln gegenüber: das Verhältnis lex inferior und lex superior (Stichwort: Anwendungsvorrang des Unionsrechts, oben Rn. 11) und das Verhältnis von dispositivem und zwingendem Recht. Diese problematische Gemengelage ist Gegenstand eines Meinungsstreits. Manche behaupten, im Bereich des dispositiven Rechts (insbesondere des Vertragsrechts) herrsche per definitionem Privatautonomie, in deren Ausübung die Grundfreiheiten grundsätzlich61 nicht intervenieren dürften.62 Anerkannt ist außerdem, dass allein die unionsweite Diversität der nationalen Privatrechte und die damit einhergehenden Informationskosten bei grenzüberschreitenden Geschäften in einem föderalen Verbund kein relevantes Integrationshindernis darstellen. Andere meinen, auch das dispositive Recht einbeziehen zu sollen, weil die Wahlfreiheit der Kontrahenten in der Praxis allenfalls als virtuelle Wahlmöglichkeit, nicht jedoch als aktuelle Entscheidungsmacht existiere.63 Die cause célèbre deutscher Autoren ist hierzu § 489 Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 4 BGB: der bis zur Dauer von 10 Jahren gestattete Ausschluss der vorfälligen Schuldnerkündigung bei Festzinskrediten. Die Beliebtheit dieser Vorschrift als Demonstrationsobjekt kommt nicht von ungefähr. Die Vorschrift ist näm- 28 lich, zum ersten, diskriminierend, weil sie zwar inländischen, nicht aber allen ausländischen öffentlichen Darlehensschuldnern64 erlaubt, erforderlichenfalls auch einmal für länger als 10 Jahre zu Festzinsen Kredit aufzunehmen. Sie kann, zweitens, nicht nur in Gestalt exzessiv langfristiger Bindung die Verbraucherdarlehensnehmer benachteiligen, die trotz fallender Zinsen nur noch gegen eine Vorfälligkeitsentschädigung aus ihrem Langfristkredit herauskommen. Sie beeinträchtigt durch eine zu kurz bemessene Bindungsmöglichkeit auch die Privatautonomie insbesondere unternehmerischer Darlehensnehmer, die sich vermöge eines professionellen langfristigen Schulden- und Zinsenmanagements auch gerne einmal für 15 Jahre oder länger günstige Zinsen sichern würden. Und schließlich beschränkt § 489 Abs. 1 und Abs. 4 BGB die Produktgestaltungsfreiheit der Kreditwirtschaft, die ansonsten – auch grenzüberschreitend – durch kongruente Refinanzierung zinsgünstige Langfristkredite anbieten könnte, bzw. die ausländische (z.B französische) Institute daran hindert, ihre

_____ 57 Grundsätzlich zum Verhältnis von Grundfreiheiten und IPR Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 435 mwN; zum Meinungsstand auch W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 43 ff. 58 Zur Abwesenheit einer die grenzüberschreitende Verschmelzung von Gesellschaften erleichternden Vorschrift im deutschen Recht EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC Systems, Slg. 2005, I-10805 Rn. 21 ff., 30. 59 W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 47 f. 60 W.-H. Roth, in: Eidenmüller/Kieninger (Hrsg.), The future of secured credit in Europe, S. 48–61. 61 Zur sogenannten Drittwirkung der Grundfreiheiten im Privatrechtsverhältnis vgl. noch nachstehend Rn. 30–32. 62 W.-H. Roth, FS Everling (1995), S. 1231–1247; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 89–91; mit abweichender Begründung auch Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 64 f. 63 Statt vieler und mwN Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 26 f. 64 Soweit es sich nicht um die Europäische Union oder ausländische Gebietskörperschaften handelt. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

leichter kündbaren Kreditprodukte in Deutschland anzubieten. Unionsrechtlich ist es sicherlich unbedenklich, wenn die Norm den Verbraucherschutz gegen die Kapitalverkehrs- oder auch die Dienstleistungsfreiheit des Kreditinstituts in Stellung bringt; ja, man mag sogar darüber streiten, ob sie in dieser Hinsicht durch Zulassung einer immerhin bis zu zehnjährigen Bindung noch zu wenig tut. Bei Darlehensverträgen mit unternehmerischen Kunden schränkt sie hingegen die Freiheiten beider Parteien ein; andererseits ist sie außerhalb des Verbraucherschutzes (§ 489 Abs. 1 Nr. 2 BGB) international nicht zwingend.65

29 Die Tatsache, dass der grenzüberschreitend agierende Marktteilnehmer hinsichtlich des disposi-

tiven Rechts die Verhandlungs- und Abbedingungslast trägt, darf man zumindest bei Konsumenten nicht gering schätzen,66 die allenfalls einmal um niedrigere Preise feilschen werden. Auch sonst lässt sich der Verzicht auf eine Abbedingung nicht ausnahmslos als Resultat eines Verhandlungsprozesses ausweisen.67 Dispositive Regeln können als Kostenbelastung, mithin auf die Höhe des Preises, Einfluss gewinnen; doch handelt es sich hier zumeist um versteckte Kosten, die gleichfalls nicht ohne weiteres zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden. Schwerer als diese Argumente wiegt, dass wir heute stärker – und keineswegs nur im AGB-Recht – die Leitbildfunktion dispositiver Regeln beachten. Auch dispositive Regeln reflektieren bestimmte Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen des Gesetzgebers, mögen diese auch „weicher“ und ermessensabhängiger sein als beim regulierenden Recht. Die Unterscheidung zwischen zwingendem und dispositivem Recht lässt sich somit als scharfe Dichotomie nicht mehr aufrechterhalten.68 Konsequenterweise wird man beschränkendes dispositives Privatrecht vom Geltungsanspruch der Grundfreiheiten nicht a limine ausnehmen können. Im praktischen Ergebnis ist jedoch die Gefahr eines Konflikts mit den Grundfreiheiten, insbesondere angesichts einer abgemilderten Verhältnismäßigkeitskontrolle, eher gering.

2. Die Geltung der Grundfreiheiten unter Privatrechtssubjekten (Horizontalverhältnis) 30 Nur in seinen Wettbewerbsregeln ist das Primärrecht (Art. 101 ff. AEUV) unmittelbar an Privat-

rechtssubjekte, nämlich die Unternehmen adressiert, und nur hier beansprucht es unstreitig Geltung im Horizontalverhältnis (unten Rn. 33). Was die Grundfreiheiten anbelangt, bot der EuGH hier zunächst wenig Führung, da er im Bosman-Urteil69 die Horizontalwirkung (in der herrschenden Terminologie: die unmittelbare Drittwirkung) der Freizügigkeit im Privatrechtsverhältnis zwischen Spieler und Verein bzw. Verband im Hinblick auf dessen quasilegislative Befugnisse bejahte, hinsichtlich der anderen Grundfreiheiten aber tendenziell verneinte;70 gegenüber öffentlichen Unternehmen (Art. 106 Abs. 1 AEUV) scheint der Gerichtshof die Horizontalwirkung im Einzelfall wiederum bejahen zu wollen.71 Zwei neuere Urteile haben jetzt diese anfänglichen Zweifel weitgehend ausgeräumt. Im Fall Angonese hat das Gericht ein diskriminierendes Auswahlverfahren gegenüber einem Arbeitsplatzbewerber unter Hinweis auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 Abs. 2 EG [jetzt Art. 45 Abs. 2 AEUV]) beanstandet.72 Im bisher letzten Urteil hat der EuGH die Niederlassungsfreiheit eines Unternehmens gegen die Arbeitskampfmaßnahme einer

_____ 65 Vgl. nur MünchKomm-Berger, § 489 BGB Rn. 31. 66 Zutr. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 26. 67 So in der Tendenz wohl Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, Rn. 89 a.E. 68 Eingehend Hesselink, ERCL 1 (2005), 44, 46–66. 69 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921. 70 Detaillierte Analyse des Rechtsprechungsmaterials bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997), S. 33–69. 71 Auch hierzu zusammenfassend Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997), S. 189–226. 72 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 35 f. Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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Gewerkschaft ins Feld geführt und dabei die noch in Bosman enthaltene Einschränkung der Horizontalwirkung ausdrücklich aufgegeben.73 Die anfängliche Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung spiegelt sich wider in einer ausge- 31 prägten Meinungsvielfalt im Schrifttum. Wir wollen uns auf die rechtquellentheoretischen Gesichtspunkte konzentrieren. Dazu argumentiert Canaris74 maßgeblich mit einem scheinbaren Parallelphänomen im deutschen Verfassungsrecht: der grundsätzlichen Ablehnung einer Drittwirkung der Grundrechte. Diese stützt sich zunächst auf eine systematische Auslegung: Da das Grundgesetz für einzelne Grundrechte (Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG) eine Drittwirkung ausdrücklich anordnet und auch das EU-Primärrecht in Art. 106 Abs. 2 AEUV sich ausdrücklich nicht an die Mitgliedstaaten, sondern unmittelbar an die „Unternehmen“ wendet, soll mit diesen Ausnahmeregeln jeweils der gesetzgeberische Wille, grundsätzlich keine Drittwirkung zuzulassen, erwiesen sein. Dieses Argument trägt nicht sehr weit. Aus grundsätzlicher Sicht und im historischen Rückblick ist gegenüber der Grundrechtsanalogie auf die unterschiedliche Schutzfunktion von europäischen Grundfreiheiten und deutschen Grundrechten hinzuweisen. Die Grundrechte sind historisch dem monarchischen oder autoritären Staat abgerungen und unter dem Vorzeichen des Sozialstaates um eine Teilhabefunktion ergänzt worden. Die Grundfreiheiten sind Marktfreiheiten, und Marktfreiheiten werden durch Teilnahme am Markt, im Wesentlichen durch Abschluss von Verträgen, ausgeübt. Union und Mitgliedstaaten kommt insofern primär eine Schutz- und Förderpflicht zu.75 Abgesehen davon, dass das Grundgesetz in dieser Frage wenig Argumentationswert hat, ist Art. 106 Abs. 2 AEUV systematisch Teil des europäischen Wettbewerbsrechts, dessen Vorschriften seit jeher eine Horizontalwirkung vorgesehen haben, die aber durchaus auch den Mitgliedstaaten selbst Grenzen setzen, also ebenfalls multidirektional gelten. Schließlich trifft es auch nicht generell zu, dass privatautonomes Handeln nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen dürfe.76 Die soziale Rechtfertigungsbedürftigkeit von Arbeitgeberkündigungen oder auch das Wohnraumkündigungsrecht erbringen den Beweis, dass die Regel Ausnahmen zulässt. Zu achten ist freilich auf eine angemessene Verteilung der Darlegungs- und Beweislast, die die Rechtfertigungsbedürftigkeit privatautonomer Entscheidung nicht zur praktischen Regel werden lässt. Der Grund für das Spannungsverhältnis zwischen horizontaler (Dritt-)Wirkung der Grund- 32 freiheiten und liberaler Marktkonzeption scheint letztlich in der Konzeption des AEUV selbst angelegt. Einerseits schützen und verstärken die Grundfreiheiten die Privatautonomie des Marktbürgers in der grenzüberschreitenden Dimension. Andererseits enthalten die zahlreichen Diskriminierungsverbote des Primärrechts weitgehende Beschränkungen der sog. negativen Vertragsfreiheit, also der Freiheit, nicht sämtliche potentiellen Kontrahenten gleich behandeln zu müssen. Diese Antinomie ist in dem Maße entschärft worden, als der Europäische Gesetzgeber die Diskriminierungsverbote des AEUV sekundärrechtlich (nachstehend Rn. 34) und mit expliziter Privatwirkung präzisiert und die Berufung auf das Primärrecht zwar nicht gesperrt, aber jedenfalls im praktischen Ergebnis bedeutungslos gemacht hat.

_____ 73 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 56 ff.; W.-H. Roth, FS Medicus, S. 403, gewinnt aus dieser jüngsten Rechtsprechung die Empfehlung, die Horizontalwirkung „als Datum im Sinne einer Rechtskonkretisierung oder Rechtsfortbildung im Rahmen und auf der Grundlage des EG-Vertrages [zu] akzeptieren“. 74 Canaris, FS Reiner Schmidt, S. 31–67; in der Tendenz ähnlich Langenbucher-dies., § 1 Rn. 37–39; mit abweichender Begründung auch Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 74 f. 75 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6959. 76 Canaris, FS Reiner Schmidt, S. 44 ff. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3. Die Geltung sonstigen Primärrechts in Privatrechtsbeziehungen 33 Völlig unumstritten ist die unmittelbare Geltung von Primärrecht für Privatrechtsbeziehungen

nur im Europäischen Kartellrecht. In unzweideutigem Wortlaut ordnet Art. 101 Abs. 2 AEUV an, dass die nach Abs. 1 verbotenen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen oder Beschlüsse nichtig sind. Auch im Kartelldeliktsrecht besteht diese unmittelbare Geltung dergestalt, dass § 33 Abs. 1 GWB sich explizit auf die Art. 101 und 102 AEUV als deliktsrechtliche Schutzgesetze bezieht. Das Problem der Privatrechtsgeltung der primärrechtlichen, nicht bereits in den Grundfrei34 heiten enthaltenen Diskriminierungsverbote ist nach dem auf Art. 13 EG (jetzt Art. 19 AEUV) gestützten Erlass von insgesamt drei Antidiskriminierungs-Richtlinien77 – in denen eine Dritt- bzw. Horizontalwirkung ausdrücklich angeordnet ist – weitgehend entschärft. Im Übrigen dürfte sich die Diskussion künftig auf die nicht binnenmarktbezogenen Gleichbehandlungsvorschriften in Art. 20–26 der Europäischen Grundrechtscharta verlagern.78 Zur geschlechtsbezogenen Entgeltdiskriminierung im Arbeitsrecht (Art. 157 AEUV) hat der EuGH schon frühzeitig eine Horizontalwirkung angenommen.79 Auch das Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 EUV) hat unmittelbare Geltung in einem Vertragsverhältnis.80

III. Das Privatrecht in der sekundärrechtlichen Rechtsquellenproduktion 1. Richtlinien a) Richtlinien als „unvollkommene“ Rechtsquelle 35 Wiederum kann es nicht Aufgabe dieses Beitrags sein, allgemeine rechtsquellentheoretische

Fragen des Sekundärrechts – z.B. Kompetenzfragen oder den Vorrang des Unionsrechts oder die Vorwirkung von Richtlinien81 – anzusprechen. Wir können uns daher ohne weiteres der quantitativ und inhaltlich relevantesten Rechtsquelle von Sekundärprivatrecht, den Richtlinien, zuwenden.82 Diese Erfolgsgeschichte im Privatrecht war den Richtlinien nicht an der Wiege gesungen. Sie ergingen zunächst nur in jenem engeren Bereich der Regulierung, den man früher Wirtschaftsverwaltungsrecht nannte. Gerade ihre spezifische rechtsquellentheoretische Struktur machte sie aber auch höchst geeignet als Instrument privatrechtlicher Rechtssetzung.

_____ 77 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterscheidung der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16; Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. Vgl. dazu i.E. auch noch Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 63 ff. 78 Beispielhaft EuGH v. 1.3.2011 – Rs. 236/09 Test-Achats, Slg. 2011, I-773. 79 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455. 80 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-411/98 Ferlini, Slg. 2000, I-8081 Rn. 47 ff.: unterschiedlicher Gebührensatz eines Krankenhauses gegenüber inländischen und ausländischen Patienten. 81 Vgl. dazu i.E. Hofmann, in diesem Band, § 15. 82 Vgl. als umfassende Textsammlung des europäischen Sekundärprivatrechts Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Textsammlung Europäisches Privatrecht: Vertrags- und Schuldrecht, Arbeitsrecht, Gesellschaftsrecht (2. Aufl. 2012); die einschlägigen Richtlinien werden bereichsspezifisch gewürdigt in den einzelnen Beiträgen zu Langenbucher, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts (2. Aufl 2008).

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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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aa) Richtlinien als „mediatisierte“ Rechtssetzung. Ihrer ursprünglichen Konzeption 36 nach waren Richtlinien überhaupt keine Rechtsquellen.83 Dafür fehlte es ihnen schon an einem konstitutiven Definitionsmerkmal aller Normen: der Allgemeinheit. Formal-konstruktiv gesehen waren sie nichts weiter als ein einmaliger Regelungsauftrag an die Mitgliedstaaten mit einem mehr oder weniger großen Ermessensvorbehalt, in staatsrechtlichen Begriffen: delegierte Normsetzung. Diese – herkömmlich aus Art. 288 Abs. 3 AEUV begründete84 – Delegation ist freilich kaum vergleichbar etwa mit der Verordnungsermächtigung unter dem Grundgesetz. Selbst wenn Richtlinien sich mit bloßen Mindestharmonisierungen, das heißt mit einer geringeren Regelungsdichte, begnügen, ist der mitgliedstaatliche Gesetzgeber weitgehend nur Ausführungsorgan, dem allenfalls im Randbereich noch Regelungsspielräume verbleiben. Insofern konnte man die Richtlinien schon lange bevor man ihre sog. Direktwirkung entdeckt hat, als „mediatisierte“ Rechtssetzung bezeichnen.85 Doch kann auch diese für die Rechtsquellenlehre neuartige Qualifikation die Geltungs- und Anwendungsprobleme von Richtlinien nicht konsistent erklären. Zwei Beispiele: Mit dem Konzept der „mediatisierten“ Rechtssetzung ist ein Begriff dafür gefunden, dass Richtlinien über das 37 Durchführungsgesetz allgemeine und rechtsgestaltende Wirkung äußern; nicht dagegen, dass Richtlinien auch den mitgliedstaatlichen Richter binden sollen. Adressat einer Rechtsquelle ist zwar nicht nur, wer aus einer Norm berechtigt oder verpflichtet wird (d.h. der mitgliedstaatliche Gesetzgeber), sondern auch der Rechtsanwender. Aber Rechtsanwender in Bezug auf Richtlinien ist unmittelbar nur der EuGH, der die korrekte Umsetzung prüft, nicht der nationale Richter, der das Ausführungsgesetz unabhängig und mit seinem nationalen Methodeninstrumentarium anwendet. Mehr noch: Mangels Allgemeinheit des Rechtsakts waren Richtlinien zunächst überhaupt nicht auf „Anwendung“ angelegt. Geändert hat sich dies nicht nur mit der „Entdeckung“ der – ausnahmsweise – unmittelbaren Wirkung von Richtlinien (sogleich Rn. 45 ff.), sondern auch mit dem Gebot an den nationalen Richter, richtlinienkonforme Rechtsfindung zu betreiben;86 inzwischen soll dieses Gebot u.U. sogar zu richtlinienkonformer Rechtsfortbildung verpflichten.87 Das ist hier nicht zu vertiefen.88 Festzuhalten ist jedoch, dass die Richtlinie in beiden Rechtsfindungsstrategien die Entscheidung des mitgliedstaatlichen Richters nicht nur methodisch im Sinne einer „interpretatorischen Vorrangregel“,89 sondern auch inhaltlich – und bis an die contra-legem-Schranke – im Sinne des Zielverwirklichungsgebots der Richtlinie (Art. 288 Abs. 3 AEUV) anleitet.90 Die offenkundige Verwischung der analytischen Grenzen zwischen Rechts(Richtlinien-)geltung und Rechtsanwendung wird hier vom EuGH und der h.L. durch den Kunstgriff verschleiert, dass der Umsetzungsauftrag nicht nur den Gesetzgeber, sondern „sekundär“ auch die anderen Staatsgewalten und damit namentlich die Judikative verpflichte.91 Auch gegenüber der sogenannten Direktwirkung von Richtlinien bei versäumter oder fehlerhafter Umsetzung 38 gerät die traditionelle Rechtsquellenlehre in Erklärungsnotstand. Das „Umschlagen“ der konkret-individuellen

_____ 83 Zur „Entdeckung der Richtlinie als Form der Gesetzgebung“ eindringlich v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 502 ff. 84 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 85 Von Richtlinien als einer „Hintergrundrechtsordnung“ des Privatrechts spricht Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 39. 86 Dazu der Beitrag von W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 24 ff.; einige Bemerkungen auch noch unten Rn. 61 ff. 87 Angestoßen durch die sog. Quelle-Rechtsprechung des BGH (BGHZ 179, 27); dazu etwa der Rezensionsaufsatz von Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7 ff., 123 ff.; schon vorher Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47; ferner Langenbucher-dies., § 1 Rn. 97. 88 Die Rechtsfortbildung durch den mitgliedstaatlichen Richter ist kein Problem der Europäischen Rechtsquellenlehre. Vgl. i.Ü. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 48 ff. 89 So zuletzt wieder und mwN Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123 f. 90 Weiteres hierzu unter Rn. 61 ff. 91 Zuletzt EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari, Slg. 1999, I-1103, Rn. 48. Zur Systematik der Umsetzungspflichten zusammenfassend Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 48. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Umsetzungsverpflichtung des Gesetzgebers in einen abstrakt-generellen Geltungsbefehl lässt sich dort rechtfertigen, wo infolge eines inhaltlich unbedingten und hinreichend bestimmten Richtlinientextes der mitgliedstaatliche Gesetzgeber keine eigenen Gestaltungsspielräume mehr hat. Gleichwohl wird, um im tradierten Paradigma zu bleiben, auch die Direktwirkung immer noch als „sekundäre Pflicht“ des Mitgliedstaates begriffen.92 Das klingt auch in der Rechtsprechung des EuGH an.93 Die direkte Berechtigung Privater erfolgt hiernach nicht um ihrer selbst willen und als „gesetzliches“ subjektives Recht, sondern nur als reflexhafte Begünstigung, die den effet utile der Richtlinie sozusagen im Wege der Naturalrestitution gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat herstellen soll.

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bb) Richtlinien als fragmentarische Rechtssetzung. Dass Richtlinien bisher nur partikulare, fragmentarische oder gar nur punktuelle Rechtssetzung produziert haben, ist ein vielbeschriebenes Phänomen,94 welches letztlich im Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 AEUV) und im Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wurzelt. Es ist außerdem einer gewissen Kurzatmigkeit des europäischen Rechtssetzungsprozesses geschuldet. Verfehlt ein erster Harmonisierungsversuch die Herstellung eines Binnenmarkts zu deutlich, so fällt es der Kommission im zweiten Versuch auch leichter, die Regulierungssperre des Subsidiaritätsprinzips zu überwinden. In manchen Regelungsbereichen ist es demnach geradezu zur Übung geworden, einer ersten fragmentarischen Regelung 10 Jahre später eine vollharmonisierende Richtlinie mit kodifikatorischem Anspruch nachzuschieben; so geschehen etwa im Investmentrecht,95 im Konsumentenkreditrecht96 und in den Richtlinien über Zahlungsdienste.97 Freilich ist im fragmentarischen Charakter vieler Richtlinien die Ursache für die Probleme überschießender Umsetzung zu suchen.

b) Die Unvollkommenheit des Richtlinienprivatrechts 40 Die Unvollkommenheit der Richtlinie als Rechtsquelle spiegelt sich auch im Privatrecht wieder.

Sie hat zum Teil durchaus segensreiche Wirkungen geäußert, etwa vermöge der Methode der Mindestharmonisierung (nachfolgend aa)), aber auch Defizite hinterlassen, z.B. bei den Sanktionen (bb)) und der „asymmetrischen“ Direktwirkung nach versäumter oder fehlerhafter Umsetzung (cc)).

_____ 92 Zuletzt wieder Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47. 93 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103 mwN. 94 Statt vieler Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 40. 95 Die (erste) Investmentfondsrichtlinie 85/611/EWG stammt aus dem Jahr 1985, die wesentlich detaillierteren Änderungsrichtlinien 2001/107/EG und 2001/108/EG folgten erst am 13.2.2002; dazu Köndgen/Schmies, WM-Sonderbeilage 1/2004, 2, 3 f. Inzwischen ist bereits eine Richtlinie der „dritten Generation“ ergangen: Richtlinie 2009/ 65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. 2009 L 302/ 32. 96 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48; abgelöst durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 97 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25; abgelöst durch Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, zur Änderung der Richtlinien 97/7/EG, 2002/65/EG, 2005/60/EG und 2006/48/EG sowie zur Aufhebung der Richtlinie 97/5/EG (Zahlungsdiensterichtlinie), ABl. 2007 L 319/1.

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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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aa) Mindestharmonisierung oder Vollharmonisierung? In der Frage Mindest- oder Voll- 41 harmonisierung98 verfolgt die europäische Gesetzgebung mangels einer eindeutigen primärrechtlichen Vorgabe99 keine klare Linie. Lange Zeit wurde, vor allem im Verbraucherrecht, auf Mindestharmonisierung gesetzt und den Mitgliedstaaten zugestanden, ein höheres nationales Verbraucherschutzniveau beizubehalten oder einzuführen. Hingegen strebt die Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen100 wieder eine Vollharmonisierung an, ebenso wie die 2. Verbraucherkreditrichtlinie,101 die Zahlungsdiensterichtlinie102 und zuletzt die Richtlinie über die Rechte der Verbraucher.103 Andererseits zeigt die Entstehungsgeschichte der Immobiliarkredit-RL 2014104 – die mit einem vollharmonisierenden Richtlinienvorschlag begann, aber mit der Verabschiedung einer mindestharmonisierenden Richtlinie endete105 – dass die Frage Volloder Mindestharmonisierung leicht zum Spielball politischer Kompromisse wird. 106 Manche hochtechnischen Regulierungsprojekte wie etwa die Berechnungsweise eines unionsweit gültigen Effektivzinses für Kredite 107 oder die Etablierung eines standardisierten europäischen Lastschriftverfahrens,108 aber auch die Vereinheitlichung der Produkthaftung kann man sich überhaupt nur als Vollharmonisierung von hoher Regelungsdichte vorstellen. In diesem Bereich werden die Instrumente Richtlinie und Verordnung nahezu auswechselbar109 und sind praktisch nur noch durch ihre äußere Bezeichnung identifizierbar. 110 Einer Vollharmonisierung nahe kommt hier auch das – vor allem im Finanzmarktrecht unter dem sog. Lamfalussy-Prozess vielpraktizierte111 – „Nachschieben“ von richtlinienkonkretisierenden Durchführungsrichtlinien und

_____ 98 Innerhalb der Spannweite zwischen Mindest- und Vollharmonisierung werden weitere Formen von Teilharmonisierung praktiziert; vgl. etwa Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 114 AEUV Rn. 15, ferner die Beiträge zu Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2009). 99 Zur umstrittenen Frage, ob die „Querschnittkompetenz“ zur binnenmarktfinalen Rechtsangleichung gem. Art. 114 Abs. 1 AEUV eine Mindestharmonisierung jedenfalls im Verbraucherrecht verbietet, vgl. mwN W.-H. Roth, EWS 2008, 401, 413 f. 100 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16. 101 Oben Fn. 96. 102 Oben Fn. 97; dort allerdings mit mitgliedstaatlichen Optionen in einzelnen Punkten. 103 Art. 4 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 104 Richtlinie 2014/17/EU v. 4.2.2014 über Wohnimmobilienkreditverträge für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 60/24. 105 Art. 2 Richtlinie 2014/17/EU. 106 Anschaulich Schürnbrand, ZBB 2014, 168, 171 f. 107 Art. 2 Abs. 2 Richtlinie 2014/17/EU. 108 Art. 63 ZDRL (umgesetzt in § 675x Abs. 2 BGB) musste insoweit durch Art. 5 VO (EU) 260/2012 v. 14.3.2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009 (sog. SEPA-VO) konkretisiert werden. 109 Hinsichtlich der Wahl zwischen Richtlinie und Verordnung unter Art. 114 AEUV räumt der EuGH dem Unionsgesetzgeber ein großzügiges Ermessen ein; EuGH v. 6.12.2005 – Rs. C-66/04 Vereinigtes Königreich ./. Parlament und Rat, Slg. 2005, I-10553 Rn. 45 f.; bestätigt durch EuGH v. 22.1.2014 – Rs. C-270/12 Vereinigtes Königreich ./. Parlament und Rat, Rn. 102 f. 110 v. Bogdandy/Bast-Bast, S. 526. 111 Der Lamfalussy-Prozess ist eine speziell für bank- und kapitalmarktrechtliche Richtliniengesetzgebung eingeführte Erweiterung und Verfeinerung des sog. Komitologieverfahrens (zu letzterem vgl. Streinz-Gellermann, Art. 291 AEUV Rn. 16 ff.). Rechtsquellentheoretisch handelt es sich um eine mehrstufige Rechtssetzungsdelegation, bei der der Richtliniengeber nur noch Grundprinzipien fixiert, die Ausformung der (in der Regel überaus technischen) Details der Kommission (de facto: der zuständigen Generaldirektion) überträgt, die sich ihrerseits wieder auf den Rat und die Empfehlungen der Kapitalmarktaufsichtsbehörde ESMA stützt. Zu weiteren Details Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 258 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Durchführungsverordnungen im Wege delegierter Rechtssetzung durch die Kommission gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV.112 Die Alternative Mindest-/Vollharmonisierung ist jedenfalls im Privatrecht nicht nur eine po42 litische Frage oder eine solche zweckmäßiger Gesetzgebungstechnik, sondern auch der Rechtssetzungskompetenz der Union. Das hängt damit zusammen, dass die Rechtssetzungskompetenzen der Union, mit Ausnahme des subsidiären Auffangtatbestandes in Art. 352 AEUV, auf das Binnenmarktziel bezogen sind und allein die Verschiedenheit der nationalen Privatrechte noch nicht zu einer spürbaren Wettbewerbsbehinderung führt; zum anderen damit, dass der Verbraucherschutz zwar eine Politikkompetenz, aber keine selbständige Regelungskompetenz der Union darstellt (Art. 4 Abs. 2 lit. f), 12, 114 Abs. 3, 169 AEUV).113 Trotz alledem ist unverkennbar, dass die Unionsgesetzgebung den Verbraucher neuerdings primär in seiner Rolle als Nachfrager sieht und damit den Verbraucherschutz zunehmend enger mit dem Binnenmarktziel verknüpft. 43 Im Privatrecht erweist sich der Verzicht auf eine zu hohe Regelungsdichte vorerst114 nicht nur als Nachteil. Er belässt den Mitgliedstaaten die Chance, die Regelungsziele der Richtlinie in ihr nationales dogmatisches System und ihre eigene Fachbegrifflichkeit einzufügen. So konnte etwa der deutsche Transformationsgesetzgeber die Gewährleistungsvorschriften der Kaufgewährleistungsrichtlinie115 relativ problemlos in sein eigenes System der Vertragsverletzungen einbauen.116 Dass im Übrigen auch Mindestharmonisierung nicht immer die – wenigstens als Postulat festzuhaltende – Einheit der (mitgliedstaatlichen) Rechtsordnung garantieren kann, zeigt sich etwa daran, dass wir heute im BGB zwei begrifflich synonyme, aber sachlich denkbar verschiedene Widerrufsrechte (§ 130 Abs. 1 S. 2 BGB einerseits, der richtlinienumsetzende § 355 BGB andererseits) vorfinden. 44

bb) Defizite bei den Sanktionen. Richtlinien sind auch darin unvollkommene Rechtssätze, dass sie selten Sanktionen vorsehen, dazu mangels einer unionalen Regelungskompetenz grundsätzlich auch gar nicht befugt sind.117 Damit sie keine vollkommen zahnlosen Tiger bleiben, versucht man, die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Verhängung effektiver Sanktionen auf das Prinzip des effet utile zu stützen118 und wird in die Richtlinien eine entsprechende Verpflichtung der Mitgliedstaaten aufgenommen,119 die diesen allerdings ein breites Transformationsermessen belässt. 120 Nur (und selbstverständlich) die Produkthaftungsrichtlinie 121 sowie einige im engeren Sinne vertragsrechtlichen Richtlinien wie die Zahlungsdienste- (in Art. 74 ff.

_____ 112 Dazu allgemein Streinz-Gellermann, Art. 290 AEUV Rn. 2 ff.; vertiefend Meurs, Normenhierarchien im europäischen Sekundärrecht, S. 140 ff., 195 ff. Beispiel aus der jüngsten Richtlinienpraxis sind die Delegationsnormen in Art. 23 Abs. 4, 24 Abs. 13 und 14, 25 Abs. 8, 28 Abs. 3 der Richtlinie 2014/65/EU v. 15.5.2014 über Märkte für Finanzinstrumente sowie zur Änderung der Richtlinien 2002/92/EG und 2011/61/EU, ABl. 2014 L 173/349 („MiFID II“). 113 I.E. und mwN W.-H. Roth, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 14–45; ders., EWS 2008, 401, 408 und 414 f. 114 D.h. vor der Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches, dazu noch unten Rn. 58. 115 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 116 Vertiefend hierzu Riehm, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 83, 97 f. 117 Dies folgt u.a. aus einem argumentum e contrario aus Art. 103 Abs. 2 AEUV, der eine Regelungskompetenz für Sanktionen gegen wettbewerbsrechtliche Verstöße ausdrücklich vorsieht. 118 Vgl. dazu BVerfGE 89, 155, 210 – Maastricht; Streinz, FS Everling (1995), S. 1502–1504; Zuleeg, JZ 1994, 1; Stationen der Rechtsprechung sind EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 ff.; EuGH v. 15.9.1998 – Rs. C-231/96 Edis, Slg. 1998, I-4951; EuGH v. 16.5.2000 – Rs. C-78/98 Preston u.a., Slg. 2000, I-3201. 119 Exemplarisch Art. 23 der 2. Verbraucherkreditrichtlinie (Fn. 96). 120 Im Einzelnen Riehm, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 104 ff. 121 Richtlinie des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (85/374/EWG), ABl. 1985 L 210/29.

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§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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ZDRL) und die Kaufgewährleistungsrichtlinie (in Art. 3 KGRL) sehen genau umschriebene Sanktionen vor. Und es ist kein Zufall, dass es dann sogleich zu Friktionen mit dem nationalen Recht kommt. Nochmals am Beispiel der Zahlungsdiensterichtlinie: Dort sind bei der Umsetzung Zahlungspflichten der säumigen Bank, die man bisher als Aufwendungsersatz begriffen hatte, zu vertraglichen Schadensersatzpflichten ohne Verschulden geworden (§§ 675v Abs. 1, 675z S. 2 BGB) – im deutschen Schuldrecht nach wie vor eine Systemwidrigkeit (arg. §§ 280 Abs. 1 S. 2, 276 Abs. 1 BGB). Nicht zuletzt vom zivilen Sanktionsrecht her hat denn auch das Projekt einer Europäischen Vertragsrechts- bzw. Zivilrechtskodifikation starken Auftrieb erhalten. cc) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien als Ausnahme. Gerade bei der Direktwirkung 45 von Richtlinien hat die Differenzierung zwischen „unmittelbarer Geltung“ und „unmittelbarer Anwendbarkeit“ von Unionsrecht (siehe oben Rn. 13) Bedeutung. Die Geltung gegenüber dem Einzelnen ist im Verhältnis zum Mitgliedstaat (Vertikalverhältnis) auf Umsetzungsdefizite (versäumte oder fehlerhafte Transformation) beschränkt, aber wird dann durch den effet utile auch gefordert,122 in der jüngeren Rechtsprechung (mit etwas gesuchter Begründung) auch gestützt auf ein widersprüchliches Verhalten des seine Transformationspflicht verletzenden Staates.123 Zur Wahrung des mitgliedstaatlichen Transformationsermessens muss die unmittelbar wirkende Richtlinienvorschrift ferner inhaltlich unbedingt und hinreichend genau formuliert sein.124 Für Richtlinien mit privatrechtlichem Inhalt scheidet eine Direktwirkung ferner aus, wenn die Richtlinie nur Pflichten des Einzelnen begründet (sog. Belastungsverbot) oder im Horizontalverhältnis zwischen zwei Individuen Anwendung finden soll.125 Diese Komplementarität von Rechten und Pflichten beider Parteien ist im Privatrechtsverhältnis bzw. bei privatrechtlichen Richtlinien geradezu typischerweise gegeben. So löst etwa ein von der Richtlinie eingeräumtes Widerrufsrecht des Konsumentenkreditnehmers beim Kreditgeber eine entsprechende Belehrungspflicht und eine Verpflichtung zur Mitwirkung an der Rückabwicklung des Vertrages aus.126 Eine Horizontalwirkung lässt sich dann – und begrenzt auf den Fall fehlerhafter Umsetzung – allenfalls noch durch eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts erreichen (siehe unten Rn. 61 ff.). Freilich sind in der neuesten Rechtsprechung hinsichtlich des Ausschlusses horizontaler 46 Direktwirkung Aufweichungstendenzen zu erkennen.127 Zum Ersten ist der EuGH bereit gewesen, einer Richtlinie Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht zuzubilligen, soweit eine Richtlinienvorschrift nur einen Grundsatz des Primärrechts konkretisiert, der seinerseits einer Horizontalwirkung fähig ist.128 Die Richtlinie bildet hiernach ein Anwendungsverbot für richtlinienwidriges nationales Recht im Privatrechtskonflikt, und zwar auch ohne dass der mitglied-

_____ 122 EuGH v. 4.12.1974 – Rs. 41/74 van Duyn, Slg. 1974, 1337 Rn. 12. 123 Erstmals EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 22 f. 124 Ständige Rechtsprechung; zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835. Aus der neueren Literatur Eilmansberger, JBl. 2004, 283, 286 ff. 125 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Facini Dori, Slg. 1994, I-3325. Weitere Rechtsprechung bei Mörsdorf, EuR 2009, 219, 221 f. 126 Zu diesem Beispiel ausführlich Stamm, ZBB 2005, 35, 38; neuestens EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 sowie EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273. 127 Überblick über die jüngste Rechtsprechung bei Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222 ff. 128 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff.; fortgeführt durch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 50–54. Zur Würdigung des Mangold-Urteils vgl. Thüsing, ZIP 2005, 2149 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 232 ff. In beiden Entscheidungen handelte es sich um ein – damals ungeschriebenes – primärrechtliches Verbot der Altersdiskriminierung, welches seit dem Lissabon-Vertrag zwanglos aus dem Gleichheitsgrundsatz gem. Art. 21 GRCh entwickelt werden kann.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

staatliche Richter zuvor eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt hat.129 Jedenfalls einer konkretisierenden Richtlinie kommt damit im Privatrechtskonflikt „negative Direktwirkung“ zu. Da diese „Symbiose“130 von Primär- und Sekundärrecht keineswegs ein Ausnahmefall ist, wird man dieser Judikatur einige präjudizielle Tragweite vorhersagen können. Auch das Urteil in der Rechtssache Wells131 wird in der Literatur z.T. als Tendenzwende ge47 deutet.132 Dort hatte sich im Ausgangsverfahren ein Grundstückseigentümer gegen die Umweltbehörde gewandt, die richtlinienwidrig133 ohne vorige Umweltverträglichkeitsprüfung den Betrieb eines Steinbruchs auf einem Nachbargrundstück genehmigt hatte. Der EuGH stellte zur Frage der Drittwirkung klar: „Bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter, selbst wenn sie gewiss sind, [rechtfertigen] es nicht, dem Einzelnen das Recht auf [die] Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat zu versagen“.134 Augenscheinlich ging es in diesem Fall eines öffentlichrechtlichen Dreiecksverhältnisses sowohl um vertikale Direktwirkung gegenüber der Behörde wie auch um horizontale Direktwirkung unter den Grundstücksnachbarn. Diese Konstellation gilt weithin als unproblematisch.135 Sie lässt sich aber unschwer ins Privatrecht übertragen, wenn der Kläger etwa nicht die Behörde, sondern den Steinbruchbetreiber mit einer auf richtlinienwidriges privates Umweltrecht gestützten actio negatoria belangen würde. Ob auch gegenüber solch „regulatorischem“ Privatrecht das Belastungsverbot Bestand haben kann und ob bloße nachteilige „Auswirkungen“ wirklich anders zu behandeln sind als „Verpflichtungen“,136 muss derzeit noch als offen gelten.

c) Die Bedeutung der Begründungserwägungen 48 Nicht nur in der Richtliniengebung, sondern auch in den anderen Rechtssetzungsakten der

Union137 sind die gesetzgeberischen Begründungserwägungen gem. Art. 296 Abs. 2 AEUV integraler Bestandteil des Gesetzgebungsdokuments und werden gemeinsam mit diesem amtlich publiziert.138 Sie sind in den neueren Akten von geradezu kommentarartiger Breite.139 Wiederum ein Phänomen, welches uns aus der deutschen140 Rechtsquellen- und Methodenlehre nicht bekannt ist. Und wiederum sollten wir uns hüten, uns diesem Phänomen unbefangen mit den vertrauten inlandsrechtlichen Kategorien zu nähern.

_____ 129 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 53–56; dazu Thüsing, ZIP 2010, 199 f.; Mörsdorf, NJW 2010, 1046–1049. Verfahrensgegenstand war die Richtlinienwidrigkeit der arbeitsrechtlichen Kündigungsregelung in § 622 Abs. 2 S. 2 BGB. 130 Ausdruck von Mörsdorf, EuR 2009, 219, 237. 131 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723. 132 Baldus, GPR 2003/2004, 124 ff. 133 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.6.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 1985 Nr. L 175/40. 134 EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 57. 135 Vgl. etwa Stuyck, CMLR 33 (1996), 1261; Craig/de Burca, EU Law (5. Aufl. 2011), S. 208. 136 Zweifelnd insoweit Baldus, GPR 2003/2004, 124, 125. 137 Insbes. Verordnungen; die folgenden Ausführungen verstehen sich insofern als pars pro toto. 138 Kompetenzrechtlich haben die Begründungserwägungen auch die Funktion, in gerichtsfester Weise zu demonstrieren, dass der Richtlinien- bzw. Verordnungsgeber in Verfolgung der von der Ermächtigungsgrundlage vorgegebenen Zwecke tätig geworden ist; dazu etwa EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Rn. 90 ff. („Tabakwerbung“). 139 Z.B. sind der Immobiliarkredit-RL (oben Fn. 104) nicht weniger als 85 Begründungserwägungen vorausgeschickt, die zweite Roaming-VO (Verordnung [EU] Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, ABl. 2012 L 172/10) bringt es gar auf die runde Zahl von 100. 140 Anders etwa im spanischen Recht, wo die Gesetzesbegründung Teil der amtlichen Veröffentlichung ist. Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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Unbezweifelbar scheint allerdings, dass das Problem eher in der Methoden- (genauer: der Rechtsanwendungs-) 49 lehre als in der Rechtsquellenlehre zu verorten ist; denn nicht um die Bedingungen der Normentstehung und Normwirkung geht es, sondern um Normanwendung. Um ihrerseits eine selbständige Rechtsquelle darzustellen, fehlt es den Begründungserwägungen bereits an der notwendigen Bestimmtheit und an dem normtypischen Konnex von Tatbestand und Rechtsfolge. Es ist daher wohl unstreitig, dass aus den Begründungserwägungen selbst dann keine Rechte des Bürgers hergeleitet werden können, wenn der verfügende Teil ausnahmsweise Direktwirkung äußert. 141 Andererseits sind die Begründungserwägungen augenscheinlich mehr als einfache Gesetzesmaterialien, die traditionell vor allem die historische und die sog. subjektivteleologische Interpretationsmethode anleiten; in seinen Urteilsgründen rezitiert der Gerichtshof nämlich die Begründungserwägungen regelmäßig neben den einschlägigen Richtlinienartikeln unter der Rubrik „Rechtlicher Rahmen“.142 Gesetzesmaterialien – dies zeigt bereits ihre separate Veröffentlichung außerhalb des Gesetzblatts – stehen im Rang immer unter dem verabschiedeten Normtext. Sie sind nicht Auslegungsgegenstand, sondern nur Auslegungshilfe. Außerdem gehen sie zeitlich der Verabschiedung des Normtextes voraus, und deshalb kann sich kein Interpret ganz sicher sein, dass die in den Materialien zum Ausdruck gekommenen Zielprojektionen der Gesetzesverfasser auch tatsächlich Eingang in das Gesetzeswerk gefunden haben. Hingegen haben die Begründungserwägungen Teil an der Autorität und Dignität des publizierten Normtextes. 50 Sucht man tatsächlich einmal nach nationalrechtlichen Vorbildern, dann käme man wohl am nächsten in Gestalt der in der Schweizer Gesetzgebungslehre und -praxis sogenannten Zweckartikel. Diese werden üblicherweise einem Gesetzeswerk als Artikel 1 vorangestellt und fixieren in bewusst pauschalen Formulierungen die – mit Ernst Steindorff143 zu sprechen – „Politik des Gesetzes“.144 Von diesen Zweckartikeln unterscheiden sich die Begründungserwägungen primär durch einen höheren Detaillierungsgrad – der z.T. so weit geht, dass im verfügenden Teil der Wortlaut der entsprechenden Begründungserwägung praktisch dupliziert wird.

Welche Wirkungen kommen also den Begründungserwägungen im Rechtsanwendungsprozess 51 zu? Die Antwort, dass sie eines unter mehreren Auslegungselementen sind, ist ebenso richtig wie banal, denn diese Wirkung teilen sie mit normalen Gesetzesmaterialien. Was sie von letzteren unterscheidet, ist zunächst ihre prominentere Stellung im Mix der Auslegungselemente, also bei der Methodenwahl. Während die historische Interpretation anhand der Materialien nur eines der klassischen Auslegungselemente ist, welches überdies mit zunehmendem Alter eines Gesetzes immer mehr an Gewicht verliert, sind die Begründungserwägungen das primäre policy statement des Richtliniengebers und als solches die Richtschnur für jede teleologische Interpretation; in den Worten des Gerichtshofs: „Der verfügende Teil eines [Unions]rechtsakts ist (…) untrennbar mit seiner Begründung verbunden“.145 Das gilt für die teleologische Extension genauso wie für die teleologische Restriktion und Reduktion. Aber während das teleologische Argument ansonsten in dem Sinne „frei“ ist, als es einen Focus für allgemeine Vernünftigkeits-, Effizienz- oder auch schlichte Praktikabilitätserwägungen bildet,146 ist die „begründungserwä-

_____ 141 GA Stix-Hackl, SchlA v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Tz. 77. 142 Jüngst etwa EuGH v. 1.3.2011 – Rs. 236/09 Test-Achats, Slg. 2011, I-773 Rn. 3. 143 Steindorff, FS Larenz (1973), S. 217. 144 Vgl. als Beispiel nur Art. 1 des schweizerischen Börsen- und Effektenhandelsgesetzes (BEHG): „Dieses Gesetz regelt die Voraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb von Börsen sowie den gewerbsmäßigen Handel mit Effekten, um für den Anleger Transparenz und Gleichbehandlung sicherzustellen. Es schafft den Rahmen, um die Funktionsfähigkeit der Effektenmärkte zu gewährleisten.“ 145 Exemplarisch EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C 402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 41–44; vorher schon EuGH v. 13.12.2007 – Rs. C 463/06 FBTO Schadeverzekeringen, Slg. 2007, I-11321 Rn. 28 f.; ferner die SchlA von GA Jacobs v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Tz. 39 ff. Kaum noch zu rechtfertigen hingegen – und deshalb viel kritisiert – EuGH v. 1.3.2011 – Rs. 236/09 Test-Achats, Slg. 2011, I-773 Rn. 30, der die Begründungserwägungen als „Prämisse“ des Gesetzgebungsakts sogar gegen den relativ klaren Wortlaut des verfügenden Teils ins Feld führt; dazu Hoffmann, ZIP 2011, 1445; Purnhagen, EuR 2011, 690, 696 f.; Armbrüster, Das Unisex-Urteil des EuGH (Test-Achats) und seine Auswirkungen (2012), S. 8 ff. 146 Anschaulich Gast, Juristische Rhetorik (4. Aufl. 2006), S. 296 ff. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gungskonforme“ Auslegung des Richtlinientextes striktes Gebot für den Anwender.147 „Anwender“ in diesem Sinne ist offenkundig nicht nur der umsetzende Mitgliedstaat und der über die pflichtgemäße Umsetzung wachende EuGH,148 sondern auch der nationale Richter, der sein eigenes Recht richtlinienkonform auslegt (siehe unten Rn. 61 ff.). Als offen gelten muss die sich geradezu aufdrängende Frage, ob Begründungserwägungen 52 auch die Basis für Analogieschlüsse bilden können. Die Frage findet nach derzeitigem Stand der EuGH-Rechtsprechung noch keine eindeutige Antwort. Der EuGH praktiziert die Analogie (die bei uns als das Virtuosenstück kunstvoller Rechtsanwendung gilt) jedenfalls im Richtlinienrecht149 eher zurückhaltend.150 Das hat er etwa in der Frage erkennen lassen, ob die Schutzzwecke der Verbraucherkreditrichtlinie auch für denjenigen einschlägig sind, der sich für einen Verbraucherkredit verbürgt.151 Ein Grund für diese Enthaltsamkeit liegt auf der Hand. Angesichts des immer noch fragmentarischen Charakters vieler Richtlinien als leges imperfectae erweist sich schon das Auffinden einer „planwidrigen“ Lücke als problematisch.152 Des Weiteren respektiert der EuGH die Prärogative des Richtliniengebers und verlegt sich in Zweifelsfällen lieber auf eine extensive teleologische Auslegung. So hat das Gericht in der Rechtssache Dietzinger die vom Richtlinienwortlaut nicht mehr gedeckte Erstreckung des Haustürwiderrufsrechts auf Bürgschaften von Verbrauchern nicht mit einem Analogieschluss, sondern mit einer fragwürdigen Wortlaut- und teleologischen Interpretation gerechtfertigt.153

2. Verordnungen 53 Die Handlungsform der unmittelbar geltenden und unmittelbar anwendbaren Verordnung nach

Art. 288 Abs. 2 AEUV hat der Europäische Privatrechtsgesetzgeber lange Zeit relativ selten gewählt. Für die Methode der Privatrechtsgesetzgebung galt bisher, primär aus kompetenzrechtlichen Gründen (oben Rn. 42): Nicht Rechtsvereinheitlichung (durch Verordnung), sondern lediglich Rechtsangleichung (durch ausfüllungsbedürftige Richtlinien) ist das Generalziel. Verordnungen mit privatrechtlichem Gehalt werden zumeist auf die subsidiäre Ermächtigungsnorm des Art. 352 AEUV gestützt, der auch eine nicht binnenmarktfunktionale Rechtssetzung durch

_____ 147 Auch diese Bindung kann zu einer gewissen Beliebigkeit führen, wenn die Begründungserwägungen mehrere policies ohne hierarchische Stufung vorgeben. So hat die Rechtsprechung zur Produkthaftungsrichtlinie sich früher auf BE 1 gestützt, die „binnenmarktfunktional“ die Vereinheitlichung der Haftungsrisiken der Produzenten bezweckt; EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-183/00 Gonzalez Sánchez, Slg. 2002, I-3901 Rn. 3, 24, 25. Neuerdings stützt sich der Gerichtshof jedoch auch auf BE 9, der die Effektuierung des Verbraucherschutzes vorgibt; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-285/08 Moteurs Leroy Somer, Slg. 2009, I-4733 Rn. 27–31. 148 Oben Fn. 145. 149 Zur Analogie im – eher kodifikatorischen – Verordnungsbereich vgl. EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 12–30; EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C 402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 41– 44 (Fluggäste-VO 261/2004). Zur analogen Anwendung von Vorschriften des Primärrechts mwN Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 162 ff. 150 Näheres bei Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 32 ff.; auch schon Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbraucherrechts, S. 185. 151 EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741. Der Gerichtshof spricht hier nicht einmal die Möglichkeit einer Analogie an. Immerhin der Sache nach werden im Rahmen der teleologischen Auslegung Analogiemöglichkeiten geprüft in den SchlA von GA Léger v. 28.10.1999 – Rs. C-208/99 Berliner Kindl, Slg. 2000, I-1741 Tz. 52 ff. Im Ergebnis drängte sich freilich eine analoge Anwendung der Verbraucherkreditrichtlinie nicht auf. 152 I.E. Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 29 f. 153 EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-45/96 Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 17 ff. Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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die Union gestattet.154 Manche Anwendungsfälle privatrechtlicher155 Verordnungen sind überdies auch inhaltlich nicht ganz unproblematisch.

a) Verordnungen mit vertragsrechtlichem und deliktsrechtlichem Inhalt156 Mit der ersten Zahlungsentgelte-VO von 2001157 – inzwischen ersetzt durch die Verordnung 924/ 54 2009158 – erstrebte die Kommission eine Angleichung des Gebührenniveaus im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr an das sehr viel niedrigere Niveau im Inlandsverkehr. Da jahrelange politische Appelle an die Kreditwirtschaft, kostengünstigere internationale Zahlungsverkehrsleistungen anzubieten, nicht gefruchtet hatten, griff man zur Verordnung und dekretierte identische Gebühren für Inlands- und Auslandszahlungsverkehr in Euro (Art. 3 VO 924/2009). Ähnliches ist geschehen zum Zwecke der Dämpfung der für die grenzüberschreitende Mobilfunknutzung von den Mobilfunkanbietern erhobenen sog. Roaming-Gebühren.159 Gestützt auf Art. 95 EG (jetzt Art. 114 Abs. 1 AEUV) hat die Verordnung Preisobergrenzen eingeführt (Art. 4b Abs. 2, 6a Abs. 4 Roaming-VO a.F.) und zugleich die Preistransparenz für den Kunden verbessert (Art. 6 RoamingVO a.F.). Die VO war bis zum 30.6.2012 befristet und wurde darum durch eine neue Verordnung 531/2012 verlängert und verschärft.160 Beide Verordnungen mag man insofern als einen Sündenfall ansehen, als sie zwar durch das Binnenmarktziel gedeckt sind, aber als Preisregulierung in den sensiblen Kernbereich der Privatautonomie eingreifen und deshalb zusätzlich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen sind. Da die Kreditinstitute auch nach der Verordnung frei sind, das inländische Preisniveau anzuheben, besteht allerdings keine absolute Preisfixierung nach dem Muster staatlicher Gebührenordnungen; auch den Mobilfunkanbietern ist die Preisgestaltungsfreiheit nicht vollständig genommen. In beiden Verordnungen sind die Preiskontrollmaßnahmen außerdem befristet.161

_____ 154 Für die Bundesrepublik hat das BVerfG diese Kompetenz jetzt unter den Vorbehalt eines nationalen Gesetzgebungsakts nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG gestellt; BVerfGE 123, 267 Rn. 325–328 – Lissabon-Vertrag. 155 Aus der Reihe fallen hier – infolge der systematischen Sonderstellung des IPR – die beiden Rom-VOen; Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom I“), ABl. 2008 L 177/6; Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. 2007 L 199/40. 156 Außer den nachstehend vorgestellten Verordnungen noch Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1; Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. 2007 L 315/14. 157 Verordnung (EG) Nr. 2560/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 Nr. L 344/13. 158 Verordnung (EG) Nr. 924/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 über grenzüberschreitende Zahlungen in der Gemeinschaft und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 2560/2009, ABl. 2009 L 266/11. 159 Verordnung (EG) Nr. 717/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.6.2007 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG, ABl. 2007 L 171/32, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 544/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2009, ABl. 2009 L 167/12. 160 Verordnung (EU) Nr. 531/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union, ABl. 2012 L 172/10. 161 Art. 22 Abs. 2 Roaming-VO 531/2012; Art. 15 Abs. 2 VO 924/2009 sieht zumindest eine Überprüfung der Entwicklung der Zahlungsentgelte vor.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Aus einem anderen Grund fällt die novellierte Verordnung über Ratingagenturen162 aus dem Rahmen. Sie enthält in Art. 35a eine im Detail ausformulierte Sonderdeliktshaftung der Ratingagenturen für Verstöße gegen die ihnen durch die VO auferlegten Berufspflichten.163 Damit bricht die VO mit der Tradition, im Interesse des effet utile den Mitgliedstaaten zwar allgemein die Verhängung effektiver und verhältnismäßiger Sanktionen für pflichtwidriges Verhalten vorzuschreiben, aber deren Ausformulierung den Mitgliedstaaten selbst zu überlassen (oben Rn. 44). Art. 35a RatingVO stellt sich hiernach als eine Haftungsregel ohne unionsrechtlichen haftungs- und schadensersatzrechtlichen Unterbau dar. Ob die Union diesen Unterbau jemals nachliefern wird, steht in den Sternen, da eine Rechtssetzungskompetenz im allgemeinen Deliktsrecht noch weitaus zweifelhafter ist als im Vertragsrecht.164

b) „Optionale Instrumente“ 56 Infolge der unklaren Kompetenzlage bei der Harmonisierung des „nicht-regulatorischen“ Privat-

rechts intendiert inzwischen eine Reihe von Verordnungen gar keine Angleichung der nationalen Rechte mehr, sondern stellt lediglich ein zusätzliches und „optionales“ Rechtsregime neben den 27 mitgliedstaatlichen Regimes zur Verfügung (sog. 28. Modell). Diese durchaus innovative Gesetzgebungstechnik vermeidet den unmittelbaren Eingriff in die Gesetzgebungskompetenz der Mitgliedstaaten. Stattdessen wird es den Marktbürgern selbst anheimgestellt, für das 28. Modell zu optieren (Opt-In) und dadurch die Handelshemmnisse durch europäische Rechtszersplitterung zu reduzieren. Begrenzt wird dieser Effekt allerdings durch Art. 6 Abs. 2 Rom I-VO, der dem Verbraucher den Schutz seines heimischen Verbraucherrechts erhält. Drei dieser (zum Teil erst projektierten) Verordnungen165 verdienen ein besonderes Interesse. Die rechtliche Ausgestaltung der Societas Europea ist von Anfang an als Verordnung166 ge57 plant gewesen, da das politische Ziel die Bereitstellung einer einheitlichen unionsweiten Organisationsform war. Als Konsequenz politischer Kompromisse in der langen Entstehungsgeschichte der Verordnung gerieten jedoch zahlreiche Wahlrechte in das Regelwerk und führten letztlich zur Aufgabe des Ziels einer strikt einheitlichen Organisationsstruktur. Nicht anders als bei einer richtlinienförmigen Regelung wurden deshalb mitgliedstaatliche Ausführungsgesetze notwendig, um die von der Verordnung eröffneten Wahlrechte zu implementieren. Die unmittelbare Anwendung der Verordnung ist dadurch erheblich eingeschränkt.167 Die Arbeitnehmermitbestimmung wurde sogar gänzlich in eine Richtlinie168 ausgelagert. Das Projekt eines Europäischen Zivilgesetzbuches verdankt sich dem Unbehagen über die bis58 lang praktizierte Art der Privatrechtsvereinheitlichung durch punktuell regelnde und ausfül-

_____ 162 Verordnung (EU) Nr. 462/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.5.2013 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen, ABl. 2013 L 146/1. 163 Dazu (allerdings zur später noch geänderten Version des Verordnungsvorschlags) die kritischen Überlegungen von G. Wagner, FS Blaurock (2013), S. 467 ff. 164 So mit Recht Howarth, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011), S. 846 f. 165 Weiterhin zu erwähnen die Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates v. 26.2.2009 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2009 L 78/1, ferner die Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates v. 22.7.2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE), ABl. 2003 L 207/1, ber. ABl. 2007 L 49/35. 166 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001/EG des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 Nr. L 294/1. 167 Zu den hieraus resultierenden Detailfragen vgl. etwa J. Wagner, NZG 2002, 985, 985 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 51 ff. 168 Richtlinie 2001/86/EG des Rates v. 8.10.2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, ABl. 2001 L 294/22.

Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

119

lungsbedürftige Richtlinien.169 Es hat bisher – in Gestalt eines Draft Common Frame of Reference – lediglich einen privaten Expertenentwurf mit der Absicht einer Kodifikation auf der Ebene allgemeiner Prinzipien des Kernzivilrechts hervorgebracht.170 Infolgedessen ist die Kommission selbst wieder initiativ geworden und mit einem deutlich weniger ambitionierten, auf Art. 114 AEUV gestützten Projekt, nämlich einem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht, hervorgetreten.171 Auch das GEK (Art. 3 V-GEKVO) soll als Verordnung in Form eines optionalen Instruments funktionieren; dies allerdings nicht als 28. Modell, sondern als „2. nationalstaatliches Regime“ nach dem Vorbild von Art. 1 Abs. 1 (b) CISG.172 Auch inhaltlich hat das CISG in zahlreichen Fragen Pate gestanden.

3. Gemeineuropäische Rechtsprinzipien des Privatrechts Unter den klassischen Rechtsquellen ist ein europäisches Gewohnheitsrecht praktisch nicht exi- 59 stent.173 Die Bildung von Gewohnheitsrecht ist schon im nationalen Kontext pluralistischer Gesellschaften fragwürdig geworden, umso mehr unter dem Dach eines supranationalen Verbundes mit noch lange nicht konsolidierten institutionellen, legislativen und rechtskulturellen Strukturen. Wenigstens zum Teil werden die Funktionen des Gewohnheitsrechts in der Union durch den Rückgriff auf mitgliedstaatenübergreifende Rechtsgrundsätze substituiert.174 Diese hatten bisher ihren Hauptort im EU-Verfassungsrecht, insbesondere im Bereich der Grund- und Menschenrechte sowie der Staatszielbestimmungen, und zwar unter Rekurs auf die „gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten“.175 Diese Funktion ist mit der Erhebung der Europäischen Grundrechtecharta zum Unionsprimärrecht weitgehend obsolet geworden. Im Privatrecht wird die Suche nach „gemeinsamen Lösungen“ in Gestalt gemeineuropäischer Rechtsprinzipien vor allem von jenen propagiert, die das Projekt eines „European Civil Code“ derzeit für illusorisch halten.176 Es geht dabei um Strukturprinzipien, deren Generalisierungsniveau mehrheitlich über jenem der von Rechtsvergleichern gesammelten „European Principles“ liegt. Gleichwohl sind sie nicht lediglich Interpretationshilfe für bestehende Rechtsakte,177 sondern, sozusagen als „Harmonisierung von unten“,178 originärer Teil des Unionsrechts. Ausdrücklich autorisiert ist die Geltung solcher Prinzipien in Art. 340 Abs. 2 AEUV für den Bereich der außervertraglichen

_____ 169 Vgl. etwa Müller-Graff, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011), S. 149, 150 f., 153 ff. 170 Inzwischen bereits schon auf mehrere Bände angewachsen; vgl. v. Bar/Clive, Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Full Edition. Die Sekundärliteratur dazu ist bereits unabsehbar; vgl. nur Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der gemeinsame Referenzrahmen (2009), sowie den voluminösen Sammelband von Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011). 171 Derzeitiger Stand: KOM(2011) 635. Zur Vorgeschichte instruktiv Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 248 ff. Das Thema kann hier nur gestreift werden; vgl. i.Ü. Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 47 ff. 172 Dies folgt, allerdings nicht mit letzter Klarheit, aus BE 12 der V-GEKVO. Vgl. i.E. und mwN Schulze/Wendehorst, Common European Sales Law (CESL) – Commentary (2012), Art. 3 CESL-Regulation Rn. 6 ff. Von einem 28. Modell geht hingegen noch Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 251 aus. 173 Weitaus h. M.; vgl. nur Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 18; zumindest skeptisch auch Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 264 ff., der Gewohnheitsrecht allenfalls im organisationsrechtlichen und interinstitutionellen Bereich erkennen will. 174 Vgl. allgemein Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 166 ff. Zur theoretisch anspruchsvollen Geltungsbegründung allgemeiner Rechtsgrundsätze Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 149 ff. 175 Hinsichtlich der Grundrechte jetzt positiviert in Art. 6 Abs. 3 EUV. 176 Vgl. etwa van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 101 f. 177 So aber wohl Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 35. 178 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 271. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Staatshaftung, konkretisiert durch die Francovich-Rechtsprechung. 179 Freilich sind die ausschließlich für das Staatshaftungsrecht rezipierten allgemeinen Grundsätze des Schadensrechts180 wohl kaum Teil des Europäischen Privatrechts. Einer auf der Verletzung von Unionsrecht (z.B. Kartellrechtsverstößen) beruhenden „gemeineuropäischen“ Deliktshaftung unter Privaten ist der EuGH nicht näher getreten,181 hat aber immerhin auf einige Sanktionsgrundsätze zur Wahrung des effet utile der Kartellverbote verwiesen, z.B. auf die Einbeziehung des entgangenen Gewinns und der Zinsen in die Schadensberechnung.182 Im Übrigen hat er sich nur auf sehr hoch generalisierte Prinzipien wie das Vertrauensprinzip (principle of legitimate expectation), Treu und Glauben (good faith) oder venire contra factum proprium (estoppel) gestützt.183 Zum Inhalt des deliktischen Schadensersatzes ist auf das schadensrechtliche Bereicherungsverbot und auf das Mitverschuldensprinzip rekurriert worden.184 Verweigert hat der EuGH die Anerkennung einer „europäischen“ Aufrechnung.185

4. Richterrecht und richterliche Rechtsfortbildung 60 Dass richterliche Rechtsfortbildung und, als deren kleiner Bruder, das Richterrecht heute eine

wichtige Rechtsquelle neben der lex scripta verkörpern, steht auch für die europäische Rechtsquellenlehre außer Frage. Sie stößt dabei allerdings wiederum auf deutlich andere Probleme als die nationale Rechtsquellenlehre. Das ist an gesonderter Stelle zu vertiefen.186

IV. „Indirekte“ Wirkungen von Unionsrecht: primär- und sekundärrechtskonforme Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts 61 Von den Grundlagen der primärrechtskonformen und der richtlinienkonformen Auslegung ist

an anderer Stelle in diesem Band zu reden.187 Hier interessiert nur der eigenartige theoretische Status dieses Methodeninstruments im Grenzgebiet zwischen Rechtsgeltung (Rechtsquellenlehre) und Rechtsanwendung (Methodenlehre). Im neueren Schrifttum gewinnt eine differenzierende Perspektive Zulauf. Die primärrechts62 konforme Auslegung gilt als Konsequenz des Primats des Unionsrechts. Damit wird sie als Geltungsproblem, oder genauer: als Kollisionsregel zugunsten eines Vorrangs höherrangigen Rechts begriffen, der sich bei Unmöglichkeit primärrechtskonformer Auslegung sogar in der Nichtan-

_____ 179 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich, Slg. 1991, I-5357. 180 Vgl. insbes. EuGH v. 28.4.1971 – Rs. 4/69 Lütticke, Slg. 1971, 325. Zum Ganzen Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts (2003); Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 337 ff. 181 Zu den Gründen van Gerven, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (3. Aufl. 2004), S. 109 f. In der Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, hat der EuGH lediglich gefordert, dass es überhaupt ein privatrechtliches remedy geben müsse. 182 EuGH v. 13.7.2006 – Rs. C-295/04 Manfredi, Slg. 2006, I-6619 Rn. 95–97. 183 Rechtsprechungsübersicht bei Usher, ERPL 1 (1993), 109, 113 f. 184 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rn. 30, 31 ff. 185 EuGH v. 10.7.2003 – Rs. C-87/01 P Kommission ./. CCRE, Slg. 2003, I-7617; dazu Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 346 f. 186 Neuner, in diesem Band, § 12. 187 Zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

121

wendung unionswidrigen nationalen Rechts äußert.188 Man mag hier von Geltungsvorrang oder von „derogatorischem“ Vorrang sprechen.189 Hingegen soll es bei der richtlinienkonformen Auslegung lediglich um einen „interpretatorischen“ Vorrang190 gehen, weil dem Richtlinienrecht im Gegensatz zum Primärrecht nur ganz ausnahmsweise unmittelbare Wirkung zukommt (siehe oben Rn. 45 ff.) und die richtlinienkonforme Auslegung Anwendung und Interpretation des nationalen Rechts bleibt. Gegen diese Differenzierung ist, soweit sie als rein analytische verstanden wird, nichts ein- 63 zuwenden. Thematisiert man die Vorrangfrage hingegen von den jeweiligen Rechtswirkungen der die konforme Anwendung determinierenden Normen, dann ist die Unterscheidung, und dies wohl im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung des EuGH,191 erheblich zu relativieren. Gewiss kommt, ähnlich wie im nationalen Recht der verfassungskonformen Auslegung, auch der unionsrechtskonformen Auslegung (in beiden Varianten) ein besonderer Rang unter den übrigen Auslegungsinstrumenten zu. Während die Methodenwahl unter den übrigen Instrumenten relativ frei ist und allenfalls schwache Vorrangregeln anerkannt werden,192 ist der mitgliedstaatliche Richter zur unionsrechtskonformen Auslegung verpflichtet, wann immer die Auslegung der nationalen Norm nach dem nationalen Methodenprogramm zu einer Divergenz vom Unionsrecht führen würde. Wichtiger als diese methodische Vorrangregel ist aber ein Zweites. Die einzelnen Instrumente des nationalen Methodenkanons – und damit auch die Wahl unter ihnen – sind relativ ergebnisoffen. Hingegen ist mit der Entscheidung für unionsrechtskonforme Auslegung das Ergebnis der Rechtsfindung bereits weitgehend präjudiziert, da die Auslegung gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV einem Optimierungsgebot hinsichtlich des Ziels der Richtlinie unterworfen ist,193 jedenfalls bis zur Wortlautgrenze bei der Interpretation des mitgliedstaatlichen Rechts. Diese Wirkungsmacht des Unionsrechts bringt auch die Forderung des EuGH zum Ausdruck, dass das nationale Gericht „im Rahmen seiner Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen“ hat.194 Zwar steht auch hier zwischen Methodenwahl und Ergebnis der Rechtsfindung noch einmal ein „mediatisierender“ Interpretationsvorgang. Das ändert aber nichts daran, dass das Unionsrecht dabei Teil des materiellen Entscheidungsprogramms ist und dass das Unionsrecht auch hier eine partielle Nichtanwendung des nationalen Rechts – Nichtanwendung des nach nationalem Methodenprogramm maßgeblichen Inhalts – zur Folge hat.

V. Europäisches Soft Law 1. Mitteilungen und Aktionspläne a) „Interpretative“ Mitteilungen der Kommission Richtlinieninterpretierende Mitteilungen der Kommission – zum Teil auch „Leitlinien“ genannt 64 – finden sich vor allem im öffentlichen Recht, wo sie sich mit den Verwaltungsvorschriften des

_____ 188 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29. 189 Letztere Vokabel bei Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 64 ff. Zu den Verfechtern dieser Differenzierung zählen der Sache nach auch Jarass/Beljin, JZ 2003, 768, 774 f.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. 190 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 64 ff.; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; zuletzt Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123 f. 191 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 192 Vgl. etwa Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens (2001), S. 377 ff.; aus verfassungsrechtlicher Sicht Müller/Christensen, Juristische Methodik I, S. 450 ff., 487 ff. 193 So ausdrücklich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113. 194 So zuletzt EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 48. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

deutschen Rechts vergleichen lassen. Wie diese haben sie allgemeine Geltung und werden von den Adressaten faktisch auch befolgt.195 Im Privatrecht haben sie bisher keine Bedeutung. Sie wären auch gerade dort problematisch, weil sie die Ausfüllungsspielräume der Mitgliedstaaten beschneiden würden. Die Kommission ist selbst weder Gesetzgeber, der sein eigenes Werk „authentisch“ interpretieren könnte,196 noch Regulierungsbehörde, die mit der Konkretisierung einer Rechtsquelle betraut ist. Wo Richtlinien nur den Charakter von Rahmenregelungen haben, wird zu ihrer Konkretisierung denn auch zunehmend der Weg über sog. Durchführungsrichtlinien (als delegierte Rechtssetzung) beschritten (siehe schon oben Rn. 41). Einfache Mitteilungen, vor allem in der Form sog. Grün- und Weißbücher, spielen allerdings eine wichtige Rolle als Konsultationsdokumente im Vorfeld der Rechtssetzung.

b) Empfehlungen und Aktionspläne 65 Empfehlungen kommt nach Art. 288 Abs. 5 AEUV keine Verbindlichkeit zu. Trotzdem ist es

gerechtfertigt, sie als eine Quelle von soft law zu begreifen, weil der EuGH von den Mitgliedstaaten und ihren Organen verlangt, Empfehlungen zwar nicht zu „befolgen“, aber sie doch zu „berücksichtigen“, d.h. sich damit auseinanderzusetzen und die Nichtbefolgung ggf. zu begründen.197 Aktionspläne – aus dem Privatrecht zu nennen der ambitionierte Financial Services Action 66 Plan von 2002, der Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht (siehe oben Rn. 58) sowie der Aktionsplan zum Gesellschaftsrecht198 – sind nicht einmal eine „weiche“ Rechtsquelle. Sie begründen allenfalls eine lose Selbstbindung der Kommission, eine bestimmte Arbeitsagenda abarbeiten zu wollen.

2. Ko-Regulierung und „privatisierte“ Regulierung durch Expertenrecht 67 Weltweit erfordert die steigende Komplexität des Rechts in der „Wissensgesellschaft“ die Mobili-

sierung von Expertenwissen.199 Das geschieht inzwischen überwiegend durch Einrichtung institutionalisierter Expertengremien, die häufig Teil des Staatsapparates sind, aber zunehmend auch auf rein privater Basis operieren.200 Die typische Erscheinungsform des in diesen Gremien produzierten Expertenrechts im Privatrecht sind die sog. Kodizes (angelsächsisch: Codes of Best Practice). Ihre Herkunft haben die Kodizes in den angelsächsischen Ländern, und dort wieder primär im britischen Gesellschafts-, Bank- und Finanzmarktrecht. Unterschiedlich von Fall zu Fall ist die Intensität der staatlichen Einflussnahme auf das private Expertenrecht; sie reicht von völliger Enthaltsamkeit im Falle reiner Selbstregulierung bis zu kooperativer „Ko-Regulierung“.

_____ 195 Vgl. nur BGH, NJW-RR 2004, 689 („Leitlinien“ zur GVO für Vertikalverträge Nr. 2790/99 v. 22.12.1999); aus der Literatur Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 254 ff. 196 Auf diesen Fall beschränkt mit Recht Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 56 die Verbindlichkeit auslegender Erklärungen als authentische Interpretation. 197 EuGH v. 13.12.1989 – Rs. 322/88 Grimaldi, Slg. 1989, 4407 Rn. 18. 198 KOM(2012) 740 endg. 199 Die Entwicklung und deren Faktoren zusammenfassend Köndgen, AcP 206 (2006), 477 ff., 481 ff. 200 Cafaggi, Private Regulation, S. 106 ff. Köndgen

§ 6 Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts

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Ein erster Anwendungsfall im europäischen Privatrecht war der „Verhaltenskodex über vorvertragliche Infor- 68 mationen für wohnungswirtschaftliche Kredite“ (2001).201 Die Entwicklung dieses Kodex ist von der Kommission angeregt, begleitet und in Form einer Empfehlung „begrüßt“ worden.202 Seine Verbindlichkeit beruhte einzig auf einer Selbstverpflichtung der europäischen Dachverbände des Hypothekarkreditgewerbes, die diese Selbstverpflichtung „nach unten“ an ihre Mitgliedsverbände bzw. -institute weiterzugeben hatten. Da der faktische Umsetzungsgrad die Erwartungen der Kommission nicht erfüllte, ist der Kodex inzwischen in das ius strictum der Immobiliarkreditrichtlinie (2014) überführt worden.203 Aktuelles und praktisch überragend wichtiges Beispiel ist die Ko-Regulierung im privaten Europäischen Zah- 69 lungsverkehrsrecht. Zur Konstituierung eines einheitlichen europäischen Zahlungsraums (Standard European Payment Area, SEPA) war es unumgänglich, zumindest im Lastschrift- und im Überweisungsverkehr standardisierte technische Verfahren zu entwickeln. Ermuntert durch die Kommission, hat sich der 2002 von den Dachverbänden der Europäischen Kreditwirtschaft ins Leben gerufene European Payment Council (EPC) dieser Aufgabe angenommen. Während der einheitliche Zahlungsraum schließlich durch eine äußerst knapp gehaltene Verordnung (sog. SEPA-VO) begründet wurde,204 beruht dessen gesamte technische Infrastruktur auf dem vom EPC in Abstimmung mit der Zahlungswirtschaft entwickelten mehrere hundert Seiten starken SEPARulebook.205

Kompetenzrechtlich gilt: Kodizes passen weder in den Katalog der Handlungsformen in Art. 288 70 Abs. 1 und 5 AEUV noch in die Delegations- und Durchführungsakte gem. Art. 290, 291 AEUV. Die Kompetenz der Kommission, nach Art. 288 AEUV Empfehlungen auszusprechen, deckt nicht den Fall richtlinienvertretender privater Normsetzung. Kodizes sind auch nicht mit anderen Formen von soft law, wie dem Komitologieverfahren nach der VO Nr. 182/2011, vergleichbar. Sie sind andererseits nicht schlichte Selbstregulierung, da sie im Einvernehmen zwischen Kommission und Fachverbänden entwickelt, angewendet und evaluiert werden. Da die Kodizes tendenziell richtlinienvertretend sind, die Mitwirkung der Union aber nur über die Kommission erfolgt, stellt sich offenkundig das Problem der parlamentarischen Verantwortlichkeit.206 Zur Sicherstellung des effet utile hat die Kommission die Anwendung der Kodizes laufend zu überwachen (BE 5 SEPA-VO). Als ultimative Sanktionsdrohung bleibt stets, den Richtlinienknüppel aus dem Sack zu holen und eine ineffektive Ko-Regulierung durch ius strictum zu ersetzen.

VI. Résumé und Ausblick Die nationale, traditionelle Rechtsquellenlehre hat infolge ihrer im Wesentlichen formalen Re- 71 geln zur europäischen Rechtsquellenlehre bisher wenig beizusteuern. Auch in der Rechtsquellenlehre hat sich nämlich das supranationale Recht noch nicht hinreichend von den traditionel-

_____ 201 Europäische Vereinbarung über einen freiwilligen Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite v. 5.3.2001; dazu monographisch Berresheim, Europäischer Informationsverhaltenskodex der Realkreditwirtschaft (2008); ferner Schmies, ZBB 2003, 277, 287 ff. 202 Empfehlung der Kommission v. 1.3.2001 über vorvertragliche Informationen, die Darlehensgeber, die wohnungswirtschaftliche Darlehen anbieten, den Verbrauchern zur Verfügung stellen müssen, ABl. 2001 L 69/25. 203 Richtlinie 2014/17 (oben Fn. 104), BE 40 ff. und Art. 13, 14 Abs. 1 und 2, sowie Anhang II. 204 Verordnung (EU) Nr. 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/2009, ABl. 2012 L 94/22). Einen indirekten Regulierungsauftrag an den EPC mag man dem BE 5 der VO entnehmen. 205 Einzelheiten bei Langenbucher/Bliesener/Spindler/Rigler (Hrsg.), Bankrechtskommentar (2013), 11. Kap. Rn. 47 ff., 110 ff.; zusammenfassend auch Cafaggi, in: Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code, S. 112. 206 So am Beispiel des Immobiliarkredit-Kodex schon Schmies, ZBB 2003, 277, 280. Die Beachtung des Demokratieprinzips mahnt auch Cafaggi, S. 124 an. Köndgen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

len Leitsternen des Völkerrechts und des nationalen Rechts emanzipieren können. Im Besonderen die Streitfragen um die europäischen Privatrechtsquellen lassen sich mit dem theoretischen und methodischen Instrumentarium der Rechtsquellenlehre nicht befriedigend lösen. Not tut daher eine autonome europäische Rechtsquellenlehre. Auch wenn die zentrale Frage nach dem Geltungsradius des Europäischen Primär- und Se72 kundärrechts sich zunächst als typisch rechtsquellentheoretische Problematik, nämlich als solche des Stufenbaus der Rechtsordnung, präsentieren mag: die Würfel fallen ganz woanders und gehorchen sehr viel elementareren und wertungsgeladenen Prinzipien. Letztlich geht es um die altbekannten Grundsatzprobleme und Antinomien des Privatrechts, nämlich um Markteffizienz und Marktversagen, um Privatautonomie und staatliche Regulierung, um unternehmerische Freiheit und Verbraucherschutz, um Selbstverantwortlichkeit und Paternalismus.

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Köndgen

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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Abschnitt 2 Primärrecht 2. Teil: Allgemeiner Teil

§7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts § 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts Pechstein/Drechsler

Matthias Pechstein/Carola Drechsler Literatur Wilfried Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozessrecht im EWG-Vertrag (1987); Albert Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: ders. (Hrsg.), Studien zum Europäischen Gemeinschaftsrecht (1986), S. 105–112; ders., Zu den Auslegungsmethoden des Europäischen Gerichtshofs, NJW 1982, 1177–1182; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH – Häufigkeit und Bedeutung methodischer Argumente in den Begründungen des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (2004); Ulrich Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Christian Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, in: Peter Behrens/Thomas Eger/Hans-Bernd Schäfer (Hrsg.), Ökonomische Analysen des Europarechts (2012); Pierre Pescatore, Recht in einem mehrsprachigen Raum, ZEuP 1998, 1–12; Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001); Michael Potacs, Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465– 487; Werner Schroeder, Die Auslegung des EU-Rechts, JuS 2004, 180–186; Isabel Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht – Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durch den Europäischen Gerichtshof (2004); Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU (3. Aufl. 2010). Rechtsprechung EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053.

I. II.

III. IV.

Übersicht Einleitung | 1–2 Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht | 3–8 1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts | 4–6 2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts | 7–8 Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht | 9–12 Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht | 13–41 1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen | 14–15 2. Einzelne Auslegungsmethoden | 16–39 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung | 17–21 b) Systematische Auslegung | 22–26 c) Teleologische Auslegung | 27–32 d) Historische Auslegung | 33–35 e) Rechtsvergleichende Methode | 36–39

3.

V.

VI.

Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander | 40–41 Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht | 42–55 1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge | 43–45 2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK | 46–50 a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung | 47 b) Systematische Auslegung | 48 c) Teleologische Auslegung | 49–50 3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK | 51–54 a) Historische Auslegung | 52 b) Rechtsvergleichende Auslegung | 53–54 4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander | 55 Rechtsfortbildung | 56–61

Pechstein/Drechsler

126

2. Teil: Allgemeiner Teil

I. Einleitung 1 Auslegung als „Rekonstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“1 erfolgt mit unter-

schiedlichen Methoden, welche auch nebeneinander angewandt werden können. Für das Recht der Europäischen Union bieten sich zur Auslegung der Vertragsnormen drei verschiedene Methodengrundsätze an. Während einmal von den für das Völkerrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen ausgegangen werden könnte, könnte auch auf die nationalen Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden, aber auch auf spezielle europarechtliche Grundsätze. Prinzipiell werden auch bei der Interpretation der Rechtsnormen im Europarecht die bekannten Auslegungsmethoden angewandt. In erster Linie finden die teleologische,2 die systematische3 und die grammatikalische4 Methode Anwendung. Anders als im nationalen Recht hat die historische Methode für die Auslegung des europäischen Primärrechts nur sehr eingeschränkte Bedeutung. Dies geht auf die Besonderheiten der Rechtsnatur des Unionsrechts zurück, auf welche im Folgenden einzugehen sein wird. 2 Zunächst werden die Besonderheiten des Unionsrechts mit der weiterhin erforderlichen Unterteilung in einen intergouvernementalen und einen supranationalen Bereich dargestellt (II.). Sodann werden für beide Bereiche die angewandten Auslegungsmethoden im Primärrecht analysiert (III.–V.). Neben den bekannten Auslegungsmethoden und ihren Besonderheiten soll die Rechtsfortbildung im Primärrecht dargestellt werden (VI.). Die Rechtsfortbildung selbst wird zwar teilweise als Auslegungsmethode angesehen, sie geht aber über eine Auslegung des geltenden Rechts hinaus, indem dieses „fortgebildet“ wird. Insoweit handelt es sich nicht um eine Auslegungsmethode. Da der Rechtsfortbildung im Unionsrecht jedoch eine besondere Bedeutung zukommt, wird sie in einem selbständigen Teil behandelt.

II. Rechtliche Unterscheidung zwischen intergouvernementalem und supranationalem Europarecht 3 Welche Auslegungsmethoden Anwendung finden, richtet sich nach der Rechtsnatur der Rechts-

ordnung und den für die Auslegung zuständigen Organen. Für die Auslegung von Völkerrecht gelten andere Grundsätze und Normen als für die Auslegung von nationalem Recht. Das Völkerrecht ist getragen von den Grundsätzen der staatlichen Souveränität und der Gleichheit der Staaten. Insoweit sind vor allem der teleologischen Auslegung von Anfang an Grenzen gesetzt. Von wesentlicher Bedeutung ist daher, in welchen Rechtskreis die einzelnen Rechtsordnungen einzuordnen sind. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon hat die Europäische Union erstmalig eine eigene Rechtspersönlichkeit erhalten, Art. 47 EUV. Die Europäische Union ist seither völkerrechtlich rechts- und handlungsfähig. Damit stellt das Unionsrecht jetzt zwar die Rechtsordnung eines einheitlichen Rechtssubjekts dar, die Trennung zwischen intergouvernementalem Recht und supranationalem Recht bleibt aber teilweise noch bestehen.5 Die Säulen-

_____ 1 So Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1 (1840), S. 213. 2 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 3 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 – AETR; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne III, Slg. 1978, 1365 Rn. 15. 4 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11 f.; EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 14 f. 5 Pechstein, JZ 2010, 425 ff. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

127

struktur der Europäischen Union ist mit dem Vertrag von Lissabon formell aufgelöst worden.6 Die Europäische Union ist gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV ausdrücklich Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft. In der Europäischen Union erfolgt prinzipiell eine supranationale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die ehemals für die zweite und dritte Säule vorgesehene intergouvernementale Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten ist für die dritte Säule, den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ehemals Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, PJZS) aufgehoben worden. Hier findet nun eine supranationale Zusammenarbeit statt. Allein für die ehemals zweite Säule, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP, Art. 42 Abs. 1 S. 1 EUV), ist auch unter dem Lissabonner Vertrag eine Übertragung von Hoheitsrechten i.S.d. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Europäische Union nicht vorgesehen, diese ist weiterhin in Form einer intergouvernementalen Zusammenarbeit organisiert; es gibt keine unmittelbare Anwendbarkeit und keinen Anwendungsvorrang des GASP-Rechts.7 Die Trennung der Bereiche des intergouvernementalen und des supranationalen Unionsrechts wird auch durch Art. 40 EUV unterstrichen, der ein Gebot wechselseitiger Unberührtheit von GASP und sonstigen Unionsbereichen statuiert. Die Rechtsordnung der Europäischen Union ist in ihrer Gesamtheit nicht mit einer nationalen Rechtsordnung vergleichbar. Sie basiert auf völkerrechtlichen Verträgen und wird durch völkerrechtliche Verträge, wie u.a. den Vertrag von Nizza und den Vertrag von Lissabon, weiterentwickelt.8

1. Rechtsnatur des supranationalen Unionsrechts Es ist davon auszugehen, dass das Unionsrecht sich zu einer eigenständigen supranationalen 4 Rechtsordnung sui generis entwickelt hat. Denn allein von der Entstehungsgeschichte einer Rechtsordnung, der Gründung durch einen völkerrechtlichen Vertrag, kann nicht endgültig auf ihre Rechtsnatur geschlossen werden. Entscheidend für die Rechtsnatur einer Rechtsordnung ist die Struktur derselben.9 Für das Unionsrecht ergeben sich in diesem Gesamtzusammenhang im Verhältnis zu anderen völkerrechtlichen Verträgen folgende Besonderheiten: Zwar gilt weiterhin das Prinzip der Souveränität der Staaten, dieses ist für die Bereiche, in denen von den Mitgliedstaaten Kompetenzen auf die Union übertragen wurden, jedoch eingeschränkt. Auch das dem Völkerrecht innewohnende Konsensprinzip liegt dem Unionsrecht jedenfalls bei der Sekundärrechtssetzung nicht zugrunde. Vielmehr gilt in den meisten Tätigkeitsfeldern im Rat das Mehrheitsprinzip, für die Primärrechtsänderung dagegen bleibt es gemäß Art. 48 Abs. 4 EUV bei dem Erfordernis der Zustimmung aller Mitgliedstaaten. Dies führt dazu, dass Rechtsakte in den Zuständigkeitsbereichen der Europäischen Union und auf dem Gebiet des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch gegen den Willen eines Mitgliedstaates erlassen werden können und dieser Mitgliedstaat trotz Gegenstimme zum Vollzug des Rechtsaktes bzw. zur Umsetzung des Rechtsaktes verpflichtet ist. Die Verträge selbst dagegen können nur geändert werden, wenn alle Mitgliedstaaten die beabsichtigten Änderungen ratifizieren. Weiterhin stellt das Unionsrecht, insbesondere die Regelungen des Vertrages über die Ar- 5 beitsweise der Europäischen Union, in den Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes und vielfach unmittelbar anwendbares Recht dar.10 Es besitzt unter dieser Bedingung Vorrang vor dem natio-

_____ 6 Hellmann, Der Vertrag von Lissabon (2008), S. 2. 7 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S. 136 ff.; Pechstein, JZ 2010, 425 ff. 8 Terhechte, EuZW 2009, 724, 729, 730. 9 Streinz, Europarecht, Rn. 109. 10 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, Slg. 1963, 1, 25. Pechstein/Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nalen Recht, wobei es sich um einen Anwendungsvorrang,11 nicht aber um einen Geltungsvorrang handelt.12 Diese beiden Grundsätze, unmittelbare Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten und Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor mitgliedstaatlichem Recht, bilden die zentralen Elemente der Rechtsordnung der Europäischen Union in der Form nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon, die lediglich im Wege der Vertragsänderung aufgehoben werden könnten. Diese Unionsrechtsordnung verfügt ihrer Natur entsprechend über ein eigenes, nach autonomen Grundsätzen zu behandelndes „Verfassungssystem“.13 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gilt auch gegenüber später ergangenem nationalen Recht. Daher gilt der Grundsatz lex posterior derogat legi priori im Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht nicht. Später ergangenes – oder auch spezielleres – nationales Recht bricht Unionsrecht demnach nicht. Neben der unmittelbaren Geltung sowie unmittelbaren Anwendbarkeit und dem darauf bezogenen Anwendungsvorrang des Unionsrechts stellt auch die weitgehende Rechtssetzungsbefugnis der Organe der Europäischen Union eine Besonderheit im Vergleich zu sonstigen völkerrechtlichen Verträgen und Institutionen dar. Aufgrund der unmittelbaren Anwendbarkeit können die Bürger aus dem Unionsrecht vielfach unmittelbar einklagbare Rechte ableiten oder daraus verpflichtet werden. Insoweit handelt es sich bei dem Unionsrecht weder um eine nationale noch um eine klassi6 sche völkerrechtliche Rechtsordnung, vielmehr stellt sich das Unionsrecht als eigenständige und bislang einmalige Rechtsordnung dar, die besonderen Grundsätzen folgt. Für die Auslegung des Unionsrechts hat dies insoweit Bedeutung, als nicht allein nationale oder völkerrechtliche Grundsätze herangezogen werden können, denn sie würden der Rechtsnatur des Unionsrechts als Integrationsrechtsordnung nicht gerecht werden. Die letztlich verbindliche Auslegung des Unionsrechts ist gemäß Art. 19 Abs. 2 EUV dem Gerichtshof der Europäischen Union übertragen; das völkerrechtliche Prinzip der autonomen Vertragsinterpretation durch die Vertragsstaaten ist somit durchbrochen.

2. Rechtsnatur des intergouvernementalen Unionsrechts 7 Nachdem der Vertrag von Lissabon eine Auflösung der Säulenstruktur der Europäischen Union

bewirkt hat, ist eine intergouvernementale Zusammenarbeit nur noch für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorgesehen. Obwohl die EU auch in der GASP nunmehr bestimmte Befugnisse eingeräumt bekommen hat, sind die Mitgliedstaaten insoweit die dominanten Kompetenzträger geblieben und gestalten diesen Bereich damit in erster Linie nach völkerrechtlichen Grundsätzen. Entscheidungen der EU können hier nicht nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden, sie unterliegen dem völkerrechtlich geltenden Konsensprinzip. Auch Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 EUV bildet insoweit keine Ausnahme, da der Rekurs auf die Einstimmigkeit im Europäischen Rat auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon erhalten bleibt. Eine Verpflichtung gegen den Willen eines Mitgliedstaates ist daher hier nicht möglich.14 Der Integrationsstand in der Europäischen Union wird aber insgesamt als höher eingestuft, als der in internationalen Organisationen übliche, da alle Kompetenzfelder der Europäischen Union dem Kohärenzgebot (Art. 7 AEUV) zur Vermeidung unabgestimmter, widersprüchlicher und einander konterkarierender Maßnahmen unterliegen.15

_____ 11 12 13 14 15

EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269–1271. EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 IN.CO.GE.’90 u.a., Slg. 1998, I-6307 Rn. 18 ff. Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 131. Art. 28, 29 EUV/14, 15 EU. Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 130 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 121a.

Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

129

Für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts ist von Bedeutung, dass es, 8 anders als das supranationale Unionsrecht, keine unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit und damit auch keinen Anwendungsvorrang vor dem nationalen Recht aufweist. Demnach ist eine Berechtigung oder Verpflichtung einzelner durch das intergouvernementale Unionsrecht nicht möglich, es fehlt an der Durchgriffswirkung. Auch für das intergouvernementale Unionsrecht der GASP kann jedoch die alleinige Anwendung nationaler und völkerrechtlicher Auslegungsmethoden nicht ausreichend sein. Das intergouvernementale Unionsrecht ist zwar einer völkerrechtlichen Auslegung weit stärker zugänglich als das supranationale Unionsrecht, weil es völkerrechtliche Strukturen aufweist, gleichwohl geht es aber auch über das „Normalmaß“ völkerrechtlicher Integration hinaus. Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts ergeben sich weitere Unterschiede. Während gemäß Art. 19 EUV der Gerichtshof der Europäischen Union für die Auslegung des gesamten Unionsrechts und für die Gültigkeitskontrolle des Sekundärrechts uneingeschränkt zuständig ist, enthält der Unionsvertrag für die verbliebene intergouvernementale Zusammenarbeit der GASP einen ausdrücklichen judikativen Zuständigkeitsausschluss (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 Abs. 1 AEUV). Allein für die Abgrenzung des intergouvernementalen Unionsrechts zum supranationalen Bereich ist der EuGH nach Art. 275 Abs. 2 AEUV zuständig. Daraus folgt auch, dass eine Auslegung des intergouvernementalen – primären wie sekundären – GASP-Rechts durch den EuGH nicht möglich ist. Insoweit besitzen die Mitgliedstaaten die alleinige Auslegungszuständigkeit.16

III. Anzuwendende Methodengrundsätze im Unionsrecht Im Folgenden soll dargestellt werden, welche Methodengrundsätze im Unionsrecht Anwendung 9 finden. Aufgrund der Besonderheiten der Unionsrechtsordnung kann nicht ausschließlich auf die nationalen Methodengrundsätze zurückgegriffen werden. Vielmehr ist im Bereich des primären supranationalen Unionsrechts auf eine Kombination der nationalen und völkerrechtlichen Methodengrundsätze und im intergouvernementalen Unionsrecht, aufgrund einer tiefergehenden Integration als in anderen völkerrechtlichen Verträgen, auf angepasste völkerrechtliche Methodengrundsätze zurückzugreifen. Für das supranationale Unionsrecht ergibt sich diese Kombinationsverpflichtung nicht nur 10 aus der eigenständigen Rechtsnatur, sondern auch daraus, dass die mitgliedstaatlichen Methodengrundsätze auf den anglo-amerikanischen, romanischen und mitteleuropäischen Rechtskreis zurückgehen17 und das supranationale Unionsrecht allen drei Rechtskreisen gerecht werden muss. Die ausschließliche Anwendung einer einzelnen Methode könnte dies nicht leisten. Die alleinige Anwendung der völkerrechtlichen Methodengrundsätze würde den Besonderheiten des supranationalen Unionsrechts ebenfalls nicht gerecht werden, da deren prägende Maximen, die Souveränität der Staaten und die Gleichheit der Staaten, im Unionsrecht nur eingeschränkt Anwendung finden. Weiter ist die im Völkerrecht nur beschränkt anzuwendende dynamische Auslegung im ge- 11 samten Unionsrecht unverzichtbar. Ein Integrationsprozess, wie er für die Union vertraglich vorgesehen ist, kann ohne eine dynamische Entwicklung der entsprechenden Rechtsordnung nicht vorangetrieben werden. Insoweit bedarf es eigenständiger europäischer Methodengrund-

_____ 16 Der EuGH ist im Bereich der gemischten Abkommen lediglich für die Auslegung der durch die Europäische Union übernommenen Verpflichtungen zuständig und damit für die Auslegung der anwendbaren völkerrechtlichen Normen, EuGH v. 8.3.2011 – Rs. C-240/09 Lesoochranárske zoskupenie, Slg. 2011, I-1255 Rn. 30, 31. 17 Vgl. dazu: Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 91–129. Pechstein/Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

sätze,18 welche sich zwar an den nationalen und völkerrechtlichen orientieren können, allerdings an die Rechtsnatur des Unionsrechts angepasst werden müssen. Als Ausgangspunkt für die Auslegung des Unionsrecht wird, wie in der völkerrechtlichen 12 Methode und den nationalen Methoden, der Wortlaut einer auszulegenden Norm angesehen.19 Für das Unionsrecht ergeben sich hinsichtlich seiner Struktur und Natur unterschiedliche Gewichtungen in den anderen Auslegungsmethoden. So wird für das intergouvernementale Unionsrecht eine engere Bindung an das Völkerrecht angenommen. Daraus folgend finden auch die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden aus Art. 31 ff. WVK Anwendung. Anders als dies für das intergouvernementale Unionsrecht zu beurteilen ist, sieht der EuGH das supranationale Unionsrecht nicht als Völkerrecht, sondern als autonome „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“20 an, so dass auch die völkerrechtlichen Auslegungsregelungen nicht zwingend auf diesen Teil des Unionsrechts angewendet werden müssen bzw. können. Insbesondere Grundsätze wie die Respektierung der staatlichen Souveränität und damit die enge Auslegung staatlicher Verpflichtungen bei der Interpretation der entsprechenden Normen oder die Auslegung aufgrund einer späteren Übung bei der Anwendung des Vertrages (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK) können für die Auslegung des supranationalen Unionsrechts nicht fruchtbar gemacht werden.21 Vielmehr werden angepasste mitgliedstaatliche Auslegungsmethoden angewandt22 und eigene methodische Anforderungen gestellt.23 Die Unionsorgane und die Mitgliedstaaten sind ausschließlich an die Verträge gebunden, insoweit kann eine nachträgliche Übung der Mitgliedstaaten nicht zur Interpretation des Vertragstextes herangezogen werden.

IV. Auslegungsmethoden im supranationalen Unionsrecht 13 In der Anwendung der unterschiedlichen Methodengrundsätze ist nicht nur zwischen suprana-

tionalem und intergouvernementalem Unionsrecht zu unterscheiden, sondern im Bereich des supranationalen Unionsrechts auch zwischen Primärrecht und Sekundärrecht. Der Gerichtshof wendet insoweit keine einheitlichen Auslegungsmethoden an. Zum Sekundärrecht sollen hier indes nur kurze notwendige Parallelen gezogen werden.24 Dabei wendet der Gerichtshof bei der Auslegung des Primärrechts eher objektive und bei der Auslegung des Sekundärrechts verstärkt subjektive Auslegungsmethoden an.25 Eine primärrechtskonforme Auslegung des supranationalen Unionsrechts ist auch nur bei untergeordnetem Recht möglich.26 Da das supranationale und intergouvernementale Unionsrecht in keinem Rangverhältnis zueinander stehen, scheidet eine Auslegung des supranationalen Unionsrechts am Maßstab des intergouvernementalen Unionsrechts ebenso aus wie eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts am Maßstab des supranationalen Unionsrechts. Weiterhin findet eine historische Auslegung des Unionsrechts nur in sehr engen Grenzen statt, da die hierfür relevanten Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen weiterhin nicht zugänglich sind und nach mittlerweile über 50-jähriger Geltung der Verträge

_____ 18 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 136 mwN. 19 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 137. 20 EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, Slg. 1963, 1, 25. 21 Schwarze-Schwarze, Art. 19 EUV Rn. 36. 22 Schwarze-Schwarze, Art. 19 EUV Rn. 36. 23 Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 20. 24 Eingehend Riesenuber, in diesem Band, § 10. 25 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1178, Gärditz, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union (3. Aufl. 2014), § 34 Rn. 58. 26 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Zoi Chatzi ./. Ypourgos Oikonomikon, Slg. 2010, I-8489 Rn. 43; dazu näher Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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auch notwendigerweise gegenüber den aktuellen Integrationsfragen in den Hintergrund treten müssten. Demnach sind bei der Auslegung des supranationalen Unionsprimärrechts die historische Auslegung und die Auslegung anhand höherrangigen Rechts unerheblich. Anwendung finden in erster Linie die systematische und teleologische Auslegungsmethode.

1. Stellung des EuGH im Rahmen von Auslegungsfragen Für das Recht der Europäischen Union besteht gemäß Art. 19 EUV seit dem Inkrafttreten des Ver- 14 trages von Lissabon eine obligatorische und weitgehend umfassende Zuständigkeit des EuGH.27 Der EU-Vertrag führt für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in Art. 275 AEUV eine abschließende Regelung für die Zuständigkeit des Gerichtshofes auf. Danach wird dieser auch weiterhin keine Entscheidungen in diesem Bereich treffen, Art. 275 Abs. 1 AEUV. Eine Zuständigkeit bleibt jedoch in den Fällen des Art. 275 Abs. 2 AEUV für die Zuständigkeitsabgrenzung erhalten. Der EuGH ist gemäß Art. 251 EUV für das gesamte supranationale Unionsrecht zuständig,28 er proklamiert für sich selbst insoweit eine letztinstanzliche Auslegungsbefugnis. Zusätzlich erklärte der Gerichthof sich zuständig für die Auslegung Gemischter Abkommen, soweit die Teilbereiche betroffen sind, die in die Zuständigkeit der Europäischen Union fallen29 und die Auslegung von Sitzabkommen.30 Wie allerdings der Begriff der Auslegung zu verstehen ist, insbesondere wie weit die Auslegung gehen darf, ist von ihm bislang nicht entschieden worden. Der Gerichtshof stellte bis jetzt nur das Ziel der Auslegung dar.31 In der Rechtssache Denkavit Italiana hat er ausgeführt: „[Durch die Auslegung] soll erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht werden …, in welchem Sinn und Tragweite die betroffene Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.32 Die Wahrung des Rechts bei der Auslegung der Verträge soll der EuGH nach Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV nicht einseitig zugunsten der Union vornehmen, sondern auch zum Schutz der Mitgliedstaaten.33 Neben dem EuGH sind aber auch unterinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte und mit- 15 gliedstaatliche Verwaltungsbehörden berechtigt, das primäre und sekundäre supranationale Unionsrecht verbindlich auszulegen. Dies folgt aus der fehlenden Pflicht dieser Gerichte und Behörden, Zweifelsfragen aus dem Unionsrecht dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorzulegen.34 Sie sind verpflichtet, unmittelbar anwendbares Unionsrecht unter Berücksichtigung des Anwendungsvorrangs anzuwenden. Unbestimmte Rechtsbegriffe müssen also täglich durch fast alle mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte ausgelegt werden. Dem EuGH kommt nur eine Art „letztinstanzliche Auslegungskontrolle“ zu.

_____ 27 Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473, 478. 28 A.A. v.d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 220 EG Rn. 2, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung berücksichtigt wissen will. 29 EuGH v. 7.10.2004 – Rs. C-239/03 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2004, I-9325 Rn. 25, 29 – Etang de Berre. 30 EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-62/11 Feyerbach, Rn. 33 f. 31 Vranes, EuR 2009, 44, 66. 32 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 33 So auch Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, S. 2. 34 So auch Schroeder, JuS 2004, 180, 181. Pechstein/Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

2. Einzelne Auslegungsmethoden 16 Im Folgenden werden die einzelnen Auslegungsmethoden vor- und deren Anwendung durch

den Gerichtshof der Europäischen Union dargestellt. Dabei wird in erster Linie auf die teleologische und die systematische Auslegungsmethode eingegangen, weil diese beiden Methoden die weitgehendsten Folgen für die Auslegung der supranationalen unionsrechtlichen Normen aufweisen.

a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung 17 Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der im einschlägigen Gesetzesblatt veröffentlichte Wortlaut

der Norm. Mit der grammatikalischen Auslegung wird der allgemeine Sprachgebrauch erforscht und hinterfragt.35 Aus diesem allgemeinen Sprachgebrauch wird der mögliche Wortsinn und der Bedeutungsgehalt einer Norm ermittelt. Dieser Wortsinn und Bedeutungsgehalt wird sodann in die juristische Fachsprache „übersetzt“. Im Unionsrecht besteht jedoch das Problem, dass die Normen in mehreren Sprachen abgefasst sind und in allen Sprachfassungen verbindlich sind (Art. 55 EUV).36 In der Praxis führen die unterschiedlichen Sprachfassungen des Primärrechts zu besonde18 ren Schwierigkeiten. Jede dieser verbindlichen Sprachfassungen der Norm enthält Rechtsbegriffe aus den nationalen Rechtsordnungen. Diese weichen aufgrund der unterschiedlichen Entwicklungen der Rechtsbegriffe jedoch nicht unerheblich voneinander ab.37 Der Gerichtshof hat daher zwar entschieden, dass auch im Bereich des primären Unionsrechts der Wortlaut einer Norm für die Auslegung die maßgebliche Rolle spielt,38 geht aber auch davon aus, dass jeder einzelne Rechtsbegriff in einem unionsautonomen Sinne zu interpretieren ist.39 Dies bedeutet, dass ein verbindlicher Rückgriff auf vergleichbare mitgliedstaatliche Rechtsbegriffe nicht vorgenommen wird.40 Auch Verweisungen auf einzelne nationale Normen oder Begriffe werden vermieden, da eine einheitliche Geltung des Unionsrechts geboten ist.41 In diesen Fällen definiert der Gerichtshof den Inhalt der einzelnen Begriffe in „apodiktischer Form“42 und demnach in einer Form der Rechtsschöpfung. Die Anwendung bestimmter Auslegungsmethoden ist hier selten erkennbar.43 Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass Rechtsbegriffe im Unionsrecht und im nationalen Recht deutlich unterschiedlichen Gehalt erlangen können.44 Eine solche unionsweit einheitliche Auslegung der Rechtsbegriffe ist jedoch geboten, da eine einheitliche Anwendung des Unionsrechts ansonsten nicht gewährleistet werden kann. Jeder Mitgliedstaat könnte für sich selbst festlegen, wie ein Begriff auszulegen ist und so dem Vorrang des supranationalen Unionsrechts seine Bedeutung nehmen. Aufgrund dieses Erfordernisses der unionsautonomen Begriffsauslegung präzisierte der Ge19 richtshof für die Wortlautauslegung seine Auslegungsmethode dahingehend, dass er zunächst

_____ 35 Zippelius, Methodenlehre, S. 43. 36 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18. 37 v. Danwitz, EuR 2008, 769, 780. 38 EuGH v. 22.10.2013 – verb. Rs. C-105/12 bis C-107/12 Essent Nederland BV u.a., Rn. 65. 39 EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 EGKO ./. Produktschap, Slg. 1984, 107 Rn. 11. Zur Frage einer unionsautonomen Auslegung des Sekundärrechts s. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4–7. 40 EuGH v. 22.11.1977 – Rs. 43/77 Industrial Diamond Supplies ./. Riva, Slg. 1977, 2175 Rn. 15 ff.; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 The Queen ./. Commissioners of Customs and Excise, Slg. 1998, I-1605 Rn. 30 – EMU Tabac u.a. 41 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 60. 42 Bleckmann, NJW 1982, 1177. 43 Bleckmann, NJW 1982, 1177. 44 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 19. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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verschiedene Sprachfassungen vergleicht45 und bei sich widersprechenden bzw. widerstreitenden Sprachfassungen, nicht einer Sprachfassung den Vorzug gibt. Der Gerichtshof wendet bei der Bedeutungserkundung kein „Mehrheitsprinzip“ an. Er geht zwar von den einzelnen nationalen Bedeutungen der Rechtsbegriffe aus, wendet aber nicht automatisch diejenige an, welche die meiste Verbreitung in den nationalen Rechtsordnungen gefunden hat.46 Als Ansatzpunkt mag die Bedeutung in den nationalen Rechtsordnungen ausreichen, für die endgültige Bestimmung des Inhalts der Norm werden dann aber die systematische und die teleologische Auslegungsmethode herangezogen.47 Dies bedeutet, dass der allgemeine Aufbau und der Zweck der Regelung zu berücksichtigen sind.48 Beispielhaft für eine unionsautonome Auslegung ist die Auslegung des Begriffs „öffentliche 20 Verwaltung“ in Art. 45 Abs. 4 AEUV. Die „öffentliche Verwaltung“ unterliegt als Ausnahme von der Regel nicht den Grundsätzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ ist im deutschen öffentlichen Dienstrecht sehr weit zu verstehen, während er im Unionsrecht sehr eng ausgelegt wird. Unionsrechtlich gehören nur solche Arbeitnehmer der „öffentlichen Verwaltung“ im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV an, die „eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die deshalb ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“.49 Dies bedeutet, dass auch das deutsche Beamtenrecht für EU-Staatsangehörige geöffnet werden musste, da keineswegs alle Beamtenstellungen diesen Kriterien genügen. Demnach ist der Begriff der „öffentlichen Verwaltung“ im Unionsrecht wesentlich enger zu verstehen als im deutschen Recht. Es handelt sich um eine unionsautonome Auslegung eines auch national bekannten Rechtsbegriffs. Gleiches gilt in vielen anderen Fällen, etwa hinsichtlich des Begriffs der „öffentlichen Sicherheit“ in Art. 36 AEUV, Art. 45 Abs. 3 AEUV und Art. 52 AEUV und dem entsprechenden Begriff des deutschen Polizeirechts oder bezüglich des Begriffs der „juristischen Person“ in Art. 263 Abs. 4 AEUV. Die Gleichrangigkeit aller Sprachfassungen wird bei der Rechtsfindung durchbrochen. In- 21 terpretiert der Gerichtshof unbestimmte Rechtsbegriffe nicht unionsautonom, sondern berücksichtigt die Sprachfassungen, so greift er nur auf einige wenige Sprachfassungen, wie die französische, englische und deutsche zurück.50 Dies ist insbesondere der alleinigen internen Arbeitssprache – französisch – des Gerichtshofes geschuldet.51

b) Systematische Auslegung Mit der systematischen Auslegung wird die Funktion einer Norm im gesamten Normgefüge er- 22 forscht.52 Im Zusammenhang mit anderen Normen oder dem gesamten Gesetzestext wird die ent-

_____ 45 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels ./. Bedrijfsvereniging voor de Metaalindustrie en de Electrotechnische Industrie, Slg. 1985, 469 Rn. 11. 46 EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 Van Landschoot ./. Mera, Slg. 1988, 3443 Rn. 18; EuGH v. 24.5.1988 – Rs. 122/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1988, 2685 Rn. 10, 11. 47 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 28. 48 EuGH v. 12.11.1998 – Rs. C-149/97 Institute of the Motor Industry ./. Kommission, Slg. 1998, I-7053 Rn. 16. 49 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1986, 2121 Rn. 27. 50 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. 51 Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 509. Anders hingegen Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 12. 52 Zippelius, Methodenlehre, S. 43. Pechstein/Drechsler

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sprechende Norm auf ihren Rechtsgedanken hin untersucht. Diese Auslegungsmethode geht davon aus, dass alle Rechtsnormen eines Vertragswerkes in einer Beziehung zueinander stehen. Ihnen kommt je eine eigene Bedeutung zu, die allerdings erst in einer umfassenden Betrachtung ihren endgültigen Gehalt bekommt.53 So sind bei der Auslegung einer Norm die Überschrift unter der sie zu finden ist, ihr Stand im gesamten Normgefüge und ihre eigene Funktion für das Vertragswerk zu berücksichtigen. Der Gerichtshof geht dabei von einer rationalen Gesetzesstruktur mit einem ihr innewohnenden Regel-Ausnahme-Verhältnis,54 einem allgemeinen und einem besonderen Teil im gesamten Vertrag55 und einer Systematik der Überschriftenbildung56 aus. Dabei sollen einzelne Vorschriften innerhalb eines Kapitels aufeinander Bezug nehmen, der jeweils erste Artikel eines Kapitels von grundlegender Bedeutung sein und die folgenden Artikel ausschließlich der Präzisierung des ersten Artikels dienen.57 Er nimmt für die Inhaltsbestimmung einer Norm demnach auch auf die dieser Norm vorangestellten Gesetzesabschnitte Bezug. So sind alle auf die Grundsätze – Erster Teil des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – folgenden Normen im Hinblick auf diese Grundsätze hin auszulegen. Als Beispiel kann die Bestimmung des Inhalts der Dienstleistungsfreiheit herangezogen werden. Sie wird durch den Gerichtshof in einer Negativabgrenzung zu den bereits aufgeführten Grundfreiheiten, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit definiert.58 Nur bei dieser Auslegung kommt der Dienstleistungsfreiheit eine eigenständige Funktion zu und deckt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit den gesamten denkbaren Personenverkehr ab. Würde die Dienstleistungsfreiheit fehlen, könnte ein Teil des Personenverkehrs nicht unter die Regelungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union subsumiert werden. Das Gefüge ist also nur mit dieser Norm vollständig und aus dieser Überlegung heraus erhält sie ihren Inhalt. Weiterhin lässt sich an diesem Bespiel auch das Regel-AusnahmeVerhältnis darstellen. Der Gerichtshof geht mit der systematischen Auslegung auch davon aus, dass im Vertrag grundsätzlich erst die Regel dargestellt wird, hinsichtlich der Dienstleistungsverkehrs also ihr Anwendungsbereich, und dann die Ausnahme, also die Ausgrenzung des Anwendungsbereiches hinsichtlich der öffentlichen Verwaltung in Art. 45 Abs. 4 AEUV. Ähnlich ging der Gerichtshof in der Rechtssache AETR59 vor. Er verwies darin ausdrücklich auf die Systematik des früheren Gemeinschaftsrechts und kam zu dem Schluss, dass für die Bestimmung der Gemeinschaftszuständigkeit zum Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten auf „das allgemeine System des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Beziehungen zu dritten Staaten zurückgegriffen werden“ muss.60 Es fanden sich im EG-Vertrag zwar Regelungen zum Abschluss von Abkommen mit Drittstaaten und Kompetenzregelungen, diese mussten aber in das gesamte Gefüge des Vertrages eingebunden werden. Jeder Norm soll eine eigene Bedeutung zukommen, demnach ist der Bedeutungsgehalt einer Norm auch ihrem Stand im Vertrag entsprechend zu interpretieren. Die systematische Auslegung des Unionsrechts findet jedoch ihre Grenzen61 in den dem Vertrag zugrundeliegenden Leitlinien und Grundsätzen. So weicht der Gerichtshof teilweise zuguns-

_____ 53 v. Danwitz, EuR 2008, 769, 782. 54 EuGH v. 27.6.1991 – Rs. C-351/89 Overseas Union Insurance u.a. ./. New Hampshire Insurance Company, Slg. 1991, I-3317 Rn. 16; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, Rn. 41. 55 EuGH v. 23.2.1988 – Rs. 68/86 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1988, 855 Rn. 13. 56 EuGH v. 22.9.1988 – Rs. 187/87 Saarland u.a. ./. Minister für Industrie, Slg. 1988, 5013 Rn. 11. 57 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 179. 58 EuGH v. 30.4.1974 – Rs. 155/73 Sacchi, Slg. 1974, 409 Rn. 7/8. 59 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 – AETR. 60 EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 12 – AETR. 61 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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ten der Rechtsgrundsätze effet utile und implied powers von einer bestehenden Systematik ab. Trotzdem kommt der systematischen Auslegung große Bedeutung für die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu, da sie ausschließlich auf den Vertrag und seine Struktur eingeht, also auf unionsrechtliche Bedingungen ohne nationale Einflüsse.

c) Teleologische Auslegung Der teleologischen Auslegungsmethode gemäß ist eine Norm nach dem mit ihr verfolgten Zweck 27 zu interpretieren. Demnach ist diese Auslegungsmethode auf die Verwirklichung der Vertragsziele der Union gerichtet.62 Sie wird vom Gerichtshof häufig angewendet, da andere Auslegungsmethoden aufgrund der unterschiedlichen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Bedeutung von Rechtsbegriffen z.T. nur beschränkt Aufschluss über die Normen und deren gewollten Inhalt geben können. Der Gerichtshof interpretiert die Normen des Unionsrechts in erster Linie im Hinblick auf die Vertragsziele der Union.63 Damit soll die Funktionsfähigkeit der Union gesichert werden. Ausdruck der Anwendung der teleologischen Auslegungsmethode in den Urteilen des Gerichtshofs ist die generell enge Auslegung von Ausnahmen im Unionsrecht und die Anwendung der in den Grundsatzbestimmungen von EUV und AEUV normierten allgemeinen Rechtsgrundsätze.64 Der Gerichtshof geht dabei auch davon aus, dass jede Norm so angelegt ist, dass sie ihr Ziel auch verwirklichen kann.65 Für eine teleologische Auslegung sind neben dem Ziel und Zweck der Norm die Sachgemäß- 28 heit der Regelung und die Verwirklichung des objektiven Zwecks des Rechts ausschlaggebend. Um die Ziele des Vertrages zu bestimmen, zog der Gerichtshof in erster Linie die Positivliste der zu regelnden Politikbereiche des Art. 3 EG heran. Auf Art. 2 EG und dessen Aufgabenaufzählung griff der Gerichtshof dagegen nur sehr selten zurück. Dies ist wohl der sehr weiten und undeutlichen Formulierung dieses Artikels geschuldet, konkrete Ziele ließen sich nur schwer herauslesen.66 Das tragende Ziel der Gemeinschaft war die Herstellung und der Ausbau eines gemeinsamen Marktes, demnach lag hier auch der Tätigkeitsschwerpunkt der Gemeinschaft und ihrer Organe. Von diesem Ziel war die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof geprägt. Soweit Art. 2 und 3 EG für die Auslegung herangezogen wurden, wurde der unverfälschte Wettbewerb als wichtigstes Ziel angesehen. Mit den Änderungen aufgrund des Vertrages von Lissabon bleibt dem Gerichtshof diese Möglichkeit der differenzierten Betrachtung nicht mehr. Entsprechend der Idee des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union beinhalten die neu gefassten Art. 1–17 AEUV die Grundsätze und Zuständigkeiten der Europäischen Union. Es ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof in seinen Entscheidungen künftig insbesondere neben der Zielbestimmung des Art. 2 EUV auch den Zuständigkeitskatalog in Bezug nehmen wird. Kritisch werden in der Literatur in diesem Zusammenhang die sehr weit und umfassend gefassten Ziele im AEUV gesehen, die insoweit dem EuGH ein nahezu endloses Entscheidungsfeld einräumen.67 Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang auch Querschnittsziele. Diese im AEUV 29 aufgeführten Querschnittsziele sichern die Interessen der Mitgliedstaaten. Sie finden sich in erster

_____ 62 Schwarze-Schwarze, Art. 19 EUV Rn. 36. 63 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 64 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 56. 65 EuGH v. 29.11.1956 – Rs. 8/55 Fédération Charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde, Slg. 1956, 291, 311. 66 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 204. 67 Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, S. 4 spricht von fehlenden Spielregeln mit denen „virtuos jongliert werden kann“.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Linie in Politikbereichen, welche Ausdruck staatlicher Souveränität sind,68 z.B. in der Kulturpolitik Art. 167 Abs. 4 AEUV, der Gesundheitspolitik Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV und dem Verbraucherschutz Art. 169 Abs. 2 AEUV. Der Gerichthof bewertet die Querschnittsziele als integrativen Bestandteil aller Politikbereiche des Vertrages. So kommt er dann auch zu dem zwingenden Ergebnis, dass Maßnahmen der Unionsorgane, wenn sie auf die Erreichung von Querschnittszielen und anderen Politikzielen gerichtet sind, nicht auf die Querschnittszielklausel als Rechtsgrundlage gestützt werden müssen. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn die Querschnittsziele im Verhältnis zu den anderen Zielen der Maßnahmen nicht vorrangig sind.69 Neben der Orientierung an den Zielen des Vertrages hat der Gerichtshof die auszulegende 30 Norm auch einer Funktionsanalyse unterzogen. Dabei bestimmte der Gerichtshof die Funktion der auszulegenden Norm im Gesamtgefüge des Vertrages. Zu berücksichtigen sind eine sinnvolle, bestimmungsgemäße und widerspruchsfreie Anwendung der Norm.70 So kann für die Berechnung von Zwangsgeldern keine den jeweiligen Staat wirtschaftlich gefährdende, überhöhte Forderung gestellt werden. Dies würde dem Sinn und Zweck des Vertrages zuwiderlaufen, da eine gemeinsame wirtschaftliche Funktionsfähigkeit erhalten bleiben soll. Da der Gerichtshof davon ausgeht, dass jeder Norm eine eigene Bestimmung und Funktion zukommt, muss sie so ausgelegt werden, dass sie ihr Ziel auch verwirklichen kann. Insoweit wendet der Gerichtshof für die Bestimmung der Sachgemäßheit einer supranationalen Unionsrechtsnorm den Rechtsgrundsatz des effet utile an. Den einzelnen Normen ist im Hinblick auf die Vertragsziele zu praktischer Wirksamkeit zu verhelfen.71 So hat der Gerichtshof „im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts“72 unter anderem den Begriff des „Gerichts“ in Art. 177 EWG (nunmehr: Art. 267 AEUV) dahingehend ausgelegt, dass auch ein Streitsachenausschuss einer Berufsorganisation als ein solches anzusehen ist. Zusätzlich zu berücksichtigen sind auch Kollisionsregelungen. Mit diesen kann der Versuch 31 unternommen werden, eine fehlende Trennschärfe in den Zuständigkeitsbereichen zwischen Union und Mitgliedstaaten aufzulösen. Das Sekundärrecht steht im Rang unter dem Primärrecht.73 Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge allein über die Entstehung von primärem Unionsrecht entscheiden. Die einzelnen Rechtsakte des Primärrechts stehen nicht in einem Rangverhältnis, es wird auch nicht zwischen wichtigem und unwichtigem Primärrecht unterschieden.74 Allerdings ist der AEUV in vielerlei Hinsicht spezieller als der EUV, so dass der zwischen gleichrangigen Normen anwendbare lex specialis-Grundsatz insoweit auch gilt.75 Kollisionen bzw. Wertungswidersprüche sind darüber hinaus nach dem Prinzip der praktischen Konkordanz aufzulösen. 32 Für die teleologische Auslegungsmethode sind bei der Auslegung des Sekundärrechts teilweise andere Ansatzpunkte heranzuziehen als im Primärrecht. Anders als im primären Unionsrecht werden im Bereich des sekundären Unionsrechts die Begründungserwägungen des jeweiligen Rechtsaktes für die teleologische Auslegung berücksichtigt. Begründungserwägungen zählen nicht zur Entstehungsgeschichte der Norm und fallen demnach auch nicht in den Bereich

_____ 68 Drechsler, Europäische Förderung audiovisueller Medien zwischen Welthandel und Anspruch auf kulturelle Vielfalt (2009), S. 132. 69 EuGH v. 11.1.2006 – Rs. C-94/03 Kommission ./. Rat, Slg. 2006, 1 Rn. 34, 35. 70 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 207. 71 Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 15; Potacs, EuR 2009, S. 465 ff. 72 EuGH v. 6.10.1981 – Rs. 246/80 Broekmeulen ./. Huisarts Registratie Commissie, Slg. 1981, 2311 Rn. 16. 73 Nettesheim, EuR 2006, 737, 740. 74 Nettesheim, EuR 2006, 737, 740. 75 Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 370. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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der historischen Auslegungsmethode. Sie sind Bestandteil des Rechtsaktes und sollen Aufschluss über die mit dem Rechtsakt verfolgten Ziele geben.76

d) Historische Auslegung Die historischen Auslegungsmethoden gehen von der geschichtlichen Entwicklung einer Rechts- 33 norm aus, dabei werden frühere ähnliche Gesetze und die Änderung solcher Normen berücksichtigt.77 Sowohl die subjektiv-historische als auch die objektiv-historische Auslegungsmethode haben für die Auslegung des Unionsrechts nur eine geringe Bedeutung.78 Dies zeigt auch eine Untersuchung, welche die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden für die veröffentlichten Entscheidungen des Jahres 1999 ermittelte.79 Mit der subjektiv-historischen Auslegungsmethode soll der wahre Wille des historischen Gesetzgebers erforscht werden, während mit der objektiv-historischen Methode die Funktion der Norm im Zeitpunkt ihres Erlasses ergründet werden soll.80 Für eine historische Auslegung des Unionsrechts ist schon deshalb kaum Raum, da Verhandlungsprotokolle bzw. Entstehungsdokumente zu den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft und Europäischen Union nicht zugänglich sind.81 Teilweise wurde in den Klagebegründungen von Seiten der Mitgliedstaaten auf die amtlichen Begründungen und Erläuterungen der mitgliedstaatlichen Regierungen und Parlamente zu den Verträgen Bezug genommen. Diese Bezugnahme hat der Gerichtshof jedoch stets ignoriert.82 Viele der Normen des Unionsrechts sind auch geprägt von politischen Entscheidungen und Kompromissen bei den Vertragsverhandlungen. Eine historische Auslegung unterläge insoweit auch politischen Zwängen und der Suche nach politischen Kompromissen, überdies dürften sich die Interessen der Mitgliedsstaaten seither vielfach geändert haben. So würde dem Ziel einer zukunftsorientierten europäischen Integration eine Orientierung an der Vergangenheit daher widersprechen und die Dynamik des Unionsrechts einschränken.83 Im Wesentlichen hat der EuGH für eine Auslegung mit Blick auf die Entstehung der Verträge 34 auf die Begründungserwägungen in den Präambeln der Verträge Bezug genommen. Sie geben die Grundanschauungen und Motive der Vertragsparteien bei Abschluss der Verträge wieder.84 Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon wendet der EuGH jedoch die historische Auslegungsmethode häufiger an.85 Dies liegt im wesentlichen daran, dass zu den neuen Unionsverträgen Begründungen und Vorarbeiten einsehbar sind und entsprechend ausgewertet werden können. Auch für die Auslegung von Sekundärrecht hat die historische Auslegung kaum Bedeu- 35 tung.86 Sie wäre zwar faktisch möglich, da die Entwurfsprotokolle für Sekundärrechtsakte einsehbar sind.87 Der Gerichtshof berücksichtigt jedoch für seine Entscheidungen keine Dokumente,

_____ 76 Anders Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 35, 38. 77 Zippelius, Methodenlehre, S. 44. 78 A.A. Leisner, EuR 2007, 689, 702. 79 Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 118. 80 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 143. 81 Lecheler, Einführung in das Europarecht (2. Aufl. 2003), S. 141 (sub § 5 IV 2b). 82 EuGH v. 16.12.1960 – Rs. 6/60 Humblet ./. Belgischen Staat, Slg. 1960, 1163, 1194; EuGH v. 18.2.1970 – Rs. 38/69 Kommission ./. Italien, Slg. 1970, 47 Rn. 12, 13. 83 Schwarze-Schwarze, Art. 19 EUV Rn. 37. 84 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Hilf/Terhechte, Präambel EUV Rn. 6. 85 EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 Pringle, Rn. 135–137; EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami, Rn. 59. 86 Anders Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 32. 87 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-17/96 Badische Erfrischungs-Getränke ./. Land Baden-Württemberg, Slg. 1997, I-4617 Rn. 16.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

welche als Erklärungen im Rat zu Protokoll gegeben wurden, „wenn sie in den Rechtsvorschriften keinen Ausdruck gefunden haben.“88 Dies folgt aus dem Gedanken der Rechtssicherheit, da bis zum Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags die Protokollerklärungen zu Abstimmungen im Rat nicht veröffentlicht wurden. Seither sind diese Erklärungen zu veröffentlichen, insoweit könnte zukünftig die historische Auslegung an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig nimmt der Gerichtshof zwar Rückgriff auf die Begründungserwägungen zu den Rechtsakten, dies aber in erster Linie um den Sinn und Zweck der Vorschriften zu erforschen.89

e) Rechtsvergleichende Methode 36 Die rechtsvergleichende Methode kann grundsätzlich nur als ergänzende Methode angewandt

werden.90 Ihr kommt demnach auch nur eine untergeordnete Rolle zu. Wie bereits dargestellt, interpretiert der Gerichtshof Rechtsbegriffe unionsautonom. Dies bedeutet im Ergebnis auch, dass die einzelnen verbindlichen Sprachfassungen miteinander verglichen werden. Aus diesem Vergleich filtert der Gerichtshof einzelne Übereinstimmungen heraus und stellt sie mit Sinn und Zweck der entsprechenden Vorschrift in Zusammenhang. Insoweit handelt es sich zwar methodisch nicht wirklich um eine Rechtsvergleichung, aber um eine Inhalts- und Sinnvergleichung, die zu einer Rechtsvergleichung führen kann. 37 Rechtsvergleichung wird nur insoweit unternommen, als geltendes Recht in unterschiedlichen Staaten und im Völkerrecht verglichen wird. Dabei handelt es sich aber nicht um den Vergleich einzelner Rechtsbegriffe, sondern um den Vergleich verschiedener Rechtsordnungen und -systematiken. Demnach muss einer Rechtsvergleichung grundsätzlich die Ermittlung fremden Rechts vorausgehen. Die Ermittlung des nationalen mitgliedstaatlichen Rechts führte im Ergebnis zu einem Vergleich der nationalen Rechtssätze, aus denen der Gerichtshof allgemeine Rechtsgrundsätze des Unionsrechts entwickelt.91 Die wohl wichtigsten Entscheidungen des EuGH, welche durch eine rechtsvergleichende 38 Auslegung geprägt sind, sind die Entscheidungen zu einem „gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch“. 92 In keiner Vertragsbestimmung ist ein solcher Staatshaftungsanspruch gegen die Mitgliedstaaten vorgesehen. Der EuGH weist insoweit jedoch auf den Grundsatz des effet utile hin sowie darauf, dass eine Handhabe Privater gegen einen die Unionsrechtsnormen verletzenden Mitgliedstaat bestehen muss, da die Rechtsordnung ansonsten gravierende Lücken aufweisen würde. Nur mit einem solchen Staatshaftungsanspruch kann das Unionsrecht umfassende Geltung und Wirksamkeit erlangen. Der Gerichtshof verweist für das Bestehen eines solchen Staatshaftungsanspruchs auf das grundsätzliche – nicht notwendig das legislative Unrecht erfassende – Bestehen von Staatshaftungsansprüchen in den einzelnen Mitgliedstaaten und das Bestehen solcher Ansprüche im Völkerrecht.93 Auch die EMRK geht in Art. 41 EMRK von der Verpflichtung zur Wiedergutmachung aus, wenn ein Staat gegen zwingende Normen der EMRK verstößt und dabei kausal einen Schaden verursacht. Der EuGH verbindet hier also einen rechtsvergleichenden Ansatz mit einer teleologischen Erwägung.

_____ 88 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit Internationaal u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 29. 89 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 148. 90 Eingehend zum Sekundärrecht Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 22 ff. 91 Bleckmann, Europarecht, Rn. 78 ff. 92 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-535; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029. 93 EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 29 ff.

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§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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Auch andere Rechtsgrundsätze, wie Treu und Glauben und den Grundsatz des rechtlichen 39 Gehörs hat der Gerichtshof aus dem Vergleich der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hergeleitet.

3. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander Hinsichtlich des Rangverhältnisses der einzelnen anwendbaren Auslegungsmethoden ergibt 40 sich aus dem primären Unionsrecht keine Regelung. Daher ist davon auszugehen, dass auch kein Rangverhältnis zwischen den Auslegungsmethoden besteht.94 Auch den Urteilen des EuGH ist ein entsprechendes Rangverhältnis nicht zu entnehmen. Vielmehr stehen die klassischen Auslegungsmethoden gleichberechtigt nebeneinander und werden vom Gerichtshof miteinander kombiniert und verknüpft. Wie bereits erwähnt, finden die historische, die grammatikalische und die rechtsvergleichende Auslegung aufgrund der Besonderheiten des Unionsrechts jedoch nur sehr eingeschränkte Anwendung.95 Insbesondere die systematische und die teleologische Auslegungsmethode werden vom Gerichtshof in den meisten Fällen kombiniert, um die gefundenen Ergebnisse gegeneinander abzuwägen und ihre Plausibilität zu unterstützen. Eine trennscharfe Abgrenzung ist daher auch nicht immer möglich. Bezüglich des fehlenden Rangverhältnisses bildet das Urteil in der Rechtssache Continental Can eine die Regel 41 bestätigende Ausnahme. Darin räumt der Gerichtshof der teleologischen Auslegungsmethode zumindest vor der grammatikalischen Auslegung den Vorrang ein. Der Gerichtshof stellte in diesem Urteil die Vertragsziele des damaligen Art. 3 EWG über den Wortlaut des Art. 86 EWG.96

V. Auslegungsmethoden im intergouvernementalen Unionsrecht Für die Methoden zur Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts im Rahmen der Ge- 42 meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ergeben sich ungleich größere Schwierigkeiten, will man diese der Rechtsprechung des Gerichtshofes entnehmen. In diesem Bereich besitzt der Gerichtshof auch nach Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nur eine sehr eingeschränkte Kompetenz für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten. Der EuGH kann nach Art. 275 Abs. 1 AEUV im Bereich der GASP überhaupt nicht tätig werden; dies entspricht auch der früheren Rechtslage. Dementsprechend liegen auch kaum einschlägige Urteile vor, denen bezüglich der Interpretationsmethoden auch nichts zu entnehmen ist.97 Ein Rückgriff auf die Auslegungsmethoden des supranationalen Unionsrechts wäre dabei jedenfalls insoweit unzulässig, als damit auf die Besonderheiten des supranationalen Unionsrechts abgestellt wird (effet utile). Eine andere Interpretation würde den Vertragsbestimmungen des Unionsvertrages und dem Willen der Vertragsparteien widersprechen.98

_____ 94 Leisner, EuR 2007, 689, 706. 95 A.A. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 66. Die Autorin hat die Häufigkeit der angewandten Auslegungsmethoden durch den EuGH für die im Jahre 1999 ergangenen Entscheidungen statistisch ermittelt und kommt zu dem Ergebnis, dass die grammatikalische Auslegungsmethode von den klassischen Auslegungsmethoden am häufigsten angewandt wurde. 96 EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage Corporation and Continental Can Company ./. Kommission, Slg. 1973, 215 Rn. 22. 97 Vgl. EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-469/03 Miraglia, Slg. 2005, I-2009; EuGH v. 11.2.2003 – verb. Rs. C-187/01 und C-385/01 Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345; EuGH v. 7.4.1995 – Rs. C-167/94 Grau Gomis, Slg. 1995, I-1023. 98 Dazu siehe ausführlich: Pechstein/Koenig, Die Europäische Union, Rn. 50 ff. Pechstein/Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1. Auslegung völkerrechtlicher Verträge 43 Anzuwenden sind im intergouvernementalen Unionsrecht in erster Linie die Auslegungsmetho-

den für völkerrechtliche Verträge. Niedergelegt sind diese Auslegungsmethoden in der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK). Die 1969 verabschiedete und 1980 in Kraft getretene WVK stellt ein Vertragswerk dar, welches teilweise bestehendes Völkergewohnheitsrecht kodifizierte und zumindest insoweit grundsätzlich auch für die Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts herangezogen werden kann. Maßgeblich für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind die Normen des Art. 31 und 32 WVK. Bei Art. 31 WVK handelt es sich um eine allgemeine Interpretationsregel, während Art. 32 WVK ergänzende Auslegungsmittel aufführt. Zuständig für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages sind grundsätzlich die Ver44 tragsparteien selbst. Diese können die Zuständigkeit aber auch unabhängigen Spruchkörpern übertragen. Bezüglich der Bestimmungen über die GASP ist dies durch Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV, Art. 275 AEUV hinsichtlich des EuGH jedoch gerade nicht erfolgt. Aufgrund des bereits erwähnten, auch im intergouvernementalen Unionsrecht geltenden Konsensprinzips (s.o. Rn. 8), findet ansonsten die authentische Auslegung Anwendung (Art. 31 Abs. 3 lit. a) und b) WVK). Die Vertragsparteien können Übereinkünfte über die Auslegung des Vertrages oder die Anwendung seiner Bestimmungen treffen. Auch kann eine Interpretation durch eine spätere Übung der Vertragsparteien erfolgen. Geprägt ist die Auslegung völkerrechtlicher Verträge von der staatlichen Souveränität. 45 Sämtliche die Vertragsparteien einengenden Verpflichtungen sind im Zweifel restriktiv auszulegen.99 Weiterhin ist vorrangig auf den übereinstimmenden subjektiven Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen, in dessen Rahmen sich aber auch der Effektivitätsgrundsatz entfaltet.100 Wie das supranationale Unionsrecht ist jedoch auch das intergouvernementale Unionsrecht auf eine dynamische Entwicklung gerichtet (vgl. Art. 1 Abs. 2 EUV). Eine Auslegung des intergouvernementalen Unionsrechts, dominant orientiert am subjektiven Willen der Vertragsparteien zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses, ist vor diesem Hintergrund nicht vollumfänglich möglich, vielmehr müssen hier die völkerrechtlichen Auslegungsmethoden dem Recht der Union und seinen Zielen angepasst werden, wobei der Effektivitätsgrundsatz eine stärkere Rolle erhält. Es ist davon auszugehen, dass in den nächsten Jahren der EuGH diesen Grundsatz auch auf die Teilbereiche der ehemals 3. Säule erweitert, die bislang noch nicht in die EuGH-Rechtsprechung Eingang gefunden haben.

2. Auslegungsmethoden gem. Art. 31 WVK 46 Aus Art. 31 WVK ergibt sich, dass grundsätzlich auch im Völkerrecht der Wortlaut einer Norm

den Ausgangspunkt für jede methodische Vorgehensweise bietet. Dieser Wortlaut wird nach dem Ziel der Norm, dem Zusammenhang der Norm im gesamten Vertragswerk und ihrem Sinn (Gegenstand) und Zweck (object and purpose) interpretiert. Zum Gesamtwerk eines Vertrages gehören neben dem Vertragstext auch die Präambel, die Anlagen und jede sich auf den Vertragstext beziehende Übereinkunft.101

_____ 99 Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht (4. Aufl. 2007), 1. Abschnitt, Rn. 124. 100 Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 4, 16. 101 Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht (4. Aufl. 2007), 1. Abschnitt, Rn. 123. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

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a) Grammatikalische Auslegung bzw. Wortlautauslegung Hinsichtlich der Grundsätze einer Wortlautauslegung gilt im Völkerrecht nichts anderes als im 47 supranationalen Unionsrecht. Es ist der allgemeine Sprachgebrauch zu erforschen und die Begriffe dementsprechend zu interpretieren. Für diesen allgemeinen Sprachgebrauch ist allerdings nicht der Zeitpunkt der notwendigen Interpretation entscheidend, sondern der Zeitpunkt des Vertragsschlusses.102 Allein wenn der Wortlaut eindeutig und ihm eine unmissverständliche Bedeutung zu entnehmen ist, ist dieses Verständnis der Norm verbindlich.103 Im Bereich des intergouvernementalen Unionsrechts kann dieser völkerrechtliche Grundsatz des in claris non fit interpretatio aufgrund der besonderen Vielfalt der verbindlichen Sprachfassungen und der damit oftmals fehlenden Eindeutigkeit des Wortlauts allerdings kaum Berücksichtigung finden.104 Auch besteht im Völkerrecht gemäß Art. 33 Abs. 1 WVK kein Rangverhältnis zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Vertrages, vielmehr sind alle Sprachfassungen gleichermaßen verbindlich.

b) Systematische Auslegung Neben der grammatikalischen Auslegungsmethode wird auch zur Interpretation völkerrechtli- 48 cher Verträge die systematische Auslegungsmethode angewandt, dies ist insbesondere bei mehrsprachigen Verträgen notwendig, um den Sinn und Zweck einer Norm zu erforschen. Die entsprechende Norm wird danach im Kontext der anderen Normen des Vertrages untersucht und in einen Zusammenhang gestellt. Aus diesem Zusammenhang wird der Sinn einer Norm deutlicher, in der Regel wird keine unabhängige, sich selbst genügende Norm in einen Vertrag aufgenommen, die Normen bauen vielmehr regelmäßig aufeinander auf. Insbesondere zur Vermeidung von Widersprüchen kann daher die systematische Auslegung hilfreich sein.

c) Teleologische Auslegung Neben der systematischen Auslegungsmethode, welche alle Normen eines Vertrages in einem 49 Gesamtgefüge interpretiert, geht auch die teleologische Auslegung im Völkerrecht von den Zielen des Vertrages aus. Eine Norm ist im Zusammenhang mit dem Gesamtziel des Vertrages auszulegen. Dabei ist zu unterstellen, dass jede Norm ihren eigenen Sinngehalt hat, der für die Zielerreichung des Vertrages notwendig ist. Da grundsätzlich vom Wortlaut des Vertrages auszugehen ist, sind auch Ziel und Zweck eines Vertrages aus diesem selbst zu entnehmen.105 Eine objektiv-teleologische Auslegung im Hinblick auf den Grundsatz des effet utile ist im 50 Völkerrecht dagegen nur eingeschränkt möglich, nämlich soweit, wie sie die (festzustellende) subjektive Teleologie der Vertragsparteien nicht überschreitet. Eine derartige dynamische Interpretation, die auch weitgehende, bei Vertragsschluss unbedachte Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Vertragsstaaten bewirken kann, ist im Völkerrecht aufgrund der Staatensouveränität und deren gebotenem Schutz regelmäßig nicht möglich, auch wenn es insoweit Gegenbeispiele gibt.106

_____ 102 Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 6. 103 Bernhardt, Verfassungsprinzipien – Verfassungsfunktionen – Verfassungsprozeßrecht im EWG-Vertrag, S. 58. 104 Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 162. 105 Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 10. 106 Zu denken ist etwa an die Auslegung des Begriffs der „Bedrohung des Friedes“ in Art. 39 SVN durch den Sicherheitsrat, vgl. Fischer, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 60 Rn. 8. Pechstein/Drechsler

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3. Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVK 51 Entsprechend Art. 32 WVK sind die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsab-

schlusses ergänzende Mittel, um die sich aus der Auslegung anhand verschiedener Methoden ergebenden Bedeutungen einer Norm zu bestätigen.

a) Historische Auslegung 52 Eine historische Auslegung findet demnach nur ergänzend statt. Bei multilateralen Verträgen,

denen Staaten erst später beigetreten sind, sind die Entstehungsmaterialien nur dann zu berücksichtigen, wenn diese den später beitretenden Staaten vorher zugänglich gemacht wurden und von ihnen angenommen wurden.107 Die Vorarbeiten zum Vertrag von Maastricht und den darauf folgenden Änderungsverträgen sind zwar teilweise veröffentlicht und den Beitrittskandidaten zugänglich gemacht worden, sie sind bis jetzt vom Gerichtshof aber nicht zur Entscheidungsfindung herangezogen worden.108 Dies könnte daran liegen, dass die Vorarbeiten zu den Römischen Verträgen, also zum Abschluss der Verträge zu den Europäischen Gemeinschaften, nicht veröffentlicht wurden und daher auch nicht für eine Auslegung herangezogen werden können. Insoweit ist es möglich, dass der Gerichtshof auf eine historische Auslegung der Gründungsverträge generell verzichten möchte, zumal die historische Auslegungsmethode prinzipiell geeignet ist, den vom EuGH bislang gezeigten Willen zur Förderung der Integration durch eine teleologische Auslegung zu bremsen.

b) Rechtsvergleichende Auslegung 53 Die Erkenntnis allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH, soweit er nach Art. 275 AEUV

zuständig ist, kann auch im intergouvernementalen Unionsrecht nur im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung erfolgen.109 Bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze der Europäischen Union ist eine Orientierung an den völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen und völkerrechtlichen Methoden geboten. Hinsichtlich der zu vergleichenden Rechtsordnungen stellt sich die Frage, ob es sich ausschließlich um die Rechtsordnungen der Vertragsparteien handeln muss, oder ob auch andere repräsentative Rechtsordnungen für einen Vergleich herangezogen werden können. Für allgemeine universelle Rechtsgrundsätze mögen für den Rechtsvergleich auch repräsentative „dritte“ Rechtsordnungen herangezogen werden können, wobei der Feststellung der über die Vertragsstaaten hinausreichenden Geltung aber nur bestätigende Wirkung zukommen kann. Für die Entwicklung regionaler allgemeiner Rechtsgrundsätze sind jedoch ausschließlich 54 die Rechtsordnungen der entsprechenden Region ausschlaggebend.110 Dies lässt sich für das Recht der Europäischen Union inzwischen auch dem EU-Vertrag selbst entnehmen, wenn Art. 6 Abs. 3 EUV für die geltenden und zu achtenden Grundrechte auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verweist und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV die Charta der Grundrechte für verbindlich erklärt. Ob die Rechtsgrundsätze allerdings allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bekannt sein müssen, oder ob es genügt, dass die Rechtsordnungen einem solchen Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen, ist strittig.111 Aufgrund des das Völkerrecht tragenden Grund-

_____ 107 108 109 110 111

Siehe dazu: Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht (5. Aufl. 2004), § 11 Rn. 18. Leisner, EuR 2007, 689, 696. Streinz-Huber, Art. 19 EUV Rn. 16. Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 107. Bleckmann, Die Rechtsvergleichung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 107.

Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

143

satzes der Gleichheit der Staaten wäre zu vermuten, dass ein Rückgriff auf die nationalen Rechtsordnungen nur möglich ist, wenn die Rechtsgrundsätze in allen nationalen Rechtsordnungen der Vertragsparteien gelten. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungsdichte in den einzelnen Rechtsordnungen kann aber wohl davon ausgegangen werden, dass es ausreicht, wenn über die Geltung in mehreren Rechtsordnungen hinaus die anderen Rechtsordnungen dem entsprechenden Rechtsgrundsatz nicht entgegenstehen. Dies bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften den Inhalt und die Bedeutung der Normen des EU-Vertrages bestimmen können. Vielmehr trägt die Rechtsvergleichung nur dazu bei, den Sinngehalt entlehnter Rechtsbegriffe zu ergründen.112

4. Verhältnis der Auslegungsmethoden zueinander Ähnlich wie im supranationalen Unionsrecht besteht auch im intergouvernementalen Unions- 55 recht kein Rangverhältnis zwischen den anzuwendenden Auslegungsmethoden. Weder der Rechtsprechung des Gerichtshofes noch der WVK kann eine Entscheidung für den Vorrang der einen oder der anderen Auslegungsmethode entnommen werden. Es gelten einzig die bereits erwähnten Besonderheiten im Völkerrecht, wonach in erster Linie der subjektive Wille der Vertragsparteien zu erkunden ist. Die Anwendung der Auslegungsmethoden richtet sich nach diesem Grundsatz.

VI. Rechtsfortbildung Führen die klassischen Auslegungsmethoden zu absurden113 oder willkürlichen114 Auslegungser- 56 gebnissen, so lehnt der Gerichtshof diese ab. Um zu einem vertretbaren Ergebnis zu kommen, unternimmt er in solchen Fällen oft eine Rechtsfortbildung.115 Eine solche richterliche Rechtsfortbildung stellt einerseits grundsätzlich ein aliud zur Auslegung dar, da es sich dabei um eine Fortbildung des geltenden Rechts handelt und gerade nicht um eine Auslegungsmethode, denn die Grenzen der Auslegung sind in diesen Fällen überschritten.116 Andererseits fällt gerade im primären supranationalen Unionsrecht mit einer sehr „ausdehnenden, teleologischen und am effet utile orientierten Auslegung“117 von oftmals tatbestandlich wenig konturierten Normen eine Abgrenzung zwischen teleologischer Auslegung und Rechtsfortbildung schwer. Auch die rechtsvergleichende Auslegung, welche insbesondere aufgrund der verschiedenen Sprachfassungen und der unterschiedlichen Rechtssysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten im Unionsrecht Anwendung findet, geht teilweise in eine richterliche Rechtsfortbildung über. Voraussetzung für eine Rechtsfortbildung ist – wie bei der Analogie – eine planwidrige Regelungslücke,118 besteht diese, muss die Rechtsfortbildung zusätzlich durch besondere Funktionserfordernisse gerechtfertigt sein.119

_____ 112 113 114 115 116 117 118 119

Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 60. EuGH v. 13.2.1980 – Rs. 77/79 Damas ./. FORMA, Slg. 1980, 247 Rn. 10. EuGH v. 14.7.1977 – Rs. 1/77 Bosch GmbH ./. Hauptzollamt Hildesheim, Slg. 1977, 1473 Rn. 4. Eingehend Neuner, in diesem Band, § 12. Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 50. Everling, JZ 2000, 217, 218. Zur Lückenfeststellung Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 28–30. Schroeder, JuS 2004, 180, 184. Pechstein/Drechsler

144

2. Teil: Allgemeiner Teil

Für die Gründungsverträge, aber auch für die Ergänzungsverträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon ist anerkannt, dass sie so rudimentär und ausfüllungsbedürftig angelegt waren, dass ein Bedürfnis zur Rechtsfortbildung und dynamischen Entwicklung von Anfang an bestand.120 Diese Ansicht jedoch findet ihre Grenzen in der Berechtigung der anderen EUOrgane zur Rechtssetzung. Der EuGH selbst ist gerade kein Rechtsetzungsorgan. Er muss das geschriebene Recht achten und aus diesem im Bemühen um eine kohärente Rechtsordnung Recht sprechen.121 Eine über diese Berechtigung hinausgehende Setzung von Recht widerspricht dem Prinzip der Gewaltenteilung.122 Das Recht auf eine richterliche Rechtsfortbildung entnahm der Gerichtshof der Formulierung des Art. 220 Abs. 1 EG (jetzt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV), wonach er selbst „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages“ sichern soll.123 Er ist in der Rechtsprechung autonom und kann zur Schließung von Lücken neues Recht schaffen.124 Insoweit ist er nicht nur auf die Anwendung des Vertrages festgelegt, sondern auch auf das Recht selbst, wobei jegliche Erkenntnisquelle berücksichtigt werden kann und soll. Diese Interpretation unterstützt auch das Bundesverfassungsgericht. In seinem Maastricht-Urteil und dem Urteil zum Vertrag von Lissabon zieht es für eine mögliche Rechtsfortbildung des Gerichtshofes Grenzen, welche auch den nationalen Verfassungsgerichten gesetzt werden.125 Danach müssen die Ermächtigungen hinreichend bestimmbar und das rechtsverbindliche Tätigwerden der Union vorhersehbar sein.126 58 Die wohl wichtigsten Entscheidungen, welche von einer Fortbildung des Unionsrechts getragen werden, hat der Gerichtshof in den Bereichen Grundfreiheiten, Grundrechte und dem „gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch“ der Bürger bei Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten getroffen. Diese Entscheidungen sind wegweisend für eine dynamische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts gewesen und stellen heute anerkannte Grundpfeiler des Unionsrechts dar. 59 Im Bereich der Grundfreiheiten hat der Gerichtshof sehr früh anerkannt, dass die Normen über ihren eigentlichen Wortlaut hinaus interpretiert werden müssen, um den steigenden Anforderungen an den Binnenmarkt gerecht werden zu können.127 Der Gerichtshof verstand und interpretierte die Grundfreiheiten zunächst weitgehend als Diskriminierungsverbote im Sinne des auch im völkerrechtlichen Fremdenrecht bekannten Inländergleichbehandlungsgrundsatzes. Mit zunehmendem Handel und zunehmenden staatlichen Abgrenzungstendenzen sowie protektionistischen Maßnahmen der Mitgliedstaaten musste der Gerichtshof seine Interpretation verstärkt an den Zielen des Vertrags ausrichten. Dabei wendet er zwar auch die teleologische und systematische Auslegungsmethode an, gegen den z.T. eindeutigen Wortlaut konnten sie aber keine neuen Erkenntnisse bringen. Insoweit war der Gerichtshof im Sinne des Vertrages und seiner Ziele zu einer Rechtsfortbildung angehalten. Die Grundfreiheiten wurden daher verstärkt auch als Beschränkungsverbote interpretiert.128 Allein diese Interpretation wird auch den heutigen Anforderungen an einen gemeinsamen Binnenmarkt gerecht. Auch hat keiner der Mitgliedstaaten gegen diese Interpretation eine Vertragsänderung in den auf die Urteile folgenden 57

_____ 120 Everling, JZ 2000, 217, 220. 121 Die Rechtsfortbildung des EuGH wurde vom BVerfG in der Entscheidung vom 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07, sub C. als möglicher „ultra-vires Akt“ kritisiert. 122 Politis, EuZW 2014, 8, 9. 123 Everling, JZ 2000, 217, 221. 124 Völter, Der Lückenschluss im Statut der europäischen Privatgesellschaft (2000), S. 177. 125 BVerfGE 89, 155, 209; BVerfGE 123, 267, Rn. 238. 126 BVerfGE 89, 155, 187; BVerfGE 123, 267, Rn. 239. 127 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 837 Rn. 5. 128 EuGH v. 14.2.1995 – Rs. C-279/93 Schumacker, Slg. 1995, I-225 Rn. 26; EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, 5483 Rn. 17 – Daily Mail. Pechstein/Drechsler

§ 7 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts

145

Vertragsrevisionen gefordert. Vielmehr haben umfangreiche Rechtsfortbildungen des Gerichtshofes Eingang in den Vertrag von Lissabon gefunden. Ein Widerspruch dieser Interpretation zu dem Willen der Vertragsparteien lässt sich daher nicht feststellen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich beim Grundrechtsschutz beobachten. Enumerativ 60 aufgezählte Grundrechte enthielten die Gemeinschaftsverträge und der Unionsvertrag nicht. Gleichwohl hat der EuGH eine Vielzahl von Grundrechten auf der Grundlage allgemeiner Rechtsgrundsätze, orientiert an der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, anerkannt und deren Inhalt selbständig entwickelt.129 Dies hat später Art. 6 Abs. 2 EU (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) anerkannt und aufgenommen. Diese Grundrechte sind inzwischen in der nun verbindlichen Grundrechtscharta festgeschrieben worden. Insofern hat die richterliche Rechtsfortbildung der Kodifizierung vorgearbeitet und diese geprägt. Für die Auslegung der Grundrechte-Charta erklärte sich der EuGH konsequenterweise in den Fällen für unzuständig, in denen der streitige Gegenstand keinen Umsetzungsakt des EU-Rechts darstellte.130 Anders als bei den Grundfreiheiten und den Grundrechten, welche in den Verträgen zumin- 61 dest aufgeführt werden und vom Gerichtshof nur ausgefüllt wurden, hat er im Staatshaftungsrecht Rechtsfortbildung ohne eine textuelle Grundlage im Vertrag betrieben.131 Für Verstöße der Mitgliedstaaten gegen das Unionsrecht, soweit diese Verstöße Rechte von Bürgern betreffen, enthalten die Unionsverträge keinen Schadensersatzanspruch. Aus dem Sinn und Zweck des Vertrages, dem anerkannten Vorrang des Unionsrechts und dem Grundsatz des effet utile, hat der EuGH gefolgert, dass auch ein „gemeinschaftsrechtlicher Schadensersatzanspruch“ besteht.132 Dieser wurde im Laufe der Zeit nicht nur für legislatives Unrecht anerkannt, sondern gilt inzwischen selbst für judikatives Unrecht.133

neue Seite

_____ 129 EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder ./. Stadt Ulm, Slg. 1969, 419 Rn. 3, 4; EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst AG ./. Kommission, Slg. 1989, 2859 Rn. 13; EuGH v. 11.1.2000 – Rs. C-285/98 Tanja Kreil, Slg. 2000, I-69 Rn. 23. 130 EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-106/13 Fierro u.a. ./. Ronchi u.a., Rn. 13 f. 131 Insoweit kann mit Hillgruber, Spielräume und Grenzen des EuGH, S. 3 eine Rechtssetzung des EuGH angenommen werden. 132 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357 Rn. 31–36; EuGH v. 5.3.1996 – verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 Brasserie du pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 Rn. 28 f. 133 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler ./. Republik Österreich, Slg. 2003, I-10239 Rn. 51–55. Pechstein/Drechsler

146

2. Teil: Allgemeiner Teil

§8 Die primärrechtskonforme Auslegung 2. Teil: Allgemeiner Teil

Stefan Leible/Ronny Domröse § 8 Die primärrechtskonforme Auslegung Leible/Domröse Literatur Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Marietta Auer, Die primärrechtskonforme Auslegung, in: Jörg Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht (2007), S. 27–54; Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1998); Ulrich Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts – Ein Beitrag zu ihren Grundlagen und zu ihrer Bedeutung für die Verwirklichung eines „europäischen Privatrechts“, RabelsZ 59 (1995), 598–644; Olivier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts – Erscheinungsformen und dogmatische Grundlagen eines Rechtsprinzips des Unionsrechts (2009); Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen – Methoden, Kompetenzen, Grenzen dargestellt am Beispiel des Privatrechts (2006); Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung – Zur Auflösung einfachgesetzlicher, verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Widersprüche im Recht (2008); Kai Krieger, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts (2005); Alexander S. Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung (1994); Martin Nettesheim, Auslegung und Fortbildung nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AöR 119 (1994), 261–293; Friedrich Rüffler, Aspekte primärrechtskonformer und sekundärrechtskonformer Auslegung nationalen Lauterkeitsrechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 97–112; Manfred Zuleeg, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung und Fortbildung mitgliedstaatlichen Rechts, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 163–177. Rechtsprechung EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477; EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223; EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397.

I. II.

Übersicht Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung | 3–6 Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts | 7–37 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 8–19 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht | 8 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grundrechtskonforme Auslegung | 9–19 aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten | 10 bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung | 11 cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung | 12–19

Leible/Domröse

(1)

2.

3.

Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen | 13 (2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung | 14–19 Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 20–26 a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts | 21 b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers | 22–26 Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre | 27–28

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

4.

III.

Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 29–30 5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts | 31–37 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts | 32–35 b) Das Verbot des contra-legemJudizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts | 36–37 Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts | 38–61 1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts | 39–43 a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht | 39 b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunktes im Unionsrecht: das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung | 40–41 c) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts | 42–43 2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts | 44–51

147

a)

3.

4.

5.

Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben | 45–46 b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? | 47 c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität | 48–51 Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre | 52–53 Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts | 54–56 a) Nationales Recht des forum | 54 b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten | 55–56 Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts | 57–61 a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts | 57–58 b) Das Verbot des contra-legemJudizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? | 59–61

Eine häufig praktizierte Auslegungsmethode ist die primärrechtskonforme Auslegung. Dem 1 deutschen Juristen ist sie strukturell nicht unbekannt, da sie an die verfassungskonforme Auslegung erinnert und wie diese eine Erscheinungsform einer allgemeinen hermeneutischen Regel ist, nach der rangniedere Normen im Einklang mit ranghöheren Normen auszulegen sind.1 Da der EuGH den EG-Vertrag (jetzt den EU- und AEU-Vertrag) als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft qualifiziert,2 kann man in der Tat anstatt von primärrechtskonformer auch von (europa-) verfassungskonformer Auslegung sprechen.3 Bisweilen wird sogar angenommen, die Prinzipien der verfassungskonformen Auslegung 2 ließen sich auf das Europarecht übertragen.4 Das geht freilich zu weit, da für beide Auslegungsmethoden teilweise unterschiedliche Regeln gelten. Der primärrechtskonformen Auslegung sind

_____ 1 Vgl. Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung (1986), S. 20; s.a. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (5. Aufl. 2011), S. 57; VwGH, ZfVB 1993/1555; VwGH, VwSlg 15065 A/1999; krit. Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 28 f. 2 Vgl. z.B. EuGH v. 23.4.1986 – Rs. 294/83 Les Verts, Slg. 1986, 1339 Rn. 23; ebenso schon BVerfGE 22, 293, 296. 3 So z.B. BAGE 71, 56, 65; GA Stix-Hackl, SchlA v. 18.3.2004 – Rs. C-36/02 OMEGA, Slg. 2004, I-9609 Tz. 57; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994), S. 75. 4 So Engisch, Einführung in das juristische Denken (9. Aufl. 1997), S. 102 f. Fn. 50; wohl auch Rüffler, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 98.

Leible/Domröse

148

2. Teil: Allgemeiner Teil

beispielsweise andere Grenzen gesetzt als der verfassungskonformen Auslegung (vgl. Rn. 57 ff.). Einige Gemeinsamkeiten lassen sich allerdings nicht leugnen.

I. Funktion, Begriff und Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung 3 Gemeinsam ist beiden Auslegungsmethoden vor allem ihre Funktion. Ebenso wie der verfas-

sungskonformen Auslegung5 kommt der primärrechtskonformen Auslegung die Aufgabe zu, einen Normenkonflikt zwischen höherrangigem und niederrangigem Recht dergestalt aufzulösen, dass das niederrangige Recht nicht zu verwerfen ist. Grundsätzlich sind Widersprüche zwischen unionsrechtlichen Normen unterschiedlichen Rangs durch Nichtig- bzw. Ungültigerklärung der niederrangigen Norm zu beseitigen, für die der Gerichtshof zuständig ist (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV bzw. Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV). Der Sache nach nichts anderes gilt für Widersprüche zwischen Normen des Unionsrechts und des mitgliedstaatlichen Rechts. Die mitgliedstaatliche Norm, die gegen Unionsrecht verstößt, ist zwar nicht nichtig, doch die innerstaatlichen Gerichte dürfen diese Norm nicht mehr anwenden (vgl. Rn. 59 f.). Die primärrechtskonforme Auslegung erhält indessen die Geltung der Norm, die an und für sich im Widerspruch zum primären Unionsrecht steht. Die Norm wird so interpretiert, dass sie mit den Geboten des primären Unionsrechts vereinbar und deshalb nicht „zu verwerfen“ ist. Die primärrechtskonforme Auslegung dient also der Normerhaltung. Diese Funktion unterscheidet die primärrechtskonforme Auslegung von den übrigen Auslegungskanones, die nur der Ermittlung des Norminhalts dienen und nicht auch als „Auslegungsstrategien“ zur Geltungserhaltung von Normen fungieren.6 4 Ausgehend von ihrer Funktion ist der Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu bestimmen. Von primärrechtskonformer Auslegung sollte man immer nur dann sprechen, wenn eine primärrechtswidrige Auslegung möglich ist und es um die Entscheidung zwischen dieser und einer primärrechtskonformen Auslegungsvariante geht.7 Dieses Begriffsverständnis schließt nicht aus, dass man sich schon im Auslegungsprozess – im Rahmen der systematischen und teleologischen Interpretation – an den primärrechtlichen Geboten orientiert und primärrechtswidrige Auslegungsvarianten ausschließt, und nicht erst das Auslegungsergebnis am Maßstab des Primärrechts misst.8 Verzichten sollte man auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung hingegen, wenn die auszulegende Norm nicht in den Anwendungsbereich des Primärrechts fällt (näher dazu Rn. 42 ff.). Ebenso sollte man nicht von primärrechtskonformer Auslegung sprechen, wenn der europäische Gesetzgeber Begriffe im sekundären Unionsrecht oder der mitgliedstaatliche Gesetzgeber Begriffe im nationalen Recht so verstanden wissen will, wie sie im primären Unionsrecht ausgelegt werden, ohne dass das Primärrecht eine entsprechende Interpretation verlangt. Die Richtlinie 2004/113/EG9 gilt für alle Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen. Ausweislich der Begründungserwägungen ist der Begriff der Güter (Art. 1, 3 Abs. 1 Richtlinie 2004/113/EG) im Sinne der den freien Warenverkehr betreffenden Bestimmungen des EG-Vertrages (jetzt AEU-Vertrages) und der Begriff der Dienstleistungen i.S.v. Art. 50 EG (jetzt Art. 57 AEUV) zu verstehen (BE 11). Nach dem Willen des Richtlinienge-

_____ 5 Vgl. dazu z.B. Canaris, FS Kramer (2004), S. 148 ff.; Lüdemann, JuS 2005, 27, 28 f. 6 Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 153 f. 7 Zutreffend Canaris, FS Kramer (2004), S. 154 (für die verfassungskonforme Auslegung). 8 Zustimmend GA Trstenjak, SchlA v. 24.11.2010 – Rs. C-316/09 MSD Sharp & Dohme GmbH, Slg. 2011, I-3249 Tz. 66. 9 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 33/37.

Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

149

bers sind diese Begriffe ebenso auszulegen wie die primärrechtlichen Begriffe. Es handelt sich allerdings nicht um primärrechtskonforme Auslegung, da es nicht darum geht, eine primärrechtswidrige Auslegungsvariante auszuscheiden. Der Sache nach geht es um eine vom Gesetzgeber gewollte Begriffsverweisung und damit um eine historische Auslegung. Dementsprechend ist der im Sekundärrecht verwendete Begriff nicht zwingend so auszulegen, wie er im primären Unionsrecht zu verstehen ist, denn teleologische Erwägungen können die Abweichung vom Willen des Unionsgesetzgebers gebieten.

Um primärrechtskonforme Auslegung geht es auch dann nicht, wenn im sekundären und primä- 5 ren Unionsrecht identische Begriffe gebraucht werden und man sich bei der Bestimmung eines im Sekundärrecht verwendeten Begriffs an der Auslegung desselben Begriffs im Primärrecht orientiert. Die Orientierung an einem im Primärrecht verwendeten Begriff für die Bestimmung eines Begriffs des Sekundärrechts ist Ausdruck des Systemdenkens; sie ist nicht mehr als eine einfach-systematische Auslegung. In der Tat besteht grundsätzlich eine Vermutung dafür, dass Begriffe im Sekundärrecht dieselbe Bedeutung haben wie gleichlautende Begriffe im Primärrecht.10 Entsprechend dem Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe11 können identische Begriffe im Primär- und Sekundärrecht aber auch eine unterschiedliche Bedeutung haben. Vor allem teleologische Erwägungen können eine unterschiedliche Interpretation identischer Begriffe gebieten. So hat es der EuGH beispielsweise abgelehnt, den Begriff der Dienstleistung i.S.v. Art. 5 Nr. 1 lit. b) EuGVVO12 so auszulegen, wie er in jetzt Art. 57 AEUV definiert ist.13 Und im Hinblick auf den Arbeitnehmerbegriff im Unionsrecht betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass seine Bedeutung nicht einheitlich ist, sondern vom jeweiligen Anwendungsbereich abhängt. Dementsprechend stimmt der Arbeitnehmerbegriff im Primärrecht nicht notwendigerweise mit dem Arbeitnehmerbegriff im Sekundärrecht überein.14

Die primärrechtskonforme Auslegung nimmt Maß am Primärrecht der Europäischen Union.15 6 Das Unionsprimärrecht umfasst die in den Verträgen (EUV, AEUV) sowie in den Protokollen und Anhängen (Art. 51 EUV) enthaltenen Regelungen sowie die vom Gerichtshof gewonnenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, soweit sie den Rang von Primärrecht einnehmen. Darüber hinaus umfasst der Begriff des Primärrechts auch das im EAG-Vertrag enthaltene und sonstige primäre Gemeinschaftsrecht der Europäischen Atomgemeinschaft. Dementsprechend müssen die mitgliedstaatlichen Gerichte das nationale Recht auch in Übereinstimmung mit den Vorgaben des EAG-Vertrages auslegen.16 Nach dem Bezugspunkt im primären Unionsrecht (Rn. 8, 39) können als Spielarten der primärrechtskonformen Auslegung insbesondere die grundfreiheiten-, die (unions-)grundrechts- und die rechtsgrundsatzkonforme Auslegung unterschieden werden. Nach der Provenienz der auszulegenden Norm kann man zwischen der primärrechtskonformen Auslegung von abgeleitetem Unionsrecht und der primärrechtskonformen Auslegung von na-

_____ 10 In diesem Sinne EuGH v. 4.4.1968 – Rs. 25/67 Milch-, Fett- und Eierkontor, Slg. 1968, 312, 330; v.d. Groeben/ Schwarze-Schmidt, Art. 249 EG Rn. 23. 11 Vgl. dazu nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 ff.; Wank, Die juristische Begriffsbildung (1985), S. 110 ff. 12 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1. 13 EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-533/07 Falco Privatstiftung, Slg. 2009 I-3327 Rn. 33–37. 14 Vgl. zuletzt EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-208/07 v. Chamier-Glisczinski, Slg. 2009, I-6095 Rn. 68. 15 Noch weitergehend Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 29 f., die mit dem Begriff der primärrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung jede Interpretation und Fortbildung niederrangigen am Maßstab des jeweils höherrangigen Rechts verstanden wissen will. 16 EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 EZ, Slg. 2009, I-10265 Rn. 138, 140. Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

tionalem Recht differenzieren.17 Diese Unterscheidung ist vor allem im Hinblick auf den Geltungsgrund und die Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutsam. Sie wird deshalb im Folgenden zugrunde gelegt. Eine andere Frage ist die, ob das Primärrecht seinerseits Gegenstand einer Konformauslegung sein kann, und zwar insbesondere einer sekundärrechtsund national-verfassungskonformen Interpretation.18

II. Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts 7 Die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts ist eine Auslegungsregel,

die ganz allgemein besagt, dass die Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts – z.B. einer Richtlinie –, die mit den Vorgaben des höherrangigen Primärrechts in Einklang steht, der Auslegung vorzuziehen ist, bei der die Vorschrift als mit dem Primärrecht unvereinbar eingestuft werden müsste.19 Diese Auslegungsregel hat der Gerichtshof zuletzt aus dem Grundsatz der Einheit der Unionsrechtsordnung abgeleitet (näher dazu Rn. 20 ff.).20 Zuvor hatte er diese Regel – anders als für das nationale Recht (Rn. 38) – nicht ausdrücklich anerkannt, ist aber in der Sache danach verfahren.21

1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung abgeleiteten Unionsrechts a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 8 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung bezieht sich auf das gesamte Primärrecht.22 Mögli-

che Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung in den Verträgen (EUV, AEUV) sind vor allem die Grundfreiheiten.23 Aber auch alle anderen Regelungen, wie z.B. Art. 4 Abs. 3 EUV,24 die Kompetenzgrundlagen25 oder das Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV),26 können als primärrechtlicher Auslegungsmaßstab heranzuziehen sein. Außerdem ist das abgeleitete Unionsrecht

_____ 17 Zur primärrechtskonformen Auslegung von Übereinkünften i.S.v. Art. 351 AEUV vgl. EuGH v. 18.11.2003 – Rs. C-216/01 Budějovický Budvar, Slg. 2003, I-13617 Rn. 168–170. Nicht überzeugend gegen den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 218 und ders./Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 23. 18 Vgl. dazu Vorauflage, § 9 Rn. 60 ff. 19 Vgl. z.B. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13 ff.; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17. 20 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 21 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 25.11.1986 – verb. Rs. 201/85 und 202/85 Klensch, Slg. 1986, 3477 Rn. 21; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17; EuGH v. 10.7.1991 – verb. Rs. C-90/90 und C-91/90 Neu, Slg. 1991, Slg. I-3617 Rn. 12; EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9; EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, I-1651 Rn. 37; EuGH v. 5.6.1997 – Rs. C-105/94 Celestini, Slg. 1997, I-2971 Rn. 32. 22 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 48. 23 Vgl. z.B. EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27; EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-352/95 Phytheron International, Slg. 1997, I-1729 Rn. 18. 24 EuG v. 18.9.1996 – Rs. T-353/94 Postbank ./. Kommission, Slg. 1996, II-921 Rn. 63. 25 Vgl. z.B. EuGH v. 5.7.1967 – Rs. 1/67 Ciechelski, Slg. 1967, 240, 250; EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-215/99 Jauch, Slg. 2001, I-1901 Rn. 20; zu einem Beispiel vgl. Rn. 35. 26 Etwa EuGH v. 29.6.1995 – Rs. C-135/93 Spanien ./. Kommission, Slg. 1995, I-1651 Rn. 36–39. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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gemäß den allgemeinen Rechtsgrundsätzen,27 zu denen insbesondere die Unionsgrundrechte28 zählen, und den primärrechtlichen Prinzipien auszulegen. Der EuGH hatte über die Frage zu entscheiden, ob es mit Art. 3 Abs. 1 Betriebsübergangsrichtlinie 197729 (BÜRL 1977) vereinbar ist, wenn der nicht tarifgebundene Betriebserwerber an eine Vereinbarung zwischen dem tarifgebundenen Betriebsveräußerer und dem Arbeitnehmer, nach der die jeweiligen Lohntarifverträge, an die der Betriebsveräußerer gebunden ist, Anwendung finden, in der Weise gebunden ist, dass der zur Zeit des Betriebsübergangs gültige Lohntarifvertrag Anwendung findet, nicht aber später in Kraft tretende Lohntarifverträge. Der Gerichtshof hat die Frage bejaht.30 Er stützt sich auf eine primärrechtskonforme Auslegung von Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 am Maßstab der negativen Vereinigungsfreiheit, die das Recht umfasst, einer Gewerkschaft nicht beizutreten. Die Auslegung, die eine Bindung des Betriebserwerbers an künftige Kollektivverträge, denen er nicht angehöre, erlaube, könne sein Grundrecht der negativen Vereinigungsfreiheit beeinträchtigen. Die Bindung des Erwerbers hätte Folgen, die denen von Verträgen zu Lasten Dritter gleichkämen.31 Dementsprechend hat der Gerichtshof Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 dahin ausgelegt, dass der Betriebserwerber nicht an künftige Kollektivverträge gebunden ist. So wird sein Grundrecht auf negative Vereinigungsfreiheit umfassend gewährleistet.

b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunkts im Primärrecht: grundfreiheiten- und grundrechtskonforme Auslegung Nicht immer orientiert der Gerichtshof die Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts am richti- 9 gen Bezugspunkt im Primärrecht. Das lässt sich am Beispiel der grundfreiheiten- und grundrechtskonformen Auslegung verdeutlichen. aa) Bindung der Unionsorgane an die Grundfreiheiten. Ziel der Grundfreiheiten ist die 10 Beseitigung sämtlicher Hemmnisse, die den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital innerhalb der Europäischen Union behindern. Beschränkende Maßnahmen sind verboten, soweit sie nicht ausnahmsweise gerechtfertigt werden können. Regelungsadressaten dieses Verbots sind in erster Linie die Mitgliedstaaten, nach verbreiteter, wenn auch unzutreffender Auffassung weiterhin Private.32 Darüber hinaus werden aber auch die Union und ihre Organe durch die Grundfreiheiten gebunden.33 Denn ihre Tätigkeit bezieht sich auf einen Binnenmarkt, der durch die Beseitigung der Hindernisse für den freien Waren-, Personen-, Dienst-

_____ 27 Vgl. z.B. EuGH v. 21.3.1991 – Rs. C-314/89 Rauh, Slg. 1991, I-1647 Rn. 17–25, EuGH v. 27.1.1994 – Rs. C-98/91 Herbrink, Slg. 1994, I-223 Rn. 9 und EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-181/96 Wilkins, Slg. 1999, I-399 Rn. 19 (Grundsatz des Vertrauensschutzes); EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, Slg. 2004, I-3219 Rn. 30 (Grundsatz der Rechtssicherheit). 28 Vgl. z.B. EuGH v. 21.9.1989 – verb. Rs. 46/87 und 227/88 Hoechst, Slg. 1989, 2859 Rn. 12. 29 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26. Die BÜRL 1977 wurde inzwischen aufgehoben durch Art. 12 der Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/ 16, deren Art. 3 Abs. 1 aber im Wesentlichen dem Art. 3 Abs. 1 BÜRL 1977 entspricht. 30 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 31–37. 31 Vgl. GA Colomer, SchlA v. 15.11.2005 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Tz. 52. 32 Vgl. zur Drittwirkung der Grundfreiheiten z.B. Canaris, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht (2002), S. 29; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten (2000); Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten (1997); Remmert, Jura 2003, 13; W.-H. Roth, FS Everling (1995), Bd. II, S. 1231; Streinz/Leible, EuZW 2000, 459; Vieweg/Röthel, ZHR 166 (2002), 6. 33 Ausführlich dazu Schwemer, Die Bindung des Gemeinschaftsgesetzgebers an die Grundfreiheiten (1995); Scheffer, Die Marktfreiheiten des EG-Vertrages als Ermessensgrenze des Gemeinschaftsgesetzgebers (1997). Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

leistungs- und Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gekennzeichnet ist (Art. 26 Abs. 2 AEUV). Das nimmt sie in die Pflicht:34 Nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Union und ihre Organe haben den Freiheitsgehalt der Grundfreiheiten zu beachten.35 Diese Bindung spiegelt sich auch in der primärrechtskonformen Auslegung potentiell freiheitsbeschränkender Maßnahmen der Union wider. 11

bb) Grundfreiheitenkonforme Auslegung und Mindestharmonisierung. Zahlreiche rechtsangleichende Akte des sekundären Unionsrechts führen zu keiner abschließenden Harmonisierung, sondern schaffen lediglich Mindeststandards und gestatten den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Festhalten an oder die Einführung von neuen strengeren Standards (Mindestharmonisierung).36 Derartige Ermächtigungsklauseln können nicht dahin ausgelegt werden, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten, Bedingungen vorzuschreiben, die den Bestimmungen über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr zuwiderlaufen.37 Solche Ermächtigungsklauseln sind also stets primärrechtskonform dahin auszulegen, dass sie den Mitgliedstaaten lediglich die Möglichkeit eröffnen, Regelungen beizubehalten oder neu zu erlassen, die mit den Grundfreiheiten vereinbar sind.

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cc) Grundfreiheitenkonforme Auslegung bei Totalharmonisierung. Der Grundsatz der primärrechtskonformen Auslegung ist aber und selbstverständlich auch bei der Interpretation von unionalen Rechtsakten zu beachten, die den Mitgliedstaaten jeglichen Erlass von Regelungen, die von den unionsrechtlichen Vorgaben abweichen, verwehren, also zu einer Totalharmonisierung geführt haben.38

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(1) Feststellung einer beschränkenden Wirkung totalharmonisierender Maßnahmen. Eine Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten kommt allerdings nur dann in Betracht, wenn die unionsrechtliche Regelung überhaupt zu ihrer Beschränkung geeignet ist. Denn die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung reicht nur so weit, wie es überhaupt zu Konfliktsituationen kommen kann. Das ist aber bei diskriminierungsfreien Regelungen der Union meist nicht der Fall. Scheidet z.B. eine Warenverkehrsbehinderung aufgrund der Beseitigung der Rechtsunterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aus, ist die unionsrechtliche Regelung aus sich heraus und ohne Rückgriff auf die Art. 34 ff. AEUV auszulegen.39 Es besteht dann überhaupt kein Bedürfnis für eine grundfreiheitenkonforme Auslegung, da die Grundfreiheiten nur die Freiheit grenzüberschreitenden Wirtschaftens, nicht aber eine allgemeine Handlungsfreiheit garantieren sollen.40

_____ 34 Streinz-Pechstein, Art. 3 EUV Rn. 7. 35 Vgl. z.B. EuGH v. 20.4.1978 – verb. Rs. 80/77 und 81/77 Commissionaires Réunies, Slg. 1978, 927 Rn. 35/36; EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 13; EuGH v. 17.5.1984 – Rs. 15/83 Denkavit Nederland, Slg. 1984, 2171 Rn. 15; EuGH v. 9.8.1994 – Rs. C-51/93 Meyhui, Slg. 1994, I-3879 Rn. 11; EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 36; EuGH v. 25.6.1997 – Rs. C-114/96 Kieffer und Thill, Slg. 1997, I-3629 Rn. 27; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-284/95 Safety Hi-Tech, Slg. 1998, I-4301 Rn. 63; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-341/95 Bettati, Slg. 1998, I-4355 Rn. 61; EuGH v. 13.9.2001 – Rs. C-169/99 Schwarzkopf, Slg. 2001, I-5901 Rn. 37; EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451 Rn. 47. 36 Vgl. dazu Streinz-Leible/Schröder, Art. 114 AEUV Rn. 29 ff.; ausführlich Conrad, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2004); Wagner, Das Konzept der Mindestharmonisierung (2001). 37 EuGH v. 20.3.1990 – Rs. C-21/88 Du Pont de Nemours Italiana, Slg. 1990, I-889 Rn. 17; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize Frères, Slg. 1992, I-3669 Rn. 26. 38 Zur Totalharmonisierung Streinz-Leible/Schröder, Art. 114 AEUV Rn. 26 ff. 39 Das übersieht – in anderem Zusammenhang – etwa EuGH v. 12.7.2005 – verb. Rs. C-154/04 und C-155/04 Alliance for Natural Health, Slg. 2005, I-6451 Rn. 49. 40 Ausführlich zur Unterscheidung zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten Gebauer, Die Grundfreiheiten des EG-Vertrags als Gemeinschaftsgrundrechte (2004).

Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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(2) Unterscheidung zwischen grundfreiheiten- und grundrechtskonformer Auslegung. 14 Gleichwohl hat der Gerichtshof in seiner Entscheidung Gut Springenheide bei der Auslegung einer Verordnung das zu Art. 34 ff. AEUV entwickelte Leitbild eines verständigen Verbrauchers ohne weitere Reflektion auf das Sekundärrecht übertragen, d.h. ohne näher zu prüfen, ob der Unionsgesetzgeber mit der in Frage stehenden Verordnung und der in ihr enthaltenen Vorschriften zum Täuschungsschutz nicht vielleicht einen über den verständigen Verbraucher hinausgehenden Schutz auch des flüchtigen Verbrauchers anstrebte.41 Ebenso ist er in der Entscheidung Linhart und Biffl verfahren.42 Ihr lag folgender Sachverhalt zugrunde: Gottfried Linhart, Geschäftsführer der österreichischen Colgate Palmolive GmbH, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats Wien vom 22. Februar 1999 einer Verwaltungsübertretung schuldig erkannt, weil er es zu verantworten habe, dass diese Firma das kosmetische Mittel „Palmolive flüssige Seife Prima Antibakteriell“ mit der Angabe „Dermatologisch getestet“ auf der Verpackung in den Verkehr gebracht habe. Das verstieß gegen § 9 Abs. 1 lit. a) Lebensmittelgesetz (LMG). Danach ist es verboten, beim Inverkehrbringen von Lebensmitteln, Verzehrprodukten oder Zusatzstoffen sich auf die Verhütung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Krankheitssymptomen oder auf physiologische oder pharmakologische, insbesondere jungerhaltende, Alterserscheinungen hemmende, schlankmachende oder gesunderhaltende Wirkungen zu beziehen oder den Eindruck einer derartigen Wirkung zu erwecken. Nach Auffassung von Herrn Linhart ist eine Auslegung des österreichischen Rechts, die zu einem Verbot der Verwendung der Bezeichnung „dermatologisch getestet“ führt, mit dem Unionsrecht, insbesondere den Vorgaben der Kosmetikrichtlinie,43 nicht vereinbar.

Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, alle erforderlichen Maßnahmen 15 zu treffen, um sicherzustellen, dass bei der Etikettierung, der Aufmachung für den Verkauf und der Werbung für kosmetische Mittel nicht Texte, Bezeichnungen, Warenzeichen, Abbildungen und andere bildhafte oder nicht bildhafte Zeichen verwendet werden, die Merkmale vortäuschen, die die betreffenden Erzeugnisse nicht besitzen. Der EuGH betont zunächst, dass die Kosmetikrichtlinie zu einer abschließenden Harmonisierung der nationalen Bestimmungen über die Verpackung und Etikettierung kosmetischer Mittel herbeigeführt hat.44 Daher sind alle nationalen Maßnahmen in einem Bereich, für den auf Unionsebene eine harmonisierte Regelung geschaffen worden ist, anhand dieser Harmonisierungsmaßnahme und nicht anhand der Art. 34 und 36 AEUV zu beurteilen.45 Entscheidend ist folglich die Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie. Wer nun allerdings erwartet hätte, dass der EuGH infolgedessen Art. 6 Abs. 3 Kosmetikricht- 16 linie aus sich heraus auslegt, wird freilich enttäuscht. Der EuGH führt stattdessen weiter aus, dass Art. 36 AEUV den Mitgliedstaaten zwar erlaubt, Beschränkungen des freien Warenverkehrs aufrechtzuerhalten, doch die Anwendung dieser Bestimmung ausgeschlossen ist, wenn Richtlinien der Union die Harmonisierung der Maßnahmen vorsehen, die zur Verwirklichung des kon-

_____ 41 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-210/96 Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657; kritisch dazu Leible, EuZW 1998, 528; Rüffler, wbl. 1998, 381, 383; ders., in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 97 ff. 42 EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart und Biffl, Slg. 2002, I-9375. 43 Richtlinie 76/768/EWG des Rates v. 27.7.1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel, ABl. 1976 L 262/169. 44 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 24; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 23. 45 EuGH v. 23.11.1989 – Rs. C-150/88 Parfümerie-Fabrik 4711, Slg. 1989, 3891 Rn. 28; EuGH v. 12.9.1993 – Rs. C-37/92 Vanacker und Lesage, Slg. 1993, I-4947 Rn. 9; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-324/99 DaimlerChrysler, Slg. 2001, I-9897 Rn. 32.

Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

kreten Zieles, das mit dem Rückgriff auf Art. 36 AEUV erreicht werden soll, erforderlich sind.46 Ungeachtet dessen müssten Maßnahmen der Mitgliedstaaten zur Durchführung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie dem Art. 36 AEUV immanenten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.47 Unter Zugrundelegung dieser Prämisse hält der Gerichtshof das von ihm im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelte Leitbild des verständigen Verbrauchers auch für die Auslegung des Irreführungsbegriffs der Kosmetikrichtlinie für maßgeblich und gelangt daher zum Ergebnis, dass eine Irreführungsgefahr nicht besteht; denn die Angabe „dermatologisch getestet“ auf der Verpackung bestimmter kosmetischer Mittel wecke bei einem durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher allenfalls die Vorstellung, dass das Mittel einem Test zur Ermittlung seiner Auswirkungen auf die Haut unterzogen wurde, schreibe ihm aber keinesfalls Eigenschaften zu, die es nicht besitzt. Das kann jedoch nur im Ergebnis, nicht aber dogmatisch überzeugen. Wenn die Kosmetik17 richtlinie, was außer Zweifel steht, zu einer abschließenden Harmonisierung geführt hat, sind Beschränkungen des freien Warenverkehrs nicht zu befürchten, sofern ihre Regelungen diskriminierungsfrei ausgestaltet sind. Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen. 18 Hielte man bei der Auslegung von sekundärrechtlichen Vorschriften des Täuschungsschutzes wie Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie statt des im Rahmen der Grundfreiheiten entwickelten Leitbilds des verständigen Verbrauchers das eines flüchtigen und unaufmerksamen Konsumenten für maßgeblich, weil etwa der Erwerber kosmetischer Mittel besonders schutzbedürftig ist, wäre damit eine Beschränkung der Grundfreiheiten nicht verbunden; denn unionsweit würde der gleiche strenge Maßstab gelten. Das Inverkehrbringen mit „dermatologisch getestet“ bezeichneter Kosmetika wäre unionsweit untersagt. Aufgabe der Grundfreiheiten ist aber nicht die Beseitigung jeglicher Begrenzungen wirtschaftlicher Freiheit.48 Gesichert werden soll lediglich der Marktzutritt von Produkten, die in einem Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt oder in den Verkehr gebracht worden sind.49 Welche Waren und Wirtschaftsleistungen im europäischen Binnenmarkt überhaupt zulässig sind oder zulässigerweise verboten werden dürfen, ist eine den Verkehrsfreiheiten vorgelagerte Problematik. Sie muss daher im Rahmen einer „grundfreiheitenkonformen Auslegung“ außer Betracht bleiben. Folglich überzeugt es auch nicht, unter Hinweis auf eine mögliche unterschiedliche Handhabung des an sich einheitlichen Irreführungstatbestands Art. 34 ff. AEUV immerhin eine Maßstabsfunktion zuzuerkennen.50 Im Ergebnis ist den Ausführungen des EuGH gleichwohl zuzustimmen. Allerdings ist die 19 Maßgeblichkeit des Leitbilds des verständigen Verbrauchers nicht die Folge einer Auslegung von Art. 6 Abs. 3 Kosmetikrichtlinie im Lichte der Grundfreiheiten, sondern im Lichte der Unionsgrundrechte.51 Im Raume steht bei Etikettierungsvorschriften u.a. eine Verletzung des auch unionsrechtlich garantierten Grundrechts der Berufsfreiheit,52 das die umfassende Gewährleistung der wirt-

_____ 46 EuGH v. 19.3.1998 – Rs. C-1/96 Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251 Rn. 47; EuGH v. 25.3.1999 – Rs. C-112/97 Kommission ./. Italien, Slg. 1999, I-1821 Rn. 54. 47 EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431 Rn. 27; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 26. 48 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 18; ebenso W.-H. Roth, in: FIW (Hrsg.), Marktwirtschaft und Wettbewerb im sich erweiternden europäischen Raum (1994), S. 37 ff.; ders., FS Großfeld (1998), S. 944 ff. 49 Zur hier nicht zu diskutierenden Bedeutung der Wendung „in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig hergestellt und in Verkehr gebracht“ vgl. mwN Grabitz/Hilf/Nettesheim-Leible/T. Streinz, Art. 34 AEUV Rn. 69. 50 So aber Streinz, JuS 2000, 807, 809 Fn. 10. 51 Allgemein zum Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten (2001); Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV (2004). 52 So explizit EuGH v. 13.12.1994 – Rs. C-306/93 SMW Winzersekt, Slg. 1994, I-5555 Rn. 24. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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schaftlichen Betätigungsfreiheit enthält.53 Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Bereich sind u.a. nur dann zulässig, wenn sie verhältnismäßig sind.54 Verhältnismäßig i.d.S. kann mangels besonders schutzbedürftiger Gruppen ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Produzenten und Vertreiber von Kosmetika aber nur sein, wenn er bei der Zulässigkeit des Verbots der Verwendung einer Bezeichnung auf das Verständnis abhebt, das diese bei einem „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“ hat. Denn die Grundfreiheiten und die Unionsgrundrechte sollten ungeachtet ihrer unterschiedlichen Schutzrichtung und der divergenten Interessenlage zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung kohärent ausgelegt werden.55 Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist daher im Rahmen sowohl der grundfreiheiten- als auch der grundrechtskonformen Auslegung von Irreführungsverboten des abgeleiteten Unionsrechts von einem einheitlichen Verbraucherleitbild im oben skizzierten Sinne auszugehen.

2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung abgeleiteten Unionsrechts Worauf das Gebot primärrechtskonformer Auslegung sekundären Unionsrechts beruht, ist noch 20 nicht abschließend geklärt.

a) Die Rechtmäßigkeitsvermutung abgeleiteten Unionsrechts Auf den ersten Blick mag es nahe liegen, dass der Unionsgesetzgeber, der eine ranghöhere Norm 21 durchführt, sich an dieser ausrichtet56 und deshalb eine Vermutung für die Primärrechtskonformität des sekundären Unionsrechts spricht.57 In dieser Vermutung könnte ein Prinzip zum Ausdruck kommen, das eine primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Unionsrechts verlangt. Diese Überlegung ist freilich insofern angreifbar als die Existenz von Verfahren, die – wie die Nichtigkeitsklage (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV) und das Vorabentscheidungsverfahren (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) – eine Normverwerfung erlauben, Zeugnis dafür sind, dass die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ dem Unionsgesetzgeber „misstrauten“ und deshalb eine solche Vermutung gerade nicht zulassen.58

b) Der Systemgedanke, der Vorrang des primären Unionsrechts und die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers Näherliegend ist es, das Gebot primärrechtskonformer Auslegung auf den Systemgedanken zu 22 stützen.59 Dieser Gedanke beruht auf der zutreffenden Einsicht, dass Sekundär- und Primärrecht

_____ 53 EuGH v. 19.9.1985 – verb. Rs. 63/84 und 147/84 Finsider, Slg. 1985, 2857 Rn. 27; vgl. auch Ehlers-Ruffert, § 16.4 Rn. 9 ff. 54 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, Slg. 1989, 2609 Rn. 18; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-280/93 Deutschland ./. Rat, Slg. 1994, I-4973 Rn. 90 ff.; vgl. dazu Ehlers-Ehlers, § 14 Rn. 50 ff. 55 So auch Streinz, Europarecht, Rn. 772. 56 Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1181; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 325. 57 Auch der Gerichtshof beruft sich mitunter auf die Rechtmäßigkeitsvermutung des Sekundärrechts, allerdings nicht um die primärrechtskonforme Auslegung zu legitimieren, sondern um seine alleinige Befugnis zur Verwerfung des Sekundärrechts argumentativ abzusichern, vgl. zuletzt EuGH v. 5.10.2004 – Rs. C-475/01 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2004, I-8923 Rn. 18. 58 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 222 f. 59 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194 („Systemgedanke und Autorität der Vertragsparteien“); Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 186; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 19 EUV Rn. 19. Zu Systemdenken und Systembildung im Sekundärrecht s. Grundmann, in diesem Band, § 9. Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern eine Einheit,60 ein System aufeinander abgestimmter Entscheidungen bilden. Als Teil des Unionsrechtssystems darf das Sekundärrecht nicht isoliert ausgelegt werden,61 vielmehr ist es im Lichte des gesamten Unionsrechts,62 also auch des Primärrechts, zu deuten. Auf den Systemgedanken beruft sich auch der EuGH: Bei der Auslegung der Bestimmungen einer Richtlinie sei „dem Gedanken der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung Rechnung zu tragen, der verlangt, dass das abgeleitete Gemeinschaftsrecht gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts ausgelegt wird.“63 Indessen reicht der Systemgedanke alleine nicht aus, um die primärrechtskonforme Aus23 legung zu legitimieren. 64 Denn erstens ist dem Systemgedanken nur zu entnehmen, dass Widersprüche im System zu vermeiden sind, indem einzelne Normen im Lichte der Gesamtrechtsordnung möglichst systemkonform ausgelegt werden. MaW: Der Systemgedanke verbietet eine Auslegung, die im Widerspruch mit dem Primärrecht steht (Verbot primärrechtskonträrer Auslegung), er gebietet jedoch nicht die primärrechtskonforme Interpretation.65 Und zweitens könnte man dem Systemgedanken auch dadurch Rechnung tragen, dass man sekundärrechtliche Normen, die primärrechtswidrige Deutungen zulassen, als systemwidrig oder systemfremd einstuft und durch einschränkende Auslegung „isoliert“66 oder sogar verwirft.67 Ganz ähnliche Erwägungen sprechen auch dagegen, das Gebot primärrechtskonformer Aus24 legung nur im Vorrang des Primärrechts bzw. im Stufenbau des Unionsrechts zu verankern.68 Den Verträgen, vor allem Art. 19 Abs. 3 lit. a) und b) EUV, Art. 263, 267 Abs. 1 lit. b) AEUV lässt sich entnehmen, dass sekundärrechtliche Normen im Rang unter dem primären Unionsrecht stehen.69 In den Worten des Gerichtshofs ist das Vertragsrecht „Grundlage, Rahmen und Grenze“70 des darauf gestützten Rechts und die „Bestimmung eines Akts des abgeleiteten Rechts [kann] nach dem Grundsatz der Normenhierarchie keine Abweichung von einer Bestimmung des Vertrages gestatten.“71 Dem Vorrang des Primärrechts ist jedoch auch Genüge getan, wenn die sekundärrechtliche Norm für nichtig bzw. ungültig erklärt wird. Aus „rechtshygienischen“ Gründen mag es sogar wünschenswert sein, eine Norm, die eine primärrechtswidrige Auslegung zulässt, aus der Rechtsordnung zu entfernen.72 Eine tragfähige Grundlage gewinnt man, wenn man den Systemgedanken und den Vorrang 25 des Primärrechts mit der Überlegung verknüpft, dass der primärrechtskonformen Auslegung die

_____ 60 Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-40. 61 EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62. 62 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20; ähnl. schon EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7. 63 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 64 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 223–229. 65 Vgl. Michel, JuS 1961, 274, 275 f.; Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen (1973), S. 101. 66 In diesem Fall hat die vom Gerichtshof oft bemühte Regel, Ausnahmen seien eng auszulegen, ihre Berechtigung; vgl. auch Kramer, Methodenlehre, S. 187 f. 67 Vgl. Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 130–132; ders., FS Kramer (2004), S. 148. 68 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 229; a.A. Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 9; Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 364; ders., JuS 2004, 180, 182; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 20. 69 Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002), S. 308, 364; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 20. 70 EuGH v. 10.12.1969 – Rs. 34/69 Caisse d’Assurance Vieillesse, Slg. 1969, 597 Rn. 5/7; EuGH v. 5.10.1978 – Rs. 26/78 Viola, Slg. 1978, 1771 Rn. 9/14. 71 EuG v. 28.3.2001 – Rs. T-144/99 Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter ./. Kommission, Slg. 2001, II-1087 Rn. 50; s.a. EuG v. 10.7.1990 – Rs. T-51/89 Tetra Pak, Slg. 1990, II-309 Rn. 25. 72 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 233, 456 f. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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Funktion zukommt, den Unionsgesetzgeber vor Übergriffen der europäischen Gerichte zu bewahren.73 Der Respekt vor der Rechtsetzungsprärogative des Unionsgesetzgebers, den vor allem das allgemeine Gebot der richterlichen Zurückhaltung, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung der Unionsorgane (Art. 13 Abs. 2 S. 1 EUV) und das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts der Judikative abverlangen, gebietet die Aufrechterhaltung des Sekundärrechts so weit wie möglich.74 Geht man weiterhin davon aus, dass auch im Verhältnis der Unionsorgane untereinander ein Übermaßverbot gilt,75 dann verdient die primärrechtskonforme Auslegung den Vorzug, weil sie sich im Verhältnis zur Normverwerfung als weniger einschneidendes Mittel erweist, die Normverwerfung also nicht erforderlich ist. Bedarf das Sekundärrecht der Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung durch innerstaat- 26 liches Recht (angeglichenes Recht i.w.S.), schützt das Gebot primärrechtskonformer Auslegung zugleich die Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers und schont so die mitgliedstaatliche Souveränität. Denn die Verwerfung des Sekundärrechts hat zur Folge, dass der unionsrechtliche Verpflichtungsgrund für das angeglichene Recht entfällt und den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber jedenfalls dann zum Handeln zwingt, wenn der Gerichtshof die Rechtswirkungen des für nichtig erklärten Sekundärrechts nicht aufrechterhält (Art. 264 Abs. 2 AEUV) und der Verstoß gegen das Primärrecht auf das angeglichene Recht durchschlägt. In diesem Fall greift der Gerichtshof zwar nicht direkt in die Kompetenzen des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers ein, weil die Verwerfung des Sekundärrechts nicht auch den innerstaatlichen Befehl zur Anwendung des angeglichenen Rechts außer Kraft setzt. Jedoch werden die auf Grund des für nichtig erklärten Rechtsakts erlassenen Vorschriften unanwendbar und sind vom mitgliedstaatlichen Gesetzgeber aufzuheben oder zu korrigieren,76 da sie mit dem Primärrecht kollidieren und deshalb der Anwendungsvorrang des Unionsrechts eingreift. Indessen bleibt das angeglichene Recht anwendbar und der mitgliedstaatliche Gesetzgeber wird nicht mit Normkorrekturen behelligt, wenn sich das Sekundärrecht durch primärrechtskonforme Auslegung aufrechterhalten lässt. Der Gedanke der Souveränitätsschonung liegt freilich um so ferner, je mehr die Autonomie des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers durch detaillierte unionsrechtliche Vorgaben eingeschränkt ist. Umgekehrt ist die Verwerfung des Sekundärrechts um so unangemessener, je mehr Spielraum es dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber bei seiner Umsetzung, Ausgestaltung oder Ergänzung belässt. Unabhängig davon, wieviel Gestaltungsfreiheit dem mitgliedstaatlichen Gesetzgeber verbleibt, lässt sich das Gebot primärrechtskonformer Auslegung insoweit auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie ergänzend auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV stützen. Der Gerichtshof ist dementsprechend verpflichtet, das Sekundärrecht so lange mittels primärrechtskonformer Auslegung aufrechtzuerhalten, wie das nach Unionsrecht möglich ist.

_____ 73 Zust. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 229 f.; ähnlich Grabitz/Hilf/Nettesheim-Mayer, Art. 19 EUV Rn. 62; s.a. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 188; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 122, 325. 74 Vgl. auch Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-41. 75 Dazu, dass auch zwischen den Staatsfunktionen untereinander ein Übermaßverbot gilt, das die verfassungskonforme Auslegung stützt, Zippelius, FG 25 Jahre BVerfG (1976), Bd. II, S. 111; zust. Canaris, FS Kramer (2004), S. 152; Lüdemann, JuS 2004, 27, 29. 76 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Dörr, Art. 264 AEUV Rn. 10 (demzufolge zwar die konkreten Folgen vom nationalen Recht abhängen, der aber insbesondere an „Rechtswidrigkeit, Aufhebbarkeit, Nichtigkeit“ denkt); Lenz/BorchardtBorchardt, Art. 264 AEUV Rn. 4. Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre 27 Aus der Vorrangstellung des Primärrechts folgt, dass die primärrechtskonforme Auslegung Vor-

rang vor den übrigen Auslegungskriterien genießt. Von mehreren möglichen Interpretationen einer sekundärrechtlichen Regelung setzt sich in jedem Falle diejenige durch, die mit dem Primärrecht vereinbar ist. Eine Abwägung mit den gegenläufigen Deutungsmöglichkeiten ist weder erforderlich noch zulässig, selbst wenn sie in ihrer Zahl und Stärke das primärrechtskonforme Auslegungskriterium überwiegen. Methodologisch ist die primärrechtskonforme Auslegung deshalb als interpretatorische Vorrangregel zu qualifizieren.77 Das bedeutet allerdings nicht, dass den übrigen Auslegungskriterien überhaupt keine Bedeutung zukommt. Zwar können sie das Auslegungsergebnis nicht mehr bestimmen, sie können es jedoch ggf. noch bekräftigen und ihm so eine noch größere Überzeugungskraft verleihen und die Akzeptanz der richterlichen Entscheidung erhöhen. Außerdem übernehmen die übrigen Auslegungskriterien immerhin noch eine begrenzende Funktion, stecken sie doch den Bereich zulässiger Rechtsfindung ab.78 28 Im System der juristischen Methodenlehre hat die primärrechtskonforme Auslegung ihren Platz im Rahmen der systematischen und objektiv-teleologischen Auslegung.79 Dass es bei ihr nicht – wie bei der einfach-systematischen Auslegung – um eine Zusammenschau hierarchisch auf einer Stufe stehender Normen geht, sondern Vorschriften abgeglichen werden, denen innerhalb derselben Rechtsordnung ein unterschiedlicher Rang zukommt, rechtfertigt es nicht, ihr eine andere Stellung – etwa neben den übrigen Auslegungskriterien – zuzuweisen.80

4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts 29 Vom Gebot primärrechtskonformer Auslegung erfasst ist das gesamte abgeleitete Unionsrecht.81

Dazu gehört das sekundäre Unionsrecht, das neben Verordnungen, Richtlinien, Empfehlungen und Beschlüssen (früher: Entscheidungen) auch Rechtsakte, die nicht den in Art. 288 AEUV vertypten Rechtshandlungen zugeordnet werden können (z.B. wettbewerbsrechtliche Leitlinien), umfasst. Zudem sind auch Übereinkünfte der Union (Art. 216 Abs. 1 AEUV) mit Drittstaaten und internationalen Organisationen, die nicht zum Sekundärrecht gehören, sondern einen Zwischenrang zwischen jenem und dem Primärrecht einnehmen (arg. ex Art. 216 Abs. 2, 218 Abs. 11 AEUV), primärrechtskonform auszulegen. 30 Zum abgeleiteten Unionsrecht zählen auch die Normen, die auf sekundärem Unionsrecht beruhen und seiner Durchführung dienen (sog. Tertiärrecht). Diese Normen stehen im Rang unter den Bestimmungen des Rechtsakts, von dem sie abgeleitet sind.82 Die Stufung des Unions-

_____ 77 Grundlegend zu den Unterschieden von interpretatorischer Abwägungslösung und interpretatorischer Vorrangregel Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 64–67; ders., FS Kramer (2004), S. 143–146. 78 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 70 f.; ders., FS Kramer (2004), S. 145 f., 154. 79 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532. Für Erscheinungsform der systematischen Auslegung: Kutscher, in: EuGH (Hrsg.), Begegnung von Justiz und Hochschule (1976), S. I-40; Meyer, Jura 1994, 455, 457; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 447 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63; Ahlt/Dittert, Europarecht (4. Aufl. 2011), S. 75 f. Für Anwendungsfall der teleologischen Auslegung Lutter, JZ 1992, 593, 603. 80 A.A. Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, S. 327 f. 81 EuGH v. 11.7.1996 – verb. Rs. C-427/93, C-429/93 und C-436/93 Bristol-Myers Squibb u.a., Slg. 1996, I-3457 Rn. 27; EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 82 Vgl. EuGH v. 10.3.1971 – Rs. 38/70 Deutsche Tradax, Slg. 1970, 145 Rn. 10; EuGH v. 2.3.1999 – Rs. C-179/97 Spanien ./. Kommission, Slg. 1999, I-1251 Rn. 20. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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rechts ist auch bei der Auslegung zu beachten. Dementsprechend ist z.B. eine Durchführungsverordnung, wenn möglich, so auszulegen, dass sie mit den Bestimmungen der Grundverordnung vereinbar ist.83 Die Grundverordnung ist ggf. ihrerseits primärrechtskonform auszulegen. Eine primärrechtskonforme Auslegung der Durchführungsverordnung verbietet sich, weil sonst der Regelungsabsicht des jeweils kompetenten Regelgebers nicht Rechnung getragen werden könnte. Nach diesen Vorgaben ist z.B. bei der Auslegung der in das Unionsrecht inkorporierten internationalen Rechnungslegungsstandards zu verfahren. Die internationalen Rechnungslegungsstandards – International Accounting Standards (IAS) und International Financial Reporting Standards (IFRS) – werden vom International Accounting Standard Board (IASB), einem nichtstaatlichen Regelgeber, herausgegeben und können von der Kommission im sog. Endorsementverfahren gemäß Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 IFRS-VO84 übernommen werden. Die übernommenen Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung im Amtsblatt veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IFRS-VO). Durch die Übernahme werden die Rechnungslegungsstandards verbindliches Unionsrecht, das von den Unternehmen anzuwenden ist, die ihre Abschlüsse gemäß Art. 4 IFRS-VO oder gemäß Art. 5 IFRS-VO iVm nationalem Recht nach internationalen Rechnungslegungsstandards zu erstellen haben. Bei den Kommissionsverordnungen handelt es sich um Durchführungsvorschriften. Sie sind deshalb am Maßstab der IFRS-VO – insbesondere dem True-and-fair-view-Prinzip (Art. 3 Abs. 2 IFRS) –, deren Durchführung sie dienen, auszulegen. Die IFRS-VO ist ggf. primärrechtskonform zu interpretieren.

5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung abgeleiteten Unionsrechts Die Respektierung der Autorität des Unionsgesetzgebers als tragender Begründungsansatz des 31 Gebots primärrechtskonformer Auslegung bedeutet nicht, dass abgeleitetes Unionsrecht um jeden Preis durch den Gerichtshof aufrechtzuerhalten ist. Der primärrechtskonformen Auslegung sind Grenzen gesetzt. Wo diese Grenzen verlaufen, ist bislang wenig erörtert.

a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts Allgemein anerkannt ist, dass Gesetze lückenhaft sein können und deshalb nicht alle Sachver- 32 halte durch Auslegung zu lösen sind. Gemeinhin wird deshalb eine richterliche Rechtsfortbildung akzeptiert. Im Grundsatz ist das auch für das Unionsrecht unbestritten, für das dem Gerichtshof die Befugnis zur Rechtsfortbildung zufällt.85 Grundsätzlich zulässig ist auch eine primärrechtskonforme Fortbildung des sekundären 33 Unionsrechts. Der EuGH hatte die Befugnis zur Rechtsfortbildung zunächst sogar an die Voraussetzung geknüpft, dass das sekundäre Unionsrecht „eine Lücke enthält, die mit einem allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist“.86 Zu Recht hat der Gerichtshof diese

_____ 83 EuGH v. 24.3.1993 – Rs. C-90/92 Dr. Tretter, Slg. 1993, I-3569 Rn. 11; EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-61/94 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1996, I-3989 Rn. 52. 84 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 85 Ausdrücklich akzeptiert von BVerfGE 75, 223, 241 ff. 86 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14; vgl. auch EuGH v. 11.7.1978 – Rs. 6/78 Union Francaise de Cereales, Slg. 1978, 1675 Rn. 4; zust. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Rechtsprechung aufgegeben. Denn selbstverständlich kann allein die Systematik und Teleologie des Sekundärrechts seine Fortbildung fordern.87 Da überwiegend Gleichheitsrechte (Grundfreiheiten, Diskriminierungsverbote, allgemeiner 34 Gleichheitssatz) den Bezugspunkt im Primärrecht bilden, ist eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung allerdings nur selten möglich. Verstößt sekundäres Unionsrecht gegen ein Gleichheitsrecht, so ist es Sache des Unionsgesetzgebers, wie er den Verstoß behebt. Er kann die benachteiligte Person, Ware usw. in die begünstigende Regelung einbeziehen, die Begünstigung aufheben oder den Kreis der Begünstigten gänzlich anders definieren. Der Gerichtshof respektiert die Gestaltungsfreiheit des Unionsgesetzgebers, indem er sekundäres Unionsrecht insoweit nicht für ungültig bzw. nichtig erklärt, sondern – wie das Bundesverfassungsgericht in den Fällen des gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlusses88 – sich auf die Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Gleichheitsrecht beschränkt.89 Für die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung bedeutet das, dass sie grundsätzlich unzulässig ist, wenn mehrere Regelungsmöglichkeiten offenstehen, die alle mit dem Primärrecht vereinbar wären, da sie ansonsten ebenso wie die Normverwerfung der Entscheidung des Unionsgesetzgebers vorgreifen würde.90 35 Als Mittel der Ausfüllung von Lücken im sekundären Unionsrecht bieten sich – wie auch sonst – insbesondere der Analogieschluss und die teleologische Reduktion an. Der Analogieschluss kommt als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung immer dann in Betracht, wenn das Sekundärrecht eine mit dem Primärrecht unvereinbare Lücke enthält, aber eine Regelung vorsieht, die zwar nicht nach ihrem Wortlaut, jedoch nach ihrem Sinn und Zweck angewandt werden kann, um die Lücke zu schließen und so den Primärrechtsverstoß zu vermeiden. Die primärrechtskonforme (teleologische) Reduktion des Sekundärrechts steht zu Gebote, wenn der Normtext verglichen mit der Teleologie des Primärrechts zu weit gefasst ist. Der EuGH hat z.B. die analoge Anwendung einer Verordnungsbestimmung – hilfsweise – damit begründet, dass andernfalls „sogar angenommen werden [könnte], dass der Rat seine Verpflichtung aus Art. 51 des Vertrages, die auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen zu treffen, nicht vollständig erfüllt hat.“91 Enthalten die Verträge eine Pflicht zur Rechtsetzung und hat der Unionsgesetzgeber diese Pflicht unzureichend erfüllt, dann ist es – innerhalb der Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung – in der Tat überzeugend, die Norm entsprechend anzuwenden, die der Unionsgesetzgeber zur Erfüllung des Regelungsauftrags erlassen hat. Denn der Unionsgesetzgeber könnte auch nicht mehr tun als die Regelung entsprechend zu erweitern. Das gilt in aller Regel auch, wenn der Unionsgesetzgeber einer primärrechtlichen Schutzpflicht nicht hinreichend nachgekommen ist.92 Anders liegen die Dinge, wenn der Unionsgesetzgeber überhaupt nicht rechtsetzend tätig geworden ist.93 Eine primärrechtskonforme Reduktion ist z.B. im Hinblick auf einige Regelungen der EuGVVO geboten. Aus dem Wortlaut einiger Regelungen lässt sich entnehmen, dass diese nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte Anwendung finden (z.B. Art. 3 Abs. 1 EuGVVO), während in anderen Regelungen dieses den Anwendungsbe-

_____ 87 In diesem Sinne EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a., Slg. 2002, II-4945 Rn. 131–135; EuG v. 28.1.2004 – verb. Rs. T-142/01 und T-283/01 OPTUC, Slg. 2004, II-329 Rn. 76–92; EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, Slg. 2005, I-9611 Rn. 65, 68; s.a. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2655 Rn. 12–18; EuGH v. 23.3.2000 – Rs. C-208/98 Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741 Rn. 18; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2006, I-2161 Tz. 42–45. 88 Vgl. z.B. BVerfGE 33, 303, 349. 89 Vorbildlich EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel, Slg. 1977, 1753 Rn. 13. 90 Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 221 spricht in diesem Fall von „unausfüllbaren Lücken“. 91 EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8. 92 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 162. 93 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling (1995), Bd. I, S. 220. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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reich der EuGVVO begrenzende Merkmal fehlt (z.B. Art. 16 Abs. 1 EuGVVO). Gleichwohl sollen nach h.M. auch diese Regelungen auf reine Inlandssachverhalte nicht anwendbar sein.94 Dafür stützt man sich ganz überwiegend auf die Begründungserwägungen der EuGVVO.95, 96 Indessen können weder diese im Rahmen der historischen Interpretation noch die übrigen Kanones diese Auslegung stützen. Methodologisch lässt sich das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs nur im Wege einer teleologischen (primärrechtskonformen) Reduktion dieser Regelungen erreichen:97 Die Verordnung ist eine Maßnahme im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen i.S.v. Art. 81 Abs. 2 AEUV.98 Diese Bestimmung beschränkt die Rechtsetzungskompetenz der EU auf Maßnahmen mit grenzüberschreitenden Bezügen.99 Die Auslegung, die EuGVVO erfasse auch reine Inlandssachverhalte, ist dementsprechend nicht möglich. Die Regelungen der EuGVVO, die einen grenzüberschreitenden Bezug nicht vorsehen, sind in ihrem Wortlaut zu weit gefasst und daher in primärrechtskonformer Weise zu reduzieren.

b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung abgeleiteten Unionsrechts Das Gebot primärrechtskonformer Rechtsfindung darf nicht dazu führen, dass der Gerichtshof 36 die gesetzgeberische Entscheidung durch seine eigene ersetzt.100 Eine Korrektur des Sekundärrechts mit Hilfe der primärrechtskonformen Rechtsfindung kommt nicht in Betracht, liefe dies doch auf eine Änderung ihres Inhalts hinaus. Diese ist jedoch der Legislative vorbehalten und nicht Aufgabe der Judikative.101 Der EuGH nimmt eine primärrechtskonforme Korrektur des Sekundärrechts daher auch nur dann vor, wenn es „mehr als eine Auslegung gestattet“.102 Die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung findet ihre Grenze im Verbot des contra-legem-Judizierens. Danach ist dem Gerichtshof eine Rechtsfindung verboten, die sich über den Wortsinn und den Zweck der sekundärrechtlichen Regelung hinwegsetzt;103 je für sich bilden diese beiden Kriterien grundsätzlich keine unübersteigbare Hürde für den Richter.104 Soweit eine Aufrechterhaltung der Norm mit den der Rechtsprechung zur Verfügung ste- 37 henden Mitteln nicht möglich ist, ist die Norm nichtig. Die Nichtigkeit ist vom EuGH festzustellen, entweder im Rahmen einer Nichtigkeitsklage (Art. 19 Abs. 3 lit. a) EUV, Art. 263, 264 Abs. 1 AEUV) oder eines Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 19 Abs. 3 lit. b) EUV, Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV). Durch die Normverwerfung kann freilich eine Lücke entstehen, die in primärrechtskonformer Weise – etwa in Analogie zu einer anderen Norm – geschlossen werden kann.

_____ 94 Kropholler/v. Hein, Europäisches Zivilprozessrecht (9. Aufl. 2011), vor Art. 2 EuGVVO Rn. 6 f.; Rauscher-Staudinger, Einl Brüssel I-VO Rn. 19; Thomas/Putzo-Hüßtege, ZPO (35. Aufl. 2014), Vorbem EuGVVO Rn. 11; Gebauer/ Wiedmann-Gebauer, Kap. 26 Rn. 10; anders Zöller-Geimer, ZPO (30. Aufl. 2014), Anh. I Art. 2 EuGVVO Rn. 14. 95 Vgl. BE 2 EuGVVO. 96 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht (6. Aufl. 2014), Rn. 270; Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 19. 97 I.E. ebenso Rauscher-Staudinger, Einl. Brüssel I-VO Rn. 19, der dieses Ergebnis aber durch primärrechtskonforme Auslegung erreichen möchte. 98 S.a. BE 3 EuGVVO. 99 Vgl. Streinz-Leible, Art. 81 AEUV Rn. 6 ff. 100 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. 101 EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 Rn. 117. 102 EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 205/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1986, 3755 Rn. 62; EuGH v. 4.12.1986 – Rs. 206/84 Kommission ./. Irland, Slg. 1986, 3817 Rn. 15. 103 Vgl. Bydlinski, in: Koller u.a. (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, S. 27 ff.; ders., JBl. 1997, 617, 620; zust. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 92; anders Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 132. 104 Vgl. z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 12; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-323/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2006, I-2161 Tz. 42–45; s.a. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 94 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

III. Die primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts 38 Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts hat der EuGH

erstmals im Urteil Murphy ausdrücklich ausgesprochen. Der Gerichtshof stellte fest, dass es „Sache des nationalen Gerichts [ist], das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden; soweit eine solche gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, darf es entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.“105 Dieses Gebot wird gemeinhin akzeptiert. Allerdings ist noch nicht abschließend geklärt, worauf seine Verbindlichkeit beruht, wie es sich zu den übrigen Auslegungskriterien verhält, wie weit es reicht und welche Grenzen ihm gesetzt sind. Bevor diese Fragen erörtert werden können, ist zu überlegen, inwieweit primäres Unionsrecht überhaupt als Maßstab für die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts in Betracht kommt.

1. Das primäre Unionsrecht als Maßstab für die Auslegung nationalen Rechts a) Die möglichen Bezugspunkte im primären Unionsrecht 39 Mögliche Bezugspunkte der primärrechtskonformen Auslegung sind insbesondere die Grund-

freiheiten, die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften, das Verbot der Entgeltdiskriminierung (Art. 157 AEUV) sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV). Das BAG hat z.B. im Hinblick auf einen Streit um die tarifgerechte Eingruppierung einer Arbeitnehmerin entschieden, dass Art. 119 EWG (Art. 157 AEUV) erfordert, das Tatbestandsmerkmal der „schweren körperlichen Arbeit“ in einem Tarifvertrag primärrechtskonform auszulegen und auf alle den Körper belastenden Umstände abzustellen, die bei Männern und Frauen in gleicher Weise zu körperlichen Reaktionen führen können.106 Eine grundfreiheitenkonforme Auslegung ist beispielsweise im Hinblick auf § 1 Abs. 1 UmwG geboten. Nach bisher h.M. können nur Rechtsträger mit Sitz im Inland umgewandelt werden.107 Dementsprechend wäre z.B. die Verschmelzung einer englischen Ltd. auf eine deutsche AG nicht zulässig. Die Beschränkung der Umwandlungsfähigkeit auf Rechtsträger mit Sitz im Inland widerspricht indessen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49, 54 AEUV). Das hat der EuGH im Urteil SEVIC bestätigt.108 Allerdings kann man § 1 Abs. 1 UmwG unschwer dahin grundfreiheitenkonform interpretieren, dass es für eine Umwandlung genügt, dass einer der beteiligten Rechtsträger seinen Sitz im Inland hat.109 Dementsprechend sind Umwandlungen von Gesellschaften mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWR-Vertragsstaat auf deutsche Gesellschaften grundsätzlich zulässig. Diese Auslegung trägt der Niederlassungsfreiheit ausreichend Rechnung und verhindert, dass § 1 Abs. 1 UmwG bzw. das primärrechtswidrige Erfordernis des Inlandssitzes unangewendet bleiben muss. Darüber hinaus verpflichtet die Niederlassungsfreiheit die mitgliedstaatlichen Gerichte, die Vorschriften, die für Umwandlungen von Rechtsträgern mit Sitz im Inland gelten, auf grenzüberschreitende Umwandlungen entsprechend anzuwenden.

_____ 105 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11. 106 BAGE 71, 56, 65 f. 107 Vgl. dazu mwN Michalski-Leible, GmbHG (2. Aufl. 2010), Syst. Darst. 2 Rn. 211 Fn. 686. 108 EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 SEVIC, Slg. 2005, I-10805 Rn. 11 ff. 109 Vgl. Kallmeyer, ZIP 1996, 535, 535; Leible/Hoffmann, RIW 2006, 161, 164; zu den praktischen Folgen vgl. z.B. Teichmann, ZIP 2006, 355, 360 f.; Geyrhalter/Weber, DStR 2006, 146, 148 ff. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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b) Die Auswahl des richtigen Bezugspunktes: das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung Die Auswahl des richtigen unionsrechtlichen Auslegungsmaßstabs ist für die Anwendung des 40 nationalen Rechts von größerer Bedeutung als für die primärrechtskonforme Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts (dazu Rn. 9 ff.), weil hier neben dogmatischen Überlegungen (vgl. Rn. 17) zusätzlich mitgliedstaatliche Souveränitätsbelange zu beachten sind. Dabei geht es aber weniger um die Auswahl des richtigen Bezugspunktes im Primärrecht, sondern vielmehr um die Ermittlung des Auslegungsmaßstabs, wenn die Anwendung sekundär- und primärrechtlicher Regelungsvorgaben in Rede steht. Damit angesprochen ist vor allem das Verhältnis von richtlinien- und unionsgrundrechtskonformer Auslegung. An Richtlinienvorgaben sind die Mitgliedstaaten umfassend gebunden, an die durch die 41 Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisteten Unionsgrundrechte indes ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh).110 Unionsrecht führen die Mitgliedstaaten u.a. durch, wenn die mitgliedstaatliche Judikative nationales Recht zur Umsetzung von Richtlinienvorgaben anwendet.111 Die Bindung an die Unionsgrundrechte bei der Anwendung von Umsetzungsrecht darf indes nicht das Verbot der Horizontalwirkung von Richtlinien im Privatrechtsverhältnis überspielen und den Stufenbau der Rechtsordnung missachten. Dementsprechend ist mitgliedstaatliches Umsetzungsrecht richtlinienkonform auszulegen und die jeweilige Richtlinie, die den Auslegungsmaßstab für das mitgliedstaatliche Recht bildet, ist ihrerseits unionsgrundrechtskonform auszulegen.112 Die Auslegung mitgliedstaatlichen Rechts unmittelbar an den Unionsgrundrechten auszurichten bedeutete, die Richtlinienvorgaben nur noch auf die Funktion eines „Anwendungsvehikels“ für die Unionsgrundrechte zu begrenzen. Über die wirkungsmächtigeren Unionsgrundrechte, die am Anwendungsvorrang des Unionsrechts teilnehmen, ließen sich im Privatrechtsverhältnis so Ergebnisse erreichen, die über Richtlinien mit einer auf richtlinienkonforme Rechtsfindung begrenzten Wirkkraft nicht zu erzielen sind. Der EuGH verfährt seit seinen Entscheidungen in Sachen Mangold und Kücükdeveci aber gleichwohl so und verlangt von den mitgliedstaatlichen Gerichten, in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fallende privatrechtliche Regelungen unangewendet zu lassen, soweit sie nicht richtlinienkonform auslegbar sind.113

c) Die Begrenzung des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts auf den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts Eine primärrechtskonforme Auslegung ist von Unionsrechts wegen nur dann geboten, wenn das 42 nationale Recht in den Anwendungsbereich des primären Unionsrechts fällt.114 Deshalb ist mitgliedstaatliches Recht z.B. nur insoweit grundfreiheitenkonform auszulegen als ein (binnenmarkt-)grenzüberschreitender Bezug vorliegt. Denn auf rein innerstaatliche Sachverhalte sind die Grundfreiheiten nicht anwendbar. Außerhalb seines Anwendungsbereichs kann das Primärrecht allerdings kraft nationalen 43 Rechts bei der Auslegung zu berücksichtigen sein. Das ist zum einen dann der Fall, wenn das

_____ 110 Eingehend zur Bedeutung der Grundrechtecharta auf das Privatrecht Herresthal, ZEuP 2014, 238 ff. 111 Vgl. nur Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2. Aufl. 2013), Art. 51 Rn. 20 mwN. 112 A.A. Herresthal, ZEuP 2014, 238, 275 f. 113 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 78; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 53. 114 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. Leible/Domröse

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innerstaatliche Verfassungsrecht – wie z.B. in Österreich115 – (unionsrechtlich nicht zu beanstandende) umgekehrte Diskriminierungen verbietet. Insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz kann dann die Gerichte dazu verpflichten, von mehreren möglichen Auslegungen diejenige zu wählen, die primärrechtskonform wäre, wenn die zu interpretierende nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Primärrechts fallen würde. Insoweit handelt es sich aber nicht um primärrechtskonforme, sondern um (national-)verfassungskonforme Auslegung.116 Außerdem ist das Primärrecht bei der Auslegung zu beachten, wenn der nationale Gesetzgeber sein Recht freiwillig hieran angepasst hat oder wenn eine Norm die Orientierung am Primärrecht ausdrücklich anordnet.117, 118 Im Übrigen kann sich der Rechtsanwender von den primärrechtlichen Wertentscheidungen – etwa bei der Auslegung von Generalklauseln – inspirieren lassen.119 Da jenseits des europarechtlich determinierten Anwendungsbereichs eine unionsrechtliche Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts nicht besteht, kommt dem aus dem Primärrecht gewonnen Auslegungskriterium – anders als sonst (Rn. 52) – kein Vorrang vor den übrigen Kanones zu. Dementsprechend kann – nach Abwägung der Auslegungskriterien – auch der Deutung der Vorzug zu geben sein, die nicht primärrechtskonform wäre. Um diesen methodischen Unterschied auch terminologisch hervorzuheben, ist es ratsam, insoweit auf den Begriff der primärrechtskonformen Auslegung zu verzichten und stattdessen – in Anlehnung an die bei der analogen Problematik der Auslegung richtlinienüberschießender Regelungen verwendete Begrifflichkeit120 – von quasi-primärrechtskonformer oder primärrechtsorientierter Auslegung zu sprechen.

2. Der Geltungsgrund der primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts 44 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts wird überwiegend auf Art. 4

Abs. 3 EUV gestützt.121 Auch der EuGH hat in seinen Entscheidungen vereinzelt Art. 4 Abs. 3 EUV zur Begründung herangezogen.122 Das mag daran liegen, dass der Gerichtshof von einem allgemeinen Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung ausgeht,123 der neben dem Primärrecht auch sekundäres Unionsrecht als Auslegungsmaßstab für nationales Recht umfasst. In der Tat

_____ 115 Vgl. VfGH, EuGRZ 1997, 362; VfGH, EuZW 2001, 219; VfGH, VfSlg 15.683/1999. 116 Vgl. z.B. OGH, SZ 71/192: Eine enge Auslegung des in § 1 Öffnungszeitengesetz gebrauchten Begriffes „für den Kleinverkauf von Waren bestimmte Betriebseinrichtungen“ ist von Verfassungs wegen geboten, um eine sich ansonsten für den Versandhandel ergebende Inländerdiskriminierung zu vermeiden. 117 Beispielsweise war in § 23 RegE-GWB eine Anordnung zur – wie es in der amtlichen Überschrift heißen sollte – europafreundlichen Anwendung vorgesehen: „Die Grundsätze des europäischen Wettbewerbsrechts sind sind bei der Anwendung der §§ 1 bis 4 und 19 maßgeblich zugrunde zu legen, soweit hierzu nicht in diesem Gesetz besondere Regelungen enthalten sind.“ Ausweislich der Begründung des Regierungsentwurfs sollte sich diese Regelung insbesondere bei solchen Wettbewerbsbeschränkungen auswirken, die allein dem innerstaatlichen Recht unterliegen (BT-Drs. 15/3640, 47). Der Vorschlag ist nicht Gesetz geworden. 118 Vgl. zu der vergleichbaren Problematik der überschießenden Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14. 119 Vgl. z.B. BAGE 84, 344, 359; BGH, NJW 1999, 3552, 3554; BGH, NJW 2000, 1028, 1030. 120 Vgl. Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 915; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 121 Engisch, Einführung in das juristische Denken (9. Aufl. 1997), S. 102 f. Fn. 50; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 53; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003), S. 103; Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (2001), S. 191; Streinz-ders., Art. 4 EUV Rn. 33; Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 4 EUV Rn. 76 und 92; Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Bogdandy/Schill, Art. 4 EUV Rn. 99. 122 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 32–35; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 38–40; implizit EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 31–35. 123 Besonders deutlich EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 117. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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ist dann der Gedanke naheliegend, alle Spielarten der unionsrechtskonformen Auslegung (zusätzlich) auf die Loyalitätsverpflichtung als gemeinsame Basis zurückzuführen.124 Indessen bedarf es – wie auch sonst – keines Rückgriffs auf die lex generalis des Art. 4 Abs. 3 EUV, wenn sich eine andere, speziellere Legitimationsgrundlage finden lässt.125

a) Der Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers bei der „Umsetzung“ primärrechtlicher Vorgaben Primärrecht ist anders als die Richtlinie nicht auf Umsetzung in innerstaatliches Recht angewie- 45 sen. Es ist – wenn es die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt – unmittelbar anwendbar. Ein Umsetzungswille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, der das Gebot primärrechtskonformer Auslegung stützen könnte, ist nicht vorhanden. Anders liegen die Dinge, wenn der Gesetzgeber – etwa infolge einer Entscheidung des Gerichtshofs – innerstaatliches Recht an primärrechtliche Vorgaben anpasst. So hat beispielsweise der deutsche Gesetzgeber § 116 S. 1 Nr. 2 ZPO a.F., der nur inländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe einräumte und deshalb gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot und die Niederlassungsfreiheit verstieß,126 dahingehend geändert, dass ein solcher Anspruch auch ausländischen juristischen Personen und parteifähigen Vereinigungen zusteht, die in einem anderen EG-/EWR-Mitgliedstaat gegründet und dort ansässig sind. Ein zweites Beispiel dafür, dass Primärrecht den entstehungsgeschichtlichen Hintergrund einer nationalen Norm bilden kann, ist die Erfüllung grundfreiheitlicher Schutzpflichten durch den mitgliedstaatlichen Gesetzgeber.127

Da in diesen Fällen ein Wille des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers erkennbar ist, die primär- 46 rechtlichen Vorgaben zu verwirklichen, könnte man die primärrechtskonforme Auslegung auf den „Umsetzungswillen“ stützen. Indessen sieht sich dieser Begründungsansatz – ebenso wie die Überlegung, den Geltungsgrund des Gebots richtlinienkonformer Auslegung nur im Umsetzungswillen des Gesetzgebers zu sehen128 – dem Einwand ausgesetzt, dass die unionsrechtliche Dimension außer Acht bleibt, obwohl sie auch nach Anpassung des nationalen Rechts den Maßstab für die Beurteilung der Primärrechtskonformität des nationalen Rechts bildet.

b) Begründung auf der Grundlage des Systemdenkens? Ob sich der Systemgedanke als Legitimationsgrundlage für das Gebot primärrechtskonformer 47 Auslegung eignet, hängt letztlich davon ab, ob Unionsrecht und nationales Recht als ein System gedacht werden können. Zweifel bestehen insoweit als jedenfalls der EuGH annimmt, es handele sich um „zwei selbständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen“.129 Das schließt freilich nicht aus, dass über eine innerstaatliche Ermächtigungsnorm die Pflicht zur primärrechts-

_____ 124 In diesem Sinne Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 268; Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 104; Zuleeg, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 167; v. d. Groeben/Schwarze-Zuleeg, Art. 10 EG Rn. 6; Schwarze-Hatje, Art. 4 EUV Rn. 40. 125 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240–242. 126 Vgl. BR-Drs. 267/04, S. 12 ff. Im Schrifttum wurde deshalb bereits vor der Änderung für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung plädiert, vgl. z.B. Heß, FS Jayme (2004), Bd. I, S. 345 Fn. 46; Rehm, in: Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2004), § 5 Rn. 137. 127 Vgl. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht (2002), S. 158. 128 Vgl. dazu Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 49–51. 129 Vgl. nur EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 Kledingverkoopbedriif de Geus en Uitdenbogerd, Slg. 1962, 97, 110. Leible/Domröse

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konformen Auslegung begründet werden könnte. Die Pflicht zur Konformauslegung wäre das Ergebnis der Öffnung der nationalen Rechtsordnung für das supranationale Unionsrecht und würde auf nationalem (Verfassungs-)Recht – in Deutschland auf Art. 23 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG – beruhen.130 Eine Vorrangregel zugunsten der primärrechtskonformen Auslegung (vgl. Rn. 52) ließe sich dann aber nicht annehmen.

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c) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und die Rücksichtnahme auf die mitgliedstaatliche Souveränität Eine tragfähige Legitimation lässt sich aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gewinnen. Kraft des Anwendungsvorrangs sind alle innerstaatlichen Organe befugt und verpflichtet, nationales Recht, das Unionsrecht widerspricht, unangewendet zu lassen. Dann müssen sie erst recht befugt und verpflichtet sein, nationales Recht primärrechtskonform auszulegen.131 Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung ist damit eine Wirkungsform des Anwendungsvorrangs132 und findet in ihm seine Grundlage.133 Die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 3 EUV) kann damit allenfalls ergänzend zur Begründung herangezogen werden. Zudem kann man die primärrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts mit der gebotenen Rücksichtnahme der Europäischen Union und ihrer Organe auf die mitgliedstaatliche Souveränität – genauer: die Autorität des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers – begründen. Die primärrechtskonforme Auslegung vermeidet, dass der mitgliedstaatliche Gesetzgeber mit Normkorrekturen belästigt wird, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch die Gerichte erledigen können.134 Das haben die Unionsorgane zu respektieren. Gegen diesen Ansatz ließe sich einwenden, dass von Unionsrechts wegen gar kein Bedarf für eine primärrechtskonforme Auslegung besteht, weil sich unmittelbar anwendbares Primärrecht im Konfliktfall gegenüber nationalem Recht ohnehin durchsetzt und dadurch dem Anwendungsvorrang Rechnung getragen wird. So gesehen könnte dem Unionsrecht nur ein Verbot primärrechtswidriger Auslegung, nicht aber ein Gebot primärrechtskonformer Auslegung entnommen werden.135 Dementsprechend wären die Ausführungen des EuGH (vgl. Rn. 38) so zu verstehen, dass er den mitgliedstaatlichen Gerichten nur die Möglichkeit der primärrechtskonformen Auslegung einräumt, sich aber allein nach nationalem Recht richtet, ob die Gerichte dazu auch verpflichtet sind. Für die deutschen Gerichte ergibt sich diese Pflicht aus ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) und dem Prinzip der Normerhaltung („favor legis“). Solange der semantische Entscheidungsspielraum der Norm eine primärrechtskonforme Deutung zulässt, sind die Gerichte daran gehindert, diese unangewendet zu lassen.136 Indessen sprechen zwei Gründe dafür, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte (auch) kraft Unionsrechts zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts verpflichtet sind.

_____ 130 Zutreffend Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß (1999), S. 184 f. 131 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 213; Auer, in: Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, S. 47. 132 Vgl. Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 32. 133 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 630; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 300; Metallinos, Die europarechtskonforme Auslegung, S. 174; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 240. 134 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 243 f.; s.a. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 631 f.; Frank, ZöR 55 (2000), 1, 32. 135 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269. 136 Vgl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 248, 269, der deshalb das Gebot gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung auf Art. 10 Abs. 2 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV) und auf das nationale Gebot der Normerhaltung stützt.

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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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Erstens folgt aus dem Übermaßverbot, dass das Unionsrecht nicht mehr einfordern kann als zu seiner Durchsetzung tatsächlich erforderlich ist. Verglichen mit der Normverwerfung ist die primärrechtskonforme Auslegung das weniger einschneidende Mittel; sie verdient deshalb den Vorzug. Und zweitens ist es – gerade im Privatrecht – denkbar, dass nur die primärrechtskonforme Rechtsfindung, nicht aber die Nichtanwendung des nationalen Rechts einen Zustand herstellen kann, der den Anforderungen des Unionsrechts genügt. Dann aber liegt es auch im Interesse der Union, dass das nationale Gericht von der primärrechtskonformen Rechtsfindung Gebrauch macht.

3. Das Verhältnis der primärrechtskonformen Auslegung zu den übrigen Auslegungskriterien und ihre Stellung im System der juristischen Methodenlehre Im Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien kommt der primärrechtskonformen Ausle- 52 gung Vorrang zu. Methodologisch handelt es sich bei ihr um eine interpretatorische Vorrangregel (vgl. Rn. 27). Lässt sich im nationalen Recht keine primärrechtskonforme Lösung finden, wandelt sie sich in eine derogatorische Vorrangregel, d.h. das Unionsrecht verdrängt die primärrechtswidrige nationale Norm (s.u. Rn. 60 f.). Die primärrechtskonforme Auslegung stellt – wie die richtlinienkonforme Auslegung137 – ei- 53 nen eigenständigen Auslegungskanon dar. Das folgt schon daraus, dass die primärrechtskonforme Auslegung sich nicht in die herkömmlichen Kanones integrieren lässt. Anders als die primärrechtskonforme Auslegung des sekundären Unionsrechts (Rn. 28) lässt sie sich insbesondere nicht als Erscheinungsform der systematischen Auslegung verstehen.

4. Die Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts a) Nationales Recht des forum Das Gebot primärrechtskonformer Auslegung erstreckt sich auf das gesamte mitgliedstaatliche 54 Recht, das in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt. Es erfasst das Sach- und Kollisionsrecht. Auch Verfassungsrecht und zumindest der normative Teil von Tarifverträgen müssen im Einklang mit Primärrecht interpretiert werden. Die Frage nach der Reichweite des Gebots primärrechtskonformer Auslegung steht in untrennbarem Zusammenhang mit der Frage nach der Bindungswirkung des Primärrechts. Geht man z.B. davon aus, dass Tarifvertragsparteien umfassend an die primärrechtlichen Regelungsvorgaben gebunden sind, dann ist auch der schuldrechtliche Teil von Tarifverträgen primärrechtskonform zu interpretieren.

b) Nationales Recht anderer EU-Mitgliedstaaten Die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung wirkt ubiquitär, d.h. sie bezieht sich nicht nur 55 auf die lex fori, sondern auch auf das Recht anderer Mitgliedstaaten; denn der Anwendungsvorrang des Unionsrechts – auf dem das Gebot primärrechtskonformer Auslegung beruht (Rn. 48 ff.) – setzt sich auch gegenüber dem Recht anderer Mitgliedstaaten durch.138 Damit korrespondiert zur Vermeidung von Kollisionen die Pflicht der Mitgliedstaaten, das ausländische Recht bereits von vornherein primärrechtskonform zu interpretieren. Eines Rückgriffs auf Art. 4

_____ 137 Vgl. Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 mwN. 138 GA Alber, SchlA v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 82–84. Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Abs. 3 EUV bedarf es zur Begründung dieser Pflicht deshalb nicht. Darin unterscheidet sich die primärrechtskonforme von der richtlinienkonformen Auslegung, die nicht auf dem Anwendungsvorrang beruht, sondern auf der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten (Art. 288 Abs. 3, 291 Abs. 1 AEUV).139 Die Umsetzungsverpflichtung richtet sich allerdings an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten. Deshalb bezieht sich die Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung immer nur auf die lex fori. Allenfalls über Art. 4 Abs. 3 EUV ließe sich begründen, dass die Gerichte auch verpflichtet sind, das Recht eines anderen Mitgliedstaats richtlinienkonform auszulegen.140 Die primärrechtskonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaats hat das Ge56 richt nach den in diesem Staat maßgeblichen Methodenregeln vorzunehmen. Das schließt ggf. eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung des ausländischen Rechts ein. Lässt das ausländische Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung, so muss es unangewendet bleiben.141 Führt auch die Nichtanwendung des ausländischen Rechts nicht zu einem primärrechtskonformen Zustand, kann es ausnahmsweise zulässig sein, auf die lex fori zurückzugreifen.

5. Die methodologischen Grenzen des Gebots primärrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts a) Zulässigkeit und Mittel der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts 57 Der EuGH verlangt von den nationalen Gerichten, dass sie das innerstaatliche Gesetz „so weit

wie möglich“142 bzw. „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt“143 in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen. In diesem Verweis auf das nationale Recht kommt zum Ausdruck, dass der Gerichtshof die in den Mitgliedstaaten anerkannten Auslegungsmethoden respektiert. Dementsprechend variieren die methodologischen Grenzen der primärrechtskonformen Auslegung von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Zu den in der deutschen Methodenlehre anerkannten Rechtsfindungsmethoden gehört auch 58 die Rechtsfortbildung. Deshalb müssen die deutschen Gerichte ggf. auch eine gesetzesimmanente Fortbildung des nationalen Rechts in Konformität mit dem Primärrecht in Betracht ziehen. Als Mittel der primärrechtskonformen Rechtsfortbildung kommen insbesondere der Analogieschluss und die teleologische Reduktion in Betracht (vgl. Rn. 35).144 Beispielhaft für eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung ist § 239 Abs. 1 BGB, wonach ein zur Sicherheitsleistung Verpflichteter nur dann auf die Stellung eines Bürgen (§ 232 Abs. 2 BGB) ausweichen kann, wenn die-

_____ 139 W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 3 f.; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 52–62; Riesenhuber/ Domröse, RIW 2005, 47, 48; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 29–32. 140 Vgl. zum Ganzen Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 640 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 47; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. II, S. 878–880; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 191 ff.; Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191 f. 141 GA Alber, SchlA v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2002, I-7091 Tz. 83 f.; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 46. Zu den Folgen der Unanwendbarkeit nationalen Rechts vgl. Rn. 61. 142 EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I7321 Rn. 39 f. 143 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 144 Eingehend zum Gebot der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 233 ff.

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§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

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ser seinen allgemeinen Gerichtsstand in Deutschland hat, also ein „tauglicher“ Bürge ist.145 In anderen EUMitgliedstaaten Ansässige werden dadurch an einer Erbringung der Dienstleistung „Bürgschaft“146 gehindert. Gründe, die sich zur Rechtfertigung der Norm anführen lassen, sind nur in begrenztem Maße ersichtlich. Unbeachtlich ist jedenfalls der Einwand, der Gläubiger sei vor einer Vollstreckung im Ausland zu bewahren, da der Bürge leicht zu belangen sein müsse. Ein solches Vorbringen ist vom EuGH im Rahmen der zahlreichen Verfahren zur Ausländersicherheit stets mit dem Argument zurückgewiesen worden, dass mittlerweile sämtliche EU-Mitgliedstaaten zugleich Vertragsstaaten des Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommens (EuGVÜ;147 bzw. – unter Ausnahme Dänemarks – der Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung – EuGVVO) seien.148 Nach Auffassung des Gerichtshofs sind daher „die Voraussetzungen für die Vollstreckung der Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen“.149 Daraus wird gefolgert, dass sich Regelungen wie § 239 BGB, die sich auch in den Bürgschaftsrechten einiger anderer europäischer Staaten150 finden, nicht rechtfertigen lassen, und die Vorschrift dahingehend teleologisch zu reduzieren ist, dass ein allgemeiner Gerichtsstand innerhalb der EU genügt, unter „Inland“ also das „EU-Inland“ zu verstehen ist.151 Dass sich ein solches Ergebnis ohne gesetzgeberische Änderung des § 239 BGB in methodologisch zulässiger Weise durch eine teleologische Reduktion der Norm erzielen lässt, sollte angesichts der voranstehenden Ausführungen zu Inhalt und

_____ 145 Dazu Ehricke, EWS 1994, 259; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 ff.; vgl. auch Reich, ZBB 2000, 177. 146 Das Stellen einer Bürgschaft weist zweifelsohne zahlreiche Dienstleistungselemente auf. Allerdings werden Bürgschaften auch in der „Nomenklatur für den Kapitalverkehr“ im Anhang der Richtlinie 88/361/EWG genannt, deren Begriffsbestimmungen des Kapitalverkehrs vom EuGH auch heute noch zur Auslegung des Art. 56 EG (Art. 63 AEUV) herangezogen werden (vgl. EuGH v. 16.3.1999 – Rs. C-222/97 Trummer und Mayer, Slg. 1999, I-1661 Rn. 21). Jedoch sagt das allein noch nichts über die Zuordnung aus. Abzustellen ist bei Maßnahmen, die sowohl die Dienstleistungs- als auch die Kapitalverkehrsfreiheit beschränken können, vielmehr auf den Charakter der Beschränkung. Die Verpflichtung zur Stellung eines „tauglichen“ Bürgen beschränkt in erster Linie die Möglichkeit ausländischer Bürgen zur Erbringung ihrer Dienstleistung „Bürgschaft“. Die mit der Verpflichtung zur Wahl inländischer Bürgen verbundene Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit tritt dahinter zurück. Mit gleichem Ergebnis etwa Baldus, JA 1996, 894, 897; Ehricke, EWS 1994, 259, 260 f.; Fuchs, RIW 1996, 280, 283 f.; OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 857 f.; OLG Düsseldorf, WiB 1996, 87; offen gelassen von OLG Koblenz, RIW 1995, 775. 147 Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen v. 27.9.1968 (BGBl. 1972 II, 774) idF des 4. Beitrittsübereinkommens v. 29.11.1996 (BGBl. 1998 II, 1412). 148 Zwar erkannte der Gerichtshof an, dass „zwischen bestimmten Mitgliedstaaten tatsächlich die Gefahr [besteht], dass eine in einem Mitgliedstaat gegen Gebietsfremde ergangene Kostenentscheidung nicht oder zumindest sehr viel schwerer und unter höheren Kosten vollstreckt werden kann“ (vgl. EuGH v. 20.3.1997 – Rs. C-323/95 Hayes, Slg. 1997, I-1711 Rn. 23; anders noch EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20), doch hob diese Aussage auf die seinerzeit noch unvollständige Ratifizierung des 4. Beitrittsübereinkommens zum EuGVÜ ab. Mittlerweile hat sich die Situation jedoch geändert, da nunmehr alle „Alt-EG-Mitgliedstaaten“ das 4. Beitrittsübereinkommen zum EuGVÜ ratifiziert haben und im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten unter Ausnahme Dänemarks die EuGVVO direkt und im Verhältnis zu Dänemark über das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2005 L 299/62) gilt. Dass die Risiken einer Auslandsvollstreckung gegenüber einer reinen Inlandsvollstreckung, bei der es eines besonderen Vollstreckbarerklärungsverfahrens nicht bedarf, trotz EuGVÜ bzw. EuGVVO tatsächlich andere und durchaus höher sind, hat der Gerichtshof hingegen nie als Rechtfertigungsgrund gelten lassen (zur Kritik vgl. u.a. Mankowski, NJW 1995, 306, 308; Schack, ZZP 108 [1995], 47, 51 f.; Thümmel, EuZW 1994, 242, 244). 149 Vgl. z.B. EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester, Slg. 1994, I-467 Rn. 20. Diese Tendenz lässt sich im Übrigen auch im Umkehrschluss aus EuGH v. 23.1.1997 – Rs. C-29/95 Pastoors und Trans-Cap, Slg. 1997, I-285 Rn. 21 entnehmen. Ob diese Aussage den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht wird, erscheint freilich fraglich. 150 Vgl. etwa Art. 2018 C.civ, Art. 1828 Cc etc. und dazu Drobnig, in: Europäisches Parlament (Hrsg.), Untersuchung der Privatrechtsordnungen der EU im Hinblick auf Diskriminierungen und die Schaffung eines Europäischen Zivilgesetzbuches (1999), S. 112. 151 Vgl. z.B. Soergel-Fahse, BGB (13. Aufl. 1999), § 239 BGB Rn. 4; AnwKomm-Fuchs, § 239 BGB Rn. 3; MünchKommBGB-Grothe, § 239 BGB Rn. 2; Palandt-Heinrichs, § 239 BGB Rn. 1; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 43 f.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 54; Staudinger-Repgen, § 239 BGB Rn. 3.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Reichweite der Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts außer Frage stehen.152 Zweifelhaft ist allein, ob es auch geboten ist. Das ist eine Frage der Auslegung des Unionsrechts, die einer teleologischen Reduktion vorgeschaltet ist; denn erst wenn feststeht, was das Unionsrecht überhaupt verlangt, wenn also der für die Auslegung des nationalen Rechts maßgebliche Rahmen abgesteckt ist, kann zu seiner primärrechtskonformen Auslegung übergegangen werden. Der EuGH geht zwar davon aus, dass die Voraussetzungen für die Vollstreckung von Entscheidungen und die mit den Schwierigkeiten, die sie verursacht, verbundenen Risiken in allen Mitgliedstaaten die gleichen sind, doch lässt sich Gleiches nicht vom Zivilprozess als solchem behaupten. EuGVÜ und EuGVVO regeln insoweit lediglich Fragen der internationalen Zuständigkeit, nicht hingegen der Verfahrensausgestaltung. Normen zur Angleichung zivilprozessualer Vorschriften finden sich im sekundären Unionsrecht nur wenige.153 Eine Klage im europäischen Ausland ist auch heute noch ein mit zahlreichen Unwägbarkeiten verbundenes Unterfangen. Man wird daher, wie es das OLG Hamburg getan hat,154 immerhin verlangen können, dass Bürgen aus anderen Mitgliedstaaten der EU sich wenigstens der internationalen Zuständigkeit eines deutschen Gerichts unterwerfen.155 Eine derart umfassende teleologische Reduktion von § 239 BGB, wie sie von der wohl h.M. befürwortet wird, ist daher nicht zwingend. Wie weit die Vorgaben des Unionsrechts tatsächlich reichen, wäre freilich zunächst durch ein Vorabentscheidungsverfahren zu klären. Vergleichbare Probleme stellen sich bei der Auslegung und Anwendung von § 108 ZPO, und zwar bei Beantwortung der Frage, ob die Gerichte in den Fällen, in denen nach den Vorschriften der ZPO die Leistung einer Sicherheit vorgesehen ist, auch Bürgschaften von in anderen EU-Mitgliedstaaten ansässigen Bürgen zulassen können oder vielleicht sogar müssen.156

b) Das Verbot des contra-legem-Judizierens als Schranke der primärrechtskonformen Fortbildung nationalen Rechts? 59 Anerkanntermaßen ist der Rechtsprechung ein contra-legem-Judizieren grundsätzlich verboten.157 Ob diese Grenze für die primärrechtskonforme Fortbildung nationalen Rechts gilt, ist zweifelhaft.158 Bedenkt man, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte unionsrechtlich befugt und verpflichtet sind, nationale Normen unangewendet zu lassen, die dem Unionsrecht widersprechen, dann erscheint es folgerichtig, dass sie sich über die lex lata hinwegsetzen können. Da die Gerichte eine primärrechtswidrige nationale Norm kraft eigener Zuständigkeit unangewendet lassen müssen, ohne dass es der Durchführung eines Vorlageverfahrens nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf,159 besteht keine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Normderogation, auf die Rücksicht zu nehmen wäre. Auf der Grundlage des Anwendungsvorrangs ließen sich auch die weiteren Hürden für ein zulässiges contra-legem-Judizieren – die Prinzipien der Volkssouveränität und des (subjektiven) Vertrauensschutzes160 – argumentativ überwinden. Andererseits darf nicht verkannt werden, dass die primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem über den Anwendungsvorrang insoweit hinausgeht als der Richter einen Rechtssatz umbildet oder kreiert, wohingegen der Anwendungsvorrang nur bewirkt, dass ein Rechtssatz unangewendet

_____ 152 Zustimmend Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 234 f.; a.A. jedoch Bamberger/Roth-Dennhardt, § 239 BGB Rn. 2; vgl. auch Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 214. 153 Vgl. dazu auch Leible, in: Müller-Graff (Hrsg.), Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2005), S. 55 ff. 154 OLG Hamburg, RIW 1995, 775, 776. 155 Ebenso Fuchs, RIW 1996, 280, 289; Musielak-Foerste, ZPO (11. Aufl. 2014), § 108 ZPO Rn. 16; Reich, ZBB 2000, 177, 180; a.A. Taupitz, FS Lüke (1997), S. 860. 156 Dem und insbesondere der Frage nach der Maßgeblichkeit von § 239 BGB für § 108 ZPO ist hier nicht nachzugehen. Vgl. dazu Fuchs, RIW 1996, 280; Taupitz, FS Lüke (1997), S. 846 ff. jeweils mwN. 157 S. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. 158 Eingehend zu den Grenzen der unionsrechtskonformen Rechtsfortbildung des nationalen Rechts Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 300 ff. 159 Vgl. z.B. EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 24; BVerfGE 31, 145, 174 f. 160 Eingehend Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 140 ff. Leible/Domröse

§ 8 Die primärrechtskonforme Auslegung

171

bleibt. Hält man eine primärrechtskonforme Rechtsfortbildung contra legem für zulässig, wäre auch die Annahme, der EuGH respektiere die in den Mitgliedstaaten anerkannten Rechtsfindungsmethoden (vgl. Rn. 57), zu hinterfragen. Soweit das nationale Recht keinen Spielraum für eine primärrechtskonforme Rechtsfindung 60 (Auslegung und Rechtsfortbildung) lässt, muss es unangewendet bleiben.161 Anders als bei der verfassungskonformen Auslegung des nationalen Rechts bzw. der primärrechtskonformen Auslegung des abgeleiteten Unionsrechts (Rn. 37) obliegt die Feststellung der Unanwendbarkeit der nationalen Rechtsnorm indes nicht dem Bundesverfassungsgericht bzw. dem EuGH, sondern dem Rechtsanwender.162 Er ist auch bei förmlichen Gesetzen verpflichtet, diese von Amts wegen unangewendet zu lassen, sofern nur so der unmittelbaren Wirkung des Primärrechts Rechnung getragen werden kann.163 Selbst das Vorlageverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG kommt insoweit nicht zum Tragen.164 Zwar ist ein Vorabentscheidungsverfahren nicht ausgeschlossen, doch kann sich sein Inhalt nur auf die Ermittlung des Inhalts der als Maßstab geltenden primärrechtlichen Norm, nicht aber der Vereinbarkeit der nationalen Vorschrift mit dieser erstrecken. In der Praxis lässt sich diese Beschränkung freilich durch eine geschickte Formulierung des Vorabentscheidungsersuchens umgehen. Die Unanwendbarkeit des primärrechtswidrigen nationalen Rechts hat zur Folge, dass es 61 lückenhaft wird.165 Die durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gerissene Lücke im nationalen Recht ist allerdings in primärrechtskonformer Weise zu schließen. Ebendies hat das BAG entschieden.166 Das BAG stellte fest, dass eine Bestimmung eines Tarifvertrages mit Art. 45 AEUV unvereinbar und deshalb unanwendbar ist. Die entstandene Regelungslücke könne und müsse unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Tarifvertragsparteien geschlossen werden. Auf diese Weise gelangte das Gericht zu einer den Anforderungen Art. 45 AEUV genügenden Lösung. Die Möglichkeit einer grundfreiheitenkonformen Auslegung der Tarifnorm hat das BAG offengelassen, da diese zu demselben Ergebnis geführt hätte. Die Entscheidung zeigt, wie der Anwendungsvorrang des Unionsrechts mitgliedstaatliche Gerichte dazu verführt, sich voreilig von ihrer Bindung an das Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) loszusagen und gegen das Prinzip der Normerhaltung zu verstoßen.

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_____ 161 EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-200/91 Colorell Pension Trustees, Slg. 1994, I-4389 Rn. 29; EuGH v. 5.10.1994 – Rs. C-165/91 van Munster, Slg. 1994, I-4661 Rn. 34; EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-932 Rn. 62; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 39 f.; EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58. 162 Näher Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 100 ff. 163 Vgl. z.B. EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 31. 164 BVerfGE 31, 145, 174 f.; BVerfGE 82, 159, 181. 165 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 3 Rn. 15. 166 BAG, DB 2005, 2248, 2249. Leible/Domröse

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Abschnitt 3 Sekundärrecht 2. Teil: Allgemeiner Teil

§9 Systemdenken und Systembildung § 9 Systemdenken und Systembildung Grundmann

Stefan Grundmann Literatur Yehuda Adar/Pietro Sirena, Principles and Rules in the Emerging European Contract Law: From the PECL to the CESL, and Beyond, ERCL 9 (2013), 1–37; Holger Fleischer, Europäische Methodenlehre: Stand und Perspektiven, RabelsZ 75 (2011), 700–729; Stefan Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts – Gesellschafts-, Arbeits- und Schuldvertragsrecht (2000); ders., Die Struktur des Europäischen Gesellschaftsrechts von der Krise zum Boom, ZIP 2004, 2401–2412; ders., „Inter-Instrumental-Interpretation“ – Systembildung durch Auslegung im Europäischen Unionsrecht, RabelsZ 75 (2011), 882–932; ders./Jules Stuyck, An Academic Greenpaper on European Contract Law (2002); Arthur Hartkamp, Principles of Contract Law, in: A. Hartkamp u.a. (Hrsg.), Towards a European Civil Code (4. Aufl. 2011), S. 239–259; Peter Jung, Der Beitrag des Europäischen Gesellschaftsrechts zum System des Gemeinschaftsprivatrechts, GPR 2004, 233–244; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., English Common Law versus German Systemdenken? Internal versus External Approaches, ULR 7 (2011), 117–130; Hannes Rösler, Aufgaben einer europäischen Rechtsmethodenlehre, Rechtstheorie 2012, 495–517; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem – Eine Untersuchung zu den rechtsdogmatischen, rechtstheoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des Systemdenkens im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002); Tobias Tröger, Systemdenken im Europäischen Privatrecht, ZEuP 2003, 525–540.

I. II.

III.

Übersicht Einleitung | 1 Gesamtsystem | 2–25 1. Zwei- bzw. Mehrebenensystem | 2–12 a) Phänomen | 2–5 b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft | 6–12 2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell | 13–18 a) Eckpunktemodell | 13–15 b) Alternativmodell | 16–18 3. Modell der materialen Freiheit | 19–24 a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materialer Freiheit | 19–20 b) Beispiele | 21–24 4. Einführung zu den Einzelgebieten – Verantwortung des EuGH | 25 Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht | 26–44 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz | 26–30 a) Vertragsrechtsregulierung | 26–28

Grundmann

b)

IV.

Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht | 29–30 2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit | 31–38 a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht | 32–33 b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil | 34–35 c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens | 36 d) Wettbewerb der Formen (auch Gemeinsames Europäisches Kaufrecht)? | 37–40 3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells | 41–44 a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells | 41–42 b) Überblick zu weiteren Systemgedanken | 43–44 Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht | 45–67 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalge-

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§ 9 Systemdenken und Systembildung

sellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-) Aktiengesellschaften | 45–55 a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften | 45–49 b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung | 50–52 c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften | 53–55

2.

V.

Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen | 56–64 a) Wettbewerb der Formen | 56–57 b) Kompatibilität der Formen | 58–60 c) Generalisierbarkeit? | 61–64 3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells | 65–67 Ausblick | 68–69

I. Einleitung Dem Herausgeber liegt das Thema „Systembildung“ am Herzen, er hat es für das Europäische 1 Vertragsrecht so durchdrungen, dass jede zukünftige Diskussion nur auf der Grundlage seiner Monographie geführt werden kann.1 In der Folgezeit hat er die im Jahrzehnt zuvor vorherrschende Umschreibung des geltenden Europäischen Privatrechts – im Sinne eines Gemeinschaftsprivatrechts – als „pointillistisch“2 feinfühlig umgewertet: Bilder des Pointillismus, etwa eines Seurat, erschließen sich erst durch Zurücktreten, doch dann als höchst kunstvolle Ensembles.3 In der Tat kann die dogmatische Durchdringung des Regelbestandes eines Gebiets, der Nachweis relativ großer Stimmigkeit, hier auch nicht ansatzweise geleistet werden (vgl. oben Fn. 1). Systembildung im Europäischen Privatrecht kann hier nur heißen: das Gesamtsystem beleuchten (unten II.) und dann zwei Teilgebiete gerade auch mit der Überlegung in den Blick nehmen, ob nicht gar über die Gebiete hinweg gemeinsame Strukturen zu sehen sind. Dafür erscheinen die beiden zentralen privatrechtlichen Organisationsformen – Vertrag und Gesellschaft –4 besonders prädestiniert (unten III. und IV.).

_____ 1 Riesenhuber, System und Prinzipien. Eigentlich liegt darin, wenn man die Bemühung um einen Gemeinsamen Referenzrahmen beim Wort nimmt, schon weit gehend die Antwort auf die dort gestellten Fragen. Vgl. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 12.2.2003, „Ein kohärenteres Europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan“, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1; Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat v. 11.10.2004 „Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstands – weiteres Vorgehen“, KOM(2004) 651 endg; aus stärker theoretischer Perspektive auch Adar/Sirena, ERCL 9 (2013), 1; für das zweite hier behandelte Teilgebiet, das Gesellschaftsrecht, etwa: Jung, GPR 2004, 233; in der Sache auch Grundmann, ZIP 2004, 2401; breit, vor allem zu den „verfassungsrechtlichen“ Grundlagen, Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem. 2 Kötz, RabelsZ 50 (1986), 1, 5, dort natürlich kritisch gemeint. 3 Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322. 4 Grundlegend zur Alternative zwischen diesen beiden Organisationsformen: Coase, Economica 4 (1937), 386; Easterbrook/Fischel, The Economic Structure of Corporate Law (1991), S. 8 f.; Eidenmüller, JZ 2001, 1041, 1042; Hart, Firms, Contracts, and Financial Structure (1995), S. 6–8, 15–55. Beide schon als Hauptalternativen in den Blick genommen in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken; ausführlich zu den Querverläufen Grundmann, FS Hopt (2010), S. 45.

Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

II. Gesamtsystem 1. Zwei- bzw. Mehrebenensystem a) Phänomen 2 Geht man vom äußeren System aus, so fällt zunächst auf, dass auch in den stark harmonisierten

oder vereinheitlichten Gebieten zentrale und dezentrale (d.h. idR nationale) Regelung nebeneinander tritt und eng mit einander verwoben ist. Dafür hat sich der Begriff eines Zweiebenensystems eingebürgert, obwohl natürlich die Wahl nicht nur zwischen zentral und dezentral gesetzten Regelungskomplexen eröffnet sein kann, sondern zwischen verschiedenen dezentral gesetzten Regelwerken und auch Kombinationen derselben (etwa Ltd. & Co. KG). Ein Zwei- oder Mehrebenensystem in diesem Sinne findet sich sicherlich in den Fällen des Vertrags- und des Gesellschaftsrechts (mit Kapitalmarktrecht).5 Zwei- bzw. Mehrebenensysteme gibt es nicht nur in Europa, das Zwei- und Mehrebenensys3 tem in Europa ist freilich doch von eigener Art. Charakteristisch ist hier, dass die Regeln, die auf zentraler Ebene gesetzt wurden, nicht ein Rechtsgebiet (weitgehend) erschöpfen, die Regeln, die auf dezentraler Ebene gesetzt wurden, dann ein anderes. Vielmehr wirken beide Ebenen regelmäßig auch in den einzelnen Fragen jeweils zusammen, etwa, wenn die Hauptversammlungszuständigkeit, wie häufig, in der Richtlinie vorgesehen wird, die Mehrheit aber im nationalen Recht, vielleicht wiederum mit einer Minimumregel in der Richtlinie, oder etwa, wenn das Bestehen eines Rückgriffsrechts in der Absatzkette in der Richtlinie vorgesehen wird, seine Abdingbarkeit jedoch und mögliche Ersatzinstrumente dem nationalen Recht überlassen werden, oder auch, wenn die Einbeziehung von AGB den nationalen Rechten überantwortet wird, das Zentralkriterium für die Inhaltskontrolle in der Richtlinie zu finden ist, und der detaillierte Katalog missbräuchlicher Klauseln dann in der Richtlinie als evtl. unverbindlicher „Hinweis“ formuliert wird, die Festlegung dann wieder dem nationalen Recht überlassen wird. Selbst in detailliert harmonisierten Fragen hat die EuGH-Rechtsprechung einen Rekurs auf nationale Ausnahmetatbeständen auf Grund von Instituten wie dem (Verbot des) Rechtsmissbrauch(s) zugelassen, wenn damit nicht die Zielsetzung und Vereinheitlichungswirkung der Richtlinienregelung gefährdet bzw. konterkariert wird.6 Und genereller ist auf die regelmäßig bestehende Möglichkeit der Mitgliedstaaten hinzuweisen, strengeres Recht im Anwendungsbereich und sogar in den Regelungsfragen der Richtlinie zu erlassen. 4 Das Bild ist durchaus anders als etwa in den USA, in denen ebenfalls ein Zweiebenensystem zu finden ist. Der Uniform Commercial Code (UCC) als Modellgesetz ist doch immer eine Materie für nur eine Art Vertragsbeziehung – b2b – geblieben und stellt für diese inzwischen flächendeckend auch das Gliedstaatenrecht dar.7 Und im Gesellschaftsrecht ist praktisch nur das Kapitalmarktrecht auf zentraler, d.h. Bundesebene geregelt, lange Zeit – und vielleicht auch noch heute – erschöpfender als in Europa, wo sich freilich ebenfalls gerade das Kapitalmarktrecht immer

_____ 5 Zu beiden Teilgebieten die Beiträge von Krolop, in diesem Band, § 19 und Kalss, ebd., § 20. Eine Ausnahme bildet nur das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das von Anbeginn an für so wichtig gehalten wurde, dass es vor allem Europäisch verfasst sein sollte, und das angesichts der de facto-Angleichung auch der nationalen Wettbewerbsrechte, wo sie noch Anwendung finden, in der Tat vor allem Europäisch ist. Für diesen letzten Schritt in Deutschland, vgl. vor allem die 7. GWB-Novelle, 2005; dazu etwa Bechtold, DB 2004, 235; Kahlenberg, BB 2004, 389. Inzwischen 8. GWB-Novelle (zur Stärkung der Missbrauchsaufsicht, vor allem bei der Mineralölpreisgestaltung in Endverbrauchermärkten/Tankstellen), vgl. BGBl. 2013 I, S. 1738. 6 Für das Vertragsrecht: EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner ./. Krüger, Slg. 2009, I-7315; für das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211. 7 Garner (Hrsg.), Blacks Law Dictionary (9. Aufl. 2009), S. 1668 und bereits Mentschikoff, RabelsZ 30 (1966), 403. Grundmann

§ 9 Systemdenken und Systembildung

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mehr verdichtet hat. In den USA ist das Gesellschaftsrecht hingegen nicht teilharmonisiert wie in Europa. Das Europäische Verschränkungsmodell ist sicherlich komplexer, zumindest theoretisch 5 hat es jedoch auch Vorteile. Insbesondere erlaubt es, auch innerhalb einzelner Rechtsgebiete danach zu unterscheiden, bei welchen Regeln eine zentrale Setzung vorteilhafter ist, bei welchen eine dezentrale, also die Erkenntnisse der Föderalismustheorie („Wettbewerb der Regelgeber“) auch wirklich ernst zu nehmen.8

b) Zuordnung zentrale und dezentrale Regelsetzung: Bewertung und Zukunft Dass Vor- und Nachteile von zentraler und dezentraler Regelsetzung von Rechtsgebiet zu 6 Rechtsgebiet divergieren, ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich sind die Vorteile zentraler Regelsetzung im Vertragsrecht ungleich eingängiger als etwa im Familienrecht. Umgekehrt sind die Nachteile zentraler Regelsetzung, wenn eine solche etwa in der Versteinerungsgefahr gesehen wird, offensichtlich größer in Rechtsgebieten, in denen zwingendes Recht vorherrscht, als in solchen, in denen das nicht der Fall ist. Wie bereits ausführlich dargelegt, ist jedoch m.E. Gleiches innerhalb der Rechtsgebiete zu 7 konstatieren.9 Und selbstverständlich wirken faktische Umstände bei der Bewertung mit, etwa die Frage, welche Professionalität die Entscheidungsträger haben und wer konkret die Entscheidungsträger sind, nach Meinung mancher auch, ob denn die jeweiligen Gesetzgeber durch Wahl ihres Rechts Steuereinkünfte generieren können oder nicht.10 Hingegen handelt es sich bei der Frage, ob Rechtswahlfreiheit besteht,11 nicht um einen die Bewertung beeinflussenden Umstand. Vielmehr ist Einräumung von Rechtswahlfreiheit ein Mittel zur Förderung dezentraler Regelsetzung, mit Einräumung einer solchen wird also eine Antwort auf die Ausgangs- und Hauptfrage gegeben. Wichtig ist jedoch, dass innerhalb jedes Rechtsgebiets die Vorteile oder die Nachteile zentraler Regelung für einen Teil der Regeln überwiegen und für einen anderen Teil geringer wiegen können und auch die Gesamtabwägung von Regel zu Regel desselben Rechtsgebiets verschieden ausfallen kann. Die Folge ist, dass etwa im Vertragsrecht für manche Regeln eine Harmonisierung zu begrü- 8 ßen ist, für andere nicht. Und exakt dies entspricht bekanntlich der derzeitigen Praxis. Die Entscheidung zugunsten von Harmonisierung oder zuungunsten mag im Einzelfall verkehrt getroffen worden sein. Der Systemansatz ist jedoch zunächst einmal überzeugend (sieht man hier noch von Schwierigkeiten des Zusammenspiels beider Ebenen ab, die jedoch im bestehenden Unionsrecht durchaus auch bedacht werden, vgl. unten, Rn. 29 f.).

_____ 8 Esty/Geradin, J. Int’l Econ. L. 2000, 235, 240 f.; Gatsios/Holmes, in: Newman (Hrsg.), The new Palgrave Dictionary of Economics and the Law, Bd. 1 (1998), S. 273–275; Hauser/Hösli, Außenwirtschaft 46 (1991), 497; Grundmann/ Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Kerber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 84–87 (in Englisch Kerber, Fordham Int’l LJ 2000, 217); Siebert/Koop, Außenwirtschaft 45 (1990), 439; Woolcock, in: Bratton/Mc Cahery/Picciotto/Scott (Hrsg.), International Regulatory Competition and Coordination (1996), S. 298 f. 9 Für das Vertragsrecht: Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; für das Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht: Grundmann, in: Ferrarini u.a. (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 561 = Grundmann, ZGR 2001, 783; breite Untersuchung für das Vertragsrecht bei Eidenmüller (Hrsg.), Regulatory Competition in Contract Law (2013). 10 Merkt, RabelsZ 59 (1995), 543, 553 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 88 f. Für Delaware wird dies als maßgeblicher Systembaustein in den USA implizit oder explizit recht allgemein angenommen: bahnbrechend Winter, J. Leg. Stud. 6 (1977), 251; Romano, J. L. Econ. & Org. 1 (1985), 225. 11 Bekanntlich lange Zeit im Europäischen Gesellschaftsrecht als gering eingestuft, vgl. Nachw. Fn. 10; a.A. Grundmann, ZGR 2001, 783, 808 ff., 819 ff., 828 ff.; umfangreiche Studien dann von Eidenmüller, ZGR 2007, 168; ders., FS Heldrich (2005), S. 581. Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Vergleichbares wird zu entscheiden sein, wenn ein Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex erlassen werden sollte. Dann stellt sich nicht nur die Frage, ob opt-in oder opt-out für die eine oder andere Regelgruppe oder Konstellation vorzugswürdig ist, sondern auch die Frage, ob manche Regelgruppen einheitlich sein müssen – im Europäischen Kodex ebenso wie in den wahlweise zur Verfügung stehenden Mitgliedstaatsrechten („Europe only“) – oder ob eine Regel auf zentraler Ebene eben nur im Europäischen Kodex zu finden ist, nicht auch in den alternativ zur Wahl stehenden Mitgliedstaatsrechten.12 Die wichtigsten Regelungsgruppen im Vertragsrecht, die unterschiedlich zu bewerten sind, 10 sind m.E.: dispositive Normen, zwingende inhaltsgestaltende Normen und – zwischen beiden – zwingende, jedoch nur die Informationsweitergabe anordnende Normen (vgl. Nachw. Fn. 12). Während es offensichtlich erscheint, dass eine Vielzahl anderer Präferenzen und Experimentiermöglichkeiten bei zentraler Setzung von zwingenden inhaltsgestaltenden Normen ungleich stärker beschränkt werden als bei zentraler Setzung von dispositiven Normen, verdient die zentrale Setzung von zwingenden Informationsregeln eine besondere Bewertung: Hier ist die zentrale Setzung nicht so schädlich wie bei inhaltlich zwingenden Regeln, weil die Gestaltungsvielfalt im Inhaltlichen erhalten bleibt (und damit die Möglichkeit, heterogene Präferenzen zu bedienen und zu experimentieren); umgekehrt sind die Vorteile zentraler Setzung hier besonders groß, da diese u.a. auch in der Erleichterung der Information gesehen werden und hierfür ist Vergleichbarkeit – also die Setzung einheitlicher Standards – besonders wichtig. Das Kollisionsrecht bildet in dieser Sicht eine Rahmenordnung – eine Verfassung –, mit der 11 darüber entschieden wird, ob und in welchem Maße Privatrechtssubjekte einem einzigen Recht unterworfen werden oder Wahlfreiheiten haben … wobei auch bei Wahlfreiheit beispielsweise ein Mindestsockel allgemein verbindlich sein mag, also Wahlfreiheit mit Zwang zu einem Recht verbunden wird. 12 Noch weiter ginge eine Anerkennung aller Mitgliedstaatenrechte auf der Grundlage gegenseitigen (praktisch) unbegrenzten Vertrauens. Dies ist weitgehend der Zustand im U.S.-amerikanischen Gesellschafts- und auch Vertragsrecht. Die bisherigen Überlegungen sind jedoch geeignet, Zweifel zu säen, ob dies denn tatsächlich eine überlegene Lösung darstellen würde. Die Vorteile zentraler Regelsetzung könnten dann nämlich nicht mehr bewusst mit den Vorteilen von miteinander konkurrierenden Einzelrechten kombiniert werden. Gerade Letzteres scheint der interessante Punkt am Europäischen Systemansatz, der es verdient, intensiv fortgedacht zu werden. 9

2. Eckpunkte-, zunehmend auch Alternativmodell a) Eckpunktemodell 13 Das zum Zwei- bzw. Mehrebenensystem Gesagte legitimiert offensichtlich eine Lösung, in der

auf zentraler Ebene nur Einzelfragen geregelt werden und zwar in jedem Rechtsgebiet bei gleichzeitiger Präsenz auch dezentraler Regelungen und Regelungsfelder. Dies kann mit dem Begriff eines Eckpunktemodells auf zentraler Ebene umschrieben werden. Verbreitet ist freilich für das Unionsprivatrecht auch die Sicht, dass zwar in der Tat nur einzelne Punkte auf zentraler Ebene geregelt wurden, deren Auswahl jedoch nicht oder nur zufällig einer sinnvollen Strategie

_____ 12 Zu diesen Möglichkeiten: Basedow, ZEuP 2004, 1; Gomez, ERCL 4 (2008), 89; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Stuyck (Hrsg.), European Contract Law, S. 296–306; Müller, EuZW 2003, 683; Sinai, EBLR 2004, 47. Zum gesondert zu sehenden und für die EU zunehmend wichtigen sog. vertikalen Wettbewerb der Rechtsordnungen, in dem zentrale und dezentrale Regelsetzung als alternativ wählbare „konkurrierende“ Regelwerke aufeinander treffen, vgl. gleich noch Nachw. in Fn. 16.

Grundmann

§ 9 Systemdenken und Systembildung

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folgen. Ob diese Sicht zutrifft oder eine sinnvolle Auswahl an Eckpunkten getroffen wurde, kann – je nach Ansatzpunkt – eigentlich nur für jeden Rechtsakt oder gar jede Norm konkret diskutiert werden. Jedenfalls muss für eine einigermaßen konkrete Antwort auf die Ebene je eines einzelnen Rechtsgebiets heruntergestiegen werden (vgl. daher unten Rn. 26 ff. und 45 ff.). Und selbst dann sind durchaus unterschiedliche Antworten möglich: Man kann wiederkehrende Leitlinien herausarbeiten und darin dann legitimerweise System erkennen; unabhängig davon bleibt jedoch die Zuspitzung auf die (durchaus noch anders gelagerte) Frage interessant, ob denn gezielt jeweils in den Punkten harmonisiert wird, in denen sich zentrale Regelsetzung (nach den Erkenntnissen der Föderalismustheorie) besonders anbietet. Auch dann ist von System zu sprechen. An dieser Stelle kann zunächst nur betont werden, dass Riesenhuber jedenfalls für das Ver- 14 tragsrecht m.E. das nahezu flächendeckende Wiederkehren von Leitlinien, Modellen und Prinzipien eindrucksvoll belegt hat.13 Zugleich kann auch schon als Quintessenz vorweggenommen werden, dass m.E. in der Tat eine durchaus bewusste Verteilung zwischen zentraler und dezentraler Regelsetzung zu beobachten ist, die zudem zu einem Gutteil auch der Idee optimaler Nutzung von Vorteilen und Meidung von Nachteilen folgt. Weiter muss an dieser Stelle bereits allgemeiner betont werden, dass die Frage, wann Zent- 15 ralität der Regelsetzung funktional wichtig ist, auch im EG- und heute EU-Vertragswerk den zentralen Ausgangspunkt von Anfang an bildete und noch heute bildet. Dies ist jedenfalls auf der Primärrechtsebene so, denn diese Frage bildet das maßgebliche Kriterium für die Zuordnung von Kompetenzen sowohl in Art. 116 AEUV (Binnenmarktkompetenz) als auch in Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV jeweils iVm Art. 5 EUV. Und dies sind die Kompetenzgrundlagen, auf denen das Europäische Vertragsrecht, Gesellschaftsrecht und Kapitalmarktrecht, jedenfalls die Harmonisierung, ausschließlich gründet. Abgestellt wird in allen Kompetenzgrundlagen darauf, dass zentrale Regelsetzung Skalenerträge aufgrund Vergrößerung der geographischen Betätigungsgebiete fördert und dies in spürbar effizienterer Weise, als dies durch dezentrale Regelsetzung möglich wäre.

b) Alternativmodell Zunehmend findet sich im Europäischen Recht ein Alternativmodell zum nationalen Recht. Zwei 16 Formen sind zu beobachten (zur Durchführung im Vertrags- und Gesellschaftsrecht dann unten Rn. 32 ff. und 56 ff.). Zunächst sind dies die Komplexe des Unionsprivatrechts, die parallele Rechtsformen oder 17 Regelwerke bereitstellen. Als erstes wurde an eine Europäische Aktiengesellschaft gedacht, damals in der Tat als voll ausformuliertes Modell.14 Bekanntlich ist die verabschiedete Fassung jedoch nur in Fragen der Gründung weitgehend vollständig, während sonstige Fragen weit überwiegend durch Verweis auf das Sitzstaatrecht geregelt werden und nur einige Eckpunkte wirklich Europäisch festgelegt werden.15 Deswegen wird die Societas Europaea (SE) vor allem als

_____ 13 Riesenhuber, System und Prinzipien; später alternative Sicht der sog. Acquis-Gruppe: Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group) (Hrsg.), Principles of the Existing EC Contract Law (Acquis Principles) (2009). 14 Vorschlag einer Verordnung des Rates für das Statut für Europäische Aktiengesellschaften v. 30.6.1970, KOM(70) 600 endg, ABl. 1970 C 124/1; Stellungnahmen des Europäischen Parlaments (ABl. 1974 C 93/22) und des Wirtschafts- und Sozialausschuss (ABl. 1972 C 131/32); ausf. zu diesem Stadium: Lutter (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (1976). Angestoßen durch Sanders, AWD 1960, 1 (auch verantwortlich für den Entwurf); Thibièrge, in: Congrès des Notaires de France (Hrsg.), Le statut de l’étranger et le Marché Commun (1959), S. 270 ff., 360 ff.; E. Ulmer, Wege zu europäischer Rechtseinheit (1960), Münchener Universitätsreden N.F. 26, 12. 15 Vor allem die Hauptversammlungskompetenz bei Satzungsänderungen und das Wahlrecht der Gesellschaft, das Leitungsorgan ein- oder zweistufig auszubilden. Zur Societas Europaea vgl. etwa Grundmann, Europäisches Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Instrument der (zweifelsfreien Durchführung einer) grenzüberschreitenden Sitzverlegung und Fusion gesehen, weniger als echtes Alternativmodell. Deutlich dichter ist die Europäische Regelung noch bei der Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), die freilich kaum Bedeutung erlangte und bei der man ebenfalls nicht ganz ohne Verweis auskam. Ein wirklich vollständiges Regelwerk wird dann jedoch für einen zukünftigen optionalen Vertragsrechtskodex gefordert. Und all dies ist und wäre durchaus anders als etwa aus dem U.S.-amerikanischen Recht bekannt. Es geht hier gerade nicht um Modellgesetze, die, wie etwa beim UCC, ein (Mit-)Gliedstaat übernehmen kann oder nicht. Das Wahlrecht liegt bei den Parteien, die Wahlfreiheit wird kraft Europäischen Rechts begründet und zielt dann (auch) auf ein europaweit geltendes Regelwerk. Unterschiede im Ergebnis verbleiben freilich nur, wenn dem Regelwerk auch für den Inlandsfall Anwendbarkeit verliehen wird.16 Denn im grenzüberschreitenden Fall – in den USA im interstate-Fall – können Parteien auch ein Modellgesetz, das der einzelne (Mit-) Gliedstaat nicht übernommen hat, kraft Rechtswahl (kollisionsrechtlicher Parteiautonomie) zur Anwendung bringen … auch wenn der Fall primär Bezüge zum fraglichen Gliedstaat haben sollte. 18 Bei der zweiten Form ist der Einfluss des Unionsrechts ein anderer, stärker vermittelt. Hier eröffnet das Unionsrecht nur ein Wahlrecht. Grundlage sind die Grundfreiheiten. Für das Gesellschaftsrecht bedeutete dies eine Revolution.17 Die Wahlfreiheit zielt dann jedoch auf ein Regelwerk nicht Europäischen Ursprungs, sondern in einem anderen Mitgliedstaat, etwa englisches Recht der Private Limited Company (Ltd.). Und dies ist in der Wirkung etwa der full faith and credit clause sowie der commerce clause im U.S.-amerikanischen Verfassungs-, Handels- und Gesellschaftsrecht18 doch sehr weitgehend vergleichbar. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der jeweilige Mitgliedstaat auf Grund des Vorbehalts zwingender Gründe des Allgemeininteresses wohl doch noch (etwas) weitergehend die Möglichkeit hat, berechtigten Schutzinteressen, für die er sich einsetzt, die jedoch (noch) nicht auf zentraler Ebene geschützt werden, zum Durchbruch zu verhelfen.19

3. Modell der materialen Freiheit a) Freiheit – vom liberalen Freiheitskonzept zum Konzept materialer Freiheit 19 Inhaltlich bildet das allgemeingültigste Systemprinzip im gesamten Europäischen Privatrecht

wohl das, dass danach gestrebt wird, materiale – nicht nur formale – Freiheit möglichst weitgehend zu verbürgen. Damit steht das Europäische Privatrecht zwischen einem neoliberalen Grundansatz, soweit dieser freiheitserhaltende Regeln für weitgehend überflüssig hält, und in-

_____ Gesellschaftsrecht, § 29; Hirte, NZG 2002, 1; Jannott/Frodermann, Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft (2. Aufl. 2014); Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), SE-Kommentar (2008); Neye (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2005); Theisen/Wenz (Hrsg.), Die Europäische Aktiengesellschaft (2. Aufl. 2005). 16 Zu diesen Fragen für den Entwurf eines Gemeinsamen Europäischen Kaufrechts (GEK) – bekanntlich sieht dieses kraft Europäischer Anordnung eine Anwendung zwingend nur für den grenzüberschreitenden Kauf vor, lässt aber eine Erstreckung auf Inlandsfälle durch das nationale Recht zu – vgl. statt aller Stadler, Anwendungsvoraussetzungen und Anwendungsbereich des Common European Sales Law, AcP 212 (2012), 473–501; für die Auswirkungen auf den damit intendierten sog. vertikalen Wettbewerb der Regelgeber: Grundmann, Kosten und Nutzen eines optionalen Europäischen Kaufrechts, AcP 212 (2012), 502–544. 17 Maßgeblich sind: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459; EuGH v. 5.11. 2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, Slg. 2005, I-10805; EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641; EuGH v. 2.7.2012 – Rs. C-378/10 Vale. 18 Zu diesen Schapiro/Buzbee, Cornell L. Rev. 88 (2003), 1199; Hay, RabelsZ 35 (1971), 429, 485–489. 19 Grundmann, ZGR 2001, 783, 802–805. Grundmann

§ 9 Systemdenken und Systembildung

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terventionistischen Ansätzen, die verstärkt auf inhaltlich zwingende Vorgaben setzen. Grundidee hierbei ist, dass vor allem Informationsungleichgewichte ausgeglichen werden … dann aber die Verarbeitung und Nutzung der Information den Betroffenen überlassen wird. Zentrales Instrument sind daher die Informationsregeln (näher unten Rn. 41 ff. und 65 ff.), auch wenn dies vielleicht zunehmend auch kritisch oder als teils reformbedürftig gesehen wird. Dieses Modell bedeutet mehrerlei: Dass das Modell auch Verlierer haben kann, wobei jedoch zu zeigen sein wird, dass Grenzen bei existentiellen Verlusten gezogen werden müssen und wurden (vgl. unten Beispiele Rn. 21 ff.); dass das Modell im Grundsatz durchaus auf Eigenverantwortung setzt und damit Chancen bei denen (auch etwa Verbrauchern) mehrt, die sich dem stellen; und dass das Modell sicherlich einem institutionenökonomischen Regulierungsansatz nahe steht, der – pragmatisch – sich nicht darauf beschränkt, die jeweils bestehenden Institutionen zu kritisieren, sondern auch als Voraussetzung für eine Änderung postuliert, dass eine bessere Alternative aufgezeigt wird, und der zugleich regulierende Eingriffe an mehrere Bedingungen knüpft, namentlich: dass Versagen oder suboptimale Wirkung des Marktmechanismus nachgewiesen sein müssen; und dass zugleich aufgezeigt werden muss, dass Regulierung wohl bessere Ergebnisse zeitigen wird als das Hinnehmen des suboptimalen Marktprozesses, mit anderen Worten: Dass auch ein gutes Mittel der Regulierung mit genügend Sicherheit angenommen werden kann (trotz all der Probleme von Regulierung wie rent seeking oder Wissensproblemen beim Regulierer). Mit all dem wird auch der Aussage eine Absage erteilt, Europäisches Privatrecht sei syste- 20 matisch überreguliert.20 Auch heute ist vor allem die Vertragsfreiheit als Ausgangspunkt nicht wirklich in Frage gestellt, obwohl in der legislativen Praxis nicht mehr ein formaler Freiheitsbegriff zugrunde gelegt wird und dieser auch konzeptionell zu Recht kritisiert wird. Dies gilt gerade auch für das Europäische Vertragsrecht. Zu Recht: (1) Das Subsidiaritätsprinzip, radikal verstanden, gibt Entscheidungsmacht primär den Betroffenen selbst – den Vertragsparteien oder den Gesellschaftern oder anderen stakeholdern –, zumindest wenn diese die Entscheidungen sinnvoll treffen können und damit Dritte nicht belasten. Daher muss der Gesetzgeber zuvörderst versuchen, die Voraussetzungen für solches Handeln der Parteien herzustellen, und kann nur, falls dies nicht möglich ist, paternalistisch mit inhaltlich zwingendem Recht – oder mit sonstigen Anreizsetzungen – einschreiten bzw. einwirken und in letzter Konsequenz so weit gehen, auch seine Entscheidung an die Stelle derjenigen der Parteien zu setzen. (2) Gesetzgeber sind keineswegs fähig, die große Bandbreite heterogener Präferenzen zu erkennen. Zentralistisches Planen hat sich im Praxistest als deutlich suboptimal erwiesen. Wettbewerb – vor allem Vertragsfreiheit – bildet offenbar in der Tat das mächtigste Entdeckungsverfahren.21 Die eigentliche Frage ist nicht, ob Vertragsfreiheit den Ausgangspunkt bildet und bilden soll, sondern, wie formal diese gefasst werden darf und wie viel Materialisierung nötig ist, akzeptabel ist und gerechtfertigt werden kann. Vergleichbares gilt im Gesellschaftsrecht.

b) Beispiele Der angedeutete Mittelweg zeigt sich vielleicht besonders plastisch an Beispielen. Diese sind 21 Legion. Da das Recht gegen Wettbewerbsbeschränkungen so offensichtlich der Idee einer mate-

_____ 20 Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 511; vgl. auch Canaris, AcP 200 (2000), 276. Zum immer wieder angenommenen Niedergang der Vertragsfreiheit: Atiyah, The Rise and Fall of the Freedom of Contract (1979); vgl. auch Buckley (Hrsg.), The Fall and Rise of Freedom of Contract (1999). Zur Kritik an einer jüngst vielleicht zu beobachtenden Tendenz in Richtung unhinterfragter, geradezu „logisch“ zwingender Zunahme an Verbraucherschutz vgl. (bezogen auf die letzten Initiativen/Vorschläge zum Vertragsrecht): Grundmann, Die EUVerbraucherrechte-Richtlinie – Optimierung, Alternative oder Sackgasse?, JZ 2013, 53. 21 v. Hayek, in: ders. (Hrsg.), Freiburger Studien – Gesammelte Aufsätze (2. Aufl. 1994), S. 249. Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

rialen Freiheit, d.h. einer Freiheit, die durch eine Marktordnung zu schützen ist, verpflichtet ist,22 und da die Fragen im Gesellschaftsrecht auf Grund der Vielzahl von betroffenen Interessen besonders komplex sind, sollen zwei Beispiele aus den beiden sonst wohl prominentesten Gebieten im Vordergrund stehen: aus dem Recht gegen unlauteren Wettbewerb und aus dem Vertragsrecht. Im Recht gegen unlauteren Wettbewerb ist wohl kein Konzept so bekannt geworden und 22 doch auch umstritten wie das Konzept des sog. „informierten“ Verbrauchers. Der EuGH entwickelte es zuerst im Grundfreiheitenbereich, vor allem in Cassis de Dijon,23 und rechtfertigte damit den Vorrang von Informationsregeln, wann immer sie Marktversagen ausräumen können. Er wandte es dann auch auf die Werberichtlinie an:24 Ob Werbung irreführend ist, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont des „hinreichend informierten“ Verbrauchers („reasonably wellinformed consumer“). Sehr zentral ging es um vergleichende Werbung. Will man sie untersagen – weil einige Verbraucher keine „hinreichende“ Sorgfalt aufbringen –, schließt man damit auch einen der Hauptinformationskanäle für alle anderen aus (wir nehmen Werbung wahr, lesen aber keine Instruktionen) und zudem ein wichtiges Instrument des Markteintritts für Neuankömmlinge. Ein Verbot wirkt also potentiell schädlich in informationeller und wettbewerblicher Hinsicht. Zentral ist also, dass jeder – auch der informierte Verbraucher – die Chance hat, seine Interessen einbezogen zu sehen. Drexl hat zu Recht herausgearbeitet, dass es bei diesen Fragen nicht nur und nicht einmal primär um den Interessenwiderstreit zwischen Unternehmen und (uninformierten) Verbrauchern geht, sondern auch zwischen Verbrauchergruppen, die die Freiheiten und Instrumente nutzen können (sie wollen ihr „wirtschaftliches Selbstbestimmungsrecht“ ausüben),25 und solchen, die dies nicht können. Dann stellt sich freilich die Folgefrage, ob es nicht problematisch ist, wenn manche Verbraucher in die Irre geführt werden, weil auf den Empfängerhorizont eines recht aufmerksamen Verbrauchers abgestellt wird, und zwar auch, wenn andere davon profitieren. Auf diese Frage ist differenziert zu antworten. Beschränkte Rationalität ist ein Nachteil auch sonst im Leben: bei der Suche nach guten Gelegenheiten (jenseits des Vertragsrechts), nach guten Jobs etc. Wenn also Vertragsrecht Verbrauchern hinreichende Anstrengungen und Kapazitäten abverlangt, schafft es nur eine Parallele zum sonstigen Leben … auch, um anderen die notwendigen Chancen zu eröffnen. Auch hier stellt sich wieder eine Folgefrage und zwar nach den Grenzen: Existiert ein „Sicherheitsnetz“ für diejenigen, die hierbei verlieren? Europäisches Vertragsrecht einschließlich seiner institutionellen Rahmenbedingungen scheint ein solches in der Tat bereitzustellen, zumindest im Ansatz – obwohl nicht alle Verbraucher in jeder Hinsicht geschützt werden. Diese „Sicherheitsnetze“ werden in der Debatte zu wenig beachtet: Jenseits eines „sozialen“ Steuerrechts und des Sozialversicherungsrechts –

_____ 22 Grundlegend schon W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik (7. Aufl. 2004), S. 278 (1. Aufl. 1952, S. 241 ff.). 23 EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 – Cassis de Dijon. 24 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl. 1984 L 250/17; geändert durch Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18 (seitdem auch vergleichende Werbung) neu kodifiziert durch Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 2006 L 376/21 und Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005 (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken), ABl. 2005 L 149/22; vgl. EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Estée Lauder, Slg. 1994, I-317, LS 2 und Rn. 18–21; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-77/97 Unilever, Slg. 1999, I-431, LS 1 und 2; krit. zum Konzept des „informierten“ Verbrauchers etwa: Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 312–318. Zu den neuesten Entwicklungen, den Ausdifferenzierungen, die angedacht werden, aber auch einem Ruf nach Einfachkeit, die beiden Sammelbände von Leszykiewicz/Weatherill (Hrsg.) bzw. Riesenhuber (Hrsg.) zu Consumer Images bzw. Verbraucherleitbildern (im Erscheinen), im erstgenannten Band auch meine Sicht unter dem Titel „Towards a more targeted consumer protection – Assessing weaknesses more carefully“. 25 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers (1998). Grundmann

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die beide noch weitgehend in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegen – handelt es sich vor allem um zwei Instrumente: Der EuGH zieht das Leitbild des „informierten“ Verbrauchers nicht allgemein heran, namentlich nicht, wo Gesundheit und Leben betroffen wären.26 Diese bilden ein zu wichtiges, „existentielles“ Gut, als dass auf den Schutz jedes Verbrauchers – auch bei beschränkter Rationalität – verzichtet werden könnte. Existentielle Risiken ergeben sich jedoch teils auch aus finanziellen Verlusten – existentiell 23 typischerweise erst, wenn nicht nur vorhandene Ressourcen verloren werden, sondern auch die Fähigkeit, zukünftig Einkünfte zu erzielen, verbraucht wird. Damit ist das vertragsrechtliche Beispiel angesprochen. Aus diesem Grunde ist nämlich Verbraucherkreditrecht so wichtig. Die Richtlinie von 198627 hat ein sehr wichtiges informationelles Instrument geschaffen, das die Konditionen im Zentralpunkt gut vergleichbar macht und auch die Gesamtbelastung in „guten Zeiten“, d.h. bei planmäßiger Erfüllung aufzeigt; weitere Regeln, d.h. ein Ausbau des bestehenden Netzes, erschienen dennoch nötig.28 In einer anderen Hinsicht wurde das Sicherheitsnetz gegen existentiellen finanziellen Verlust auf europäischer Ebene später deutlich verstärkt: Die Verbraucherinsolvenz ist, obwohl sie im nationalen Insolvenzrecht fußt, europaweit anerkannt auf der Grundlage der Insolvenz-Verordnung.29 Solchermaßen können finanzielle Risiken für Verbraucher zwar substantiell sein, sie sind jedoch nicht mehr (zeitlich) grenzenlos. Solche „Sicherheitsnetze“ und ein liberaleres Verbraucherrecht, in dem auch Verlustrisiken hingenommen werden, korrelieren. Die angedeutete Suche nach einem Mittelweg – weder formale Freiheit noch Intervention 24 durch eine Vielzahl inhaltlich zwingender Regeln – ist jedoch viel allgemeiner zu konstatieren, einige charakteristische Beispiele können das noch weiter illustrieren: Einerseits wurde europäisches Vertragsrecht überzeugend dahin verstanden, dass hier der Grundsatz eines caveat emptor abgelöst wurde durch einen Grundsatz des caveat praetor.30 Und der Kauf bildet noch immer den Vertragstyp mit Leitbildcharakter. Ebenso evident ist es, dass das Regime vorvertraglicher Information auf europäischer Ebene ungleich weiter geht als traditionell in den nationalen Ver-

_____ 26 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 29–31; EuGH v. 24.10.2002 – Rs. C-99/01 Linhart and Biffl, Slg. 2002, I-9375 Rn. 31 f. 27 Richtlinie 87/102/EWG des Rates v. 22.12.1986 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48; aufgehoben durch Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 28 Mindestens war zu fordern, dass auch die Folgen von Leistungsstörungen (etwa Tilgungsverzug wegen Scheidung, Arbeitslosigkeit etc.) aufgezeigt werden. Weiter gehend wurde gefordert, in der verabschiedeten Fassung jedoch tendenziell abgelehnt, dass die Kreditinstitute eine (Mit-)Verantwortung dafür tragen, ob sich der Kunde den Kredit denn wirklich leisten kann („verantwortungsbewusste Kreditvergabe“). Vgl. Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66; und dazu etwa Hofmann, in: Riesenhuber (Hrsg.), Perspektiven des Europäischen Schuldvertragsrechts (2008), S. 71; ausführlich Grundmann/Atamer (Hrsg.), Financial Services, Financial Crisis, and General European Contract Law – Failure and Challenges of Contracting, (2011) – namentlich der Beitrag von Atamer, Duty of Responsible Lending, S. 179–202. Außerdem war zu fordern, dass die Schutzinstrumente umfassend auf grundpfandrechtlich abgesicherte Kredite erstreckt werden. Dies erreicht heute Richtlinie 2014/17/ EU der Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.2.2014 über Wohnimmobilienkredite für Verbraucher und zur Änderung der Richtlinien 2008/48/EG und 2013/36/EU und der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. 2014 L 60/34, insbes. dessen Art. 18 Abs. 5 lit. a) („verantwortungsbewusste Kreditvergabe“), allgemeiner auch Art. 7. 29 Primär Art. 16, 17 und 25 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1; vgl. Homann, System der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens und die Zulässigkeit der Einzelrechtsverfolgung (2000). 30 Hedley, JBL 2001, 114, 123. Diese Entwicklung ist von der ökonomischen Theorie her durchaus zu begrüßen: Grundmann/Bianca-Gomez, EU-Kaufrechts-Richtlinie (2002), Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/Bianca-Grundmann, ebd., Art. 2 KGRL Rn. 4; zum zunehmenden Trend der Materialisierung und den weiteren Beispielen unten: Grundmann, FS 200 Jahre HU (2010), S. 1025. Grundmann

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tragsrechten.31 Umgekehrt ist das Europäische Vertragsrecht jedoch auch nicht intensiv interventionistisch verfasst: Abgesehen von zwingenden Informationsregeln, die zwar den Vertrag vorbereiten, die eigentliche Gestaltungsfreiheit jedoch unberührt lassen, kennt es kaum (inhaltlich) zwingende Regeln, mit denen der Vertragsinhalt vorgegeben und die Parteiabrede ersetzt wird. Die eine große Ausnahme (bis 1999), das AGB-Recht, ist auch auf der Grundlage der (Informations-)Ökonomie gut begründbar (unten Rn. 41 f. mit Fn. 55). Und auch die jüngeren Beispiele – Antidiskriminierung und Konstitutionalisierung – sind solch einem Mittelweg verpflichtet (Fn. 30).

4. Einführung zu den Einzelgebieten – Verantwortung des EuGH 25 Wenn das Gesagte für zwei Gebiete auf einen etwas niedrigeren Abstraktionsgrad hinunter ge-

hoben werden soll, so bieten sich die zwei großen Organisationsformen des Privatrechts und privatwirtschaftlichen Handelns als besonders nahe liegend an, der Vertrag bzw. das Vertragsrecht und die Gesellschaft bzw. das Gesellschaftsrecht, Austausch und Organisation, „Market and Firm“ (s.o. Rn. 1 mit Fn. 4). Näher ausgeführt wird jeweils: Dass der Harmonisierungsbestand zunehmend als flächendeckend zu sehen ist und zwar als ein System der Eckpunkte, daneben jedoch auch (in statu nascendi) jeweils als Quelle einer Europäischen Alternativform, die mit den nationalen in Wettstreit tritt und im Wettbewerb steht (jeweils 1.); dass dieser Bestand zunehmend als allgemeines Leitbild auch außerhalb seines Anwendungsbereichs verstanden wird und darauf geradezu angelegt ist (jeweils 2.); und dass inhaltlich überall das Informationsmodell als Hauptinstrument und -philosophie zu sehen ist. Ein Ausblick auf sonstige Hauptgedanken im jeweiligen Gebiet komplettiert dann jeweils den Überblick (insgesamt jeweils 3.). Wenn die einzelnen Rechtsgebiete – bis hinein in die Details – in den Blick genommen werden, ist die Frage nach den maßgeblichen Akteuren von zentraler Bedeutung – sicher die Wissenschaft vom Europaprivatrecht, zentral jedoch (jedenfalls auch) der EuGH: Die „Übersetzung“ des Systems an der Schnittstelle zum nationalen Recht, in dem die Anwendung primär stattfindet, ist vor allem dem EuGH überantwortet, der dabei m.E. eine deutlich aktivere, System erklärende und fortbildende Rolle – gerade im Privatrecht – spielen sollte.32

III. Wichtige Systemfragen im Europäischen Vertragsrecht 1. Von der Vertragsrechtsregulierung zum flächendeckenden Vertragsrechtsansatz a) Vertragsrechtsregulierung 26 Bis zur Verabschiedung der Kaufgewährleistungsrichtlinie 199933 betraf Europäisches Vertrags-

recht kaum den klassischen Kern nationalen Vertragsrechts, d.h. das dispositive (und teils

_____ 31 Vgl. etwa, für einen Vergleich mit dem italienischen Recht: Roppo, in: Grundmann/Schauer (Hrsg.), The Architecture of European Codes and Contract Law (2006), S. 283–299. 32 Ausf., zu der herausgegebenen Rolle, die der EuGH schon als einzige „einheitliche“ Stimme in Europa (auch rein linguistisch) spielt: Grundmann, „Inter-Instrumental-Interpretation“ – Systembildung durch Auslegung im Europäischen Unionsrecht, RabelsZ 75 (2011), 882; und Nachw. unten Fn. 39; für eine bemerkenswerte (allerdings viel kritisierte) Entscheidung, die den systematischen Zusammenhang zwischen Primärrecht (Grundrechten und -prinzipien) und Sekundärrecht zentral betont und fruchtbar macht, vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981. 33 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12.

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zwingende) Recht zu der Frage, wie die Parteien wohl entschieden hätten, hätte ihnen die nötige Information vorgelegen und wäre der Wettbewerb unbeschränkt gewesen. Diese Normen versuchen primär den Konsens nachzubilden, zu dem die Parteien unter solch idealen Bedingungen gelangt wären. Europäisches Vertragsrecht versuchte demgegenüber vor allem, diese beiden Bedingungen 27 (wieder) herzustellen, deren Fehlen den Konsensmechanismus (mit „Richtigkeitsgewähr“ oder „-chance“) mehr oder weniger weit gehend versagen und im Extremfall Märkte zusammen brechen lässt: hinreichende Information und genügend Wettbewerb. Kirchner sprach früh und sehr plastisch von einer Vertragsrechtsgestaltung „von den Rändern her“.34 Im Vordergrund steht in der Tat der Abbau von Informationsproblemen, was gesondert aus- 28 zuführen sein wird (unten Rn. 41 f.). Ein zweiter Komplex galt direkten und indirekten Wettbewerbsbeschränkungen, am evidentesten bei den Gruppenfreistellungsverordnungen, die wie Musterverträge für alle Unternehmen wirkten (und bis zu einem gewissen Grad auch heute noch wirken), die von der Gruppenfreistellung Gebrauch machen wollten. Wettbewerbsbezug haben auch die Harmonisierungsakte zum öffentlichen Auftragswesen und auch im Urheberrecht (vor allem Softwarefragen). Zuletzt besonders wichtig wurde der – ebenfalls weitgehend auf Wettbewerbsüberlegungen gegründete – Bereich der ehemals öffentlichen Unternehmungen von allgemeinem (wirtschaftlichen) Interesse.35

b) Auf dem Weg zum flächendeckenden Vertragsrecht Klassisches Vertragsrecht in größerem Umfang findet sich im EG-Recht erstmals in der Kaufge- 29 währleistungs- und E-Commerce-Richtlinie,36 d.h. seit 1999/2000. Es handelt sich um Fragen des Vertragsschlusses, der Vertragserfüllung und des Leistungsstörungsrechts, d.h. Fragen, für die Gesetzgeber versuchen, die Abrede nachzubilden, die die Parteien getroffen hätten, hätten sie einen „vollständigen“ Vertrag (vgl. oben Rn. 26) geschlossen. Dass es zu solchen Regeln so spät kam, überrascht zunächst einmal, weil sie das Herz eines jeden nationalen Vertragsrechts bilden. Die herkömmliche Erklärung geht dahin, dass Verbrauchervertragsrecht deutlich umfassender Behinderungen für grenzüberschreitende Angebote begründen kann, da es international zwingend wirkt (vgl. oben Rn. 27). So sehr dies im Ansatz überzeugt, ist freilich festzustellen, dass die Kaufgewährleistungsrichtlinie doch auch nur den Verbraucherkauf erfasst und dennoch in ihrem Gehalt allgemeines Kauf- und Leistungsstörungsrecht regelt. Die Entwicklung mag auch institutionell zu erklären sein. Die GD Binnenmarkt konzentrierte sich mehr auf Gesellschafts- und Finanzrecht und zeichnet allein für die E-Commerce-Richtlinie verantwortlich. Die GD Gesundheit und Verbraucherschutz schien zunächst nicht wirklich dazu berufen, ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln. Die Lösungen, die sich in diesen beiden Richtlinien finden, können im vorliegenden Rah- 30 men nicht diskutiert werden. Beide wurden ausführlich erörtert, häufig auch monographisch

_____ 34 Kirchner, in: Weyers (Hrsg.), Europäisches Vertragsrecht (1997), S. 106; dann ausführlicher Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; auch Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, S. 42 ff., 91–93. 35 Dazu etwa Rott, ERCL 1 (2005) 323–345; Essebier, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und Wettbewerb (2005); v. Danwitz, in: Krautscheid (Hrsg.), Die Daseinsvorsorge im Spannungsfeld von europäischem Wettbewerb und Gemeinwohl (2009), S. 103–130; und zuletzt Koukiadaki, EU governance and social services of general interest: When even the UK is concerned (2012); Ludlow/Rauhut, Services of General Interest: policy challenges and policy options (2013). 36 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt (Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehrs), ABl. 2000 L 178/1.

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oder gar in Kommentaren beschrieben, ebenso das UN-Kaufrecht als Hauptmodell.37 Eine eigene Untersuchung wäre nötig, um darzustellen, warum die Kaufgewährleistungsrichtlinie das wichtigste Modell für Erfüllung und Leistungsstörung im EU-Recht enthält, wie weit dieses Modell reicht und wo seine Lücken und Schwächen liegen. Entsprechendes gilt für die Frage, inwieweit die Kaufgewährleistungs- und E-Commerce-Richtlinie im Zusammenspiel in der Tat ein Europäisches Modell des Vertragsschlusses schufen. Hier kann nur kurz angedeutet werden, welches wohl die Zentralfragen bei der Fortentwicklung dieses Bestandes sein werden:

2. Ausstrahlwirkung: Frage der Generalisierbarkeit 31 Die Kernfrage geht m.E. dahin, ob der Gehalt beider Richtlinien (und anderer) verallgemeinert

werden kann. Dies wirft einige Unterfragen auf:

a) Vom Verbraucherrecht zum allgemeinen Vertragsrecht 32 Generalisierungsfähig in großem Stile ist der acquis communautaire nur, wenn Verbraucherrecht

generalisierungsfähig erscheint. M.E. (vgl. Fn. 37) ist dies in der Tat der Fall. Man könnte einfach darauf verweisen, dass die Kaufgewährleistungsrichtlinie nicht wirklich Verbraucherrecht ist – nahezu alle Lösungen sind ja aus dem UN-Kaufrecht übernommen, das nur den zweiseitigen Handelskauf regelt – und dass die E-Commerce-Richtlinie ohnehin allgemein gilt. Unter den Hauptrichtlinien stellt sich daher die Frage nach der Generalisierbarkeit in ganzer Schärfe nur für die Klauselrichtlinie38 und hier optiert immerhin die damals vor allem vorbildliche Rechtsordnung, das deutsche Recht, weitgehend für eine Verallgemeinerung. Allgemeiner jedoch ist zu betonen, dass Verbraucherrecht primär hinsichtlich der Informa33 tionsregeln erheblich von sonstigem Vertragsrecht abweicht und dass daher ein Gesetzbuch gruppenspezifisch überwiegend nur in diesem Bereich zu differenzieren hätte, manchmal auch (wenn Informationsregeln versagen) beim paternalistisch gesetzten Schutzstandard. Der Rest des Vertragsrechts, basierend auf Vorstellungen der iustitia distributiva und commutativa, ist allgemeiner Natur, nicht gruppenspezifisch.39 Verbrauchervertragsrecht und „sonstiges“ Vertragsrecht gemeinsam – integrativ – einzubringen, hätte weitere erhebliche Vorteile: Verbraucherrecht würde nicht marginalisiert, sondern in den Fokus der Dogmatik gerückt; und die Stellung der jeweiligen Regeln „Seite an Seite“ würde den Druck, Unterschiede stets zu überdenken und zu legitimieren, noch verstärken (Kohärenz der Wertung als Daueraufgabe).

_____ 37 Für eine Interpretation aus Effizienzüberlegungen heraus und für meine eigene Auslegung der Richtlinie vgl. vor allem Grundmann/Bianca-Gomez, EU-Kaufrecht-Richtlinie (2002), Einl. Rn. 74–77 bzw. Grundmann/BiancaGrundmann, ebd., Art. 2 KGRL Rn. 4; Grundmann, AcP 202 (2002), 40 mwN. Zum UN-Kaufrecht vor allem: Honnold/ Flechtner, Uniform Law for International Sales under the 1980 United Nations Convention (4. Aufl. 2009); Staudinger-Magnus, Wiener UN-Kaufrecht (CISG) (Neubearb. 2013); Schlechtriem/Schwenzer (Hrsg.), Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht (6. Aufl. 2013). 38 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 39 Für eine stärker interdisziplinäre Begründung vgl. jüngst Grundmann, Three Views on Negotiation – An Essay between disciplines, FS Micklitz (2014), S. 3–30. Ein schlagendes Beispiel dafür, dass diese Verallgemeinerungsfähigkeit immer wieder zu eng verstanden wird, bildet die Endentscheidung des BGH in Sachen Putz und Weber, in der der maßgeblichen EuGH-Entscheidung, obwohl sinnvoll für das Vertragsrecht allgemein, entsprechend dem Anwendungsbereich der Kaufrechtsrichtlinie allein für den Verbraucherkauf Folge geleistet wurde: vgl. EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Weber und Putz, Slg. 2011, I-5257; Darstellung und Kritik bei: Grundmann, FS Stuyck (2013), S. 725; allgemeiner zur Rolle des EuGH im Prozess der Systembildung: Nachw. oben Fn. 32.

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b) Vom Besonderen Teil zum Allgemeinen Teil Eine zweite Unterfrage ginge dahin, inwieweit vom besonderen Vertragsrecht auf das allgemei- 34 ne geschlossen werden kann. Denn viele Harmonisierungsmaßnahmen sind sektor- oder doch vertragstypspezifisch. Da sich eine Europäische Rechtswissenschaft noch in statu nascendi befindet, sollte das System ohnehin zunächst für konkretere Fragen, d.h. ausgehend von speziellen Vertragstypen, geschaffen werden, um dann induktiv ein allgemeines Vertragsrecht zu entwickeln. Für die Antwort auf die Frage erscheinen zwei Punkte von vorrangiger Bedeutung: Das UN- 35 Kaufrecht hat, obwohl es nur für das Kaufrecht formuliert wird, auch die Regelkataloge, die bisher im Allgemeinen Vertragsrecht entwickelt wurden,40 maßgeblich beeinflusst. Das wird in beiden Regelwerken selbst betont. Es liegt daher nahe, in der Tat für Verträge, die eine idealtypisch einmalig zu erbringende Leistung betreffen (sog. spot contracts), Kaufgewährleistungsrichtlinie und UN-Kaufrecht sehr stark als Modell heranzuziehen. Umgekehrt ist es auch wichtig, das andere Extrem im Auge zu behalten. Dies sind die Langzeitverträge, häufig sehr komplex, regelmäßig vor allem mit Geschäftsbesorgungscharakter, häufig ein Netzwerk von Verträgen.41 Nur in diesem Spannungsverhältnis kann die Frage nach einer Übertragbarkeit von Wertungen aus dem acquis (Besonderen Teil im EG-Vertragsrecht) auf andere Verträge und die Generalisierbarkeit sinnvoll beantwortet werden.

c) Der Beitrag des Akademischen Referenzrahmens Der (akademische) Gemeinsame Referenzrahmen (Fn. 40), unter Einschluss der sog. Acquis- 36 Principles, die sich vor allem um die Systematisierung des acquis communautaire bemühten (Fn. 13), geht im Wesentlichen ebenfalls den Weg einer Verallgemeinerung: Es wird nicht nur Verbrauchervertragsrecht ausgebildet, sondern allgemein Vertragsrecht geregelt; und es wird danach gestrebt, aus den sektorspezifischen Regeln allgemeine Regeln abzuleiten. In diesem äußeren Zuschnitt ist dem Allgemeinen Referenzrahmen also zuzustimmen, obwohl er nicht nur Vertragsrecht betrifft und obwohl in ihm das vertragsrechtliche System einer modernen Marktwirtschaft auch in der Breite eines allgemeinen Obligationenrechts geradezu unterzugehen scheint. Inzwischen wurde er überholt durch den Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, wieder primär auf Verbraucherkauf (und Verkauf an KMUs) zugeschnitten und optional. Hier geht es nun um den Wettbewerb der Formen:

d) Wettbewerb der Formen (auch Gemeinsames Europäisches Kaufrecht)? Wettbewerb der Formen – d.h. der Vertragsrechtwerke – existiert derzeit nur eingeschränkt. Na- 37 türlich ist eine Anlehnung an ausländische Modelle im Rahmen des inländischen zwingenden Rechts möglich. Dieses geht jedoch vor allem dort sehr weit, wo, wie in Deutschland, auch AGB

_____ 40 UNIDROIT (Hrsg.), Principles of International Commercial Contracts (1994), S. viii (nur Handelsverträge); Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Teil I (1996), Teil II (1999) (dort S. XXXV) und Teil III (2002) (alle Verträge); dazu u.a. Hesselink/de Vries (Hrsg.), Principles of European Contract Law (2001); Zimmermann, ZEuP 2000, 391; vgl. auch die Fortentwicklung in: v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Outline Edition und die inzwischen überarbeitete Ausgabe mit Kommentierungen v. Bar/Clive (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition. Kritik dazu etwa bei Eidenmüller et al., JZ 2008, 529; Ernst, AcP 208 (2008), 248; Grundmann, ERCL 5 (2008), 225. 41 Die Abweichungen vom Kreis der „Spot Contracts“ ausleuchtend und als sehr grundlegend einstufend, namentlich die Querschnittswerke von Grundmann/Cafaggi/Vettori (Hrsg.), The Organizational Contract, (2013), und – methodisch noch weiter ausgreifend – von Grundmann/Möslein/Riesenhuber (Hrsg.), Contract Governance (2014).

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im kaufmännischen Verkehr einer Inhaltskontrolle unterfallen. Eine Rechtswahl ist im rein inländischen Fall nicht möglich (Art. 3 Abs. 3 Rom-I-VO). Anders ist dies im grenzüberschreitenden Verkehr (Art. 3 Rom-I-VO), freilich mit den be38 kannten Einschränkungen im Verbraucher- und Arbeitsvertragsrecht (Art. 6 und 8 Rom-I-VO) sowie zum Schutz von Allgemeininteressen (Art. 9 Rom-I-VO). Und selbst im kaufmännischen Verkehr, der mit diesen Vorbehalten direkt nicht angesprochen ist, schränkt der EuGH die Rechtswahl ein, soweit Richtlinien den Schutz einer Vertragspartei bezwecken.42 Auch hat die Rom-I-VO die vielfach geforderte Wählbarkeit nichtstaatlicher Regelwerke (etwa der Prinzipienkataloge) abgelehnt. 39 Grenzüberschreitende Verträge sind wichtig, bilden jedoch selbst für Deutschland einen relativ kleinen Prozentsatz: ca. 20%, rechnet man die Konzernbeziehungen heraus, in denen Streitigkeiten kaum einmal streng rechtlich durchgefochten werden, sogar wohl unter 10%. Das ist anders als im Gesellschaftsrecht, wo die Wahl der ausländischen Rechtsform eben gerade auch bei Sitz im Inland eröffnet ist (dazu sogleich Rn. 56 f.). Ein vergleichbarer Wettbewerb der Rechtsformen wird erst durch einen optionalen Kodex 40 eröffnet, der auch im Inlandsfall wählbar ist … wenn er nicht gar eines Tages als abwählbare Regel gelten sollte. Die Erfahrung mit dem UN-Kaufrecht sollte lehren, dass in der Tat conditio sine qua non für einen nennenswerten Erfolg – noch nicht notwendig hinreichende Bedingung – die Wählbarkeit solch eines Kodex auch im Inlandsfall ist. Der derzeit vorliegende Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht folgt dem nicht: Er gilt kraft Europäischen Rechts nur für grenzüberschreitende Verträge und auch nur für Kaufverträge mit Verbrauchern und KMU (jeweils mit Mitgliedstaatenwahlrecht zur Erstreckung auf Inlandsfälle und alle Kaufverträge).43 Derzeit scheint dieser Vorschlag jedoch wohl ohnehin allenfalls Chancen zu haben verabschiedet zu werden, wenn der sachliche Anwendungsbereich auf den Fernabsatz beschränkt wird. Damit wäre ein Durchbruch von Alternativformen, ein echter breitflächiger vertikaler Wettbewerb der Regelgeber, wohl noch nicht verbunden.

3. Einzelne Systemgedanken, vor allem: Besonderes Gewicht des Informationsmodells a) Besonderes Gewicht des Informationsmodells 41 Inhaltlich ragt das Informationsmodell hervor.44 Das gilt bereits für das Primärrecht. Auf Grund

der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informationsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.45 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert der Europäische Gesetzgeber im Sekundärrecht. 42 Die meisten vertragsrechtsbezogenen EG-Richtlinien (jedenfalls bis 1999) zielen auf den Abbau von Informationsproblemen:46 So die wichtigsten sektorspezifischen Akte, die Pauschalrei-

_____ 42 EuGH v. 9.11.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB, Slg. 2000, I-9305. 43 Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635 endg; Nachw. aus der reichen Lit. in den in Fn. 16 zitierten Beiträgen. 44 Vgl. dazu v.a. (für das Vertragsrecht): Grundmann, JZ 2000, 1133; Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Authonomy; im „deutschen“ Markt aufgegriffen von: Schulze/Ebers/Grigoleit, (Hrsg.), Informationspflichten und Vertragsschluss im Acquis communautaire (2003). 45 Bahnbrechend EuGH v. 20.2.1979 – Rs. 120/78 Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Slg. 1979, 649 Rn. 13 – Cassis de Dijon. 46 Zwei Gesamtkommentierungen liegen vor: Quigley, European Community Contract Law, Bd. I und II (1997); Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ausführlichere Kommentare zudem in Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (51. Erg.-Lfg. 2013). In diesen Werken Nachw. für alle im folgen-

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se-,47 Timesharing-48 und auch die Verbraucherkredit-Richtlinie (in der Novellierung49 inhaltlich moderat aufgeladen) sowie – etwas weniger – die Wertpapierdienstleistungs-Richtlinie50 (seit 2004 Finanzmärkte-Richtlinie),51 alle enthalten sie ganz überwiegend Informationspflichten vorvertraglich und in der Vertragsabwicklung; so auch die Richtlinien zu speziellen Absatztechniken – die Haustürgeschäfte-52 und die beiden Fernabsatz-Richtlinien,53 seit 2011 zusammengefasst und ersetzt durch die Verbraucherrechte-Richtlinie54 –, die vor allem ein Widerrufsrecht geben. Dieses kann als Informationsinstrument verstanden werden: Dem Kunden soll die Informations- und Reflexionsmöglichkeit nachgereicht werden, die ihm durch Einsatz dieser speziellen Absatztechnik genommen wurde. Und auch die letzte verbleibende, nicht sektorspezifische Richtlinie (bis 1999), die Klauselrichtlinie, hat immerhin Informationsprobleme zum Gegenstand. Freilich ist der Ansatz ein anderer, da die Informationsasymmetrie hier als grds. nicht ausgleichsfähig eingestuft wird. Folglich sieht die Richtlinie nicht primär Informationspflichten vor, sondern legt – paternalistisch, inhaltlich zwingend – weitgehend den anzuwendenden Standard fest. Das Gesamtbild ist also geprägt von den vielen Richtlinien, die primär Informationsprobleme abbauen, Märkte also (bei Teilversagen) unterstützen sollen, indem die nötigen Informationsverhältnisse wiederhergestellt werden, dann aber die Vertragsfreiheit erhalten, und der einen, die den Markt substantiell korrigiert – mit weitreichenden Wirkungen: Da Verträge meist unter Verwendung von AGB abgeschlossen werden, herrscht sehr weitgehend „quasizwingendes“ Recht, beruhend auf paternalistischen Erwägungen (bei Setzung sehr enger Gren-

_____ den genannten Rechtsakte; die klassiche Lehrbuchdarstellung ist Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, dort dann breite Darstellung in § 7 und auch § 8. 47 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59, derzeit Reformüberlegungen hierzu. 48 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83; nunmehr ersetzt durch Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10. 49 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 50 Richtlinie 93/22/EWG des Rates v. 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 51 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 52 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31. 53 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19; Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.9.2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG und 98/27/EG, ABl. 2002 L 271/16, geändert durch Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005, ABl. 2005 L 149/22, und Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007, ABl. 2007 L 319/1. 54 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [Verbraucherrechte-RL], ABl. 2011 L 304/64; intensive Analyse (noch zur Entwurfsfassung, d.h. zum damals viel weiter reichenden Systematisierungsansatz) in den Beiträgen von Whittaker, Möslein/Riesenhuber, Hesselink, und Roppo in ERCL 5 (2009), Heft 3 (S. 223–349); zur (viel engeren) verabschiedeten Fassung, vor allem dem Systemgedanken Mehrebenensystem und Alternativen: Grundmann, Die EU Verbraucherrechte-Richtlinie – Optimierung, Alternative oder Sackgasse?, JZ 2013, 53–65.

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zen für privatautonome Gestaltung).55 Zudem wird eine besonders große Zahl der europavertragsrechtlichen Streitigkeiten, über die der EuGH zu befinden hat, heute nach der Klauselrichtlinie entschieden.56

b) Überblick zu weiteren Systemgedanken 43 Mit dem prägenden Charakter des Informationsmodells im Europäischen Vertragsrecht gehen

wichtige weitere grundlegende Systemgedanken einher. Diese seien hier nur angesprochen:57 (1) Europäisches Vertragsrecht ist nicht als Verbrauchervertragsrecht konzipiert, sondern als Markt- oder Unternehmensaußenrecht, also mit dem Ziel, ungerechtfertigte (informationelle) Überlegenheit oder marktbeschränkende Verhaltensweisen von Unternehmen auszugleichen bzw. zurückzudrängen. Hinzu tritt gänzlich allgemeines, d.h. nicht rollenspezifisch ausgebildetes Vertragsrecht, vor allem in der Kaufgewährleistungsrichtlinie (oben Rn. 29 f. mit Fn. 37). Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch Verbraucher – und sehr erheblich – vor den Folgen dieser Marktimperfektionen zu schützen sind. (2) Selbstbestimmung und individuelle Verantwortung – d.h. Wahlrechte und die Tragung der Folgen ihrer Ausübung – sind ähnlich prägend. Dies muss nicht heißen, dass es keine Durchbrechung des pacta sunt servanda gäbe, gerade auch zugunsten des Verbrauchers.58 Diese sind jedoch eng umgrenzt, im Falle des recht kurz bemessenen Widerrufsrechts, wie gesagt, sogar eher nur als ein Instrument zum „Nachreichen“ der Informationsmöglichkeit zu verstehen, und jedenfalls nicht systemprägend. Ein dauerhaftes Recht zur Vertragsaufsage (jederzeitiges Kündigungsrecht) kennt fast nur das Verbraucherkreditrecht und auch dieses nur für ca. 10–20% des Verbraucherkreditvolumens, insbesondere auch heute nicht beim grundpfandrechtlich gesicherten Kredit. Ein letzter Vorbehalt: Eine zentrale Systemfrage wurde – mangels Möglichkeit einer ähnlich 44 vogelflugartigen Antwort – gänzlich ausgeblendet: Diese (wichtige) Unterfrage ginge dahin, ob denn der acquis communautaire in sich überhaupt kohärent ist, vor allem: ob nicht für manche Regelkomplexe ein zu enger Anwendungsbereich gewählt wurde, etwa bei den Absatztechniken, und ob sich die in ihnen enthaltenen Regeln nicht teils widersprechen.59

_____ 55 Hesselink, ERCL 1 (2005), 44, 66–68. Zur Begründung (auch in der ökonomischen Theorie) für die Regulierungsnotwendigkeit in diesem Bereich: Adams, BB 1989, 781, 787; und Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse, S. 552–555. 56 Vgl. Rechtsprechungsübersicht Micklitz/Kas, EWS 2013, 314–334 und 353–380. 57 Näher zu ihnen: Grundmann, ZHR 163 (1999), 635; Riesenhuber, ERCL 1 (2005), 297–322; ders., EU-Vertragsrecht, S. 34 f., 76 ff. 58 Vgl. Micklitz, ZEuP 1998, 253, der freilich zu sehr ein dem Verbraucher gegenüber gar nicht mehr bindendes Vertragsrecht annimmt (etwas missverständlich mit dem Begriff eines „kompetitiven“ Vertragsrechts umschrieben). 59 Vgl. dazu nur Riesenhuber, System und Prinzipien, passim; ders., ERCL 1 (2005), 297–322; außerdem den Beitrag von Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17; zur Verbraucherrechterichtlinie, die maßgeblich als Reaktion auf diese Kritik zu verstehen ist, vgl. oben Fn. 54.

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IV. Wichtige Systemfragen im Europäischen Gesellschaftsrecht 1. Leitidee: Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften und Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften a) Standardisierung des Außenverhältnisses von Kapitalgesellschaften Ausgangspunkt des Europäischen Gesellschaftsrechts war das Außenverhältnis. Schon die 45 1. Richtlinie60 brachte die Handelsregisterpublizität wichtiger Daten gegenüber dem Rechtsverkehr (für Zweigniederlassungen ergänzt durch die 11. Richtlinie),61 die nahezu unbeschränkte Vertretungsmacht der registrierten Organe nach außen und die sehr eingeschränkte Nichtigkeit der Organisation, Letzteres beides jeweils aus dem Handelsregister umfassend zu ersehen. All dies diente bereits der Ausgestaltung der Gesellschaft in einer Form, die Vertrauen bei Gläubigern, teils auch schon beim Anleger verbürgen sollte. Daneben treten mit der 4., 7. und 8. Richtlinie62 Regeln zur Rechnungslegung im Einzelun- 46 ternehmen, die Adaptionen für den Konzern und die Regelung über die Abschlussprüfer, die die Rechnungslegung zu testieren haben (letztgenannte nach der Finanzkrise ersetzt durch die umfangreichere Abschlussprüfer-Richtlinie, die anderen ersetzt durch sog. „kodifizierte“ Fassungen),63 seit 2004 alternativ zur 4. und 7. Richtlinie – kraft IFRS-Verordnung – auch die International Financial Reporting Standards. Mit diesem Regelungsbestand aus vier Richtlinien wird angestrebt, dass europaweit eine als solche registrierte Kapitalgesellschaft dem Gläubiger als Schuldner erhalten bleibt (keine Nichtigkeit, keine Berufung auf fehlende Vertretungsmacht), über alle für eine Anspruchgeltendmachung weiter nötigen rechtlichen Verhältnisse ebenfalls (Register-)Transparenz und weitergehend über die wirtschaftliche Lage der Kapitalgesellschaft – zertifiziert – Transparenz hergestellt wird (Rechnungslegung). All dies ist im Wesentlichen eine auf Gläubigerschutz – also das Außenverhältnis – ausgelegte Regelung. Rechtlich wie wirtschaftlich sollte die Gesellschaft als Schuldner „sicherer“ oder zumindest transparenter erscheinen. Das Außenverhältnis betrifft sonst noch die 12. Richtlinie,64 die die Möglichkeit der Haf- 47 tungsbeschränkung auch auf Einmann-Unternehmungen erstreckt (primär für die GmbH, au-

_____ 60 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8 (Publizitätsrichtlinie); kodifizierte Fassung, ABl. 2009 L 258/11; vgl. auch ABl. 2012 L 156/1 (zur Verknüpfuing von Zentral-, Handels- und Gesellschaftsregister). 61 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 L 395/36. 62 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11 (letzte Änderung ABl. 2012 L 81/3); Siebte Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 L 193/1; Achte Richtlinie 84/253/EWG des Rates v. 10.4.1984 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Zulassung der mit der Pflichtprüfung der Rechnungslegungsunterlagen beauftragten Personen, ABl. 1984 L 126/20. Zudem die IFRS-VO (unten Fn. 74). 63 Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 84/253/EWG des Rates, ABl. 2006 L 157/87. 64 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 L 395/40; kodifizierte Fassung, ABl. 2009 L 258/20.

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ßerdem jedoch auf die Einmann-AG, soweit im nationalen Recht überhaupt zugelassen). Und auch die 2. Richtlinie,65 die einzige Richtlinie aus diesem Komplex, die allein für Aktiengesellschaften gilt, hat durchaus starke Bezüge zum Außenverhältnis, verbürgt sie doch, dass das Mindestkapital von 25.000 Euro und das gezeichnete Kapital einmal aufgebracht war und nicht zurückgezahlt wurde (wirtschaftliche Absicherung der AG als Schuldnerin). Bedenkt man, dass die 6. Richtlinie66 ursprünglich die börsenrechtlichen Anforderungen re48 geln, also wiederum das Außenverhältnis gegenüber den Kapitalgebern betreffen sollte, zeigt sich, dass das Außenverhältnis – die Steigerung der Verlässlichkeit gegenüber Gläubigern, teils auch Anlegern – die Harmonisierungsüberlegungen seit Beginn dominierte. Nur die 3.67 und die 6. Richtlinie gelten ganz überwiegend dem Innenverhältnis, die 2. Richtlinie immerhin noch teilweise (vgl. unten Rn. 53 ff.). Das Innenverhältnis ist demgegenüber nur sehr punktuell Gegenstand von Harmonisierung geworden. Der geplante allgemeine Rechtsakt hierfür, die 5. Richtlinie,68 wurde gerade nicht verabschiedet, der dahingehende Vorschlag 2001 auch formal zurückgezogen. Für das Innenverhältnis konzentriert sich das Europäische Recht auf die Strukturmaßnahmen, die den rechtlichen Rahmen fundamental verändern, sowie die Verbürgung der genannten „verfassungsmäßigen“ Aktionärsrechte (Gleichbehandlung, vor allem Quotenerhalt, [nur] beim Stimmrecht noch weitergehend, vgl. unten Rn. 53 ff.). All diese Regeln gelten allein für Kapitalgesellschaften (diejenigen in der 2. Richtlinie gar 49 nur für Aktiengesellschaften). Die Vergleichbarkeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten im Außenverhältnis wurde also bei diesen ungleich stärker als Voraussetzung für einen Binnenmarkt gesehen als bei anderen Gesellschaftsformen – aus zwei Gründen: Auf Kapitalgesellschaften entfallen ungleich größere Transaktionsvolumina, gerade auch grenzüberschreitende, so dass die Zahl der Fälle, in denen Rechtsunterschiede verunsichern und damit die grenzüberschreitende Transaktion behindern könnten, ungleich größer ist.69 Zudem geht es um diejenigen Gesellschaftsformen, bei denen die persönliche Haftung grundsätzlich ausgeschlossen ist, die jedoch zur erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit frei zugelassen sind. Bei Personenge-

_____ 65 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1 (Kapitalrichtlinie); jetzt Richtlinie 2012/30/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2012 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 2012 L 315/74. 66 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 L 378/47; jüngere Änderungen ABl. 2007 L 300/47 und 2009 L 259/14 (Sachverständigen-Verschmelzungs- und Spaltungsbericht und Dokumentationspflichten). 67 Dritte Richtlinie 78/855/EWG des Rates v. 9.10.1978 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Verschmelzung von Aktiengesellschaften, ABl. 1978 L 295/36; jüngere Änderungen vorige Fn. 68 Vorschlag einer fünften Richtlinie zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter hinsichtlich der Struktur der Aktiengesellschaft sowie der Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe vorgeschrieben sind, ABl. 1972 C 131/49; Geänderter Vorschlag einer fünften Richtlinie des Rates nach Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über die Struktur der Aktiengesellschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, ABl. 1983 C 240/2; Zweite Änderung zum Vorschlag für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Struktur der Aktiengesellschaft sowei die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, ABl. 1991 C 7/4; Dritte Änderung des Vorschlags für eine fünfte Richtlinie des Rates nach Artikel 54 EWG-Vertrag über die Stuktur der Aktiengeselschaft sowie die Befugnisse und Verpflichtungen ihrer Organe, KOM(1991), 372 endg. 69 Schon die BE 1 der 1. Richtlinie hatte generell betont, dass Kapitalgesellschaften (auch GmbH) internationaler agieren.

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sellschaften ist Ersteres nicht oder nicht für alle Gesellschafter der Fall, bei anderen juristischen Personen ist Zweiteres nicht oder nur sehr eingeschränkt der Fall. Die Regelung gerade der Kapitalgesellschaften (in den Parametern des Außenverhältnisses) folgt also der Tatsache, dass das erwerbswirtschaftliche grenzüberschreitende Geschäft einerseits auf sie konzentriert ist, und (noch wichtiger) sie andererseits als einzige Unternehmensform unbeschränkt erwerbswirtschaftlich tätig werden dürfen, ohne dass eine natürliche Person für die Verbindlichkeiten haftet. Um grenzüberschreitend „Vertrauen“ in den Vertragspartner zu verbürgen und dies recht flächendeckend, genügte die Harmonisierung allein des Kapitalgesellschaftsrechts (Außenverhältnis).

b) Betonung des Außenverhältnisses auch durch prononcierte Kapitalmarktorientierung Konstatiert man demnach eine starke „Extrovertiertheit“ von Europäischem Gesellschaftsrecht, 50 so liegt es nahe, in diesem Zusammenhang auch über die Rolle des Europäischen Kapitalmarktrechts nachzudenken. Dies betrifft in besonderem Maße schon das äußere System. Die Harmonisierungsdichte ist im Kapitalmarktrecht ungleich größer als im Gesellschaftsor- 51 ganisationsrecht, ähnlich groß ist die Harmonisierungsdichte nur im Bilanzrecht. Das Europäische Gesellschaftsrecht prägt also auch ein intensiv kapitalmarktorientierter Ansatz – einer der wichtigen Beiträge vor allem des britischen, jedoch auch des französischen und belgischen Rechts. Ein Ziel oberster Priorität war es also, vor allem die für eine optimale, auch grenzüberschreitende Kapitalallokation notwendigen Strukturen weitestgehend europaeinheitlich zu schaffen. Zwar sind Deutschland und die südeuropäischen Mitgliedstaaten noch immer ungleich weniger kapitalmarktorientiert als Frankreich, Benelux und vor allem Großbritannien,70 selbst Deutschland hat jedoch heute ein ungleich stärker entwickeltes Kapitalmarktrecht als dies durch autonome deutsche Rechtsetzung zu erwarten war. Die Systemfrage angesichts dieses dichten Harmonisierungsbestandes geht insbesondere 52 dahin, in welchem Verhältnis es zum Europäischen Gesellschaftsrecht steht.71 M.E. kann Europäisches Kapitalmarktrecht nur als integrativer Teil des Europäischen Gesellschaftsrechts gesehen werden. Wenn in der Tat das Außenverhältnis von Kapitalgesellschaften so stark im Mittelpunkt steht, und wenn denn Kapitalgesellschaften durch den Faktor „Kapital“ besonders geprägt sind, ist Europäisches Gesellschaftsrecht sinnvoll nur unter Einschluss des Kapitalmarktrechts zu denken. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen: beide Rechtsgebiete fußen in der gemeinsamen (speziell gesellschaftsrechtlichen) Kompetenzgrundlage des Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV); der Unionsgesetzgeber hat selbst mehrfach kapitalmarktrechtliche Richtlinien in den Kanon der nummerierten gesellschaftsrechtlichen eingereiht (Börsenrichtlinie,72 Übernahmerichtlinie);73 immer wieder wird betont, dass in den Regelungen die Unterscheidung zwischen kapitalmarktorientier-

_____ 70 Die italienischen und deutschen Gesellschaften nehmen nicht einmal halb so viel Eigenkapital an den europäischen Kapitalmärkten auf (18,95%), wie es ihrem Anteil am europaweiten Bruttosozialprodukt entspräche (40%); auch die französischen fallen ins untere Drittel, während britische Gesellschaften bei einem Beitrag von 11,2% zum europaweiten Bruttosozialprodukt 35,49% des Eigenkapitals aufnehmen: Wymeersch, in: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance (1999), S. 1155–1157. 71 Hierzu der Beitrag von Kalss, in diesem Band, § 20; sowie Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, §§ 18– 21; ders., European Company Law (2. Aufl. 2012), §§ 19–24; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999); Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2008); Weber, Kapitalmarktrecht (1999). 72 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1; jüngere Änderungen ABl. 2005 L 79/7. 73 Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12.

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ter AG und nicht kapitalmarktorientierter AG deutlich mehr Bedeutung hat als jede andere Unterscheidung, auch als diejenige zwischen den Rechtsformen der AG und GmbH. Man muss nur an das Bilanzrecht (IFRS-Verordnung)74 und das Übernahme-Recht denken. Die kapitalmarktorientierte AG ist so geradezu zu einer eigenen Rechtsform avanciert, die in Mitgliedsstaaten wie Deutschland oder Österreich inzwischen zum Hauptthema von Juristentagen gemacht wurde. Und äußerst wichtig: Für (Klein-)Aktionäre – und reflexartig für Vorstandsmitglieder – finden sich mit exit und voice zwei große Formen, wie sie auf Verhalten anderer Beteiligter reagieren: Innergesellschaftlich durch Ausübung von Mitverwaltungsrechten oder außergesellschaftlich über einen Kauf bzw. Verkauf des Anteils. Nur in der Zusammensicht entsteht ein organisches (Gesamt-)Bild. Die starke Ausrichtung auf kapitalmarktrechtliche Instrumente trägt dazu bei, dass etwa für die Corporate Governance, den rechtlichen Rahmen der Entscheidungsfindung in (Publikums-)Gesellschaften, zunehmend angenommen wird, die Reaktionsmöglichkeiten auf Kapitalmärkten (externe Corporate Governance) trügen heute bereits überhaupt die stärksten Anreize für gutes Management in sich.75

c) Verbürgung von Verfassungsrechten in (Publikums-)Aktiengesellschaften 53 Immer wieder wird die Einschränkung des Anwendungsbereichs wichtiger Richtlinien auf die

Aktiengesellschaft kritisch gesehen. In besonderem Maße gilt dies für die 2. Richtlinie, die Kapitalrichtlinie.76 Denn wenn diese vor allem Gläubigerschutz bewirken soll, ist kaum verständlich, warum sie nicht auch die GmbH erfasst. Zu erklären ist die Einschränkung demgegenüber, wenn man in diesen Richtlinien vor allem das Anliegen verwirklicht sieht, denjenigen Gesellschaftern, die wie Gläubiger anonym und massenhaft einer Gesellschaft gegenüber treten, (und nur ihnen) wiederum einen Mindestsockel an Absicherung an die Hand zu geben. Und solche Gesellschafter kann es in allen Mitgliedstaaten auf Grund überall zu findender (verschiedener) Ausgestaltungsvorgaben nur im Falle der Aktiengesellschaft geben.77 Dann wären die 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie), die 3. Richtlinie (Fusionsrichtlinie) und auch die Übernahmerichtlinie als Richtlinien zu verstehen, die diese Mindestgarantien einheitlich für ganz Europa festlegen und solchermaßen europaweit Vertrauen begründen helfen, auf Grund dessen dann vertrauensvoll in Aktien nach ganz verschiedenen Rechten investiert werden kann. Man kann hier von Europäischen Verfassungsrechten für (Klein-)Aktionäre sprechen. Hinzu kommen natürlich die besonderen Kautelen des Kapitalmarktrechts, wenn die Anteile – wiederum nur Aktien – auf Kapitalmärkten gehandelt werden. 54 Unter den substantiellen Regeln, die mehrheitsfest sind und als „verfassungsmäßige“ Garantien das Informationsmodell (vgl. oben Rn. 45 ff. und vor allem unten Rn. 65 ff.) komplettieren, steht zuvörderst eine Politik gegen Quotenveränderung. Durchgehend und in den verschie-

_____ 74 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1; Änderung ABl. 2008 L 97/62. 75 Vgl. etwa, mit einer Trennung zwischen den Mitgliedstaaten, die eher auf externe Mechanismen setzen (neben der angloamerikanischen Welt am ehesten Frankreich) und denjenigen, die dezidiert mehr interne Mechanismen betonen (alle anderen, besonders Deutschland): Wymeersch, AG 1995, 299, 309–315. 76 Für diese etwa: Lutter, ZGR 2000, 1, 7 und 9 f.; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 4 Rn. 7 f. Umgekehrt wird etwa in England kritisiert, dass es überhaupt die Kapital-Richtlinie für Aktiengesellschaften gibt: Vgl. Company Law Review Steering Group, Consultation Document „Modern Company Law – For a Competitive Economy – The Strategic Framework“ (Februar 1999), S. 21 f., 81 ff. (abrufbar unter http://www.bis.gov.uk/files/file 23279.pdf); dazu etwa Sealy, Int’l Comp. Corp. LJ 2 (2000), 155; lesenswert Bachmann, ZGR 2001, 351, bes. 362 f. 77 Vgl. Übersicht zu diesen Mechanismen, die in der einen oder anderen Form in allen Mitgliedstaaten zu finden sind (Höchstgesellschafterzahlen, Verbote öffentlicher Angebote oder Erfordernis notarieller Beurkundung beim Anteilsverkauf im Falle der GmbH): Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 107. Grundmann

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densten Rechtsakten wird dem Aktionär seine Quote verbürgt: In jedem Fall soll er sie wertmäßig behalten, dies ist Mindestinhalt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 42 KapRL).78 In vielen Fällen soll sogar der Anteil selbst mit gleich bleibender Quote erhalten bleiben. Offensichtlich ist dies beim Bezugsrecht, das ebenfalls die 2. Richtlinie (Kapitalrichtlinie) zumindest bei Kapitalerhöhung gegen Bareinlagen vorsieht.79 Auch bei der Umstrukturierung in Form der Fusion (und Spaltung) bildet der Austausch gegen Anteile der übernehmenden Gesellschaft auf Europäischer Ebene das gesetzliche Modell, und ist eine nicht verhältniswahrende Bedienung der Aktionäre überhaupt nur bei der Spaltung vorgesehen – die auch dann nicht etwa dazu führt, dass der Aktionär den Wert seines Anteils unvollständig abgegolten erhielte, sondern nur dazu, dass ihm Aktien nicht mehr verhältniswahrend zugeteilt werden. Auch in der Übernahmerichtlinie ist die Gleichbehandlung, d.h. die zumindest wertmäßige Gleichstellung der Aktionäre der Zielgesellschaft untereinander, einer der beiden Zentralinhalte und war schon seit einigen Jahren europaweit einheitlicher Standard, während sie in der Diskussion zum ersten Vorschlag in Deutschland doch noch als nachgerade revolutionierend empfunden wurde.80 Auch de facto darf also die Quote nicht verändert werden. All dies stellt zugleich ein durchgängiges Minderheitsschutzmodell dar, das auf der Idee beruht, dass sich auch Kleinaktionäre eher und unter faireren Bedingungen in die Hände aktiverer professioneller oder beherrschender Aktionäre geben mögen, wenn sie sich zwar für die Strategie, die zum gemeinsamen Erfolg führen soll, in deren Hand geben müssen, stets jedoch ihren gleichen Anteil so gut wie möglich verbürgt sehen. Das zweite Stück des Aktionärsschutzmodells („Verfassungsrechte“) hängt eng mit dem In- 55 formationsmodell zusammen; hier werden nicht mehr individuelle Rechte verbürgt, wohl aber kollektive Entscheidungsmacht: Im Europäischen Recht ist, wann immer es zu dieser Frage Regelungen entwickeln konnte, durchgängig zu beobachten, dass alle Strukturmaßnahmen und auch alle Satzungsänderungen, namentlich Kapitalmaßnahmen, unter den Vorbehalt eines Hauptversammlungsbeschlusses gestellt werden … und zwar bei allen strukturändernden Maßnahmen und auch beim Bezugsrechtsausschluss mit qualifizierter Mehrheit, so dass in diesen Fällen nicht nur die Entscheidungsmacht der Aktionäre, sondern auch ein kollektiver Minderheitenschutz europaweit verbürgt werden. Hinzuweisen ist namentlich auf Art. 29 Abs. 1, 33 Abs. 4, 5 und 44 der Kapitalrichtlinie (Kapitalmaßnahmen und Bezugsrechtsausschluss), zudem Art. 17, 19 Abs. 1 lit. a), Art. 7 und 9 f. der Fusions- und Spaltungsrichtlinie (StrukturmaßnahmenGrundmodell) und Art. 59 Abs. 1 SE-VO (Satzungsänderung), eigentlich auch Art. 9 der Übernahmerichtlinie (Hauptversammlungsvorbehalt bei Abwehrmaßnahmen gegen das Angebot ins-

_____ 78 Zu diesem Gebot BGHZ 120, 141, 150 f. (zur Kapitelrichtlinie); grundlegend Lutter, FS Ferid (1988), bes. S. 605– 608; sowie Edwards, EC Company Law (1999), S. 56 (überragend wichtig); Kalss, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und Europäisches Wirtschaftsprivatrecht – Teil 1: Gesellschaftsrecht (1994), S. 215; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 325. 79 Dazu (und zu seinem Ausschluss) statt aller Bagel, Der Ausschluß des Bezugsrechts in Europa (1999); Kindler, ZGR 1998, 35; Wymeersch, AG 1998, 382; dann Monographien etwa von: Natterer, Kapitalveränderung der Aktiengesellschaft, Bezugsrecht der Aktionäre und „sachlicher Grund“ (2000); Schumann, Bezugsrecht und Bezugsrechtsausschluß bei Kapitalbeschaffungsmaßnahmen von Aktiengesellschaften (2001); Liebert, Der Bezugsrechtsausschluss bei Kapitalerhöhungen von Aktiengesellschaften (2003); Böttger, Der Bezugsrechtsausschluss beim genehmigten Kapital (2005). 80 Für die damalige Kritik vgl. vor allem Hopt, in: Balzarini/Carcano/Mucciarelli (Hrsg.), I gruppi di società (1995), S. 45 (S. 53 „major stumbling block“); früh ausführlich Assmann/Bozenhardt, in: Assmann u.a. (Hrsg.), Übernahmeangebote (1989), S. 1; vgl. noch: Wymeersch, in: Hopt u.a. (Hrsg.), Comparative Corporate Governance (1999), S. 1196 f. (umstrittenste Regel); rechtsvergleichende Übersicht zur Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Übernahmerecht der Mitgliedstaaten (schon vor Verabschiedung der Richtlinie): De Beaufort, Les OPA en Europe (2001); Baums/Thoma, Takeover laws in Europe (Gesetzestexte) (2002); Wymeersch, EFSL 3 (1996), 301 und 4 (1997), 2; ders., ZGR 2002, 520. Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gesamt). Mit der Aktionärsrechte-Richtlinie von 200781 wird dieser zweite Ansatz – die Verbürgung von „Verfassungsrechten“ für Aktionäre – noch weiter getrieben, es wird sogar darüber hinaus gegangen: Denn hier nun werden an einem zentralen Punkt auf individueller Ebene Rechte auch hinsichtlich des laufenden Geschäfts verbürgt: Was die Effizienz der Ausübung des individuellen Stimmrechts aus der Aktie angeht, schafft diese Richtlinie umfangreiche europaweit geltende Garantien. Ziel ist freilich nicht nur der Individual-, sondern auch der Funktionsschutz. Denn das niedrige Maß von Stimmrechtsausübung wurde als ein Problem für die Entscheidungsfindung und Kontrolle in der (börsennotierten) Aktiengesellschaft generell gesehen, also als eine zentrale Schwäche in der Corporate Governance. Daher wurden vor allem diejenigen Hindernisse ausgeräumt, die die Stimmrechtsausübung für (Klein-)Aktionäre über die Grenzen erschweren: Es werden seitdem Einberufungsfristen verbürgt, die – auch angesichts langer Verwahrketten – hinreichend lang sind; es wird zudem jede Form der Stimmrechtsvertretung verbürgt, besonders wichtig: auch der organisierten (Verwaltungsstimmrecht, Depotstimmrecht, Stimmrecht für Aktionärsvereinigungen); und es wird seitdem den Gesellschaften zumindest freigestellt, die Stimmabgabe in absentia zuzulassen (elektronisch, fernschriftlich); flankierend kommen Aktionärsinformationsrechte zur Tagesordnung hinzu. All dies ist eine wichtige, noch immer jedoch in einer frühen Entwicklung befindliche Neuausrichtung (mit unklarem Ausgang): Wird Europa breiter die Corporate Governance auch des laufenden Geschäfts (mehr als nur sektor-, vor allem bankspezifisch) regeln wollen?82

2. Ausstrahlwirkung: Wettbewerb und Kompatibilität der Formen a) Wettbewerb der Formen 56 Für das Europäische Gesellschaftsrecht wurde in den letzten 15 Jahren der Wettbewerb prägend,

teils der nationalen Rechtsformen untereinander, teils auch dies in grenzüberschreitenden Mischungen (etwa Ltd. & Co. KG), und teils der nationalen mit den Europäischen Rechtsformen. Der erste genannte Wettbewerb dominiert, vor allem auch deswegen, weil auch die Europäischen Rechtsformen, vor allem die Societas Europaea, im überwiegenden Teil der Rechtsfragen durch das nationale Recht des Sitzes geregelt werden. Abgesehen vom numerus clausus der Gründungsformen und der Gründung sind im Wesentlichen nur zwei Fragen von Gewicht vereinheitlicht: das Wahlrecht für die Struktur beim Leitungsorgan (wichtig für die Kompatibilität der Formen, dazu sogleich Rn. 58 ff.) und die zwingende Hauptversammlungskompetenz und -mindestmehrheit bei Satzungsänderungen. Die besondere Bedeutung der Europäischen Rechtsformen liegt deswegen wohl vor allem im Prestigefaktor und darin, dass mit ihnen ein Mittel zur Verfügung steht, das die identitätswahrende grenzüberschreitende Sitzverlegung und Fusion zweifelsfrei und weitgehend steuerneutral ermöglicht, außerdem in punktuellen Flexibilisierungsmöglichkeiten beim Leitungsorgan, und natürlich, wo relevant, die Flexibilisierung des Mitbestimmungsregimes.

_____ 81 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. 2007 L 184/17. 82 Vgl. Grünbuch – Europäischer Corporate Governance-Rahmen v. 5.4.2011, KOM(2011) 164 endg; dazu etwa Grundmann, European Company Law, § 14; Lutter/Bayer/Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht (2012), S. 396–398 (mit umfangreichem Lit.nachw.); Bachmann, WM 2011, 1301–1310; Hopt, EuZW 2011, 609–610.

Grundmann

§ 9 Systemdenken und Systembildung

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Die drei Ansatzpunkte für diesen in den letzten 15 Jahren erheblich verstärkten Wettbewerb 57 der nationalen oder teileuropäisierten Formen bilden:83 (1) Die EuGH-Urteile zur Niederlassungsfreiheit (Fn. 17), die im Wesentlichen eine Freiheit, das anwendbare Recht zu wählen, im binnenmarktgrenzüberschreitenden Verkehr aus der Niederlassungsfreiheit ableiten, eingeschränkt nur durch die Möglichkeit, dass nationales beschränkendes Recht auf (eng auszulegende) zwingende Gründe des Allgemeininteresses gestützt werden kann, sowie dadurch, dass jeder Mitgliedsstaat entscheiden kann, unter welchen Umständen er Gesellschaften sein nationales Statut eröffnet bzw. belässt (Registrierung oder zusätzlich Hauptverwaltungssitz). (2) die genannten Europäischen Gesellschaftsformen, bisher verfügbar für eine kleine Personenhandelsgesellschaft (EWIV), die Aktiengesellschaft (SE) und die Genossenschaft, alle nur teilvereinheitlicht; und die Bemühungen um eine Richtlinie zur grenzüberschreitenden, identitätswahrenden Sitzverlegung und Fusion, die nunmehr die nationalen Formen erfassen sollen und zwar zunehmend eine ganze Reihe von diesen (Letztere in Kraft seit 2005).84

b) Kompatibilität der Formen Ein Wettbewerb der Formen wird erheblich erleichtert, wenn auf Kompatibilität der Formen ge- 58 achtet wird. So wird der Übergang von einer Rechtsform nach einem Recht zu einer nach einem anderen Recht erleichtert. Im Europäischen Gesellschaftsrecht ist ein Bemühen um solche Kompatibilität vielfach zu beobachten. Anschlussfähigkeit wird immer wieder gefördert, wenn auch nicht flächendeckend verbürgt. Zwei Beispiele mögen dies deutlich machen. Das erste betrifft die Umstrukturierung einer Gesellschaft. Umstrukturierung bedeutet re- 59 gelmäßig auch Wechsel des rechtlichen Kleides (Satzungsanpassung). Ändert sich jedoch schon die Grobstruktur, so erschwert dies zusätzlich die Strukturmaßnahme. Da die Hauptversammlung als Organ überall vorgegeben ist, ist zuvörderst an die Ein- oder aber Zweistufigkeit des Leitungsorgans zu denken, zumal die Wahl der einen oder anderen Form auch weitere Gestaltungsmöglichkeiten beeinflusst, etwa die Frage nach der unternehmerischen Mitbestimmung. Es lag daher nahe, für die Societas Europaea dem französischen Beispiel zu folgen und die Wahl zwischen beiden möglichen Strukturen des Leitungsorgans den Gesellschaften zu überlassen (Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-VO). Und wenig später zog mit Italien ein weiterer großer Mitgliedstaat nach.85 Das zweite Beispiel betrifft die Strukturierung des Außenverhältnisses nach Europäischem 60 Recht. Dies ist wichtig, da hier nach dem Gesagten ein Schwergewicht europäischer Harmonisierung liegt. Das Beispiel entstammt der 1. Richtlinie (Publizitätsrichtlinie) und betrifft die dort geregelte organschaftliche Vertretungsmacht. Nicht geregelt, also dem Variantenreichtum nationaler Rechte überlassen sind so zentrale Fragen wie die Organkompetenz oder die Frage nach den Grenzen der Vertretungsmacht im Innenverhältnis, nach Einzel- und Gesamtvertretungsmacht. Und doch ist die Regelung überall anschlussfähig. Hauptinstrument ist die Eintragungspflicht im Handelsregister: Ist Gesamtvertretungsmacht nicht eingetragen, kann der Dritte sich

_____ 83 Näher etwa Grundmann, FS Raiser (2005), S. 81–98; wichtig daher zunehmend die Handbücher zu ausländischen Gesellschaftsformen in Deutschland, vor allem Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2. Aufl. 2010); Hirte/Bücker (Hrsg.), Grenzüberschreitende Gesellschaften (2. Aufl. 2006). Nachweise für die im Folgenden zitierten Rechtsakte etwa bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht. 84 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/1. 85 Zu dieser (liberalen) Grundsatzentscheidung des SE-Statuts: Hommelhoff, AG 2001, 279, 282 f.; Lutter, BB 2002, 1, 4; Schwarz, ZIP 2001, 1847, 1854. Das Wahlrecht war in Frankreich seit 1966 bekannt, hierzu und für Italien vgl. Hopt, ZGR 2000, 779, 815; Buse, RIW 2002, 676, 678. Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

auf Einzelvertretungsmacht verlassen.86 Dies ist gut erkennbar, zugleich wird so jeder Gesellschaft doch ein Mittel an die Hand gegeben, Vorstandswillkür vorzubeugen. Daher muss umgekehrt nicht so weit gegangen werden, Beschränkungen im Innenverhältnis im Außenverhältnis weitgehend zum Tragen zu bringen – wie dies in allen Mitgliedstaaten außer Deutschland der Fall war. Vielmehr ist nur die Anmaßung einer Kompetenz, die dem Vorstand nach jeweiligem nationalen Recht auch abstrakt-generell nicht zustehen kann, für den Dritten schädlich.87 Und dies sind idR nicht viele Geschäfte und regelmäßig die gleichen, nämlich die Grundlagengeschäfte. In allen anderen Punkten schadet dem Dritten nur Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von Beschränkungen.

c) Generalisierbarkeit? 61 Die Frage der Generalisierbarkeit Europäischer Modelle als weitere Form der Ausstrahlwirkung

wird demgegenüber für das Europäische Gesellschaftsrecht ungleich weniger diskutiert und gedacht als für das Europäische Vertragsrecht. Freilich ist auch diese Form der Ausstrahlwirkung an durchaus zentralen Stellen zu konstatieren. Für übertragbar erachtet wurde insbesondere das Handelsregisterrecht – Publizitätsinhalte, 62 -instrumente und -wirkungen –, denn mit Ausnahme vor allem des Vereinigten Königreichs hat sich das Modell der 1. Richtlinie, das allein für Kapitalgesellschaften europäisch vorgeschrieben ist, in allen wichtigen Mitgliedstaaten zu einem allgemeinen Modell für alle Kaufleute/Unternehmer oder zumindest alle Handelsgesellschaften fortentwickelt. 63 Auch das Europäische Bilanz- und das Umwandlungsrecht haben vielfach weit über ihren Anwendungsbereich ausgestrahlt. In Deutschland wurde beispielsweise Zweiteres – bei eigenen starken Wurzeln – die Grundlage eines ungleich systematischer durchgeführten Umwandlungsrechts und -gesetzes.88 Und das Europäische Bilanzrecht führte zur Ausgliederung aus dem Aktienrecht und zur Entwicklung eines allgemeinen Bilanzrechts im Handelsgesetzbuch. Relativ wenig Vorbildwirkung entfalteten die genuin Europäischen Rechtsformen, auch die 64 SE (noch) nicht. Freilich mag sich im Anschluss an Art. 38, 39 Abs. 5, Art. 43 Abs. 4 SE-VO ein Trend entwickeln, dass der Gesellschaft selbst ein Wahlrecht eingeräumt wird, ob sie denn ein ein- oder ein zweistufiges Leitungsorgan haben will (Fn. 84).

3. Besonderes Gewicht des Informationsmodells89 65 Inhaltlich ragt auch im Europäischen Gesellschaftsrecht das Informationsmodell hervor,90 fast

noch offensichtlicher als im Vertragsrecht. Das gilt wiederum bereits für das Primärrecht. Auf Grund der Grundfreiheitenrechtsprechung des EuGH hat der nationale Gesetzgeber Informa-

_____ 86 Vgl. EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga GmbH, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; zust. Fischer-Zernin, Der Rechtsangleichungserfolg der Ersten gesellschaftsrechtlichen Richtlinie der EWG (1986), S. 261. 87 Art. 10 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie, was freilich der EuGH in Rabobank verkannte, indem er dort eine Rechtsmissbrauchseinschränkung im Einzelfall zuließ: EuGH v. 16.12.1997 – Rs. C-104/96 Coöperatieve Rabobank „Vecht en Plassengebied“ ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211; vgl. für berechtigte Kritik Meilicke, DB 1999, 785, 786–788; Schmid, AG 1998, 127, 129–131. 88 Schön verschränkt sind beide dargestellt bei Hommelhoff/Riesenhuber, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 259. 89 Zu weiteren Systembausteinen und -charakteristika vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 31; ders., ZIP 2004, 2401; Jung, GPR 2004, 233. 90 Ausführlich Grundmann, FS Lutter (2000), S. 61; ders., DStR 2004, 232; monographisch vor allem Grohmann, Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (2006); Merkt, Unternehmenspublizität (2001). Grundmann

§ 9 Systemdenken und Systembildung

197

tionsregeln den Vorzug zu geben gegenüber inhaltlich zwingenden Festlegungen, wann immer erstere das Schutzbedürfnis ebenfalls weitgehend befriedigen können.91 Und nach ebendiesem Maßstab legiferiert wiederum der Europäische Gesetzgeber im Se- 66 kundärrecht. Nicht nur hat das Herzstück, das im Wesentlichen alle Gesellschaftsformen erfasst, das Bilanzrecht, Informationsaufbereitung und -weitergabe zum Gegenstand. Vielmehr gilt gleiches auch für das Kapitalmarktrecht als das zweite Teilstück neben dem Organisationsrecht. Und selbst die Regelung von Umstrukturierungen ist vor allem informationsorientiert. Denn dies bedeutet stets, dass weitestmöglich auf autonome Entscheidung der Betroffenen gesetzt und diese – durch hinreichende Information – vorbereitet wird. Dabei wird Information in verschiedener Hinsicht „optimiert“. Im Recht der Umstrukturierung, für die die 3. Richtlinie das Modell bildet, sind alle wesentlichen Informationen sowohl zur Strukturmaßnahme insgesamt als auch zu den Auswirkungen auf den einzelnen Aktionär aufzubereiten und bestmöglich zugänglich zu machen, des Weiteren neutral und professionell zu überprüfen und trifft – auf dieser Grundlage – der Betroffene zuletzt selbst die Entscheidungen – jedenfalls im Kollektiv, denn die Hauptversammlungszuständigkeit wird garantiert, in vielen Fällen auch individuell, auf Grund eines Auskaufsrechts oder individueller Kauf- und Verkaufsentscheidungen. Zusätzlich unterstützt wird die Informationsverlässlichkeit durch Haftungsregeln. Das Modell ist mit all diesen Elementen wiederzufinden im Bilanzrecht und im Kapitalmarktrecht, wobei für den Betroffenen teils auch noch gewährleistet wird, dass die Information für ihn zusätzlich individualisiert, bezogen auf seine Situation, aufbereitet wird (im Wertpapierhandel).92 Und auch in der Übernahmerichtlinie ist die informationelle Vorbereitung der zwei wichtigsten Entscheidungen ausführlich geregelt: die Information zum Angebot, auf das durch individuelle Entscheidung zu antworten ist, und die Information zur Übernahme insgesamt, auf die durch kollektive Entscheidung zu Verteidigungsmaßnahmen zu antworten ist. Auch die sonstigen Rechtsakte, insbesondere die 1. und auch die 2. Richtlinie, sind stark in- 67 formationsorientiert (Fn. 89). Die 1. Richtlinie trägt nicht von ungefähr den Titel einer Publizitätsrichtlinie. Und ist die Entscheidung einmal getroffen, so gehört ebenfalls zum Modell „informierte Entscheidung“, dass dieser idR sehr hohe Bestandskraft beigelegt wird: Die Nichtigkeit wird stark zurückgedrängt – sowohl in der 1. Richtlinie bei Gründung als auch in der 3. Richtlinie bei Umstrukturierung – und zudem wird eine weitere präventive (gerichtliche) Kontrolle vielfach vorgeschrieben. Rechtssicherheit ist gerade im grenzüberschreitenden Verkehr in der Tat von großer Bedeutung. Dieses Anliegen wird hier denn auch teils nochmals spezifisch bedient, etwa wenn die Europäische Fusionsregelung für internationale Sachverhalte die Nichtigkeitsgründe nochmals stärker eingrenzt.

V. Ausblick Das System des Europäischen Privatrechts entwickelt sich rasant. In den ca. 15 Jahren, in denen 68 der Begriff für das Europäische Privatrecht bisher positiv gedacht wird,93 hat sich unendlich viel ereignet: Das Kaufrecht als Kernstück im Europäischen Vertragsrecht wurde während der Lauf-

_____ 91 Für die Niederlassungsfreiheit und das Gesellschaftsrecht: EuGH v. 9.3.1999 – Rs. C-212/97 Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 34–38; auch EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 92 Zu dieser Optimierung der Information für den individuellen Anleger durch Einschaltung und Regulierung von Informationsintermediären: Gemberg-Wiesike, Wohlverhaltenspflichten beim Vertrieb von Wertpapier- und Versicherungsdienstleistungen (2005), S. 94; Grundmann/Kerber, in: Grundmann/Kerber/Weatherill (Hrsg.), Party Autonomy, S. 269–271 und 291; Heinze, Europäisches Kapitalmarktrecht (1999), S. 376–386. 93 Beginnend wohl mit den Beiträgen zu: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken. Grundmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zeit der damaligen Ringvorlesung gerade erst verabschiedet. Es folgten die verschiedenen Mitteilungen der Kommission, die Systematisierung zum zentralen Ziel erklärten (oben Rn. 1 mit Fn. 1). Der Prozess zur Entwicklung eines Gemeinsamen Referenzrahmens hat viel, vielleicht das meiste damit zu tun.94 Riesenhuber schrieb die erste große Monographie, die das System „durchdekliniert“ (oben Rn. 1). Zunehmend entstehen Reihen von systematischen Lehrbüchern zum acquis. Im Gesellschaftsrecht wurde der Gesamtbestand später von einer Expertengruppe flächendeckend durchleuchtet.95 Allein im deutschen Schrifttum entstanden drei Lehrbücher (Habersack, Schwarz, Grundmann). Mit der Societas Europaea wurde die große Alternativform zu den nationalen Rechtsformen geschaffen und bereits gut angenommen. Das Kernstück Bilanzrecht ist gänzlich neu, das gesamte Kapitalmarktrecht ebenfalls. Systemdenken ist wichtiger denn je im Europäischen Privatrecht. Es ist nicht zuletzt auch 69 die Grundlage für die zwei wohl wichtigsten Auslegungsmethoden, die systematische und auch in gewissem Maße die teleologische, und für die großen Fragen wie die Rechtsfortbildung und teils auch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine der spannendsten Fragen wird weiterhin sein, ob die Europäische Privatrechtswissenschaft fähig ist, in den nächsten Jahren System wirklich überzeugend für das moderne Vertrags- und das moderne Gesellschaftsrecht zu schaffen, in geschriebener Form und nicht nur als Übernahme tradierter Systeme.

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_____ 94 Zu diesem vgl. Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17; sowie oben Rn. 1, 36. 95 High Level Group I/II, Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über die Abwicklung von Übernahmeangeboten v. 10.1.2002 und Bericht der Hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa v. 4.11.2002, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/company/modern/index_de.htm (Jaap Winter [Vorsitzender], Jan Schans Christensen, José Maria Garrido Garcia, Klaus J. Hopt, Jonathan Rickford, Guido Rossi, Dominique Thienpont [Rapporteur]; Karel van Hulle [Sekretär]); dazu Stellungnahme der Group of German Experts on Corporate Law, ZIP 2002, 1310.

Grundmann

§ 10 Die Auslegung

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§ 10 Die Auslegung 2. Teil: Allgemeiner Teil

Karl Riesenhuber § 10 Die Auslegung Riesenhuber Literatur Axel Adrian, Grundprobleme einer juristischen (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre (2009), S. 246 ff.; Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Anthony Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law, in: Mads Andenas (Hrsg.), European Community Law in the English Courts (1998), S. 115–136; Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Stichworte „Auslegung des Gemeinschaftsrechts“, „Richtlinie“; Gunnar Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2012); Joxerramon Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice – Towards a European Jurisprudence (1993); Anna Bredimas, Methods of Interpretation and Community Law (1978); Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Claus-Wilhelm Canaris, Die Bedeutung allgemeiner Auslegungs- und Rechtsfortbildungskriterien im Wechselrecht, JZ 1987, 543–553; ders., Das Rangverhältnis der „klassischen“ Auslegungskriterien, in: Volker Beuthien u.a. (Hrsg.), Festschrift für Dieter Medicus (1999), S. 25–61; Rupert Cross/John Bell/George Engle, Statutory Interpretation (3.Aufl. 1995); Stefan Grundmann, „Inter-Instrumental Interpretation“ – Systembildung durch Auslegung im Europäischen Unionsrecht, RabelsZ 75 (2011), 882–932; Hans Christoph Grigoleit, Das historische Argument in der geltendrechtlichen Privatrechtsdogmatik, ZNR 30 (2008), 259–271; Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Carsten Herresthal, Die Rechtsgewinnung in einer fragmentarischen supranationalen Rechtsordnung, in: Stefan Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts (2013), S. 49–78; Heinrich Honsell, Der „effet utile“ und der EuGH, in: Erwin Bernat/Elisabeth Böhler/Arthur Weilinger (Hrsg.), Zum Recht der Wirtschaft – Festschrift für Heinz Krejci (2001), S. 1929–1940; Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); ders./Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Giulio Itzcovich, The Interpretation of Community Law by the European Court of Justice, GLJ 10 (2009), 537–559; Detlef Leenen, Die Auslegung von Richtlinien und die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts, Jura 2012, 753–762; Walter Georg Leisner, Die subjektiv-historische Auslegung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2007, 689– 706; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; Neil D. MacCormick/Robert S. Summers, Interpreting Statutes – A Comparative Study (1991); Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des Europäischen Privat- und Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Stephan M. Grundmann, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof (1997); Burkhard Hess, Methoden der Rechtsfindung im Europäischen Zivilprozessrecht, IPRax 2006, 348–363; Christoph Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003); Michael Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994); ders., Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465–487; Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., Kein Zweifel für den Verbraucher, JZ 2005, 829–835; ders., Systembildung durch den CFR – Wirkungen auf die systematische Auslegung, in: Martin Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen (2009), S.173–216; Marek Schmidt, Privatrechtsangleichende EU-Richtlinien und nationale Auslegungsmethoden, RabelsZ 59 (1995), 569–597; Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Lovro Tomasic, Effet utile – Die Relativität teleologischer Argumente im Unionsrecht (2013); Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2 Bde. (2001); Stephen Weatherill, Can There be Common Interpretation of European Private Law?, Ga. J. Int'l & Comp. L. 31 (2002), 139–166. S. ferner das Verzeichnis der abgekürzt zitierten Literatur, S. XLVII. Rechtsprechung EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; EuGH v. 15.12. 1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211.

Riesenhuber

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I. II. III.

2. Teil: Allgemeiner Teil

Übersicht Autonome Auslegung | 4–7 Ziel der Auslegung | 8–11 Kriterien der Auslegung | 12–49 1. Die grammatikalische Auslegung | 13–20 a) Ausgangspunkt für die Auslegung | 13 b) Wortlaut und Sprachenvielfalt | 14–19 c) Relativität der Rechtsbegriffe | 20 2. Die systematische Auslegung | 21–31 a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang | 21 b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang | 22–26 c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? | 27–28 d) Kollisionsregeln | 29–31 3. Die historische und genetische Auslegung | 32–40 a) Der Gesetzgeber | 33–34

Zugängliche Materialien | 35–37 Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen | 38 d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ | 39 e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten | 40 4. Die teleologische Auslegung | 41–49 a) Regelungszweck und Angleichungszweck | 41–44 b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) | 45 c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts | 46 d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung | 47–49 Rangfolge der Auslegungskriterien | 50–55 Einzelne Auslegungsregeln | 56–66 1. „In dubio pro consumente“? | 57–61 2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? | 62–66 b) c)

IV. V.

1 Im Folgenden geht es um die Auslegung des Europäischen Privatrechts, allerdings nur mit Ein-

schränkungen. Das gilt zunächst für den Gegenstand der Auslegung. Zum Europäischen Privatrecht gehören auch Regeln und Prinzipien des Primärrechts (i.E. § 6), man denke nur an das Kartellverbot des Art. 101 AEUV und das Prinzip der Vertragsfreiheit, das den Grundfreiheiten zugrunde liegt. Auslegung und Fortbildung des Primärrechts folgen indes teilweise besonderen Regeln, die bereits gesondert behandelt wurden (§ 7). Aber auch von den sekundärrechtlichen Rechtsakten werden im Folgenden im Wesentlichen nur Richtlinien und Verordnungen erörtert; die Auslegung von Entscheidungen (Art. 288 Abs. 4 AEUV: Beschlüssen), die auch im Privatrecht durchaus eine Rolle spielen, wird nicht erörtert. Sogenannte delegierte Rechtsakte i.S.v. Art. 290 AEUV, für deren Auslegung sich durchaus einige Besonderheiten ergeben können, haben bislang im Privatrecht noch keine Bedeutung. Zweitens bleiben zwei Themen, die nach umstrittener Auffassung auch für die Auslegung 2 von Bedeutung sind, an dieser Stelle unberücksichtigt: Die Rechtsvergleichung (§ 4) und die ökonomische Theorie (§ 5).1 Eigens erörtert wird zudem die primärrechtskonforme Auslegung (§ 8). Drittens schließlich geht es im Folgenden ausschließlich um die Auslegung, nicht auch um 3 die Konkretisierung von Generalklauseln (nachfolgend, § 11) oder die Rechtsfortbildung (nachfolgend, § 12). Das ist deswegen hervorzuheben, weil der EuGH – der französischen Tradition folgend – Auslegung und Rechtsfortbildung (sprachlich) nicht unterscheidet, sondern auch die Rechtsfortbildung als Auslegung bezeichnet.2

_____ 1 Dazu an dieser Stelle nur die Hinweise von Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 532–534; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 49 f.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 625 f., 645–648. 2 Eingehend Baldus, in diesem Band, § 3; Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 2. S.a. Colneric, ZEuP 2005, 225, 230. Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

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I. Autonome Auslegung Eine Vorfrage der Auslegung des Sekundärrechts – und damit zugleich weiter Teile des Europäi- 4 schen Privatrechts – ist oftmals, ob eine Regelung oder ein Begriff unionsautonom auszulegen3 ist. Allerdings wird diese Frage teilweise schon in den einzelnen Rechtsakten selbst deutlich beantwortet. Unzweifelhaft ist ein unionsautonomes Konzept gewollt, wenn der Gesetzgeber einen Begriff in dem – weithin üblichen – Definitionsartikel selbst bestimmt hat.4 Und unzweifelhaft ist keine unionsautonome Definition gewollt, wenn der europäische Gesetzgeber für eine Definition auf das nationale Recht verweist. So sind etwa „Verbraucher“ und „Unternehmer“, wie sie in zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien definiert sind, unionsautonome Begriffe, ebenso wie etwa der Garantiebegriff gem. Art. 1 Abs. 2 lit. e) der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie5 (VKRL) oder jener der „Massenentlassung“ in Art. 1 Abs. 1 lit. a) der Massenentlassungsrichtlinie6 (MERL). Und umgekehrt verweisen die meisten arbeitsrechtlichen Richtlinien für die Begriffe „Arbeitnehmer“ oder „Arbeitnehmervertreter“ auf das nationale Recht, sie sind also nicht unionsautonom auszulegen.7 Auch wo das Unionsrecht auf Begriffe und Regeln des nationalen Rechts verweist, ergibt sich freilich aus den Umsetzungspflichten eine rahmenhafte Bindung.8

Daneben gibt es aber zahlreiche Begriffe, für die es weder eine eigene Definition noch eine Ver- 5 weisung gibt, wie z.B. die Begriffe der „Entlassung“ und „Kündigung“ in der Massenentlassungsrichtlinie. Ob auch solche Begriffe unionsautonom auszulegen sind, erörtert der EuGH in jüngerer Zeit ausdrücklich vorab. In der Tat ist die Frage keineswegs selbstverständlich zu bejahen.9 Beruht das Europäische Privatrecht – wie in weiten Teilen des Privatrechts ganz unvermeidlich der Fall – auf der Rechtstradition der Mitgliedstaaten, so könnten seine Regelungen auch als eine Verweisung auf die mitgliedstaatlichen Rechte oder das Recht eines Mitgliedstaats zu verstehen sein. Das könnte vor allem dann naheliegen, wenn ein Rechtsakt der Europäischen Union nach dem Vorbild einer mitgliedstaatlichen Regelung gestaltet wurde: wenn die Handelsvertreterrichtlinie10 dem Vorbild des deutschen Rechts folgt, kann man erwägen, sie ebenso auszulegen. Indes deutet schon die bloß vereinzelte Verweisung auf das nationale Recht darauf hin, 6 dass eine Bezugnahme sonst nicht gewollt ist. Zweck der Rechtsangleichung ist gerade, einen

_____ 3 Dabei geht es nicht um die Autonomie der Auslegungsmethode, sondern um die Autonomie der auszulegenden Regelung; treffend Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 80–86. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 104 f., versteht die „autonome Auslegung“ hingegen (a) als Auslegungsmethode (eines von mehreren Auslegungskriterien) und (b) als Gegenstück zur „rechtsvergleichenden“ Auslegung (nicht als Gegenstück zur Verweisung auf nationales Recht). 4 EuGH v. 14.5.1985 – Rs. 139/84 van Dijk’s Boekhuis, Slg. 1985, 1405 Rn. 16. 5 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 6 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.6.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16. 7 Näher Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 2 f.; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht (2011), S. 207 ff. 8 S. z.B. EuGH v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 O’Brien, Rn. 34–42; EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rn. 15–23; EuGH v. 2.2.1989 – Rs. 22/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1989, 143 Rn. 15–19. 9 Dazu bereits Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 10 Richtlinie 86/653/EWG des Rates vom 18. Dezember 1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17.

Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

einheitlichen Maßstab für alle Rechtsunterworfenen aufzustellen.11 Die Verweisung auf das nationale Recht markiert eine Ausnahme von der grundsätzlich intendierten Rechtsangleichung. Mit diesen Erwägungen – Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und Gleichheitssatz – geht der EuGH von einer Vermutung („in der Regel“) für ein autonomes Konzept aus.12 Allerdings kann sich im Einzelfall eine Verweisung auf das nationale Recht auch ohne aus7 drückliche Regelung ergeben. Das hat der EuGH v.a. dann angenommen, wenn eine einheitliche Begriffsbildung nicht möglich war13 oder die bisher nur teilweise erfolgte Harmonisierung dies gebot.14, 15

II. Ziel der Auslegung 8 Es ist ein alter Streit, was das richtige Ziel der Auslegung ist: der subjektive Gesetzgeberwille

oder der objektive Normzweck, jeweils entweder entstehungszeitlich oder geltungszeitlich verstanden.16 Die aus der nationalen Methodenlehre bekannten Erwägungen gelten entsprechend für das Europäische Privatrecht. Für die subjektive Theorie sprechen das Demokratieprinzip und der Gewaltenteilungs9 grundsatz. 17 Auch im Unionsrecht sind Rechtsetzungsaufgabe und Rechtsprechungsaufgabe getrennt, man spricht vom „institutionellen Gleichgewicht“ der Organe.18 Damit bezeichnet der

_____ 11 Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 140, 143; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte, S. 797 ff. (freilich im Folgenden differenzierend nach Rechtsaktsformen). 12 St. Rspr. EuGH v. 3.7.2012 – Rs. C-128/11 UsedSoft, Rn. 39 f.; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-467/08 Padawan, Slg. 2010, I-10055 Rn. 31–35; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, Slg. 2009, I-6569 Rn. 27; EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 27 ff.; EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 19; für das Primärrecht EuGH v. 5.2.1963 – Rs. 26/62 van Gend en Loos, Slg. 1963, 1, 25. Selbst wenn eine Regelung den Zweck hat, vorbestehendes nationales Recht eines bestimmten Mitgliedstaats als richtlinienkonform abzusichern, hat der EuGH sie autonom ausgelegt und eine Auslegung mit Rücksicht auf die vorbestehende mitgliedstaatliche Regelung abgelehnt; EuGH v. 18.10.2001 – Rs. C-441/99 Gharehveran, Slg. 2001, I-7687 Rn. 21–28. 13 Etwa EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-369/90 Micheletti, Slg. 1992, I-4239 Rn. 10–15 (Staatsangehörigkeit); EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 14 (Erfüllungsort im Rahmen des EuGVÜ). Ein differenziertes Ergebnis begründet EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 25–27 für den Schadensbegriff, der in Eckdaten von der Produkthaftungsrichtlinie vorgegeben wird, i.E. aber von den Mitgliedstaaten zu definieren ist. 14 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 22–27 (jetzt freilich Art. 1 lit. d) BÜRL). 15 Eingehende Analyse der Rechtsprechung bei Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 475–503 (der Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage der Unterscheidung von Verordnung und Richtlinie, der gewählten Kompetenzgrundlage, und der Unterscheidung von aktiver und reaktiver Rechtsangleichung entnehmen möchte); ferner Scheibeler, Begriffsbildung durch den Europäischen Gerichtshof – autonom oder durch Verweis auf die nationalen Rechtsordnungen? (2004) (mit Ausarbeitung von Indizien). 16 Eingehend Larenz, Methodenlehre, S. 32–35, 316–320. An der Differenzierung von Auslegungsmittel und Auslegungsziel zweifelnd Schroth, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (7. Aufl. 2004), 6.3.3.2 (S. 284); von der „Unbrauchbarkeit der ,subjektiven‘ und der ,objektiven Theorie‘ sprechen Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 442–444; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 627–632; Holoubek, FS Mayer (2011), S. 142 (Zurechnungsproblem). Vgl. auch die (auch rechtsvergleichende) Übersicht bei Gruber, Die Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 86–108 (freilich allgemein für „internationales Einheitsrecht“). 17 Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 18; ders., Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; für das nationale Recht Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 717–724; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 144, 147 f.; ders./Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 7. A.A. Kaltenborn, FS Schnapp (2008), S. 779–796; Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158 f. 18 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21–28; EuGH v. 29.10.1980 – Rs. 138/79 Roquette, Slg. 1980, 3333 Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

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EuGH das in den Verträgen vorgesehene „System der Zuständigkeitsverteilung zwischen den verschiedenen Organen der Gemeinschaft (…), das jedem Organ seinen eigenen Auftrag innerhalb des institutionellen Gefüges der Gemeinschaft und bei der Erfüllung der dieser übertragenen Aufgaben zuweist.“19 Das institutionelle Gleichgewicht ist zwar nicht gleichbedeutend mit dem staatlichen Prinzip der Gewaltenteilung, da vor allem die Grenzlinie zwischen Legislative und Exekutive auf der Ebene der Europäischen Union nicht gleichermaßen scharf gezogen ist.20 Die Stellung des Gerichtshofs weist jedoch staatstypische Parallelen auf,21 gerade auch darin, dass ihm die Aufgabe der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung“ zukommt, aber grundsätzlich keine Rechtsetzungskompetenz.22 Zu den „Leitprinzipien der […] Union“ gehört aber auch das Demokratieprinzip, Art. 2, 10 EUV.23 Im Gesetzgebungsverfahren wird es durch das Parlament einerseits, aber auch durch die Vertreter im Rat andererseits verwirklicht, die in den Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert sind.24 Wenn daher auch im Unionsrecht Rechtsetzung und Rechtsprechung getrennt werden und es die Aufgabe der demokratisch legitimierten Organe ist, Recht zu setzen, dann muss man bei der Auslegung den subjektiven Gesetzgeberwillen ermitteln. Demgegenüber soll nach der objektiven Theorie die objektive Bedeutung der Normen ermit- 10 telt werden, so wie sie sich im Entscheidungszeitpunkt darstellt.25 Die objektive Theorie stützt sich ihrerseits auf das – gleichfalls verfassungsrechtlich begründete – Gebot der Rechtssicherheit, das gebietet, das Vertrauen auf den veröffentlichten Wortlaut des Rechtsakts (Art. 297 AEUV) zu schützen.26 Ein aus dem Wortlaut vielleicht nicht ersichtlicher und womöglich schwer zugänglicher Wille des Gesetzgebers könne daher nicht berücksichtigt werden. Zudem verlangten die sich andauernd ändernden tatsächlichen Verhältnisse und das sich ändernde Gesamtsystem des Rechts Berücksichtigung bei der Auslegung. Nicht zuletzt spricht auch die unvermeidliche Eigenständigkeit des Gesetzes, das sich mit der Anwendung weiterentwickelt, für die objektive Theorie.27 Bereits diese Begründungen deuten an, dass beide Lehren nicht in einem Verhältnis stren- 11 ger Alternativität stehen, sondern sich ergänzen können („Vereinigungstheorie“).28 Mit Rücksicht auf die auch im supranationalen Unionsrecht fundamentalen Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung muss es allerdings im Ausgangspunkt um die Ermittlung des Gesetzge-

_____ Rn. 33; EuGH v. 5.5.1981 – Rs. 804/79 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045 Rn. 23; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 9/56 Meroni I, Slg. 1958, 9, 44; EuGH v. 13.6.1958 – Rs. 10/56 Meroni II, Slg. 1958, 51, 82: Calliess/RuffertCalliess, Art. 13 EUV Rn. 10–18. 19 EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21. 20 Siehe nur H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht (1972), S. 317–321. 21 Jetzt einschränkend Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 13 AEUV Rn. 9 („nur teilweise“). 22 A.M. Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 39, der von einer „konkurrierenden Zuständigkeit“ von EuGH und Legislative zur Rechtsetzung spricht, die Kompetenz des Gerichtshofs dann aber – allerdings wohl nur unter dem Gesichtspunkt der Selbstbeschränkung – auf Fälle beschränkt, in denen der Gesetzgeber „aus sachlich nicht gerechtfertigten Gründen“ keine Regelung vorgesehen hat. 23 Dazu etwa EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 17. 24 BVerfGE 89, 155, 184–187 – Maastricht. 25 Tendenziell etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428–436; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 137–141. Kritisch besonders Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 806–815a. 26 Dies hervorhebend Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 907 ff. 27 Larenz, Methodenlehre, S. 317 f. 28 Für das europäische Privatrecht Herresthal, ZEuP 2009, 600, 606 f.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 457 ff.; bestätigend auch Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 278 f. (Analyse der Rechtsprechung des EuGH; anders, stärker zur objektiven Theorie tendierend, freilich S. 372–377 für die rechtsvergleichend begründete „europäische Methodenlehre“). Allgemein Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 139 f. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

berwillens gehen.29 Auch nach der Ansicht des EuGH, sind Vorschriften des Unionsrechts „nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck“ auszulegen.30 Anders als im Primärrecht steht dem im Sekundärrecht regelmäßig nicht entgegen, dass dieser Wille nicht erkennbar wäre: Entsprechend dem Begründungsgebot des Art. 296 Abs. 2 AEUV sind die Rechtsakte mit (zunehmend eingehenden) Begründungserwägungen versehen und gibt es zudem aus dem Rechtsetzungsverfahren üblicherweise eingehende Begründungen zu Kommissionsvorschlägen und Änderungen im Gesetzgebungsverfahren (nachfolgend Rn. 35). Diese Erwägungen schließen es nicht aus objektiven Erwägungen, etwa Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse, vor allem aber auch des rechtlichen Umfeldes Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf das rechtliche Umfeld ist das nicht zuletzt wegen des in vielen Fällen real nachweisbaren, jedenfalls aber zu vermutenden „Systembildungswillens“ des Gesetzgebers31 berechtigt (s. noch nachfolgend Rn. 24). Allerdings spielen objektive Elemente in einer nur rahmenhaft ausgeformten Rechtsordnung keine gleichermaßen starke Rolle wie etwa im deutschen BGB.32

III. Kriterien der Auslegung 12 Nach der in Deutschland und auch in anderen Ländern weithin üblichen Einteilung kann man

ungeachtet fließender Übergänge und teilweiser Überschneidungen vier Auslegungskriterien unterscheiden, die grammatikalische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.33

1. Die grammatikalische Auslegung a) Ausgangspunkt für die Auslegung 13 In nahezu jeder Entscheidung gibt der EuGH zunächst die umstrittene Norm wörtlich wieder und

beginnt die Auslegung, entsprechend „allgemein anerkannten Auslegungsprinzipien“, beim Wortlaut.34 Dabei ist nach unseren Vorüberlegungen (oben Rn. 4–7) zunächst zu ermitteln, ob die Wortwahl autonom-unionsrechtlich oder als Verweisung auf das mitgliedstaatliche Recht zu verstehen ist. Für ersteres spricht allerdings eine Vermutung (oben Rn. 6).

_____ 29 Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 4 Rn. 60; Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 18; Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 243. 30 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 20.11.2001 – Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47. 31 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 24; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 8 f. 32 S.a. Bleckmann, Europarecht (6. Aufl. 1997), Rn. 554. 33 Bankowski/MacCormick/Summers/Wróblewski, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 25–27; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 260 f.; Lando/Beale (Hrsg.), Principles of European Contract Law, Parts 1 and 2 (1999), S. 109, Note 1; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 114–118; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, passim. Zu der auf Savigny zurückgehenden Unterscheidung Baldus, in diesem Band, § 3 Rn. 30–40. Exemplarisch EuG v. 8.7.2008 – Rs. T-99/04 ACTreuhand, Slg. 2008, II-1501 Rn. 114 ff. (zur Auslegung von Art. 81 EG). 34 EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 55/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/95 Sabèl, Slg. 1997, I-6191 Rn. 18; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 31–33; GA Trstenjak, SchlA v. 4.6.2008 – Rs. C-324/07 Coditel Brabant, Slg. 2008, I-8457 Tz. 73. Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

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b) Wortlaut und Sprachenvielfalt Das wichtigste eigenständige Problem der Wortlautauslegung im Unionsrecht bildet die Spra- 14 chenvielfalt.35 Die 24 sprachlichen Fassungen von Rechtsakten der Union36 sind grundsätzlich gleich autoritativ, so dass nicht eine Vorrang vor der anderen beanspruchen kann.37 Daher muss die Wortlautauslegung grundsätzlich alle sprachlichen Fassungen berücksichtigen.38 Im Verfahren vor dem EuGH erfolgt das öfter durch Erklärungen der Mitgliedstaaten, die ihrerseits von den jeweiligen Sprachfassungen ausgehen. Nicht selten erweist sich dabei, dass die unionsrechtliche Rechtssprache nicht annähernd so ausgefeilt ist wie die nationale.39 Diesem Defizit können auch die in den Rechtsakten üblichen Begriffsbestimmungen nicht vollständig abhelfen, da sie sich regelmäßig nur auf wenige tragende Konzepte beziehen, darüber hinaus aber weitere Begriffe und Regelungen autonom auszulegen sind (s. oben Rn. 4–7). In keinem Fall kann die Auslegung beim Wortlaut bereits stehenbleiben. Ergibt sich aus 15 dem notwendigen Vergleich der sprachlichen Fassungen keine Divergenz oder lassen sich zumindest alle Fassungen in einem Sinne verstehen, so ist das zwar ein starkes Indiz für die vom Wortlaut nahegelegte Auslegung.40 Dieses Indiz ist aber noch anhand anderer Auslegungskriterien zu bestätigen (anders die sog. acte clair-Doktrin).41, 42 Ergibt sich umgekehrt – wie praktisch nicht selten der Fall – eine Divergenz der Sprachfassungen, so muss diese mit Hilfe anderer Auslegungsmittel aufgelöst werden.43

_____ 35 Monographisch Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht; eingehend ferner etwa Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 315–346. Das Sachproblem ist freilich schon aus mehrsprachigen nationalen Rechtsordnungen sowie dem internationalen Einheitsrecht bekannt; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 134. 36 Art. 55 Abs. 1 EUV, Art. 342 AEUV, Art. 1 Verordnung Nr. 1 des Rates v. 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ABl. 1958 17/385. 37 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18; EuGH v. 2.4.1998 – Rs. C-296/95 EMU Tabac, Slg. 1998, I-1605 Rn. 36; Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 7 Rn. 43; Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 4. Einen Sonderfall (völkervertraglicher Hintergrund) betrifft EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-143/96 Knubben, Slg. 1997, I-7039 Rn. 15; unter methodischem Aspekt krit. Anm. v. Schilling, EuZW 1998, 211 f. Ein Defizit bei der praktischen Umsetzung dieser Forderung konstatiert Mülller, FS Mayer (2011), S. 403 f. 38 EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-488/11 Brusse, Rn. 26; EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-511/08 Heinrich Heine, Slg. 2010, I-3047 Rn. 51; EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10–12; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3; EuGH v. 20.11.2001 – Rs. C-268/99 Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47; Leenen, Jura 2012, 753, 757; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 344; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 799 f.; krit. Bewertung der Praxis des EuGH Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 168 ff. (die selbst Aspekte des Vertrauensschutzes berücksichtigen möchte, S. 322 ff.) sowie Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 25–27. Der Vorschlag, einseitig die nationalen Gerichte von der Berücksichtigung aller Sprachfassungen zu entbinden, die aber der EuGH weiter zu berücksichtigen hätte (so Weiler, ZEuP 2010, 861 ff.), würde zwar eine weithin geübte Praxis rechtfertigen, ist aber auch praktisch nicht weiterführend, weil er zu zwei gleichermaßen methodisch richtig begründeten Ergebnissen führen würde, von denen eins indes einen Vorrang hätte. 39 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 179 f. 40 EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, Slg. 2010, I-10721 Rn. 41; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13–15. 41 In Richtung einer acte clair-Doktrin weist für die Frage der Vorlagepflicht EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16, doch wird sie am Ende nicht übernommen, Rn. 20; Analyse der EuGH-Rechtsprechung bei Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 358–383. Gegen die acte clair-Doktrin GA Stix-Hackl, Schlussanträge v. 12.4.2005 – Rs. C-495/03 Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8151 Rn. 18; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 143–146; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 144; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 258. Für Beschränkung auf die Wortauslegung bei klarem Wortlaut aber Leisner, EuR 2007, 689, 701. 42 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 107/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 2655 Rn. 10–20 (Bestätigung des schon als „eindeutig“ erkannten Wortlauts durch systematische und teleologische Erwägungen); EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457 Rn. 13–15. 43 EuGH v. 20.11.2001 – C-268/99, Jany, Slg. 2001, I-8615 Rn. 47; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Aannemersbedrijf Kraaijeveld, Slg. 1996, I-5403 Rn. 28; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28; EuGH v. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

„Nach ständiger Rechtsprechung verbietet die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung und damit Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, sie in einer ihrer Fassungen isoliert zu betrachten, sondern gebietet vielmehr, sie nach dem wirklichen Willen ihres Urhebers und dem von diesem verfolgten Zweck namentlich im Licht ihrer Fassung in allen Sprachen auszulegen.“44

16 Zuvor können sich allerdings schon aus dem Wortlaut Indizien für eine bestimmte Auslegung

ergeben. Keine große Hilfe ist aber von der Untersuchung der Arbeitssprache des Gesetzgebers zu erwarten,45 der gelegentlich größeres Gewicht beigemessen wird.46 Das ist schon deswegen problematisch, weil die Arbeitssprache regelmäßig nicht erkennbar ist und im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens oder in verschiedenen Gremien wechseln mag. Vor allem würde die normative Gleichwertigkeit der Amtssprachen wieder in Frage gestellt. Ausgangspunkt der Wortlautauslegung ist der gewöhnliche Sprachgebrauch.47 Nach einer 17 auch im nationalen Recht anerkannten Regel kommt aber einem spezifischen Gesetzessprachgebrauch grundsätzlich Vorrang vor dem allgemeinen Sprachgebrauch. 48 Verwendet eine sprachliche Fassung einen juristisch-technischen Begriff oder den spezifischeren oder präziseren Terminus, so kann diese Bedeutung vorzuziehen sein, wenn sich auch die anderen Sprachfassungen in diesem Sinne verstehen lassen.49 Bekannt ist etwa das primärrechtliche Beispiel der Auslegung von Art. 288 Abs. 3 AEUV: Entsprechend dem spezifischeren Wortlaut der romanischen Sprachen sind Ergebnisvorgaben in Richtlinien zulässig, nicht nur Zielvorgaben, auf die die deutsche Fassung hindeutet.50 Freilich hilft der technische Wortlaut nicht immer weiter. So definiert z.B. die englische Fassung der Massenentlassungsrichtlinie die Massenentlassung als dismissal, also mit dem normativen Begriff der Kündigung, die deutsche verwendet hingegen den (eher) deskriptiven Begriff der Beendigung. Für die Auslegung war dem Wortlaut indes nicht mehr als der Zweifel zu entnehmen, da die Regelung im Übrigen zeigt, dass der Gesetzgeber die Begriffe (dismissal, Beendigung) nicht bewusst unterschieden, sondern allein aus Gründen sprachlicher Konvenienz verwandt hat.51

18 Im Ergebnis führt die Ermittlung des Wortsinns meist nur zu einer Eingrenzung der möglichen

Auslegungsergebnisse, wobei die Sprachenvielfalt verbunden mit dem Grundsatz der Gleichwertigkeit aller Sprachen die Wortsinngrenze tendenziell erweitert.52 Aber auch ein (vermeintlich) eindeutiger Wortsinn bedarf der Bestätigung durch zusätzliche Erwägungen.53 Kommt damit dem Wortsinn bei der Auslegung ein geringerer Grad der Steuerung zu als in 19 einem einsprachigen Rechtssystem, so ist seine fundamentale Bedeutung doch nicht zu leug-

_____ 7.7.1988 – Rs. 55/87 Moksel, Slg. 1988, 3845 Rn. 15; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 11–13; EuGH v. 27.10.1977 – Rs. 30/77 Boucherau, Slg. 1977, 1999 Rn. 13/14; EuGH v.12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3–4. 44 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33 (Nachweise weggelassen). 45 Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 139–142. 46 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 343. 47 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-49/11 Content Services, Rn. 32; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easycar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 21. 48 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 439 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 322; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 119–121; diff. Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 125–130. 49 Vgl. GA Lord Slynn, SchlA v. 8.11.1984 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457, 459 f., vom Gerichtshof i.Erg. übernommen, vgl. aaO Rn. 13. 50 Gegen eine Beschränkung auf bloße Zielvorgaben schon H.P. Ipsen, FS Ophüls (1965), S. 73 f.; heute unstr. 51 Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97, 98 f. 52 Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 292; krit. Schilling, ZEuP 2007, 754, 765 ff.; Baldus/ Vogel, FS Krause (2006), S. 242 f. 53 In diese Richtung EuGH v. 17.11.1983 – Rs. 292/82 Merck ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 1983, 3781 Rn. 12.

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§ 10 Die Auslegung

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nen. Insbesondere ist auch im Unionsrecht der Wortsinn die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.54

c) Relativität der Rechtsbegriffe Im Unionsrecht ist ebenso wie im nationalen Recht die Relativität der Rechtsbegriffe zu beach- 20 ten:55 Derselbe Begriff kann in verschiedenen Zusammenhängen Unterschiedliches bedeuten. Innerhalb des Europäischen Privatrechts ist das mit einer fortschreitenden Ausbildung auch des äußeren Systems (sogleich Rn. 21–31) allerdings grundsätzlich nicht zu vermuten.56 Das Europäische Arbeits- und Gesellschaftsrecht sind bereits seit Längerem weitgehend durchstrukturiert, und auch im Europäischen Vertragsrecht hat die Kommission die Kohärenzaufgabe jetzt erkannt57 und bereits bei einzelnen Rechtsetzungsvorhaben im Ansatz aufgegriffen.58 In Einzelfällen haben dieselben Begriffe in verschiedenen Rechtsakten unterschiedliche Bedeutung. Zum Beispiel heißt der Reisende in der Pauschalreiserichtlinie59 „Verbraucher“, obwohl es nicht im technischen Sinne um einen Verbraucher als eine natürliche Person geht, die zu privaten Zwecken handelt. Und das in der ursprünglichen Fassung der Timesharing-Richtlinie60 vorgesehene Rücktrittsrecht war der Sache nach ein Widerrufsrecht; das ist durch die Überarbeitung von 200861 klargestellt worden.

2. Die systematische Auslegung62 a) Der sprachliche Bedeutungszusammenhang Die Auslegung kann nicht bei einzelnen Wörtern stehenbleiben,63 sondern muss sie in dem Be- 21 deutungszusammenhang sehen, in den sie der Gesetzgeber gestellt hat. Dabei geht es zuerst – in Fortsetzung der Wortauslegung – um die Berücksichtigung des sprachlichen Kontextes, in dem ein Ausdruck verwendet wird. Für die Auslegung eines Wortes ist der Satzzusammenhang, für das Verständnis eines Satzes der Textzusammenhang entscheidend. Das ist freilich noch keine systematische Auslegung, sondern Bestandteil der grammatikalischen Auslegung.

_____ 54 Näher Neuner, in diesem Band, § 13 Rn. 2 f. Zu den historischen Wurzeln näher Baldus, in diesem Band, § 3 (selbst zweifelnd, Rn. 18, 39). 55 Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 192 f.; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141 f.; Wank, Die juristische Begriffsbildung (1985), S. 110–122. S. schon Müller-Erzbach, JherJb 61 (1912), 343–384. 56 S. EuGH v. 3.7.2012 – Rs. C-128/11 UsedSoft, Rn. 60. 57 Eingehend Mitteilung der Kommission v. 11.7.2001 an den Rat und das Europäische Parlament zum Europäischen Vertragsrecht, KOM(2001) 398 endg, bes. Rn. 34. 58 S. z.B. – freilich mit stärkerem Bezug zum inneren System – die Erklärung des Rates und des Parlaments zu Art. 6 Abs. 1 FARL, abgedruckt bei Schulze/Zimmermann, Basistexte zum Europäischen Privatrecht (3. Aufl. 2006), I.25 a.E. (S. 123); BE 11 EComRL. 59 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13. 6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 60 Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/83. 61 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10. 62 Zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 8; zu der – das mitgliedstaatliche Recht betreffenden – richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; s.a. noch nachfolgend Rn. 41 a.E. Allgemein zur systemkonformen Auslegung die gleichnamige Arbeit von Höpfner. 63 Eingehend kürzlich Paunio/Lindroos-Hovinheimo, ELJ 16 (2010), 395, 400 f. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

b) Der rechtlich-systematische Bedeutungszusammenhang 22 Bei der eigentlichen systematischen Auslegung geht es darum, eine Rechtsnorm als Bestandteil

eines äußerlich und innerlich geordneten Regelungsganzen zu verstehen und durch ihre Stellung in diesem System Rückschlüsse auf ihre Bedeutung zu ziehen. Die systematische Auslegung setzt dabei regelmäßig zunächst beim äußeren System des einzelnen Rechtsakts an. In einer Rechtsordnung, die sich als ein Gesamtrechtssystem versteht, berücksichtigt sie aber selbstverständlich auch rechtsaktsübergreifend andere Regelungen, die z.B. durch ihre Komplementarität oder Spezialität oder durch ihre Höherrangigkeit Aufschluss für das Verständnis geben können. Schließlich lässt sich sowohl Einzelregelungen als auch dem Regelungsganzen ein inneres System entnehmen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht werden kann. Auch im Sekundärrecht ermöglicht die äußere Ordnung der Rechtsakte in Abschnitte, Arti23 kel, Absätze usf. Rückschlüsse für die Auslegung.64 Ein solches systematisches Verständnis kommt seit jeher innerhalb eines Rechtsakts, innerhalb einer Richtlinie oder Verordnung, in Betracht.65 Die zunehmende Zahl „kodifizierter“, also systematisch und unter Berücksichtigung der ergangenen Rechtsprechung neu verabschiedeter Rechtsakte („2. Generation“) verbessert die normative Grundlage zunehmend. Bereits seit der Anfangszeit gibt es darüber hinaus aber rechtsaktübergreifend eine äußere 24 Ordnung. Das ist völlig unbestritten, was das Zusammenwirken von primär- und sekundärrechtlichen Vorschriften angeht. Aber auch innerhalb des Sekundärrechts sind Einheit und Ordnung des Rechts nicht nur als normative Forderungen begründet, sondern ist weithin auch rechtsaktübergreifend ein Systembildungswille und Kohärenzanspruch des Gesetzgebers erkennbar,66 ungeachtet der Tatsache, dass die Auswahl der Regelungsbereiche („Harmonisierungskonzept“)67 nicht auf die Schaffung eines im pandektischen Sinne vollständigen Zivilrechtssystems gerichtet ist.68 Besonders deutlich ist das im Europäischen Gesellschaftsrecht und im Internationalen Privat- und Verfahrensrecht,69 wo die Numerierung der Rechtsakte den Ordnungsanspruch des Gesetzgebers ausweist. Aber auch im Arbeitsrecht (z.B. Regelungen zu Strukturmaßnahmen und Insolvenz, zum Arbeitsschutz, gegen Diskriminierung, zur Betriebsverfassung), im Vertragsrecht (s. jetzt die Zusammenfassung mehrerer Rechtsakte in der Verbraucherrechtericht-

_____ 64 Z.B. EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 29–39; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-251/95 Sabel, Slg. 1997, I-6191 Rn. 20–24; EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 18–24; EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36 f.; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18–21; EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, 2191 Rn. 15. 65 Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605 f.; Adrian, Grundprobleme einer (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 451 f. 66 Ebenso Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 13; Holoubek, FS Mayer (2011), S. 150. 67 Zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Vertragsrecht Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 1. Teil Rn. 24–51; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 211–235; zum Harmonisierungskonzept im Europäischen Arbeitsrecht Grundmann, GS Blomeyer (2004), S. 71–97; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 41–47; s.a. Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 18 ff. 68 Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 905 und passim; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 158–160; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 411 ff.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 55–58. Zweifelnd Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605 f.; ders., in: Arnold (Hrsg.), Grundlagen eines europäischen Vertragsrechts, S. 75 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 12 f. (freilich insoweit ohne Analyse der Rechtsprechung des EuGH); Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 11, 15; Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 64. 69 Zur rechtsaktübergreifenden Auslegung der Rom I-VO mit Rücksicht auf die Brüssel I-VO Rühl, GPR 2013, 122 ff.

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§ 10 Die Auslegung

209

linie) oder im Urheberrecht70 sind zumindest für Teilbereiche Einheit und Ordnung eines Regelungsganzen erkennbar.71 So lässt sich das Europäische Privatrecht als (weitgehend) vollständig und nur in einzelnen Punkten lückenhaft (bzw. in Entstehung befindlich) verstehen.72 Auch rechtsaktübergreifend kommt daher eine systematische Auslegung in Betracht.73 Soweit das Unionsrecht autonom auszulegen ist (s. oben Rn. 4–7), versteht sich indes, dass das Zusammenspiel von Unions- bzw. Umsetzungsrecht einerseits mit autonom-nationalem Recht andererseits für die Auslegung des Unionsrechts ohne Belang ist.74 Ist beispielsweise das Unionsrecht bei einer Auslegung mit anderen Vorgaben des nationalen Rechts unvereinbar, so widerlegt das nicht diese Auslegung, sondern kann sich daraus ggf. Änderungsbedarf für das nationale Recht ergeben.

Zudem zeigt eine nähere Erörterung, dass den Regeln jedenfalls für einzelne Regelungsbereiche 25 durchaus eine innere Ordnung entnehmen lässt.75 Die Vielzahl der einzelnen Regeln und Rechtsakte steht nicht unverbunden nebeneinander, sondern ist vom Gesetzgeber als ein zusammenhängendes, nach Prinzipien geordnetes Ganzes angelegt.76 Dementsprechend lässt sich auch im Europäischen Sekundärrecht im Rahmen einer prinzipiell-systematischen Auslegung77 die Teleologie des Regelungsganzen und seine innere Ordnung durch Prinzipien für das Verständnis einzelner Vorschriften fruchtbar machen.78 Auch hier ist „jede Vorschrift des [Unions]rechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten [Unions]rechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“.79 Wenn der EuGH bei der Auslegung auf die „Ziele“ des Unionsrechts hinweist, macht er deutlich, dass für die 26 Auslegung nicht nur die äußeren, sondern vor allem die inneren Zusammenhänge von Bedeutung sind. Die Bedeutung der zugrundeliegenden Prinzipien für die Auslegung der Rechtsordnung der Union hat der EuGH besonders in seinem EWR-Gutachten hervorgehoben. Darin hat er u.a. ausgeführt, dass Bestimmungen in einem völkerrechtlichen Abkommen, die mit solchen des EG-Vertrags (heute AEUV) wörtlich übereinstimmen, nicht notwendig gleich ausgelegt werden müssen, sondern aufgrund der unterschiedlichen Zwecke unterschiedlich verstanden werden könnten.80 Diese Erwägungen beanspruchen auch im Sekundärrecht Geltung.

_____ 70 Riesenhuber (Hrsg.), Systembildung im Europäischen Urheberrecht (2007); Leistner, Konsolidierung und Entwicklungsperspektive des Europäischen Urheberrechts (2008); Walter/v. Lewinski (Hrsg.), European Copyright Law (2010). 71 S. z.B. EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 76; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 37–39. 72 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 211 ff. 73 EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-49/11 Content Services, Rn. 43 ff.; Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 30 f. 74 EuGH v. 3.3.2011 – verb. Rs. C-235/10 bis 239/10 Claes, Slg. 2011, I-1113 Rn. 47 f. 75 S. z.B. Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht; ders., Europäisches Gesellschaftsrecht; Habersack/ Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht; Riesenhuber, System und Prinzipien; ders., Europäisches Arbeitsrecht. 76 Vgl. EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. 77 Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung (1995). In der Sache verwandt ist die Heranziehung Allgemeiner Rechtsgrundsätze als Auslegungskriterium; dazu Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 194 ff. 78 Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 894 f.; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 99–101, 154 f. und öfter („hoher Stellenwert“); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 433 ff., 448 ff.; Itzcovich, GLJ 10 (2009), 537, 552 f., 555; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 27; für das nationale Recht Bydlinski, Über prinzipiell-systematische Rechtsfindung im Privatrecht (1995); Larenz, Methodenlehre, S. 324. Ansatzweise z.B. EuGH v. 28.2.1980 – Rs. 67/79 Fellinger, Slg. 1980, 535 Rn. 7 f. 79 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20. Ferner EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 18–21; vgl. auch EuGH v. 31.3.1971 – Rs. 22/70 Kommission ./. Rat, Slg. 1971, 263 Rn. 15/19 (AETR); EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 22 f. Übersicht bei Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 240–251. 80 Vgl. EuGH v. 14.12.1991 – Gutachten 1/91 EWR-Abkommen, Slg. 1991, I-6079 Rn. 13–22 und 50 f. Ferner EuGH v. 9.2.1982 – Rs. 270/80 Polydor, Slg. 1982, 329 Rn. 8, 14–20; EuGH v. 26.10.1982 – Rs. 104/81 Kupferberg, Slg. 1982, 3641 Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

c) Systematische Auslegung unter Berücksichtigung von Regelungsvorschlägen und -entwürfen? 27 Die Rabobank-Entscheidung des EuGH81 hat die Frage aufgeworfen, ob auch Regelungsentwürfe im Rahmen der systematischen Auslegung berücksichtigt werden können.82 In dieser Entscheidung hat der EuGH angenommen, Art. 9 Abs. 1 Publizitätsrichtlinie (PublRL)83 lasse nationale Vorschriften über die Begrenzung der Vertretungsmacht wegen Interessenkonflikts unberührt.84 Diese Auslegung findet das Gericht in Art. 10 Abs. 1 und 4 des Entwurfs für eine Strukturrichtlinie85 bestätigt. Denn nach diesen Vorschriften bedarf ein Vertrag der Gesellschaft, der die Interessen des Leitungs- oder Aufsichtsorgans berührt, zumindest der Genehmigung des Aufsichtsorgans (Art. 10 Abs. 1 E-StruktRL); der Mangel der Genehmigung kann Dritten entgegengehalten werden, die davon Kenntnis hatten oder haben mussten.86 Dass der Entwurf der Strukturrichtlinie für diesen Fall eine Regelung enthielt, nimmt der Gerichtshof als ein Anzeichen dafür, dass die Kommission den Fall noch nicht als von der Publizitätsrichtlinie abgedeckt ansah, sondern ebenfalls davon ausging, die Regelung falle bislang in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Um eine systematische Auslegung kann es sich bei dieser Begründung schon deswegen 28 nicht handeln, weil ein Entwurf nicht Gesetz und damit nicht Bestandteil des Systems ist.87 Diese Einschränkung ist keineswegs nur formal gerechtfertigt, sondern auch in der Sache, weil dem Kommissions(!)-Entwurf nicht die demokratische Legitimation des verabschiedeten Rechtsakts (Richtlinie, Verordnung) zukommt. Wegen dieses Mangels demokratischer Legitimation lässt sich aus einem Regelungsentwurf in keinem Fall eine Veränderung des bestehenden Systems begründen.88 Richtlinienvorschläge können indes in einer schwächeren Weise zum Verständnis des gesetzten Rechts beitragen, und zwar gerade in der Form, wie sie der EuGH in der RabobankEntscheidung verwendet hat, nämlich als ergänzendes Argument zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses.89 Soweit der Regelungsentwurf nur von der Kommission kommt, hat er indes nicht das Gewicht einer authentischen Auslegung – die ja nur der Gesetzgeber selbst vornehmen könnte –, sondern lediglich die Bedeutung einer Stellungnahme der Kommission.

_____ Rn. 30; EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-312/91 Metalsa, Slg. 1993, I-3751 Rn. 9–12; EuGH v. 12.12.1995 – Rs. C-469/93 Chiquita, Slg. 1995, I-4533 Rn. 52; EuGH v. 6.10.1976 – Rs. 12/76 Tessili, Slg. 1976, 1473 Rn. 9 a.E. Dazu Epiney/Felder, ZVglRWiss 100 (2001), 425–447 (Systembindung im Grundsatz anerkennend, aber anders als der EuGH im EWRGutachten weitgehend für irrelevant haltend). 81 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211. 82 Eingehend zur Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der Rechtsordnung (2002), S. 83–112 (der den hier erörterten Fall allerdings nicht der Vorwirkungsproblematik zuordnet, da erst ein Entwurf vorliegt; aaO S. 87 f.). 83 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 5.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 65/8. 84 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 21–24. 85 Nachweise zu dem – mittlerweile zurückgezogenen – Richtlinienvorschlag bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 366, 404–408. 86 EuGH v. 15.12.1997 – Rs. C-104/96 Rabobank ./. Minderhoud, Slg. 1997, I-7211 Rn. 25–27. 87 So unzweideutig EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 43. Ebenso Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 924 f. S.a. Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 20. 88 Zu weitgehend daher Schön, RabelsZ 64 (2000), 1, 7 f., der, unter der Voraussetzung, dass die Verabschiedung nicht schon durch „grundsätzliche Sachdifferenzen“ behindert wird, (wohl) auch Entwürfen „grundlegende Wertungen des Europäischen Gesellschaftsrechts … entnehmen“ möchte; so weit geht auch die Rabobank-Entscheidung nicht. 89 Ähnlich wohl EuGH v. 12.3.1996 – Rs. C-441/93 Pafitis, Slg. 1996, I-1347 Rn. 43 (im konkreten Fall das Gewicht des Arguments aus dem Vorschlag als gering veranschlagend); Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 924 f. (dem EuGH indes in der Sache widersprechend); Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 35.

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§ 10 Die Auslegung

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d) Kollisionsregeln Im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung werden regelmäßig auch einzelne Kolli- 29 sionsregeln erörtert.90 Zur Auslegung mit Rücksicht auf das Gesamtsystem gehört der Grundsatz lex superior derogat legi inferiori. Wie Art. 263 f. AEUV zeigen, gilt dieser Grundsatz auch im Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht. Allerdings kann die harsche Derogationsfolge (Nichtigkeit) ggf. im Wege der primärrechtskonformen Auslegung (oben § 8) vermieden werden. Im Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht geht der EuGH von einem Anwendungsvorrang aus.91 Der Grundsatz lex posterior derogat legi priori löst eine Kollision mit Rücksicht auf die Chrono- 30 logie.92 Vorausgesetzt ist dabei freilich, dass es sich um miteinander unverträgliche (nicht komplementäre) Vorschriften zum selben Gegenstand handelt und dass der Gesetzgeber der jüngeren Norm derogationsbefugt war.93 Zudem kommt der Grundsatz nur zur Anwendung, wenn die intertemporale Anwendbarkeit nicht spezifisch geregelt und dementsprechend differenziert zu behandeln ist, s. z.B. Art. 29–31 Verbraucherkreditrichtlinie,94 Art. 31, 34 Verbraucherrechterichtlinie.95 Der Spezialitätsgrundsatz, lex specialis derogat legi generali, schließlich, soll das Verhältnis 31 von zwei Regelungen klären, deren eine (die spezielle) alle Tatbestandsmerkmale der anderen (der allgemeinen) enthält und darüber hinaus noch mindestens ein weiteres. Ob eine Regelung im Sinne dieses Grundsatzes ‚speziell’ ist, ist allerdings regelmäßig gerade die – durch Auslegung zu klärende – Frage.96 „Soweit nämlich die Rechtsfolgen der konkurrierenden Rechtssätze miteinander verträglich sind, kommt es darauf an, ob die Rechtsfolgen der spezielleren Norm für deren Anwendungsbereich die der allgemeineren Norm nach der Regelungsabsicht des Gesetzes nur ergänzen, sie modifizieren oder an ihre Stelle treten sollen.“97 Der Spezialitätsgrundsatz beschreibt daher regelmäßig nur das Auslegungsergebnis.98

3. Die historische und genetische Auslegung Anders als im Primärrecht99 und entgegen mancher früheren Einschätzung100 spielt auch die 32 historische und genetische Auslegung, bei der es um die Vorgeschichte und die Entstehungsgeschichte geht, im Europäischen Privatrecht eine zentrale Rolle.101

_____ 90 Kramer, Methodenlehre, S. 104 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 422 ff.; für das Unionsrecht mit weiterführenden Erwägungen zur Vollharmonisierung Schmidt-Kessel, GPR 2011, 79–86. 91 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. ENEL, Slg. 1964, 1251, 1270; EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 17/18–24. 92 Vgl. GA Stix-Hackl, SchlA v. 3.5.2001 – Rs. C-145/99 Kommission ./. Italien, Slg. 2001, I-2235 Tz. 49 („Allgemeingut der rechtswissenschaftlichen Methodik“). 93 Schmidt-Kessel, GPR 2011, 79, 80 f. 94 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 95 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 96 Kramer, Methodenlehre, S. 111 ff. 97 Larenz, Methodenlehre, S. 267 f. Zu spezifischen Fragen des Unionsrechts Schmidt-Kessel, GPR 2011, 79, 81. 98 EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-355/12 Nintendo, Rn. 23; EuGH v. 3.7.2012 – Rs. C-128/11 UsedSoft, Rn. 51, 56; EuGH v. 19.6.2003 – Rs. C-444/00 Mayer Perry Recycling, Slg. 2003, I-6163 Rn. 53–57; EuGH v. 13.1.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 37–39; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 429. 99 Dazu Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7 Rn. 33. 100 Arnull, in: Andenas (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 120 ff.; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 568, 582; Hommelhoff, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 33 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 356 f. 101 S. z.B. EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 22; EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, Slg. 2010, I-10721 Rn. 40; EuGH v. 31.3.1998 – verb. Rs. C-68/94 und C-30/95 Frankreich u.a. ./. Kommission, Slg. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

a) Der Gesetzgeber 33 Verfolgt die Auslegung – mit der Vereinigungstheorie (oben Rn. 11) – im Grundsatz das Ziel, den

Gesetzgeberwillen zu ermitteln, so ist zunächst zu bestimmen, wessen Wille maßgeblich ist. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber,102 das sind nur die Gesetzgebungsorgane, deren Zustimmung den Rechtsakt im konkreten Fall trägt.103 Verschiedene Organe sind hingegen lediglich anzuhören – Wirtschafts- und Sozialausschuss (WSA), der Ausschuss der Regionen (AdR), teils das Europäische Parlament –; und auch die Kommission hat nur ein Initiativrecht und die Möglichkeit, Vorschläge zurückzuziehen, ihre Vorschläge können im Gesetzgebungsverfahren beliebig verändert werden.104 34 Indessen sind üblicherweise gerade (manchmal nur) die Vorschläge der Kommission eingehender begründet. 105 Und auch die Stellungnahmen von Parlament, WSA, dem Ausschuss der Regionen oder der Europäischen Zentralbank (EZB) enthalten öfter weiterführende Erläuterungen.106 Sofern die entscheidenden Organe diese Erwägungen in ihren Willen aufgenommen haben („Paktentheorie“), können sie auch für die Auslegung herangezogen werden.107 Sofern Vorschläge bzw. Wünsche von Kommission, Parlament und WSA dezidiert108 nicht übernommen wurden, kann sich daraus allenfalls (aber nicht zwingend) ein e contrario-Argument ergeben.109

b) Zugängliche Materialien 35 Nach Art. 296 Abs. 2, 297 AEUV werden Verordnungen und Richtlinien unter Hinweis auf die

ihnen zugrundeliegenden Vorschläge sowie Stellungnahmen dazu und mit einer Begründung

_____ 1998, I-1453 Rn. 167 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 14; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 16; Leisner, EuR 2007, 689–706; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 800. A.M. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 287 (Analyse der EuGH-Rechtsprechung; abw. S. 387–389 für die von ihm rechtsvergleichend fundierte „europäische Methodenlehre“, dort freilich eine „historisch-dynamische“ Auslegung befürwortend); wegen des dynamischen Charakters krit. Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 219. 102 Verfehlt erscheint es, eine den Rechtsetzungsorganen (Kommission, Parlament, Rat) gleichwertige „demokratische Legitimation zur Gesetzgebung“ des EuGH anzunehmen; in diese Richtung aber wohl Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 383. „[V]on den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen nach Anhörung des in Art. 255 vorgesehenen Ausschusses … ernannt“ (Art. 253 Abs. 1 AEUV), ist schon ihre demokratische Legitimation nur sehr mittelbar begründet; Richter sind im Übrigen, wie sich aus Art. 253, 255 AEUV ergibt, nicht zur Rechtsetzung, sondern zur Rechtsprechung legitimiert. 103 Zust. GA Trstenjak, SchlA v. 29.10.2009 – Rs. C-484/08 Caja de Ahorros, Slg. 2010, I-4785 Tz. 83. Zu Protokollerklärungen: EuGH v. 21.1.1992 – Rs. C-310/90 Egle, Slg. 1992, I-177 Rn. 12 (ergänzende Heranziehung zur Bestätigung); EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 32 (Presseerklärung des Vermittlungsausschusses); Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 451; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 63; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 399 ff. 104 Eine Kompetenz zur „authentischen Interpretation“ des Sekundärrechts kann die Kommission daher auch nicht haben. 105 Näher Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 396 ff. (aber krit. zur Paktentheorie S. 386 Fn. 461). 106 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 398 f. 107 S. z.B. EuGH v. 27.6.2013 – verb. Rs. C-457/11 bis 460/11 VG Wort, Rn. 69, 71 f.; EuGH v. 15.7.2010 – Rs. C-256/09 Purrucker, Slg. 2010, I-7353 Rn. 84–87; GA Tizzano, SchlA v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 18; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 451 f.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 171–173. Enger Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64 f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 253 f. Für das nationale Recht zutr. Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 93 f.; enger Larenz, Methodenlehre, S. 329. 108 Also nicht etwa nur „als selbstverständlich“. 109 EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, Slg. 2010, I-10721 Rn. 40; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 29 f.; EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2216 Rn. 49–52; EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone, Slg. 1998, I-2191 Rn. 11 und 16; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-449/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33; EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 26/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 5. Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

213

veröffentlicht.110 Diese Unterlagen, insbesondere die Begründungserwägungen, die allen Rechtsakten vorangestellt sind, stehen für die Ermittlung des Gesetzgeberwillens in jedem Fall zur Verfügung. Und tatsächlich erschöpfen sich die Begründungserwägungen jüngerer Rechtsakte regelmäßig nicht (mehr) in einer bloßen Skizze der Regelungsinhalte, sondern geben weiterführende Hinweise. Darüber hinaus besteht nach Art. 15 Abs. 2, 3 AEUV ein grundsätzliches Recht auf Zugang zu 36 den Dokumenten der Union,111 und zwar seit dem Lissaboner Vertrag uneingeschränkt auch zu Dokumenten des Rates.112 Daher stellt sich die Frage, inwieweit weitere Unterlagen als Materialien für die historische Auslegung herangezogen werden können.113 Die entscheidende Grenze muss darin liegen, welche Dokumente veröffentlicht sind.114 Das folgt zum einen aus der Bindung an den Gesetzgeberwillen, dem neben der Setzung der Regeln auch freistehen muss zu entscheiden, inwieweit er diese konkretisiert – auch durch Erläuterungen.115 Soweit er auf eine Veröffentlichung der Materialien verzichtet, entspricht es seinem Willen, sie bei der Auslegung nicht zu berücksichtigen.116 Der subjektive Wille wird auf diese Weise als nachrangig gegenüber einer objektivierten, autoritativen Festlegung der Ziele in der Präambel verstanden – z.B. weil Kompromisse gefunden werden, diese jedoch die Auslegung nicht belasten sollen.117 An der Beschränkung auf veröffentlichte Materialien ändern auch das Zugangsrecht des 37 Einzelnen und das Vorlagerechts des EuGH (Art. 24 EuGH-Satzung) nichts. Sowohl das Rechtsstaatsprinzip, das insofern in Art. 297 AEUV ausgedrückt ist, als auch der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, dass das Recht für die Rechtsunterworfenen vorhersehbar ist. Das ist gerade im Privatrecht als dem Handlungsrahmen für das Verhalten Privater von essentieller Bedeutung, da sie anfänglich Planungssicherheit benötigen, nicht nur nachträglich die Gewährung rechtlichen Gehörs. Das bestätigt auch das sog. intertemporale Recht – also die Regeln über das im Falle von zwischenzeitlichen Änderungen auf einen Vertrag anwendbare Recht –, denn danach regiert bei Gesetzesänderungen im Vertragsrecht grundsätzlich das bei Vertragsschluss geltende Recht.118

_____ 110 Daher für eine Berücksichtigungspflicht W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 800; Streinz, ZEuS 2004, 387, 402. 111 Näher ausgestaltet durch Verordnung (EG) 1049/2001 v. 30.5.2001 über den Zugang zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001 L 145/43. 112 Nicht nur deshalb gehen Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 24 von einer steigenden Bedeutung der Materialen für die Auslegung aus. 113 Offen gelassen in EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easycar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 20 („die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten“). 114 Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 9 Rn. 15; Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, S. 148; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 173–177; Herdegen, ZHR 155 (1991), 52, 64; Itzcovich, GLJ 10 (2009), 537, 554; Lutter, JZ 1992, 600 f.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 392 f.; Pechstein, EuR 1990, 249, 255. Weitergehend (Zugänglichkeit reicht) Leisner, EuR 2007, 689, 696; wohl auch Langenbucher-dies., § 1 Rn. 16. 115 Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit leitet Neuner, FS Georgiades (2005), S. 1235 freilich eine „Pflicht zur hinreichenden Dokumentation der gesetzgeberischen Regelungsabsicht in flankierenden Protokollen“ ab; diese kann allerdings wohl nicht mehr als ein Minimum begründen. 116 Ebenso Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 174 f.; Leenen, Jura 2012, 753, 757 f. 117 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 9 Rn. 15 (für das Primärrecht). 118 Hess, Intertemporales Privatrecht (1998), S. 143–159, 503–514. Zum Prinzip des vertraglichen Vertrauensschutzes auch EuGH v. 6.2.1973 – Rs. 48/72 Brasserie de Haecht II, Slg. 1973, 77 Rn. 8–10/13. Riesenhuber

214

2. Teil: Allgemeiner Teil

c) Exkurs: Die Rechtsnatur der Begründungserwägungen 38

Kommt den Begründungserwägungen eine zentrale Rolle bei der Ermittlung des Gesetzgeberwillens zu,119 so ist doch auf deren begrenzte Bedeutung hinzuweisen.120 Ebenso wie andere Gesetzesmaterialien121 können sie nicht selbst Rechte Einzelner begründen, dazu bedarf es einer Bestimmung im verfügenden Teil des Rechtsakts.122 Eine Regelungsabsicht, die im verfügenden Teil keinen Anhalt findet, kann man nicht berücksichtigten.

d) Grundsätzliche Irrelevanz eines „Vorbildrechts“ 39 Bezugspunkt historischer Auslegung könnte auch die Herkunft einer Regel aus dem Recht eines

Mitgliedstaates sein (Bsp.: Vorbild des deutschen Rechts für die Handelsvertreterrichtlinie oder die Massenentlassungsrichtlinie). Das Vorbildrecht ist jedoch, soweit die oben (Rn. 4–7) erörterte Autonomie des Unionsrechts reicht, nicht autoritativ.123 Das folgt nicht zuletzt daraus, dass der EU-Gesetzgeber seinen Regeln andere Zwecke beilegen kann und sie in ein eigenes Rechtssystem einbettet. Das Vorbildrecht kann daher allenfalls Anhaltspunkte für eine mögliche Auslegung des Unionsrechts geben.124 Eine weitergehende Bindung wird erwogen, wenn das Unionsrecht (autonom, d.h. ohne völkervertragliche Bindung) einem einheitsrechtlichen Modell nachgebildet ist, so wie die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dem UN-Kaufrecht.125 Auch insofern ist indes wegen der teleologischen und systematischen Eigenständigkeit des Unionsrechts Zurückhaltung geboten.

e) Die Beachtung der vorbestehenden Regelungssituation in den Mitgliedstaaten 40 Umgekehrt kann bei einer Rechtsordnung, deren Zweck regelmäßig gerade in der Rechtsanglei-

chung oder -vereinheitlichung besteht, die vorbestehende Regelungssituation in den Mitgliedstaaten für die Auslegung eine Rolle spielen. Das kommt im Rahmen der historischen Auslegung i.e.S. (im Gegensatz zur genetischen Auslegung) in Betracht, wenn der Gesetzgeber auf einen spezifischen Missstand reagiert hat oder von einer spezifischen Regelungssituation in den Mitgliedstaaten ausgegangen ist.126

_____ 119 Hess, IPRax 2006, 348, 354; Müller, FS Mayer (2011), S. 408. 120 Näher Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 48–52. Zu den Präambeln von EU-Vertrag und EG-Vertrag nur Streinzders., Präambel EUV Rn. 17–19, Präambel AEUV Rn. 10–14. 121 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 32 (Presseerklärung). 122 GA Stix-Hackl, SchlA v. 25.11.2003 – Rs. C-222/02 Paul ./. Deutschland, Slg. 2004, I-9425 Tz. 132. Daher sind die Begründungserwägungen nicht der systematischen Auslegung zuzuordnen; a.M. Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 191 f. 123 Bengoetxea, The Legal Reasoning of the European Court of Justice, S. 236; Bleckmann, ZGR 1992, 364, 365; Lutter, JZ 1992, 593, 603; teils a.A. Daig, FS Zweigert (1981), S. 409 f. („implizite Verweisung“). 124 S.a. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 38 f. 125 S. nur Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 901, 906, 926 f. mwN. 126 Vgl. z.B. EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017 Rn. 18. Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

215

4. Die teleologische Auslegung127 a) Regelungszweck und Angleichungszweck Weil Rechtsregeln dazu dienen, die Lebensverhältnisse in der Zukunft zu gestalten, kommt ih- 41 rem Regelungszweck für die Auslegung eine entscheidende Bedeutung zu.128 Zu ermitteln ist primär der historische Gesetzeszweck (oben Rn. 11).129 Für ihn liefern im Europäischen Privatrecht vor allem die Begründungserwägungen Anhaltspunkte (Rn. 35).130 Zudem kann auch die vom Gesetzgeber gewählte Kompetenzgrundlage Aufschluss über das verfolgte Ziel geben.131 Die gewählte Kompetenznorm kann, wenn sich schon der Gesetzgeber auf deren Grenzen bezogen hat, schon im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigt werden, sonst im Rahmen der systematischteleologischen Auslegung. Dabei handelt es sich dann ggf. um einen Anwendungsfall der primärrechtskonformen Auslegung.132 Die „kompetenzkonforme Auslegung“ wird besonders im Europäischen Arbeitsrecht diskutiert, nämlich im Hinblick auf die Beschränkungen in Art. 153 AEUV.133 So hat man z.B. erwogen, ob der Anwendungsbereich des Diskriminierungsverbots in der Leiharbeitsrichtlinie mit Rücksicht auf die Ausnahme des Arbeitsentgelts von der Regelungskompetenz der Union einschränkend auszulegen ist.134

Soweit es um den inhaltlichen Regelungszweck geht, darf man sich freilich nicht mit allgemei- 42 nen Zweckrichtungen begnügen, etwa dem „Verbraucherschutz“, dem „Arbeitnehmerschutz“ oder dem „Urheberschutz“.135 Diese generellen Schutzrichtungen sind für die teleologische Auslegung schon deswegen ungeeignet, weil sie völlig unspezifisch sind, so dass sie in vielen Fällen nicht einmal eine Richtung weisen: Dient es dem Verbraucherschutz, wenn man dem Fernabsatzerwerber oder dem Pauschalreisenden mehr Informationen gibt oder entsteht so nicht eine Informations-Überforderung?136 Die erforderliche Bewertung von – z.B. – Verbraucher- und Unternehmerinteressen hat der Gesetzgeber im Europäischen Privatrecht regelmäßig differenziert vorgenommen. Für die teleologische Auslegung sind daher die spezifischen Zwecke einzelner Regelungen herauszuarbeiten, z.B. der Zweck der Widerrufsrechte, die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Geschützten zu wahren. Im Schrifttum wird öfter eine Eindimensionalität des Schutzzweckdenkens im (Verbraucher-) 43 Vertrags- und Arbeitsrecht gerügt.137 Der Kritik ist zuzugeben, dass die Privatrechtsetzung durch die EU meist dem Schutz einer bestimmten Personengruppe dient, und dieser Schutzzweck von

_____ 127 Zu den aus dem nationalen Recht bekannten und auch vom EuGH verwandten Schluss-Figuren (a fortiori; a maiore ad minus; e contrario; ad absurdum), die weithin der teleologischen Auslegung zuzuordnen sind, etwa Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 219 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 326 ff. 128 S. z.B. EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Honyvem, Slg. 2006, I-2879 Rn. 17–22, 26; eingehend Maduro, EJLS 1 (2007), S. 4 ff. 129 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 159. 130 Z.B. EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 42; EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihatsu, Slg. 1997, I-6843 Rn. 22; EuGH v. 19.11.1996 – Rs. C-42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-60 Rn. 13; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 12; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 579 f. 131 So im Grundsatz EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 61. 132 Dazu mit Beispielen Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 8, 35. S.a. Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 4 Rn. 59. 133 Eingehend Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 68. 134 Dazu nur Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 10–12 mwN sowie EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 105–133. 135 Ebenso Herresthal, ZEuP 2009, 600, 603 f. 136 S. nur Martinek, in: Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken, S. 518–530. 137 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 461–465 (sprachlich im Anschluss an Schoch, JZ 1995, 109, 117 f.); ihm folgend etwa Junker, NZA 1999, 2, 10; Kaiser, NZA 2000, 1144, 1147. S.a. Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 19 f. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

der Rechtsprechung und auch Vertretern der Lehre teilweise über Gebühr berücksichtigt wird (s.a. unten Rn. 57–61 gegen einen Auslegungsgrundsatz „pro consumente“). Bei der Auslegung ist zum einen der – nach wie vor in vielen Bereichen – punktuelle Charakter der Regelung mitzuberücksichtigen, bei dem vorausgesetzt ist, dass es daneben noch eine Fülle mitgliedstaatlicher Regeln gibt.138 Zum anderen ist zu beachten, dass auch etwa verbraucher- oder arbeitnehmerschützende Regelungen die Interessen des Vertragspartners regelmäßig nicht völlig unberücksichtigt lassen, sondern durch inhaltliche Regeln (etwa die Anzeigeobliegenheit des Pauschalreisenden oder die arbeitsschutzrechtlichen Pflichten des Arbeitnehmers) sowie Vorschriften über den Anwendungsbereich berücksichtigen.139 Im Fall Messner hat der EuGH unter Berufung auf den Schutzzweck des Widerrufsrechts nach Art. 6 Fernabsatzrichtlinie140 (FARL) und seine effektive Durchsetzung – sehr weitgehend – angenommen, es sei mit den Richtlinienvorgaben unvereinbar, dem Verbraucher „generell“ eine Pflicht aufzuerlegen, im Fall des Widerrufs Wertersatz für die zwischenzeitliche Nutzung der gekauften Ware zu zahlen.141 Zustimmung verdient aber die weitere Hervorhebung: „Die Richtlinie 97/7 hat jedoch, auch wenn sie den Verbraucher in der besonderen Situation eines Vertragsabschlusses im Fernabsatz schützen soll, nicht zum Ziel, ihm Rechte einzuräumen, die über das hinausgehen, was zur zweckdienlichen Ausübung seines Widerrufsrechts erforderlich ist. Demzufolge stehen die Zielsetzung der Richtlinie 97/7 und insbesondere das in ihrem Art. 6 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 festgelegte Verbot grundsätzlich Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen, wonach der Verbraucher einen angemessenen Wertersatz zu zahlen hat, wenn er die durch Vertragsabschluss im Fernabsatz gekaufte Ware auf eine mit den Grundsätzen des bürgerlichen Rechts wie denen von Treu und Glauben oder der ungerechtfertigten Bereicherung unvereinbare Art und Weise benutzt hat.“142

44 Neben den inhaltlichen Regelungszwecken sind für die Auslegung subsidiär die formalen Rege-

lungszwecke jeder Privatrechtsangleichung in der Europäischen Union zu berücksichtigen, nämlich die Rechtsvereinheitlichung,143 besonders die Beseitigung von Wettbewerbsverzerrungen,144 und ihre Funktion zur Herstellung eines Binnenmarktes.145 Insofern trifft zu, dass im Falle von Konflikten zwischen mehreren Regelungszwecken im Zweifel der integrationsfreundlichen Auslegung der Vorzug zu geben ist.146 Vermittelt über diesen allgemeinen Zweck der Privatrechtsangleichung kommt man so zu einer Auslegung privatrechtlicher Vorschriften nach den Zwecken des EUV und des AEUV.147 Kann der historische Gesetzeszweck nicht sicher ermittelt werden, so ist der Zweck festzustellen, dem die Regelung nach objektiven Anhaltspunkten dient. Hierzu ist neben dem Wortlaut vor allem der äußere und innere Zusammenhang mit anderen Vorschriften festzustellen.

_____ 138 S. z.B. EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, Slg. 2009, I-7315 Rn. 25 f. Allgemein zur Berücksichtigung des fragmentarischen Charakters bei der Auslegung Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 554 f. 139 S.a. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 62. 140 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 141 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, Slg. 2009, I-7315. Ebenso schon Micklitz, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Band IV (40. Aufl. 2009), A 3 (FARL) Rn. 85; abl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 343 (von der Richtlinie nicht geregelt). 142 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, Slg. 2009, I-7315 Rn. 25 f. 143 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6 (Rechtssicherheit und Rechtsklarheit als Angleichungszweck); Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 241 f., 258, 276 f.; Canaris, JZ 1987, 543, 549. 144 EuGH v. 12.3.2002 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Rn. 21. 145 EuGH v. 2.2.1994 – Rs. C-315/92 Clinique, Slg. 1994, I-317 Rn. 12 f. 146 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 580; zum Einheitsrecht auch Canaris, JZ 1987, 543, 549. Krit. Herresthal, ZEuP 2009, 600, 605. 147 Aufgrund dieser bloß mittelbaren Wirkung haben die Vertragsziele daher nur geringere Bedeutung bei der Auslegung des Europäischen Privatrechts, Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 457. Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

217

Im Fall Haaga hatte der EuGH zu entscheiden, ob nach Art. 2 Abs. 1, 3 Publizitätsrichtlinie die Alleinvertretungsbefugnis des einzigen GmbH-Geschäftsführers in Deutschland im Handelsregister zu veröffentlichen ist, obwohl sie sich schon aus dem Gesetz ergibt. Der EuGH bejaht diese Frage vor allem deshalb, weil die gesetzliche Vertretungsbefugnis zwar in Deutschland bekannt sein mag, nicht aber interessierten Dritten anderer Mitgliedstaaten. Zweck der Publizitätsvorschrift sei aber gerade, Rechtssicherheit für interessierte Dritte aus anderen Mitgliedstaaten im gemeinsamen Markt herzustellen (BE 1 der Richtlinie und Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV).148

b) Teleologische Auslegung und „praktische Wirksamkeit“ (effet utile) Der Gerichtshof beruft sich in seiner Rechtsprechung öfter auf das Gebot der „praktischen Wirk- 45 samkeit“, den effet utile, den er u.a. auch als Auslegungstopos heranzieht, und zwar auch bei der Auslegung von Sekundärrecht.149 Dabei zeichnen sich zwei unterschiedliche Verwendungen des Gedankens ab.150 Zum einen stützt sich der Gerichtshof auf den effet utile, um zu begründen, dass einer europäischen Regelung „nicht jede praktische Wirksamkeit genommen“ werden dürfe. Das ist ein altbekannter und weithin unproblematischer Auslegungsgrundsatz, wonach eine Regelung so auszulegen ist, dass sie nicht sinnentleert wird.151 Zum anderen wird der effet utile herangezogen um zu begründen, dass ein Regelungsziel so weit wie möglich oder bestmöglich erreicht werden soll.152 Auch hier geht es um einen Vergleich von Regelungszweck und praktischem Ergebnis, so dass man den Auslegungsgrundsatz der teleologischen Auslegung zuordnen kann.153 Gerade bei privatrechtlichen Regelungen, die stets gegenläufige Interessen Privater ausgleichen, besteht indes die Gefahr, unter dem Deckmantel der praktischen Wirksamkeit einseitig die Interessen einer Seite zu berücksichtigen („Eindimensionalität“; soeben Rn. 43).154 Bevor man die „praktische Wirksamkeit“ untersucht, ist daher geboten, den Regelungszweck mit Rücksicht auf den gesetzgeberischen Ausgleich der gegenläufigen Interessen sorgfältig herauszuschälen.155 Dass dabei einseitig ein Interesse unter Hintanstellung gegenläufiger Interessen „so weit wie möglich“ durchgesetzt werden soll, ist in einem differenzierten Privatrecht eher die Ausnahme. Vor allem im Rahmen der Rechtsfortbildung mit Rücksicht auf den effet utile sind die organkompetenziellen Grenzen der Gerichte zu beachten, auch bei der Auslegung nach dem

_____ 148 EuGH v. 12.11.1974 – Rs. 32/74 Haaga, Slg. 1974, 1201 Rn. 6; GA Mayras, ebd., S. 1214 f. 149 EuGH v. 3.9.2009 – Rs. C-489/07 Messner, Slg. 2009, I-7315 Rn. 24; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 69; EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 15, 21; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178, 179, 188, 189, 194/94 Dillenkofer, Slg. 1996, I-4845 Rn. 22; s.a. EuGH v. 1.10.2002 – Rs. C-167/00 Henkel, Slg. 2002, I-8111 Rn. 35 (EuGVÜ); EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-96/00 Gabriel, Slg. 2002, 6367 Rn. 37. Monographisch jetzt Tomasic, Effet utile. 150 Potacs, EuR 2009, 465, 467 f.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 805 f.; vgl. auch Hess, IPRax 2006, 348, 357 f.; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft (2003), S. 8 f. 151 Honsell, FS Krejci, S. 1930 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 464; auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 94 f.; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 14. 152 Noch weitergehend Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 289 f., 391 („größtmögliche Wirkung“). 153 Honsell, FS Krejci, S. 1933; Mosiek, Effet utile und Rechtsgemeinschaft (2003), S. 7; s.a. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration (1996), S. 145 f. A.M. Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 272–280 aufgrund einer empirischen Analyse der EuGH-Rechtsprechung („sechste Auslegungsmethode“; S. 276 f. spricht Seyr freilich davon, es handele sich um eine „gesteigerte, potenzierte Form der Teleologie“). 154 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 466 f. 155 In der Tat richtet sich die Kritik „nicht gegen den effet utile als Argumentationsfigur, sondern gegen seine Verwendung zur Ausweitung des Gemeinschaftsrechts“; Honsell, FS Krejci, S. 1937. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

effet utile zudem die verbandskompetentiellen Grenzen, die sich insbesondere aus der begrenzten Einzelermächtigung ergeben.156

c) Die „Dynamik“ des Europäischen Privatrechts 46 Eine Besonderheit des Europarechts liegt in seinem „evolutiven Charakter“. Über die bloße Ver-

änderlichkeit, der jede Rechtsordnung unterliegt, ist das Europarecht von Primärrechts wegen (vgl. Präambel AEUV) auf eine zunehmende Verdichtung angelegt. Diese „Dynamik“ – der „Entwicklungsstand“ des Unionsrechts – ist auch bei der Auslegung zu berücksichtigen.157 Entwicklungsoffen ausgeformt ist allerdings das Primärrecht weit mehr als das Sekundärrecht. Ungeachtet seiner Dynamik beginnt die Auslegung des Europarechts zunächst beim Wortlaut der Regelung aus. Soweit der Europäische Gesetzgeber bei einer späteren Ergänzung des Europäischen Privatrechts von der Möglichkeit keinen Gebrauch macht, die bestehenden Regeln zu ändern, ist das ein Anzeichen dafür, dass ihr Regelungsgehalt unverändert bleiben soll. Gerade eine am inneren System orientierte Auslegung kann aber dabei nicht stehenbleiben. Denn weil und soweit bei der Auslegung einzelner Vorschriften auch die der Rechtsordnung als Ganzes zugrundeliegenden Prinzipien und ihr Ausgleich zu berücksichtigen sind, kann eine Neuregelung auch ohne Änderung des Textes der bestehenden Regelungen Einfluss auf deren Auslegung haben.158 Erscheint z.B. eine Regelung zunächst als vielleicht systemfremde Ausnahme, so kann die Hinzufügung weiterer entsprechender Regelungen ergeben, dass der zugrundeliegende Regelungsgedanke damit vom Gesetzgeber zu einem allgemeingültigen Prinzip erhoben wird.159 Soweit der Wortlaut der Regelung das zulässt, kann daher aufgrund nachträglicher Entwicklungen auch bei unverändertem Wortlaut eine andere Auslegung geboten sein. Anlass für die Berücksichtigung von Systemveränderungen könnte sich z.B. ergeben, wenn die Verbraucherkreditrichtlinie dahin ergänzt wird, dass unter ihren Schutz auch Existenzgründungsdarlehen fallen: Dann könnte im Interesse der Wertungseinheit auch die Entscheidung des EuGH im Fall Di Pinto zu überdenken sein, wonach ein Unternehmer auch dann nicht den Schutz der Haustürwiderrufs-Richtlinie genießt, wenn er sein Unternehmen verkauft.160 Auch in dem (freilich primärrechtlichen) Fall El Corte Inglés ging es um Systemwandlungen. Allerdings verneinte der Gerichtshof die Frage, ob nicht aufgrund der Einführung von Art. 129 EGV (jetzt Art. 169 AEUV) verbraucherschützenden Richtlinien entgegen früherer Rechtsprechung unmittelbare Privatrechtswirkung beizulegen sei.161

Selbstverständlich kann allerdings eine Änderung des Regelungsbestandes keine Auslegung (oder Rechtsfortbildung) gegen den Willen des Gesetzgebers rechtfertigen.

_____ 156 Eingehend Tomasic, Effet utile, S. 145 ff., der (a) auf die Grenzen der gegenwärtig in Anspruch genommenen Kompetenzen hinweist und (b) jenseits der Unionskompetenz eine Abwägung mit den Wertungen des (jeweiligen) nationalen Rechts begründet. 157 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 20: „[J]ede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts [ist] … im Lichte … des Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen“. Herresthal, ZEuP 2009, 600, 606 f.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 474 ff. (für das Sekundärrecht mit Recht zurückhaltend); Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 65; Tomasic, Effet utile, S. 63; für eine eigenständige Auslegungsmethode Adrian, Grundprobleme einer (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 412 f. 158 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 63 f., 67–72. 159 Vgl. Zöllner, WM 2000, 1, 3 f. 160 EuGH v. 14.3.1991 – Rs. C-361/89 Di Pinto, Slg. 1991, I-1189 Rn. 14–19. 161 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281 Rn. 15–21. Riesenhuber

§ 10 Die Auslegung

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Zu Recht hat daher der EuGH in der Rechtssache Schulte eine richterliche Ergänzung der Haustürgeschäfterichtlinie um eine Regelung über verbundene Geschäfte abgelehnt: „Während andere Richtlinien der Gemeinschaft, die die Interessen der Verbraucher schützen sollen, u.a. die [Verbraucherkredit-]Richtlinie 87/102, Vorschriften über verbundene Verträge enthalten, enthält die (…) [Haustürgeschäfte-]Richtlinie keine solche Vorschrift und bietet auch keine Grundlage für die Annahme, dass es stillschweigend derartige Vorschriften gibt.“162

d) Leitbilder als Hilfsmittel der teleologischen Auslegung Besonders im Recht gegen den unlauteren Wettbewerb und in der Grundfreiheitenrechtspre- 47 chung wird in Entscheidungen öfter auf ein Verbraucherleitbild Bezug genommen, das für die Auslegung fruchtbar gemacht wird. Der Verbraucher wird verstanden als ein „durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher“.163 Daneben können auch andere Leitbilder eine Rolle spielen, beispielsweise ein Unternehmerleitbild. Bei diesen Leitbildern handelt es sich um Kurzformeln, die die Rechtsanwendung erleichtern sollen, so wie sie in ähnlicher Weise im nationalen Recht verwendet werden, z.B. zur Konkretisierung eines Sorgfaltsmaßstabs. Die Leitbilder liegen auf einer mittleren Ebene zwischen Prinzipien und Regel (bzw. Tatbestandselement). Ihre Attraktivität für den Rechtsanwender rührt besonders daher, dass sie nicht „reine“ Prinzipien ausdrücken (z.B. Vertragsfreiheit oder Selbstverantwortung), sondern schon einen Prinzipienausgleich enthalten oder doch darauf hinweisen. Auf diese Weise können Leitbilder eine zentrale Rolle bei der Auslegung spielen – und be- 48 dürfen daher der Rechtfertigung.164 Tatsächlich ist die Gefahr groß, dass der Rechtsanwender hier schlichtweg seine eigenen rechtspolitischen Vorstellungen in ein Leitbild projiziert. Daher muss etwa ein Verbraucherleitbild aus dem positiven Recht begründet werden.165 Der Grad der Selbstverantwortung kann nicht nach dem subjektiven Empfinden des Einzelnen bestimmt werden, sondern muss aus dem Gesetz hergeleitet sein. Dabei ist zudem zu beachten, dass ein solches Leitbild für verschiedene Rechtsgebiete unterschiedlich ausfallen kann, – ganz entsprechend dem unterschiedlichen Gewicht, das einzelnen Prinzipien für einzelne Rechtsbereiche zukommt. Das Prinzip der Selbstverantwortung hat im Vertragsrecht anderes Gewicht als im Produkthaftungsrecht und dementsprechend müssen die aus dem Verbraucherleitbild abgeleiteten Verhaltensanforderungen unterschiedlich ausfallen. Im Ergebnis bedeutet das, dass ein Leitbild als Kurzformel für die dahinterstehenden Prin- 49 zipien ein nützliches Hilfsmittel für die teleologische Interpretation sein kann. Aus dem Leitbild kann man indes nicht mehr herausholen, als man vorher hineingelegt hat. Aus einem Leitbild allein kann man Lösungen sowenig ableiten wie aus einem Begriff.

_____ 162 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 76. 163 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder ./. Lancaster, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; EuGH v. 12.3.1987 – Rs. 178/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1987, 1227 Rn. 31–36 (Reinheitsgebot); EuGH v. 7.3.1990 – Rs. C-362/88 GB-INNO, Slg. 1990, I-683 Rn. 13–19; EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93, Verein gegen Unwesen im Wettbewerb ./. Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 24; Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236– 1241. 164 Howells, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 118. 165 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 427; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 264 ff. Zu pauschal daher Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 197 ff., die ihr Verbraucherleitbild nicht näher begründet.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

IV. Rangfolge der Auslegungskriterien 50 Soll das Ergebnis der Auslegung nicht beliebig sein, so ist zu überlegen, in welchem Verhältnis

die Auslegungskriterien stehen und ob einem Aspekt oder verschiedenen der Vorzug gebührt.166 Dabei geht es nicht nur um eine Reihenfolge des Vorgehens bei der Auslegung,167 sondern um eine Rangfolge für die Fälle, dass unterschiedliche Kriterien für unterschiedliche Ergebnisse sprechen.168 Zu diesem Thema – das mit den zuvor erörterten Fragestellungen des Ziels der Auslegung und der einzelnen Auslegungskriterien eng zusammenhängt – können hier nur einige Ansatzpunkte aufgezeigt werden.169 Nicht mehr als eine pragmatische Faustregel ist die acte clair-Regel,170 nach der dem klaren 51 Wortlaut Vorrang vor anderen Auslegungskriterien zukommen soll (cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio; Dig. 32, 25 § 1). Für das Europäische Privatrecht ist dieser Theorie indes nicht zu folgen (s. schon oben Rn. 15): Einen völlig unzweideutigen Gesetzeswortlaut findet man bei der bestehenden Sprachenvielfalt praktisch nie und die Frage der Eindeutigkeit ist schon ein Auslegungsergebnis. Daher ist der Wortlaut allein nie ausreichend.171 Auch die Subsidiaritätsthese Bydlinskis gibt nur eine erste Handhabe: Von einem einfachen Auslegungskriterium (Wortlaut und Systematik) müsse der Rechtsanwender dann nicht zu einem schwierigeren (Geschichte) übergehen, wenn schon das einfachere zu einem auch teleologisch überzeugenden Ergebnis führt.172 Richtigerweise geht diese Regel ohnehin über die acte clairTheorie hinaus, da sie eine teleologische Absicherung verlangt.173 52 Die primärrechtskonforme Auslegung174 betrifft zunächst das Auslegungsergebnis. Wenn von mehreren möglichen Auslegungsergebnissen einzelne als primärrechtswidrig ausgeschlossen werden, kann dies freilich auch im Wege der Gewichtung der Auslegungskriterien erfolgen. Da das Primärrecht (bzw. Verfassungsrecht) nur die äußersten Grenzen setzt, folgt aus dieser Vorrangregel zumeist freilich keine definitive Entscheidung einer Auslegungsfrage.175 Alternative zu einer primärrechtskonformen Auslegung ist die Nichtigkeit der Norm; diese Folge ist vorzuziehen, wenn das rangkonforme Ergebnis mit dem Willen des Gesetzgebers unvereinbar ist. Es entspricht der auf dem Demokratie- und Gewaltenteilungsprinzip fundierten, im Grund53 satz zu befolgenden subjektiven Theorie (Rn. 11), dem aus dem Gesetzeswortlaut erkennbaren subjektiven Willen des Gesetzgebers Vorrang zukommen zu lassen.176 Der aus dem Gesetz zu-

_____ 166 A.M. Millett, Stat.L.R. 1989, 163, 173; auch Zuleeg, EuR 1969, 97 99. Krit. gegenüber (der Möglichkeit von) allgemeinen Vorrangregeln Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 499 ff. 167 Vornehmlich dazu verhält sich Kramer, Methodenlehre, S. 179–181. 168 Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 434, beschränken den Konfliktbegriff auf Fälle des „frontalen Gegensatzes“, der nicht vorliegt, wenn mehrere Auslegungskriterien (Konkretisierungselemente) neben einem gemeinsamen Schnittbereich der möglichen Auslegungsergebnisse noch andere, nicht gemeinsam begründbare Ergebnisse zulassen. Auch wenn ein Element unergiebig ist, liegt kein Konflikt vor. 169 Zum Diskussionsstand in der deutschsprachigen Methodenlehre Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 553– 571; Canaris, FS Medicus, 25–61; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 205–224; Looschelders/ W. Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung (1996), S. 192–197; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 433–448; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 111–131; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 390–393, 400–427. 170 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 79/77 Kühlhaus Zentrum, Slg. 1978, 611 Rn. 6. 171 Ähnlich Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 247 („bloße Hilfsfunktion“). 172 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 556–558, 559; Canaris, FS Medicus, S. 34. Einschränkend Kramer, Methodenlehre, S. 181. 173 Ebenso Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 293. 174 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 52 f. 175 Weitergehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 44–51. 176 Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 249 f. (Anm. 106b); Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 112–114.

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§ 10 Die Auslegung

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mindest irgendwie erkennbare Wille des Gesetzgebers hat daher auch Vorrang vor objektivteleologischen oder teleologisch-systematischen Erwägungen.177 Umgekehrt hat der Gerichtshof aber auch hervorgehoben, dass der Wille des Gesetzgebers nur beachtlich sei, wenn er sich im Wortlaut niedergeschlagen hat (s.a. oben Rn. 38).178 Soweit es bei der systematischen Auslegung (auch) darum geht, den Forderungen nach Einheit und Folgerichtigkeit des Gesetzes zu genügen, kann sich diese Auslegung oft genug schon auf einen wahren oder zu vermutenden Gesetzgeberwillen berufen. Wenn indes ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers erkennbar ist, so geht dieser den Systemgeboten (bis zur Grenze der Willkür) vor.179 Schließlich ist dem Zweck einer Regelung größeres Gewicht beizulegen als ihrem Wort- 54 laut.180 Gesetzliche Regelungen dienen der Erfüllung von Zwecken. Soll die Auslegung nicht zu einer „öden Buchstabenjurisprudenz“181 verkümmern, so versteht sich, dass der Rechtsanwender sich nicht mit den äußeren Anzeichen – Wortlaut und äußere Systematik – für den Bedeutungsgehalt begnügen kann, sondern versuchen muss, den Regelungszweck zu ermitteln und, soweit das im Rahmen der Auslegung und der zulässigen Rechtsfortbildung möglich ist, zu verwirklichen. Mit diesen Vorrangregeln sind indes nur die wichtigsten Fälle der möglichen Kollisionen 55 von Auslegungsergebnissen durch Vorrangregeln gelöst. Die Auslegung ist nicht durch ein vollständiges System von Kollisionsregeln determiniert. In weiten Teilen kann die Auslegungslehre nur dazu dienen, die möglichen Auslegungsargumente aufzuzeigen und allgemeine Regeln aufzustellen, die für die Gewichtung der einzelnen Argumente im Einzelfall von Bedeutung sein können. Eine erschöpfende Aufzählung aller möglichen Gewichtungsregeln erscheint dabei allerdings nicht möglich, vielmehr zeichnet sich ab, dass die Auslegungsargumente außerhalb der Reichweite fester Vorrangregeln gemäß der Methode des beweglichen Systems je nach Zahl und Gewicht zu bewerten sind.182

V. Einzelne Auslegungsregeln Zum Schluss sind zwei Auslegungsregeln zu erörtern, die (insbesondere) im Europäischen Pri- 56 vatrecht öfter erwähnt werden. Für das Verbraucher(privat)recht soll es nach Auffassung mancher eine Zweifelsregel in dubio pro consumente geben (1). Und ganz allgemein findet sich vor allem in der Rechtsprechung des EuGH die Regel, Ausnahmen seien „eng“ auszulegen (2).

_____ 177 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 132; Grigoleit, ZNR 30 (2008), 259, 263 f.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 122 f.; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 9. Dezidiert a.M. Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 907 ff., 920 ff.; Baldus/Vogel, FS Krause (2006), S. 245 (untergeordneter Platz der historischen Auslegung). 178 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18 f.; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-2929/94 Denkavit International u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 29. 179 Canaris, Systemdenken und Systembegriff, S. 112 ff. 180 Siehe nur EuGH v. 17.3.1998 – Rs. C-45/96 Bayerische Hypotheken und Wechselbank ./. Dietzinger, Slg. 1998, I-1199 Rn. 19; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-112/99 Toshiba, Slg. 2001, I-7945 Rn. 35 f.; s.a. Art. 1:106 Principles of European Contract Law und dazu Lando/Beale, Principles of European Contract Law, Part I and II (1999), S. 108 f.; Canaris, FS Medicus, S. 50–52; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 221 f.; Kropholler, Internationales Einheitsrecht (1975), S. 276. Gerade dagegen krit. aber Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 501 f.; Adrian, Grundprobleme einer (gemeinschaftsrechtlichen) Methodenlehre, S. 498 f. 181 Canaris, FS Medicus (1999), S. 34. 182 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 555 f.; Canaris, FS Medicus, S. 58 f.; Raisch, Vom Nutzen der überkommenen Auslegungskanones für die praktische Rechtsanwendung (1988), S. 53; Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 293, 312 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006), S. 617. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1. „In dubio pro consumente“?183 57 Von manchen Autoren wird angenommen, verbraucher(privat)rechtliche Vorschriften seien „im

Zweifel zugunsten des Verbrauchers“ auszulegen.184 Gleichsam verstärkend wird der Grundsatz lateinisch formuliert: in dubio pro consumente.185 Auch in anderen Rechtsgebieten wird Ähnliches erörtert, etwa ein urheberrechtlicher Auslegungsgrundsatz in dubio pro auctore, ein arbeitsrechtlicher favor laboris.186 Die primärrechtliche Begründung für den Auslegungsgrundsatz zugunsten von Verbrauchern wird in der von Art. 114 Abs. 3 AEUV geforderten „Orientierung am hohen Schutzniveau“ gesehen;187 das verstehen manche als „Zielvorgabe“, die durch die Auslegungsmaxime zur Geltung gebracht werde.188 Die EuGH-Entscheidungen, aus denen der Grundsatz abgeleitet wird,189 sprechen ihn freilich nicht aus und sind mit herkömmlichen methodischen Mitteln begründet. Diese Auslegungsregel ist abzulehnen. Sie ist von ihren Verfechtern schon nicht tragfähig 58 begründet, wegen ihrer Unbestimmtheit unausführbar und zudem wegen ihrer Einseitigkeit mit einem differenzierten (Verbraucher-)Privatrecht unvereinbar. In der Rechtsprechung ist der Grundsatz soweit ersichtlich auch nicht tragend geworden.190 Art. 114 Abs. 3 AEUV trägt den Auslegungsgrundsatz nicht. Die Vorschrift bindet keineswegs 59 die Gesetzgebung unbedingt, sondern schreibt nur vor, dass die Kommission bei ihren Vorschlägen von einem hohen Schutzniveau ausgehen, Parlament und Rat dies anstreben sollen. Ein hohes Schutzniveau muss sich indes im letztlich verabschiedeten Rechtsakt nicht notwendig auch durchsetzen, zumal die Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV einem spezifischen Binnenmarktzweck dient. Verbraucherschutz kann in aller Regel nicht der einzige Zweck eines Angleichungsrechtsakts sein. Mindeststandardklauseln in zahlreichen Verbraucherschutz-Rechtsakten bestätigen das. 60 „Verbraucherschutz“ ist zudem viel zu vage, um eine Zweifelsregel sinnvoll zu unterfüttern (s. oben Rn. 42).191 Soll etwa im Zweifel die Auslegung regieren, die den im konkreten Fall betroffenen Verbraucher am besten schützt; das mag z.B. für eine Kollektivierung von Kosten in Form einer faktischen Zwangsversicherung sprechen. Oder soll es um den Schutz der Verbraucher als Gruppe gehen; dann mag eine individuelle Kostentragung vorzugswürdig sein. Diese Unbestimmtheit illustrieren bezeichnenderweise gerade die Fälle, die den Verfechtern Anlass für den

_____ 183 Eingehend Riesenhuber, JZ 2005, 829–835 und JZ 2006, 404 f. gegen Rösler und Tonner, JZ 2006, 400–404. Der hier vertretenen Position zust. Palandt-Heinrichs, Einl. Rn. 50a; Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 292; Leenen, Jura 2012, 753, 758. Zum „favor laboris“ Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 19 f. 184 Tonner, EuZW 2002, 403 f.; Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 6 f. Offengelassen von EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 59–61. 185 Da das römische Recht einen Verbraucherschutz im modernen Sinne so wenig kannte wie das gemeine Recht, muss freilich die Suche nach einem treffenden lateinischen Begriff fruchtlos bleiben. In der Sache kann auch die lateinische Fassung dem Auslegungsgrundsatz keine größere Dignität verschaffen. Zur sprachlichen Fassung treffend Adomeit, JZ 2006, 557. 186 Dazu Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 19 f. 187 GA Tizzano, SchlA v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26. Andeutungsweise Tonner, EuZW 2002, 403 f. 188 Rösler, Europäisches Konsumentenvertragsrecht (2004), S. 7. 189 EuGH v. 30.4.2002 – Rs. C-400/00 Club-Tour, Slg. 2002, I-4051; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499. S. ferner GA Tizzano, SchlA v. 20.9.2001 – Rs. C-168/00 Leitner, Slg. 2002, I-2631 Tz. 26; ders., SchlA v. 17.1.2002 – Rs. C-400/00 Club Tour, Slg. 2002, I-4051 Tz. 21; GA Saggio, SchlA v. 25.6.1998 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Tz. 17. 190 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 59–61. 191 Vgl. auch Herresthal, ZEuP 2009, 600, 604. Gegen die Anerkennung von Verbraucherschutz als Rechtsprinzip (auch) aus diesem Grunde Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 575. Riesenhuber

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Grundsatz erschienen. Dort ging es nämlich ausgerechnet um die Auslegung der Pauschalreiserichtlinie, die nun gerade nicht den Verbraucher schützt, sondern jeden (Pauschal-)Reisenden, auch den Geschäftsmann, der etwa Tagung und Unterkunft gebucht hat.192 Auch die bereits angesprochene Frage (oben Rn. 42), ob mehr oder weniger Information im Verbraucherinteresse ist, illustriert die Problematik. Endlich würde aber eine einseitige Zweifelsregel zugunsten von Verbrauchern die Preisgabe 61 einer differenzierten Rechtsetzung und Dogmatik bedeuten. Wenn das Verbraucherschutzrecht einen Ausgleich von Unternehmer- und Verbraucherinteressen darstellt, dann verträgt sich damit eine einseitige Begünstigung des Verbrauchers nicht. Nicht ausgeschlossen ist damit indes selbstverständlich, den Verbraucherschutzzweck einer Regelung bei der teleologischen Auslegung mitzuberücksichtigen. Dann freilich ist dieser Zweck in der vom Gesetzgeber konkretisierten Form zugrundezulegen, nämlich in seiner konkreten Ausformung (z.B. Schutz der wirtschaftlichen Selbstbestimmung) und unter Berücksichtigung etwaiger vom Gesetzgeber beachteter gegenläufiger Interessen.193

2. Sind Ausnahmeregeln „eng“ auszulegen? Eine aus dem nationalen Recht bekannte und alte Frage ist, ob Ausnahmeregeln „eng“ auszule- 62 gen sind.194 So klar (jedenfalls) die deutschsprachige Literatur die pauschale Frage verneint,195 so persistent ist die bejahende Antwort in der Rechtsprechung des EuGH:196 singularia non sunt extendenda. Vor dem Bemühen des Gerichts, der Integration effektive Geltung zu verschaffen, ist diese 63 Haltung verständlich.197 Dahinter dürfte die Annahme stehen, Ausnahmevorschriften seien Ausdruck dafür, dass das eigentliche Angleichungsziel schon im Gesetzgebungsverfahren durch Kompromisse eingeschränkt wurde. Um die Rechtsangleichung so weit wie möglich durchzusetzen, müssten die Ausnahmen daher möglichst beschränkt werden.197a Mit diesen Überlegungen ginge es freilich in Wahrheit gar nicht um den „Ausnahmecharakter“ einer Vorschrift, sondern um ihre mangelnde teleologische Begründung. Die Vorschrift wird maW nicht als Ausnahme eng

_____ 192 Die Regelung ist daher nur formal dem Verbraucherschutzrecht zuzuordnen; Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 5 Rn. 16 ff. 193 I.Erg. auch Micklitz/Rott, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (34. EL 2013), H.V. Rn. 102. 194 Zur Herkunft des Grundsatzes Knütel, JuS 1996, 768, 772; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 516–518. 195 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 440; Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370; Wank, Die Auslegung von Gesetzen (3. Aufl. 2005), S. 66. S.a. Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 39; Schmidt-Kessel, ebd., § 17 Rn. 41. 196 S. nur EuGH v. 28.10.2010 – Rs. C-203/09 Volvo Car, Slg. 2010, I-10721 Rn. 42; EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-465/04 Honyvem, Slg. 2006, I-2879 Rn. 24; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 67; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 31; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 15; Colneric, ZEuP 2005, 225, 228; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 26. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH bei Schilling, EuR 1996, 44–57 (nur im Ergebnis der EuGH-Rechtsprechung [„im Ganzen“] zustimmend, in der Sache aber differenzierte Begründungen fordernd); s.a. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449 f., 456 f.; Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. 1, S. 371–373. 197 S.a. Schilling, EuR 1996, 44, 46 f. mit dem Hinweis, dass generell ein fundamentales Rechtsgut oder ein allgemeines Prinzip die enge Auslegung von Ausnahmen gebieten können. Das ist eine Form der prinzipiell-systematischen Auslegung, die auch sonst (nicht nur in Bezug auf Ausnahmen) Platz greifen kann; s. z.B. EuGH v. 12.11.1969 – Rs. 29/69 Stauder, Slg. 1969, 419 Rn. 3–4. 197a S. nun auch Ulber, EuZA 2014, 202, 207 f. Riesenhuber

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2. Teil: Allgemeiner Teil

ausgelegt, sondern als teleologische Verfehlung. Damit ist die richtige Richtung gewiesen: Auch Ausnahmevorschriften sind nach den herkömmlichen Methoden auszulegen. Dabei kann die Tatsache, dass es sich um eine Ausnahme von einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse oder von einer grundlegenden Regel handelt, für die (systematisch-)teleologische Bedeutung von entscheidendem Gewicht sein.198 Will man die letztgenannte Erwägung berücksichtigen, dass eine Vorschrift von einem 64 Grundsatz abweicht, so muss man freilich zuerst begründen, dass dies der Fall ist. Ob maW eine Regelung nicht nur formal, sondern auch in der Sache eine Ausnahme darstellt, ist zuerst im Wege der Auslegung zu beantworten.199 Nicht alles, was negativ formuliert ist, ist in der Sache eine Ausnahme.200 Vielmehr kann es sich um eine ergänzende Regelung handeln, durch die die Hauptregel erst ihren eigentlichen Sinn erhält. Gelegentlich stellt eine Vorschrift sowohl technisch, als auch im Hinblick auf den Haupt65 zweck einer Regelung eine Ausnahme dar, trägt sie aber ihrerseits einem fundamentalen Recht oder geschützten Interesse Rechnung. Auch dann kommt eine „enge“ Auslegung nicht in Betracht. Ein Beispiel ist die Beschränkung der Diskriminierungsverbote in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2004/ 113/EG201 auf „Personen, die Güter und Dienstleistungen bereitstellen, die der Öffentlichkeit ohne Ansehen der Person zur Verfügung stehen“, Art. 3 Abs. 1. Diese Beschränkung ist technisch nicht als Ausnahme formuliert, doch könnte man sie so verstehen. Indes wird darauf hingewiesen, dass Diskriminierungsverbote selbst Ausnahmen vom fundamentalen Grundsatz der Privatautonomie sind, die Beschränkung also eine Bestätigung bzw. Erhaltung der Regel darstellt, keine Ausnahme.202 In der Tat weisen die Begründungserwägungen darauf hin, dass mit der „Ausnahme“ insbesondere zwei verfassungsrechtlich geschützte Rechte gewährleistet werden sollen, die Privatsphäre und die Vereinsfreiheit.203 Eine „enge“ Auslegung wäre daher zweckwidrig.

66 Aber auch wenn eine „echte“ Ausnahme vorliegt, ist diese nicht notwendig „eng“ auszulegen.

Vielmehr muss es hier – wie allgemein – auf die Absicht des Gesetzgebers und die von ihm verfolgten Zwecke ankommen. Denn nicht jede Ausnahme ist mit dem eigentlichen Regelungsanliegen unvereinbar, manche wird von ihm sogar gefordert. Das anerkennt mitunter auch der EuGH und legt Ausnahmen zweckentsprechend weit aus.204 Zum Beispiel mag man an die Ausnahmebereiche der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie denken. Der Gesetzgeber hat u.a. Kaufverträge über Strom von der – den Anwendungsbereich mitbestimmenden – Definition „Verbrauchsgüter“ ausgenommen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass insoweit besondere Vorschriften des Energierechts Anwendung finden können, vor allem aber die Gewährleistung in diesen Fällen keine erhebliche Bedeutung hat.205 Die Ausnahme stellt also den Regelungszweck in keiner Weise in Frage, im Gegenteil, sie bestätigt ihn. Gründe für eine „enge“ Auslegung sind von vornherein nicht ersichtlich.

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_____ 198 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 449 f. 199 Larenz, Methodenlehre, S. 355 f.; Müller/Christensen, Juristische Methodik I, Rn. 370. So z.B. EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, Slg. 2009, 6569 Rn. 56–58. 200 S.a. das primärrechtliche Beispiel der ausgeschlossenen Regelungsbereiche nach Art. 153 Abs. 5 AEUV bei Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 4 Rn. 8 (Grundsatz ist die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten!). 201 Richtlinie 2004/113/EG des Rates v. 13.12.2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 L 373/37. 202 Schöbener/Stork, ZEuS 2004, 43, 78. 203 Riesenhuber/Franck, EWS 2005, 245 f. 204 EuGH v. 3.9.2014 – Rs. C-201/13 Deckmyn, Rn. 22–24; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easycar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 22–36. 205 Vgl. für die entsprechenden Erwägungen bei Art. 2 lit. f) CISG Staudinger-Magnus, Art. 2 CISG Rn. 50. Riesenhuber

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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln 2. Teil: Allgemeiner Teil

Anne Röthel § 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln Röthel Literatur Christian Baldus/Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht. Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive (2006); Jürgen Basedow, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner (1996), S. 651–681; Martin Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft (1999), §§ 15, 16; Stefan Grundmann/Denis Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law, Comparative Law, EC Law and Contract Law Codification (2006); Beate Gsell/Martin Schellhase, Vollharmonisiertes Verbraucherkreditrecht – Ein Vorbild für die weitere europäische Angleichung des Verbrauchervertragsrechts, JZ 2009, 20–29; Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006); ders., Die Regelungsdichte von (vollharmonisierenden) Richtlinien und die Konkretisierungskompetenz des EuGH, in: Beate Gsell/Carsten Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht – die Konzeption der Richtlinie am Scheideweg? (2009), S. 115–161; Nils Jansen, Klauselkontrolle, in: Horst Eidenmüller/Florian Faust/Hans Christoph Grigoleit/Nils Jansen/Gerhard Wagner/Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Revision des Verbraucher-acquis (2011), S. 53–107; Eva-Maria Kieninger, Die Vollharmonisierung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen – eine Utopie?, RabelsZ 73 (2009), 793–817; Irene Klauer, General Clauses in European Private Law and „Stricter“ National Standards, ERPL 8 (2000), 187–210; Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Band II – Europarecht (3. Aufl. 2012); Wendt Nassal, Die Anwendung der EU-Richtlinie über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, JZ 1995, 689–694; Oliver Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; Wulf-Henning Roth, Generalklauseln im Europäischen Privatrecht, in: Jürgen Basedow/Klaus J. Hopt/Hein Kötz (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Drobnig (1998), S. 135–153; Anne Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht (2004); dies., Missbräuchlichkeitskontrolle nach der Klauselrichtlinie: Aufgabenteilung im supranationalen Konkretisierungsdialog, Anmerkung zu EuGH, Urt. v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, ZEuP 2005, 418–427; dies., Generalklauseln als Integrationsmotoren?, GPR 2008, 176–179; Martin Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im Europäischen Privatrecht (2009); Takis Tridimas, The General Principles of EU Law (2. Aufl. 2007); Inke Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002). Rechtsprechung EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941; EuGH v. 1.4.2002 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, Slg. 2009, I-2949; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon, Slg. 2009, I-4713; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing, Slg. 2010, I-10847; EuGH v. 14.3.2013, Rs. C-415/11 Aziz.

I. II.

Übersicht Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung | 3–6 Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union | 7–16 1. Institutionelle Ordnung | 8–11 a) Auslegungsbefugnis des EuGH | 10 b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH | 11 2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz | 12–16 a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht | 13–14

b)

III.

IV.

Rechtsangleichungsintention | 15 c) Anwendung auf die KlauselRichtlinie | 16 Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH | 17–27 1. Rechtsprechungsübersicht | 18–20 2. Grundannahmen der EuGHRechtsprechung | 21–22 3. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung | 23–27 Konkretisierungsmethoden | 28–47

Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1. 2. 3.

Unionsautonome Konkretisierungsmethode | 28–30 Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie | 31–34 Maßstäbe der Rechtsgestaltung | 35–47 a) Referenzordnungen | 36–41 aa) Erfordernis einer unionsautonomen Referenzordnung | 37–40

V.

bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen | 41 b) Prinzipien und Leitbilder | 42–44 c) Der gemeinsame Referenzrahmen | 45–46 d) Auf dem Weg zu einem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht | 47 Konkretisierung als Prozess | 48–49

1 Die Konkretisierung von Generalklauseln nimmt traditionell eine Sonderstellung in Metho-

denfragen ein. Dies gilt gleichermaßen für eine europäische Methodenlehre. Gemeinsam sind den nationalen Rechtsordnungen und dem Unionsrecht auch die Gründe, aus denen sich eine Rechtsetzung mittels Generalklauseln empfiehlt: Einzelne Gegenstände der Rechtsetzung werden delegiert und damit richterlicher Einzelfallbeurteilung überlassen, zugleich werden Freiräume für Flexibilität und Wertungsoffenheit geschaffen. Aus diesen Gründen empfahlen sich Generalklauseln immer wieder den kontinentaleuropäischen Gesetzgebern,1 und auch der Unionsgesetzgeber setzt inzwischen vermehrt auf solche ausfüllungsbedürftigen Begriffe. Prominente Beispiele für diese Rechtsetzungstechnik sind Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie2 und Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-Richtlinie).34 Auch im Vorschlag für eine Verordnung (V-GEKVO) über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (V-GEK) ist an dieser Rechtsetzungstechnik festgehalten worden.5 2 Diese Rechtsetzungstechnik wirft besondere Fragen auf, und zwar sowohl auf kompetentieller als auch auf methodischer Ebene.

I. Methodengerechtigkeit und Kompetenzordnung 3 Die Forderung nach Methodengerechtigkeit ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck spezifischer

Anforderungen der Gewaltenordnung. Auf der nationalen Ebene geht es dabei um das Verhältnis von Rechtsprechung und Gesetzgebung: Je größer die Besorgnis um unzulässige Richtermacht ist, umso aufmerksamer wird auf die Methode der Jurisdiktion geschaut. Und umgekehrt werden sich methodische Anforderungen umso mehr verlieren, je größer der an die Rechtsprechung konze-

_____ 1 Zur Funktion von Generalklauseln im europäischen Privatrecht Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 ff.; rechtsvergleichend Kötz, in: Cane/Stapleton (Hrsg.), Essays in Celebration of John Fleming (1998), S. 243 ff.; Teubner, MLR 61 (1998), 11 ff.; Grobecker, Implied Terms und Treu und Glauben (1999), S. 38 ff.; Sonnenberger, FS Odersky (1996), S. 703 ff. sowie die Beiträge in Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht; Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law. 2 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/25 (Klausel-Richtlinie). 3 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.3.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern, ABl. 2005 L 149/22 (UGPRichtlinie). 4 Für weitere Beispiele siehe Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1, 6 Abs. 1 S. 2, 17 Abs. 2a Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend der selbstständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17 (Handelsvertreter-Richtlinie); Art. 3 Abs. 2 Richtlinie 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher, ABl. 2002 L 271/16. 5 Vorschlag für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht v. 11.10.2011, KOM(2011) 635 endg.; siehe z.B. Art. 2 Abs. 1 V-GEK (Treu und Glauben), Art. 5 Abs. 1 V-GEK (Angemessenheit, Vernünftigkeit), Art. 79 ff. V-GEK (Wirkung unfairer Vertragsbestimmungen).

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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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dierte Freiraum zu eigenständiger Rechtsgestaltung ist. So spiegeln sich in Methodenfragen stets auch und vielfach sogar in erster Linie kompetentielle Fragen. Dieses Wechselspiel von Kompetenz und Methode ist besonders sichtbar bei der Konkreti- 4 sierung, d.h. der richterlichen Ausfüllung von Generalklauseln und normativ-unbestimmten Rechtsbegriffen. Wenn Konkretisierung heute beschrieben wird als gebundene Rechtsbildung,6 so kommt darin ein spezifischer Methodenpluralismus7 zum Ausdruck: In der Konkretisierung verbinden sich die Methoden der gebundenen Rechtsentscheidung durch Auslegung mit den rechtsschöpferischen Methoden der Rechtsbildung. Dahinter steht die Vorstellung, dass mit konkretisierungsbedürftigen Begriffen Aufgaben der Rechtsbildung übertragen werden. Konkretisierungsbedürftige Normen sind also Delegationsnormen. Diese gedankliche Folie der Delegation von Rechtsgestaltungsbefugnissen bezeichnet in 5 vergleichbarer Weise auch die auf unionsrechtlicher Ebene mit der Konkretisierung verbundenen Zweifelspunkte. Während allerdings auf nationaler Ebene allenfalls die Zulässigkeit oder der Umfang einer mit ausfüllungsbedürftiger Rechtsetzung intendierten Delegation klärungsbedürftig sein mag, stellt sich auf unionsrechtlicher Ebene im Umgang mit konkretisierungsbedürftigen Richtlinienbegriffen8 zunächst eine andere Frage: Sind die damit formulierten Gestaltungsaufträge an die Mitgliedstaaten oder an den EuGH adressiert? Dies wird namentlich mit Blick auf die Generalklausel aus Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie problematisiert. Der Problemzugriff erfolgt dabei unausgesprochen über die Kompetenzordnung. Dies ent- 6 spricht der bereits angedeuteten Komplementarität von Methode und Kompetenz. Dieser Problemzugriff wird auch den weiteren Überlegungen zugrundegelegt. Zunächst sind daher Grundsatz und Grenzen der Konkretisierungskompetenz des EuGH zu klären (unten II. und III.), bevor in einem zweiten Schritt über die unionsrechtlichen Konkretisierungsmethoden nachgedacht werden kann (IV.).

II. Konkretisierung in der Kompetenzordnung der Union Ist Konkretisierung stets mehr oder weniger Rechtsgestaltung, so liegt in konkretisierungsbe- 7 dürftiger Rechtsetzung eine Aufgabendelegation. Ungeschriebenen Aufgabenverschiebungen steht das Unionsrecht mit gutem Grund ablehnend gegenüber,9 gehört es doch zu den Grundannahmen des Integrationsprozesses, dass die Kompetenzordnung auf einzelnen Aufgaben- und Befugniszuweisungen ruht. Die Union verfügt nicht über die für souveräne Staaten typische Allzuständigkeit, sondern bedarf ausdrücklicher Befugniszuweisungen (Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung) und muss bei der Kompetenzausübung die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit achten.10 Konkretisierungsbedürftige Rechtsetzung ist also in die vorgegebene institutionelle Ordnung des Unionsrechts einzufügen.

_____ 6 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 124 ff.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 42 ff. 7 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 125; für das europäische Privatrecht Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff.; allgemein Grundmann, RabelsZ 61 (1997), 423 ff.; krit. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung (1976), S. 24 ff.: Methodenpluralität als „Vehikel der Richterfreiheit“. 8 Im Folgenden soll nur auf die Kompetenzproblematik der Richtlinien-Konkretisierung eingegangen werden, da für die Konkretisierung von Verordnungen die Konkretisierungskompetenz des EuGH geklärt sein dürfte; so auch W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. 9 So Bleckmann, Europarecht, Rn 23; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 41. 10 Siehe statt aller Streinz, Europarecht, Rn. 172 f.: Kompetenzausübungsschranken. Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1. Institutionelle Ordnung 8 Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz zwischen dem EuGH und den Mitgliedstaaten

berührt sowohl die Verbandskompetenz als auch die Organkompetenz. Für das Kompetenzgefüge von Union und Mitgliedstaaten bedeutet konkretisierungsbedürftige Aufgabenwahrnehmung aber eine schwächere Beanspruchung unionsrechtlicher Rechtsetzungsbefugnisse als vollständig ausgeführte und insoweit „bestimmte“ Rechtsetzung. Daher erweisen sich insbesondere die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sogar als Fürsprecher geringerer Regelungsdichte und damit konkretisierungsbedürftiger Rechtsetzung. 9 Nicht so leicht lässt sich die Zulässigkeit einer ungeschriebenen Aufgabenzuweisung gerade an den EuGH begründen. Auch im Verhältnis der Unionsorgane untereinander bedarf es konkreter Aufgabenzuweisungen. Es gilt abermals das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.11 Allerdings erweist sich die Konkretisierung bei institutioneller Betrachtung als integraler Bestandteil der dem EuGH zugewiesenen Befugnis zur Auslegung und Fortbildung des Sekundärrechts.

a) Auslegungsbefugnis des EuGH 10 Unabhängig davon, ob man Konkretisierung mehr als gebundene Rechtsentscheidung oder

mehr als gestaltende Rechtsbildung versteht, lässt sich die Konkretisierung schon unter die dem EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zugewiesene Aufgabe fassen, über die „Auslegung“ der Handlungen der Organe zu entscheiden. Mit Recht wird Auslegung i.S. des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV insoweit nicht methodisch eng nach Art des Savigny’schen Kanons verstanden. Gerade in Methodenfragen verbietet sich eine unbefangene Gleichsetzung nationaler Vorstellungen mit unionsrechtlichen Erwartungen. Die Eigengesetzlichkeit der Rechtsordnung der Union mit ihren institutionellen Besonderheiten supranationaler Rechtsetzung sowie die in der Union zusammentreffenden Methodentraditionen der Mitgliedstaaten haben den EuGH von Beginn an vor die Aufgabe gestellt, eigenständig das nötige unionsspezifische methodische Handwerkszeug zu entwickeln,12 zumal auch aus der Perspektive des deutschen Rechts die Abgrenzung zwischen Auslegung und Ausfüllung nicht immer trennscharf möglich ist.13 Der in Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV erteilte Auftrag zur „Auslegung“ ist daher mit Blick auf die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens zu entwickeln. Auslegung ist einerseits als Gegenbegriff zur Rechtsanwendung zu verstehen, die dem EuGH ohne Zweifel entzogen ist.14 Andererseits ist die Reichweite der dem EuGH mit Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV zugewiesenen Aufgabe anhand von Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens zu bestimmen, also mit Blick auf das Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung.15 Auslegung i.S. des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV umfasst

_____ 11 Calliess/Ruffert-Calliess, Art. 13 EUV Rn. 19 f.; Schwarze-Hatje, Art. 13 EUV Rn. 36; großzügiger Everling, FS Ophüls (1965), S. 35: Ermächtigungen der Kommission durch den Rat wären auch ohne ausdrückliche Anordnung zulässig. 12 Zu den Kriterien der Auslegung des EU-Sekundärrechts Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 12 ff.; sowie Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 249 ff.; zu den Methoden bei der Konkretisierung von Generalklauseln vgl. unten Rn. 28 ff. 13 Näher Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 130 ff. 14 St. Rspr.; siehe etwa EuGH v. 28.3.1979 – Rs. 222/78 ICAP, Slg. 1979, 1163 Rn. 10 ff.; EuGH v. 24.9.1987 – Rs. 37/86 Coenen, Slg. 1987, 3589 Rn. 8; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 31 ff.; skeptisch zu dieser Grenzziehung zwischen Auslegung und Anwendung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 271 ff. 15 Zu Inhalt und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens EuGH v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 Rheinmühlen Düsseldorf, Slg. 1974, 33 Rn. 2; EuGH v. 24.5.1977 – Rs. 107/76 Hoffmann La Roche ./. Centrafarm, Slg. 1977, 957 Rn. 5; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 7 sowie Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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daher jede sachverhaltsgelöste, abstrakte Verdeutlichung von Inhalt und Bedeutung oder – so die Formulierung des EuGH – „Sinn“ und „Tragweite“16 des Unionsrechts. In dieser weit gefassten Auslegungsbefugnis ist bei institutioneller Betrachtung auch die Befugnis zur Konkretisierung enthalten.17

b) Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH Im Übrigen ließe sich die institutionelle Organkompetenz des EuGH zur Konkretisierung – so- 11 weit sie nicht schon seiner Auslegungskompetenz zugeschlagen werden kann – jedenfalls auf die in Art. 19 Abs. 1 EUV mit enthaltene Befugnis zur Rechtsfortbildung stützen,18 zumal der EuGH ohnehin nicht scharf zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterscheidet.19 Die grundsätzliche Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung steht heute außer Streit und gehört zur „Realität der Gemeinschaft“.20 Aus institutioneller Perspektive lässt sich die Konkretisierung daher zum vertraglich gekennzeichneten Aufgabenbereich des EuGH zählen.

2. Materielle Begründung der Konkretisierungskompetenz Aus dieser institutionellen Möglichkeit einer Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den 12 EuGH folgt nicht zwangsläufig, dass mit jedem ausfüllungsbedürftigen Rechtsakt auch eine solche Aufgabendelegation an den EuGH erfolgt. Diese Frage nach der Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Konkretisierungsakteuren und dem EuGH ist – für den Bereich des Privatrechts21 – in dieser Schärfe erst mit der Klausel-Richtlinie in das wissenschaftliche Blickfeld gerückt und zum Gegenstand intensiver Befassung avanciert.22 Die damit aufgeworfene Kontro-

_____ Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (1986), S. 15 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 175 ff. 16 EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit Italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 16. 17 Statt vieler Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f. Soweit ersichtlich, stellt allein Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536 ff., die Konkretisierungsbefugnis des EuGH im Hinblick auf die institutionelle Aufgabenzuweisung des Art. 234 EG (jetzt Art. 267 AEUV) in Frage, und zwar mit dem Argument, bei ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffen ließen sich Auslegung und Anwendung nicht voneinander unterscheiden. 18 Zur Rechtsfortbildungsbefugnis des EuGH Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 7 ff. Zur Konkretisierung als Bestandteil der Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f.: „Präzisierung“ von unbestimmten Rechtsbegriffen als „Auslegung im weiteren Sinne“; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995), S. 133 ff. 19 Eingehend Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001), S. 394 ff.; siehe im übrigen Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 575 ff., 604 ff.; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 57; Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion (1997), S. 291; krit. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 65 ff., 72. – Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH bei Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976), S. 105 ff. 20 So Everling, ZSchwR 1993, 337, 347; siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 35 ff.: richterliche Rechtsfortbildung als „Normalfall im Gemeinschaftsrecht“; hierzu im einzelnen Neuner, in diesem Band, § 12 sowie Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 185 ff. 21 Für das öffentliche Recht werden Fragen der Konkretisierung bislang mit anderem Akzent diskutiert; siehe etwa Bleckmann, RIW 1987, 929 ff. mit Blick auf die Beurteilungsspielräume nachgeordneter Behörden oder Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1976). 22 Eine Konkretisierungskompetenz bejahend etwa Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs, S. 60 f.; Basedow, FS Brandner (1996), S. 680; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2.10 Rn. 7, 19; ders., in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 141, 155; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 120 ff., 132 ff.; Joerges, ZEuP 1995, 181, 199 f.; Klauer, Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 131 ff.; Müller-Graff, in: ders. (Hrsg.), Gemeinsames Privatrecht in der Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

verse krankt allerdings daran, dass zumeist eine generelle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz versucht wird.23 Dies ist aber nicht möglich. Auch wenn dem EuGH mit der Befugnis zu Auslegung und Rechtsfortbildung zugleich die Konkretisierung und damit auch die Bildung neuer Maßstabsnormen zugewiesen werden kann, heißt dies nicht, dass sie ihm auch automatisch zugewiesen ist. Und umgekehrt ist es zwar richtig, dass eine Richtlinie auf bloße Rechtsangleichung24 zielt und den Mitgliedstaaten typischerweise Gestaltungsfreiräume belassen soll.25 Doch folgt daraus genauso wenig wie aus dem Subsidiaritätsprinzip26 oder der Einschätzung, dass unionseinheitliche materielle Maßstäbe für die Konkretisierung nicht zur Verfügung stünden,27 sogleich die Unzulässigkeit einer Letztkonkretisierung durch den EuGH. Erforderlich ist vielmehr eine an der einzelnen Richtlinienbestimmung orientierte materielle Zuweisung der Konkretisierungskompetenz.28 Maßstab kann nur die mit dem jeweiligen Rechtsakt im Einzelfall intendierte Rechtsangleichung sein.29 Dies ist durch autonome Auslegung zu ermitteln.30

a) Begriffliche Verweisungen auf das mitgliedstaatliche Recht 13 Anhaltspunkte für eine solche Zuweisung der Konkretisierungsaufgabe an den EuGH kann

schon der gewählte konkretisierungsbedürftige Begriff selbst geben. Wurde eine Generalklausel als umschreibende „Leerstelle“ für bestehende mitgliedstaatliche Regelungen gewählt, liegt darin eine Verweisung auf das nationale Recht mit der Folge, dass die Befugnis zur Letztkonkretisierung den Mitgliedstaaten zugewiesen ist.31 Dies liegt nahe bei Begriffen, die wie die „öffent-

_____ Europäischen Gemeinschaft (1999), S. 56 ff., 64; Reich, ZEuP 1994, 381, 391; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 517 ff., 520 ff., 523; Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff., 79 f.; Weatherill, ERPL 3 (1995), 307, 316 ff. Krit. hingegen Canaris, EuZW 1994, 417; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 536 ff.; Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 228 f.; Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196; Palandt-Grüneberg, § 310 BGB Rn. 25 (Ausnahmen für Gerichts- und Schiedsstandsklauseln anerkennend); Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544 f.; H. Roth, JZ 1999, 529, 535 f.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 135 ff. 23 Siehe nur Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 123 ff.: Konkretisierungskompetenz der EU für Generalklauseln, diff. aber für unbestimmte Rechtsbegriffe; ähnlich generalisierend Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 737, 799 ff.: Konkretisierungskompetenz der EU in vollharmonisierenden Richtlinien. 24 Canaris, EuZW 1994, 417; s.a. Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229; Reich, RabelsZ 66 (2002), 531, 544. 25 W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 141 f.; ähnlich Canaris, EuZW 1994, 417 unter Hinweis auf die „Funktion der Richtlinie“; diff. zwischen Verordnung und Richtlinie auch Gebauer, Grundfragen der Europäisierung des Privatrechts (1998), S. 229. 26 Nassall, JZ 1995, 689, 691; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Art. 3 Rn. 41; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 143 ff.; Schulze-Osterloh, ZGR 1995, 170, 179 f.; siehe auch die Argumentation von I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 204 ff. 27 So Heinrichs, NJW 1996, 2190, 2196; ähnlich Staudinger-Schlosser (1998), Einl. zum AGBG Rn. 33: Der Richtliniengeber habe gesehen, dass sich „eine europäisch einheitliche Bewertung von Klauseln beim gegenwärtigen Stand des Vertragsrechts in Europa nicht erreichen lässt.“ Genauso Joerges, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 216 Fn. 36: Der EuGH sei zur Konkretisierung ungeeignet, weil er die nötigen „Folgeerwägungen“ nicht anstellen könne. – Zu den materiellen Maßstäben der Konkretisierung noch eingehend unten Rn. 28 ff. 28 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 74 ff. 29 Vgl. zum Folgenden Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 495 ff.; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 524 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 ff.; I. Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 67 ff.; für Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie etwa Leible, RIW 2001, 422, 426; für die Produkthaftungsrichtlinie Schaub, ZEuP 2003, 562, 569 ff. 30 Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 24; vgl. auch Herresthal, in Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 121 ff. mit der Unterscheidung zwischen „integrationsinduzierten“ und „regelungsinduzierten“ unbestimmten Rechtsbegriffen. 31 Zu den gesetzgeberischen Gründen für ausfüllungsbedürftige Rechtsetzung auf Unionsebene Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 338 sowie I. Wolff, Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

231

liche Ordnung“ auf spezifisch nationale Wertverwirklichungen verweisen.32 In der bisherigen Praxis haben sich solche Verweisungen aber als Ausnahmen erwiesen.33 Genauso wie im Umgang mit bestimmteren Begriffen34 wird im Zweifel davon auszugehen sein, dass der Unionsgesetzgeber mit der Rechtsangleichung auch die Prägung der tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen selbst vornehmen wollte.35 Genauso ist die Konkretisierungsaufgabe dem EuGH zugewiesen, wenn sich der Unionsge- 14 setzgeber zum Ziel setzt, die aufgrund unterschiedlicher Rechtsvorschriften bestehenden Wettbewerbshemmnisse durch „Klarstellung von Rechtsbegriffen“ zu beseitigen, wie beispielsweise im Zusammenhang mit der E-Commerce-Richtlinie.3637 Die intendierte unionseinheitliche „Klarstellung“ lässt sich nur auf Unionsebene, d.h. durch den EuGH bewerkstelligen.38 Eine solche ausdrückliche Aufgabenzuweisung enthält auch der Vorschlag einer Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht. Danach ist eine autonome Auslegung geboten, Art. 4 Abs. 1 V-GEK. Offene Fragen sind „ohne Rückgriff auf das einzelstaatliche Recht“ zu regeln, Art. 4 Abs. 2 V-GEK.

b) Rechtsangleichungsintention Weitere Anhaltspunkte ergeben sich aus der Zielsetzung des Harmonisierungsaktes, wie sie 15 sich anhand der beanspruchten Rechtsgrundlage39 und den Begründungserwägungen40 ablesen lässt. Ein Beispiel hierfür ist die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie.41 Erklärtes Ziel der Richtlinie ist die „Gewährleistung eines einheitlichen Verbraucherschutz-Mindestniveaus“ (Art. 1 der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie).42 Dieses für privatrechtsangleichende Richtlinien typische

_____ privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 59; mit Blick auf die Klausel-Richtlinie Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. – Denkbar ist auch, dass eine Generalklausel aus politischen Gründen die einzige politisch durchsetzbare Lösung i.S. eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ darstellt; so Micklitz, ZEuP 1993, 522, 526 für die Klausel-Richtlinie. Dies könnte als Argument für eine Konkretisierungskompetenz der Mitgliedstaaten gewertet werden. Dagegen spricht allerdings, dass schon im Gesetzgebungsverfahren die „wichtige Rolle“ des EuGH bei der Konkretisierung zur Sprache gekommen ist; siehe Remien, ZEuP 1994, 34, 58. 32 Vgl. Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 487; weitergehend bzgl. der „guten Sitten“ Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten des EG-Vertrages (2003), S. 361 f. 33 Für den Begriff des Schadens i.S.v. Art. 7 lit. a) der Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29, siehe EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569; für eine Auslegungsbefugnis des EuGH Magnus, JZ 1990, 1100, 1103; genauso zum Schadensbegriff in Art. 5 der Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59 (Pauschalreiserichtlinie) Tonner, ZEuP 2003, 619, 627 ff.; für eine Verweisung auf mitgliedstaatliches Recht aber Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 511 ff. 34 Näher Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 478 ff. Siehe etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29; allgemein Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4 ff.; Bleckmann, EuGRZ 1979, 485, 488. 35 Anders für unbestimmte Rechtsbegriffe Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 132 ff. 36 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft im Binnenmarkt, ABl. 2000 L 178/1. 37 BE 6 der E-Commerce-Richtlinie. 38 Weitere Beispiele bei Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 365 ff.: „begriffsbezogene Argumente“. 39 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 496 ff.; W.-H. Roth, FS Drobnig, S. 148 f. 40 Näher I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 76 ff.; allgemein zur Bedeutung für die Auslegung Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 35 ff. 41 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 42 S.a. BE 5 der Verbrauchsgüterkauf-RL: „Schaffung eines gemeinsamen Mindestsockels“. Ähnlich BE 7 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Ziel verkörpert entscheidende Argumente zugunsten europäisch-einheitlicher Konkretisierung.43

c) Anwendung auf die Klausel-Richtlinie 16 Nach diesen Überlegungen muss auch die Konkretisierung der Generalklausel der Klausel-Richt-

linie in letzter Konsequenz dem EuGH zugewiesen sein. Die Begründungserwägungen beschreiben als Regelungsanlass, dass die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Vertragsklauseln zwischen Warenverkäufern bzw. Dienstleistern einerseits und Verbrauchern andererseits, namentlich die Rechtsvorschriften über missbräuchliche Klauseln, „beträchtliche Unterschiede“ aufweisen, BE 3, 4 Klausel-Richtlinie. „Um die Errichtung des Binnenmarktes zu erleichtern“ (BE 6), sollten „einheitliche Rechtsvorschriften“ (BE 10) geschaffen werden. Die erstrebten Regelungsziele – Erleichterung der Absatztätigkeit von Verkäufern und Dienstleistern sowie Schutz der Verbraucher im grenzüberschreitenden Verkehr (BE 5, 7) – können aber nur erreicht werden, wenn die Klauselkontrolle soweit als möglich europäisch-einheitlich erfolgt.44 Sonst könnten sich Verbraucher bei grenzüberschreitenden Geschäften nicht darauf verlassen, nicht durch die Verwendung missbräuchlicher Klauseln übervorteilt zu werden.45 Dies spricht für weitreichende Konkretisierungskompetenzen des EuGH.

III. Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH 17 Die bislang angestellten Erwägungen sprechen gerade im Zusammenhang mit der Klausel-

Richtlinie für eine Kompetenz zur Letztkonkretisierung des EuGH. Der Rechtsprechungsbefund ist gleichwohl übersichtlich. Dies kann zunächst auf die Vorlagepraxis der nationalen Gerichte zurückgeführt werden. Immerhin können die nationalen Gerichte die Aufgabenwahrnehmung durch den EuGH maßgeblich steuern: Ohne geeignete Vorlagen ergehen auch keine Konkretisierungsentscheidungen. So gibt es nach wie vor keine Rechtsprechung zur Konkretisierung der Treu und Glauben-Generalklausel (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1) der Handelsvertreter-Richtlinie.46 Auch die zahlreichen normativ-unbestimmten Rechtsbegriffe der VerbrauchsgüterkaufRichtlinie47 und der Verbraucherkredit-Richtlinie48 sind bislang kaum näher ausgefüllt worden.

_____ des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Verbraucherrechte-Richtlinie): „Genuss eines hohen, einheitlichen Verbraucherschutzniveaus in der gesamten Union“. 43 Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 24. 44 So Leible, RIW 2001, 422, 426; a.A. I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 205, die aus Art. 5 Abs. 3 EG (jetzt: Art. 5 Abs. 4 EUV) auch im Bereich der binnenmarktfinalen Rechtsangleichung eine Vermutung zugunsten nationaler Gestaltungsfreiräume folgert (S. 179); a.A. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 553, da er die Richtlinie der aktiven Rechtsangleichung zuordnet (aaO, S. 221 ff.). 45 Zu diesem Beispiel Leible, RIW 2001, 422, 426; vgl. auch Brandner, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 131, 136 im Hinblick auf die „Absichten und den Schutzgehalt“ sowie den „Geltungswillen“ der Richtlinie. 46 S.o. Fn. 4. 47 S.o. Fn. 41; zu Art. 3 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkauf-Richtlinie („unzumutbar“) siehe EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Gebr. Weber und Putz, Slg. 2011, I-5257 Rn. 66 ff. Weitere Beispiele für ausfüllungsbedürftige Klauseln finden sich in Art. 3 Abs. 5 der RL („angemessene Minderung“) sowie in Art. 3 Abs. 6 der RL („geringfügige Vertragswidrigkeit“); dazu exemplarisch Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1, 15 ff. 48 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG, ABl. 2008 L 133/66; zu Art. 24 siehe EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-602/10

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§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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Selbst zur prominentesten sekundärrechtlichen Generalklausel – Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie – existieren bislang nur wenige Urteile, die sich speziell mit Fragen der Konkretisierung auseinandersetzen.49 Schon dieser Befund zeigt, dass so manche Aufgeregtheit und Sorge um eine hypertrophierende Konkretisierungsjudikatur des EuGH wohl unbegründet war.50

1. Rechtsprechungsübersicht In seiner ersten Entscheidung zur Konkretisierung von Art. 3 Abs. 1 der Klausel-Richtlinie aus 18 dem Jahr 2000 – „Océano“51 – hat der EuGH nicht nur die Vorlagefrage des spanischen Instanzgerichts nach seiner Befugnis zur Missbräuchlichkeitskontrolle einer Gerichtsstandsklausel, sondern darüber hinaus auch inhaltlich die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie bejaht.52 Dieses Judikat ist als Votum zugunsten einer unionsrechtlichen Letztkonkretisierungsbefugnis gelesen worden.53 Mit Recht wurde dabei kritisiert, dass die Vorlagefrage eine inhaltliche Klauselbeurteilung eigentlich nicht erfordert hätte.54 Nach dieser Entscheidung lag die Annahme nahe, dass sich der EuGH eine weit reichende Konkretisierungskompetenz zuspricht und diese Kompetenz auch in Anspruch nehmen will und wird. In dieselbe Richtung wiesen die Ausführungen von Generalanwalt Saggio, der in seinen Schlussanträgen betont hatte, dass „die Beantwortung der Frage, ob eine Klausel … ‚missbräuchlich‘ ist, nicht mehr als eine Auslegung des Wortlauts der Richtlinie … erforderlich macht.“55 Differenzierter entschied der EuGH auf Vorlage des BGH56 in der Rechtssache Freiburger 19 Kommunalbauten.57 Anders als in der Océano-Entscheidung nahm er nicht in der Sache zur

_____ SC Volksbank România SA, Rn. 94 ff. Zu den in der Vorgängerrichtlinie (Richtlinie 87/102/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Verbraucherkredit, ABl. 1987 L 42/48) enthaltenen ausfüllungsbedürftigen Klauseln, z.B. „angemessene Ermäßigung“ der Gesamtkosten des Kredits bei vorzeitiger Erfüllung (Art. 8), „angemessener Schutz“ des Verbrauchers bei der Verwendung von Wechsel und Scheck (Art. 10), sind keine Entscheidungen ergangen. 49 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; bestätigt durch EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713; sowie EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, Slg. 2010, I-10847. Siehe zuletzt EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C‑472/10 Invitel, sowie EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz. Zur Rechtsnatur des Richtlinien-Anhangs EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 insbes. Rn. 20 ff. 50 In diese Richtung auch GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29. 51 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 = ZEuP 2003, 141 m. Anm. Pfeiffer = JZ 2001, 245 m. Anm. Schwartze; hierzu Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 377 ff.; Whittaker, L.Q.R. 117 (2001), 215. 52 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 24. 53 So etwa Leible, RIW 2001, 422, 435 f.; Möllers, JZ 2002, 121, 125; krit. I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien, S. 209 f. 54 Gegenstand der Vorlagefrage war nicht die Missbräuchlichkeit der streitigen Gerichtsstandsvereinbarung, sondern die sachlich davor liegende Frage, ob sich ein Verbraucher auf die Missbräuchlichkeit der Klausel berufen oder das angerufene Gericht die Missbräuchlichkeit von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Krit. Hakenberg, ZEuP 2001, 888, 901 f.; Schwartze, JZ 2001, 246, 248. 55 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 18 (Hervorhebung nicht im Original). 56 BGH, NZM 2002, 754 = ZIP 2002, 1197; zum Vorlagebeschluss Heiderhoff, WM 2003, 509, 512 ff. 57 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 = ZEuP 2005, 418 ff. mit Anm. Röthel; dazu Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 432 ff.; Freitag, EWiR 2004, 397 ff.; ders./Riemenschneider, WM 2004, 2470 ff.; Markwardt, ZIP 2005, 152 ff.; Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04; Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380 ff. Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Missbräuchlichkeit der streitigen Vorauszahlungsklausel Stellung, sondern wies diese Beurteilung den nationalen Gerichten zu: Im Rahmen der mit Art. 234 EG (jetzt: Art. 267 AEUV) übertragenen Befugnis zur Auslegung des Unionsrechts sei es Aufgabe des EuGH, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen, hingegen sei er nicht befugt, sich zur Anwendung dieser allgemeinen Kriterien auf eine bestimmte Klausel zu äußern.58 Anderes gelte nur – so die klarstellenden Hinweise mit Seitenblick auf die Océano-Entscheidung – wenn sich die Missbräuchlichkeit einer Klausel ohne weitere Berücksichtigung der Vertragsumstände und ihrer Auswirkungen im nationalen Recht feststellen lasse.59 20 Die mit der Entscheidung Freiburger Kommunaulbauten eingeführte Differenzierung zwischen der Definition „allgemeiner Kriterien“ und deren Anwendung hat der EuGH in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt und weiter spezifiziert.60 Er sieht seine Zuständigkeit darin, durch Auslegung der Art. 3, 4 Klausel-Richtlinie abstrakt die Faktoren zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit zu definieren und entsprechende Kriterien zur Anwendung durch das nationale Gericht zu entwickeln.61 Der EuGH könne daher dem nationalen Gericht nur „Hinweise an die Hand […] geben, die dieses bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit der betreffenden Klausel zu beachten“ habe,62 etwa den Hinweis, dass die streitige Klausel mit dispositivem Recht zu vergleichen sei.63

2. Grundannahmen der EuGH-Rechtsprechung 21 Hinter diesem wenn auch schmalen Rechtsprechungsbestand stehen zwei Grundannahmen für

die Aufgabenwahrnehmung des EuGH bei der Konkretisierung unionsrechtlichen Sekundärrechts. Die erste Grundannahme betrifft das Selbstverständnis des EuGH, ohne nähere Begründung zur Konkretisierung sekundärrechtlicher Generalklauseln befugt zu sein. So wenig der EuGH methodisch zwischen Auslegung und Rechts(fort-)bildung unterscheidet, so wenig kompetentielle Besonderheiten erkennt er Generalklauseln zu.64 Dies kommt auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten zum Ausdruck, wenn der EuGH betont, es sei seine Aufgabe, die zur Definition einer konkretisierungsbedürftigen Klausel verwendeten „allgemeinen Kriterien“ auszulegen.65 Damit hat sich der EuGH auch nicht dem Votum von Generalanwalt Geelhoed angeschlossen, der verlangt hatte, dass der EuGH den Mitgliedstaaten keine ins Detail gehenden Vorgaben machen dürfe, weil sonst der Ermessensspielraum der nationalen Umsetzungsgesetzgeber unzulässig eingeengt werde.66

_____ 58 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 59 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 23. 60 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, Slg. 2010, I-10847; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 Invitel = EuZW 2012, 786 m. Anm. Mathiak; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz. 61 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713 Rn. 37; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 66 f. 62 EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C‑472/10 Invitel, Rn. 22. 63 EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 68. 64 Differenzierend aber Herresthal, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht, S. 123 ff. 65 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22; genauso etwa PalandtGrüneberg, § 310 BGB Rn. 25: Die Zuständigkeit des EuGH beschränkt sich auf die „Auslegung der in der Richtlinie verwandten Begriffe“. In diese Richtung weist auch die Entscheidung vom 21.11.2002 – Rs. C-473/00 Cofidis, Slg. 2002, I-10875 Rn. 23, wo der EuGH sich auf „Tatbestandsmerkmale“ der Generalklausel bezieht. Diese Diktion lässt keine Unterschiede im Umgang zwischen bestimmteren und unbestimmteren Begriffen erkennen. 66 GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 27. Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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Hingegen sieht es der EuGH grundsätzlich nicht als seine Aufgabe an – und dies ist die 22 zweite Grundannahme – die Kriterien der Missbräuchlichkeitskontrolle auf die konkrete streitige Vertragsklausel anzuwenden. Konsequenterweise lehnt er auch jede Beurteilung tatsächlicher Umstände ab67 und weist die Prüfung nationalen Rechts ebenfalls den mitgliedstaatlichen Gerichten zu.68 Dass der EuGH in der Rechtssache Océano auch über die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel entschieden hat, ist vielmehr ein Sonderfall geblieben.69 In jüngeren Folgeentscheidungen hat der EuGH hingegen an der Unterscheidung zwischen der Setzung allgemeiner Maßstäbe einerseits und der Anwendung der Maßstäbe andererseits festgehalten.70

3. Weiterführungen: Konkretisierung und Vollharmonisierung In jüngerer Zeit zeichnet sich im europäischen Verbraucherprivatrecht ein Paradigmenwechsel 23 in der Rechtsetzungsstrategie ab: der Übergang von mindestharmonisierenden zu vollharmonisierenden Richtlinien.71 Darunter werden Richtlinien verstanden, die den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit eröffnen, über das in der Richtlinie nur als Mindestschutzniveau verstandene Regelungskonzept hinauszugehen.72 Zunächst wurde für das gesamte europäische Verbraucherrecht ein Übergang zur Vollharmonisierung angestrebt.73 Die 2011 in Kraft getretene Verbraucherrechte-Richtlinie74 sieht eine Vollharmonisierung allerdings nur noch hinsichtlich bestimmter Aspekte von Fernabsatzverträgen und Haustürgeschäften vor; die Klauselkontrolle ist nunmehr ausgenommen.75 Inwieweit dieser Strategiewechsel auch ein Paradigmenwechsel für das Gefüge der Konkre- 24 tisierungskompetenz bedeutet, ist derzeit noch nicht absehbar. Im Schrifttum mehren sich die Stimmen, die aus der Entscheidung für das Konzept der Vollharmonisierung zugleich eine Entscheidung für eine weitergehende Aufgabenwahrnehmung bei der Konkretisierung von ausfüllungsbedürftigen Begriffen folgern.76 Dies gelte insbesondere für sog. „schwarze“ Listen in Klauselkatalogen vollharmonisierender Richtlinien. 77 Dadurch sei den nationalen Gerichten die Konkretisierungskompetenz entzogen.78

_____ 67 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 68 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21. Hierzu Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 6 Rn. 52. 69 So auch Palandt-Grüneberg, § 310 BGB Rn. 25. 70 Siehe EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421 Rn. 22 f.; dazu Wagner, SchiedsVZ 2007, 49; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713 = NJW 2009, 2367 mit Anm. Pfeiffer; dazu Mayer, GPR 2009, 220, 222 f.; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C‑472/10 Invitel; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz. 71 Europäische Kommission, „Verbraucherpolitische Strategie 2002–2006“, KOM(2002) 208 endg; „Verbraucherpolitische Strategie 2007 bis 2013“, KOM(2007) 99 endg. 72 Siehe Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen (Timesharing-Richtlinie), ABl. 2009 L 33/10; die Verbraucherkredit-Richtlinie 2008 (s.o. Fn. 48) und die UGP-Richtlinie (oben Fn. 3). 73 Siehe dazu den Entwurf der ursprünglich als vollharmonisierend geplanten Verbraucherrechte-Richtlinie v. 8.10.2008, KOM(2008) 614 endg; dazu Micklitz/Reich, EuZW 2009, 279 ff. 74 S.o. Fn. 42. 75 Kritisch zur Strategie der Vollharmonisierung Grundmann, JZ 2013, 53, 62 ff. 76 Insbes. Kieninger, RabelsZ 2009 (73), 793, 801 ff.; Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 23 f.; Möllers, ZEuP 2008, 480, 501 ff. 77 So etwa Anhang I der UGP-Richtlinie, umgesetzt in deutsches Recht durch das Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb vom 22.12.2008 (BGBl. 2008 I, 2949). 78 Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 801 ff. Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Dies ist allerdings nicht zwingend. Denn auch bei vollharmonisierenden Richtlinien lässt sich zwischen der Bestimmung der allgemeinen, abstrakten Wertungskriterien einerseits und ihrer Anwendung im Einzelfall sinnvoll unterscheiden. Mit der Entscheidung für eine vollharmonisierende anstelle einer mindestharmonisierenden Richtlinie hat sich der Unionsgesetzgeber lediglich die Entscheidung über das Schutzniveau vorbehalten. Dies berührt die abstrakten, allgemeinen Wertungskriterien. Hingegen bedeutet es keinen Bruch mit der vollharmonisierenden Strategie, wenn die konkrete Anwendung der abstrakten Wertungskriterien nach wie vor als Aufgabe der nationalen Gerichte verstanden wird. Das mit den Entscheidungen Océano und Freiburger Kommunalbauten etablierte Regel-Ausnahme-Verhältnis kann also – vorbehaltlich ausdrücklich anderer Regelungsintention – auch bei vollharmonisierenden Richtlinien aufrechterhalten werden. Dies entspricht den Erfahrungen im Umgang mit der ProdukthaftungsRichtlinie:79 Der EuGH hat zwar mehrfach betont, dass in ihrem Regelungsbereich kein mitgliedstaatlicher Gestaltungsspielraum besteht.80 Zugleich hat er aber z.B. für den Begriff des Schadens das Fortbestehen nationaler Ausfüllungsspielräume anerkannt.81 Abermals bedarf es also einer differenzierenden Beurteilung. Entscheidend ist die für jede Richtlinie neu zu prüfende Regelungsintention und Regelungsdichte.82 In diese Richtung weist auch die Entscheidung des EuGH zur neuen UGP-Richtlinie in der 26 Rechtssache Galatea.83 Auf eine niederländische Vorlage erklärte der EuGH eine mitgliedstaatliche Vorschrift für unzulässig, die über die „schwarze Liste“ der UGP-Richtlinie hinausging. Dem nationalen Gesetzgeber stehe es in Anbetracht der mit der Richtlinie angestrebten Vollharmonisierung nicht zu, „die zwangsläufig anhand des Sachverhalts des konkreten Falles vorzunehmende Beurteilung“84 durch eine Rechtsvorschrift zu ersetzen. Ähnlich hat der EuGH auf Vorlagebeschluss des BGH85 zu §§ 3, 4 Nr. 6 UWG entschieden.86 Dass vollharmonisierende Richtlinien dem umsetzenden Gesetzgeber zumeist engere Schranken ziehen, bedeutet aber nicht, dass damit zugleich den mitgliedstaatlichen Gerichten die Kompetenz entzogen sein soll, Generalklauseln einzelfallbezogen und gegebenenfalls unter Berücksichtigung nationaler Rechtsmaßstäbe zu konkretisieren. In diese Richtung betonte auch Generalanwältin Trstenjak, dass der Würdigung durch die nationalen Gerichte insoweit nicht vorgegriffen werden dürfe.87 Auch mit der Verbraucherrechte-Richtlinie ändert sich das Konzept der abgestuften Konkre27 tisierungskompetenz zwischen EuGH und nationalen Gerichten nicht. Die Klauselkontrolle ist nicht Gegenstand der Vollharmonisierung, so dass die Mitgliedstaaten zum Erlass strengerer Bestimmungen befugt bleiben, Art. 8 Klausel-Richtlinie. Aber auch nach dem ursprünglichen Richtlinienentwurf88 wäre es in der eigentlichen Zweifelsfrage, der Konkretisierungskompetenz im Rahmen der Klauselkontrolle, bei einem abgestuften Vorgehen geblieben.89 Auch in einem vollharmonisierenden Rechtsakt entscheidet die Regelungsintention über die den nationalen 25

_____ 79 S.o. Fn. 33. 80 Etwa EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-3827, sowie Rs. C-154/00 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-3879; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov ./. Bilka, Slg. 2006, I-199. 81 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-203/99 Veedfald, Slg. 2001, I-3569 Rn. 31 ff. 82 Genauso Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20, 23 ff. 83 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, Slg. 2009, I-2949. 84 EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-261/07 und C-299/07 Galatea, Slg. 2009, I-2949 Rn. 65. 85 BGH, EuZW 2008, 542; dazu Köhler, GRUR 2009, 626 ff. 86 EuGH v. 14.1.2010 – Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V. ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, Slg. 2010, I-217; a.A. Köhler, GRUR 2009, 626, 629. 87 Vgl. GA Trstenjak, SchlA v. 3.9.2009 – Rs. C-304/08 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V. ./. Plus Warenhandelsgesellschaft mbH, Slg. 2010, I-217 Tz. 101 und 103. 88 S.o. Fn. 73. 89 Näher Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 805 mit Blick auf die Verweise in Anhang II lit. c) und lit. d) auf die Vorschriften des nationalen Rechts; dazu auch Rott/Terryn, ZEuP 2009, 456, 485 f. Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

237

Instanzen verbleibenden Befugnisse. Solange das Unionsrecht die Kontrollmaßstäbe nicht abschließend vorgibt, sind die Spielräume national aufzufüllen. Das Ziel der Vollharmonisierung wird damit nicht „verfehlt“.90

IV. Konkretisierungsmethoden 1. Unionsautonome Konkretisierungsmethode Aus der Perspektive des deutschen Rechts und der deutschen Methodenlehre lässt sich eine 28 methodische Modellvorstellung entwickeln, bei der sich in der Konkretisierung die Methoden der Auslegung mit den Methoden der Rechtsbildung und Rechtsfortbildung verbinden. Dieses Changieren der Konkretisierung zwischen gebundener Rechtsentscheidung und gestaltender Rechtsbildung ist bereits angeklungen (oben Rn. 3 f.). Danach sind im Wege der Auslegung die tatbestandlichen „äußeren“ Grenzen des konkretisierungsbedürftigen Begriffes aufzuzeigen, während die weitere Ausfüllung im Wesentlichen Rechtsgestaltung ist, die auf methodisch entsprechend weniger vorgezeichneten Bahnen verläuft. Bei der Übertragung dieses Modells auf die Konkretisierung durch den EuGH ist aller- 29 dings Vorsicht geboten.91 Mag sich der europäische Gesetzgeber mit konkretisierungsbedürftigen Rechtsbegriffen und Generalklauseln auch für ein in vielen Rechtsordnungen bekanntes Regelungskonzept entschieden haben, so bestehen die rechtskulturellen und methodischen Divergenzen92 in diesem Bereich doch unverändert fort. Das deutsche Verständnis der Generalklausel kennt weder im Common Law, dem das Konzept traditionell fremd ist, noch in den romanischen Rechtsordnungen eine vollständige Entsprechung.93 Eine unionseinheitliche Konkretisierung von Generalklauseln im Sinne des EuGH durch nationale Richter aber kann ohne unionsrechtliche Methodik kaum gelingen.94 Dies bedarf eingehender und offener Auseinandersetzung95 und vor allem einer mehr funktional argumentierenden und vergleichenden Diskussion.96 In funktionaler Herangehensweise sind auch die in nationalen Methodenlehren vielfach ge- 30 bräuchlichen Unterscheidungen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu überprüfen. Eine trennscharfe Unterscheidung ist dem EuGH insoweit fremd.97 Dementsprechend vorsichtig ist auch mit methodischen Schlussfolgerungen umzugehen.

2. Konkretisierung durch Auslegung am Beispiel der Klausel-Richtlinie Insbesondere zur Konkretisierung der Generalklausel der Klausel-Richtlinie, aber auch im Hin- 31 blick auf andere Sekundärrechtsakte werden sich erste Anhaltspunkte der Konkretisierung schon

_____ 90 So aber Kieninger, RabelsZ 73 (2009), 793, 801. 91 Zur Eigenständigkeit europäischer Auslegung vgl. bereits oben Rn. 10. 92 Näher Hager, Rechtsmethoden in Europa. 93 Eingehend die Beiträge in Baldus/Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht und in Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards; dazu Röthel, GPR 2008, 176 ff. 94 Edward, Shifting Power From Legislation To Judges, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), S. 79, 80. 95 Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 242 ff. 96 Röthel, GPR 2008, 176, 178. 97 Siehe die Beiträge von Baldus (§ 3), Riesenhuber (§ 10) und Neuner (§ 12) in diesem Band; krit. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

aus den klassischen, vom EuGH verwendeten Auslegungsargumenten ergeben.98 Anzusetzen ist bei dem Wortlaut der Generalklausel99 und ihrer systematischen Stellung innerhalb des Rechtsaktes. Im Beispiel der Klauselkontrolle sind also zunächst sämtliche inhaltlichen Vorgaben, die 32 die Richtlinie bietet – und dies sind nicht wenige – zusammenzutragen. Sie konturieren die äußeren Grenzen der Konkretisierung. Als missbräuchlich soll eine Klausel gelten, die „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten verursacht“ (Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie).100 Die Rechtsstellung von Verbraucher und Unternehmer sind also in Verhältnis zueinander zu setzen. Methodisch läuft dies auf eine Abwägung hinaus.101 Bestätigt wird dies durch die Begründungserwägungen, in denen die Missbräuchlichkeit als „umfassende Bewertung der Interessenlagen der Parteien“ umschrieben wird. Eine solche Abwägung stellt auch den Kern der Argumentation in der Rechtssache Océano dar: Darin hat der EuGH die Nachteile, die die Klausel für den Verbraucher erzeugt, den Vorteilen für den Gewerbetreibenden gegenüber gestellt und allein daraus die Missbräuchlichkeit der Klausel gefolgert.102 33 Weitere Anhaltspunkte enthält Art. 4 Abs. 1 Klausel-Richtlinie.103 Daraus ergibt sich das Erfordernis einer konkret-individuellen Klauselbeurteilung.104 Im Einzelnen obliegt die Beurteilung der konkreten Vertragsumstände allerdings – wie bereits erläutert, oben Rn. 22 – den nationalen Gerichten.105 Neben dem Wortlaut und der Systematik misst der EuGH der Teleologie einer Richtlinie, wie 34 sie sich an den Begründungserwägungen ablesen lässt, regelmäßig große Bedeutung bei.106 Dies wird auch für die Konkretisierung von Generalklauseln gelten. Mit Blick auf die Konkretisierung der Klausel-Richtlinie finden sich in den Begründungserwägungen nicht nur der allgemeine Hinweis auf das Gebot der Interessenbewertung, sondern auch die Vorgabe, dass besonders „das Kräfteverhältnis zwischen den Verhandlungspositionen der Parteien“ zu berücksichtigen ist sowie der Umstand, „ob auf den Verbraucher in irgendeiner Weise eingewirkt wurde, seine Zustimmung zu geben, und ob die Güter oder Dienstleistungen auf eine Sonderbestellung des Verbrauchers hin verkauft bzw. erbracht wurden“, BE 16 Klausel-Richtlinie. Daraus schließt der EuGH, dass das nationale Gericht insbesondere prüfen müsse, „ob der Gewerbetreibende bei loyalem und billigem Verhalten gegenüber dem Verbraucher vernünftigerweise erwarten durfte, dass der Verbraucher sich nach individuellen Verhandlungen auf eine solche Klausel einlässt“.107

_____ 98 Näher zu den vom EuGH verwendeten Auslegungskriterien Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 12 ff. 99 Näher Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 13 ff. und 21. 100 Fast wortgleich Art. 32 Abs. 1 des Vorschlags einer Verbraucherrechterichtlinie, KOM(2008) 614 endg. 101 Zur Konkretisierung durch Abwägung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 146 ff. 102 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22 f. 103 Vgl. EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 71; näher Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 6 Rn. 53 f.: „konkretisierende Kontrolltopoi“. 104 So auch Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 568 f.; ähnlich Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Vorbem Rn. 28; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 52 ff. 105 Siehe EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21; hierzu bereits oben Rn. 20. 106 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 41 ff. sowie Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 10 ff., 15 ff. 107 EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 69. Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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3. Maßstäbe der Rechtsgestaltung Innerhalb dieser durch die Auslegung i.e.S. gezogenen Grenzen bedeutet Konkretisierung rich- 35 terlich-autonome Maßstabsetzung. Diese Rechtsgestaltung ist nach unserer methodischen Vorstellung Rechtsbildung, wobei die Rechtsprechung weniger methodischen als legislatorischen Bindungen unterworfen ist, d.h. den Bindungen, denen auch der Gesetzgeber bei abstraktgenereller Regelsetzung unterliegt.108 Mit Blick auf das Unionsrecht ist die wohl vordringlichere Aufgabe aber – zumal auch eine europäische Gesetzgebungslehre derzeit allenfalls in Konturen erkennbar ist109 – die Verständigung darüber, woraus sich die materiellen Maßstäbe einer solchen Rechtsgestaltung durch den EuGH ergeben können.

a) Referenzordnungen Solche materiellen Maßstäbe können sich vor allem aus Referenzordnungen ergeben. Aus der 36 AGB-Kontrolle des deutschen Rechts kennen wir die Vorstellung, die gerichtliche Inhaltskontrolle am Maßstab des dispositiven Rechts auszurichten (§ 307 Abs. 2 BGB).110 Dahinter steht das Anliegen, die gerichtliche Konkretisierung in die geschriebene Rechtsordnung einzubinden und hieraus die maßgeblichen Wertungen zu extrahieren, die ihrerseits als Konkretisierungsmaßstab dienen sollen. Ganz allgemein geht es dabei um die Rückanbindung der Konkretisierung an übergreifende Wertvorstellungen, Leitbilder und Prinzipien. In diesem Streben nach „Rückanbindung“ verwirklichen sich die systematischen Ansprüche jeder Rechtsordnung.111 aa) Erfordernis einer unionsautonomen Referenzordnung. Ist die Konkretisierung einer 37 sekundärrechtlichen Generalklausel aufgrund der Rechtsangleichungsintention dem EuGH zugewiesen, werden langfristig unionsautonome Referenzmaßstäbe entstehen.112 Rein nationale Referenzordnungen – etwa das geschriebene Vertragsrecht eines Mitgliedstaates – scheiden regelmäßig aufgrund der Rechtsangleichungsintention des Sekundärrechtsaktes113 als taugliche Referenzordnung aus. Da die Klausel-Richtlinie eine unionseinheitliche Klauselkontrolle intendiert, kann dieser Anspruch nur eingelöst werden, wenn die Beurteilung der Treuwidrigkeit anhand unionseinheitlicher und daher unionsautonomer Maßstäbe begründet wird.114 Dies deckt sich mit der Erkenntnis, dass nationale „Vorbildrechtsordnungen“ auch für die Auslegung eines Sekundärrechtsaktes allenfalls untergeordnete Bezugspunkte verkörpern.115

_____ 108 Zu den Bindungen judikativer Normsetzung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 86 ff. (Sachrichtigkeit, Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Normenklarheit). 109 Ansatzpunkte bei Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), § 3; Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung (2006). 110 Dazu EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 68: Bei der Prüfung eines Missverhältnisses sind insbesondere „diejenigen Vorschriften zu berücksichtigen, die im nationalen Recht anwendbar sind, wenn die Parteien in diesem Punkt keine Vereinbarung getroffen haben“. 111 Zu Systemdenken und Systembildung im Europäischen Privatrecht Grundmann, in diesem Band, § 9; ders., Systembildung und Systemlücken; zur Anwendung des Systemgedankens auf das Europäische Privatrecht Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 52 ff., insbes. zur Konkretisierung von Generalklauseln S. 74 ff.; krit. Flessner, JZ 2002, 14, 15 f. 112 Zur Konkretisierung als Prozess noch unten Rn. 48 f. 113 Hierzu bereits oben Rn. 15. 114 Siehe nur Staudinger, DB 2000, 2058; a.A. Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Freitag, EWiR 2004, 397 f.; ders./ Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478; Basty, DNotZ 2004, 768, 771: als „Vergleichsmaßstab“. 115 Siehe Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 39 mwN; ähnlich der Befund von Schwartze, in diesem Band, § 4 Rn. 22 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Dies heißt nicht, dass die nationalen Rechtsordnungen überhaupt keine Bedeutung für die Konkretisierung hätten.116 Bei der Klauselkontrolle werden sich die spezifischen Wirkungen einer Klausel vielmehr erst aus dem nationalen Rechtsumfeld ergeben. Diese Beurteilung hat der EuGH aber mit Recht den nationalen Gerichten zugewiesen.117 Daraus ergibt sich – was aus Gründen der Sachnähe auch einzig sinnvoll erscheint –, dass der EuGH im Rahmen seiner Zuständigkeit die generellen inhaltlichen Konkretisierungsmaßstäbe unionsautonom entwickelt, während die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse, d.h. bei der Anwendung der abstrakten Vorgaben des EuGH auf die konkrete Klausel, in die Beurteilung auch das Umfeld des nationalen Rechts heranziehen müssen.118 39 Ähnlich ist für rechtsvergleichend entwickelte Referenzmaßstäbe119 oder die gemeineuropäisch erarbeiteten Principles120 zu entscheiden. Gerade für die Konkretisierung von Treu und Glauben mag es nahe liegen, in erster Linie an die sichtbaren gemeinsamen Begriffstraditionen anzuknüpfen.121 Eine gewisse Rechtsvereinheitlichung könnte damit sicherlich geleistet werden. Doch können weder rechtsvergleichend noch gemeineuropäisch entwickelte Maßstäbe122 den Anspruch auf systematische Einbettung der Konkretisierung in die Gesamtrechtsordnung der Union einlösen.123 In diese Richtung geht es jedoch, wenn für das vorgeschlagene Gemeinsame Europäische Kaufrecht der Begriff „Treu und Glauben“ als „Verhaltensmaßstab, der durch Redlichkeit, Offenheit und Rücksicht auf die Interessen der anderen Partei in Bezug auf das fragliche Geschäft oder Rechtsverhältnis gekennzeichnet ist“ aufgelöst wird (Art. 2 lit. b) V-GEKVO). Dies gilt namentlich für die Konkretisierung der Generalklausel in Art. 3 Abs. 1 Klausel40 Richtlinie. Auch wenn das Konzept einer an Treu und Glauben ausgerichteten Klauselkontrolle nach ihrer rechtskulturellen Provenienz und inhaltlichen Konzeption Ausdruck einer gemeinsamen Entwicklungstendenz der Mitgliedstaaten ist,124 hat die Konkretisierung doch ausschließlich mit Blick auf genuin unionsrechtliche Wertvorstellungen zu erfolgen.125 Dies entspricht der Erkenntnis, dass aus dem nationalen Recht bekannte Begriffe im Unionsrecht nicht notwendig denselben Bedeutungsgehalt haben.126 38

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bb) Sekundärrechtliche Referenzordnungen. Umso wichtiger sind daher die vom Unionsgesetzgeber selbst mitgegebenen Referenzordnungen. Beispiele für diese Regelungstechnik sind

_____ 116 In diese Richtung auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 511. 117 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 66 f. 118 Siehe EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 72 ff. 119 Hierfür Remien, ZEuP 1994, 36, 61 f.; Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Art. 3 Rn. 41 f. mwN, der i.Ü. auch auf das „in den Mitgliedstaaten vorhandene Entscheidungsmaterial“ zurückgreifen will (Rn. 65). Damit würde aber eine europäisch-autonome Konkretisierung im Ergebnis aufgegeben. Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung siehe Schwartze, in diesem Band, § 4. 120 Hierfür Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732, 1738; Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525; Leible, RIW 2001, 422, 426; Markwardt, ZIP 2005, 152, 154; Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380, 384. – Siehe Art. 1:201, Art. 6:102 Principles of European Contract Law (sog. Lando-Principles); deutsche Fassung abgedruckt bei v. Bar/Zimmermann (Hrsg.), Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts (2002). Zur Einordnung der principles in die Rechtsquellenlehre Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 15 ff. 121 Rechtsvergleichend Zimmermann/Whittaker (Hrsg.), Good Faith in European Contract Law (2000). 122 Zur Bedeutung des (D)CFR noch unten Rn. 45 f. 123 Näher Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 10 Rn. 38. 124 Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klausel-Richtlinie) Vorbem Rn. 32; siehe auch MünchKommBGB-G.H. Roth/Schubert (2012), § 242 BGB Rn. 151 ff.: Treu und Glauben als allgemeiner Grundsatz; für einen Überblick siehe StaudingerLooschelders/Olzen, § 242 BGB Rn. 1171 ff. sowie zum anglo-amerikanischem Rechtskreis Rn. 1149 ff. 125 Die Entwicklung eines eigenständigen Begriffs von Treu und Glauben im Unionsrecht steht an ihren Anfängen; so etwa Staudinger-Looschelders/Olzen, § 242 BGB Rn. 1185; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 284 ff. 126 So auch für Treu und Glauben W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, Bd. II (2000), S. 873. Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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der Anhang zur Klausel-Richtlinie127 sowie der Anhang I der UGP-Richtlinie. Vergleichbare Kataloge waren in Anhang II und III des Entwurfs der Verbraucherrechte-Richtlinie enthalten.128 Auf eine solche sekundärrechtliche Referenzordnung hat sich auch der EuGH in der Océano-Entscheidung gestützt.129 Diese Anhänge verkörpern derzeit die wichtigsten Anhaltspunkte für einen unionsrechtlichen Treuemaßstab.130 Gleiches gilt für die ausdrückliche Regelung in Art. 2 lit. b) V-GEKVO (s.o. Rn. 39). Die dahinter stehenden gemeinsamen Grundgedanken können langfristig das Fundament für ein unionsrechtliches, autonomes Verständnis von Treu und Glauben und anderer konkretisierungsbedürftiger Rechtsbegriffe eröffnen.

b) Prinzipien und Leitbilder Schließlich halten auch die unionsrechtlichen Prinzipien und Leitbilder erste Steuerungspunkte 42 einer unionsrechtlichen Referenzordnung für die Konkretisierung vor. Auch wenn sie keine „harten“ Maßstäbe verbürgen und regelmäßig in einem inneren Wechselspiel nach Art eines „beweglichen Systems“131 stehen, so garantieren sie doch die nötige wertungsmäßige Rückanbindung der Konkretisierung an die Unionsrechtsordnung. Dies gilt insgesamt für das europäische Vertragsrecht, dessen Prinzipien und Grundstruktu- 43 ren sich nun sichtbar konstituieren.132 Auch wenn dem Unionsrecht noch kein eigenständiges Prinzip von Treu und Glauben eigen ist,133 so deutet sich doch der Gedanke des Schutzes berechtigter Erwartungen als spezifisch unionsrechtlicher Vertrauensgrundsatz an.134 Entsprechend der Regelungsintention von verbraucherschützenden Richtlinien kommt dabei dem Schutz der Verbraucher eine besondere Rolle zu, mag man auch einer pauschalierenden Zweifelsregel „im Zweifel für den Verbraucher“ skeptisch gegenüber stehen.135 Es ist also ein in besonderer Weise auf den Verbraucher ausgerichteter Vertrauensschutz,136 der sich als Grundlage für weitere konkretisierende Beurteilungsleitlinien im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 Klausel-Richtlinie empfiehlt.137

_____ 127 Näher Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 10 Rn. 33; so auch Gebauer/Wiedmann-Nassall, Kap. 6 Rn. 49: „Indizwirkung“; Edward, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 79, 82; vgl. auch EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 20 sowie EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 22. 128 S.o. Fn. 73. 129 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4941 Rn. 22; denkbar wäre dies auch in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten gewesen; hierfür Wittwer, E.L.Rep. 2004, 380, 384. 130 So auch Heiderhoff, WM 2003, 509, 512; skeptisch Freitag/Riemenschneider, WM 2004, 2470, 2478. – Für eine Berücksichtigungspflicht nationaler Gerichte Staudinger, DB 2000, 2058; vorsichtiger Schwartze, JZ 2001, 246, 248: „bloße Anregung“. 131 Begriff von Wilburg, Entwicklung eines beweglichen Systems im Bürgerlichen Recht; zur Rezeption dieses Gedankens bei Alexy und Dworkin u.a. sowie seiner Empfehlung als Methode des Europäischen Privatrechts Flessner, JZ 2002, 14, 18 ff. 132 Siehe hierzu die Untersuchungen von Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004); Riesenhuber, System und Prinzipien; Kraus, in: Riesenhuber (Hrsg.), Entwicklungen nicht-legislatorischer Rechtsangleichung im Europäischen Privatrecht (2008), S. 39 ff.; Schulze, ZEuP 2007, 130, 137 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2007). 133 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 410 ff. 134 Micklitz, ZEuP 1998, 253, 263 f.; Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 338 ff.; kritisch W.-H. Roth, in: Schulte-Nölke/Schulze (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 45 ff. 135 Näher Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 57 ff.; ders., JZ 2005, 829; dazu die Erwiderungen von Rösler, JZ 2006, 400 ff., Tonner, JZ 2006, 402 ff. und Riesenhuber, JZ 2006, 404 f. 136 Zur Rechtsangleichungsintention der Klausel-Richtlinie bereits oben Rn. 15. 137 Heiderhoff, Grundstrukturen des nationalen und des europäischen Verbrauchervertragsrechts (2004), S. 345, 435; dies., WM 2003, 509, 512; genauso – wenn auch im Ergebnis kritisch – Hommelhoff/Wiedenmann, ZIP 1993, 562, 569: „Unterlegenenschutz als Auslegungsleitlinie“; einschränkend Remien, ZEuP 1994, 34, 51 ff. Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Ähnliche Steuerungspotentiale haben Leitbilder.138 Auch sie tragen dazu bei, die Wertungsgrundlagen und Zielsetzungen konkretisierungsbedürftiger Rechtsakte plastisch zu verdeutlichen.139 Sie bewegen sich auf einem niedrigeren Abstraktionsniveau als Prinzipien und Rechtsgrundsätze und haben sich – beispielsweise im Lauterkeitsrecht 140 – gerade deshalb als besonders wirksam erwiesen. Dies setzt eine sorgsame, systemorientierte Begründung von Leitbildern aus dem positiven Recht voraus.141

c) Der gemeinsame Referenzrahmen 45 Auf einer ähnlichen Stufe wie die vorgenannten Prinzipien und Leitbilder steht der im Jahr 2009

vorgestellte Entwurf des Gemeinsamen Referenzrahmens (Draft Common Frame of Reference).142 Zwar handelt es sich dabei um einen akademischen Entwurf, der sich als unverbindliche Erkenntnisquelle und Orientierungshilfe versteht.143 Weitergehende, normative Bedeutung kommt ihm nicht zu: Es handelt sich um eine lex academica,144 also ein Kompendium von Regeln wissenschaftlicher Provenienz und Prägung, die auch in erster Linie die Wissenschaft und weniger den Unionsgesetzgeber adressieren.145 Insbesondere ist er nicht Systembestandteil.146 Gleichwohl verkörpert der Referenzrahmenprozess nachhaltige Konvergenzaussichten durch „weiche“ Integration: als Orientierungs- und Bezugspunkt wissenschaftlicher Systematisierungen und autonomer Konvergenzen sowie als „Werkzeugkasten“ oder „Normspeicher“147 für den Unionsgesetzgeber. In der Praxis der Gutachten der Generalanwälte spielt der DCFR bereits eine sichtbare Rolle. 46 Vielfach werden die Regelungsvorschläge des DCFR ähnlich den PECL als Auslegungsargument herangezogen.148 Allerdings ist – unabhängig von einer Zukunft des (D)CFR im politischen Prozess – sein Konkretisierungspotential realistisch einzuschätzen. Die zentralen Leerstellen im derzeitigen Richtliniengefüge haben auch durch den Referenzrahmen keine nähere Eingrenzung

_____ 138 Zur Wirksamkeit von Leitbildern für die Konkretisierung Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 401 ff.; siehe auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 47 ff.: Leitbilder als Hilfsmittel teleologischer Auslegung. 139 Für das Verbraucherleitbild der Klausel-Richtlinie exemplarisch Grabitz/Hilf-Pfeiffer, A 5 (Klauselrichtlinie) Vorbem Rn. 24 ff. 140 EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 27; EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36; hierzu Streinz/Leible, ZIP 1995, 1236 ff. 141 So mit Recht die Mahnung von Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 48 f. 142 v. Bar/Clive/Schulte-Nölke u.a. (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law; zur Entstehungsgeschichte Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 173, 175 ff.; Ernst, AcP 208 (2008), 248, 249; zur methodischen Bedeutung für das Europäische Vertragsrecht Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 47 ff. 143 v. Bar, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.) Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 23, 32 f.; Schulte-Nölke, NJW 2009, 2161 ff.; krit. Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401, 3406 f. 144 Zum Folgenden Röthel, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 287 ff.; siehe auch Zimmermann, in: Bumke/Röthel (Hrsg.), Privates Recht (2012), S. 21 ff. 145 Röthel, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der gemeinsame Referenzrahmen, S. 287, 308 f. 146 Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 173, 202 ff.; Schmidt-Kessel, in diesem Band, § 17 Rn. 49. 147 Ernst, AcP 208 (2008), 248, 277 ff. 148 Siehe GA Trstenjak, SchlA v. 11.6.2008 – Rs. C-275/07 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-2005 Fn. 48; SchlA v. 11.9.2008 – Rs. C-180/06 Ilsinger, Slg. 2009, I-3961 Tz. 49; SchlA v. 18.2.2009 – Rs. C-489/07 Messner, Slg. 2009, I-7315 Tz. 85; SchlA v. 7.5.2009 – Rs. C-227/08 Martín Martín, Slg. 2009, I-11939 Tz. 51; SchlA v. 8.9.2009 – Rs. C-215/08 E. Friz, Slg. 2010, I-2947 Fn. 62; SchlA v. 6.7.2010 – Rs. C-137/08 Pénzügyi Lízing, Slg. 2010, I-10847 Fn. 54; genauso dies., in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 235 ff. Siehe auch GA Cruz Villalón, SchlA v. 15.11.2012 – Rs. C-103/11 P Kommission ./. Systran und Systran Luxembourg, Fn. 24 und GA Kokott, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-396/12 van der Ham, Fn. 39. Röthel

§ 11 Die Konkretisierung von Generalklauseln

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gefunden.149 Und dort, wo über den jetzigen Bestand hinausgehend nähere Eingrenzungen formuliert wurden, erheben sich sogleich Zweifel an der Aussagekraft des Textes: Je mehr der Referenzrahmen an Konkretisierung „leistet“, umso größer ist der akademische Anteil dieser Leistung.150

d) Auf dem Weg zu einem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht Ob das vorgeschlagene Gemeinsame Europäische Kaufrecht,151 das voraussichtlich durch Ver- 47 ordnung als „Zweites Regime“ neben den Vertragsrechten der Mitgliedstaaten gelten wird,152 einen darüberhinaus gehenden Maßstab für die Rechtsgestaltung bieten kann, muss differenziert betrachtet werden. Die Verfasser haben versucht, unionsautonome Definitionen für die im V-GEK geregelten Rechtsfragen zu entwickeln. Neben der Definition von Treu und Glauben (Art. 2 lit. b) V-GEKVO) enthält Art. 2 V-GEKVO einen ausführlichen Katalog von Begriffen wie „Vertrag“ (lit. a), „Unternehmer“ und „Verbraucher“ (lit. e/f) , „Preis“ (lit. i), „zwingende Vorschrift“ (lit. v) sowie „Verpflichtung“ (lit. y). Auch im Bereich der Klauselkontrolle setzt das GEK einheitliche Maßstäbe. Neben einer allgemeinen Definition von „unfair“ (Art. 83 V-GEK) enthält es zwei verbindliche Listen von Klauseln, die von vornherein unwirksam sind bzw. deren Unfairness vermutet wird (Art. 84, 85 V-GEK).153 Das V-GEK schafft sich also einen autonomen Maßstab. Mit seiner zukünftigen Stellung als verbindliches europäisches Recht erscheint es zudem wahrscheinlich, dass die aufgestellten Maßstäbe auch zur Klauselkontrolle nach der KlauselRichtlinie herangezogen werden könnten.154

V. Konkretisierung als Prozess Konkretisierung hat aber nicht nur eine kompetentielle und eine methodische Seite, sondern 48 auch eine ganz praktische und prozedurale: Konkretisierung ist ein Prozess.155 Für die Konkretisierung sekundären Unionsrechts gilt, was dem Unionsrecht insgesamt attestiert wird: Konkretisierung ist „Recht im Werden“.156 Solche langfristigen und vor allem arbeitsteiligen157 Rechtsetzungsprozesse sind auf Kommunikation und Kooperation angewiesen. Institutionelles Forum für den erforderlichen Konkretisierungsdialog ist das Vorabentscheidungsverfahren. 158 Eine sinnvolle Gestaltung des Konkretisierungsprozesses erfordert auf Seiten der vorlegenden Gerichte die Auswahl sinnvoller und informativer Vorlagen und auf Seiten des EuGH eine gewisse Behutsamkeit im Umgang mit dem Konkretisierungsstand. Solange die Konturen der unionsrechtlichen Konkretisierungsmaßstäbe noch weitgehend diffus sind, sollte der EuGH umso sorgfältiger darauf bedacht sein, mit dem Prozesscharakter der Konkretisierung Maß zu halten.

_____ 149 Siehe zur Klauselkontrolle Art. II-9:403 [Meaning of „unfair“ in contracts between a business and a consumer]. 150 Siehe im Zusammenhang mit Treu und Glauben Art. I-I.103 [good faith and fair dealing] und Principle 23: „rather open-ended concepts“. 151 S.o. Fn. 5. 152 Eidenmüller et al., JZ 2011, 269 f. 153 Kritisch Eidenmüller et al., JZ 2011, 269, 278 f. 154 Eidenmüller et al., JZ 2011, 269, 279. 155 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 167 ff., 381, 399 ff. 156 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 38 f.; Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 mwN. Zur „Dynamik“ des Unionsrechts auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 46. 157 Vgl. Röthel, ZEuP 2005, 418, 424 ff. 158 Zum Folgenden Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, S. 381 ff. Röthel

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus zu begrüßen, dass der EuGH mit seinem Urteil Freiburger Kommunalbauten einen zunächst eher zurückhaltenden Kurs bei der Wahrnehmung seines Konkretisierungsauftrags angedeutet und in Folgeentscheidungen159 beibehalten hat.160 Die darin skizzierte Aufteilung der Konkretisierungsaufgaben ist nicht nur Ausdruck eines methodisch, kompetentiell und insoweit auch „ökonomisch“ sinnvollen Gefüges.161 Darüber hinaus garantiert sie, dass die richterliche Rechtsgestaltung ihren notwendigen Rückhalt im allgemeinen Integrationsprozess nicht verliert – und zwar nicht nur in inhaltlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die noch offenen methodischen Fragen.

neue Seite

_____ 159 EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713. 160 Röthel, ZEuP 2005, 418, 425 ff.; s.a. Schmidt-Kessel, WuB IV F. Art. 3 RL 93/12 EWG 1.04: „ausgewogenes Bild“. 161 In diese Richtung auch GA Geelhoed, SchlA v. 25.9.2003 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Tz. 29: „ökonomischer Gebrauch der Rechtsbehelfe“.

Röthel

§ 12 Die Rechtsfortbildung

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§ 12 Die Rechtsfortbildung 2. Teil: Allgemeiner Teil

Jörg Neuner § 12 Die Rechtsfortbildung Neuner Literatur Rebecca Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht (2012); Larry Alexander/Emily Sherwin, Demystifying Legal Reasoning (2008); Jochen Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1997); Anthony Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006); Gunnar Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2012); Carsten Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998); Gerard Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice (2012); Mariele Dederichs, Die Methodik des EuGH (2004); Wolfgang Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: Ole Due u.a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Bd. I (1995), S. 205–221; Ulrich Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217–227; Nils Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011); Stefan Grundmann/Karl Riesenhuber, Die Auslegung des europäischen Schuldvertragsrechts, JuS 2001, 529–536; Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer Europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Waldemar Hummer/Walter Obwexer, Vom „Gesetzesstaat zum Richterstaat“ und wieder retour?, EuZW 1997, 295–305; Katja Langenbucher, Vorüberlegungen zu einer Europarechtlichen Methodenlehre, JbJZ 1999, S. 65–83; Koen Lenaerts/José A. Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU Is: Methods of Interpretation and the European Court of Justice, EUI Working Papers AEL 2013/9; Axel Metzger, Extra legem, intra ius: Allgemeine Rechtsgrundsätze im Europäischen Privatrecht (2009); Jörg Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag (2002), S. 83–112; Oreste Pollicino, Legal Reasoning of the Court of Justice in the Context of the Principle of Equality Between Judicial Activism and Self-restraint, GLJ 5 (2004), 283–317; Frederick Schauer, Thinking like a lawyer (2009); Theodor Schilling, Eine neue Rahmenstrategie für die Mehrsprachigkeit: Rechtskulturelle Aspekte, ZEuP 2007, 754–784; Werner Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem (2002); Reiner Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Reiner Schulze/Ulrike Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft (2003); Jörg Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995); Stefan Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I (2001); Konrad Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH (2009). Rechtsprechung EuGH v. 12.12.1985 – Rs. 165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, Slg. 2006, I-4137; EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, Slg. 2009, I-5295; EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923; EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823; EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals Ltd u.a., Slg. 2010, I-8301; EuGH v. 5.5.2011 – verb. Rs. C-201/10 und C-202/10 Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading, Slg. 2011, I-3545; EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr; EuG v. 26.11.2002 – verb. Rs. T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00 Artegodan u.a., Slg. 2002, II-4945; EuG v. 3.4.2003 – verb. Rs. T-44/01, T-119/01 und T-126/01 Vieira und Vieira Argentina, Slg. 2003, II-1209.

Neuner

246

I.

II.

III.

2. Teil: Allgemeiner Teil

Übersicht Grundlagen | 1–6 1. Zur Terminologie des Unionsrechts | 2–3 2. Zur Eigenständigkeit des Unionsrechts | 4–5 3. Zur Besonderheit des Unionssrechts | 6 Die Befugnis zur Rechtsfortbildung | 7–10 1. Die rechtsprechende Gewalt | 8 2. Die gesetzgebende Gewalt | 9 3. Die faktische Gewalt | 10 Die Schranken der Rechtsfortbildung | 11–25 1. Die Bindung an das Gesetz | 12–21 a) Die kompetentielle Dimension | 13–15 aa) Das institutionelle Gleichgewicht | 14 bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit | 15 b) Die inhaltliche Dimension | 16–18 aa) Die Wortsinngrenze | 17 bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht | 18 c) Die zeitliche Dimension | 19–21 aa) Die Vorwirkung | 20 bb) Die Rückwirkung | 21

Die Bindung an das Präjudiz | 22–25 a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit | 23 b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes | 24–25 Die Methodik der Rechtsfortbildung | 26–45 1. Die Rechtsfindung praeter legem | 27–41 a) Die Lückenfeststellung | 28–30 aa) Das externe System | 29 bb) Das interne System | 30 b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung | 31–38 aa) Der Gleichheitssatz | 32–35 bb) Das Primärrecht | 36–38 c) Die Grenzen der Lückenausfüllung | 39–41 aa) Analogieverbote | 40 bb) Unausfüllbare Lücken | 41 2. Die Rechtsfindung contra legem | 42–45 a) Die Feststellung der Nichtigkeit | 43 b) Die Folgen der Nichtigkeit | 44 c) Die Einzelfallgerechtigkeit | 45 Schlussbetrachtung | 46 2.

IV.

V.

I. Grundlagen 1 Die unionsrechtliche Methodenlehre ist ein Unterfall der allgemeinen juristischen Methoden-

lehre. Sie bildet zu den nationalen Methodenlehren1 kein aliud, sondern wird durch ihren speziellen Gegenstand in Form des Unionsrechts geprägt. Demgemäß stellt sich auch im sekundären Unionsrecht das Problem, ob der Richter an den Wortlaut des Gesetzes strikt gebunden ist oder dieses über den Normtext hinaus fortbilden darf.

1. Zur Terminologie des Unionsrechts 2 Nach dem überwiegenden deutschen Sprachgebrauch bildet der noch mögliche Wortsinn

des Gesetzes die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.2 Diese terminologische Unterscheidung ist vor allem deshalb sachgerecht, weil dem Normtext eine limitierende Funktion zum Schutz der Rechtsunterworfenen sowie zur Wahrung mitgliedstaatlicher Kompetenzen zufallen kann.3 Der Gerichtshof verwendet allerdings nicht den Begriff „Rechtsfortbil-

_____ 1 Einen Überblick zu den verschiedenen Methoden der Rechtsfindung in den einzelnen europäischen Staaten gibt Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 45 ff. 2 Vgl. BVerfG, NJW 2011, 3020 ff. (Rn. 21); 2008, 3627 ff. (Rn. 9 ff.); Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 441, 467 ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 614 ff.; Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 90 ff. mwN; kritisch z.B. Kudlich/Christensen, ARSP 93 (2007), 128 ff. 3 Siehe speziell zur Erforderlichkeit der Wortsinngrenze im Unionsrecht auch Klatt, Theorie der Wortlautgrenze (2004), S. 25 f.; Schilling, ZEuP 2007, 754, 757 ff. (768: „Rang von Primärrecht“); Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts, S. 158; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. Neuner

§ 12 Die Rechtsfortbildung

247

dung“,4 sondern spricht im Anschluss an die französische Methodenlehre ganz pauschal von interprétation.5 Dies mag damit zusammenhängen, dass Französisch die Arbeitssprache des Gerichts bildet. Aber auch in der Sache ist die terminologische Gleichstellung nicht weiter schädlich, solange der Gerichtshof dem Normtext eine eigenständige Bedeutung im Rahmen der Gesetzesinterpretation beimisst.6 Die Kritik am Gerichtshof reduziert sich daher im Wesentlichen auf den Vorhalt eines unpräzisen Sprachgebrauchs. Präferiert man stattdessen die differenzierende deutsche Terminologie, gilt es vor allem be- 3 griffsjuristische Fehlschlüsse zu vermeiden. Diese Gefahr besteht insbesondere bei der Übertragung der klassischen „Dreistufensystematik“7 von Gesetzesauslegung, Gesetzesergänzung und unzulässiger Gesetzesderogation auf die unionsrechtliche Methodik. Die Qualifizierung einer Rechtsprechung als Auslegung besagt nur, dass sie sich innerhalb des möglichen Wortsinns bewegt, ist aber noch kein hinreichender Legitimationsnachweis. Auch der Lückenbegriff ist eine bloße Umschreibung der Zulässigkeitskriterien praeterlegaler Rechtsfindung und ersetzt nicht die erforderlichen unionsrechtlichen Wertungen. Ebenso bleibt das Dogma vom Verbot des contra-legem-Judizierens begründungsdefizitär,8 solange nicht die maßgeblichen Sachgesichtspunkte zugunsten einer Gesetzesbindung benannt werden.

2. Zur Eigenständigkeit des Unionsrechts Versucht man, die Voraussetzungen und Grenzen einer Fortbildung des sekundären Unions- 4 rechts näher zu bestimmen, ist zunächst der Begriff der „Autonomie“ von zentraler Bedeutung. Sowohl der Geltungsgrund9 als auch die Auslegung10 des Unionsrechts werden vielfach mit dem Attribut „autonom“ gekennzeichnet, so dass es nahe liegt, die Fortbildungsoptionen des sekundären Unionsrechts ebenfalls autonom, d.h. losgelöst von den mitgliedstaatlichen Standards, zu bestimmen. Diese Schlussfolgerung ist aufgrund des prinzipiellen Vorrangs sowie des besonderen Integrationstelos des Unionsrechts im Ansatz zutreffend, doch sind einige Relativierungen veranlasst. Als Erstes ist in geltungstheoretischer Hinsicht hervorzuheben, dass das Unionsrecht, jedenfalls nach dem derzeitigen Legitimationsstand, immer noch auf einem innerstaatlichen Anwendungsbefehl beruht,11 der seinerseits nach mitgliedstaatlichen Methodenstandards

_____ 4 Anders gelegentlich die Schlussanträge der Generalanwälte/innen; s. zuletzt GA Mengozzi v. 5.12.2013 – Rs. C571/12; Freight Services Latvia, Tz. 69. 5 Vgl. nur Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 289 ff., 394 f., 607; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 39; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 55 ff. mwN; zur französischen Tradition der „Auslegung“ eingehend Babusiaux, in diesem Band, § 24. 6 Eine Auswertung aller im Jahr 1999 veröffentlichten Entscheidungen des EuGH hat ergeben, dass die grammatische Auslegung die zweithäufigste Argumentationsform (nach dem Verweis auf die frühere Rechtsprechung) darstellt; vgl. Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 64 ff.; dies., EuR 2004, 345, 349 ff.; siehe zur Bedeutung des Normtextes ferner auch Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 168 ff. m.umf.N. 7 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung (1969), S. 221. 8 S. z.B. Calliess, NJW 2005, 929, 932. 9 Vgl. nur EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage, Slg. 2001, I-6297 Rn. 19; EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1269 ff. 10 Vgl. EuGH v. 18.1.1984 – Rs. 327/82 Ekro, Slg. 1984, 107 Rn. 11; zuletzt EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-45/13 Kainz ./. Pantherwerke, Rn. 19. 11 Vgl. BVerfGE 126, 286 ff. (302); BVerfG, NJW 2009, 2267 ff., 2284 ff. (Rn. 332 ff.); siehe zur Diskussion über den Geltungsgrund des Unionsrechts auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 229 ff.; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 174 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zu interpretieren ist. Zweitens ist in Bezug auf die Auslegung des Unionsrechts signifikant, dass es eine Lingua Franca, eine eigene „EU-Sprache“, nicht gibt. Der Gerichtshof muss deshalb die offiziellen Landessprachen gem. Art. 55 Abs. 1 EUV gleichwertig berücksichtigen und im Rahmen der grammatischen Interpretationsmethode einen entsprechenden Textvergleich12 vornehmen.13 Materiellrechtlich kommt als Drittes hinzu, dass die Union in Art. 2 EUV die tradierten mitgliedstaatlichen Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit übernimmt sowie über Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 3 EUV auf die in der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh) und der EMRK enthaltenen justitiellen Grundrechte verweist, was sich ebenfalls auf die Kompetenzen der Judikative auswirkt.14 5 Die Voraussetzungen und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind also primär aus dem Unionsrecht herzuleiten, doch gibt es Parallelen und Interdependenzen zu den Methodenstandards sowie zu den allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen in den Mitgliedstaaten.

3. Zur Besonderheit des Unionsrechts 6 Aus methodischer Sicht weist das Unionsrecht vor allem zwei Eigenarten auf: Zum einen die

Mehrsprachigkeit und zum anderen die begrenzte Regelungskompetenz. Beide Phänomene sind allerdings nicht neuartig, vielmehr bekannte rechtstheoretische Herausforderungen. So wird das Problem der Mehrsprachigkeit bereits in Art. 33 Abs. 4 WVK angesprochen und stellt sich gleichermaßen in Nationalstaaten mit verschiedenen Amtssprachen, wie etwa der Schweiz.15 Konkurrierende Rechtsordnungen und deren interpretatorische Abgrenzung sind ebenfalls kein Novum. Aus der Geschichte ist nur an das Verhältnis des ius commune zum Statutarrecht zu erinnern.16 Ein aktuelles Beispiel bildet der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung zwischen Bund und Ländern gem. Art. 72, 74 GG. Mit der Diskussion über die Möglichkeiten einer Fortbildung des sekundären Unionsrechts betritt man also kein methodisches „Neuland“, sondern kann auf breite rechtstheoretische Vorarbeiten aufbauen.

II. Die Befugnis zur Rechtsfortbildung 7 Ebenso wie die nationalen Gerichte ist auch der Gerichtshof prinzipiell zur Rechtsfortbildung

legitimiert.17

_____ 12 Siehe am Beispiel des Begriffs „fortgesetzte Zuwiderhandlung“ EuG v. 17.5.2013 – verb. Rs. T-147/09 und T-148/ 09 Trelleborg ./. Kommission, Rn. 72 ff.; s. aber auch Baaij, in: ders., The Role of Legal Translation in Legal Harmonization (2012), S. 1 ff. (15 f.): „Between 1960 and 2010, the Court acknowledged discrepancies in only about 170 judgments. And in only about 110 judgments, the Court considered these to cause an interpretation problem. However, contrary to its stance that the interpretation of EU law requires a comparison of language versions, the Court itself did not explicitly compare language versions in more than about 245 judgments, which, when counting the judgments in the Eur-Lex website, is about 3% of all jugdments between 1960 and 2010.“ 13 Siehe hierzu aus der neueren Literatur etwa Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 608 ff.; Vismara, in: Pozzo/Jacometti (Hrsg.), Multilingualism and the Harmonization of European Law (2006), S. 61 ff.; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU Is, S. 8 ff.; Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 33 ff. 14 Vgl. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 8 mwN. 15 Siehe z.B. Kramer, Methodenlehre, S. 79 ff.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 136 ff., 150 ff.; Schubarth, LeGes 2001, 49 ff., der die Mehrsprachigkeit als „große Chance“ und „echte Bereicherung“ betrachtet und betont, dass „sprachliche Minderheiten (nicht) ignoriert werden“ (aaO, S. 49). 16 Siehe näher Schröder, Recht als Wissenschaft (2. Aufl. 2012), S. 19 ff., 67 ff., 158 ff. mwN. 17 Zur nationalen Rechtslage siehe näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 47 ff. mwN. Neuner

§ 12 Die Rechtsfortbildung

249

1. Die rechtsprechende Gewalt Die Befugnis zur richterlichen Rechtsfortbildung folgt sowohl aus den überlieferten Grundsätzen 8 des Art. 2 EUV als auch aus der speziellen Regelung des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, wonach der Gerichtshof die „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (sichert).“18 Flankierend dazu ist auf die entsprechende Intention der Gründungsmitglieder zu verweisen19 und hervorzuheben, dass das etablierte Richterrecht für Beitrittskandidaten zum verbindlichen acquis communautaire zählt.20 An Überzeugungskraft verliert hingegen der Hinweis auf den dynamisch-evolutionären Integrationsansatz des Primärrechts,21 da die Funktionsfähigkeit der Union mittlerweile als gesichert erscheint.22

2. Die gesetzgebende Gewalt Obgleich die Befugnis des Gerichtshofs zur Fortbildung des Rechts weitgehend anerkannt ist,23 9 folgt hieraus keine gesetzgeberähnliche Kompetenz. Wie insbesondere die Art. 19 EUV, 251 ff. AEUV belegen, beschränkt sich die Aufgabe des Gerichtshofs auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung.24 Funktionell ist kennzeichnend, dass der Gerichtshof über kein eigenes Initiativrecht verfügt25 und auf den Dialog mit den Verfahrensbeteiligten angewiesen ist. Institutionell fehlt den Richtern eine unmittelbare demokratische Legitimation26 und organisatorisch die Ausstattung, um legislative Aufgaben wahrnehmen zu können. Zu einer Rechtsetzung in Form abstrakt-genereller Regelungen ist der Gerichtshof somit nicht berufen.

3. Die faktische Gewalt Trotz dieser grundsätzlichen Begrenzung der richterlichen Kompetenz auf die Einzelfallent- 10 scheidung entfaltet die Judikatur des Gerichtshofs im Rechtsleben eine sehr breite Wirkung und bildet eine faktische Rechtsquelle. Die Unionsbürger orientieren sich an den Urteilen des Gerichtshofs und erwarten Rechtssicherheit durch eine Gleichbehandlung ähnlicher Fälle.27 Der Gerichtshof hat deshalb verallgemeinerbare Rechtsregeln auf einer „mittleren Abstraktions-

_____ 18 Vgl. nur W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 821 ff. (mit zusätzlichem Verweis auf Art. 340 Abs. 2 AEUV für den Bereich der außervertraglichen Haftung); Everling, JZ 2000, 217, 221; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 ff.; siehe zudem unten bei Rn. 42. 19 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 67 mwN. 20 Vgl. Stellungnahme der Kommission v. 19.1.1972 zu den Beitrittsanträgen Dänemarks, Irlands, des Königreichs Norwegen und Großbritanniens, ABl. 1972 L 73/3; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Ohler, Art. 49 EUV Rn. 45; Ott, EuZW 2000, 293 ff. mwN. 21 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 296 mwN. 22 Vgl. auch Streinz, ZEuS 2004, 387, 412; Nessler, RIW 1993, 206, 213. 23 Siehe auch insbesondere BVerfGE 126, 286, 305; 75, 223, 242 ff. 24 Siehe dazu auch v. Danwitz, EuR 2008, 769, 772; Everling, RabelsZ 50 (1986), 193, 208; Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 213; speziell in Abgrenzung zur Rechtskraftbindung Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen in der Europäischen Union (2009), S. 404 ff. 25 Vgl. Pollicino, GLJ 5 (2004), 283, 291; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 172. 26 Vgl. nur Everling, JZ 2000, 217, 221; Kirsch, Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union (2008), S. 74, 169 ff. 27 Hinzu kommt eine Begründungspflicht; s. näher Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 116 f., 141 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 175 ff.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 838 ff. mwN. Neuner

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2. Teil: Allgemeiner Teil

höhe“ zwischen Norm und Fallentscheidung zu formulieren.28 Um legitime Kontinuitätserwartungen der Rechtsunterworfenen nicht zu enttäuschen, sind auch gelegentliche obiter dicta zulässig. Im Grundsatz ist jedoch allein über den anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden. Angesichts dieser regelmäßigen Beschränkung auf die konkret-individuelle Entscheidungsfindung besteht für nachfolgende Verfahren auch keine strenge Präjudizienbindung im Sinne der staredecisis-Doktrin, zumal sonst für jede Rechtsprechungsänderung ein aufwendiges Gesetzesänderungsverfahren29 nötig wäre.30 Wollen nationale Gerichte von der Rechtsprechung des EuGH abweichen, wird allerdings die Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV jeweils aktualisiert.31

III. Die Schranken der Rechtsfortbildung 11 Ungeachtet seiner prinzipiellen Kompetenz zur Rechtsfortbildung unterliegt der Gerichtshof im

Regelfall der Bindung an das Gesetz. Darüber hinaus können auch Präjudizien die Entscheidungsfreiheit des Gerichtshofs einschränken.

1. Die Bindung an das Gesetz 12 Die Gesetzesbindung hat eine kompetentielle, eine inhaltliche und eine zeitliche Dimension.

a) Die kompetentielle Dimension 13 Kompetentiell ist kennzeichnend, dass der Gerichtshof nicht nur an die Entscheidungen des

Unionsgesetzgebers gebunden ist, sondern zugleich auch dessen beschränkte Regelungszuständigkeit berücksichtigen muss. 14

aa) Das institutionelle Gleichgewicht. Das Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“ bildet das unionsrechtliche Pendant zur klassischen Gewaltenteilung.32 Es legt das Kompetenzgefüge der Unionsorgane untereinander fest und wirkt sich zugleich auf die Freiheit der Unionsbürger sowie den Einflussbereich der Mitgliedstaaten aus. Für die dritte Gewalt folgt aus dem Prinzip des „institutionellen Gleichgewichts“, dass sowohl der Ermessensspielraum der Verwaltung zu respektieren ist,33 als auch die Entscheidungsprärogative des Unionsgesetzgebers, da Letzterer sonst als Rechtsbildungsinstanz funktionslos bliebe.

_____ 28 Vgl. Schlüchter, Mittlerfunktion der Präjudizien (1986), S. 123 ff.; Schulze/Seif, in: dies. (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 8; Valta, Grundfreiheiten im Kompetenzkonflikt (2013), S. 241. 29 Siehe zu den besonderen unionstypischen Schwierigkeiten einer Gesetzesänderung Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 585 ff. 30 Vgl. Seif, FS Schlüchter (1998), S. 137 f.; siehe zudem auch unten bei Rn. 23. 31 Zu den Ausnahmen der Vorlagepflicht nach der „acte-clair-Doktrin“ s. näher Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 23 Rn. 26 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 626 f. mwN. 32 Vgl. EuGH v. 6.5.2008 – Rs. C-133/06 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-3189 Rn. 56 f.; EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 Rn. 21 ff.; zur Vergleichbarkeit mit der herkömmlichen Gewaltenteilung siehe näher Häberle, Europäische Verfassungslehre (7. Aufl. 2011), S. 422 ff.; Goeters, Das institutionelle Gleichgewicht – seine Funktion und Ausgestaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2008), S. 248 ff.; Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice, S. 194 ff. 33 Vgl. nur Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 412 f.

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§ 12 Die Rechtsfortbildung

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bb) Die konkurrierende Regelungszuständigkeit. Im Unterschied zu den Mitgliedstaaten 15 verfügt die EU nicht über eine Kompetenz-Kompetenz; vielmehr gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV.34 Eine zusätzliche Einschränkung bewirkt das Prinzip der Subsidiarität gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV. Dem Gerichtshof obliegt die Aufgabe, die Einhaltung dieser Kompetenzregel durch die Exekutive und Legislative zu kontrollieren. Umstritten ist, ob der Gerichtshof im Rahmen rechtsfortbildender Judikate das Subsidiaritätsprinzip ebenfalls beachten muss.35 Eine justitielle Bindung wird dabei insbesondere mit dem Argument verneint, dass die europäischen Gerichte für die ihnen zugewiesenen Rechtsstreitigkeiten eine ausschließliche Kompetenz besitzen.36 Diese Ansicht überzeugt nicht, da ein Urteilsspruch, der das Subsidiaritätsprinzip missachtet, auf das Zuständigkeitsgefüge gleichermaßen einwirkt wie ein analoger Legislativakt. Die Judikative ist zwar kein „Ersatzgesetzgeber“, doch wird bei der konkret-individuellen Entscheidungsfindung unter eine abstrakte Norm subsumiert, für deren Erlass allein die Mitgliedstaaten zuständig sind. Auch wertungsmäßig macht es keinen Unterschied, ob der Unionsgesetzgeber beispielsweise den Anwendungsbereich einer Richtlinie unzulässig weit fasst oder ob der Gerichtshof eine entsprechende Extension richterrechtlich vornimmt. Insgesamt dürfen die europäischen Gerichte somit keine Rechtsfolge festlegen, die nicht auch der Unionsgesetzgeber als Norm erlassen dürfte.37

b) Die inhaltliche Dimension Die kompetentielle Bindung des Gerichtshofs an das Unionsrecht wirft die Anschlussfrage auf, 16 was unter jener Verpflichtung im Detail zu verstehen ist. Diese Thematik gehört zwar im Kern zu dem Problemkreis der „Auslegung“, doch hängt die Feststellung einer Gesetzeslücke von der Methode der Gesetzesinterpretation ab. Ebenso setzt das Urteil über eine Normderogation eine Interpretation des Gesetzes voraus. Daher sind an dieser Stelle zumindest zwei knappe Bemerkungen zur Wortsinngrenze sowie zum Ziel der Auslegung geboten. aa) Die Wortsinngrenze. Der Wortlaut des Gesetzes ist nicht nur Ausgangspunkt der Inter- 17 pretation,38 sondern es fällt ihm auch eine Begrenzungsfunktion zu. Namentlich bei Analogieverboten kann der noch mögliche Wortsinn eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Darüber hinaus begründet der Normtext ganz generell einen Vertrauenstatbestand für die Rechtsunterworfenen, den es bei einer Rechtsfortbildung zu berücksichtigen gilt. Im Unionsrecht besteht dabei die Besonderheit, dass es verschiedene gleichwertige Vertragssprachen gibt. Diese Mehrsprachigkeit führt indes zu keiner prinzipiellen Verringerung der Begrenzungsfunktion des Wortlauts.39 Entsprechend den Bedeutungsvarianten der verschiedenen Sprachfassungen existieren vielmehr zusätzliche Möglichkeiten einer Grenzziehung, die es im Einzelfall zu bewerten gilt. In Betracht kommen insbesondere ein Vorrang der Mehrheit der übereinstimmen-

_____ 34 Siehe dazu näher BVerfGE 126, 286, 302 ff.; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas (2001), S. 149 ff. 35 Vgl. Hummer/Obwexer, EuZW 1997, 295, 303. 36 Vgl. v.d. Groeben/Schwarze-Zuleeg, Art. 5 EG Rn. 34; Lenz/Borchardt-Langguth, Art. 5 EUV Rn. 28; Hirsch, FS Odersky (1996), S. 200. 37 Vgl. auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 66, 500 ff.; Gruber, Methoden des internationalen Einheitsrechts, S. 325; M. Schmidt, Konkretisierung von Generalklauseln im europäischen Privatrecht (2009), S. 50. 38 Entsprechend verfährt auch der EuGH; vgl. nur exemplarisch EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 53/81 Levin, Slg. 1982, 1035 Rn. 9; s. ferner Colneric, EuZA 2008, 212, 216; dies., ZEuP 2005, 225, 226 f.; Dederichs, Die Methodik des EuGH, S. 77 mwN. 39 A.A. Schulte-Nölke, in: Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen nationalen Rechts, S. 157.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

den Sprachfassungen, ein Vorrang des gemeinsamen Minimums aller Sprachfassungen sowie die Maßgeblichkeit jener Sprachfassung, die den Unionsbürger am wenigsten belastet.40 Weitere Varianten sind denkbar41 und jeweils vor dem Hintergrund der konkreten Schutzbedürfnisse der Rechtsunterworfenen sowie unter Berücksichtigung des Kompetenzgefüges der Union als Schranke richterlicher Rechtsfortbildung in Erwägung zu ziehen. Nach der Rechtsprechung muss grundsätzlich bei Divergenzen der verschiedenen Sprachfassungen eines Unionstextes „die fragliche Vorschrift nach dem Zusammenhang und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.“42 18

bb) Die gesetzgeberische Regelungsabsicht. Ebenso wie in der nationalen Methodendiskussion wird in Bezug auf das Unionsrecht die traditionelle Kontroverse über das Ziel der Auslegung geführt.43 Richtigerweise ist auch im sekundären Unionsrecht primär die gesetzgeberische Regelungsabsicht maßgebend.44 Hierfür sprechen insbesondere die Prinzipien der Demokratie und des institutionellen Gleichgewichts. Auch im Interesse der Methodenklarheit ist ein zweistufiges Verfahren indiziert, das zunächst eine Rekonstruktion der gesetzgeberischen Regelungsabsicht verlangt und sodann eine Offenlegung und Gewichtung jener Gründe, die eine Abweichung legitimieren sollen. Die Erforschung des historischen Gesetzgeberwillens wird dabei im sekundären Unionsrecht insofern erleichtert, als nach Art. 296 Abs. 2 AEUV eine Begründungspflicht für Rechtsakte besteht und zudem nach Art. 15 Abs. 3 AEUV die Dokumente des Rates der Öffentlichkeit zugänglich zu machen sind.45 Mittlerweile berücksichtigt daher auch der EuGH zunehmend die Gesetzesmaterialien.46

c) Die zeitliche Dimension 19 Gesetze können schon vor ihrem Inkrafttreten eine Rechtsfortbildungsschranke begründen.47 20

aa) Die Vorwirkung. Für den Gerichtshof ergibt sich die Pflicht zur Berücksichtigung von noch nicht in Kraft getretenen Gesetzen aus dem Prinzip der Unionsverfassungsorgantreue.48 Eine Sperrwirkung entsteht in der Regel erst mit der Veröffentlichung des zukünftigen Legisla-

_____ 40 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 234 ff.; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 153 ff.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 64 ff. mwN. 41 S. etwa Schilling, ZEuP 2007, 754, 763 („die dem Bürger sprachlich zugängliche Norm müsse die für ihn maßgebliche sein“); Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 151 f. („klarste Fassung“, „Vorrang des Urtextes“). 42 EuG v. 17.5.2013 – verb. Rs. T-147/09 und T-148/09 Trelleborg ./. Kommission, Rn. 73; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-1/02 Borgmann, Slg. 2004, I-3219 Rn. 25 mwN.; s. hierzu auch Seyr, Der effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008), S. 37 ff. 43 Vgl. Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice, S. 247 ff.; Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529 mwN. 44 S. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 11, 32 ff., 53; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 193; jetzt auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 13 ff.; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 383 ff.; a.A. z.B. Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 375 f. 45 Einzelheiten bei Streinz-Gellermann, Art. 15 AEUV Rn. 7 ff.; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 15 AEUV Rn. 6 ff. 46 Vgl. etwa EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr, Rn. 43 ff.; EuGH v. 7.12.2010 – Rs. C-585/08 Pammer, Slg. 2010, I-12527 Rn. 43; EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-199/08 Eschig, Slg. 2009, I-8295 Rn. 57 f.; s. zur Judikatur des EuGH auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU Is, S. 22 ff.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 800; Leisner, EuR 2007, 689 m.umf.N. 47 Siehe zur Vorwirkung von Unionsrecht ausführlich Neuner, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f. sowie Hofmann, in diesem Band, § 15. 48 Vgl. näher Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 213 ff. Neuner

§ 12 Die Rechtsfortbildung

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tivakts im Amtsblatt der EU gem. Art. 297 Abs. 1 UAbs. 3 S. 1 AEUV.49 Ein früherer Zeitpunkt scheidet grundsätzlich aus, weil es bis dahin noch zu Abänderungen kommen kann oder noch überhaupt kein Konsens erzielt wurde. Inhaltlich führt die Sperrwirkung zu keinem generellen Rechtsfortbildungsverbot, sondern nur zu dem Gebot, das intendierte gesetzgeberische Ziel nicht zu vereiteln. Der EuGH hat eine solche Sperrwirkung in seiner grundlegenden Entscheidung Inter-Environnement Wallonie für die Vorwirkung von Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsverfahren bereits formuliert.50 Dieser am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Maßstab ist sachgerecht und als generelle Rechtsfortbildungsschranke geeignet, zumal er eine Parallele im völkerrechtlichen Frustrationsverbot gem. Art. 18 WVK findet. Neben einer Sperrwirkung können zukünftige Normen als Ausdruck eines legislativen Konsenses eine Rechtsfortbildung auch positiv im Sinne einer „Rechtsgewinnungsquelle“51 inspirieren sowie legitimieren und damit zugleich für Rechtssicherheit sorgen. bb) Die Rückwirkung. Im Unterschied zur Vorwirkung beruht die Rückwirkung auf dem 21 Anwendungsbefehl eines in Kraft befindlichen Gesetzes. Dieses ist prinzipiell bindend, solange es nicht wegen eines Primärrechtsverstoßes für nichtig erklärt wurde.52 Wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Racke feststellte, verbietet der Grundsatz der Rechtssicherheit in der Regel eine (echte) Rückwirkung, es sei denn, die Rückwirkung ist gemessen am angestrebten Ziel erforderlich und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen wird gebührend beachtet.53

2. Die Bindung an das Präjudiz Die richterlichen Rechtsfortbildungsoptionen werden nicht nur durch legislative Vorgaben, son- 22 dern auch durch Präjudizien begrenzt.

a) Der Grundsatz der Entscheidungsfreiheit Im Unterschied zum Common Law gibt es im Unionsrecht keine strikte Präjudizienbindung im 23 Sinne einer Rechtsfortbildungssperre.54 Dadurch wird der Gefahr einer Versteinerung der Rechtsprechung vorgebeugt und verbesserte Rechtserkenntnisse können sich durchsetzen. Folgerich-

_____ 49 Vgl. auch Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f.; Messerschmidt, ZG 1993, 11, 22 ff., 28 ff. 50 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 35 ff., 44 f.; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 68 (egal, ob die nationale Regelung die Umsetzung bezweckt oder nicht); EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 (Unterlassenspflicht gilt auch für nationale Gerichte); EuGH v. 23.4.2009 – Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 206; s. dazu auch Röthel, ZEuP 2009, 34, 36 ff. 51 Ausdruck nach Canaris, in: Basedow (Hrsg.), Europäische Vertragsrechtsvereinheitlichung und deutsches Recht (2000), S. 9. 52 Siehe dazu auch unten Rn. 42 ff. 53 EuGH v. 25.1.1979 – Rs. 98/78 Racke, Slg. 1979, 69 Rn. 20; zuletzt EuGöD v. 13.3.2013 – Rs. F-125/11 Isabel Mendes, Rn. 72; siehe ferner auch Streinz-Kopp, Art. 40 AEUV Rn. 106 ff. mwN. 54 Vgl. auch Langenbucher, JbJZ 1999, S. 75 f.; Edward, in: Schulze/Seif (Hrsg.), Richterrecht und Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 76; Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 69; siehe ferner auch schon oben Rn. 10; zum Common Law siehe aus neuerer Zeit Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, S. 53 ff.; Schauer, Thinking like a lawyer, S. 57 ff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

tig sieht sich auch der Gerichtshof durch anders lautende Urteile nicht prinzipiell an einer Rechtsfortbildung gehindert.55

b) Der Grundsatz des Vertrauensschutzes 24 In der Regel orientiert sich der EuGH indes an seiner früheren Rechtsprechung.56 Diese Selbst-

bindung ist im Interesse der Rechtsunterworfenen auch geboten, da Präjudizien, ebenso wie Legislativakte, einen herausragenden Vertrauenstatbestand bilden können.57 Ein Vertrauenstatbestand kann schon mit einem einzigen Urteil begründet werden und verfestigt sich im Rahmen einer ständigen Rechtsprechung. Er nimmt noch an Intensität zu, wenn die Rechtsprechung von der Wissenschaft weitgehend konsentiert wird. Ein Schutz des Vertrauens kann allerdings auch hinfällig sein,58 wenn ein Urteil keinen Vertrauenstatbestand verkörpert, weil es zum Beispiel in sich widersprüchlich ist. Das Gleiche gilt, wenn Gründe in der Person des Vertrauenden entgegenstehen. Dies ist beispielsweise bei einem treuwidrigen Verhalten der Fall. Die von den Präjudizien des Gerichtshofs ausgehenden Kontinuitätserwartungen sind also keine feststehende, sondern eine variable Größe, die es gegen den konkurrierenden Anspruch auf die materiell an sich gebotene Entscheidung abzuwägen gilt.59 In den seltenen Fällen, in denen der EuGH bislang seine eigene Judikatur abgeändert hat, geschah dies jeweils retroaktiv, d.h. rückwirkend und nicht nur für zukünftige Entscheidungen im Sinne eines bloßen prospective overruling.60 Anders als bei einem Wandel seiner Rechtsprechung problematisiert der EuGH im Rahmen 25 von Nichtigkeitsklagen die Rückwirkung. Die Rechtsgrundlage hierfür bildet Art. 264 Abs. 2 AEUV, wonach der Gerichtshof von der grundsätzlich geltenden ex-tunc-Wirkung absehen kann, „falls er dies für notwendig hält“. Dieselbe Kompetenz nimmt der EuGH im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren in Anspruch, indem er sich teilweise auf eine Analogie zu Art. 264 Abs. 2 AEUV, teilweise auf den Grundsatz der Rechtssicherheit und teilweise kumulativ auf beide Aspekte stützt.61 Dogmatisch geht es hierbei also nicht um das Abweichen von einem Präjudiz, sondern gleichsam um das Betreten „justitiellen Neulands“ im Wege (meist extensiver) Auslegung oder Rechtsfortbildung.62 Nach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH kann auch in einer solchen Konstellation die Rückwirkung nur ausnahmsweise beschränkt werden, wenn zwei grundlegende Kriterien erfüllt sind, „nämlich guter Glaube der Betroffenen und die Gefahr schwerwiegender Störungen.“63 Rein finanzielle Folgewirkungen werden als hinreichender Be-

_____ 55 S. dazu näher GA Trstenjak, Schlussanträge v. 28.3.2007 – Rs. C-331/05 Internationaler Hilfsfonds, Slg. 2007, I-5475 Tz. 84 ff.; Arnull, The European Union and its Court of Justice, S. 629 f.; Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 254 f.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 189 f. mwN. 56 Zum „Distinguishing“ in der Rechtsprechung des EuGH s. näher Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 243 ff., 257 ff. 57 Vgl. auch Hager, Rechtsmethoden in Europa, S. 255 ff.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 190 ff., 353. 58 Siehe näher Neuner, ZHR 153 (1993), 243, 280 ff. 59 Vgl. Langenbucher, JZ 2003, 1132, 1134 ff.; dies., Die Entwicklung und Auslegung von Richterrecht (1996), S. 121 ff. 60 Vgl. Bydlinski, JBl. 2001, 1, 26; Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft (2009), S. 209 ff. 61 Siehe ausführlich Klappstein, Die Rechtsprechungsänderung mit Wirkung für die Zukunft (2009), S. 161 ff. mwN. 62 Vgl. auch Weiß, EuR 1995, 377, 386. 63 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-262/12 Association Vent de Colère Fédération nationale u.a., Rn. 40; EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-338/11 bis 347/11 Santander Asset Management u.a., Rn. 59 mwN.; s. hierzu auch Fenyves/Kerschner/ Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 17 sowie Rosenkranz, in diesem Band, § 16 Rn. 21 ff.

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§ 12 Die Rechtsfortbildung

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schränkungsgrund nicht anerkannt, vielmehr bedarf es umfassender vertrauensrechtlicher Erwägungen.64

IV. Die Methodik der Rechtsfortbildung Jenseits der Wortlautgrenze werden von der traditionellen deutschsprachigen Methodenlehre die 26 Bereiche praeter und contra legem unterschieden.65 Gegen das Gesetz kann allerdings auch innerhalb der Wortlautgrenze judiziert werden, wenn bei mehreren möglichen (normtextuellen) Bedeutungen jene gewählt wird, die nicht der gesetzgeberischen Zweckvorstellung entspricht. Mit der Differenzierung zwischen praeter und contra legem korrespondiert zudem eine unterschiedliche Wertung, je nachdem welchen Gesetzesbegriff man zugrunde legt. Nach der objektiven Auslegungstheorie ist mit der Kennzeichnung einer Rechtsfindung als „contra legem“ ein normatives Unzulässigkeitsurteil verbunden, das freilich davon abhängt, was der Interpret jeweils als „objektives“ Auslegungsergebnis annimmt.66 Folgt man hingegen der subjektiven Auslegungslehre, wird der contra-legem-Sektor nicht stigmatisiert, sondern lediglich durch erhöhte Begründungsanforderungen geprägt. Nach dieser vorzugswürdigen Ansicht ist eine Gesetzesderogation nicht a priori illegitim, sondern in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen zulässig und geboten. 1. Die Rechtsfindung praeter legem Analysiert man zunächst die Voraussetzungen und Grenzen einer praeterlegalen Fortbildung des 27 sekundären Unionsrechts, bietet es sich an, auf das Bild der „Lücke“ als „planwidrige Unvollständigkeit innerhalb des positiven Rechts (…) gemessen am Maßstab der gesamten geltenden Rechtsordnung“67 zurückzugreifen.68 Es ist allerdings unschädlich, wenn der EuGH dieser Terminologie nur vereinzelt folgt,69 solange er die maßgeblichen funktionalen Sachkriterien transparent darlegt und beachtet.

a) Die Lückenfeststellung In Bezug auf die Feststellung einer Lücke besteht im Unionsrecht die Besonderheit, dass nicht die 28 Rechtsordnung als Ganzes, sondern nur die europäische Teilrechtsordnung den Vergleichsmaßstab bildet.70 Im Anschluss an die Terminologie im internationalen Einheitsrecht kann man deshalb interne von externen Lücken unterscheiden71 und beide Systeme entsprechend abgrenzen.

_____ 64 S. näher Schlachter, ZfA 2007, 249, 265 ff.; Pollicino, GLJ 5 (2004), 283, 300 ff.; Bydlinski, JBl. 2001, 1, 24 mwN. 65 Siehe z.B. Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. mwN; nach Metzger, Extra legem, intra ius, S. 185 f. m. Fn. 116 stellt bereits jede Entscheidung gegen den Wortlaut des Gesetzes ein contra-legem-Judizieren dar, das aber nicht zwangsläufig unzulässig ist. 66 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 250 ff. 67 Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 39, 198. 68 A.A. Flessner, JZ 2002, 14, 21; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht, S. 109 ff. 69 Der Begriff der „Gesetzeslücke“ wird zum Beispiel verwandt in EuGH v. 19.6.1979 – Rs. 180/78 Brouwer-Kaune, Slg. 1979, 2111 Rn. 8; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, Slg. 2009, I-5295 Rn. 35; s. auch GA Sharpston v. 26.9.2013 – Rs. C-366/12 Finanzamt Dortmund-West ./. Klinikum Düsseldorf, Tz. 57. 70 Vgl. Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 68 ff. mwN. 71 Vgl. Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 605 ff.; Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700, 713 f.; entgegen Metzger, Extra legem, intra ius, S. 397 ff. erscheint diese Terminologie vor allem zur Abgrenzung der justitiellen Kompetenzen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

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aa) Das externe System. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Europarechts kann von vornherein nur in jenem Bereich auftreten, der kompetentiell der Union zugeordnet und nicht den Mitgliedstaaten vorbehalten ist. Nach dem Plan des Unionsrechts gelten die Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und der Subsidiarität. Die Judikative darf deshalb keine Regelungslücke annehmen, sofern nicht auch der Unionsgesetzgeber für diesen Fall zu einer Lückenfüllung befugt wäre.72

30

bb) Das interne System. Eine Rechtsfortbildung praeter legem setzt zudem eine Planwidrigkeit im internen System des Sekundärrechts voraus. Diese Feststellung bemisst sich primär aus der Perspektive des Unionsgesetzgebers und hängt davon ab, inwieweit jener eine abschließende Regelung treffen wollte oder nur unvollständig legiferierte.73 Eine gesetzestechnische Besonderheit bildet dabei im Bereich des Sekundärrechts das Instrumentarium der Richtlinie. Richtlinien können zwar ebenso wie Verordnungen Lücken aufweisen, doch gilt dies nicht, soweit die konkrete Auslegung ergibt,74 dass den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen wird.75 Räumt eine Richtlinie beispielsweise den Mitgliedstaaten die Wahl zwischen mehreren Regelungsalternativen ein, liegt auf Seiten des Unionsrechts keine planwidrige Unvollständigkeit vor.

b) Die Maßstäbe der Lückenausfüllung 31 Als Mittel zur Ausfüllung von Lücken im Sekundärrecht kommen im Wesentlichen der Gleich-

heitssatz sowie das Primärrecht in Betracht. 32

aa) Der Gleichheitssatz. Der positive Gleichheitssatz gebietet, dass gleichartige Tatbestände gleich zu behandeln sind, also die Rechtsfolge R nicht nur für den im Gesetz geregelten Tatbestand T1, sondern analog auch für den gleich liegenden Tatbestand T2 gilt.76 Solche Analogieschlüsse finden sich immer wieder in der Rechtsprechung des EuGH.77 Der Gerichtshof machte im Urteil Krohn78 die Lückenausfüllung mittels Analogie allerdings noch von einem Verstoß gegen höherrangiges Unionsrecht, insbesondere von einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote, abhängig.79 Diese Bezugnahme war zu restriktiv. Zum Primärrecht gehören nicht nur die

_____ und zur Wahrung der mitgliedstaatlichen Interessen durchaus sachgerecht (auch im Vergleich zur open-textureKonzeption). Unerheblich ist ferner, ob der Gesetzgeber quantitativ „eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt“ hat, da der Lückenbegriff funktional nur zum Ausdruck bringen soll, dass die Rolle der Legislative als Rechtsbildungsinstanz nicht in Frage gestellt wird; a.A. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 51. 72 Siehe auch schon oben Rn. 15. 73 Siehe zum Umkehrschluss näher Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 173 f.; Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 221 f. mwN. 74 Siehe näher I. Wolff, Die Verteilung der Konkretisierungskompetenz für Generalklauseln in privatrechtsgestaltenden Richtlinien (2002), S. 60 ff. 75 Vgl. auch EuGH v. 6.2.2003 – Rs. C-245/00 Sena, Slg. 2003, I-1251 Rn. 34; EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; EuGH v. 6.11.2003 – verb. Rs. C-78/02 bis C-80/02 Karageorgou u.a., Slg. 2003, I-13295 Rn. 49; Bultmann, JZ 2004, 1100, 1103 f. 76 Vgl. nur Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 71; zum „Analogical Reasoning from Case to Case“ siehe näher Alexander/Sherwin, Demystifying Legal Reasoning, S. 66 ff.; Schauer, Thinking like a lawyer, S. 85 ff.; Sunstein, Legal Reasoning and Political Conflict (1996), S. 62 ff. 77 Siehe näher Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 321 ff. mwN. 78 EuGH v. 12.12.1985 – Rs. C-165/84 Krohn, Slg. 1985, 3997 Rn. 14, 23. 79 Siehe auch Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 318 ff. mwN.

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§ 12 Die Rechtsfortbildung

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expliziten Diskriminierungsverbote, sondern auch der induktiv aus diesen Verboten sowie aus Art. 6 EUV iVm Art. 20, 21 GRCh ableitbare allgemeine Gleichheitssatz, der überdies als wesentliches Element der Rechtsidee zu den apriorischen Bestandteilen der Unionsrechtsordnung gerechnet werden kann.80 Mittlerweile interpretiert der EuGH den Grundsatz der Gleichbehandlung daher ebenfalls als einen „allgemeine(n) Grundsatz des Unionsrechts, der (…) nach ständiger Rechtsprechung verlangt (…), dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist.“81 Geradezu ein methodologisches Lehrstück einer Gleichbehandlung im Sinne des Analogieverfahrens enthält die Entscheidung Sturgeon82 zu Entschädigungspflichten im Flugverkehr: Zunächst arbeitet der EuGH den Unterschied zwischen der Annullierung und der Verspätung eines Fluges heraus.83 Als Zwischenergebnis hält er sodann fest, dass „sich aus dem Wortlaut der Verordnung Nr. 261/2004 nicht unmittelbar“ ein Entschädigungsanspruch bei Verspätungen ergibt (Rn. 41). In der weiteren Argumentation legt der EuGH dar, dass Art. 6 der Richtlinie über Unterstützungsleistungen bei Verspätungen wegen der Verschiedenartigkeit der Schäden und der erforderlichen Sofortmaßnahmen keine abschließende Regelung darstellt (Rn. 64 ff.). Zudem verweist er auf die Begründungserwägungen (Nr. 1 bis 4, vor allem auf die Gleichstellung von Verspätung und Annullierung in Nr. 15; vgl. Rn. 43 ff., 67) sowie objektiv-teleologisch auf den jeweiligen Zeitverlust, „der angesichts seines irreversiblen Charakters nur mit einer Ausgleichszahlung ersetzt werden kann“ (Rn. 52). Schließlich vergleicht der Gerichtshof beide Sachverhalte und kommt zu dem Ergebnis (Rn. 60): „Da die von den Fluggästen im Fall einer Annullierung und einer Verspätung erlittenen Schäden einander entsprechen, können die Fluggäste verspäteter Flüge und die annullierter Flüge nicht unterschiedlich behandelt werden, ohne dass gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen würde.“ Man mag diese Entscheidung im Hinblick auf die konkrete Feststellung einer Regelungslücke angreifen,84 methodisch demonstriert sie gleichwohl den klassischen Analogieschluss. Umgekehrt argumentiert der EuGH beispielsweise im Urteil ÖBB-Personenverkehr: „Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die jeweilige Lage der in den verschiedenen Verkehrssektoren tätigen Unternehmen nicht miteinander vergleichbar ist (…). Demnach können die im Unionsrecht für die anderen Beförderungsformen vorgesehenen Ausschlussgründe nicht analog auf die Beförderung im Eisenbahnverkehr angewandt werden.“85 Zudem vergleicht der EuGH auch einzelne Gesetzgebungsakte miteinander. So hat der Gerichtshof etwa geprüft, ob die in einer bestimmten Richtlinie vorgesehene Ausnahme im Anwendungsbereich einer anderen Richtlinie analog anzuwenden ist.86 Der Gerichtshof hat dies in concreto zwar unter Hinweis auf den unplausiblen Methodensatz, dass Ausnahmen strikt auszulegen sind,87 abgelehnt, das Ergebnis aber zusätzlich in mehrfacher Hinsicht teleologisch abgesichert.88 Gelegentlich verwendet der EuGH auch ein argumentum a fortiori, mit dem dargelegt wird, dass die Gründe einer Norm in noch stärkerem Maße auf einen nicht explizit geregelten Fall zutreffen.89 So hat der EuGH beispielsweise in der Entscheidung Marra ausgeführt: „Da Art. 23 dem Parlament (…) das Recht verleiht, schrift-

_____ 80 S. dazu näher Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 57, 71 mwN. 81 EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals Ltd u.a., Slg. 2010, I-8301 Rn. 54 f. mwN (unter Berufung auf Art. 20, 21 GRCh); s. ferner v. d. Groeben/Schwarze-Beutler, Art. 6 EU Rn. 87. 82 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923; zur Verspätung aufgrund verpasster Anschlussflüge EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-11/11 Air France ./. Folkerts, Rn. 25 ff. 83 Eine Verspätung liegt, ungeachtet der Dauer, vor, wenn der Flug „entsprechend der ursprünglichen Flugplanung des Luftfahrtunternehmens durchgeführt wird“; Rn. 39 des Sturgeon-Urteils. 84 Die Vorinstanzen in Deutschland und Österreich hatten Ausgleichsansprüche verneint, vgl. Rn. 16, 24 des Urteils; s. auch kritisch Riesenhuber, in: Karakostas/Riesenhuber (Hrsg.), Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung (2011), S. 55 ff. 85 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr, Rn. 47 f. 86 EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, Slg. 2006, I-4137 Rn. 51. 87 S. zu dieser verfehlten Auslegungsregel auch ausführlich Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 62 ff. 88 EuGH v. 11.5.2006 – Rs. C-340/04 Carbotermo und Consorzio Alisei, Slg. 2006, I-4137 Rn. 55, 53 f. 89 S. hierzu auch Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU, S. 220 f. mwN. Neuner

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2. Teil: Allgemeiner Teil

liche Erklärungen in Fällen abzugeben, in denen es um die Gültigkeit oder die Auslegung einer vom Parlament als Mitgesetzgeber erlassenen Handlung geht, ist ein solches Recht erst recht dann anzuerkennen, wenn es sich um ein Vorabentscheidungsersuchen handelt, das die Auslegung einer von diesem Organ als alleinigem Urheber erlassenen Handlung wie etwa der Geschäftsordnung betrifft.“90 Mitunter bezieht sich die Rechtsprechung mit einem argumentum a fortiori auch auf frühere Urteile, wie etwa in der Entscheidung Région NordPas-de-Calais: „Der Gerichtshof hat (…) den Organen der Union das Recht zuerkannt, eine Entscheidung, mit der ihrem Adressaten ein Vorteil gewährt worden war, wegen ihrer Rechtswidrigkeit zurückzunehmen. Dieses Recht zur Rücknahme einer rechtswidrigen Entscheidung muss den Organen der Union a fortiori zustehen, wenn es wie bei der angefochtenen Entscheidung um einen nicht begünstigenden Akt geht, der sich als rechtswidrig erweist.“91

33 Der negative Gleichheitssatz verlangt, Ungleichartiges verschieden zu behandeln. Konsequen-

terweise kennt der EuGH daher nicht nur eine den Wortsinn übersteigende Rechtsfortbildung mittels Analogieschlusses, sondern auch in der Gegenrichtung eine restriktive Interpretation,92 die man nach deutschem Sprachgebrauch als teleologische Reduktion bezeichnet, sofern der Normtext zu weit gefasst ist und eine erforderliche Einschränkung vermissen lässt. Der EuGH differenziert zwar nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung,93 doch ist kennzeichnend, dass er restriktive Richtlinieninterpretationen mit dem methodischen Prolegomenon einleitet: „Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.“94 Im Übrigen ist auch in diesem Kontext das Subsidiaritätsprinzip zu beachten, so dass die Argumentationslast für eine das Sekundärrecht erweiternde und zugleich das nationale Recht einschränkende Rechtsfortbildung höher ist als im umgekehrten Fall der teleologischen Reduktion des Unionsrechts.95 34 Der EuGH verlangt des Weiteren hinreichende Indizien für die Annahme eines allgemeinen ungeschriebenen Grundsatzes des Sekundärrechts.96 Im Audiolux-Urteil wird betont, „dass der bloße Umstand, dass es im abgeleiteten [Unions-]recht verschiedene Vorschriften zum Schutz von Minderheitsaktionären gibt, für sich genommen noch nicht für den Nachweis der Existenz eines allgemeinen Grundsatzes des [Unions-]rechts genügt, insbesondere wenn ihr Anwendungsbereich auf sehr genau festgelegte und bestimmte Rechte beschränkt ist.“97 Einen Indizwert besitzen diese Vorschriften nur, „soweit sie zwingend formuliert sind und sich der genaue Inhalt des gesuchten Grundsatzes aus ihnen ergibt“.98 In concreto lehnt der EuGH die induktive Gewinnung eines allgemeinen Grundsatzes vor allem deshalb ab, weil sich die maßgeblichen

_____ 90 EuGH v. 21.10.2008 – Rs. C-200/07 und C-201/07 Alfonso Luigi Marra ./. Eduardo De Gregorio u.a., Slg. 2008, I-7929 Rn. 22; s. ferner z.B. EuGH v. 27.10.1971 – Rs. 6/71 Rheinmühlen Düsseldorf ./. Einfuhr- und Vorratsstelle, Slg. 1974, 823 Rn. 5. 91 EuG v. 12.5.2011 – verb. Rs. T-267/08 und T-279/08 Région Nord-Pas-de-Calais u.a., Slg. 2011, II-1999 Rn. 189 f. 92 Vgl. z.B. EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 65 ff., 71; EuGH v. 4.10.1991 – Rs. C-183/90 van Dalfsen u.a., Slg. 1991, I-4743 Rn. 19 ff.; siehe ferner auch Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 217 ff. mwN. 93 S. bereits oben Rn. 2. 94 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 Parlament ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 67 mwN.; zuletzt EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-442/12 Sneller ./. DAS Nederlandse Rechtsbijstand, Rn. 21. 95 Vgl. Langenbucher, ZGR 2010, 75, 84 f. 96 S. zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Maßstab der Lückenfüllung auch Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht, S. 168 ff. mwN. 97 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 m. Anm. Klöhn, LMK 2009, 294692; zurückhaltend auch GA Trstenjak v. 8.9.2011 – Rs. C-282/10 Dominguez ./. Centre informatique, Tz. 140. 98 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823 Rn. 34 mwN. Neuner

§ 12 Die Rechtsfortbildung

259

Vorschriften „nur auf ganz bestimmte Situationen beziehen“,99 es sich also lediglich um eine Reihe von Sondertatbeständen handelt.100 Enthält eine Richtlinie oder Verordnung kein ausdrückliches Umgehungsverbot, kann mit- 35 unter bereits eine restriktive oder extensive Auslegung eine Gesetzesumgehung ausschließen. Über die Wortlautgrenze hinaus kommt eine Analogie oder teleologische Reduktion in Betracht, falls die Parteien den Zweck eines gesetzlich nicht erlaubten Geschäfts mit Hilfe eines anderen, nicht explizit verbotenen zu erreichen suchen.101 bb) Das Primärrecht. Ebenso wie im nationalen Recht ist im Unionsrecht das niederrangige 36 Recht im Lichte des höherrangigen Rechts zu interpretieren. Im Stufenbau des Unionsrechts bildet dabei das Primärrecht die lex superior gegenüber dem Sekundärrecht. Diese Normenhierarchie folgt aus dem verfassungsähnlichen Charakter des Primärrechts, insbesondere aus der Regelung des Art. 288 AEUV über die Rechtsetzungskompetenz auf der sekundären Ebene.102 Vor allem der Systemgedanke sowie die Autorität der Vertragsparteien gebieten es, das abgeleitete Unionsrecht soweit als möglich primärrechtskonform auszulegen.103 Hinsichtlich der materiellen Vorgaben ist kennzeichnend, dass zum Primärrecht alle rechts- 37 staatlichen Grundsätze, namentlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, gehören.104 Daneben sind auch die Unionsgrundrechte im Rahmen einer primärrechtskonformen Rechtsfindung mitzuberücksichtigen.105 Terminologisch kann man im Hinblick auf die Wortlautgrenze zwischen einer primärrechts- 38 konformen Auslegung und einer primärrechtskonformen Rechtsfortbildung unterscheiden.106 Eine primärrechtskonforme Interpretation kommt aber nur subsidiär in Betracht, wenn nach Ausschöpfung der herkömmlichen canones eine konkrete Regelungsabsicht nicht rekonstruierbar ist.107 Verfolgt der Gesetzgeber einen primärrechtswidrigen Zweck, darf die rechtswidrige Norm nicht in eine primärrechtskonforme Regelung uminterpretiert werden. Der Gerichtshof hat vielmehr eine rechtswidrige Norm für nichtig zu erklären, und zwar entweder im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV oder einer Nichtigkeitsklage gem. Art. 263 Abs. 1 AEUV.108 Dieses Prozedere ist sachlich geboten, weil dem Unionsgesetzgeber sonst potentielle Handlungsalternativen abgeschnitten würden und das institutionelle Gleichgewicht durch eine judikative Normsubstitution aus den Fugen geriete.109 Bestehen hingegen mehrere Auslegungsoptionen, ist diejenige vorzuziehen, die mit dem Primärrecht vereinbar ist.110

_____ 99 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823 Rn. 35. 100 S. zur methodologischen Abgrenzung auch Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 97 ff. 101 S. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 109; von Lackum, Die Gesetzesumgehung im Europarecht (2009), insbes. S. 196 ff. zur Umgehungsrechtsprechung des EuGH. 102 Vgl. auch Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, S. 363 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 541 f. 103 Vgl. auch Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 22 ff.; Grundmann, RabelsZ 75 (2011), 882, 895 ff. 104 S. näher Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 ff.; Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 177 ff.; Tridimas, The General Principles of EU Law (2. Aufl. 2006), S. 136 ff. mwN. 105 S. näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, Rn. 180 ff.; Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 66 ff. mwN. 106 Vgl. auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 197. 107 Siehe auch Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, S. 194. 108 Vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 63. 109 Vgl. auch unten Rn. 44. 110 Vgl. EuGH v. 13.12.1983 – Rs. 218/82 Kommission ./. Rat, Slg. 1983, 4063 Rn. 15; EuG v. 9.7.2009 – verb. Rs. T-246/08 und T-332/08 Melli Blank, Slg. 2009, II-2629 Rn. 76. Neuner

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2. Teil: Allgemeiner Teil

c) Die Grenzen der Lückenausfüllung 39 Das sekundäre Unionsrecht ist seiner Natur nach nicht analogiefeindlich, obgleich es zum Teil

einen Ausnahmecharakter aufweist. Ein Analogieschluss darf zwar ein Regel-Ausnahme-Verhältnis durch die Herausbildung eines allgemeinen Prinzips nicht auf den Kopf stellen, doch sind auch zwei rechtsähnliche Sondertatbestände grundsätzlich gleich zu behandeln.111 Eine Lückenausfüllung scheidet im Wesentlichen nur in zwei Fällen aus: 40

aa) Analogieverbote. Der noch mögliche Wortsinn kann vor allem zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten der Unionsbürger eine Schranke zulässiger Rechtsfindung bilden. Dies gilt einmal für Regelungen, die eine Bestrafung anordnen oder zumindest einen strafähnlichen Charakter aufweisen (z.B. die Verhängung von Bußgeldern durch die EU-Kommission).112 Über den Grundsatz nulla poena sine lege stricta hinaus ist ein Analogieverbot ganz generell bei belastenden Eingriffen indiziert.113 So lehnt auch der EuGH namentlich im Abgabenrecht eine analoge Anwendung von Regelungen prinzipiell ab, die den einzelnen Bürger belasten.114

41

bb) Unausfüllbare Lücken. Neben Lücken, bei denen eine Ausfüllung aufgrund eines Analogieverbotes unzulässig ist, gibt es Lücken, bei denen eine Ausfüllung rechtlich nicht möglich ist.115 Der EuGH sieht sich zu einer Lückenausfüllung außer Stande, wenn bloße Zweckmäßigkeitserwägungen zu treffen sind. Das Gleiche gilt, wenn mehrere primärrechtskonforme Regelungsalternativen bestehen.116 Der EuGH verweist zur Lückenausfüllung dann folgerichtig auf die nationalen Gerichte und Gesetzgeber117 sowie die zuständigen Unionsorgane.118

2. Die Rechtsfindung contra legem 42 Mit dem Gebot richterlicher Gesetzesbindung korrespondiert ein grundsätzliches Verbot richter-

licher Gesetzesderogation. Der EuGH ist sich dieser Einschränkung bewusst und betont ausdrücklich seine fehlende Kompetenz zur Normkorrektur bei Bestimmungen, die er für unbefrie-

_____ 111 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 181; Schilling, EuR 1996, 44, 52 f. mwN. 112 Vgl. EuGH v. 25.9.1984 – Rs. 117/83 Könecke, Slg. 1984, 3291 Rn. 11, 13, 16; EuGH v. 29.3.2011 – Rs. C-352/09 ThyssenKrupp, Slg. 2011, I-2359 Rn. 80: „(…) verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung klar die Zuwiderhandlungen und die Sanktionen definiert (…)“; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 76 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 289 ff. mwN. 113 Vgl. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 402 f.; Langenbucher, JbJZ 1999, S. 77. 114 EuGH v. 15.12.1987 – Rs. 325/85, Irland ./. Kommission, Slg. 1987, 5041 Rn. 18; s. auch EuGH v. 5.5.2011 – Rs. C-201/10 und C-202/10 Ze Fu Fleischhandel und Vion Trading ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Slg. 2011, I-3545 Rn. 52: „Dürfte ein nationales Gericht in einer solchen Situation (…) eine bisher angewandte bestimmte Verjährungsfrist verkürzen, um sie auf ein mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbarendes Maß zu bringen, obwohl ihm jedenfalls in seiner Rechtsordnung eine unmittelbar anwendbare unionsrechtliche Verjährungsvorschrift zur Verfügung steht, liefe dies den Grundsätzen zuwider, dass zum einen eine Verjährungsfrist, um ihren Zweck, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, zu erfüllen, im Voraus festgelegt sein muss (…) und dass zum anderen jede ‚analoge‘ Anwendung einer Verjährungsfrist für den Betroffenen hinreichend vorhersehbar sein muss (…).“ 115 Vgl. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 172. 116 Vgl. Dänzer-Vanotti, FS Everling, Bd. I, S. 221; Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 324 ff. 117 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-454/98 Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973 Rn. 48 f.; EuGH v. 18.6.2009 – Rs. C-566/07 Stadeco, Slg. 2009, I-5295 Rn. 35; s. ferner auch schon EuGH v. 11.5.1983 – Rs. 87/82 Rogers, Slg. 1983, 1579 Rn. 21. 118 EuGH v. 23.3.2000 – verb. Rs. C-310/98 und C-406/98 Met-Trans, Slg. 2000, I-1797 Rn. 32; EuGH v. 19.10.1977 – verb. Rs. 117/76 und 16/77 Ruckdeschel u.a., Slg. 1977, 1753 Rn. 13. Neuner

§ 12 Die Rechtsfortbildung

261

digend erachtet.119 Wie bei jedem Prinzip gibt es allerdings auch in Bezug auf die richterliche Gesetzesbindung Ausnahmen.120 Folgerichtig bestimmt Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, dass der Gerichtshof das „Recht“ und nicht allein das „Gesetz“ zu wahren hat.121

a) Die Feststellung der Nichtigkeit Im Unionsrecht sind die grundsätzlichen rechtstheoretischen Relativierungen der richterlichen 43 Gesetzesbindung insofern hinfällig, als der EuGH gem. Art. 263 Abs. 1, 267 Abs. 1 lit. b) AEUV eine Norm für nichtig erklären kann.122 Diese Verwerfungskompetenz umfasst alle Fälle, in denen eine Sekundärrechtsnorm mit dem Primärrecht kollidiert. Den Maßstab bilden dabei insbesondere auch die in den Mitgliedstaaten anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätze gem. Art. 2 EUV123 sowie die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 3 EUV einbezogenen Grundrechte der GRCh und der EMRK.

b) Die Folgen der Nichtigkeit Eine Nichtigkeitsfeststellung bewirkt in der Regel eine erneute Zuständigkeit des Unionsgesetz- 44 gebers. Dieser kann nunmehr anstelle der nichtigen Norm über rechtmäßige Alternativentscheidungen befinden. Angesichts dieser kompetentiellen Rückverlagerung erweist sich eine Nichtigkeitsfeststellung als der moderateste Eingriff in das Gewaltenteilungsgefüge. Dem trägt die subjektive Auslegungstheorie dadurch Rechnung, dass sie bei einer Abweichung von der gesetzgeberischen Regelungsabsicht grundsätzlich eine Nichtigkeitserklärung verlangt. Der objektiven Auslegungstheorie gelingt es zwar, eine Nichtigkeitserklärung tendenziell zu vermeiden, doch besteht die Gefahr, dass der Verzicht auf die Normkassation um den Preis einer richterlichen Normsetzung erkauft wird. Der Gerichtshof ist nur ausnahmsweise zu einer eigenen Lückenausfüllung befugt, falls das Primärrecht keine Alternativen eröffnet und eine bestimmte Regelung fordert.

c) Die Einzelfallgerechtigkeit Ungeachtet der rechtsstaatlichen Standards des Primärrechts kann die sehr seltene Situa- 45 tion eintreten, dass das allgemein gefasste Sekundärrecht den Besonderheiten des Einzelfalles nicht gerecht wird. Eine Nichtigkeitserklärung durch den Gerichtshof scheidet in einer solchen Konstellation aus, denn der Fehler liegt hier „weder im Gesetz noch beim Gesetzgeber, sondern

_____ 119 Siehe z.B. EuGH v. 26.4.1972 – Rs. 92/71 Interfood, Slg. 1972, 231 Rn. 5; weitere Nachweise bei Borchardt, GS Grabitz (1995), S. 41; kritisch zu einzelnen Entscheidungen namentlich Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, Bd. I, S. 395 ff. mwN; aus steuerrechtlicher Sicht Leitl, UVR 2008, 138 ff.; aus arbeitsrechtlicher Sicht Wank, FS Birk (2008), S. 929 ff. 120 Siehe dazu näher Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 139 ff. 121 Analoge Formulierungen finden sich auch in den meisten anderen Textfassungen, vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 91 f. mwN; kritisch zur Interpretation von Art. 220 EG als Rechtsfortbildungskompetenz Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts (2006), S. 145, der sich einerseits vom Normtext des Art. 220 EG a.F. löst, um andererseits die (bereits im nationalen Recht verfehlte) These von der notwendigen Rückführung richterlicher Entscheidungen auf Normtexte aufrechterhalten zu können. 122 Vgl. z.B. EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 72; EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755 Rn. 37; siehe zur Kontrolle durch den Gerichtshof auch Everling, FG Gündisch (1999), S. 92 ff., mit krit. Anmerkungen zu dessen relativ weitgehender Zurückhaltung gegenüber dem Unionsgesetzgeber. 123 Siehe dazu auch schon oben Rn. 37 sowie Metzger, Extra legem, intra ius, S. 458 ff. mwN. Neuner

262

2. Teil: Allgemeiner Teil

in der Natur der Sache“.124 Ein contra-legem-Judizieren kommt also in exzeptionellen Ausnahmekonstellationen in Betracht, wenn der konkrete Streitfall vom gesetzlich fixierten Normaltypus so eklatant abweicht, dass die Gesetzesbindung zu einem untragbaren Ergebnis führen würde.

V. Schlussbetrachtung 46 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Gerichtshof auch im Sekundärrecht zur Rechtsfortbil-

dung grundsätzlich befugt ist. Er hat dabei weder die Aufgabe eines „Integrationsmotors“, noch unterliegt er einem judicial self-restraint. Ersteres birgt die Gefahr der Kompetenzüberschreitung durch eine eigenständige Integrationspolitik, Letzteres die Gefahr der Kompetenzunterschreitung durch eine Missachtung unionsrechtlicher Vorgaben. Der Gerichtshof muss bei seiner Kompetenzausübung auch keiner bestimmten Methodenterminologie folgen, solange die maßgeblichen Sachkriterien beachtet werden.125 Dazu zählen vor allem die Grundsätze der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung sowie das Prinzip des Vertrauensschutzes. Der Gerichtshof ist deshalb in seiner Methodenwahl nicht frei.126 Er hat vielmehr auch bei der Fortbildung des sekundären Unionsrechts in erster Linie die Wertungen des Primärrechts zu achten.

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_____ 124 Aristoteles, Die Nikomachische Ethik (Übersetzung von O. Gigon) (7. Aufl. 2006), 1137b 18 f.; siehe dazu auch Schauer, Thinking like a lawyer, S. 119 f. 125 Siehe i.Ü. die berechtigte Forderung von Kühling/Lieth, EuR 2003, 371, 384 nach einer behutsamen Übertragung nationaler dogmatischer Figuren auf unionsrechtliche Fragestellungen. 126 A.A. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To say What the Law of the EU Is, S. 4: „(…) the ECJ is, in principle, free to choose which of the methods of interpretation at its disposal best serves the EU legal order“; kritisch zu dieser Einschätzung des Vizepräsidenten des EuGH Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 28.

Neuner

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

263

Abschnitt 4 Mitgliedstaatliches Recht 2. Teil: Allgemeiner Teil

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung § 13 Die richtlinienkonforme Auslegung Roth/Jopen

Wulf-Henning Roth/Christian Jopen Literatur Marietta Auer, Neues zu Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung, NJW 2007, 1106–1109; Ulrike Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht – Ein rechtsvergleichender Beitrag zur europäischen Methodendiskussion (2007); Nicole Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis (2013); Winfried Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung – Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik der EG-Richtlinie (1994); Claus-Wilhelm Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in: Helmut Koziol/Peter Rummel (Hrsg.), Im Dienste der Gerechtigkeit – Festschrift für Franz Bydlinski (2002), S. 47–103; ders., Gemeinsamkeiten zwischen verfassungs- und richtlinienkonformer Rechtsfindung, in: Hartmut Bauer u.a. (Hrsg.), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat – Festschrift für Reiner Schmidt zum 70. Geburtstag (2006), S. 41–60; Ronny Domröse, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Anwendung des autonomen Privatrechts der Mitgliedstaaten, JbJZ 2009, S. 109–125; Alexander Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich (2012); Wolfgang Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung (2010); Ulrich Ehricke, Die richtlinienkonforme und die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, RabelsZ 59 (1995), 598– 644; Martin Franzen, „Heininger“ und die Folgen: ein Lehrstück zum Gemeinschaftsprivatrecht, JZ 2003, 321–332; Olivier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts – Erscheinungsformen und dogmatische Grundlage eines Rechtsprinzips des Unionsrechts (2009); Martin Gebauer, Umsetzungsprobleme von EG-Richtlinien und ihre Lösung, AnwBl 2007, 314–319; Nils Grosche/Jan Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Grenzen? NJOZ 2009, 2294–2309; Stefan Grundmann, Richtlinienkonforme Auslegung im Bereich des Privatrechts – insbesondere: der Kanon der nationalen Auslegungsmethoden als Grenze? ZEuP 1996, 399–424; Carsten Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen – Methoden, Kompetenzen, Grenzen dargestellt am Beispiel des Privatrechts (2006); ders., Die richtlinienkonforme und die verfassungskonforme Auslegung im Privatrecht, JuS 2014, 289–298; Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung – Zur Auflösung einfachgesetzlicher, verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Widersprüche im Recht (2008); ders., Voraussetzungen und Grenzen richtlinienkonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, JbJZ 2009, S. 73–108; ders., Über Sinn und Unsinn der sogenannten „richtlinienkonformen Rechtsfortbildung“ – Erwiderung zu Thomas M.J. Möllers und Alexandra Möhring, JZ 2008, 919, JZ 2009, 403–405; ders./Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Anna Judith Kaiser, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung – unionsrechtliche und nationale Methodik der Rechtsfindung, ZEuS 2010, 219–240; Marcus Klamert, Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (2001); Kathrin Kroll-Ludwigs/Markus Ludwigs, Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Gesamtsystem der Richtlinienwirkungen, ZJS 2009, 7–14 und 123–130; Detlef Leenen, Die Auslegung von Richtlinien und die richtlinienkonforme Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts, Jura 2012, 753–762; Marcus Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593–607; Anne-Kristin Meier, Rechtswirkungen von EG-Richtlinien und EURahmenbeschlüssen im nationalen Recht (2008); Thomas M.J. Möllers/Alexandra Möhring, Recht und Pflicht zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung bei generellem Umsetzungswillen des Gesetzgebers, JZ 2008, 919–924; Thomas M.J. Möllers, Schlusswort, JZ 2009, 405–406; ders., Die unionskonforme und die richtlinienkonforme Interpretation, in: Jens Dammann u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Manfred Wolf (2011), S. 669–685; Oliver Mörsdorf, Unmittelbare Anwendung von EG-Richtlinien zwischen Privaten in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 2009, 219–240; Stefan Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht (2012); Sacha Prechal, Directives in EC Law (2. Aufl. 2006); Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre, RIW 2005, 47–54; Jan Schürnbrand, Die Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung im Privatrecht, JZ 2007, 910–918; Christian Sperber, Die Grundlage richtlinienkonformer Rechtsfortbildung im Zivilrecht, EWS 2009, 358–363; Jan Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik (2011); Martin Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung (2010).

Roth/Jopen

264

2. Teil: Allgemeiner Teil

Rechtsprechung EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia; EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA; EuGH v. 30.4. 2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai; BVerfGK 19, 89–105; BVerfG, ZIP 2013, 924–926; BGHZ 150, 248–263 – Heininger; BGHZ 179, 27–43 – Quelle; BGHZ 192, 148–172; BGH, NVwZ 2014, 1111–1112; BGH, NJW 2014, 2646–2651; BAGE 130, 119–145; BAGE 132, 247–260; BAGE 135, 34–47; BAGE 142, 371–390; BFH/NV 2014, 278–282; OLG München, VersR 2013, 1025–1029.

I. II.

Übersicht Einleitung | 1–2 Unionsrechtliche Vorgaben | 3–38 1. Grundlagen im Unionsrecht | 3–8 a) Auslegung der lex fori | 3–5 b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates | 6–8 2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung | 9–10 3. Zeitpunkt | 11 4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit | 12–14 5. Anwendungsbereich | 15–16 6. „Auslegung“ und Rechtsfindung | 17–24 7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte | 25–34 a) „So weit wie möglich“ | 26 b) Umsetzungsgesetzgebung | 27–30 c) Methodische Gleichbehandlung | 31–33 d) Besonderheiten bei „quasi wörtlicher Umsetzung“ von Richtlinienbestimmungen | 34 8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung | 35–38 a) Allgemeine Rechtsgrundsätze | 35 b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zulasten des Einzelnen? | 36 c) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts | 37–38

Roth/Jopen

III.

Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht | 39–66 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts | 39–40 a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG | 39 b) Wille des deutschen Gesetzgebers | 40 2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden | 41 3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel | 42–45 4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht | 46–47 5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung | 48–66 a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG | 49–50 b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? | 51–53 c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung | 54 d) Die Grenzen der Rechtsfortbildung | 55–59 e) Normenkollisionen | 60–66 aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht | 62 bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht | 63–66

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

265

I. Einleitung Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage, welche Konsequenzen sich aus der Exis- 1 tenz von Richtlinien für die Auslegung des nationalen Rechts ergeben. Dabei sind zunächst die unionsrechtlichen Grundlagen der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung zu skizzieren (unter II.). Sodann geht es um die Anwendung des Grundsatzes der richtlinienkonformen Auslegung im Rahmen des deutschen Rechts (unter III.). Die richtlinienkonforme Auslegung hat als ihren Gegenstand das nationale Recht. Daher wer- 2 den im Folgenden nicht die Probleme der Auslegung von Richtlinien und ihrer Fortbildung behandelt (dazu unter § 10 und § 12). Ebenso ausgeblendet werden drei weitere Problemkreise: die Frage der Vorwirkung von Richtlinien (dazu § 15), die Frage der sog. überschießenden Umsetzung einer Richtlinie in das nationale Recht (dazu § 14) und die Rollenverteilung zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) und den Organen der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und Konkretisierung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen in Richtlinien (dazu § 11). Zur richtlinienkonformen Auslegung in anderen Mitgliedstaaten sei auf die §§ 24–28 verwiesen.1

II. Unionsrechtliche Vorgaben 1. Grundlagen im Unionsrecht a) Auslegung der lex fori Seit langem geht der EuGH von einer aus dem Unionsrecht folgenden Pflicht der mitgliedstaatli- 3 chen Gerichte aus, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen.2 Diese Verpflichtung folgt nach ständiger Rechtsprechung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV3 und zusätzlich aus Art. 4 Abs. 3 EUV.4 In Urteilen jüngeren Datums hat der EuGH diese Rechtsprechung auch im Hinblick auf Rahmenbeschlüsse nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b) EU praktiziert.5 Art. 288 Abs. 3 AEUV statuiert die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten, die Vorgaben einer 4 Richtlinie in das nationale Recht umzusetzen. Diese Verpflichtung richtet sich nicht nur an die Mitgliedstaaten selbst, sondern auch an ihre Untergliederungen (z.B. Länder und Kommunen).6 Sie ist nicht auf den Gesetzgeber beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Gerichte und verlangt, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, die für die Zielverfolgung von Bedeutung sind.7 Im Hinblick auf die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV und aus der Richtlinie selbst

_____ 1 Vgl. zur richtlinienkonformen Auslegung in Frankreich auch Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 216 ff. sowie Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 98 ff. (für England) und S. 171 ff. (für Frankreich). 2 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26. 3 Zuletzt EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 29. 4 So etwa EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26 (jeweils zu Art. 5 EWG) u.ö. 5 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 31 ff. und EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, Rn. 53 ff. Vertiefend zum Gebot der rahmenbeschlusskonformen Auslegung und ihren Grenzen: Först, Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung (2012); Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 321 ff.; Röcker, Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts (2013); Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 187 ff. 6 EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-72/95 Kraaijeveld u.a., Slg. 1996, I-5403 Rn. 55; st. Rspr.; zuletzt etwa EuGH v. 12.12. 2013 – Rs. C-425/12 Portgás, Rn. 34; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 77. 7 Z.B. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, Rn. 34; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 47; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. Roth/Jopen

266

2. Teil: Allgemeiner Teil

folgende „zwingende Pflicht“8 zu ihrer Umsetzung ist für die Bindung der Gerichte an die Richtlinienvorgaben ein Rückgriff auf die Kooperationsverpflichtung des Art. 4 Abs. 3 EUV nicht vonnöten.9 Letztere hat allein ergänzenden Charakter.10 Die Verpflichtung, das nationale Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen, er5 schöpft sich nicht in dem (korrekten) legislativen Umsetzungsakt, ist also keine einmalige, nach Inkrafttreten der Richtlinie sich ergebende Aufgabe, sondern eine fortdauernde Verpflichtung, die den Gesetzgeber bei all seiner künftigen Tätigkeit bindet. Die Gerichte haben das nationale (Umsetzungs-)Recht im Lichte der Richtlinien auszulegen und – auch dies ist als eine fortwährende Pflicht der Gerichte zu verstehen – die Vorgaben der Richtlinien bei der Auslegung in der Zukunft zu beachten. Dies hat Konsequenzen vor allem dann, wenn die Auslegung einer Richtlinie durch den EuGH eine Konkretisierung bzw. Änderung erfährt: Die aus Art. 288 Abs. 3 AEUV resultierende Pflicht, alle zur Erreichung der durch die Richtlinie vorgeschriebenen Ziele erforderlichen Maßnahmen zu treffen, impliziert auch die Verpflichtung für die nationalen Gerichte, bei der Auslegung des eigenen nationalen Rechts die Konkretisierungen und Änderungen in der Auslegung des Richtlinienrechts durch den EuGH nachzuvollziehen.

b) Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates 6 Art. 288 Abs. 3 AEUV reicht als Geltungsgrund für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung

nicht aus, soweit das Gericht eines Mitgliedstaates das Recht eines anderen Mitgliedstaates aufgrund einer kollisionsrechtlichen Regelung anzuwenden hat.11 Da sich die Umsetzungsverpflichtung an die Organe der jeweiligen Mitgliedstaaten richtet, kann die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung die Gerichte immer nur im Hinblick auf die lex fori treffen:12 Denn ein deutsches Gericht ergänzt durch seine Auslegung die Tätigkeit des eigenen (deutschen) Gesetzgebers und ist bei dieser Tätigkeit durch die (verfassungsmäßige) Rollenverteilung zwischen Judikative und Legislative eingeschränkt. Bei der Anwendung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates steht das deutsche Gericht dagegen nicht in der Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, geht es doch nicht um die Auslegung deutschen Rechts. Kraft der Verweisung muss das deutsche Gericht vielmehr in die Rolle des Gerichts des jeweils anderen Mitgliedstaates schlüpfen und das Recht dieses Staates so auslegen und anwenden, wie es Gerichte dieses Staates tun13 bzw. tun würden.14

_____ 8 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, Rn. 34; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40. 9 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40 stellt insoweit auch nur auf Art. 189 Abs. 3 EWG (jetzt Art. 288 Abs. 3 AEUV) ab; ebenso EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 und seither st. Rspr.; zuletzt etwa EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 29. Allein auf Art. 4 Abs. 3 EUV stellt BVerfGK 19, 89, 99 ab. Zutreffend erscheint eine Berufung auf Art. 4 Abs. 3 EUV, wenn der EuGH die nationalen Verwaltungsbehörden der Verpflichtung unterwirft, im Rahmen ihres Verfahrensrechts alles zu tun, um der (nicht umgesetzten) Richtlinie zur Geltung zu verhelfen; z.B. EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 64 f.; EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-53/10 Franz Mücksch, Slg. 2011, I-8311 Rn. 29 und EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie und Terre wallonne, Rn. 43. 10 Der EuGH beruft sich auf Art. 4 Abs. 3 EUV, um – über die Bindung an Art. 288 Abs. 3 AEUV hinausgehend – die Mitgliedstaaten zu verpflichten, „alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu ergreifen“. 11 Vgl. zu einem solchen Fall etwa EuGH v. 24.10.2013 – Rs. C-22/12 Haasová. 12 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. 2, S. 847, 879; Gebauer, in: Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht (2003), S. 187, 195. 13 BGH, NJW 1992, 3106, 3106 f.; BGH, NJW 2003, 2685, 2686; BGH, NZI 2013, 763 Rn. 39; BGH, NJW 2014, 1244 Rn. 15; BVerwG, NJW 2012, 3461 Rn. 14. 14 S. nur Art. 12 Abs. 1 lit. a) Rom I-VO. Die Anwendung fremden Rechts umfasst die Anwendung der Auslegungsmethoden diesen Rechts; Hahn, ZfRV 2003, 163. Dies schließt eine Fortbildung des ausländischen Rechts Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

267

Aufgrund der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV wird man aber eine weitergehende Rol- 7 le der Gerichte der Mitgliedstaaten insoweit annehmen müssen, als die Gerichte im Rahmen einer Verweisung auf das ausländische Recht eines anderen Mitgliedstaates bei dessen Auslegung auch die unionsrechtlichen Vorgaben und insbesondere das Gebot richtlinienkonformer Auslegung, das auch für die Gerichte des anderen Mitgliedstaates gilt, zumindest insoweit in Betracht zu ziehen haben,15 wie dies die Gerichte dieses Staates kraft ihrer Stellung im Verhältnis zur Legislative tun können. Insoweit wird für die richtlinienkonforme Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates im Grundsatz dasjenige nachvollzogen, was in ähnlicher Weise für das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des Rechts eines anderen Mitgliedstaates gilt: Der EuGH ist schon bisher davon ausgegangen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte – in ihrer Funktion als Unionsgerichte – die Rechtssätze des inländischen Rechts wie diejenigen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht überprüfen müssen.16 Und auch Generalanwalt Alber hat in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Lennox diese Position mit Nachdruck vertreten.17 Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Verweist deutsches Recht auf einen Rechtssatz 8 eines anderen Mitgliedstaates, der mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, ist nicht etwa die Verweisung auf das ausländische Recht unionsrechtswidrig.18 Vielmehr ist im Rahmen des ausländischen Sachrechts nach einer Lösung zu suchen, die zu einem unionsrechtskonformen Ergebnis führt. Lässt sich ein solches Ergebnis nicht über eine richtlinienkonforme Auslegung des ausländischen Rechts erreichen, wird oftmals mit der (rechtsfortbildenden) Umformulierung des ausländischen Rechtssatzes („Angleichung“, teleologische Reduktion) oder aber der Bildung eines ergänzenden Rechtssatzes (evtl. durch Analogie), wie dies auch bei der ordre public-Kontrolle im Rahmen des Art. 6 EGBGB möglich ist,19 geholfen werden können, wenn und soweit ein solches Vorgehen auch in der Kompetenz des ausländischen Gerichts läge (s. dazu Rn. 37 f.). Nur ganz hilfsweise ist auf die lex fori zurückzugreifen.20

_____ nicht aus; Palandt-Thorn, Einl. vor Art. 3 EGBGB Rn. 34. Eingehender MünchKommBGB-Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 628–631. 15 Pfeiffer, StudZR 2004, 171, 191, scheint annehmen zu wollen, dass Art. 10 EG (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) den Verweisungsbefehl des Gesetzgebers auf das ausländische Recht im Sinne einer Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung mitprägt. 16 Z.B. EuGH v. 16.12.1981 – Rs. 244/80 Foglia, Slg. 1981, 3045; EuGH v. 9.6.1992 – Rs. C-47/90 Delhaize, Slg. 1992, I-3669 (belgischer Kaufvertrag; Vereinbarkeit der spanischen Abfüllregelung mit Art. 34 EWG (jetzt Art. 35 AEUV) als Vorfrage); vgl. auch den Sachverhalt in EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-318/00 Bacardi-Martini, Slg. 2003, I-905. 17 GA Alber, SchlA v. 17.10.2002 – Rs. C-220/01 Lennox, Slg. 2003, I-7091 Tz. 83–86: Vorrang des Gemeinschaftsrechts (nunmehr Unionsrechts) muss sich auch gegenüber dem Recht eines anderen Mitgliedstaates durchsetzen. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, dass die Gerichte im Rahmen des Vorlageverfahrens gem. Art. 267 AEUV besonders sorgfältig begründen müssen, aus welchem Grunde sie ausländisches Recht mit dem Unionsrecht für unvereinbar halten; vgl. EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 der Weduwe, Slg. 2002, I-11319 Rn. 38. 18 Das gilt erst recht, wenn die Verweisung auf das Recht des anderen Mitgliedstaates nicht von einer autonomen, sondern einer unionsrechtlichen Kollisionsnorm ausgesprochen wird. Vgl. zur fortschreitenden Europäischen Kollisionsrechtsvereinheitlichung etwa W.-H. Roth, in: Kieninger/Remien (Hrsg.), Europäische Kollisionsrechtsvereinheitlichung (2012), S. 11 ff. 19 Dauner-Lieb/Heidel/Ring-G. Schulze, Nomos-Kommentar BGB (2. Aufl. 2012), Art. 6 EGBGB Rn. 30. 20 Eine subsidiäre Anwendbarkeit der lex fori unter Verweis auf den effet utile des Unionsrechts erwägt etwa auch Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 151. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

2. Richtlinien- und unionsrechtskonforme Auslegung 9 Im Urteil Pfeiffer deutet der EuGH – wohl erstmals – das Gebot der richtlinienkonformen Aus-

legung als einen (Unter-)Fall des Gebots der gemeinschafts- bzw. unionsrechtskonformen Auslegung.21 Im Schrifttum ist dagegen vor allem die Unterschiedlichkeit beider Institute in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen betont worden:22 Während die unionsrechtskonforme Auslegung – bei Anwendung des primären Unionsrechts – auf dem Vorrang des Unionsrechts beruht und in ihrer Rechtsfolge notfalls zur Unanwendbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts im konkreten Fall führen kann,23 nimmt die richtlinienkonforme Auslegung – außerhalb des Bereichs der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung – am Vorrang des Unionsrechts nicht teil und führt auch nicht zur Unanwendbarkeit richtlinienwidrigen nationalen Rechts.24 Diese Unterschiede in der Einwirkung des primären Unionsrechts auf das nationale Recht einerseits und des (nicht unmittelbar anwendbaren) Richtlinienrechts andererseits werden jedoch keineswegs in Abrede gestellt, wenn man die richtlinienkonforme Auslegung mit dem EuGH als Unterfall des Gebots der unionsrechtskonformen Auslegung begreift, gibt es doch neben dem primären Unionsrecht und den Richtlinien auch noch andere Rechtsakte (Verordnungen und Beschlüsse) und Verlautbarungen der Union, die nach einer Berücksichtigung auf der Ebene des nationalen Rechts verlangen. Die unionsrechtskonforme Auslegung lässt sich daher als Oberbegriff für in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen durchaus unterschiedliche Formen der Berücksichtigung des Unionsrechts verstehen, die alle darauf abzielen, dem Unionsrecht in seiner Vielfalt der Rechtsquellen25 zur Beachtung zu verhelfen.26 10 Seit dem Urteil Pfeiffer wird das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung und damit auch das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung als dem EG- bzw. AEU-Vertrag „immanent“ bezeichnet.27 Damit wird für die richtlinienkonforme Auslegung nicht die Legitimationsgrundlage ausgewechselt. Da sich die unionsrechtskonforme Auslegung nicht zur Gänze28 mit Art. 288 Abs. 3 AEUV begründen lässt, bedarf es für sie – mangels ausdrücklicher Regelung im Vertrag – in der Tat eines Bezuges auf Ziele und Zwecke des Vertrages im Allgemeinen. Diese Begründung entwertet aber nicht die Verankerung der richtlinienkonformen Auslegung in Art. 288 Abs. 3 AEUV.29

_____ 21 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114 f., 118; seither st. Rspr.; zuletzt EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 65 f. Ebenso hinsichtlich der Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts: EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, Rn. 54 ff. 22 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 299 f. mwN; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 49. Ebenso Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 81 mit Fn. 347. 23 Z.B. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy, Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 ČEZ, Slg. 2009, I-10265 Rn. 138; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 53; EuGH v. 16.10.2010 – Rs. C-239/09 Seydaland Vereinigte Agrarbetriebe, Slg. 2010, I-13083 Rn. 52. 24 Dies entspricht – entgegen der insoweit missverständlichen Tenorierung in EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 – der st. Rspr. des Gerichtshofs. Zuletzt EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 43. Vgl. auch BAGE 130, 119 Rn. 56. 25 Dazu Köndgen, in diesem Band, § 6. 26 Ebenso Möllers, GS Wolf (2011), S. 669, 670. 27 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 24; st. Rspr.; zuletzt EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 29; Ebenso hinsichtlich der Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung des nationalen Rechts: EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, Rn. 54. 28 Vgl. zum Begriff der unionsrechtskonformen Auslegung Rn. 9. 29 Von Interesse ist allein, dass der EuGH das Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung mit dem Gedanken der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts verknüpft und begründet und dabei die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten; EuGH v.

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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

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3. Zeitpunkt Für die Umsetzung der Richtlinienvorgaben gilt die in der jeweiligen Richtlinie vorgegebene 11 Umsetzungsfrist. Dies bedeutet für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung, dass diese erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist30 eingreift.31 Dies ist in der Rechtsprechung des EuGH (jedenfalls bisher) anerkannt.32 Damit ist eine Richtlinie im Stadium vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist jedoch keineswegs völlig bedeutungslos.33 Zwar greift noch nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, doch kommt für den Gesetzgeber die auf Art. 4 Abs. 3 EUV beruhende Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten34 ins Spiel: Der Mitgliedstaat hat alle Maßnahmen zu unterlassen, die geeignet sind, das von den Richtlinien angestrebte Ziel ernsthaft in Frage zu stellen.35 Für die mitgliedstaatlichen Gerichte ist eine gleichlautende Pflicht zwar anzunehmen,36 doch sind Judikate nur schwer vorstellbar,37 die eine solche Gefahr heraufbeschwören könnten.38 Im Übrigen ist es allein eine Frage des nationalen Rechts, ob die Gerichte schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie bei der Auslegung ihres nationalen Rechts berücksichtigen können.39 Dies gilt auch für den Fall, dass der Gesetzgeber die Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist umsetzt und nun das Gericht das Umset-

_____ 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 24 und 27; st. Rspr.; zuletzt EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C541/12 Specht u.a., Rn. 88. S. auch schon EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 34. 30 Für den Fall, dass die Richtlinie, wie etwa Art. 28 der Verbraucherrechterichtlinie, für den Erlass der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen und für den Beginn ihrer Anwendbarkeit verschiedene Zeitpunkte festlegt, ist für den Beginn des unionsrechtlichen Gebots zur richtlinienkonformen Auslegung auf den Zeitpunkt des Beginns ihrer Anwendbarkeit abzustellen. 31 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 115; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 201; v. Danwitz, JZ 2007, 697, 700. 32 Vgl. neben den in der vorigen Fn. genannten Entscheidungen auch EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 Rn. 31; ebenso BVerfG, NJW 2013, 2957, 2958; BGH, NJW 2013, 2674 Rn. 40; BGH, BKR 2013, 17 Rn. 32; BGH, NJW 2012, 2873 Rn. 27; BGH, NJW 2012, 2422 Rn. 20, 22 f.; BGHZ 138, 55, 61. Davon abweichen wollen GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Tz. 115 ff. und GA Kokott, SchlA v. 27.10.2005 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Tz. 45 ff. Dem sind EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 74 ff. und EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 114 f. in der Begründung und in der Sache nicht gefolgt. Auf das (bloße) Inkrafttreten der Richtlinie stellt hingegen unzutreffend BVerfG, NJW 2011, 288 Rn. 54 ab. 33 Dazu eingehend Röthel, ZEuP 2009, 34; Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien (2006); sowie Hofmann, in diesem Band, § 15. 34 Vgl. allgemein zu den Konsequenzen dieser Pflicht für die Mitgliedstaaten Calliess/Ruffert-Kahl, Art. 4 EUV Rn. 54 ff. 35 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 45, 50; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 121; zuletzt EuGH v. 13.03.2014 – Rs. C-599/12 Jetair und BTWE Travel4you, Rn. 35; ausführlich (auch mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH) Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 7 ff. 36 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 f.; EuGH v. 11.9.2012 – Rs. C-43/10 Nomarchiaki Aftodioikisi Aitoloakarnanias u.a., Rn. 57; BVerfG, NJW 2013, 2957, 2958; BGH, NJW 2012, 2873 Rn. 27; BGH, BKR 2013, 17 Rn. 32. Im Einzelnen Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 29 ff. 37 Herresthal, JuS 2014, 289, 290 denkt an den Fall einer Änderung einer Judikatur entgegen den Vorgaben der Richtlinie kurz vor Ablauf der Umsetzungsfrist. 38 BVerfG, NJW 2013, 2957, 2958; BGH, NJW 2012, 2873 Rn. 28; BGH, BKR 2013, 17 Rn. 33; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 109; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 122; W.-H. Roth, ZBB 2012, 429, 433. Weitergehend Franzen, JZ 2007, 191, 192, wo als mögliches Beispiel BGHZ 138, 55, 59–64 angeführt wird, und Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 52 ff. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28 empfehlen eine Ankündigung im Urteil, dass das Gericht nach Ablauf der Umsetzungsfrist an der von der Richtlinie abweichenden Rechtsprechung nicht mehr festhalten werde. 39 Dazu BGHZ 138, 55, 61–64. Nach neuerer Rechtsprechung (BGH, NJW 2012, 2422 Rn. 23 und KG, ZIP 2011, 1048, 1050) soll diese Möglichkeit auf Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe begrenzt sein.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

zungsrecht in einem Fall, der sich zwischen dem Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes und dem Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie ereignet, auszulegen hat.

4. Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Anwendbarkeit 12 Im Schrifttum wird die große Bedeutung der richtlinienkonformen Auslegung für diejenigen

Fälle betont, in denen Richtlinienvorschriften keine unmittelbare Wirkung zugunsten der Bürger entfalten können.40 Dies gilt zum einen in solchen Fällen, in denen die einzelne Richtlinienvorschrift nicht inhaltlich unbedingt41 oder nicht hinreichend genau gefasst ist.42 Hier kann und muss das Regelungsziel der Richtlinie(nbestimmung) ohne Weiteres in die Auslegung des nationalen Rechts mit einfließen. Dem steht das Urteil Pfeiffer nicht entgegen, soweit dort die Eignung einer Richtlinienbestimmung zur unmittelbaren Anwendung vor der Reichweite der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung erörtert wird. Die Abfolge der Prüfung durch den EuGH ist durch das Vorlageersuchen veranlasst, in dem das Arbeitsgericht Lörrach danach fragt, ob Artikel 6 der Richtlinie 93/104 „inhaltlich unbedingt und hinreichend genau [ist], so dass sich einzelne Personen auf diese Bestimmungen gegenüber den nationalen Gerichten berufen können […]“.43 Der Gerichtshof stellt erneut klar, dass trotz der inhaltlichen Unbedingtheit und hinreichenden Genauigkeit einer Richtlinienbestimmung eine Berufung auf sie im Verhältnis zwischen Privaten (horizontale Wirkung) ausgeschlossen ist.44 Die darauf folgenden Erörterungen zur richtlinienkonformen Auslegung nehmen auf die Kriterien der inhaltlichen Unbedingtheit und hinreichenden Bestimmtheit keinen Bezug. Ein solcher Bezug wäre auch mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH nicht zu vereinbaren.45

13 Dies gilt zum anderen auch und vor allem, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im Bürger-Bürger-/

Horizontal-Verhältnis geht und von daher eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie ausscheiden muss.46 14 Dies berechtigt freilich nicht zu dem Gegenschluss, dass immer dann, wenn eine Berufung des Privaten auf die Richtlinie im Verhältnis zum Staat möglich ist (sog. Vertikalwirkung),47 also

_____ 40 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 82; Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 8. Ebenso EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 113. 41 EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari u.a., Slg. 1999, I-1103 Rn. 47. 42 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 27; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster, Slg. 1990, I-3313 Rn. 18; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 103; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 31. BGHZ 138, 55, 61 sieht hingegen in der Eindeutigkeit der Richtlinienregelung eine Voraussetzung für eine richtlinienkonforme Auslegung; in diesem Sinne (wohl) auch Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 96 f. 43 Mit der gleichen Argumentation lässt sich auch die Prüfungsreihenfolge in EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale erklären. Vgl. insbesondere Rn. 23 des Urteils. 44 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 109: „Daraus folgt, dass sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden kann.“ Vgl. auch die Nachweise in Fn. 46. 45 Vgl. etwa EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26–27; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 26–27; EuGH v. 25.2.1999 – Rs. C-131/97 Carbonari u.a., Slg. 1999, I-1103 Rn. 47–48. Nach dem Pfeiffer-Urteil etwa auch EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 32–33; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, Rn. 32–33. 46 Grundlegend EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24; zuletzt EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 36 und EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 43. Vertiefend zur Funktion der richtlinienkonformen Auslegung als Einbruchstelle in das Dogma der fehlenden Horizontalwirkung: Mörsdorf, EuR 2009, 219, 222–232; Craig, E.L.Rev. 34 (2009), 349, 357–364. 47 Dazu Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 45–47. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

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die Voraussetzungen einer „unmittelbaren Anwendbarkeit“ der Richtlinienbestimmung gegeben sind, eine richtlinienkonforme Auslegung auszuscheiden hat. Im Gegenteil: Der nationale Richter hat immer zunächst dem Umsetzungsbefehl des Art. 288 Abs. 3 AEUV Folge zu leisten und – im Rahmen seiner Möglichkeiten – eine richtlinienkonforme Auslegung zu versuchen. Erst wenn ihm eine solche verwehrt ist, kann eine Richtlinienbestimmung unmittelbar angewendet werden.48 Diese Subsidiarität der unmittelbaren Anwendbarkeit (im Vertikalverhältnis) ist – auch wenn sie in der Praxis nicht immer praktiziert wird49 – eine notwendige Konsequenz des Instruments der Richtlinie: Primär muss es darum gehen, den Organen der Mitgliedstaaten die Aufgabe zu überlassen, die geeignete Einpassung der Zielsetzungen der Richtlinie in das nationale Recht zu erreichen. Dazu dient die richtlinienkonforme Auslegung. Erst wenn diese Einpassung durch die richtlinienkonforme Auslegung nicht gelingt, kann zum Instrument der unmittelbaren Anwendbarkeit gegriffen werden.50

5. Anwendungsbereich Seit langem ist anerkannt, dass sich das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung nicht nur 15 auf den Umsetzungsakt erstreckt, mit dem der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie erfüllen will, sondern auf das nationale Recht insgesamt51 und insoweit auch auf Regelungen, die zeitlich vor der Richtlinie erlassen worden sind.52 Diese Tragweite ist im Urteil Pfeiffer noch einmal nachdrücklich bestätigt worden, wenn es dort heißt: Der „vom Gemeinschaftsrecht aufgestellte Grundsatz der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts betrifft zwar in erster Linie die zur Umsetzung der fraglichen Richtlinie erlassenen innerstaat-

_____ 48 EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C-237/07 Janecek, Slg. 2008, I-6221 Rn. 36; EuGH v. 28.1.2010 – Rs. C-406/08 Uniplex (UK), Slg. 2010, I-817 Rn. 48 f.; EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, Slg. 2010, I-12167 Rn. 40; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 23; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, Rn. 27, 30 f.; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 28; BAGE 142, 371 Rn. 30. Aus der Literatur etwa Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 55 f.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 95; Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 86; ebenso bereits Grundmann, ZEuP 1996, 399, 401. 49 Z.B. BAGE 130, 119 Rn. 54 ff. und BFH, BStBl II 2013, 879 Rn. 33. 50 Dieser Grundsatz ist auch und vor allem zu beachten, wenn es um Bestimmungen geht, die zulasten der Einzelnen gehen. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen zulasten der Einzelnen wird (im Verhältnis zum Staat) in st. Rspr. verneint: EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 13; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61 (beide Urteile betreffen die strafrechtliche Verantwortlichkeit). Vgl. auch – ebenfalls zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit – EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74 (mit dem Hinweis, dass eine Richtlinie „für sich allein und unabhängig von zu ihrer Durchführung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften“ nicht zulasten des Einzelnen sich auswirken dürfe). Zuletzt etwa EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 37 und EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 47. Eine Berufung auf eine Richtlinienbestimmung zugunsten eines Einzelnen scheidet auch aus, wenn dadurch eine Verpflichtung eines Dritten begründet wird, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Begünstigung steht; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-201/02 Delena Wells, Slg. 2004, I-723 Rn. 56–57. Eine richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts zulasten des Einzelnen ist hingegen grundsätzlich möglich, soweit dies das nationale Recht zulässt; vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 113. 51 Dies gilt sowohl für das materielle als auch für das Verfahrensrecht, vgl. EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, Rn. 31. 52 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 108; EuGH v. 17.2.2009 – Rs. C-465/07 Meki Elgafaji, Slg. 2009, I-921 Rn. 42; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 197. Vertiefend Domröse, JbJZ 2009, S. 109, 111–118. Roth/Jopen

272

2. Teil: Allgemeiner Teil

lichen Bestimmungen, beschränkt sich jedoch nicht auf die Auslegung dieser Bestimmungen, sondern verlangt, dass das nationale Gericht das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“.53

16 Letztlich kommt hierin die alle Träger der öffentlichen Gewalt der Mitgliedstaaten – und damit

auch die Gerichte – treffende Verpflichtung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV zum Ausdruck, für eine Durchsetzung der von der Richtlinie verfolgten Ziele zu sorgen.54

6. „Auslegung“ und Rechtsfindung 17 Wenn und soweit der EuGH in seiner Rechtsprechung die Verpflichtung der Gerichte anspricht,

das nationale Recht im Lichte der Richtlinienziele „auszulegen“, sind diese Aussagen nicht auf das in der deutschen Methodenlehre verbreitete Verständnis der Gesetzesauslegung im Sinne einer Sinnermittlung aufgrund der klassischen Auslegungsmethoden beschränkt, sondern beziehen sich – der französischen Tradition folgend55 – auch auf die Methoden zulässiger Rechtsfortbildung.56 Es ist zwar einzuräumen, dass der EuGH in manchen seiner Formulierungen seine eigene 18 Rolle als auf die Auslegung im herkömmlichen Sinne beschränkt ansieht. So heißt es im BressolUrteil, dass „durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht (wird), in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“.57

_____ 53 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. Zuletzt EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12 Specht u.a., Rn. 88 („unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts“). 54 S. z.B. EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, Rn. 34. 55 Zur französischen Tradition vgl. die differenzierten Ausführungen von Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 29 ff. S. auch Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5. 56 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 358; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 38; Canaris, FS Bydlinski, S. 81 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 4 ff.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011), S. 1. In der deutschen Rechtsprechung ist dies inzwischen einhellig anerkannt: BGHZ 179, 27 Rn. 21; BGHZ 192, 148 Rn. 30; BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 20; BAGE 130, 119 Rn. 65; BFH/NV 2014, 278 Rn. 26; BVerwG v. 25.6.2014 – 6 C 10.13, Rn. 54. Vgl. für Österreich: OGH, ÖJZ 2011, 603. Das BVerfG spricht zwar von einer Pflicht zur „richtlinienkonformen Auslegung“ und sieht deren Grenzen am nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten; BVerfGK 19, 89, 100. Die anschließenden Ausführungen (S. 100 ff.) machen aber deutlich, dass das BVerfG auch die richterliche Rechtsfortbildung – in ihren verfassungsrechtlichen Grenzen – als von der unionsrechtlichen Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erfasst ansieht. Vgl. auch BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33, wo zwar erneut von einer richtlinienkonformen Auslegung die Rede ist, aber durch den (erstmaligen) Verweis auf die Quelle-Entscheidung des BGH deutlich gemacht wird, dass diese auch zu einer Rechtsfortbildung des nationalen Rechts verpflichtet. Die Kompetenz des EuGH zur Rechtsfortbildung wird auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannt; vgl. etwa BVerfGE 75, 223, 242 f.; BVerfGE 126, 286, 305 ff. Ausführlich zur Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 26 ff.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787 sowie umfassend Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 329–529. 57 EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 90 (kursiv von den Verf.). In diesem Sinne zuletzt etwa EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, Rn. 58; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, Rn. 35; EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, Rn. 30 („rein deklaratorische“ Natur der Auslegung); EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, Rn. 50; vgl. zur Anwendung der „klassischen“ Auslegungsmethoden (Wortlaut; Entstehung; Systematik; Zweck) exemplarisch die SchlA des GA Léger v. 13.11.2003 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Tz. 29 ff., 44 ff., 79 ff. und der GA Trstenjak v. 16.12.2010 – Rs. C-29/10 Koelzsch, Slg. 2011, I-1595 Tz. 59 ff., 65 ff., 70 ff., 80 f.

Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

273

Und Generalanwältin Trstenjak bestätigt diese Einschätzung, wenn sie formuliert:

19

„Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in dem am 6. März 2007 ergangenen Urteil Meilicke u.a. seine ständige Rechtsprechung bestätigt hat, wonach seine Vorabentscheidungsurteile bis zum Inkrafttreten der auszulegenden Gemeinschaftsrechtsnorm zurückwirken, da durch die Auslegung seitens des Gerichtshofs klargestellt wird, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite eine Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten anzuwenden ist oder anzuwenden gewesen wäre.“58

Auch Generalanwalt Léger scheint die Auslegung des Unionsrechts in tradierten klassischen 20 Bahnen und Schranken zu sehen, wenn er davon ausgeht, dass der Wortlaut einer Bestimmung die unüberschreitbare Schranke der Auslegung darstellt, die weder durch eine Berufung auf den Zweck der (Richtlinien-)Bestimmung noch auf den effet utile überwunden werden kann:59 Bei einem klaren Wortlaut bestehe „die einzige mögliche Lösung somit darin, sich an die durch den Wortlaut der Vorschrift vorgegebene Auslegung zu halten und den Zweck zu vernachlässigen, den die Richtlinie, zu der die Vorschrift gehört, verfolgt. Es wäre mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit nämlich nicht vereinbar, auf die teleologische Auslegung oder den Begriff der ,praktischen Wirksamkeit‘ zurückzugreifen, um einer Gemeinschaftsrechtsvorschrift aufgrund dessen, dass ihr Wortlaut nicht zur Erreichung des Zieles beiträgt, das mit der Richtlinie, zu der sie gehört, verfolgt wird, einen Sinn zu verleihen, den sie offensichtlich nicht haben kann.“60

Generalanwalt Jacobs beruft sich auf den Grundsatz der Rechtssicherheit, der es erfordere, dass 21 die unionsrechtlichen Vorschriften klar und ihre Anwendung für alle Betroffenen vorhersehbar sein müssen.61 Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH in besonderem Maße, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich für den Einzelnen nachteilig,62 insbesondere finanziell belastend,63 auswirken kann. Man geht aber kaum fehl in der Annahme, dass solche Aussagen typischerweise in einem 22 Zusammenhang getroffen worden sind, in dem eine rechtsfortbildende Entwicklung des Unionsrechts nicht in Rede stand. Dagegen fehlt es an solchen Aussagen in Urteilen (und Schlussanträgen), in denen eine Fortbildung des Unionsrechts angestoßen werden sollte. Als Beispiele dafür mögen etwa die Urteile Grunkin und Paul64 zur Unionsbürgerschaft (Art. 20, 21 AEUV), Leffler65 zu

_____ 58 GA Trstenjak, SchlA v. 13.9.2012 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, Tz. 99 (kursiv von den Verf.); zuvor etwa GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 74. 59 GA Léger, SchlA v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 81 ff. 60 GA Léger, SchlA v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 94. 61 GA Jacobs, SchlA v. 21.4.2005 – Rs. C-174/03 Impresa Portuale di Cagliari, Tz. 65 unter Verweis auf EuGH v. 15.1.1998 – Rs. C-44/96 Mannesmann Anlagenbau Austria, Slg. 1998, I-73 Rn. 34; ebenso GA Sharpston, SchlA v. 2.7.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Tz. 90. 62 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-337/07 Altun, Slg. 2008, I-10323 Rn. 60. 63 EuGH v. 2.12.2009 – Rs. C-358/08 Aventis Pasteur, Slg. 2009, I-11305 Rn. 46 f. 64 EuGH v. 14.10.2008 – Rs. C-353/06 Grunkin und Paul, Slg. 2008, I-7639. Vgl. zuvor bereits die Schlussänträge von GA Jacobs v. 30.6.2005 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561 Tz. 54–56. Dabei handelte es sich jedoch um eine unzulässige Vorlage, EuGH v. 27.4.2006 – Rs. C-96/04 Standesamt Stadt Niebüll, Slg. 2006, I-3561 Rn. 20. 65 EuGH v. 8.11.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, Slg. 2005, I-9611 Rn. 43 ff. Vgl. auch die Ausführungen von GA StixHackl, SchlA v. 28.6.2005 – Rs. C-443/03 Leffler, Slg. 2005, I-9611 Tz. 61 ff. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Art. 8 Abs. 1 der VO Nr. 1348/200066 und Sturgeon67 zur Ausdehnung des Ausgleichsanspruchs des Art. 7 der VO Nr. 241/200468 auf Fälle der Verspätung eines Fluges69 dienen. Es liegt von daher nicht fern anzunehmen, dass die zitierten Stellungnahmen des EuGH 23 (einschließlich seiner Generalanwälte) auch dazu dienen (sollen), die legitime, sich im Rahmen der Unionskompetenzen bewegende rechtsfortbildende Funktion der Rechtsprechung des EuGH70 eher zu verschleiern, um einem denkbaren Konflikt mit den Mitgliedstaaten über die legitime Rolle des Gerichtshofs im System der Institutionen der Union aus dem Wege zu gehen.71 Wie auch immer diese Rolle des EuGH bei der Anwendung und Fortbildung des Unions24 rechts einzuschätzen ist, so sollte doch eines klar sein: Für das Gebot der richtlinienkonformen „Auslegung“ gilt, dass dieses Gebot nicht auf ein „Auslegungs“-Verständnis verweist, wie es von den Unionsgerichten im Umgang mit dem Unionsrecht praktiziert wird. Vielmehr geht es um eine von Art. 288 Abs. 3 AEUV gesteuerte Aufgabe für die nationalen Gerichte, nämlich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Instrumenten das nationale Recht in Übereinstimmung mit den europäischen Vorgaben zu bringen. Im Schrifttum wird deshalb zu Recht vorgeschlagen, statt von einem Gebot richtlinienkonformer Auslegung von einem Gebot richtlinienkonformer Rechtsfindung zu sprechen.72

_____ 66 Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 L 160/37. Inzwischen ersetzt durch Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. 2007 L 324/79. 67 EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923. Vgl. zu diesem Urteil etwa die Besprechung von Riesenhuber, in: Karakostas/Riesenhuber (Hrsg.), Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung (2011), S. 41–62 und Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 32. 68 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1. 69 Diese Rechsprechung ist inzwischen mehrfach bestätigt und weiter ausdifferenziert worden: EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., Rn. 34, 40 und EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-11/11 Folkerts, Rn. 32, 47. Vgl. auch EuGH v. 18.4.2013 – Rs. C-413/11 Germanwings, wonach durch die vom EuGH in der Rs. Sturgeon vorgenommene „Auslegung“ der VO der Grundsatz der Gewaltenteilung in der Union nicht berührt wird. Ebenso BGH, NJW-RR 2013, 1065 Rn. 18. Im Schrifttum ist die Entscheidung zum Teil heftig kritisiert worden. Zuletzt etwa Politis, EuZW 2014, 8, 11: „ultra vires“. 70 Zur Befugnis des EuGH zur Rechtsfortbildung s. BVerfGE 126, 286, 305 ff.; Horsley, CMLR 50 (2013), 931; Höpfner/ Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 17 f.; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 819 ff.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 145; sowie Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 7 f. S. auch Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2013); Conway, The Limits of Legal Reasoning and the European Court of Justice (2012); Dawson/de Witte/Muir, Judicial Activism at the European Court of Justice (2013); Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011); Sankari, European Court of Justice Legal Reasoning in Context (2013). 71 Grundsätzliche Kritik an der Praxis des Gerichtshofs findet sich in den Beiträgen in G.H. Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveranität der Mitgliedstaaten (2008); Gerken/Rieble/G.H. Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt (2009). S. auch Wieland, NJW 2009, 1841 und die Beiträge in Haltern/Bergmann (Hrsg.), Der EuGH in der Kritik (2012), die die Kritik am EuGH auf ihre Berechtigung überprüfen. Frühe Kritik vor allem bei Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice (1986). 72 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 50. Ebenso etwa Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 77. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

275

7. Methodische Vorgaben für die nationalen Gerichte Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung auf der Grundlage des Art. 288 Abs. 3 AEUV und im Hin- 25 blick auf den Grundsatz der Wirksamkeit des Unionsrechts73 eine Reihe von Vorgaben methodologischer Art entwickelt, an die sich der nationale Richter bei der Auslegung und Anwendung seines nationalen, sich im Anwendungsbereich einer Richtlinie befindenden Rechts zu halten hat.

a) „So weit wie möglich“ Seit dem Urteil von Colson wird der nationale Richter dazu angehalten, die richtlinienkonforme 26 Auslegung bzw. Rechtsfindung „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einräumt“,74 zu praktizieren. Damit wird zunächst auf das nationale Recht mit den darin entwickelten und anerkannten Auslegungsmethoden verwiesen. Freilich bleibt es nicht bei dieser Verweisung auf das nationale Recht. Seit dem Urteil Marleasing75 wird die Zielrichtung für die volle Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums dahingehend umschrieben, dass es darum gehen müsse, die Auslegung des nationalen Rechts „soweit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.76 Die richtlinienkonforme Auslegung gewinnt hier die Bedeutung einer interpretatorischen Vorrangregel,77 wonach einer im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethode gegenüber einer anderen der Vorrang einzuräumen ist, wenn und soweit dies dem Ziel der Richtlinie dient.78

b) Umsetzungsgesetzgebung Im Urteil Wagner Miret79 – und erneut in der Rechtssache Pfeiffer80 – formulierte der EuGH eine 27 unionsrechtliche Vorgabe speziell für die Auslegung solcher innerstaatlichen Vorschriften, die zur Umsetzung der Richtlinie erlassen wurden und dem Einzelnen Rechte verleihen sollen. In einer solchen Konstellation habe, so der Gerichtshof,

_____ 73 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 114; zuletzt EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 29. 74 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 28. 75 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8. An das Urteil Marleasing knüpft sich eine intensive Diskussion der Frage, ob die richtlinienkonforme Auslegung auch zu einer Auslegung contra legem zwingen könne; s. etwa Prechal, Directives in European Community Law (1995), S. 227 f. 76 So die st. Rspr.; z.B. EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 36; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113, 117, 119; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rn. 60 und stellvertretend für eine Vielzahl von Entscheidungen aus jüngerer Zeit die Urteile der Großen Kammer: EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 24 und EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 38. 77 So die gegenüber der „Vorzugsregel“ (so etwa Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616 und Möllers, GS Wolf (2011), S. 669, 674 mit Fn. 48) vorzugswürdige Terminologie bei Canaris, FS R. Schmidt (2006), S. 49; Herresthal, JuS 2014, 289, 291. Vgl. auch BVerfGK 19, 89, 100, wo von einem sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebenen „Optimierungsgebot“ die Rede ist. Im Anschluss an den Kammerbeschluss des BVerfG auch BAGE 142, 371 Rn. 30. 78 Gebauer, AnwBl 2007, 314, 317; ebenso bereits Lutter, JZ 1992, 593, 604 f. In diesem Sinne wird man auch die im Folgenden in Rn. 28 diskutierte Aussage in EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13, deuten müssen, wonach das nationale Gericht im Hinblick auf das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung entgegenstehende Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben, zu ignorieren habe. 79 EuGH v. 16.12.1993 – Rs. C-334/92 Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911 Rn. 20. 80 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

„[d]as Gericht […] in Anbetracht des Artikels 249 Absatz 3 EG [nunmehr Art. 288 Abs. 3 AEUV] davon auszugehen, dass der Staat, wenn er von dem ihm durch diese [Richtlinien-]Bestimmung eingeräumten Gestaltungsspielraum Gebrauch gemacht hat, die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“.81

28

Die potentielle Tragweite dieser Aussage wird deutlich, wenn man sie mit einer eher beiläufigen Stellungnahme zum Verhältnis richtlinienkonformer und historischer Auslegung im Urteil Björnekulla Fruktindustrier AB in Zusammenhang bringt, wo es an der einschlägigen Stelle heißt: Eine richtlinienkonforme Auslegung sei vorzunehmen „und zwar ungeachtet entgegenstehender Auslegungshinweise, die sich aus den vorbereitenden Arbeiten zu der nationalen Regelung ergeben könnten“.82 Nimmt man den EuGH hier beim Wort, würde damit die für das nationale Recht diskutierte Frage, ob und inwieweit auf den konkreten Willen des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, zurückzugreifen ist (dazu Rn. 55 ff.), durch das Unionsrecht überlagert bzw. eingefärbt: Der Wille des Gesetzgebers, die Richtlinie umzusetzen, wäre für das nationale Gericht nicht nur als Auslegungstopos relevant. Vielmehr müsste der nationale Richter bei der Auslegung des Umsetzungsrechts immer davon ausgehen, dass der Gesetzgeber den sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen „in vollem Umfang“ nachkommen wollte. Damit würde eine wichtige Vorgabe für die Auslegung (bzw. Fortbildung) des Umsetzungsrechts festgeschrieben: Die konkrete Zwecksetzung des Gesetzgebers hätte hinter seinem (bloß) zu vermutenden Willen, richtlinienkonform umzusetzen, zurückzutreten – dies zumindest immer dann, solange nicht konkrete Hinweise dafür vorlägen, dass der Gesetzgeber bewusst eine richtlinienwidrige Lösung verfolgt hat.

29 Ob der EuGH einen solchen Ansatz (weiterhin) tatsächlich verfolgen will, erscheint schon des-

halb zweifelhaft, weil in der Folgerechtsprechung auf die „Vermutungsregel“ nicht mehr Bezug genommen worden ist. Vielmehr betont der EuGH seit dem Urteil Adeneler, dass „[d]ie Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, […] nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen [dürfe].“83 Diese Urteilspassage ließe sich dahingehend verstehen, dass der EuGH den nationalen Richter auf die im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden methodischen Grenzen der Rechtsfindung verweisen will.84 Eine durch den EuGH selbst definierte, unionsrechtliche Auslegungsregel, welche den konkret feststellbaren Normsetzungswillen des nationalen Gesetzgebers hinter einen lediglich zu vermutenden Umsetzungswillen zurücktreten ließe, wäre hiermit aber kaum zu vereinbaren.85 Andererseits findet sich im Urteil Adeneler und in der Folgerechtsprechung86 kein Hinweis darauf, ob der Begriff des contra-legem-Judizierens sich auf die nationalen Auslegungsund Rechtsfortbildungsmethoden bezieht, oder ob der Begriff nicht vielmehr unionsautonom zu definieren ist. In letzterem Falle bliebe der Aussagegehalt des Urteils Adeneler gegenüber dem unter demselben Berichterstatter ergangenen Urteil Pfeiffer im Verborgenen.87 Dass das Unionsrecht eine contra legem-Auslegung bzw. Rechtsfindung im nationalen Recht jedoch nicht verhindern will, deutet die englische Fassung des Urteils an, wenn es dar-

_____ 81 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112. Von einer derartigen unionsrechtlichen Vermutungsregel gehen im Anschluss an das Pfeiffer-Urteil etwa BAGE 130, 119 Rn. 58 f. und BAGE 132, 247 Rn. 25 aus. Vgl. auch BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 23. 82 EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-371/02 Björnekulla Fruktindustrier AB, Slg. 2004, I-5791 Rn. 13. 83 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 100; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 199; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rn. 61; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 25; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 39; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 45; EuGH v. 30.04.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 65. Vgl. zuvor bereits EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47 zu den Grenzen rahmenbeschlusskonformer Auslegung nationalen Rechts. 84 So BVerfGK 19, 89, 100; BGHZ 179, 27 Rn. 21 – Quelle; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7, 13. 85 Zurückhaltend insoweit BGHZ 179, 27 Rn. 25 – Quelle; BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 11. 86 Vgl. die Nachweise in Fn. 83. 87 Mörsdorf, EuR 2009, 219, 229 f.; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

277

in heißt, dass die unionsrechtskonforme Auslegung „[…] cannot serve as the basis for an interpretation of national law contra legem“.88 Damit korrespondiert der Verweis auf die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, und hier insbesondere auf den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot, die der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung ihrerseits Schranken ziehen sollen.89 Das bedeutet im Ergebnis: Das Unionsrecht zwingt den nationalen Richter nicht zu einer contra legem-Auslegung des nationalen Rechts,90 es untersagt eine solche jedoch auch nicht, sondern überlässt diese Frage ganz dem nationalen Recht.91

Im Übrigen ist dem EuGH dringend zu raten, sich von der „Vermutungsregel“ (Rn. 27 f.) (explizit) 30 zu verabschieden. Denn es erscheint völlig ungewiss, auf welche unionsrechtliche Grundlage eine solche „Vermutungsregel“ gestützt werden könnte. Gewiss ist der EuGH im Rahmen seiner Auslegungskompetenz befugt, die Reichweite und Wirkungsweise sekundärrechtlicher Maßnahmen im Rahmen des Art. 288 Abs. 3 AEUV zu bestimmen. Die „Vermutungsregel“ der vorbezeichneten Art trifft dazu aber keine Aussage, sondern ist vielmehr eine Aussage zum nationalen Umsetzungsakt, genauer: dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Umsetzungszweck.92 Dieser Problemkreis hat aber mit der in Rn. 26 angesprochenen Frage eines interpretatorischen Vorrangs der richtlinienkonformen Auslegung93 nichts zu tun.94

c) Methodische Gleichbehandlung Der für die Behandlung des Unionsrechts in der Rechtsprechung des EuGH entwickelte Äquiva- 31 lenzgrundsatz (Grundsatz der Gleichwertigkeit)95 steuert den Auslegungs- bzw. Rechtsfindungsvorgang durch das nationale Gericht: Der nationale Richter hat, um richtlinienkonforme Ergebnisse zu erreichen, sich desselben methodischen Instrumentariums zu bedienen, das ihm bei der Entscheidung von Fällen im Rahmen des autonomen nationalen Rechts zur Verfügung steht.96

_____ 88 Kursiv von den Verf. In der französischen Fassung heißt es gleichsinnig „[…] ne peut pas servir de fondement à une interprétation contra legem du droit national“. Bei diesem von der deutschen Sprachfassung abweichenden Wortlaut der englischen und französischen Sprachfassung ist es bis heute geblieben, vgl. zuletzt EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 65. Im Ergebnis wie hier etwa Kaiser, ZEuS 2010, 219, 226 und Kühling, JuS 2014, 481, 484 mit Fn. 37. 89 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110 und seither st. Rspr.; zuletzt EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 65. 90 So ausdrücklich EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 103. Die deutsche Übersetzung ist missglückt. Vgl. auch EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 66. 91 Abweichend hiervon etwa Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2301 f.; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011), S. 80 f.; wohl auch BAGE 132, 247 Rn. 26 (ohne Berücksichtigung der englischen Sprachfassungen); wie hier Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, S. 65; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 104; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 106; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 93 und 96 und die in Fn. 88 genannten Autoren. 92 Vgl. auch Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 und Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 99 f., die vor diesem Hintergrund eine solche unionsrechtliche Vermutungsregel aus „kompetenzrechtlichen Gründen“ ablehnen. 93 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 168 f., spricht insoweit von einem „Beachtungsvorrang“, das BVerfG in BVerfGK 19, 89, 100 von einem „Optimierungsgebot“. 94 Hiervon zu unterscheiden ist die ganz andere Frage, ob eine solche „Vermutungsregel“ in der jeweiligen innerstaatlichen Methodik und mithin kraft nationalen Rechts existiert. In diesem Sinne für die deutsche Methodik BVerfGK 19, 89, 101. 95 Aus der Rspr. z.B. EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draempaehl, Slg. 1997, I-2195 Rn. 28–30; EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 VALE, Rn. 48, 54–57; EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-397/11 Jőrös, Rn. 29–31; zuletzt etwa EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, Rn. 23, 26–28. 96 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 111; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 101; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 200; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 27; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, Rn. 29 f.; Roth/Jopen

278

2. Teil: Allgemeiner Teil

Das bedeutet: Wenn und soweit dem Richter die teleologische Extension oder Reduktion und die Analogie im Umgang mit autonomem nationalem Recht zur Hand sind, muss er diese Instrumente auch zum Zwecke richtlinienkonformer Auslegung bzw. Fortbildung des nationalen Rechts einsetzen, um dem Vorwurf einer Diskriminierung des Unionsrechts zu entgehen. Im Urteil Pfeiffer geht der Gerichtshof sogar noch einen Schritt weiter. Dort heißt es – soweit 32 ersichtlich zum ersten Mal –, dass das nationale Gericht, soweit unüberbrückbare Divergenzen zwischen den Richtlinienvorgaben und dem nationalen Recht existieren, solche Kollisionen zwischen Unionsrecht und nationalem Recht in entsprechender Weise aufzulösen hat wie Normenkollisionen im Rahmen des nationalen Rechts.97 Bemerkenswert ist hieran vor allem, dass damit der richtlinienkonformen Auslegung ein erweitertes Anwendungsfeld erschlossen wird: Diese Vorgabe macht eine Besinnung auf die im nationalen Recht verankerten Methoden der Vermeidung von Normenkollisionen durch restriktive Auslegung der miteinander kollidierenden Normen oder gar Nichtanwendung einer der Normen erforderlich.98 Erneut geht es hier nicht um den Vorrang des Unionsrechts, sondern um seine bloße Gleichbehandlung (im Sinne einer Gleichwertigkeit/Äquivalenz) mit dem nationalen Recht.99 Dabei werden Richtlinienrecht und nationales Recht auf eine Stufe gestellt und bei Widersprüchen wird auf die nationalen Regeln über die Auflösung von Normenkollisionen verwiesen. Während der EuGH in der Rechtssache Pupino – unter entsprechender Wiederholung der 33 Aussage in Pfeiffer, wonach das nationale Gericht gegebenenfalls das gesamte nationale Recht berücksichtigen muss, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt100 – im Hinblick auf einen Rahmenbeschluss nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b) EU zurückhaltender zu formulieren scheint,101 wird in der Rechtssache Mono Car Styling allerdings wieder auf die diesbezügliche Aussage aus dem Pfeiffer-Urteil verwiesen: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das in der fraglichen Richtlinie festgelegte Ergebnis zu erreichen (vgl. Urteil Pfeiffer u.a., Randnr. 116).“102

Damit werden die in Rn. 32 skizzierten Aussagen bestätigt.

_____ EuGH v. 5.9.2012 – Rs. C-42/11 Lopes Da Silva Jorge, Rn. 56; EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 30. Vgl. Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 7, 12; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 82. 97 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Gleichsinnig für eine durch das nationale Recht anerkannte contra legem Auslegung: Timmermans, YEL 17 (1997), 1, 23. 98 A.A. Höpfner, JbJZ 2009, S. 73, 101 f. Auch nach Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contralegem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 97 f., lässt sich dem Pfeiffer-Urteil diese Vorgabe nicht entnehmen. Der EuGH hat seine diesbezügliche Aussage freilich in der Rechtssache Mono Car Styling (vgl. sogleich Rn. 33) noch einmal wiederholt. 99 So im Ergebnis BAGE 130, 119 Rn. 64. A.A. Mörsdorf, EuR 2009, 219, 224 f., wonach es für die Anwendung des Gleichbehandlungsgebots in der vorliegenden Konstellation an der Vergleichbarkeit der Sachverhalte fehle. Wer stärker den Grundsatz der Gleichwertigkeit (Äquivalenz) im Blick hat, kann zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. 100 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 115. 101 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47. Die deutsche Übersetzung ist nicht geglückt. 102 EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rn. 63. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

279

d) Besonderheiten bei „quasi wörtlicher Umsetzung“ von Richtlinienbestimmungen In Bezug auf nationale Rechtsvorschriften, die in den Worten des EuGH eine „quasi wörtliche 34 Umsetzung“ einer Richtlinienbestimmung darstellen, scheint der EuGH die Reichweite des unionsrechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung ausweiten zu wollen. In der Rechtssache Spedition Welter formuliert er, dass solche Bestimmungen des nationalen Rechts „im Einklang mit denjenigen des Unionsrechts […] auszulegen“ sind.103 Und weiter heißt es, „dass das vorlegende Gericht unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, in denen die nationalen Rechtsvorschriften die Bestimmungen von Art. 21 Abs. 5 der Richtlinie 2009/103 quasi wörtlich übernommen haben, verpflichtet ist, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden das nationale Recht so auszulegen, dass es mit der Auslegung dieser Richtlinie durch den Gerichtshof vereinbar ist.“104

Auch wenn sich hier ein Verweis auf die im Staat des vorlegenden Gerichts „anerkannten Auslegungsmethoden“ findet, scheint der EuGH für solche nationalen Rechtsvorschriften, die eine Richtlinienbestimmung eins zu eins umsetzen, davon auszugehen, dass sie kraft des unionsrechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung in Übereinstimmung mit der jeweiligen Richtlinienbestimmung (in der Auslegung durch den EuGH) ausgelegt werden müssen. In die gleiche Richtung zielten bereits die Schlussanträge von GA Cruz Villalón, in denen er im Anschluss an die Ausführungen der Europäischen Kommission105 formulierte: „Wenn der Gerichtshof die Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift bestätigt, sind die nationalen Bestimmungen zu ihrer unmittelbaren Umsetzung, sowie diejenigen, die die europäische Vorschrift genau wiedergeben, genauso auszulegen wie diese. Hat, wie hier, die nationale Umsetzungsbestimmung praktisch denselben Wortlaut wie die europäische Bestimmung, liegt es auf der Hand, dass nur eine einheitliche Auslegung der europäischen Bestimmung und der nationalen Bestimmung zulässig ist.“106

Dies wird dann im Urteil des EuGH bestätigt.107 Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH diesen Ansatz, der sich nur bedingt in die bisherige Rechtsprechung zu den unionsrechtlichen Vorgaben richtlinienkonformer Auslegung einpassen lässt, in Zukunft fortführen wird. Vor dem Hintergrund, dass der europäische Gesetzgeber im Bereich des Privatrechts in jüngerer Zeit verstärkt vollharmonisierende Richtlinien erlässt108 und die nationalen Gesetzgeber zur Vermeidung von Fehlern bei der Umsetzung der jeweiligen Richtlinie häufig eine wortgetreue Umsetzung in das nationale Recht vornehmen, ist die Tragweite dieser Rechtsprechung nicht zu unterschätzen.

_____ 103 EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 31. 104 EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 32. 105 GA Cruz Villalón, SchlA v. 30.5.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Tz. 37. 106 GA Cruz Villalón, SchlA v. 30.5.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Tz. 38. 107 EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 31–32. 108 Zu den sich daraus ergebenden Implikationen zuletzt etwa Mittwoch, Vollharmonisierung und Europäisches Privatrecht (2013).

Roth/Jopen

280

2. Teil: Allgemeiner Teil

8. Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung a) Allgemeine Rechtsgrundsätze 35 Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung bzw. Rechtsfindung setzt für den nationalen

Richter voraus, dass er sich des Inhalts und der Tragweite der Richtlinienvorgaben vergewissert, also die Richtlinie nach den für das Unionsrecht geltenden Auslegungsgrundsätzen interpretiert.109 Bei der Umsetzung einer Richtlinie durch den nationalen Gesetzgeber wie auch bei der richtlinienkonformen Interpretation sind zur Ermittlung der Vorgaben und der Tragweite der Richtlinie die im Unionsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze (Rückwirkungsverbot, Rechtssicherheit sowie die Unionsgrundrechte)110 und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union mit heranzuziehen, in deren Rahmen sich sekundäres Unionsrecht bewegen und in deren Licht es interpretiert werden muss.111

b) Richtlinienkonforme Auslegung auch zulasten des Einzelnen? 36 Während der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen im Verhältnis des

Einzelnen zum Staat eine Grenze dann gezogen ist, wenn die Anwendung zulasten des Einzelnen geht,112 besteht eine solche Schranke für die richtlinienkonforme Auslegung nur im Bereich strafrechtlicher (und ggf. eingriffsrechtlicher; s. Rn. 49) Regelungen.113 Für den Bereich des Privatrechts gibt es solche Schranken nicht: Die richtlinienkonforme Auslegung einer zivilrechtlichen Bestimmung geht immer auch zulasten einer am konkreten Verfahren beteiligten Partei. Darauf basiert – wie selbstverständlich – die bisherige Judikatur des Gerichtshofs.114 Insoweit geht auch der Anwendungsbereich der richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts in privatrechtlichen Beziehungen, an denen der Staat oder öffentliche Unternehmen beteiligt sind, über die Konstellationen, in denen Richtlinienbestimmungen unmittelbare Anwendbarkeit zukommt (nämlich nur zugunsten des Einzelnen), hinaus.

c) Schranken des nationalen (Verfassungs-)Rechts 37 In ständiger Rechtsprechung anerkennt der EuGH aus dem Recht der Mitgliedstaaten erwach-

sende Begrenzungen bzw. Schranken für eine richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfindung, wenn er formuliert, Art. 288 Abs. 3 AEUV geböte den mitgliedstaatlichen Gerichten, die Auslegung (nur) „so weit wie möglich“ am Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten.115

_____ 109 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10. 110 Zuletzt EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 65. Sowie die Nachweise in Fn. 83. 111 Dazu Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. 112 S. Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 45 f. sowie grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20. 113 S. etwa EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, Slg. 1996, I-4705 Rn. 37, 42; EuGH v. 7.1.2004 – Rs. C-60/02 X, Slg. 2004, I-651 Rn. 61; EuGH v. 3.5.2005 – verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02 Berlusconi u.a., Slg. 2005, I-3565 Rn. 74; s.a. EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 45 (zu einem Rahmenbeschluss). Außerhalb dieses Bereichs kann ein Mitgliedstaat eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts einem Einzelnen hingegen auch zu seinen Lasten entgegenhalten. Zuletzt EuGH v. 5.7.2007 – Rs. C-321/05 Kofoed, Slg. 2007, I-5795 Rn. 45 und EuGH v. 15.9.2011 – Rs. C-53/10 Franz Mücksch, Slg. 2011, I-8311 Rn. 34. 114 Zuletzt EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 64. 115 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 108; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 24; st. Rspr.; zuletzt etwa EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 38; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 44; EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 LCL Le Crédit Lyonnais SA, Rn. 54 und EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 64. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

281

Mit dieser so gefassten Einschränkung korrespondiert die Formulierung, die nationalen Gerichte hätten „im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen“.116 Damit wird auf eine aus dem innerstaatlichen Recht resultierende Schranke verwiesen, die aus der – evtl. vom nationalen Verfassungsrecht geprägten – Rollenverteilung zwischen Gesetzgeber und Judikative erwachsen oder in der tradierten nationalen Methodenlehre, die die Grenzen der Auslegung und/oder Rechtsfortbildung markiert,117 verankert sein kann. Auf diese aus dem nationalen Recht erwachsende Schranke für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung wird seit dem Urteil Adeneler118 ausdrücklich Bezug genommen, wenn der EuGH betont, dass diese Pflicht nicht als Basis (Grundlage) für eine – ggf. nach nationalem Recht unzulässige – Auslegung (bzw. Fortbildung) des nationalen Rechts contra legem119 dienen könne (zum Urteil Adeneler und der diesbezüglichen Folgerechtsprechung bereits oben Rn. 29).

Dabei ist es nicht Sache des EuGH, festzustellen, ob einer richtlinienkonformen Auslegung bzw. 38 Rechtsfindung des nationalen Rechts eine solche aus dem nationalen Recht erwachsene Schranke entgegensteht. Das BVerfG formuliert zutreffend: „Ob und inwieweit das innerstaatliche Recht eine entsprechende richtlinienkonforme Auslegung zulässt, können nur innerstaatliche Gerichte beurteilen.“120

Und weiter heißt es: „Dem entspricht die in Art. 267 AEUV […] festgelegte Zuständigkeitsverteilung zwischen europäischer und innerstaatlicher Gerichtsbarkeit. Da der EuGH danach nationales Recht weder anwenden noch auslegen kann, darf er auch nicht feststellen, ob innerstaatlich ein entsprechender Auslegungsspielraum besteht. […] Sowohl die Identifizierung als auch die Wahrnehmung methodischer Spielräume des nationalen Rechts obliegt – auch bei durch Richtlinien determiniertem nationalem Recht – den nationalen Stellen in den Grenzen des Verfassungsrechts.“121

_____ 116 Zuletzt EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 29 (kursiv von den Verf.). Vgl. auch EuGH v. 19.6.2014 – Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12 und C-541/12 Specht u.a., Rn. 88. 117 BVerfGK 19, 89, 100: „[…] Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten.“ Im Anschluss daran auch BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 20. 118 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. 119 Das BAGE 130, 119 Rn. 65, weist darauf hin, dass nach dem Begriffsverständnis des EuGH von einer „Auslegung“ contra legem nur gesprochen werden kann, wenn eine richterliche Rechtsfortbildung den eindeutigen Entscheidungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. 120 BVerfGK 19, 89, 100. Vgl. auch GA Cruz Villalón, SchlA v. 18.7.2013 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 89: „Ob die Möglichkeit einer konformen Auslegung besteht, unterliegt aber ausschließlich der Beurteilung des vorlegenden Gerichts, da diese Beurteilung eine umfassende Auslegung des innerstaatlichen Rechts erfordert, für die der Gerichtshof offensichtlich nicht zuständig ist.“ (Kursiv von den Verf.) 121 BVerfGK 19, 89, 100. Als Konsequenz daraus, geht das BVerfG davon aus, dass in Konstellationen, in denen eine nationale Vorschrift nicht richtlinienkonform ausgelegt werden kann, ohne die Grenzen der verfassungsrechtlichen Bindung des Richters an das Gesetz zu sprengen, die Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV mangels Entscheidungserheblichkeit entfällt und somit die Nichtvorlage eines letztinstanzlichen Gerichts keinen nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG unzulässigen Entzug des gesetzlichen Richters darstellt; BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 32; BVerfG, WM 2014, 647 Rn. 48. Ebenso bereits BAGE 132, 247 Rn. 16 und BGHZ 193, 238 Rn. 51; für Österreich: OGH, ecolex 2014, 634, 635. Nach der Rechtsprechung des EuGH begründet die „Ungewissheit“, ob es dem nationalen Gericht möglich ist, das nationale Recht vor dem Hintergrund des vom EuGH gefundenen Auslegungsergebnisses der Richtlinie richtlinienkonform auszulegen, jedoch zumindest nicht die Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 22. Allgemein zum EuGH als „gesetzlichen Richter“ zuletzt etwa Calliess, NJW 2013, 1905 und Schoch, FS Stürner (2013), S. 43. Roth/Jopen

282

2. Teil: Allgemeiner Teil

Die so umschriebene Zuständigkeitsverteilung bei der Bestimmung der Schranken einer richtlinienkonformen Auslegung aus dem nationalen (Verfassungs-)Recht entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH.122

III. Die Umsetzung im nationalen (deutschen) Recht 1. Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts a) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 39 Die Verpflichtung zu einer Umsetzung der Richtlinienvorgaben und einer richtlinienkonformen

Auslegung des nationalen Rechts ergibt sich nicht nur aus dem Unionsrecht, sondern auch aus dem deutschen Verfassungsrecht.123 Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG begründet eine solche Pflicht, soweit sie mit dem deutschen Verfassungsrecht im Übrigen vereinbar ist. Gem. Art. 20 Abs. 3 GG ist der Richter an „Gesetz und Recht“ gebunden; der Bezug auf „Gesetz und Recht“ bindet ihn nicht nur an die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung124 und Fortbildung des deutschen (Gesetzes-)Rechts,125 sondern nimmt das Unionsrecht mit in die Bindung auf.126 Dabei sind die deutschen Gerichte über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG nicht nur an das unmittelbar anwendbare (primäre und sekundäre) Unionsrecht gebunden, sondern ebenfalls an das Richtlinienrecht, soweit dessen Anwendungsbereich reicht: Der Umstand, dass im Zivilverfahren die Parteien ihren Anspruch mangels unmittelbarer Anwendbarkeit nicht (allein) auf eine Richtlinienbestimmung stützen können, steht der Bindung der Gerichte an diese nicht entgegen. Aufgrund des unionsrechtlichen Gebotes der richtlinienkonformen Auslegung zählen Richtlinien127 zu den von den deutschen Gerichten zu beachtenden „Gesetzen“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.128

_____ 122 EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 102; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 203; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 31; EuGH v. 24.5.2012 – Rs. C-97/11 Amia, Rn. 31; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 40; EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler und Káslerné Rábai, Rn. 66; EuGH v. 19.6.2014 – verb. Rs. C-501/12 bis C-506/12, C-540/12, C-541/12 Specht u.a., Rn. 94. Vgl. aber auch EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 31 f. und die Ausführungen im Text oben in Rn. 34. Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 43, geht davon aus, dass der EuGH auf längere Sicht hin nationale Entscheidungen, die eine unionsrechtskonforme Auslegung für nicht möglich halten, einer Vertretbarkeitskontrolle unterwerfen wird. 123 Jarass/Pieroth-Jarass, Grundgesetz (10. Aufl. 2009), Art. 23 GG Rn. 41; zurückhaltender nunmehr Jarass/ Pieroth-Jarass, Grundgesetz (13. Aufl. 2014), Art. 23 GG Rn. 13. 124 BVerfGE 128, 193, 210; BVerfGE 132, 99 Rn. 76; BVerfGE 111, 307, 329 („im Rahmen geltender methodischer Standards“). Speziell im Zusammenhang mit den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung: BVerfGK 19, 89, 98 und 101 f. Zur Auslegung zivilrechtlicher Normen durch das Bundesverfassungsgericht BVerfGE 112, 332, 359 ff.; zuletzt etwa BVerfG, NJW 2013, 3774, 3775 f. 125 Einen Überblick über die vom BVerfG verwendeten Auslegungsmethoden bietet Bleckmann, JuS 2002, 942 ff. 126 Canaris, FS Bydlinski, S. 84 f. und Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 176 f., jeweils zur Begründung der Annahme einer Gesetzeslücke bei unvollkommener Richtlinienumsetzung. Vertiefend Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 191 ff. mit Fn. 120. 127 Das BVerfG hat eine Bindung der deutschen Gerichte an die EMRK unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG begründet; BVerfGE 111, 307, 323. Die EMRK ist durch ein Transformationsgesetz (i.S.v. Art. 59 Abs. 2 GG) in deutsches Recht überführt; insoweit beziehen sich die Aussagen auf eine mittelbare Bindungswirkung an die Urteile des EGMR. Ebenso BVerfGE 128, 326, 368 f. Richtlinien bedürfen, um eine Geltung (nicht: unmittelbare Anwendbarkeit) und damit Bindung für die deutschen Gerichte zu entfalten, keiner Umsetzung in deutsches Gesetzesrecht. 128 Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 156 f., 191 ff.; Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009), § 1 Rn. 73. Vgl. auch Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 32 f., der von einer Bindung des Richters an das Unionsrecht über Art. 97 Abs. 1 GG ausgeht. A.A. Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 43, dort insbes. Fn. 185; Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 37; Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

283

b) Wille des deutschen Gesetzgebers Eine weitere Grundlage für eine Pflicht der Gerichte zur richtlinienkonformen Auslegung ist im 40 Willen des deutschen Gesetzgebers zu sehen, wenn er zur Erfüllung seiner Umsetzungspflicht tätig geworden ist.129 Diese auf den Willen des nationalen Gesetzgebers gestützte Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft nationalen Rechts unterscheidet sich in ihrer Tragweite von der aus dem Unionsrecht abgeleiteten Pflicht vor allem in zwei Richtungen: (1) Sie geht einerseits über das unionsrechtliche Gebot der richtlinienkonformen Auslegung hinaus, weil sie nicht erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie eingreift, sondern schon mit dem Inkraftreten des deutschen Umsetzungsgesetzes vor Ablauf der Umsetzungsfrist.130 (2) Sie bleibt andererseits hinter der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung kraft Unionsrechts sowie der auf Art. 20 Abs. 3, 23 Abs. 1 GG gestützten Pflicht insoweit zurück, als sie nicht die vor Erlass der entsprechenden Richtlinie in Kraft gesetzten nationalen Rechtsnormen erfassen kann.131 Im Übrigen lässt sich auf der Grundlage deutschen Rechts eine unvollständige (und erst recht eine gar nicht erfolgte) Umsetzungsgesetzgebung nur schwerlich unter Berufung auf den Willen des Gesetzgebers korrigieren.132 Ist der deutsche Gesetzgeber hingegen zur Umsetzung einer Richtlinie tätig geworden, so ist nach Auffassung des BVerfG im Hinblick auf den Willen des Gesetzgebers kraft nationalen Rechts133 davon auszugehen, dass er „im Zweifel nicht gegen seine Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, das Ziel der Richtlinie fristgemäß umzusetzen, verstoßen wollte.“134 Davon zu unterscheiden ist Gesetzgebung im Wege einer sog. „überschießenden“ Umsetzung.135

2. Berücksichtigung im Rahmen der klassischen Auslegungsmethoden Das Institut der richtlinienkonformen Auslegung ist – zumindest auch – bereits in die klassi- 41 schen Auslegungscanones des deutschen Rechts136 integriert.137 So sind etwa im Rahmen der historischen Auslegung – jedenfalls bei zeitlich noch nicht weit zurückliegenden Regelungen – die Regelungsabsichten des Gesetzgebers138 von Belang. Dies gilt dann natürlich auch, wenn der

_____ Höpfner, JbJZ 2009, S. 73, 98; Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 121 f.; wohl auch Jarass/Pieroth-Jarass, Grundgesetz (13. Aufl. 2014), Art. 20 GG Rn. 38 (nur Bindung an unmittelbar anwendbares EU-Recht); Sachs-ders., Grundgesetz (7. Aufl. 2014), Art. 20 GG Rn. 107. 129 Hierzu auch Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 303 ff. 130 Canaris, FS Bydlinski, S. 51; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 149; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 30; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 84. 131 Canaris, FS Bydlinski, S. 50 f.; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 85 f.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 220. 132 Im Ergebnis ebenso Langenbucher-dies., § 1 Rn. 88. 133 Zu der vom EuGH in der Rechtssache Pfeiffer postulierten unionsrechtlichen „Vermutungsregel“, wonach der Gesetzgeber „die Absicht hatte, den sich aus der betreffenden Richtlinie ergebenden Verpflichtungen in vollem Umfang nachzukommen“ (EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112), s. oben Rn. 27–30. 134 BVerfGK 19, 89, 101. Kritisch gegenüber einer solchen Vermutung etwa Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 214 ff. und Höpfner, JbJZ 2009, S. 73, 102 f. 135 Dazu Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14. 136 Dazu Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 428 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 312 ff.; ders./Canaris, Methodenlehre, S. 133 ff. 137 M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 590. Anders Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 259 f. (zweistufige Auslegung einerseits; Ausnahmen dazu andererseits) und ähnlich Canaris, FS Bydlinski, S. 80 f., der zunächst die Auslegungslage allein mit Hilfe der „klassischen“ Auslegungskriterien ohne Rücksicht auf das Gebot richtlinienkonformer Auslegung ermitteln und erst bei richtlinienwidrigem Ergebnis im Wege eines „Hin- und Herwandern des Blickes“ die „klassischen“ Auslegungskriterien im Lichte der Richtlinie berücksichtigen möchte (dreistufige Auslegung). 138 BVerfGE 54, 277, 297 („erhebliches Gewicht“). Roth/Jopen

284

2. Teil: Allgemeiner Teil

Gesetzgeber die Umsetzung einer Richtlinie intendiert.139 Für die teleologische Auslegung muss der Zweck des Gesetzes, eine Richtlinienvorgabe umzusetzen, erst recht eine entscheidende Rolle spielen, geht es hier doch nicht um eine autonom getroffene Entscheidung des Gesetzgebers, sondern um die Erfüllung einer aus dem Unionsrecht und der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, 23 Abs. 1 GG) stammenden Pflicht. Schließlich ist für die grammatikalische Auslegung daran zu erinnern, dass der deutsche Gesetzgeber sich in der Umsetzungsregelung möglicherweise nicht mehr in den Traditionen nationaler Begrifflichkeit bewegen will, sondern Begriffe des Unionsrechts eins zu eins,140 also deckungsgleich in das nationale Recht einführen und damit zu einer Auslegung zwingen will, die auf die autonome Begrifflichkeit des Unionsrechts zurückgreift.141 Aber auch für überkommenes und vom Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie unverändert gelassenes Recht gilt, dass seine Auslegung von den Vorgaben der Richtlinie beeinflusst werden kann, ist doch allgemein anerkannt, dass sich die Auslegung von Normen durch die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, aber auch des rechtlichen Umfeldes142 wandeln kann.142a

3. Richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel 42 Führen die klassischen Auslegungscanones trotz der gerade angedeuteten Einbeziehung des

Umsetzungszwecks in die Auslegung zu unterschiedlichen Ergebnissen,143 ist nicht nur aufgrund des unionsrechtlichen Gebots zur richtlinienkonformen Auslegung, sondern auch aufgrund der besonderen Zwecksetzung der Umsetzungsgesetzgebung vom Vorrang derjenigen Auslegungsmethode auszugehen, die zu einem richtlinienkonformen Ergebnis führt.144 Dabei zeigt sich, dass die richtlinienkonforme Auslegung als Methode sich von den klassischen Auslegungsmethoden durch ihre Ausrichtung auf ein (von der Richtlinie145 vorgezeichnetes) Ergebnis unterscheidet.146 43 Eine solche interpretatorische Vorrangregel kraft nationalen Rechts147 findet ihre Parallele in der Rechtsprechung des BVerfG zur völkervertragskonformen Auslegung.148 Zur Umsetzung der EMRK in das deutsche Recht heißt es: „Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“.149

_____ 139 Als Beispiel BGH, NJW 2005, 53, 54 f. 140 Der EuGH (Urt. v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 31 f.) spricht von „quasi wörtlicher Umsetzung“. Zu den sich aus einer solchem Umsetzung (möglicherweise) ergebenen unionsrechtlichen Konsequenzen für die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung s. oben Rn. 34. 141 W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH (2000), Bd. 2, S. 847, 875. Aus der Rechtsprechung etwa BGH, NJW 2012, 2276 Rn. 20 ff. Zum Grundsatz der unionsrechtsautonomen Auslegung, gestützt auf die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und den Gleichheitssatz, etwa EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 29, EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-59/12 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, Rn. 25 und EuGH v. 4.9.2014 – Rs. C-162/13 Vnuk, Rn. 42. 142 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 170 ff., sprechen insoweit von einem Wandel der Normsituation. 142a Als Beispiel etwa BVerwGE 145, 290 Rn. 28 ff. zu § 34 Abs. 1 BauGB. 143 In der Rechtsprechung wird vielfach die richtlinienkonforme Auslegung als zusätzliche Auslegungsmethode verwendet, um ein bereits erreichtes Ergebnis zu bekräftigen (z.B. BGH, NJW 2005, 418, 420; BGH, NJW 2014, 1235 Rn. 20; BGH, NJW 2014, 3229 Rn. 39 ff.) oder wenigstens nicht in Frage zu stellen (BGH, NJW 2005, 1045, 1046 f.; BGHZ 189, 196 Rn. 35 ff.; BGH, NJW 2014, 2420 Rn. 61 f.). 144 A.A. Höpfner, JbJZ 2009, S. 73, 80. 145 Zu deren Auslegung Riesenhuber, in diesem Band, § 10. 146 Leenen, Jura 2012, 753, 755. 147 Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 616; in der Sache auch M. Schmidt, RabelsZ 59 (1995), 569, 591. 148 Anders Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 124 Fn. 16. 149 BVerfGE 111, 307, 329. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

285

Als Grenze für eine solche völkervertragskonforme Auslegung wird der Fall angedeutet, dass die 44 Auslegung zu einem Verstoß gegen „eindeutig entgegenstehendes Gesetzesrecht oder deutsche Verfassungsbestimmungen“ führen würde.150 Die hier für die völkervertragskonforme Auslegung gefundene Lösung ist schon kraft nationa- 45 len Rechts ohne Weiteres auf die Umsetzung von Richtlinienrecht zu übertragen. Dass das Unionsrecht im Übrigen zu einer solchen Vorrangregel zwingt, ist oben (Rn. 26) bereits gezeigt worden: Da die Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG in der hier vertretenen Auslegung die deutschen Gerichte auch an das Richtlinienrecht und an die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV binden, liegt insoweit ein Gleichlauf zwischen der aus dem Unionsrecht erwachsenden Pflicht der nationalen Gerichte und der interpretatorischen Vorrangregel kraft deutschen Rechts vor. Dem entspricht im Ergebnis die in Rn. 40 zitierte Vermutungsregel des BVerfG.

4. Richtlinienkonforme Auslegung und ihre Grenzen im nationalen Recht Die richtlinienkonforme Auslegung stößt auf eine erste – jedoch nicht unüberwindbare – Gren- 46 ze, wenn die Auslegung des nationalen Rechts ihrerseits auf Schranken stößt. Als eine solche Schranke für die Auslegung wird allgemein der mögliche Wortsinn angesehen.151 Nach der Rechtsprechung des BVerfG darf im Wege der Auslegung einem nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Gesetz nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt, das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden.152 Oder positiv formuliert: Ist der Wortlaut klar und eindeutig, ist der Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden gesperrt.153 Methodisch bedenklich erscheint daher die Folgeentscheidung des BGH im Verfahren Heininger. Während der BGH in seinem Vorlagebeschluss zunächst ausführte, dass § 5 Abs. 2 HWiG a.F. von seinem Wortlaut her klar und eindeutig und daher einer richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich sei,154 relativierte er – nach Bestätigung der Richtlinienwidrigkeit der deutschen Regelung durch den EuGH155 – seine vorhergehende Rechtsauffassung dahingehend, dass bereits die Bestimmung des möglichen Wortsinns nicht ohne Berücksichtigung des Zweckes der Richtlinienumsetzung erfolgen dürfe.156 Ähnlichen Bedenken sieht sich auch die Annahme des BGH ausgesetzt, § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB könne im Anschluss an das Urteil des EuGH in der Rechtssache Gebr. Weber und Putz157 dahingehend richtlinienkonform ausgelegt werden, dass die dort genann-

_____ 150 BVerfGE 111, 307, 329 . Ebenso im Zusammenhang der völkervertragskonformen Auslegung des Grundgesetzes im Lichte der EMRK (und der Rechtsprechung des EGMR) BVerfGE 128, 326, 371 („Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint.“) und BVerfGE 131, 268, 295 f. 151 BGHZ 179, 27 Rn. 20; BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 10; BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 21; BAGE 130, 119 Rn. 60; BAGE 132, 247 Rn. 28; Larenz, Methodenlehre, S. 343; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 467 f. 152 So wörtlich: BVerfGE 54, 277, 299 f. mwN aus der Rspr.; BVerfGE 71, 81, 105. Ähnlich BVerfGE 90, 263, 275 und BVerfGE 118, 212, 234 (jeweils zu den Schranken verfassungskonformer Auslegung). 153 BVerfGE 63, 131, 148; BVerfGE 69, 92, 104 f.; BVerfGE 69, 209, 219; BVerfGE 71, 81, 105 (jeweils zu den Schranken verfassungskonformer Interpretation). 154 BGH, NJW 2000, 521, 522. 155 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 156 BGHZ 150, 248, 253 ff.; ebenso BGHZ 150, 264, 267; BGHZ 152, 331, 334 f.; bestätigt durch BGHZ 159, 280, 284 f.; BGH, NJW 2004, 2744, 2744 f. Das BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden gegen instanzgerichtliche Urteile, die der Rechtsprechung des BGH im Heininger-Verfahren gefolgt sind, nicht zur Entscheidung angenommen und mithin diese Rechtsprechung verfassungsrechtlich gebilligt. In dem Nichtannahmebeschluss heißt es allerdings – methodenehrlicher –, dass die Entscheidungen die verfassungsrechtlichen Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht überschreiten; BVerfGK 19, 89, 98. 157 EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Gebr. Weber und Putz, Slg. 2011, I-5257. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

te Nacherfüllungsvariante „Lieferung einer mangelfreien Sache“ auch den Ausbau und den Abtransport der mangelhaften Kaufsache158 sowie den Einbau der als Ersatz gelieferten Kaufsache159 umfasst. Auch hier wäre die Annahme einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zumindest methodenehrlicher gewesen.160

47 Kann sich die richtlinienkonforme Auslegung innerhalb der Grenzen des Wortsinns bewegen, so

hat sie auch dann zu erfolgen, wenn der Gesetzgeber richtlinienwidrig umsetzen wollte.161 Die historische Auslegung hat insofern der Wortlautauslegung im Lichte der Richtlinienkonformität als interpretatorische Vorrangregel zu weichen. Die Wortlautgrenze bildet insoweit eine Schranke für die Gesetzesauslegung (im engeren Sinne);162 davon zu unterscheiden ist die in der deutschen Rechtspraxis allgemein anerkannte Rechtsfortbildung,163 die insoweit auch als Fortsetzung der Auslegung (im engeren Sinne) angesehen werden kann.164

5. Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung 48 Das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet (kraft Unionsrechts) den nationalen

Richter dazu, den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum „so weit wie möglich“ auszuschöpfen.165 Damit wird auf die nationale Methodik der Rechtsfortbildung und die ihr durch das nationale Recht gesetzten Schranken verwiesen (s. Rn. 37 f.). Die Konsequenzen des Gebots richtlinienkonformer Auslegung können daher nur für jede nationale Rechtsordnung gesondert festgestellt werden.166 Für die deutschen Gerichte bedeutet dies, dass sie sich jenseits nicht mehr zulässiger Auslegung der für das deutsche Recht anerkannten Methoden der Rechtsfortbildung bedienen müssen, soweit diese (verfassungsrechtlich) zulässig sind.

a) Grundlage: Bindung an die Richtlinie über Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG 49 Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung167 ist in der Rechtsprechung des BVerfG aner-

kannt.168 Für den Bereich des Strafrechts und des Eingriffsrechts168a ist freilich eine Rechtsfortbildung zulasten des Bürgers ausgeschlossen und eine Verkürzung von Rechtspositionen gegen den

_____ 158 BGHZ 192, 148 Rn. 25 ff. 159 BGHZ 195, 135 Rn. 16. 160 In diesem Sinne etwa Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 192 f. („richtlinienkonforme Extension“); Herresthal, JuS 2014, 289, 295; Kaiser, JZ 2011, 978, 980; Stürner, jurisPRBGHZivilR 6/2012 Anm. 1. Für vom Wortlaut des § 439 Abs. 1 Alt. 2 BGB gedeckt halten die Auslegung des BGH etwa Höpfner, JZ 2012, 473, 473 f.; Leenen, Jura 2012, 753, 759; Looschelders, JA 2012, 386, 388 und (bereits vor Erlass des BGH-Urteils) Lorenz, NJW 2011, 2241, 2243 f. („wohl noch möglich“). 161 Ebenso Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 116; Faust, in: Begegnungen im Recht (2011), S. 299, 308; Leenen, Jura 2012, 753, 756 und 759; Lorenz, NJW 2013, 207, 207 f. A.A. Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 164 f., 172, 208; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 94 f., 97. 162 So die Terminologie in BGHZ 179, 27 Rn. 20 f. – Quelle und BGHZ 192, 148 Rn. 28, 30. 163 So ausdrücklich Larenz, Methodenlehre, S. 366: „seit langem anerkannt“. Zu den Einzelheiten: ders., Methodenlehre, S. 366 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff.; Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 453 ff.; Zippelius, Methodenlehre, § 11. 164 BGHZ 179, 27 Rn. 21 ff. – Quelle; BGHZ 192, 148 Rn. 31. Vgl. zur Übernahme dieser Rechtsprechung des VIII. Zivilsenats des BGH durch die anderen obersten Gerichtshöfe des Bundes die Nachweise in Fn. 210–212a. 165 S. oben Rn. 25 ff. 166 Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 451. 167 Zu den rechtsfortbildenden Aufgaben der höchsten Gerichte und deren Grundlage und Absicherung im Verfahrensrecht s. eingehend Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995). 168 Vgl. nur BVerfGE 132, 99 Rn. 74: „Zu den Aufgaben der Rechtsprechung gehört die Rechtsfortbildung.“ 168a Zum Steuerrecht vgl. Fn. 212. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

287

Wortlaut der Norm als unzulässig anzusehen,169 ansonsten aber durchaus möglich.169a Da das Privatrecht dem Interessenausgleich zwischen den Bürgern (Unternehmen) dient, geht jede Rechtsfortbildung, die zu Gunsten einer der Parteien wirkt, notwendig zulasten der anderen Partei. Dies allein steht im Privatrecht anerkanntermaßen der Rechtsfortbildung nicht im Wege. Die Gerichte haben die Befugnis zur Rechtsfortbildung, wenn das geltende Recht entweder (innere) Regelungslücken aufweist,170 aufgrund der Änderung der sozialen oder gesellschaftspolitischen Verhältnisse ein Anpassungsbedarf entsteht171 oder aber die gesetzlichen Vorgaben sich als unzureichend erweisen.172 Als Grenze der Rechtsfortbildung gilt der im Wortlaut und Sinn einer Norm eindeutig zum Ausdruck gelangende Wille des Gesetzgebers173 wie auch ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz.174 Mit Blick auf die Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung ist als Grundlage für eine 50 Rechtsfortbildung (nach hier vertretener Ansicht) Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG anzusehen, wonach Richtlinien des Unionsrechts als „Gesetz“ bzw. „Recht“ von den Gerichten zu beachten sind.175 Die vom Unionsrecht anerkannte176 und vom deutschen Recht markierte Grenze der Rechtsfortbildung ist damit aus der Perspektive des Art. 20 Abs. 3 GG zu bestimmen. Hierbei geht es um zweierlei: Mit der Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“ i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG wird einerseits eine Bindung der Judikative an die Vorgaben der Legislative dergestalt markiert, dass eine Korrektur der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidungen durch die Gerichte aus (bloß) rechtspolitischen Überlegungen nicht in Betracht kommen kann (dazu Rn. 55 ff.).177 Andererseits lockert Art. 20 Abs. 3 GG die richterliche Bindung an das (die Richtlinie nur unvollkommen umsetzende) Gesetz, wenn und soweit mit dem Verweis auf das „Recht“ die allgemeinen rechtlichen Prinzipien (und somit auch Art. 23 Abs. 1 GG) in Bezug genommen werden. Die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete Bindung an „Gesetz und Recht“ verweist den Richter damit auf die Maßstäbe der Gesamtrechtsordnung einschließlich des Unionsrechts.178

b) Lücke als Voraussetzung der Rechtsfortbildung? Die Befugnis zur Rechtsfortbildung wird nach hergebrachter,179 aber keineswegs unbestritte- 51 ner180 Ansicht an die Existenz einer Regelungs-, Gesetzes- oder Rechtslücke geknüpft.181 Freilich ergibt diese Voraussetzung nur dort Sinn, wo der Gesetzgeber für einen bestimmten Bereich

_____ 169 BVerfGE 69, 315, 372. 169a Z.B. BVerwG v. 25.6.2014 – 6 C 10.13, Rn. 54. 170 BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f.; BVerfGE 132, 99 Rn. 74 ff. Speziell im Zusammenhang mit den Grenzen richtlinienkonformer Auslegung: BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33. 171 BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGK 3, 348, 351. 172 BVerfGE 84, 212, 226 f.; BVerfGE 88, 103, 116. 173 BVerfGE 71, 81, 105; BVerfGE 118, 212, 234. 174 BVerfGE 71, 354, 362 f.; BVerfG, NJW 1993, 997, 998 und BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723 f. 175 Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 176 f.; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 191 f. 176 S. oben Rn. 37 f. 177 Canaris, FS Bydlinski, S. 83 („externe Maßstäbe“). 178 Canaris, FS Bydlinski, S. 84 f.; Herresthal, JuS 2014, 289, 292; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 260 f., 267; vgl. auch Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 45. 179 Larenz, Methodenlehre, S. 370 ff.; ders./Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 472 ff. Das BVerfG hat Rechtsfortbildung in Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG für den Fall einer Regelungslücke akzeptiert (z.B. BVerfGE 82, 6, 12 f.; BVerfGE 88, 145, 167; BVerfGE 98, 49, 59 f.; BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723 f.; BVerfGE 132, 99 Rn. 74 f.), aber nicht auf diesen Fall beschränkt. 180 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 461 ff.; ders., Einführung in die Juristische Methodenlehre (2. Aufl. 2000), Rn. 208 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 254; weitere Nachweise z.B. bei Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung (1995), S. 152 ff. 181 BGHZ 179, 27 Rn. 22 – Quelle und BGHZ 192, 148 Rn. 31: planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

eine (einigermaßen) vollständige Regelung angestrebt und verwirklicht hat.182 Eine „Lücke“ setzt insoweit eine planwidrige Unvollständigkeit voraus.183 Wo hingegen der Gesetzgeber ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder gar nicht tätig geworden ist, überlässt er – wie etwa in vielen Bereichen des Arbeitsrechts – die Rechtsfindung der Judikative. Von einer „Lücke“ zu sprechen hat hier ebenso wenig Sinn wie in den Fällen, in denen Gesetzgebung einem Alterungsprozess unterworfen ist.184 Hier sind die Gerichte zur Rechtsfortbildung nicht nur (gem. Art. 20 Abs. 3 GG) berechtigt, sondern ggf. sogar verpflichtet.185 Die Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ist bei näherem Zusehen denn auch nicht (nur) als Interpretationsproblem, sondern vor allem als ein (verfassungsrechtliches) Problem der Rollenverteilung von Legislative und Judikative186 bei der Weiterentwicklung und Modernisierung des Rechts unter der Herrschaft des Art. 20 Abs. 3 GG zu begreifen.187 In dieser Perspektive ergibt sich die Legitimation der Gerichte zu rechtsfortbildender Richtlinienumsetzung, wenn der Gesetzgeber (unionsrechtswidrig) nicht (umsetzend) tätig geworden ist, ohne Weiteres aus dem Umstand, dass sich mit dem Richtlinienerlass das rechtliche Umfeld für das nationale Recht geändert hat188 und dieses insoweit innerhalb der Umsetzungsfrist der Anpassung bedarf. 52 Hat der Gesetzgeber vor Erlass der Richtlinie eine flächendeckende Regelung geschaffen und stößt eine bloße Auslegung im Lichte der Richtlinienzwecke (s. oben Rn. 41) auf Grenzen, stellt der Erlass der Richtlinie ab dem Zeitpunkt des Ablaufs ihrer Umsetzungsfrist die Legitimationsbasis für eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung dar.189 Wer eine Lücke als Voraussetzung jeglicher Rechtsfortbildung verlangt, wird hier eine Lücke im weiteren Sinn annehmen können: Sie ergibt sich aus den Erfordernissen der Gesamtrechtsordnung,190 die (auch im Lichte des Art. 23 Abs. 1 GG) auf eine Anpassung des nationalen Rechts an die Vorgaben der Richtlinie drängen.191 Als Schranke einer solchen Rechtsfortbildung mag (im Hinblick auf die Überlegun-

_____ 182 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 192. 183 Eine solche planwidrige Unvollständigkeit ist auf der Grundlage des Gesetzeszwecks zu ermitteln: Es geht um das Fehlen einer nach dem Gesetzeszweck zu erwartenden Regel; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 196. Ähnlich auch BVerfGE 82, 6, 13: Es wird „aus den Wertungen des Gesetzes entnommen, ob eine Lücke besteht […]“. 184 BVerfGE 96, 375, 394. Für diesen Fall verwenden BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGE 98, 49, 59 f.; BVerfGK 17, 533, 549 und BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723 f. auch die Lückenterminologie. Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 217 ff. dagegen spricht für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit der Gesetzgeber und das damit einhergehende Fehlen eines gesetzgeberischen Gesamtplans von einem „heteronomen Regelungsdefizit“. Zum Alterungsproblem i.Ü. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, S. 148 ff. 185 BVerfGE 82, 6, 12; BVerfGK 3, 348, 351; BVerfG, NJW 2011, 1723, 1723. Zur Bindung an Art. 20 Abs. 3 GG s. BVerfGE 113, 88, 103 f.; BVerfGE 128, 193, 209 f. und BVerfGK 19, 89, 103. 186 So treffend das Minderheitsvotum in BVerfGE 122, 248, 283 und 285 f. unter Bezugnahme auf BVerfGE 82, 6, 12 f.: „Hat der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre.“ Vgl. auch BVerfGE 128, 193, 209 f. 187 Zutr. Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung (1995), S. 57 ff. 188 Zur Änderung des rechtlichen Umfelds s. BVerfGE 82, 6, 12 und BVerfGE 88, 145, 167. 189 Zu den Voraussetzungen und Schranken der gesetzesübersteigenden Rechtsfortbildung im Allgemeinen Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 245 ff. Zu kurz greift insoweit die These, das deutsche Recht lasse ein contra legemJudizieren nicht zu; so aber Unberath, ZEuP 2005, 6 f. Siehe unten im Text unter Rn. 55 ff. 190 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 246. 191 So im Ergebnis BAGE 130, 119 Rn. 64 ff. (mit eingehender Begründung der Rechtsfortbildung; die beiläufige Erwähnung des Willens des Gesetzgebers zur ordnungsgemäßen Umsetzung erscheint in diesem Zusammenhang freilich wenig überzeugend; gemeint ist wohl eher, dass der Rechtsfortbildung der Gesetzgeberwille nicht entgegensteht); Canaris, FS Bydlinski, S. 87 ff.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 288 f. A.A. Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 108 f.; Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 137 f.

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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

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gen in Rn. 57) die Feststellung eines eindeutigen, einer Rechtsfortbildung entgegenstehenden Gesetzeszwecks fungieren.192 Anders ist die Lage, wenn der Gesetzgeber nach Erlass der Richtlinie zu ihrer Umsetzung 53 (mehr oder weniger flächendeckend) tätig geworden ist. Hier ist die Rollenverteilung zwischen Legislative und Judikative eine andere: Dem Lückenbegriff muss hier die Aufgabe zugeschrieben werden, die Entscheidungen des Gesetzgebers vor einer unzulässigen Korrektur aus rechtspolitischen Gründen durch die Judikative abzuschirmen.193 Aber auch hier entsteht ein Bedürfnis nach Rechtsfortbildung, wenn der Gesetzgeber – unbewusst – die Regelungszwecke der Richtlinie verfehlt oder hinter ihnen zurückbleibt. In solchen Konstellationen wird man die für eine Rechtsfortbildung vorauszusetzende „Lücke“ vor dem Hintergrund des Art. 20 Abs. 3 GG darin sehen müssen, dass das Umsetzungsgesetz hinter der Richtlinie zurück bleibt.194 Der BGH spricht in seiner Quelle-Entscheidung insoweit von einer „verdeckten“ Regelungslücke.195 Die für die Rechtsfortbildung notwendige Legitimation des Richters liegt in der Bindung des Gerichts an „Gesetz und Recht“ i.S.d. Art. 20 Abs. 3 GG und damit an die Vorgaben der Richtlinie.196

c) Die Instrumente der Rechtsfortbildung Das deutsche Recht kennt verschiedene Instrumente, deren sich die Gerichte bedienen können 54 und müssen, um eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung zu erreichen.197 Bleibt etwa der Gesetzgeber in der Ausgestaltung des nationalen Umsetzungsrechts hinter den Anforderungen der Richtlinienvorgaben zurück, kann mittels einer teleologischen Extension198 oder teleologischen Reduktion199 der in Betracht kommenden Norm(en) der Zweck der Richtlinie verfolgt wer-

_____ 192 BAGE 130, 119 Rn. 67. 193 S. BVerfGE 82, 6, 12 f. Zu verweisen ist auch auf die grundsätzlichen (aber nicht auf eine Richtlinienumsetzung bezogenen) Aussagen des Minderheitsvotums in BVerfGE 122, 248, 282 f. und 285 f. und auf BVerfGE 128, 193, 209 f. Speziell zu den (verfassungsrechtlichen) Grenzen einer richtlinienkonformen Auslegung BVerfGK 19, 89, 100 f.: Bindung an „die gesetzgeberische Grundentscheidung“. 194 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 416, 419; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 40; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 181; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 286 ff. A.A. etwa Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 135 f. 195 BGHZ 179, 27 Rn. 22, 25 f. – Quelle. Ebenso BGHZ 192, 148 Rn. 31, 34 f. und BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 22. 196 Canaris, FS Bydlinski, S. 84 f.; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 176 f. Vgl. auch BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 23: „Eine planwidrige Regelungslücke ist nicht nur dann gegeben, wenn Wertungswiderspüche zwischen zwei innerstaatlichen Normen bestehen.“ A.A. etwa OLG München, VersR 2013, 1025, 1029 mwN aus der Literatur. 197 Die Umsetzung der Richtlinienvorgaben durch die Rechtsprechung wird aber in vielen Fällen nicht genügen; der Gerichtshof betont in st. Rspr., dass etwa der Verbraucher seine Rechte durch klare Regelungen im nationalen Recht erkennen können soll; z.B. EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; zuletzt EuGH v. 24.10.2013 – Rs. C-151/12 Kommission ./. Spanien, Rn. 28. Dies erfordert nicht immer, aber zumeist eine Regelung durch Gesetz oder Verordnung. Zum Problem etwa Burger, DVBl. 2013, 1431, 1437. Vor dem Hintergrund dieses unionsrechtlichen Transparenzgebots ist es zumindest erstaunlich, dass auf dem 69. Deutschen Juristentag ein Beschluss gefasst wurde, wonach der deutsche Gesetzgeber die Häufigkeit von Änderungen des zivilen Verbrauchervertragsrechts reduzieren solle, wenn der BGH (als Reaktion auf EuGH-Entscheidungen) eine tragfähige Lösung entwickelt habe; Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 69. Deutschen Juristentages – München 2012, Band II/1, Teil I 88 unter I. Nr. 8. 198 Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 48, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 187 ff.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 292 f. 199 BVerfGK 19, 89, 103 („Zu den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung gehört auch die teleologische Reduktion“); BGHZ 179, 27 Rn. 21 – Quelle; BGHZ 192, 148 Rn. 31, 34 f. und BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 21 f.; BAGE 130, 119 Rn. 66; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 49, 51; Canaris, FS Bydlinski, S. 90; Drexler, Die richtlinienkonRoth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

den. Fehlt es an jeglicher Umsetzung, kann u.U. die Analogie200 helfen. Sind deren Voraussetzungen – Ähnlichkeit der Tatbestände – nicht gegeben,201 ist den Vorgaben der Richtlinie durch die Ausbildung einer Fallnorm202 zu entsprechen, so wie dies die deutsche Rechtsprechung seit jeher etwa im Bereich des Arbeitsrechts, aber auch des Allgemeinen und des Besonderen Schuldrechts (z.B. im Delikts- und Bereicherungsrecht und die Ausbildung von Rechtsinstituten wie der c.i.c. und der Störung der Geschäftsgrundlage) praktiziert hat. Die Rechtsfortbildung hat sich dabei an den Richtlinienvorgaben im Lichte des primären Unionsrechts – den Grundfreiheiten, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und den in der Rechtsprechung des EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen – zu orientieren.

d) Die Grenzen der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung 55 Als unübersteigbare Schranke der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung gilt allgemein der am

Wortlaut der Norm festgemachte Regelungszweck („Wortsinn“) des Gesetzgebers. Diese von der ganz h.L. vertretene Position203 wird von den deutschen Höchstgerichten geteilt.204 Hinsichtlich der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 14. Juni 2007 festgestellt, dass eine Rechtsfortbildung, die „den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, ihren Widerhall nicht im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder – bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke – stillschweigend gebilligt wird, […] unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein[greife].“205 Eine Abweichung von Wortlaut und Zweck der zu interpretierenden Vorschriften bedingt mithin nur kumulativ einen Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG.206 Dies verkannte der BGH noch in seinem Urteil Heininger, wo er auf den möglichen Wortsinn als entscheidende Grenze der richtlinienkonformen Auslegung abstellte und diesen sodann über seine mögliche grammatikalische Bedeutung hinausgehend im Sinne der Richtlinie ausdehnte.207 Im viel diskutierten Urteil Quelle hat der

_____ forme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 193 ff.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 290 f. 200 BVerwG v. 25.6.2014 – 6 C 10.13, Rn. 54 f.; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 183 ff.; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 291 f. 201 Das BVerfG hat die Grenzen der Rechtsfortbildung durch Analogie dahingehend umschrieben, dass die Analogie sich nicht als Äußerung unzulässiger richterlicher Eigenmacht, durch die der erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen ersetzt werde, darstellen dürfe; BVerfGE 82, 6, 12 f. und BVerfGE 132, 99 Rn. 74. Zur Zulässigkeit der Rechtsfortbildung praeter legem BVerfGE 88, 145, 167. 202 Fikentscher, Methoden des Rechts IV, S. 202 ff., 279 ff. 203 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 226; Canaris, FS Bydlinski, S. 92 ff.; Gebauer/WiedmannGebauer, Kap. 3 Rn. 43; Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts (1994), S. 95 f.; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 104. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen auch Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 156 ff. 204 Speziell zu den Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung etwa BGH, NJW 2013, 2674 Rn. 42; BAGE 132, 247 Rn. 29 und BAGE 135, 34 Rn. 35. Ähnlich auch BGHZ 179, 27 Rn. 30 f. – Quelle. 205 BVerfGE 118, 212, 243. Ebenso BVerfGE 128, 193, 210 und ähnlich BVerfGE 132, 99 Rn. 75. Vgl. auch die Ausführungen des Minderheitsvotums in BVerfGE 122, 248, 282 ff. Mit Beschluss vom 26.9.2011 hat das BVerfG die so umschriebene Grenze richterlicher Rechtsfortbildung auch für die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung bestätigt; BVerfGK 19, 89, 102. 206 Speziell zu den Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung formuliert das BVerfG (BVerfGK 19, 89, 103): „Eine bestimmte Auslegungsmethode oder gar eine reine Wortinterpretation schreibt die Verfassung nicht vor […]. Der Wortlaut des Gesetzes zieht im Regelfall keine starre Auslegungsgrenze […].“ 207 BGHZ 150, 248. 254. Dazu bereits oben Rn. 46. Vgl. auch BGHZ 159, 280, 284 f. Allein auf den „klaren“ bzw. „eindeutigen Gesetzeswortlaut“ als Schranke stellt etwa BGH, NJW 2004, 154, 155 f. zu § 1 Abs. 2 Nr. 3 und § 2 Abs. 1 Satz 4 HWiG a.F. ab; bestätigt durch BGH v. 18.1.2005 – Az. XI ZR 54/04.

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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

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BGH diese Sichtweise korrigiert; er spricht im Zusammenhang mit einer Rechtsfindung jenseits der möglichen grammatikalischen Bedeutung der zu interpretierenden Norm methodenehrlicher von richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, deren Grenze allein der Regelungszweck darstelle.208 Diese Rechtsprechung wurde zwischenzeitlich nicht nur vom VIII. Zivilsenat des BGH209 bestätigt, sondern auch von mehreren anderen Zivilsenaten des BGH,210 dem BAG211, dem BFH212 und dem BVerwG212a übernommen; sie hat durch das BVerfG eine verfassungsrechtliche Billigung erfahren.213

Für die Bestimmung des Regelungszwecks einer Norm wird man auf den Regelungsanlass und 56 den Willen des Gesetzgebers abzustellen haben. Ergibt sich dabei, dass der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen hat,214 so darf der Richter diese nicht aufgrund eigener abweichender rechtspolitischer Vorstellungen verändern und durch eine judikative Lösung ersetzen, die so im Parlament nicht erreichbar gewesen wäre.215 Diese vom Minderheitsvotum im Rügeverkümmerungs-Beschluss getroffene Aussage216 bringt die Dinge auf den Punkt und bedarf strikter Beachtung, um dem (legitimen) Instrument der Rechtsfortbildung Grenzen zu ziehen. Bei der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung zur Korrektur einer nicht geglückten Um- 57 setzung einer Richtlinie besteht immer die vom BVerfG umschriebene Gefahr, dass die Entscheidung des Parlaments durch eigene rechtspolitische Vorstellungen des Gerichts ersetzt wird, solange der Gesetzgeber nicht zu erkennen gegeben hat, dass er eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt. Wird der Gesetzgeber zur Umsetzung einer Richtlinie tätig und stellt sich später (etwa aufgrund einer Entscheidung des EuGH) heraus, dass ihm eine richtlinienkonforme Umsetzung gleichwohl nicht gelungen ist, steht der Richter vor der Wahl, entweder der vom Gesetzgeber gewählten (aber die Richtlinienvorgabe verfehlenden) Lösung des Sachproblems im Einzelfall zu folgen oder aber dem allgemeinen Zweck der Umsetzungsgesetzgebung zur Durchsetzung zu verhelfen, eine richtlinienkonforme und damit unionsrechtskonforme Lösung zu

_____ 208 BGHZ 179, 27 Rn. 25 – Quelle. 209 BGHZ 192, 148 Rn. 30 ff. 210 BGH, NVwZ-RR 2011, 55 Rn. 24 ff. (Kartellsenat); BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 8 ff.; BGH v. 20.2.2014 – V ZB 76/13 Rn. 6 und v. 25.7.2014 – V ZB 137/14 Rn. 8 (jeweils V. Senat); zuletzt der IV. Senat in BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 20 ff.; BGH v. 30.7.2014 – IV ZR 85/12, Rn. 16 und v. 3.9.2014 – IV ZR 402/12, Rn. 16 (teleologische Reduktion des § 5 Abs. 2 Satz 4 VVG a.F.; in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ist die Möglichkeit einer solchen Reduktion dieser Norm bis zuletzt umstritten gewesen; vgl. etwa OLG München, VersR 2013, 1025, 1027 ff. und NJOZ 2014, 204, 207 [dagegen] und OLG Celle, NJW-RR 2014, 993, 993 f. [dafür]. Die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung auch nach und in Kenntnis der gegenteiligen BGH-Entscheidung verneinend AG Frankfurt v. 22.7.2014 – 31 C 968/13, Rn. 26 ff.). 211 BAGE 130, 119 Rn. 64 ff. (teleologische Reduktion der §§ 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG). Die Entscheidung wurde mehrfach bestätigt, vgl. etwa BAGE 134, 196 Rn. 19. In BAGE 142, 247 Rn. 33 lässt es das BAG nunmehr dahinstehen, ob es die dort vorgenommene unionsrechtskonforme Auslegung der § 7 Abs. 3 und Abs. 4 BUrlG im Wege der Auslegung oder Rechtsfortbildung vornimmt. Vgl. auch BAGE 132, 247 Rn. 29; BAGE 135, 34 Rn. 34 und BAG, NZA 2013, 515 Rn. 37 (wo jedoch die Möglichkeit einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung für die konkret zu interpretierende(n) Norm(en) im Ergebnis jeweils verneint wurde). 212 BFH/NV 2014, 278 Rn. 25 ff. (V. Senat). In Konstellationen, in denen eine etwaige richtlinienkonforme Auslegung zulasten des Steuerpflichtigen gehen würde, wird hingegen auf den Wortlaut als Grenze für eine richtlinienkonforme Auslegung abgestellt, vgl. etwa BFH, BStBl II 2012, 630 Rn. 20 und BFH/NV 2014, 123 Rn. 30. Der XI. Senat des BFH sieht die richtlinienkonforme Auslegung grds. durch Wortlaut und Wortsinn des Gesetzestextes begrenzt, BFH, BStBl II 2013, 712 Rn. 19 und BStBl II 2014, 428 Rn. 81. 212a BVerwG v. 25.6.2014 – 6 C 10.13, Rn. 54. 213 BVerfGK 19, 89, 100 ff. und BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33, wo die Quelle-Entscheidung des BGH erstmals in Bezug genommen wird. 214 BVerfGK 19, 89, 100 f. spricht insoweit von der „maßgebliche[n] gesetzgeberische[n] Grundentscheidung, an die die Gerichte verfassungsrechtlich gebunden“ seien. In der Sache ebenso BGHZ 179, 27 Rn. 31. 215 BVerfGE 82, 6, 12. 216 BVerfGE 122, 248, 283. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

erreichen. Wenn und solange der Gesetzgeber nachweisbar217 eine richtlinienkonforme Umsetzung anstrebt, wird man diesem – ggf. im konkreten Fall unvollkommen verwirklichten – allgemeinen Zweck den Vorrang vor der mit der konkreten Norm verknüpften Zielsetzung einräumen müssen.218 In einer solchen Konstellation basiert eine rechtsfortbildende Gesetzeskorrektur auf der Vorgabe des Art. 23 Abs. 1 GG (oben Rn. 39) und verstößt gerade nicht gegen die von Art. 20 Abs. 3 GG vorausgesetzte und geschützte Rollenverteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, wie sie das Minderheitsvotum im Rügeverkümmerungs-Beschluss219 thematisiert.220 Vor dem Hintergrund, dass mit dem BVerfG davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber, der zur Umsetzung einer Richtlinie ins nationale Recht tätig wird, im Zweifel nicht gegen seine Pflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV verstoßen und mithin eine richtlinienkonforme Regelung erlassen will,221 gilt Gleiches auch für einen Fall, in dem sich den Gesetzgebungsmaterialen zwar nicht explizit entnehmen lässt, dass sich der Gesetzgeber ausdrücklich mit der Richtlinienkonformität der konkret zu interpretierenden Norm auseinandergesetzt hat, das Gesetz aber zweifellos die korrekte Umsetzung einer Richtlinie bezweckt.222 Bleibt dagegen der Gesetzgeber bewusst223 hinter den Richtlinienvorgaben zurück (ohne über Inhalt und Tragweite der Richtlinie im Irrtum zu

_____ 217 Vergleichweise eng insoweit BGHZ 179, 27 Rn. 25 – Quelle („Widerspruch zur konkret geäußerten, von der Annahme der Richtlinienkonformität getragenen Umsetzungsabsicht des Gesetzgebers“). BGHZ 192, 148 Rn. 33 begnügt sich dagegen mit dem Grundanliegen des Gesetzgebers, die Richtlinie ordnungsgemäß umzusetzen. BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 23 greift nunmehr die oben Rn. 30 abgelehnte unionsrechtliche „Vermutungsregel“ des EuGH aus dem Pfeiffer-Urteil auf und gelangt über diese zu der Annahme, dass – „außer im Falle einer ausdrücklichen Umsetzungsverweigerung“ – von einem (generellen) Willen des Gesetzgebers zur korrekten Richtlinienumsetzung auszugehen sei. Vgl. hierzu auch Fn. 221. 218 BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 26. BGH v. 25.7.2014 – V ZB 137/14, Rn. 8 spricht für eine solche Konstellation von einem „Versehen“ des Gesetzgebers, das auf einem fehlerhaften Verständnis der Richtlinie beim Versuch, diese ordnungsgemäß umzusetzen, beruhe. BGH, NVwZ 2014, 1111 Rn. 10 sieht die Grenze zulässiger Auslegung/Rechtsfortbildung „[…] erst dann überschritten, wenn der Norm entgegen einer eindeutigen und widerspruchsfreien Entscheidung des Gesetzgebers ein bestimmter Sinngehalt beigelegt wird“ (kursiv von den Verf.). 219 BVerfGE 122, 248, 282 f. und 285 f. Vgl. auch BVerfGE 128, 193, 209 f. 220 Wenig einleuchtend ist es, wenn in diesem Zusammenhang von der Gefahr einer „Entmündigung“ des Gesetzgebers gesprochen wird; so Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 527. Denn: Der Gesetzgeber kann doch jederzeit nachsteuern! Es geht allein darum, den richtlinienwidrigen Zustand bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers, das allemal wegen der gebotenen Normklarheit erforderlich sein mag (!), durch Richterrecht zu beseitigen (s. unten Rn. 58). Vgl. auch BVerfGE 132, 99 Rn. 74: „Dies belässt dem Gesetzgeber die Möglichkeit, in unerwünschte Rechtsentwicklungen korrigierend einzugreifen und so im Wechselspiel von Rechtsprechung und Rechtsetzung demokratische Verantwortung wahrzunehmen.“ 221 BVerfGK 19, 89, 101. Diese Annahme deckt sich im Ergebnis mit der in dem Urteil Pfeiffer (EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112) angedeuteten – und oben Rn. 30 abgelehnten – unionsrechtlichen „Vermutungsregel“. Ablehnend bezüglich eines generellen Willens zur korrekten Umsetzung Durner, Verfassungsrechtliche Grenzen richtlinienkonformer Rechtsfortbildung, S. 34; Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 258; Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 126; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 916 f.; Wank, in: Karakostas/Riesenhuber (Hrsg.), Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung (2011), S. 15, 28 f. und Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis, S. 214 ff., die etwaige „Schutzlücken“ durch eine Modifikation der Voraussetzungen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs schließen will, S. 249 ff. 222 BGHZ 192, 148 Rn. 34; Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht, S. 45; Canaris, FS Bydlinski, S. 85; Faust, in: Begegnungen im Recht (2011), S. 299, 312; Faust, JuS 2012, 456, 459; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922 f.; Perner, EU-Richtlinien und Privatrecht, S. 104 f. Herresthal, JuS 2014, 289, 293 und 295, lehnt zwar einen „hypothetischen“ Gesetzgeberwillen ab, gelangt aber über die Annahme, dass die gesetzgeberische Wertentscheidung nicht mehr aktuell sei, wenn sich (etwa durch eine EuGH-Entscheidung) herausstellt, dass sie auf einem unzutreffenden Verständnis der vom Gesetzgeber umzusetzenden (Richtlinien-)Vorgabe basiert, zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Vgl. schon Herresthal, EuZW 2007, 396, 400 und ders., NJW 2008, 2475, 2477. 223 Vgl. auch BVerfG, ZIP 2013, 924 Rn. 33, wonach ohne eine solche „bewusste Entscheidung des Gesetzgebers“ von der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung auszugehen sei.

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§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

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sein), ist das Gericht an die gesetzlichen Vorgaben gebunden; hier kann nur der Gesetzgeber selbst korrigierend eingreifen. Der BGH ist in seinem Quelle-Urteil den soeben beschriebenen Weg gegangen:224 Da der Gesetzgeber sich bei der Schaffung des § 439 Abs. 4 BGB von der Absicht hat leiten lassen, die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie225 richtlinienkonform umzusetzen, und er darüber hinaus, konkret in Bezug auf die in § 439 Abs. 4 BGB getroffene Sachentscheidung die Auffassung vertreten hat, dass sie mit der Richtlinie vereinbar sei, liegt in der teleologischen Restriktion des § 439 Abs. 4 BGB keine rechtspolitische Korrektur der Entscheidung des Parlaments durch das Gericht, sondern im Gegenteil vielmehr die Vollstreckung der konkret gegebenen Absicht des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen.226 In seiner Folgeentscheidung zum EuGH-Urteil Gebr. Weber und Putz konnte der BGH sich zur Legitimation der von ihm vorgenommenen teleologischen Reduktion von § 439 Abs. 3 BGB zwar nicht auf eine konkret auf § 439 Abs. 3 BGB bezogene und von der Richtlinienkonformität dieser Vorschrift ausgehende Aussage in den Gesetzgebungsmaterialen stützen, aber auch hier genügt die Feststellung, dass der Gesetzgeber mit dem Umsetzungsgesetz eine richtlinienkonforme Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie bezweckte.227

Die hier vertretene Position nimmt nicht nur Rücksicht auf die Vorgaben der Art. 20 Abs. 3, 58 Art. 23 Abs. 1 GG, sondern auch auf die Erfordernisse einer sinnvollen Rollenverteilung zwischen Gerichten und Parlament bei der fortlaufenden Überprüfung der Unionsrechtskonformität des deutschen Rechts. Angesichts des sich immer weiter ausdehnenden sekundären Unionsrechts einerseits und der Klärung von Auslegungsfragen durch den EuGH oft erst Jahre nach Erlass der jeweiligen Richtlinie andererseits, wäre der Gesetzgeber völlig überfordert, wenn man ihm allein die Korrektur richtlinienwidrigen Rechts überließe. Da die Probleme zudem oftmals erst in einem konkreten Streitfall deutlich werden, liegt es nahe, den Gerichten den ersten Zugriff für die Herstellung richtlinienkonformer Ergebnisse im Wege rechtsfortbildender Judikate zu eröffnen.228 Der Gesetzgeber kann, falls erforderlich, nachsteuern. 229 Eine andere und von der Befugnis zur gesetzeskorrigierenden Rechtsfortbildung zu unter- 59 scheidende Frage ist, ob das rechtsfortbildende Urteil Wirkungen ex tunc oder ex nunc entfalten soll.230 Nach der Rechtsprechung des BVerfG231 und des BGH232 kann die Bindung an das rechtsstaatliche Prinzip der Rechtssicherheit, Art. 20 Abs. 3 GG, zu einem Schutz des Vertrauens hinsichtlich der bisher bestehenden Gesetzeslage und damit zu einer ex nunc-Wirkung der Rechtsfortbildung führen. Dieser unter Umständen gebotene allgemeine Vertrauensschutz steht weder einer teleologischen Reduktion einer Norm entgegen noch ist er bei einer vom Wortlaut der

_____ 224 BGHZ 179, 27 Rn. 31 – Quelle. 225 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 226 Zust.: Kroll-Ludwigs/Ludwigs, ZJS 2009, 123, 126; Möllers/Möhring, JZ 2008, 919, 922; Möllers, JZ 2009, 405, 406; Pfeiffer, NJW 2009, 412, 412; Leenen, Jura 2012, 753, 760 f. Abl. auch insoweit: Höpfner, JZ 2009, 403, 405 und Wank, in: Karakostas/Riesenhuber (Hrsg.), Methoden- und Verfassungsfragen der Europäischen Rechtsangleichung (2011), S. 15, 30. 227 BGHZ 192, 148 Rn. 34. Zust.: Faust, JuS 2012, 456, 459; Leible/Müller, LMK 2012, 330321; abl. Gsell, ZJS 2012, 369, 374; Höpfner, JZ 2012, 473, 475 f. 228 Dass der Gesetzgeber unionsrechtlich verpflichtet ist, richtlinienwidrige gesetzliche Bestimmungen zu korrigieren und für transparente Umsetzungsnormen zu sorgen (vgl. hierzu die Ausführungen in Fn. 197), steht insoweit nicht entgegen. 229 S. im Sinne einer solchen Rollenverteilung BVerfGE 132, 99 Rn. 74; vgl. auch Fn. 220. 230 Davon zu unterscheiden sind die zeitliche Wirkung von Urteilen des EuGH und Beschränkungen ihrer Rückwirkung; dazu näher Rosenkranz, in diesem Band, § 16. 231 BVerfGK 19, 89, 104 f. 232 BGHZ 179, 27 Rn. 33 – Quelle. Roth/Jopen

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Norm abweichenden Auslegung verletzt.233 Er ist auch kein Anlass, von einer Rechtsfortbildung mit ex nunc-Wirkung abzusehen. Eine ex tunc-Wirkung liegt dagegen nahe, wenn die Umsetzungsregelung in ihrer Richtlinienwidrigkeit seit langem problematisiert worden ist.234

e) Normenkollisionen 60 Die Problematik der durch Wortlaut und Gesetzeszweck markierten Grenze für eine gesetzes-

übersteigende Rechtsfortbildung wird im deutschen Schrifttum zumeist ohne Bezugnahme auf Konstellationen erörtert, in denen Wortlaut und Regelungszweck von unterschiedlichen Normen sich widersprechen (Gesetzeskollisionen) oder aber Normen Ausdruck entgegenlaufender Wertungen sind (Wertungswidersprüche). In seiner Pfeiffer-Entscheidung (Rn. 32) hat der Gerichtshof für Zwecke der richtlinienkonformen Auslegung auch auf im nationalen Recht ausgebildete Grundsätze über die Lösung von Normenkollisionen verwiesen und diesen Verweis in dem Mono Car Styling-Urteil bestätigt (Rn. 33). Dies erscheint aus zweierlei Gründen bedeutsam: 61 – Im Gegensatz zu den allein aus dem nationalen Recht erwachsenden Normenkollisionen geht es bei der richtlinienkonformen Auslegung um potentiell kollidierende Regelungen zweier unterschiedlicher Normgeber.235 Der Gerichtshof scheint sich daran nicht zu stören. Für das deutsche Recht entstehen daraus auch keine Probleme:236 Da die Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG eine Bindung des Richters an die Richtlinie neben der Bindung an deutsches Gesetzesrecht vorsehen (s. Rn. 39, 50), sind die Normenkollisionen mit denen des innerstaatlichen Rechts durchaus vergleichbar. – Der EuGH sieht die Möglichkeit einer Normenkollision zwischen Richtlinienrecht und nationalem Recht auch dann eröffnet, wenn und soweit nicht von einer unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung auszugehen ist. Dies bedeutet: Richtlinie und innerstaatliche Norm stehen für Zwecke der Lösung von Normenkollisionen auf einer Stufe. Der Äquivalenzgrundsatz (Rn. 31 ff.) gebietet es dann, in der nationalen Methodenlehre praktizierte Techniken der Lösung von Normenkollisionen – soweit möglich (s. sogleich Rn. 62–63) – auf das Verhältnis von Richtlinie und nationalem Recht zu übertragen. 62 aa) Unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht. Soweit – im Verhältnis Bürger-Staat – Richtli-

nienbestimmungen zugunsten des Einzelnen als unmittelbar anwendbar anzusehen sind, ist

_____ 233 BVerfGK 19, 89, 104. 234 BGHZ 179, 27 Rn. 33 – Quelle unter Hinweis auf BGH, NJW 2006, 3200 Rn. 20 und den dort wiedergegebenen Meinungsstand in der Literatur. Ebenso BGHZ 192, 148 Rn. 47 und BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 32. S. zum Ganzen auch BAGE 130, 119 Rn. 73 ff., mit Bezug zu der vom Gericht vorgenommenen teleologischen Reduktion der § 7 Abs. 3 und 4 BUrlG und der damit verbundenen Abkehr von einer st. Rspr. (kein Vertrauensschutz für die Zeit nach Bekanntwerden des Vorabentscheidungsersuchens); BAGE 134, 1 Rn. 96 ff. (kein Vertrauensschutz für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist; krit. dazu Höpfner, RdA 2013, 16, 27); anders früher BAGE 117, 281 Rn. 40 (Entfall des Vertrauensschutzes erst ab dem Zeitpunkt des klärenden Urteils des EuGH). Für den Fall einer rückwirkenden Nichtanwendbarkeit eines Gesetzes infolge eines Urteils des EuGH hat das BVerfG in seinem Honeywell-Beschluss darauf hingewiesen, dass zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes innerstaatlich ggf. vom Staat eine Entschädigung dafür zu gewähren sei, dass ein Betroffener auf die gesetzliche Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen habe, es aber offen gelassen, ob ein entsprechender Anspruch bereits im bestehenden Staatshaftungssystem angelegt sei; BVerfGE 126, 286, 314 f. Dazu etwa Karpenstein/Johann, NJW 2012, 3405; Giegerich, EuR 2012, 373. Zur Übertragung dieses Ansatzes auf die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung Schinkels, JZ 2011, 394. 235 Langenbucher-dies., § 1 Rn. 99. 236 A.A. Grosche/Höft, NJOZ 2009, 2294, 2299; Schürnbrand, JZ 2007, 910, 912. Roth/Jopen

§ 13 Die richtlinienkonforme Auslegung

295

die (durch eine vorrangig237 gebotene richtlinienkonforme Auslegung bzw. Rechtsfortbildung nicht auflösbare) Normenkollision aufgrund des (in den Fällen der unmittelbaren Anwendbarkeit eingreifenden) Vorrangs des Unionsrechts zugunsten der konkreten Regelung in der Richtlinie zu lösen. Dies entspricht auch im Ergebnis der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.238 bb) Nicht unmittelbar anwendbares Richtlinienrecht. Problematisch ist allein der Be- 63 reich, in dem eine nationale Regelung mit nicht unmittelbar anwendbarem Richtlinienrecht (im Horizontalverhältnis; dazu Rn. 13–14) kollidiert.239 Das deutsche Recht kennt zur Auflösung von Normenkollisionen verschiedene Methoden. – Normenwidersprüche können etwa nach dem lex posterior-Satz240 entschärft werden. Dieser Satz kann es rechtfertigen, nach Inkrafttreten einer Richtlinie früher erlassenes, der Richtlinie entgegenstehendes Gesetzesrecht außer Anwendung zu lassen und ggf. zur Lückenfüllung im Wege der Rechtsfortbildung eine Fallnorm zu entwickeln. – Geht es dagegen um nach Erlass der Richtlinie in Kraft getretene gesetzliche Regelungen, muss es Aufgabe der Auslegung sein, eine mit der Richtlinie widerspruchsfreie Lösung zu finden, sei es durch eine restriktive Auslegung der nationalen Regelung oder, wo dies nicht möglich ist, dadurch, dass einer Norm der Vorrang zuerkannt wird.241 Dies wirft die Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen der Richter bei einer Kollision einer nationalen Norm mit einer Richtlinie an die Vorgaben des nationalen Gesetzes gebunden bleibt, also dem Umsetzungsrecht den Vorrang einzuräumen hat. Vor dem Hintergrund der in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Gesetzesbindung des Richters liegt es 64 nahe danach zu unterscheiden, welches die Gründe für die Normenkollision sind:242 Wenn und soweit davon ausgegangen werden kann, dass der Gesetzgeber beim Erlass des 65 Umsetzungsgesetzes den Vorgaben der Richtlinie entsprechen wollte, dieses Ziel aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht hat, erscheint (außerhalb des Straf- und des Eingriffsrechts) eine Korrektur der nationalen Regelung – bis hin zur Derogation der Norm243 – vom Willen des Gesetzgebers, eine richtlinienkonforme Lösung zu verwirklichen, gedeckt.244 Dies gilt

_____ 237 S. oben Rn. 14. 238 Seit EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 25. Zuletzt etwa EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-425/12 Portgás, Rn. 18. 239 Zum Folgenden a.A. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 32 ff. 240 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572 f. 241 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 155. 242 Die im Text vorgenommene Differenzierung wird in der Rspr. (BAG, NZA 2003, 742, 747; BGH, NJW 2004, 154, 155) nicht vorgenommen und im Schrifttum zumeist abgelehnt; z.B. Piekenbrock/Schulze, WM 2002, 521, 524 ff.; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529, 531 ff.; Osnabrügge, NJW 2005, 1093; Franzen, JZ 2003, 321, 324; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 98–99; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 41; Langenbucher-dies., § 1 Rn. 104. Im Ansatz wie hier aber Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420 ff.; Möllers, Die Rolle des Rechts im Rahmen der europäischen Integration (1999), S. 72 ff. 243 AG Solingen v. 15.3.2012 – Az. 12 C 340/11; Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 210; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 321 ff. A.A. OLG München, VersR 2013, 1025, 1028; wohl auch BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 33 a.E.; Canaris, FS Bydlinski, S. 94, 100 f.; Gebauer, AnwBl 2007, 314, 318 f.; Mörsdorf, EuR 2009, 219, 231; Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 53; Suhr, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht und nationale Auslegungsmethodik, S. 298 ff. Offen lassend: BGHZ 179, 27 Rn. 29 – Quelle; BGHZ 192, 148 Rn. 45. Der österreichische OGH hat eine teleologische Reduktion einer nationalen Norm vorgenommen, obwohl sie dadurch ihre „eigenständige Bedeutung“ verlor und „gegenstandslos“ wurde; OGH, ÖJZ 2011, 603; kritisch Klamert, JBl. 2011, 738, 741. 244 Vgl. BGH, NJW 2014, 2646 Rn. 23; im Ergebnis bereits BGHZ 150, 248, 254 ff., freilich als Konsequenz der Auslegbarkeit der entsprechenden Bestimmung und nicht als Folge einer Normenkollision; ebenso BGHZ 159, 280, 284 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

etwa, wenn im Gesetzgebungsprozess unklare oder gar falsche Vorstellungen über die Tragweite einer Richtlinienbestimmung bestanden haben oder aber die Bedeutung einer Richtlinienregelung erst durch spätere Judikatur des Gerichtshofs geklärt worden ist. Wird der Umsetzungszweck verfehlt, weil der Gesetzgeber fehlerhafte Vorstellungen über die Tragweite der Richtlinie hatte, sollte die Judikative (außerhalb des Straf- und des Eingriffsrechts) als ermächtigt angesehen werden, die erforderlichen Korrekturen bzw. Nachbesserungen vorzunehmen (s. oben Rn. 55 ff.). Die Situation ist eine andere, wenn sich aus dem Wortlaut der Norm und dem vom Gesetzge66 ber verfolgten Regelungszweck klar und eindeutig entnehmen lässt,245 dass von den Richtlinienvorgaben (bewusst) abgewichen werden soll (was in der Praxis durchaus, wenn auch eher selten vorkommen mag).246 Hier ergibt sich eine unübersteigbare Hürde für eine richterliche Gesetzeskorrektur.247 Denn sonst drohte die Gefahr, dass der sich im Wortlaut abbildende erkennbare Wille des Gesetzgebers beiseite geschoben und durch eine autark getroffene richterliche Abwägung der Interessen – einem Akt unzulässiger richterlicher Eigenmacht – ersetzt wird.248 Die Bindung des (nationalen) Richters an die Vorgaben des nationalen Gesetzgebers muss sich insoweit durchsetzen.249 Und diese Bindung wird vom Unionsrecht in der Deutung des EuGH auch respektiert.250

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_____ 245 Vgl. auch BVerfGE 18, 97, 111; BVerfGE 71, 81, 105; BVerfGE 118, 212, 234, wo als Schranke für eine verfassungskonforme Interpretation auf Wortlaut und den „klar erkennbaren“ Regelungswillen abgestellt wird. 246 Zu den Anforderungen an eine bewusste Umsetzungsverweigerung s. etwa Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 399 (für eine deutliche Markierung im Normtext); Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 213; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen, S. 332 f. (beide verlangen, dass das Fehlen eines Umsetzungswillens in den Gesetzgebungsmaterialien klar geäußert und offengelegt wird und sich im Gesetzeswortlaut widerspiegelt); Canaris, FS Bydlinski, S. 86 (der Gesetzgeber müsse „nachweisbar wissentlich“ von den Vorgaben abgewichen sein). 247 In diesem Sinne auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 452. 248 BVerfGE 82, 12 f.; BVerfGE 87, 273, 280; BVerfGE 132, 99 Rn. 74. 249 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, S. 269; Grundmann, ZEuP 1996, 399, 420; Riesenhuber/ Domröse, RIW 2005, 47, 51. Zuletzt etwa Drexler, Die richtlinienkonforme Interpretation in Deutschland und Frankreich, S. 212 f. 250 S. oben in Rn. 37 f. Roth/Jopen

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien 2. Teil: Allgemeiner Teil

Mathias Habersack/Christian Mayer § 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien Habersack/Mayer Literatur Christian Bärenz, Die Auslegung der überschießenden Umsetzung von Richtlinien am Beispiel des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts, DB 2003, 375–376; Gert Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien (2003); Josef Drexl, Die gemeinschaftsrechtliche Pflicht zur einheitlichen richtlinienkonformen Auslegung hybrider Rechtsnormen und deren Grenzen, in: Stephan Lorenz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich (2005), S. 67–86; Beate Gsell, Vorlageverfahren und überschießende Umsetzung von Europarecht, in: dies./Wolfgang Hau (Hrsg.), Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem (2012), S. 123–154; Mathias Habersack/Christian Mayer, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, JZ 1999, 913–921; dies., Der Widerruf von Haustürgeschäften nach der „Heininger“-Entscheidung des EuGH, WM 2002, 253–259; Burkhardt Heß, Rechtsfragen des Vorabentscheidungsverfahrens, RabelsZ 66 (2002), 470–502; Clemens Höpfner/Bernd Rüthers, Grundlagen einer europäischen Methodenlehre, AcP 209 (2009), 1–36; Jochen Hoffmann, Der Verbraucherbegriff des BGB nach der Umsetzung der Finanz-Fernabsatzrichtlinie, WM 2006, 560–567; Peter Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 2 (2000), S. 889–925; Torsten Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006); Marcus Lutter, Zur überschießenden Umsetzung von Richtlinien der EU, in: Allfred Söllner u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), S. 571–584; Christian Mayer/Jan Schürnbrand, Einheitlich oder gespalten? – Zur Auslegung des nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, JZ 2004, 545–552; Stefan Perner, Erweiternde Umsetzung von Richtlinien des Europäischen Verbraucherrechts, ZfRV 2011, 225–230; Thomas Riehm, Die überschießende Umsetzung vollharmonisierender EG-Richtlinien im Privatrecht, JZ 2006, 1035–1045; WulfHenning Roth, Europäisches Recht und nationales Recht, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. 2 (2000), S. 847–888; York Schnorbus, Autonome Harmonisierung in den Mitgliedstaaten durch Inkorporation von Gemeinschaftsrecht, RabelsZ 65 (2001), 654–705; Alexander Weiss, Der mutmaßliche Gesetzgeberwille als Argumentationsfigur, ZRP 2013, 66–69.

I.

II.

Übersicht Einleitung | 1–4 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung | 1–2 2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem | 3–4 Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung | 5–19 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung | 5–9 a) Persönlicher Anwendungsbereich | 6 b) Sachlicher Anwendungsbereich | 7–8 c) Räumlicher Anwendungsbereich | 9 2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen | 10–14 a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien | 11–12 b) Fakultative Umsetzung, opt-out | 13 c) Textgleiche Normen | 14

3.

III.

Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien | 15–19 Die Auslegung des nationalen Rechts | 20–51 1. Problemstellung | 20–24 2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Unionsrecht? | 25–34 a) Unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? | 26 b) Mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung | 27–34 3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht | 35–36 4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich | 37–52 a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung | 37 b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens: Die Unterscheidung von

Habersack/Mayer

298

2. Teil: Allgemeiner Teil

c) d)

Sach- und Strukturentscheidungen | 38–40 Vermutung für einheitliche Auslegung | 41 Gründe für eine gespaltene Auslegung | 42–51 aa) Verfassungskonforme Auslegung | 43 bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung | 44

cc)

IV. V.

VI.

Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der Norm vorhanden sind | 45–52 Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht | 53 Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs | 54–58 1. Rechtsprechung des EuGH | 55 2. Präzisierung der Fragestellung | 56 3. Vorlagemöglichkeit? | 57–58 Ausblick | 59

I. Einleitung 1. Der Grundtatbestand der überschießenden Umsetzung 1 Bei der Umsetzung europäischer Richtlinien unterwirft der Gesetzgeber des zur Umsetzung ver-

pflichteten Mitgliedstaates bisweilen – bewusst oder unbewusst – auch Sachverhalte dem von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsregime, die von der Richtlinie selbst nicht erfasst werden. Das mitgliedsstaatliche Umsetzungsrecht geht dann über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus. Hierfür hat sich der Begriff der überschießenden Umsetzung von Richtlinien eingebürgert.1 Prominente Beispiele überschießender Umsetzung bilden die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf2 und die Umsetzung der – inzwischen in der VerbraucherrechteRichtlinie aufgegangenen – Haustürgeschäfterichtlinie3: Während die Haustürgeschäfterichtlinie nach ihrem Art. 1 Abs. 1, 3 und 4 voraussetzte, dass es in der Haustürsituation selbst zum Vertragsschluss oder jedenfalls zur Abgabe eines nach Annahme durch den Unternehmer verbindlichen Angebots durch den Verbraucher kommt,4 war das deutsche Haustürwiderrufsrecht

_____ 1 So erstmals Habersack/Mayer, JZ 1999, 913. Dieser Begrifflichkeit folgen nunmehr die Rechtsprechung (s. BVerfG, NJW-RR 2007, 1684 Rn. 20; BVerwG, DVBl 2008, 1255 Rn. 11 f.; BGHZ 159, 280, 284 f.; BGH, ZIP 2009, 2004 Rn. 32) und die weit überwiegende Literatur (s. etwa Palandt-Sprau, Einl. Rn. 44; MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4; Bamberger/Roth-Faust, § 433 BGB Rn. 9 ff.; Bärenz, DB 2003, 375; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28 ff.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 22 f., 104 ff.; Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (5. Aufl. 2014), Einl. Rn. 40 ff.; ders., GS Heinze, S. 571. Daneben werden für die hier interessierende Konstellation auch der Begriff der autonomen Harmonisierung (so Schnorbus, RabelsZ 65 [2001], 654), derjenige der Übererfüllung von Richtlinien (so Büdenbender, ZEuP 2004, 36) und der Begriff des Gold-Plating (so Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444, 445 f.) gebraucht. Eine letztlich allein terminologische Frage ist es, ob man den Begriff der überschießenden Umsetzung auch zur Kennzeichnung derjenigen Konstellationen verwendet, in denen nicht der Anwendungsbereich des – auch – der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Rechts über den der Richtlinie hinausgeht, sondern in denen das nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie über deren inhaltliche Vorgaben hinausgeht. In dem letztgenannten Sinn gebrauchen den Begriff der überschießenden Umsetzung etwa Brandner, Überschießende Umsetzung, S. 11 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 55 ff.; Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 22 sowie Riehm, JZ 2006, 1035 ff.; s. hierzu noch unten Rn. 11 f. 2 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 3 Richtlinie 1985/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31; s. nunmehr Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 (Verbraucherrechte-Richtlinie), ABl. 2011 L 304/64. 4 EuGH v. 22.4.1999 – Rs. C-423/97 Travel Vac, Slg. 1999, I-2195 Rn. 35; GA Léger, SchlA v. 12.7.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Tz. 23. Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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bis zu dem am 13.6.2014 erfolgten Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie5 auf alle Geschäfte anzuwenden, bei denen der Verbraucher zu seiner auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung durch eine Haustürsituation bestimmt worden ist, mag auch der Vertragsschluss selbst später außerhalb der Haustürsituation erfolgen.6 Und während die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie nach Art. 1 Abs. 1, 4 für Kauf- und Werklieferungsverträge über bewegliche Sachen zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher gilt, wobei Verbraucher nach Art. 1 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie jede natürliche Person ist, die zu einem Zweck handelt, der nicht ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann, gelten die §§ 474 ff. BGB für alle Verbraucher im Sinne des § 13 BGB und damit auch für Personen, die zu einem unselbständigen beruflichen Zweck handeln;7 das gleichfalls der Umsetzung dienende allgemeine Kaufrecht gilt für alle Kaufverträge, das allgemeine Leistungsstörungsrecht gar für sämtliche Schuldverhältnisse. Ausgangspunkt überschießender Umsetzung ist der häufig punktuelle Charakter8 der um- 2 zusetzenden Richtlinie: Zum derzeitigen Stand des Unionsrechts9 und mit Blick auf das in Art. 5 AEUV verankerte Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung10 und das Subsidiaritätsprinzip11 erfolgt europäische Rechtsangleichung namentlich im Privatrecht nicht mit dem Ziel einer sys-

_____ 5 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 20.9.2013, BGBl. 2013 I, 3642. Nach § 312b Abs. 1 Nr. 3 BGB n.F. gelten Verträge, die in den Geschäftsräumen des Unternehmers oder per Fernkommunikationsmittel geschlossen wurden, nur noch dann als „Haustürgeschäft“, wenn der Verbraucher unmittelbar zuvor in einer Haustürsituation angesprochen wurde. Dies entspricht der (Maximal-)Vorgabe des Art. 2 Nr. 8 lit. c) der Verbraucherrechte-Richtlinie (Fn. 3). Eine dem Vertragsschluss nicht unmittelbar vorangehende, den Entschluss des Verbrauchers zur Abgabe der Willenserklärung aber gleichwohl mitbestimmende Haustürsituation reicht danach nicht mehr aus, um den Schutz des Verbrauchers durch die Vorschriften über außerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge zu begründen. 6 Zu den Anwendungsvoraussetzungen des § 312 BGB a.F. s. MünchKommBGB-Masuch, § 312 BGB Rn. 22 ff. mwN; zur überschießenden Umsetzung im Rahmen des § 312 BGB a.F. Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 254; Mayer/ Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546 f.; ausführlich und mit Vergleich zu dem die Vorgaben der Richtlinie über Haustürgeschäfte exakt abbildenden italienischen Recht Gabrielli, in: Canaris/Zaccaria (Hrsg.), Die Umsetzung von zivilrechtlichen Richtlinien der Europäischen Gemeinschaft in Italien und Deutschland (2002), S. 42 ff. 7 S. dazu Begr. RegE BT-Drs. 14/6040, S. 243; Jauernig-Berger, § 474 Rn. 2. 8 Rittner, JZ 1995, 849, 851 und Palandt-Sprau, Einl. Rn. 31 sprechen von europarechtlichen Inseln im nationalen Recht. Der punktuelle Charakter schließt freilich nicht aus, dass sich aus der Zusammenschau mehrerer Richtlinien gemeinsame Leitgedanken und Prinzipien finden lassen. Dazu für das Europäische Vertragsrecht Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäisches Vertragsrechts, S. 553 ff. 9 Nicht zu verkennen ist, dass der bislang überwiegend punktuelle Charakter des Unionsprivatrecht auch auf der Ebene des Unionsrechts in der Diskussion ist. So ist für die Zukunft eine weitergehende und dann auch systembildende Rechtsangleichung des Privatrechts nicht ausgeschlossen. Für sie bestehen wissenschaftliche Vorüberlegungen namentlich im Bereich des Europäischen Vertragsrechts mit dem Draft Common Frame of Reference (dazu Eidenmüller et al., JZ 2008, 529 ff.; Jansen/Zimmermann, NJW 2009, 3401 ff.), den European Principles of Contract Law (Lando/Beale, dazu Zimmermann, ZEuP 2000, 391 ff.) und dem Vorentwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuches der Akademie Europäischer Privatrechtswissenschaftler (Gandolfi-Entwurf, abgedr. in ZEuP 2002, 135 ff. und 365 ff.). Siehe daneben die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Ein kohärentes Europäisches Vertragsrecht – Ein Aktionsplan, KOM(2003) 68 endg, ABl. 2003 C 63/1 (dazu sodann Mitteilung der Kommission vom 11.10.2004, KOM(2004) 651 endg; Bericht der Kommission vom 23.9.2005, KOM(2005) 456 endg; Bericht der Kommission vom 25.7.2007, KOM(2007) 447 endg) sowie den Vorschlag der Kommission für eine Horizontalrichtlinie zum Vebraucherrecht, KOM(2008) 614 und dazu die Beiträge von Artz und Gsell, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2010), S. 209 f. und 219 f. sowie von Stadler, Grundmann, Zöchling-Jud, Looschelders und Lorenz in AcP 212 (2012), 473 ff. 10 Ausführlich zur Kompetenz der Union zur Angleichung des Vertragsrechts Riesenhuber, EU-Vertragsrecht, § 3 Rn. 3 ff. oder, etwas ausführlicher, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, S. 132 ff.; zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung allgemein Grabitz/Hilf/Nettesheim-Grabitz, Art. 5 EUV Rn. 13; SchwarzeBiervert, Art. 288 AEUV Rn. 13. 11 S. zur Geltung des Subsidiaritätsprinzips auch im Rahmen der Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-491/01 British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453 Rn. 177 ff. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

tematischen Ausgestaltung der Rechtsordnung, sondern regelmäßig nur zur Beseitigung konkreter Missstände und zur Vermeidung von Beeinträchtigungen des Binnenmarktes.12 Demgegenüber muss der nationale Gesetzgeber seine Regelung in die Systematik des bestehenden Rechts einpassen und Abgrenzungsschwierigkeiten, Wertungswidersprüche und Überschneidungen vermeiden.13 Auf der Ebene des nationalen Rechts entstehen hierdurch Rechtsnormen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches der Umsetzung einer europäischen Richtlinie dienen, aber zugleich aufgrund der autonomen Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers auch Fälle außerhalb der unionsrechtlichen Regelung erfassen.14 Als Folge des Spannungsverhältnisses zwischen dem häufig punktuellen Charakter und dem damit begrenzten Umsetzungsbefehl der Richtlinie einerseits und der gewachsenen mitgliedstaatlichen Privatrechtsordnung andererseits betrifft das Phänomen überschießender Umsetzung potentiell alle Mitgliedstaaten.15

2. Die überschießende Umsetzung als Rechtsproblem 3 Setzt der nationale Gesetzgeber europäische Richtlinien überschießend um, so entstehen neben

den mit der Umsetzung von Richtlinien allgemein verbundenen Fragen zwei spezifische Probleme: Zum einen ist fraglich, ob auch in Fällen, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfasst werden, eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV möglich und für letztinstanzliche Gerichte gar verpflichtend ist (dazu unten Rn. 54 ff.). Zum anderen ist zu überlegen, wie sich der hybride Charakter der nationalen Norm auf de4 ren Auslegung auswirkt. Dabei versteht es sich von selbst, dass innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie die nationale Norm richtlinienkonform auszulegen ist.16 Schwieriger zu entscheiden ist demgegenüber die Frage nach der richtigen Auslegungsmethode in den Fällen, die nicht von der Richtlinie erfasst werden: Folgt hier bereits aus europäischem Recht eine Pflicht zu einheitlicher und damit stets richtlinienkonformer Auslegung?17 Zwingt das nationale Recht zu einheitlicher Auslegung der auf der Ebene des nationalen Rechts einheitlichen Norm18 oder ist die Auslegung der nationalen Norm in dem nicht richtliniendeterminierten Bereich von der richtlinienkonformen Auslegung innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie zu un-

_____ 12 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 2 ff. 13 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; näher dazu Tröger, ZEuP 2003, 525 f.; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 880 f.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 669. 14 S. dazu Drexl, FS Heldrich, S. 68: Hybride Normen. 15 So wird etwa in Großbritannien seit mehreren Jahren eine eingehende politische Diskussion über die überschießende Umsetzung von Richtlinien geführt, s. dazu mwN Schwarze, Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Bd. 2 (2013), S. 121 ff. In Österreich wurden Teile der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie überschießend im allgemeinen Recht der Schlechterfüllung (Art. 922 ABGB) umgesetzt; s. dazu Perner, ZfRV 2011, 224, 226; Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 142. 16 Allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 3 ff.; zur Pflicht, eine hybride Norm (zumindest) im richtliniendeterminierten Bereich richtlinienkonform auszulegen, Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545 f. 17 Ausführlich Drexl, FS Heldrich, S. 81 ff.; ebenso MünchKommBGB-Ernst, Band 2, Einleitung, Rn. 63; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883 f.; ders., in: Grundmann/Medicus/Rolland (Hrsg.), Europäisches Kaufgewährleistungsrecht (2000), S. 119. 18 So für das Umwandlungsgesetz Lutter, GS Heinze, S. 575 ff., ebenso Lutter-Lutter/Bayer, Umwandlungsgesetz (5. Auflage 2014), Einleitung Rn. 41; a.A. noch Lutter-ders., Umwandlungsgesetz (2. Auflage 2000), Einleitung Rn. 30: Pflicht zu einheitlicher Auslegung ergebe sich aus europäischem Recht.

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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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terscheiden und kommt im Einzelfall auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm in Betracht?19

II. Tatbestand und europarechtliche Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung 1. Fallgruppen überschießender Umsetzung Im deutschen Recht finden sich zahlreiche Beispiele überschießender Umsetzung von Richtli- 5 nien.20 Diese lassen sich im Anschluss an Drexl21 in verschiedene Fallgruppen einordnen: Der Gesetzgeber kann mit den der Umsetzung dienenden Vorschriften über den sachlichen, den persönlichen oder den räumlichen Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgehen. Um einen Fall der überschießenden Umsetzung – jedenfalls im weiteren Sinne – handelt es sich daneben auch dann, wenn der Gesetzgeber in zeitlicher Hinsicht den Richtlinienvorgaben zuvorkommt und etwa eine in der Richtlinie vorhandene Übergangsfrist nicht nutzt, sondern das der Umsetzung dienende nationale Recht unmittelbar in Kraft setzt.22 Konstellationen einer zeitlich überschießenden Umsetzung ist an dieser Stelle jedoch nicht weiter nachzugehen. Zum einen sind insoweit bei der Auslegung des nationalen Rechts zusätzliche und in erster Linie spezifische Fragen der zeitlichen Vorwirkung von Richtlinien zu beachten.23 Zum anderen stellen sich die Fragen einer zeitlichen Vorwirkung in der Praxis eher im Öffentlichen Recht als im Privatrecht.24

a) Persönlicher Anwendungsbereich Wohl am häufigsten ist die Konstellation anzutreffen, dass der persönliche Anwendungsbereich 6 des zur Umsetzung dienenden nationalen Rechts weiter ist als der persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie. So erfassen die Vorschriften des deutschen Verbraucherschutzrechtes über die Legaldefinition des Verbrauchers in § 13 BGB regelmäßig auch Personen, die im Rahmen einer unselbständigen, aber beruflichen Tätigkeit handeln, während nach der Verbraucherrechterichtlinie und der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie diese Personen keine Verbraucher im Sinne der vorgenannten Richtlinien sind.25 Ähnlich gilt das deutsche Verbraucherkreditrecht gem. § 512 BGB auch für Existenzgründer, obgleich diese von der Verbraucherkreditrichtlinie26 nicht erfasst werden,27 und Teile des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, darunter namentlich das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, gelten für sämtliche Verträge, wäh-

_____ 19 So schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 921; am Beispiel der Richtlinie über Haustürgeschäfte Habersack/ Mayer, WM 2002, 253, 257 f.; vertiefend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548 ff. 20 Umfassender Überblick bei Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 15 ff.; s. daneben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. 21 Drexl, FS Heldrich, S. 70 ff. 22 Ein solcher Sachverhalt lag den Vorlagebeschlüssen des BVerwG zum Asylverfahrensrecht zugrunde, DVBl 2008, 1255. 23 S. dazu Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 26–58. 24 S. Gödicke, WM 2008, 1621, 1624 mwN. 25 S. zum Fernabsatzrecht Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch § 13 BGB Rn. 4 und § 312b BGB Rn. 13; zum Verbraucherbegriff der Verbraucherrechterichtlinie Wendehorst, NJW 2014, 577. 26 Richtlinie 2008/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.4.2008 über Verbraucherkreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates, ABl. 2008 L 133/66. 27 MünchKommBGB-Schürnbrand, § 512 BGB Rn. 1; Drexl, FS Heldrich, S. 71; eingehend zur gleichfalls richtlinienüberschießenden Anwendung des Verbraucherkreditrechts auf nichtkommerzielle BGB-Gesellschaften Mülbert WM 2004, 905, 906 ff.; ferner MünchKommBGB/Schürnbrand, § 491 BGB Rn. 25 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

rend die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln28 nur auf Verbraucherverträge Anwendung findet. Weitere Beispiele einer hinsichtlich des persönlichen Anwendungsbereiches über die Richtlinie hinausgehenden Umsetzung finden sich etwa im Handels-, Bilanz- und Gesellschaftsrecht, so bei der Umsetzung der Publizitätsrichtlinie29 durch § 15 Abs. 3 HGB (s. sogleich Rn. 7), bei der Umsetzung der Verschmelzungs-30 und der Spaltungsrichtlinie31 durch das Umwandlungsgesetz32 und im Lauterkeitsrecht.33

b) Sachlicher Anwendungsbereich 7 Beispiele für überschießende Umsetzung infolge eines gegenüber der Richtlinie erweiterten

sachlichen Anwendungsbereiches der zur Umsetzung dienenden nationalen Norm finden sich im Verbraucherschutz-, im Handels- und – mit Einschränkungen – im Steuerrecht. Hierzu zählt namentlich die Umsetzung von Teilen der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und das allgemeine Leistungsstörungsrecht (s. oben Rn. 1). Der Anwendungsbereich des in §§ 651a ff. BGB geregelten deutschen Reisevertragsrechts geht über denjenigen der Pauschalreiserichtlinie zumindest insofern hinaus, als das deutsche Reisevertragsrecht, anders als die Richtlinie, nach § 651 Abs. 1 BGB grundsätzlich auch Gastschulaufenthalte erfasst.34 Zu nennen ist des Weiteren auch hier § 15 Abs. 3 HGB, der nicht nur, wie schon angedeutet (soeben Rn. 6), durch die Einbeziehung auch derjenigen Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaft sind, über den persönlichen Anwendungsbereich der Publizitätsrichtlinie hinausgeht, sondern auch in seinem sachlichen Anwendungsbereich von der Richtlinie abweicht, indem er nicht nur den seltenen, aber in der Richtlinie allein geregelten Fall einer Divergenz von richtiger Eintragung und unrichtiger Bekanntmachung, sondern auch den praktisch wesentlich bedeutsameren Fall erfasst, dass Eintragung und Bekanntmachung unrichtig sind.35 Ein weiterer, in der Vergangenheit viel diskutierter36 Fall überschießender Umsetzung durch 8 erweiterten sachlichen Anwendungsbereich ergibt sich, wenn man die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs, welche die Bilanzrichtlinie umsetzen, über den Maßgeblichkeitsgrundsatz des § 5 Abs. 1 EStG auch zur Ermittlung der Steuerbilanz heranzieht. Allerdings wird die Reichweite des Maßgeblichkeitsgrundsatzes und damit die Intensität der Verknüpfung von Handels- und Steuerbilanz in letzter Zeit zunehmend in Frage gestellt und auch durch gesetzliche Maßnahmen relativiert,37 so dass die Probleme der mittelbaren Richtlinienwirkung bei überschießender Umsetzung insoweit durch die Frage nach der Bedeutung des der Richtlinienumsetzung dienenden

_____ 28 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 29 Richtlinie 2009/101/EG vom 16.9.2009, ABl. 2009 L 258/11 (kodifizierte Fassung; zuvor Richtlinie 68/151/EWG vom 9.3.1968, ABl. 1968 L 65/8; dazu Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 5 Rn. 1 ff.; s. noch Rn. 7. 30 Richtlinie 2011/35/EU vom 5.4.2011, ABl. 2011 L 110/1 (kodifizierte Fassung; zuvor Richtlinie 78/855/EWG v. 9.10.1978, ABl. 1978 L 295/36) 31 Sechste Richtlinie 82/891/EWG des Rates v. 17.12.1982 gemäß Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages betreffend die Spaltung von Aktiengesellschaften, ABl. 1982 L 378/47. 32 Dazu Vorauflage Rn. 8, Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 f. und Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 8 Rn. 3 ff. 33 Dazu Drexl, FS Heldrich, S. 72; Vorauflage Rn. 9. 34 S. dazu im vorliegenden Zusammenhang Pohar/Sendmeyer, RRa 2004, 247, 250; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 171. 35 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 8 Rn. 18 ff. 36 Herlinghaus, IStR 1997, 529, 535 ff.; Hennrichs, ZGR 1997, 66, 68 ff., jeweils mwN. 37 Dazu statt vieler Tipke/Lang-Hennrichs, Steuerrecht (21. Aufl. 2013), § 9 Rn. 40 ff.; zu den Auswirkungen des Gesetzes zur Modernisierung des Bilanzrechts vom 28.5.2009, BGBl. 2009 I, 1102, auf das Bilanzsteuerrecht s. Dörfler/Adrian, DB 2009, Sonderbeilage Nr. 5, S. 58 ff. Habersack/Mayer

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nationalen Rechts für die Steuerbilanz als Sachverhalt außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der Bilanzrichtlinie und damit durch die Frage, ob und inwieweit eine überschießende Umsetzung aus der Perspektive des nationalen Rechts überhaupt vorliegt, zusätzlich erschwert werden.

c) Räumlicher Anwendungsbereich Die Probleme der überschießenden Umsetzung stellen sich schließlich auch dann, wenn der 9 nationale Gesetzgeber hinsichtlich des örtlichen Anwendungsbereichs über die Vorgaben der Richtlinie hinausgeht. So gelten Richtlinien bisweilen lediglich für grenzüberschreitende Sachverhalte, während der nationale Gesetzgeber zur Vermeidung einer Inländerdiskriminierung38 eine Anwendung der die Richtlinie umsetzenden Vorschriften auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte vorsehen kann. Aus dem Bereich des deutschen Privatrechts sind hier die – am 31. Oktober 2009 allerdings außer Kraft getretenen39 – Vorschriften des Überweisungsrechts (§§ 676a ff. BGB a.F.) zu nennen; durch sie war die nur für grenzüberschreitende Überweisungen geltende Überweisungsrichtlinie40 umgesetzt worden, allerdings mit der Maßgabe, dass die nationalen Vorschriften auch auf inländische Überweisungen Anwendung fanden.41

2. Abgrenzung der überschießenden Umsetzung gegenüber verwandten Konstellationen Die hier aufgegriffene Problematik von Auslegung und Rechtsweg bei überschießender Umset- 10 zung von Richtlinien ist gegenüber drei mit ihr eng verwandten, aber nicht identischen Konstellationen abzugrenzen.

a) Inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung von Richtlinien zunächst von der inhaltli- 11 chen Übererfüllung. Eine inhaltliche Übererfüllung ist gegeben, wenn der nationale Gesetzgeber über den von der Richtlinie vorgegebenen Regelungsauftrag hinausgeht, ohne dabei den Anwendungsbereich des nationalen Rechts gegenüber der Richtlinie zu erweitern.42 Von der über-

_____ 38 S. zu den hiervon erfassten Sachverhalten Schwarze-Holoubek, Art. 18 AEUV Rn. 28. 39 Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie sowie der Neuordnung der Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2355. 40 Richtlinie 97/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.1.1997 über grenzüberschreitende Überweisungen, ABl. 1997 L 43/25; s. sodann Richtlinie 2007/64/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über Zahlungsdienste im Binnenmarkt, ABl. 2007 L 319/1. 41 MünchKommBGB-Casper (5. Aufl.), vor § 676a BGB Rn. 14; Drexl, FS Heldrich, S. 73. 42 S. bereits Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914 und Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545; im Grundsatz ebenso Drexl, FS Heldrich, S.73; Abgrenzung beider Fallgruppen auch bei Perner, ZfRV 2011, 225; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 11 ff. (dessen Einschätzung, der Begriff der überschießenden Umsetzung umfasse auch die inhaltliche Übererfüllung, ist freilich unzutreffend, siehe zur Begrenzung der überschießenden Umsetzung auf Fälle, in denen der Anwendungsbereich der nationalen Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausgeht, schon Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 914. Dementsprechend geht auch die an die eigene unzutreffende Inhaltsbestimmung anknüpfende Kritik Brandners, aaO, am Begriff der überschießenden Umsetzung ins Leere.) Demgegenüber unterscheiden Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 55 ff., Gebauer/Wiedmann-Gebauer, Kap. 4 Rn. 22 und Riehm, JZ 2006, 1035, 1036 f. zwischen Gegenstandsbereich und Harmonisierungsintensität, ordnen aber ein Abweichen des nationalen Gesetzgebers in beiden Fällen der überschießenden Umsetzung zu. Ähnlich sprechen Burmeister/Staebe, EuR 2009, 444, 445 bei inhaltlicher Übererfüllung von „echtem“, bei – im hier verwendeten Sinne – überschießender Umsetzung hingegen von „unechtem“ Gold-Plating.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

schießenden Umsetzung unterscheidet sich die inhaltliche Übererfüllung der Richtlinie insofern, als das die Richtlinie übererfüllende nationale Recht innerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegt. Zumindest soweit ein Rechtsstreit, wie regelmäßig, nicht allein auf die übererfüllende Rechtsfolge gründet, ist bei Fragen zur Auslegung der Richtlinie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof möglich und für letztinstanzliche Gerichte verpflichtend. Soweit es sich hingegen um Auslegungsfragen handelt, die allein den über die Richtlinie hinausgehenden Teil der nationalen Regelung betreffen, stellt sich die Frage des Einflusses des europäischen Rechts und der Möglichkeit der Vorlage an den EuGH schon deshalb nicht, weil die Richtlinie zu diesen Fragen naturgemäß nichts beitragen kann. Nicht zuletzt deshalb sollte der Begriff der überschießenden Umsetzung den Konstellationen vorbehalten bleiben, in denen das der Richtlinienumsetzung dienende nationale Recht infolge eines über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereiches des nationalen Rechts Fälle erfasst, die von der Richtlinie nicht erfasst werden. Der überschießenden Umsetzung gemeinsam ist den Fällen der inhaltlichen Übererfüllung 12 hingegen die unten aufzugreifende Frage, ob ein von der Richtlinie in ihrer Auslegung durch den EuGH vorgegebenes Regelungsziel, welches im nationalen Recht innerhalb des durch die Richtlinie erfassten Bereiches durch richtlinienkonforme Auslegung erreicht werden kann und muss, auch in dem von der Richtlinie nicht erfassten Bereich ausschlaggebend zu berücksichtigen ist und ob in diesen Fällen die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens und für letztinstanzliche Gerichte eine Vorlagepflicht besteht.

b) Fakultative Umsetzung, opt-out 13 Zu unterscheiden ist die überschießende Umsetzung wie auch die allein auf nationalem Recht

beruhende inhaltliche Übererfüllung von Richtlinien von denjenigen Fällen, in denen der nationale Gesetzgeber eine Richtlinienvorgabe umsetzt, obgleich er infolge eines in der Richtlinie selbst vorgesehenen fakultativen Rechts zum opt-out hierzu nicht verpflichtet ist.43 Macht der Mitgliedstaat von der Möglichkeit des opt-out in der dafür ggf. vorgesehenen Weise44 Gebrauch, so gilt insoweit die Vorgabe der Richtlinie einschließlich der Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung für diesen Mitgliedstaat nicht, während die Richtlinie andernfalls insgesamt, also einschließlich der „fakultativen“ Regelungen, schon kraft europäischen Rechts zu beachten ist.45 Demgegenüber stellt es einen Fall überschießender Umsetzung dar, wenn die Richtlinie ihren Anwendungsbereich dadurch begrenzt, dass Ausnahmen von dem Anwendungsbereich umschrieben werden, während der nationale Gesetzgeber beschließt, die der Umsetzung dienenden Vorschriften auch auf die in der Richtlinie von dem Anwendungsbereich ausgenommenen Fälle anzuwenden. Da es letztlich eine Zufälligkeit der gesetzestechnischen Formulierung des Anwendungsbereiches ist, ob dieser allein positiv umschrieben oder durch Ausnahmen begrenzt wird, sollten für die hier interessierenden Methodenfragen entgegen einem jüngst ergangenen Urteil des EuGH46 beide Konstellationen einheitlich behandelt werden.

_____ 43 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 547 f., dort auch zur Frage eines teilweisen opt-out. 44 S. dazu, dass ein Recht zum opt-out häufig, aber nicht immer, von einer Pflicht zur Notifizierung gegenüber der Kommission begleitet wird, Prechal, Directives in European Community Law (1995), S. 51 f. 45 So im Ergebnis auch EuGH v. 25.4.2002 – Rs. C-52/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-3827 Rn. 47: Art. 15 der Richtlinie 85/374/EWG erlaubt zwar, die in Art. 7 lit. e) der Richtlinie vorgesehene Haftungsfreistellung insgesamt auszuschließen, ein Mitgliedsstaat handelt aber richtlinienwidrig, wenn er die Haftungsfreistellung von weiteren Voraussetzungen abhängig macht. 46 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-583/10 Nolan; dazu unten Rn. 57. Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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c) Textgleiche Normen Zu unterscheiden ist der hier im Vordergrund stehende Fall einer nationalen Norm, die zugleich 14 der Umsetzung einer Richtlinie und der Regelung von in der Richtlinie nicht erfassten Konstellationen dient, schließlich von dem Fall, dass der nationale Gesetzgeber zwei textgleiche Normen schafft, von denen die eine der Umsetzung einer Richtlinie dient, während die andere rein nationale oder in einer anderen Richtlinie geregelte Sachverhalte regelt. Als Beispiel hierfür mag die Zurechnung von Stimmrechten nach dem die Transparenzrichtlinie umsetzenden § 22 WpHG einerseits und nach der textgleichen und in Teilen die Übernahmerichtlinie umsetzenden Zurechnungsnorm des § 30 WpÜG andererseits dienen.47 Zwar könnte man auch hier angesichts des übereinstimmenden Wortlauts von – im weiteren Sinne – überschießender Umsetzung sprechen,48 doch stellt sich insoweit die Frage nach der Zulässigkeit der Normspaltung und einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht in gleicher Schärfe.49

3. Zur europarechtlichen Zulässigkeit von überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung von Richtlinien Bevor anschließend die Auslegung des nationalen Rechts und damit das Kernproblem über- 15 schießender Umsetzung in den Blick genommen werden soll, ist zu klären, ob die überschießende Umsetzung als solche mit dem europäischen Recht vereinbar ist. Hierbei gilt es zweifach zu differenzieren: Zum einen sind für die Frage nach der generellen Zulässigkeit überschießender Umsetzung die Fälle einer unrichtigen Umsetzung und die daran anschließende Frage, wie eine fehlerhafte Umsetzung durch richtlinienkonforme Auslegung beseitigt werden kann, außer Betracht zu lassen. Stattdessen ist zunächst die vorgelagerte Frage zu beantworten, ob schon eine inhaltlich fehlerfreie, aber überschießende Umsetzung europarechtlichen Bedenken begegnet. Zum zweiten ist die bereits oben (Rn. 11 f.) aufgezeigte Differenzierung zwischen überschießender Umsetzung und inhaltlicher Übererfüllung zu beachten. Auszugehen ist hierbei von dem in Art. 288 AEUV niedergelegten Grundsatz, dass sich 16 Richtlinien an die Mitgliedsstaaten wenden und dass sie nur hinsichtlich ihres Ziels verbindlich sind, die Wahl von Form und Mittel zum Erreichen dieses Ziels aber den innerstaatlichen Stellen überlassen. Richtlinien sind zwar Mittel zur Erzwingung und Absicherung mitgliedstaatlicher Rechtsetzung, sie dienen dabei aber zugleich der Integration unter Schonung mitgliedstaatlicher Entscheidungsspielräume und nationaler Regelungsstrukturen, indem es grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wie die von der Richtlinie vorgegebenen Ziele durch nationales Recht erreicht werden.50 Der Richtlinie selbst lässt sich daher keine Vorgabe hinsichtlich der Form ihrer (verbindlichen) Umsetzung entnehmen; auch enthält das Unionsrecht keine Pflicht, jede Richtlinie für sich durch ein eigenes nationales Gesetz umzusetzen. Ist somit die Form der überschießenden Umsetzung als solche keinen Bedenken ausgesetzt, so ist weiter zu prüfen, ob eine überschießende Umsetzung aus inhaltlichen Gründen gegen Unionsrecht verstoßen kann.

_____ 47 S. einerseits Art. 7 und 8 der Transparenzrichtlinie I v. 12.12.1988, ABl. 1988 L 348/62, und sodann Art. 9 ff. der Transparenzrichtlinie II v. 15.12.2004, ABl. 2004 L 390/38; andererseits Art. 5 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 lit. d) und Abs. 2 der Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12; zur Problematik des vom nationalen Gesetzgeber gewollten Gleichlaufs zwischen beiden Vorschriften s. Habersack, FS H.P. Westermann (2008), S. 928 ff. Zur entsprechenden Problematik im Rahmen des §§ 1, 2 Abs. 1 GWB s. Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 34 ff. 48 So denn auch Franck, BKR 2002, 709, 712 f. 49 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548. 50 S. dazu statt aller Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 104, 109 ff.; Schwarze, Das Verhältnis von nationalem Recht und Europarecht im Wandel der Zeit, Bd. 2 (2013), S. 117 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Diesbezüglich ist zwischen inhaltlicher Übererfüllung und überschießender Umsetzung zu unterscheiden. Inhaltliche Übererfüllung stellt eine strengere nationale Rechtsfolge innerhalb des Anwen17 dungsbereichs der Richtlinie dar. Wird aber der Anwendungsbereich der Richtlinie nicht verlassen, so folgt daraus ohne weiteres, dass auch die Frage, ob die strengere nationale Regelung zulässig ist, mit Blick auf das Unionsrecht beantwortet werden muss. Eine inhaltliche Übererfüllung ist daher nur dann zulässig, wenn die Richtlinie und das sonstige Unionsrecht die von der Richtlinie erfassten Sachverhalte nicht abschließend regeln. In diesem Bereich ist daher die bisweilen schwierige Frage zu beantworten, ob das europäische Recht eine Vollharmonisierung anstrebt und damit weitergehendes nationales Recht ausschließt, oder ob es lediglich eine Mindestharmonisierung begründet und strengeres nationales Recht zulässt. Demgegenüber erfolgt durch die überschießende Umsetzung eine Erstreckung des Rege18 lungsplans der Richtlinie auf Sachverhalte, die nicht im Anwendungsbereich der Richtlinie liegen. Steht aber fest, dass die von der nationalen Regelung betroffenen Konstellationen von der Richtlinie gar nicht erfasst werden, so ist die nationale Regelung auch aus der Perspektive des Europarechts grundsätzlich zulässig, ohne dass es darauf ankäme, ob die Richtlinie innerhalb ihres Anwendungsbereiches eine Mindest- oder eine Vollharmonisierung vorgibt. Auch die in jüngerer Zeit zunehmenden Fälle vollharmonisierender Richtlinien im Bereich des Wirtschaftsrechts51 können daher in dem hier verstandenen Sinne überschießend umgesetzt werden.52 Sollte eine Richtlinie demgegenüber bestimmte sachliche Regelungen ausdrücklich spezifischen Konstellationen vorbehalten und die gleiche Regelung damit für einzelne oder auch alle anderen Konstellationen verbieten, so würde bereits der Anwendungsbereich dieser Richtlinie notwendig auch die von ihr negativ geregelten Fälle umfassen.53 Die nationale Erstreckung einer Regelung, die von dieser Richtlinie spezifischen Konstellationen vorbehalten ist, auf andere Sachverhalte stellt dann keinen Fall einer überschießenden, sondern einen Fall der inhaltlich fehlerhaften Richtlinienumsetzung dar. Diesem ist mit dem hierfür vorgesehenen Instrumentarium – richtlinienkonforme Auslegung und richtlinienkonforme Rechtsfortbildung, ggf. unmittelbare Anwendung der Richtlinie, Vertragsverletzungsverfahren und Haftung des Staates für fehlerhafte Umsetzung – zu begegnen. All dies schließt freilich nicht aus, dass die überschießende Umsetzung im Einzelfall aus 19 anderen Gründen des Unionsrechts, beispielsweise wegen einer damit verbundenen Beschränkung einer Grundfreiheit oder eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot, europarechtswidrig ist; insofern unterscheidet sich die überschießende Umsetzung jedoch nicht von jeder anderen nationalen Rechtsetzung.

_____ 51 So etwa die Verbraucherrechte-Richtlinie (Fn. 3); zum vollharmonisierenden Charakter der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Mülbert, WM 2004, 905, 909, zum vollharmonisierenden Charakter der UGP-Richtlinie deren BE 6 und dazu Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/Keller, UWG (3. Aufl. 2013), Einl. A Rn. 19; Köhler/Bornkamm-Köhler, UWG (32. Aufl. 2014), Einl. UWG Rn. 3.56; zur Vollharmonisierung im Gesellschaftsrecht Schürnbrand, in: Gsell/Herresthal (Hrsg.), Vollharmonisierung im Privatrecht (2010), S. 273 ff. 52 Wie hier zum Lauterkeitsrecht Drexl, FS Heldrich, S. 76; zur Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 13 BGB Rn. 4; s. auch Lutter, GS Heinze, S. 572 f.: Eine solche Erweiterung „stört das europäische Recht in aller Regel nicht“; ferner Riehm, JZ 2006, 1035, 1037 f.; dezidiert a.A. zur Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen Hoffmann, WM 2006, 560, 562; skeptisch auch v. Danwitz, JZ 2006, 1, 7 f. 53 Soweit erkennbar enthält indes keine Richtlinie im Bereich des Privatrechts einen so umfassenden Anwendungsbereich; in einem solchen Fall wären zudem die Kompetenz der Union zum Erlass einer so weitgehenden Regelung und deren Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz sorgfältig zu prüfen. Vgl. dazu aber auch Hoffmann, WM 2006, 560, 562, der einen entsprechend weiten Anwendungsbereich der Richtlinie über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen annimmt und deshalb für eine gespalten-einschränkende Auslegung von § 13 BGB plädiert; dagegen Bamberger/Roth-Schmidt-Räntsch, § 13 BGB Rn. 4.

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III. Die Auslegung des nationalen Rechts 1. Problemstellung Im Folgenden ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit in Fällen überschießender Umset- 20 zung die Richtlinie Maßstab für die Auslegung des nationalen Rechts ist. Praktische Bedeutung erlangt diese Frage in den Fällen, in denen das aus rein nationaler Sicht zutreffende Auslegungsergebnis mit den Anforderungen des europäischen Rechts nicht übereinstimmt, die Diskrepanz von europarechtlicher Vorgabe und nationaler Umsetzung aber durch europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts beseitigt werden kann. 54 Zur Verdeutlichung des Problems sei hier auf das Erfordernis einer Fristsetzung vor Rücktritt des Gläubigers bei Nichtoder nicht vertragsgemäßer Erfüllung durch den Schuldner, auf die richtungsweisenden Entscheidungen des EuGH und des BGH zum Umfang der Käuferrechte bei Lieferung mangelhafter Kaufsachen im Verbrauchsgüterkauf und auf die Fragen zur Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts in Zusammenhang mit der Heininger-Entscheidung des EuGH hingewiesen: Nach § 323 Abs. 1 BGB ist ein Rücktritt nur möglich, wenn der Gläubiger dem Schuldner zuvor erfolglos eine an- 21 gemessene Frist zur Leistung oder Nacherfüllung bestimmt hat.55 Diese Norm gilt vorbehaltlich der in §§ 323 Abs. 2, 440 BGB vorgesehenen Ausnahmen für alle gegenseitigen Verträge und damit, wie die §§ 437 Nr. 2, 440 BGB ausdrücklich klarstellen, auch für das Rücktrittsrecht des Käufers bei Lieferung einer mangelhaften Sache. Demgegenüber soll der Käufer einer mangelhaften Sache nach Art. 3 Abs. 5 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie sich bereits dann von dem Vertrag lösen können, „wenn der Verkäufer nicht innerhalb einer angemessenen Frist Abhilfe geschaffen hat.“ Hieraus wird überwiegend geschlossen, dass nach der Richtlinie Voraussetzung des Rücktritts allein der Ablauf einer angemessenen Frist, nicht aber deren förmliche Setzung durch den Gläubiger ist.56 Folgt man dem und geht man weiter davon aus, dass das deutsche Recht einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich ist,57 so stellt sich die hier interessierende Folgefrage, ob eine solche Auslegung auf die von der Richtlinie erfassten Fälle und damit auf Kaufverträge über bewegliche Sachen zwischen Unternehmern und Verbrauchern im engen Sinne der Richtlinie zu beschränken ist oder ob eine Erstreckung auf alle Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne der §§ 474 ff. BGB, auf alle Kaufverträge oder gar auf alle gegenseitigen Verträge veranlasst ist. Dieser Konflikt ist zwar durch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs insoweit wesentlich entschärft worden, als danach bereits eine unzweideutige Aufforderung zur sofortigen Nacherfüllung eine angemessene Frist in Gang setzt und damit dem Fristsetzungserfordernis genügt.58 Die Frage bleibt aber für das Verständnis der überschießenden Umsetzung und der damit verbundenen Probleme lehrreich. Wichtige Anwendungsfälle für das Zusammenspiel von überschießender Umsetzung und Zwang zur richtli- 22 nienkonformen Auslegung bilden denn auch die – zum Kaufrecht ergangenen – Entscheidungen des VIII. Zivilsenats des BGH in Sachen Quelle59, in Sachen Weber/Putz60 und in dem Granulat-Fall61. Gegenstand der

_____ 54 Für eine ausdrückliche Divergenzprüfung daher Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 175 („dreistufige Rechtsanwendung“); in aller Regel wird es sich freilich eher um einen allgemeinen Abwägungsprozess handeln. 55 Näher zum Folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 546. 56 Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXIII; Ernst/Gsell, ZIP 2000, 1410, 1418; MünchKommBGBErnst, § 323 BGB Rn. 248; Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 17 f.; Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 180; Tröger, ZEuP 2003, 525, 535. 57 Die Begründung des Gesetzesentwurfs des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes schlägt für diesen – aus Sicht des von Richtlinienkonformität ausgehenden Gesetzgebers: hypothetischen – Fall eine erweiternde Auslegung des § 440 BGB vor, BT-Drs. 14/6040, S. 222. Richtig erscheint demgegenüber eine erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 Nr. 3 BGB, so Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 18 und MünchKommBGB-Ernst, § 323 BGB Rn. 248. Für teleologische Reduktion der Rücktrittsvoraussetzungen Canaris, JZ 2001, 499, 510; ders., Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXIV sowie Langenbucher-Herresthal, § 2 Rn. 180. 58 BGH, NJW 2009, 3153. 59 BGHZ 179, 27 = NJW 2009, 427. 60 BGHZ 192, 148 = NJW 2012, 1073. 61 BGHZ 195, 135 = NJW 2013, 220. Habersack/Mayer

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Quelle-Entscheidung war die Frage, ob der Käufer in Fällen, in denen es zur Nacherfüllung eines Kaufvertrages durch Nachlieferung einer neuen Kaufsache kommt und der Käufer zuvor die zunächst gelieferte – mangelhafte – Kaufsache nutzen konnte und auch tatsächlich genutzt hat, Nutzungsersatz schuldet. Das BGB bestimmt diesbezüglich in § 439 Abs. 4 BGB, dass der Verkäufer bei Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache von dem Käufer die Rückgewähr der mangelhaften Sache nach den §§ 346 bis 348 verlangen kann. Die damit in Bezug genommenen Vorschriften der §§ 346 Abs. 1, 347 Abs. 1 BGB verpflichten ausdrücklich zur Herausgabe gezogener Nutzungen bzw. zur Zahlung von Nutzungsersatz. Demgegenüber verlangt die Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf in ihrem Art. 3 ausdrücklich, dass dem Käufer bei vertragswidriger Kaufsache eine Nacherfüllung unentgeltlich zusteht. Demgemäß hat der EuGH auf Vorlage des BGH entschieden, dass Art. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie einer nationalen Vorschrift, die den Käufer verpflichtet, im Falle der Nacherfüllung durch Nachlieferung für die Zeit zwischen Kaufabschluss und Nachlieferung Nutzungsersatz zu zahlen, entgegensteht.62 Für den Bundesgerichtshof hat sich daraufhin zunächst die Frage gestellt, ob das deutsche Recht insoweit einer richtlinienkonformen Auslegung überhaupt zugänglich ist;63 bejahendenfalls war über die Folgefrage zu entscheiden, ob sich die richtlinienkonforme Auslegung auf die von der Richtlinie erfassten Fälle des Verbrauchsgüterkaufs beschränkt oder darüber hinaus für die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs nach deutschem Recht oder gar für sämtlich Kaufverträge Geltung beansprucht. Ähnlich hierzu war Gegenstand der Entscheidungen in Sachen Weber/Putz wie auch der nachfolgenden Granulat-Entscheidung die Frage, ob der Käufer nach Lieferung einer mangelhaften Kaufsache verlangen kann, dass die mangelhafte Kaufsache durch oder auf Kosten des Verkäufers ausgebaut und die mangelfreie Ersatzsache durch oder auf Kosten des Verkäufers wieder eingebaut wird. Bis zur Entscheidung in Sachen Weber/Putz entsprach es der zum deutschen Recht ganz überwiegenden Meinung, dass der verschuldensunabhängige Gewährleistungsanspruch nach § 439 Abs. 1 BGB keine Pflicht des Verkäufers begründet, die im Wege der Nacherfüllung durch Nachlieferung gelieferten Ersatzsache bei dem Käufer einzubauen.64 Hinsichtlich der Kosten des Ausbaus einer mangelhaften Sache war demgegenüber zum einen offen, ob diese Kosten von dem Verkäufer zu tragen sind. Zum anderen war offen, ob die Vorschrift des § 439 Abs. 3 S. 2 Hs. 2 BGB, die dem Verkäufer einer mangelhaften Sache zugestand, die Nacherfüllung insgesamt zu verweigern, wenn sowohl eine Nacherfüllung durch Nachlieferung als auch eine Nacherfüllung durch Nachbesserung einen unverhältnismäßig hohen Aufwand erfordert, mit der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu vereinbaren ist. Auf Vorlage des Amtsgericht Schorndorf zur Frage, ob nach der Richtlinie der Verkäufer die Wiedereinbaukosten zu tragen hat, und auf Vorlage des Bundesgerichtshofs zur Frage, ob der Verkäufer nach der Richtlinie die Ausbaukosten zu tragen hat und ob der generelle Ausschluss des Nacherfüllungsrechtes bei unverhältnismäßig hohem Aufwand beider Nacherfüllungsvarianten mit der Richtlinie in Einklang steht, hat der EuGH nach Verbindung beider Vorlageverfahren und in Abweichung von den Schlussanträgen des Generalanwalts geantwortet,65 dass der Verkäufer sowohl die Ausbau- als auch die Wiedereinbaukosten zu tragen hat und dass ein völliger Ausschluss des Rechts auf Nacherfüllung in Fällen, in denen beide Varianten der Nacherfüllung unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen, gegen die Richtlinie verstößt.66 Soweit man auch hier von der Möglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung oder einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung des deutschen Rechts ausgeht, stellt sich auch hier die Folgefrage, ob eine Pflicht, Aus- und Wiedereinbaukosten zu tragen, und ein Ausschluss des Rechts aus § 439 Abs. 3 S. 2 Hs. 2, die Nacherfüllung insgesamt zu verweigern, für die von der Richtlinie erfassten Fälle des Verbrauchsgüterkaufs, für alle Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne von §§ 474, 13 BGB oder für alle Kaufverträge gelten sollte. Darauf ist in Rn. 52 zurückzukommen. Bereits zuvor hatte sich der XI. Zivilsenat des BGH in der Rechtssache Heininger zur richtlinienkonformen Auslegung der – ihrerseits überschießenden Charakter aufweisenden – Vorschriften über Haustürgeschäfte zu äu-

_____ 62 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 33 f., 36, 43. 63 Zu Recht krit. Schürnbrand, JZ 2007, 910, 915, 917; für Möglichkeit richtlinienkonformer Auslegung sodann aber BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff. 64 So ausdrücklich der VIII. Zivilsenat in dem Parkettstäbe-Fall, NJW 2008, 2837. 65 Schlussanträge des GA Mazák v. 18.5.2010. 66 EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Weber und Putz, Slg. 2011, I-5257. Die Entscheidung wurde – was hier nicht näher zu vertiefen ist – aufgrund ihrer stark auf den Verbraucherschutz ausgerichteten und insgesamt gegenüber den Anträgen des Generalanwalts wenig differenzierten Begründung überwiegend und zu Recht kritisiert, s. hierzu statt vieler Lorenz, NJW 2011, 2241. Habersack/Mayer

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ßern. Zu entscheiden war über die Frage, ob dem Verbraucher nach der – inzwischen in der Verbraucherrechte-Richtlinie aufgegangenen – Haustürgeschäfterichtlinie (Rn. 1) das Recht zum Widerruf eines Realkreditvertrags zusteht, obgleich ein solcher Kreditvertrag zwar Teilen der alten Verbraucherkreditrichtlinie (Rn. 14) unterlag, diese indes kein Widerrufsrecht vorsah.67 Nachdem der EuGH die Anwendbarkeit der Haustürgeschäfterichtlinie – und damit die mitgliedstaatliche Pflicht zur Gewährung eines Widerrufsrechts – bejaht hatte,68 sah sich der Bundesgerichtshof veranlasst, entgegen der bis dahin herrschenden und auch zunächst von ihm geteilten Meinung69 § 5 Abs. 2 HWiG a.F. richtlinienkonform einschränkend auszulegen und hierdurch den Anwendungsbereich des Haustür-Widerrufsrechts zu eröffnen.70 Dabei hat sich der Bundesgerichtshof auf den Willen des Gesetzgebers zur einheitlichen Anwendung des Haustürwiderrufsgesetzes auf die von der Richtlinie erfassten Fälle des Vertragsschlusses an der Haustür und die – vom Haustürwiderrufsgesetz darüber hinaus erfassten – Fälle der bloßen Mitveranlassung des Vertrages durch eine Haustürsituation berufen.71

2. Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus Unionsrecht? Bisweilen wird vertreten, eine Pflicht zur einheitlichen Auslegung des nationalen Rechts folge 25 schon aus dem Unionsrecht selbst, so dass hybride Normen innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie gleich und damit stets richtlinienkonform ausgelegt werden müssten.72 Zur Begründung dieser These wird zumeist auf die Rechtsprechung des EuGH in den Rechtssachen Leur-Bloem73 und Giloy74 verwiesen und angeführt, der EuGH habe in diesen Entscheidungen ein klares Interesse der Union an einheitlicher Auslegung konstatiert und damit eine europarechtlich fundierte Pflicht zu einheitlicher Auslegung begründet.75

a) Unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung auch im Überschussbereich? Eine unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung (auch) im Über- 26 schussbereich setzte voraus, dass die der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung zugrunde liegenden Mechanismen auf die nationale Norm auch insoweit Anwendung finden, als die nationale Norm über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinausreicht. Dagegen spricht vor allem das jedem Handeln der Union zugrunde liegende Prinzip der begrenzten Einzelermächti-

_____ 67 Die neue Verbraucherkreditrichtlinie (Fn. 26) sieht nun zwar ein Widerrufsrecht vor, nimmt aber in ihrem Art. 2 Abs. 2 lit. a) grundpfandrechtlich gesicherte Kredite von ihrem Anwendungsbereich aus. 68 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 33. 69 BGH, NJW 2000, 521, 523 mit zahlreichen Nachweisen auch zur Gegenmeinung. 70 BGHZ 150, 248, 253 ff.; BGH, NJW 2003, 199 f.; zust. Frisch, BKR 2002, 84, 85; Hoffmann, ZIP 2002, 145; Pfeiffer, EWiR 2002, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655. Die besseren Argumente sprachen indes dafür, dass § 5 Abs. 2 HWiG einer solchen richtlinienkonformen Auslegung nicht zugänglich war, so vor Erlass der Entscheidung Edelmann, BKR 2002, 80, 82; Habersack/Mayer, WM 2002, 253, 256 f.; v. Heymann/Annertzok, BKR 2002, 234, 235; Hochleitner/Wolf/Großerichter, WM 2002, 529; für gespaltene Auslegung bereits Habersack, WM 2000, 981, 991. Aus der Rechtsprechung etwa LG München I, WM 2002, 285, 287; OLG Bamberg, WM 2002, 537, 544 f. Instruktiv zum Ganzen Franzen, JZ 2003, 321, 324 f., 327. 71 BGHZ 150, 248, 261 f.; BGH, ZIP 2004, 1402, 1403; BGH, ZIP 2005, 565, 567. Demgegenüber lässt BGH, NJW 2006, 2099, 2101 die Möglichkeit einer gespaltenen Auslegung offen; dazu Habersack, BKR 2006, 305 ff. 72 S. die Nachw. in Fn. 17; dagegen nun ausdrücklich und wie hier BGH, WM 2014, 1030 Rn. 27 ff. (gespaltene Auslegung des § 5a Abs. 2 VVG a.F.). 73 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161. 74 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291. 75 Zu dem Versuch von Drexl (FS Heldrich, S. 82 f.), die Rechtsprechung des EuGH in Sachen TRIPS (u.a. EuGH v. 22.2.1996 – Rs. C-53/96 Hermès International, Slg. 1998, I-3603; EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/ 98 Christian Dior u.a., Slg. 2000, I-11307 Rn. 36 f.) fruchtbar zu machen, s. Voraufl. Rn. 33 f. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gung, aufgrund dessen das Unionsrecht außerhalb seines Anwendungsbereichs eine unionsrechtliche Wirkung nicht entfalten kann.76 In den Worten von Generalanwalt Darmon: „Es gibt kein Gemeinschaftsrecht außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“77. Da aber die überschießende Umsetzung den Anwendungsbereich des umzusetzenden Rechts schon deshalb unberührt lässt, weil den Mitgliedstaaten die Befugnis fehlt, den Anwendungsbereich des Unionsrechts einseitig zu bestimmen,78 bleibt es dabei, dass der überschießende Teil der nationalen Norm außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie liegt. Es kommt hinzu, dass die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ihrerseits in der Pflicht des Mitgliedstaates zur Umsetzung der Richtlinie wurzelt. Sie kann deshalb nicht über den mit der Richtlinie den Mitgliedstaaten aufgegebenen Regelungsauftrag hinausgehen. Dieser Regelungsauftrag ist durch die inhaltlichen Vorgaben und den Anwendungsbereich der Richtlinie umschrieben und begrenzt.79

b) Mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 27 Besteht somit richtigerweise keine unmittelbare unionsrechtliche Pflicht zu richtlinienkonfor-

mer Auslegung des nicht richtliniendeterminierten Teils nationalen Rechts bei überschießender Umsetzung von Richtlinien, so könnte doch eine Pflicht zu einheitlicher und damit einheitlich richtlinienkonformer Auslegung mittelbar daraus entstehen, dass andernfalls die nationale Norm auch im Anwendungsbereich der Richtlinie falsch ausgelegt werden könnte und der Mitgliedstaat damit seine Umsetzungspflicht verletzt.80 In diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen in Sachen Leur-Bloem und Giloy zu bedenken. Die Rechtssache Leur-Bloem betrifft mehrere vom Gerichtshof Amsterdam vorgelegte Fragen zur Auslegung der FusionssteuerRichtlinie81, während die vom Hessischen Finanzgericht vorgelegte Rechtssache Giloy Fragen zur Auslegung des unionsrechtlichen Zollkodex82 zum Gegenstand hat. Beide Verfahren betrafen allerdings nationales Recht außerhalb des Anwendungsbereichs der jeweiligen europäischen Rechtsnormen. Das Verfahren Leur-Bloem betraf die steuerlichen Auswirkungen der Einbringung von Anteilen zweier niederländischer Gesellschaften in eine dritte, ebenfalls niederländische Gesellschaft, während die Fusionssteuerrichtlinie Steuerhindernisse bei grenzüberschreitenden Fusionen innerhalb der Union beseitigen soll und dementsprechend nur für grenzüberschreitende Vorgänge gilt. 83 Die streitgegenständliche Norm des niederländischen Einkommensteuerrechts sah allerdings eine gleichlautende Definition des Begriffs der „Fusion durch Austausch von Anteilen“ vor und stellte damit einen Fall überschießender Umsetzung durch einen gegenüber der Richtlinie erweiterten örtlichen Anwendungsbereich dar. Das Verfahren Giloy betraf einen Fall der Einfuhrumsatzsteuer. Auf diese ist zwar der Zollkodex nicht anwendbar, doch enthält das nationale Steuerrecht für die Einfuhrumsatzsteuer einen Verweis auf den Zollkodex.

_____ 76 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 und Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915 ff. 77 GA Darmon, SchlA v. 3.7.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3780 Tz. 11. 78 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919. 79 Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung (1994), S. 273 ff.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685; s. ferner Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 29. 80 In diesem Sinne Drexl, FS Heldrich, S. 83 f. 81 Richtlinie 90/434/EWG des Rates v. 23.7.1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 1990 L 225/1. 82 Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates v. 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. 1992 L 321/23. 83 Dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 918. Habersack/Mayer

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In seiner Entscheidung in Sachen Leur-Bloem führt der Gerichtshof aus:

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„[32] Richten sich nationale Rechtsvorschriften zur Regelung rein innerstaatlicher Sachverhalte nach den im Gemeinschaftsrecht getroffenen Regelungen, um insbesondere zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder – wie im vorliegenden Fall – zu Wettbewerbsverzerrungen kommt, so besteht ein klares Interesse der Gemeinschaft daran, dass die aus dem Gemeinschaftsrecht übernommenen Bestimmungen oder Begriffe unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden sollen, einheitlich ausgelegt werden, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern.“84

Damit scheint zwar der Gerichtshof in Leur-Bloem, wie auch in einer Reihe nachfolgender Ent- 29 scheidungen,85 eine europarechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung zu bejahen (Interesse der Gemeinschaft), doch ist dieses Diktum des EuGH bei näherer Betrachtung keineswegs eindeutig. Beachtlich ist zunächst der Hintergrund, vor dem der Gerichtshof das Interesse der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung jeweils betont: In Leur-Bloem und in den nachfolgenden Rechtsstreitigkeiten war, wie in einer Reihe vorangehender Entscheidungen auch,86 schon die Zuständigkeit des Gerichtshofs zur Beantwortung von Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts in Fällen, in denen das Unionsrecht nicht von sich aus anwendbar ist, sondern nur durch überschießende Umsetzung bzw. Verweis nationaler Normen auf unionsrechtliche Bestimmungen Bedeutung für den Rechtsstreit erlangt, streitig. Daher zielt in Leur-Bloem das niederländische Gericht mit seiner ersten Vorlagefrage ausdrücklich auf die Zuständigkeit des Gerichtshofs; in dem Verfahren sprachen sich Generalanwalt Jacobs87, aber auch die Kommission, die niederländische und die deutsche Regierung88 gegen eine Zuständigkeit des EuGH aus. Die Betonung des Interesses der Gemeinschaft an einheitlicher Auslegung kann daher auch als Rechtfertigung der Zuständigkeit des Gerichtshofs und nicht als Begründung einer europarechtlichen Pflicht zu einheitlicher Auslegung verstanden werden. Denn schon in der Entscheidung Leur-Bloem selbst lautet die unmittelbar folgende Randnummer: „[33] In einem solchen Fall ist es jedoch im Rahmen der in Artikel 177 vorgesehenen Verteilung der Rechtsprechungsaufgaben zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof allein Sache des nationalen Gerichts, die genaue Tragweite dieser Verweisung auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen; die Zuständigkeit des Gerichtshofs beschränkt sich auf die Prüfung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (Urteile Dzodzi und Federconsorzi aaO, Rn. 41 und 42 bzw. 10). Für die Berücksichtigung der Grenzen, die der nationale Gesetzgeber der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf rein innerstaatliche Sachverhalte setzen wollte, gilt nämlich das nationale Recht, so dass dafür ausschließlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig sind.“89

In der Zusammenschau beider Aussagen lässt sich das Urteil des Gerichtshofs daher nur so ver- 30 stehen, dass zwar, soweit eine einheitliche Auslegung gewollt ist, ein Interesse der Union daran besteht, dass die Norm auch tatsächlich einheitlich, also richtlinienkonform ausgelegt wird (Rn. 32 des Urteils), und dass deshalb, soweit eine einheitliche Auslegung zu erfolgen hat, der Gerichtshof auch in Fällen außerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts eine Ausle-

_____ 84 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 32; ähnlich EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 23, 28. 85 S. aus jüngerer Zeit EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-3/04 Poseidon Chartering, Slg. 2006, I-2505 Rn. 20 ff.; EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06 Autorita Garante della Concorrenza, Slg. 2007, I-10863 Rn. 21 f. und EuGH v. 10.12.2009 – Rs. C-323/08 Rodriguez Mayor, Slg. 2009, I-11621 Rn. 21 ff., 27. 86 Sog. Dzodzi-Rechtsprechung, dazu ausführlich Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 915 ff. 87 GA Jacobs, SchlA v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 47 ff. 88 S. GA Jacobs, SchlA v. 17.9.1996 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem und Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4161 Tz. 44. 89 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 33. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gung der unionsrechtlichen Bestimmungen im Vorabentscheidungsverfahren vornehmen kann,90 die Frage, ob eine einheitliche Auslegung erfolgen soll, aber eine Frage allein des nationalen Rechts ist (Rn. 33 des Urteils). 31 Ihre Bestätigung findet diese Interpretation der Rechtsprechung des Gerichtshofs in der nachfolgenden Entscheidung des EuGH in Sachen ICI91. Hier hatte sich der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords ebenfalls mit der Frage nach der Auslegung nationaler Normen, die in einem Teil ihres Anwendungsbereiches unionsrechtskonform auszulegen waren, zu befassen. Zwar ging es im konkreten Fall nicht um eine Frage der richtlinienkonformen Auslegung, sondern um die Auslegung englischen Konzernsteuerrechts im Lichte der Niederlassungsfreiheit, doch war das Grundproblem insoweit identisch, als die Tochtergesellschaften des steuerbetroffenen englischen Konzerns ihren Sitz mehrheitlich nicht nur außerhalb des Vereinigten Königreichs, sondern auch außerhalb der Union hatten, so dass in casu schon deshalb ein möglicher, durch unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ggf. abzuwendender Verstoß gegen (den heutigen) Art. 49 AEUV nicht gegeben war. Das House of Lords legte deshalb die allgemeine Frage vor, ob eine uneinheitliche Auslegung der nationalen Norm möglich ist,92 und der Gerichtshof hat diese Frage mit den nachfolgend wiedergegebenen Worten auch allgemein beantwortet. Die Tatsache, dass es vorliegend um einen Fall unionsrechtskonformer und nicht um einen Fall richtlinienkonformer Auslegung ging, steht einer Bewertung von ICI als Klarstellung zu Leur-Bloem nicht entgegen.93 Denn auch der EuGH stellt bei seiner Betonung des Interesses der Union an einheitlicher Auslegung nicht auf die Besonderheiten gerade der richtlinienkonformen Auslegung und die mitgliedstaatliche Pflicht zur Umsetzung von Richtlinien ab, wie sich mittelbar bereits daraus ergibt, dass der Gerichtshof die oben (Rn. 28) wiedergegebene Formulierung aus Leur-Bloem nahezu wortgleich in der Entscheidung in Sachen Giloy verwendet,94 bei der die Ausstrahlungswirkung des Zollkodex und damit einer europäischen Verordnung im Mittelpunkt stand, die innerhalb ihres Anwendungsbereichs unmittelbar und zwingend gilt (Art. 288 AEUV) und keiner Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber bedarf. In ICI stellt der EuGH fest: „Betrifft der Rechtsstreit vor dem nationalen Gericht also einen Sachverhalt, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt, so ist dieses Gericht nach dem Gemeinschaftsrecht weder verpflichtet, seine Rechtsvorschriften gemeinschaftsrechtskonform auszulegen, noch, sie unangewendet zu lassen. Falls ein und dieselbe Vorschrift in einer in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallenden Situation unangewendet bleiben müsste, in einer nicht in diesen Anwendungsbereich fallenden Situation jedoch weiterhin angewandt werden könnte, wäre das zuständige Organ des betreffenden Staates verpflichtet, diese Rechtsunsicherheit zu beseitigen, soweit sie die sich aus Gemeinschaftsvorschriften ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte.“95

32 Die besseren Gründe sprechen denn auch gegen eine mittelbare unionsrechtliche Pflicht zur

einheitlichen Auslegung wegen der abstrakten Gefahr einer Beeinträchtigung der Richtlinienwirkung im Anwendungsbereich der Richtlinie. Beachtlich ist, dass schon der Gerichtshof selbst in ICI ein Regel-Ausnahmeverhältnis konstatiert, wonach eine Verpflichtung zu einheitlich uni-

_____ 90 Was indes durchaus Bedenken begegnet, dazu unten Rn. 54 ff. 91 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4695. 92 S. das Zwischenurteil des House of Lords v. 14.3.1996 zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens All E.R. [1996] 2, 23 ff. 93 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919; wie hier Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 889, 892; Bärenz, DB 2003, 375; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 691 f.; dezidiert a.A. W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 884, dort Fn. 216; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 101. 94 EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28. 95 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 Imperial Chemical Industries, Slg. 1998, I-4725 Rn. 34. Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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onsrechtskonformer Auslegung grundsätzlich nicht besteht, und ein Tätigwerden des zuständigen Organs nur verlangt ist, soweit eine Rechtsunsicherheit die sich aus Unionsrecht ergebenden Rechte beeinträchtigen könnte. Es kommt hinzu, dass die bei uneinheitlicher Auslegung des nationalen Rechts angeführten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen dem richtliniendeterminierten und dem nicht richtliniendeterminierten Teil der Norm ihren Ursprung nicht in der uneinheitlichen Auslegung, sondern im Anwendungsbereich der Richtlinie selbst haben: Würde der Gesetzgeber die Richtlinie wortgetreu umsetzen, so wären zur Ermittlung des Anwendungsbereichs der nationalen Norm just die in der Richtlinie enthaltenen Merkmale heranzuziehen, ohne dass dem Mitgliedstaat der Vorwurf unrichtiger Umsetzung gemacht werden könnte. Im Kern ist daher aus unionsrechtlicher Sicht das Problem uneinheitlicher Auslegung nicht 33 die Abgrenzung als solche, sondern die Tatsache, dass sich die Abgrenzungskriterien bei überschießender Umsetzung nicht aus der nationalen Norm selbst, sondern nur aus der Richtlinie gewinnen lassen. Soweit man hierin einen Verstoß gegen die Pflicht des Mitgliedstaates, die Richtlinie transparent umzusetzen, sieht,96 ist der Gesetzgeber des Mitgliedsstaates aufgerufen, dieses Transparenzdefizit zu beseitigen – eine Pflicht, die den nationalen Gesetzeber in diesen Fällen aber auch abgesehen vom überschießenden Charakter der Umsetzung schon deshalb trifft, weil eine nur mittels richtlinienkonformer Auslegung zu erreichende Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dem Transparenzgebot ohnehin nicht genügt.97 Insgesamt lässt sich somit in Einklang mit der überwiegenden Literaturmeinung98 eine eu- 34 roparechtliche Pflicht zu einheitlicher Auslegung nicht begründen; die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung ist vielmehr eine solche des nationalen Rechts.

3. Keine Pflicht zu einheitlicher Auslegung aus nationalem Recht99 Lässt sich ein unionsrechtlich fundiertes Gebot einheitlicher Auslegung nicht begründen, so 35 könnte doch eine einheitliche und damit richtlinienkonforme Auslegung aus Gründen des nationalen Rechts geboten sein. Hiervon gehen nicht wenige Autoren im Schrifttum aus, wenn auch regelmäßig unter dem Vorbehalt, dass aus „sehr wichtigen sachlichen Gründen“ oder aufgrund „ganz besonderer Umstände“ im Einzelfall anders zu entscheiden sein könne.100 Nicht nur überfordere eine divergierende Auslegung identischer Normen Gerichte und Rechtsunterworfene; sie gerate überdies mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Gebot der Klarheit und

_____ 96 S. zur Transparenzrechtsprechung allgemein EuGH v. 9.9.1999 – Rs. C-217/97 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1999, I-5087 Rn. 1 ff.; EuGH v. 23.5.1985 – Rs. 29/84 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1985, 1661 Rn. 23; Calliess/ Ruffert/Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 51. 97 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 121. 98 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 60; Habersack/ Mayer, JZ 1999, 913, 921; Hoffmann, WM 2006, 560, 564; Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 892; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 120 ff.; Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 111; MünchKommBGBLorenz, vor § 474 BGB Rn. 4; Lutter, GS Heinze, S. 574 f.; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 548; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 131; Langenbucher-Riehm, § 4 Rn. 31; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 685 f.; Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 23 Rn. 73; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 131. 99 Die folgenden Ausführungen folgen weitgehend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549 f.; wie hier nunmehr auch BGH, WM 2014, 1030 Rn. 28 ff. (gespaltene Auslegung des § 5a Abs. 2 VVG a.F.). 100 Bärenz, DB 2003, 375 f.; Staudinger-Beckmann, vor § 433 BGB Rn. 88; Erman-Grunewald, vor § 433 Rn. 36; Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 486; W.-H. Roth, FG 50 Jahre BGH, S. 883; Schulte-Nölke, ZGS 2006, 201; R. Schulze, in: ders. (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999), S. 18. Zurückhaltend gegenüber einer gespaltenen Auslegung auch Schmidt-Räntsch, in diesem Band, § 23 Rn. 73, 74. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Bestimmtheit von Normen in Konflikt. Wenn auch der Hinweis auf die Relativität von Rechtsbegriffen101 die gespaltene Auslegung identischer Normen nicht unmittelbar zu rechtfertigen vermag,102 so bleibt doch festzuhalten, dass die Normspaltung seit Jahrzehnten ein geläufiges Problem vor allem des Wirtschaftsrechts und des Internationalen Privatrechts darstellt.103 Und auch der Einwand, eine gespaltene Auslegung könne Gerichte wie Rechtsunterworfene verwirren, ist letztlich nicht überzeugend, ist doch die Erwartung, das richtige Verständnis einer Norm durch schlichte Lektüre des Gesetzestextes ermitteln zu können, ein ganz allgemein von einer komplexen und dynamischen Rechtsordnung nicht zu erfüllender Wunsch. Aus dem Rechtsstaatsprinzip lässt sich daher ein generelles Verbot gespaltener Auslegung nicht herleiten.104 Es kommt hinzu, dass nach der bereits oben (Rn. 25 ff.) angesprochenen Transparenz-Rechtsprechung des EuGH die Zeitdauer, während derer eine gespaltene Auslegung inhaltlich zum Tragen kommt, ohnehin begrenzt ist: Die gespaltene Auslegung kommt nur dort in Betracht, wo das nach nationalem Recht ermittelte Auslegungsergebnis mit den Anforderungen der Richtlinie nicht übereinstimmt und deshalb innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie durch richtlinienkonforme Auslegung zu korrigieren ist. Da aber das der Umsetzung europäischer Richtlinien dienende nationale Recht nach der Rechtsprechung des EuGH bestimmt, klar und transparent zu sein hat und eine nur durch richtlinienkonforme Auslegung zu erreichende Rechtslage hierfür regelmäßig nicht ausreicht, bleibt der nationale Gesetzgeber trotz richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts durch die Gerichte verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie korrekt umzusetzen.105 Der Gesetzgeber kann im Zuge der Umsetzung selbstverständlich frei entscheiden, wie er 36 zukünftig die bislang im Überschussbereich angesiedelten Fälle behandelt wissen möchte. So hat der deutsche Gesetzgeber im Anschluss an die Heininger-Entscheidung des EuGH (s. oben Rn. 24) zwar §§ 312a, 355, 491 Abs. 3 BGB neu gefasst und hierdurch seine Umsetzungspflicht erfüllt,106 hierbei indes an dem weiten Anwendungsbereich des deutschen Rechts der Haustürgeschäfte (§ 312 BGB) festgehalten. Und auch im Zuge der Quelle-Entscheidung hat der deutsche Gesetzgeber den nach der Auslegung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie durch den EuGH erforderlichen nationalen Rechtsstand trotz der die Vorgaben des EuGH berücksichtigenden Entscheidung des VIII. Zivilsenats des BGH (s. oben Rn. 22) durch Art. 5 des Gesetzes zur Durchführung des Übereinkommens vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen und zur Änderung des Bürgerli-

_____ 101 Hennrichs, ZGR 1997, 66, 78. 102 Bärenz, DB 2003, 375, 376; Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 106. 103 Ausführlich und mit weiteren Nachweisen dazu Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 549; eingehend zu der bereits im nationalen Recht begründeten, von Problemen überschießender Richtlinienumsetzung unabhängigen Möglichkeit zur gespaltenen Auslegung kapitalmarktrechtlicher Normen, die für ein kapitalmarktrechtliches Verhaltensgebot sowohl zivil- als auch strafrechtliche Sanktionen vorsehen Schürnbrand, NZG 2011, 1213. 104 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 131. Speziell zur Frage, ob eine einheitliche Auslegung aus Gründen der Gleichbehandlung nach Art. 3 GG erforderlich ist, Herdegen, WM 2005, 1921, 1930. 105 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 20 f.; EuGH v. 19.9.1996 – Rs. C-236/95 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1996, I-4459 Rn. 13 ff.; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 121. 106 Ob weitere Umsetzungsdefizite, insbesondere durch die Pflicht des Darlehensnehmers zur Rückgewähr des Darlehens auch in den Fällen, in denen die Valuta – freilich: vereinbarungsgemäß – an Dritte bezahlt wurde, bestehen, war Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des LG Bochum, NJW 2003, 2612 und des OLG Bremen, NJW 2004, 2238. S. hierzu die Urteile des EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 und EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 = JZ 2006, 86 m. Anm. Habersack = BKR 2005, 441 m. Anm. Derleder, in deren Folge sich erneut die Frage nach einheitlicher oder gespaltener Auslegung des deutschen Haustürwiderrufsrechts stellt. S. zum Ganzen auch unten Rn. 45 ff.; zur Neuregelung des § 312b BGB durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie s. Fn. 5.

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§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

315

chen Gesetzbuches vom 10. Dezember 2008107 in dem neuen § 474 Abs. 5 S. 1 BGB festgeschrieben, hierbei indes den Ausschluss von Nutzungsherausgabe und Nutzungsersatz (im Einklang mit der Abschlussentscheidung des BGH) auf Verbrauchsgüterkaufverträge im Sinne des deutschen Rechts beschränkt.

4. Kriterien zur Auslegung der Norm im Überschussbereich a) Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung Nachdem festgestellt werden konnte, dass sich bei überschießender Umsetzung von Richtlinien 37 weder aus europäischem noch aus nationalem Recht eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts im Überschussbereich ergibt, sind nachfolgend die – allein maßgebenden nationalen – Kriterien für die Auslegung im Überschussbereich zu bestimmen. Dabei gilt es zunächst, die Unterschiede zwischen der richtlinienkonformen Auslegung im Anwendungsbereich der Richtlinie und der nationalen Auslegung außerhalb dieses Anwendungsbereichs zu verdeutlichen. 108 Die richtlinienkonforme Auslegung ist ihrer rechtstheoretischen Struktur nach interpretatorische Vorrangregel:109 Innerhalb der Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung muss der nationale Rechtsanwender den europarechtlichen Vorgaben ohne weitere Abwägung Geltung verschaffen.110 Im nicht europarechtlich determinierten Überschussbereich vollzieht sich Auslegung hingegen als interpretatorische Gesamtabwägung aller zu berücksichtigender Auslegungskriterien, wobei – vorbehaltlich der verfassungskonformen Auslegung – keinem Auslegungskriterium per se Vorrang einzuräumen ist.111 Es empfiehlt sich, worauf erstmals Hommelhoff hingewiesen hat,112 diesen Methodenunterschied auch begrifflich zu markieren, also den Rechtsbegriff der richtlinienkonformen Auslegung den Fällen im Anwendungsbereich der Richtlinie vorzubehalten und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie von „Ausstrahlungswirkung der Richtlinie auf das richtlinienfreie Recht“113, „quasi-richtlinienkonformer“114 oder „richtlinienorientierter“115 Auslegung zu sprechen.

b) Bedeutung des gesetzgeberischen Willens: Die Unterscheidung von Sach- und Strukturentscheidungen Verbreitet wird für die möglichst einheitliche Auslegung des nationalen Rechts im Überschuss- 38 bereich und im richtliniendeterminierten Bereich auf den Willen des historischen Gesetzgebers abgestellt, der seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Schaffung der einheitlichen Norm gefunden habe und der eine gespaltene Auslegung nur in besonderen Ausnahmefällen zulasse.116 Diese

_____ 107 BGBl. 2008 I, 2399. 108 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 109 Überzeugend Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 68 ff.; eingehend W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 26, 42 ff. 110 Zutr. P. Ulmer, ZIP 2002, 1080, 1081 zur überflüssigen Absicherung des richtlinienkonformen Ergebnisses durch nationale Abwägung in BGHZ 150, 248. 111 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74; dem folgend Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; Gsell, in: Gsell/Hau (Hrsg.), Europäischess Justizsystem (2012), S. 123, 134 f.; a.A. noch Lutter-Lutter, Umwandlungsgesetz (3. Aufl. 2004), Einl. Rn. 32. 112 Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. 113 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 74. 114 So Hommelhoff, FG 50 Jahre BGH, S. 915. 115 MünchKommBGB-Lorenz, vor § 474 BGB Rn. 4. 116 Etwa BGHZ 150, 248, 261; Staudinger, NJW 2002, 653, 655; Bärenz, DB 2003, 375; Hoffmann, ZIP 2002, 145, 150; Lutter, GS Heinze, S. 575 f.; für die Auslegung von Kaufrecht und Leistungsstörungsrecht nach Maßgabe der RichtliHabersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Sichtweise greift jedoch, wie erst unlängst herausgearbeitet wurde, gerade in den kritischen Fällen zu kurz;117 diese sind vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass der Gesetzgeber im nationalen Recht zwei Entscheidungen getroffen hat, von denen sich jedoch unter dem Einfluss der Richtlinie die eine nicht aufrechterhalten lässt: So hat der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes die Strukturentscheidung118 getroffen, die Voraussetzungen des Rücktritts bei vertragswidriger Kaufsache grundsätzlich nicht für den Verbrauchsgüterkauf getrennt zu regeln, sondern diese in das allgemeine Leistungsstörungsrecht einzupassen und hierfür mit § 323 BGB eine einheitliche Norm zu schaffen. Gleichzeitig hat er aber die Sachentscheidung getroffen, den Rücktritt von Setzen und Ablauf einer angemessenen Frist abhängig zu machen. Soweit sich nun die Sachentscheidung für den Verbrauchsgüterkauf als richtlinienwidrig erweist, wird man kaum allein unter Berufung auf die Strukturentscheidung das Fristsetzungserfordernis in allen von § 323 BGB erfassten Fällen einschränkend auslegen können. 39

Ähnlich hatte der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes für die kaufrechtliche Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache in § 439 Abs. 4 BGB ausdrücklich auf die allgemein für Rückgewährschuldverhältnisse geltenden §§ 346 bis 348 verwiesen. Der Gesetzgeber hatte damit ursprünglich explizit einen allgemeinen Anspruch des Verkäufers auf Nutzungsersatz vorgesehen, mithin die Strukturentscheidung getroffen, insoweit nicht zwischen Verbrauchsgüterkäufen und sonstigen Käufen zu unterscheiden, vielmehr generell die §§ 346 ff. BGB zur Anwendung zu bringen. Desweiteren hatte der Gesetzgeber des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes für den Verkäufer als Schuldner eines Nacherfüllungsanspruches in § 439 Abs. 3 S. 2 HS. 2 BGB ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen, beide Arten der Nacherfüllung und damit die Nacherfüllung als Mangelgewährleistungsrecht insgesamt zu verweigern, wenn jede der Nacherfüllungsarten unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen würde. Gleichzeitig hatte der Gesetzgeber aber durch die einheitliche Begründung des Nacherfüllungsanspruches in § 439 BGB die Strukturentscheidung getroffen, insoweit nicht zwischen Verbrauchsgüterkaufverträgen und sonstigen Käufen zu differenzieren. Schließlich hatte der Gesetzgeber des HWiG die Strukturentscheidung getroffen, die der Richtlinie unterfallenden, an der Haustür abgeschlossenen Verträge so zu behandeln wie diejenigen Verträge, die durch die Haustürsituation lediglich mitveranlasst wurden. Diese Strukturentscheidung kam seinerzeit im Anwendungsbereich des HWiG zum Ausdruck. Zugleich hat der Gesetzgeber des HWiG jedoch die in § 5 Abs. 2 HWiG seinerzeit ebenso zum Ausdruck kommende Sachentscheidung getroffen, bei Realkreditverträgen, nicht zuletzt mit Blick auf den Grundsatz der taggenauen Refinanzierung, ein Widerrufsrecht auszuschließen.119 Dieses Zusammentreffen von Sach- und Strukturentscheidung führt dazu, dass selbst die Feststellung, der Gesetzgeber habe die Strukturentscheidung bewusst getroffen und eine einheitliche Auslegung auch mit Blick auf die Richtliniengebundenheit des europarechtlich geforderten Teils der Norm gewollt, für sich genommen noch nicht automatisch zu einer einheitlichen Auslegung führt.120 Stets ist nämlich zu beachten, dass der Gesetzgeber die Richtlinienwidrigkeit der zugleich mit der Strukturentscheidung getroffenen Sachentscheidung nicht kannte. Ein Festhalten an der Strukturentscheidung trotz abweichender Sachentscheidung ist damit letztlich hypothetischer Natur.121

_____ nie über den Verbauchsgüterkauf Erman-Grunewald, vor § 433 BGB Rn. 36; Staudinger-Beckmann, vor § 433 BGB Rn. 88. 117 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 118 Die Bezeichnung als Sach- und Strukturentscheidung verdanken wir Schürnbrand, s. Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; zust. BGH, WM 2014, 1030 Rn. 29 (gespaltene Auslegung des § 5a Abs. 2 VVG a.F.). 119 Dazu und zum Folgenden Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. 120 Ebenso Prütting/Wegen/Weinreich-D. Schmidt, BGB (8. Aufl. 2013), vor § 433 BGB Rn. 13; Bamberger/RothFaust, § 433 BGB Rn. 9; a.A. Lutter, GS Heinze, S. 575 ff. 121 Zutr. für die Heininger-Argumentation Rohe, BKR 2002, 575, 576; M. Wolf, BKR 2002, 614, 616. Zum Ganzen Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551 f.; dem folgend Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 146 f. Noch weitergehend sieht Herdegen, WM 2005, 1921, 1930 in der gespaltenen Auslegung eine den objektiven Gesetzeswillen schonende und deshalb vorzugswürdige Auslegung. Herdegen stellt damit die Sachentscheidung über die Strukturentscheidung des Gesetzgebers.

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Nicht zuletzt die Reaktionen des Gesetzgebers auf die bereits angesprochen Verfahren in Sachen 40 Heininger und Quelle (oben Rn. 22 ff.) bestätigen im Übrigen die hier dargelegten Bedenken gegenüber der Maßgeblichkeit der Strukturentscheidung bei richtlinienkonform nicht aufrecht zu erhaltender Sachentscheidung. In Reaktion auf das Heininger-Verfahren hat nämlich der Gesetzgeber durch Neufassung der §§ 312a, 355, 491 Abs. 3 BGB für sämtliche Realkreditverträge ein Haustürwiderrufsrecht eingeführt (oben Rn. 36) und damit die vom Europäischen Recht geforderte Sachentscheidung auf den gesamten Anwendungsbereich der überschießenden Umsetzung erstreckt (und mithin an der ursprünglichen Strukturentscheidung, den Abschluss des Vertrags an der Haustür und die bloße Veranlassung des Vertrags durch die Haustürsituation gleichzubehandeln, festgehalten). Demgegenüber hat er im Anschluss an die Quelle-Entscheidung mit § 474 Abs. 5 S. 1 BGB eine Norm geschaffen, welche für die Nacherfüllung durch Nachlieferung den Nutzungsersatz nur bei Verbrauchsgüterkäufen ausschließt. Für alle anderen Kaufverträge gilt hingegen weiterhin, dass der Käufer im Falle der Nacherfüllung durch Lieferung einer mangelfreien Sache für die Zeit der Nutzung der mangelhaften Kaufsache Nutzungsersatz schuldet. An der ursprünglich getroffenen Strukturentscheidung einer Gleichbehandlung aller Kaufverträge und der Einpassung des Nutzungsersatzes in das allgemeine Recht der Rückgewähr hat der Gesetzgeber insoweit also angesichts der Vorgaben des Europarechts nicht festgehalten; vielmehr bestimmt § 474 Abs. 5 S. 1 BGB nunmehr ausdrücklich, dass § 439 Abs. 4 BGB gespalten zur Anwendung zu bringen ist.

c) Vermutung für einheitliche Auslegung Wenn sich die einheitliche Auslegung somit auch nicht allein auf die Strukturentscheidung des 41 historischen Gesetzgebers stützen lässt, so lässt sich doch insgesamt eine Vermutung für eine einheitliche Auslegung formulieren. Diese kann, soweit der Gesetzgeber ausdrücklich auch auf die Richtlinie oder sonstige Normen des Unionsrechts in ihrer jeweiligen Auslegung durch den EuGH verweisen wollte, auch den Willen des Gesetzgebers für sich in Anspruch nehmen.122 Aber auch jenseits dieser speziellen Fälle spricht die Einheitlichkeit der nationalen Norm und damit ein systematisches Argument für eine einheitliche Auslegung. Dieses systematische Argument verliert hingegen an Überzeugungskraft, wenn der Gesetzgeber, wie beispielsweise hinsichtlich der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf mit den §§ 474 ff. BGB geschehen, an anderer Stelle Sondernormen für den der Richtlinie unterfallenden Bereich schafft.123 Gleichfalls für einheitliche Auslegung streitet das für sich allein nicht durchschlagende Argument, eine gespaltene Auslegung erschwere die Rechtsanwendung und führe zu neuen Abgrenzungsschwierigkeiten.124

_____ 122 Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 117; s. auch für das deutsche Kartellrecht Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 36. – Dafür streitet im Überschussbereich aber nicht die vom EuGH in seinem Urteil v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112 formulierte Vermutung, der nationale Gesetzgeber habe bei Umsetzung einer Richtlinie die Richtlinienkonformität des Umsetzungsgesetzes gewollt, denn auch diese Vermutung gilt nur für den Anwendungsbereich der Richtlinie und lässt sich auf die Frage, ob der Gesetzgeber stets eine einheitliche Auslegung des nationalen Rechts gewollt habe, nicht übertragen. Generell gegen eine Vermutung für einheitliche Auslegung hingegen Herdegen, WM 2005, 1921, 1930. 123 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551; dezidiert a.A. Lutter, GS Heinze, S. 576 und Lutter-Lutter/Bayer, Umwandlungsgesetz (5. Aufl. 2014), Einl. Rn. 41: Gerade das Vorliegen einzelner Sondernormen für den von der Richtlinie erfassten Bereich spreche dafür, dass der Gesetzgeber außerhalb dieser Sondernormen eine einheitliche Behandlung gewollt habe; zur Problematik des Abstellens auf die Strukturentscheidung des historischen Gesetzgebers s. aber bereits Rn. 38 f. 124 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 551. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

d) Gründe für eine gespaltene Auslegung 42 Ist somit die nationale Norm nur im Zweifel einheitlich auszulegen und kommt wegen des Cha-

rakters der Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung grundsätzlich eine gespaltene Auslegung durchaus in Betracht, so ist nachfolgend zu untersuchen, welche Gründe im Einzelfall für eine gespaltene Auslegung streiten können. 43

aa) Verfassungskonforme Auslegung. Am einfachsten ist dabei der – bislang wohl theoretische – Fall zu entscheiden, dass die von der Richtlinie gebotene Auslegung des nationalen Rechts mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren wäre: Zumindest innerhalb des durch die Solange/Maastricht-Rechtsprechung gezogenen Rahmens gilt nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, dass, soweit ein Umsetzungsermessen nicht besteht, nicht nur die europäischen Rechtsakte, sondern auch das der Umsetzung dienende nationale Recht nicht am Maßstab des Grundgesetzes zu messen sind.125 Jedenfalls aber wäre das Grundgesetz seinerseits richtlinienkonform auszulegen.126 Beides gilt indes nur im Anwendungsbereich der Richtlinie, da auch nur insoweit die Gemeinschaft selbst im Sinne von Art. 23 GG rechtsetzend tätig war.127 Für den überschießenden Bereich des nationalen Rechts bewendet es daher in jedem Fall bei der uneingeschränkten verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit am Maßstab des nicht richtlinienkonform auszulegenden Grundgesetzes und damit beim Vorrang der verfassungskonformen Auslegung.128 Weicht diese von der durch die Richtlinie gebotenen Auslegung des nationalen Rechts ab, so ist eine gespaltene Auslegung zwingend.129

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bb) Überwiegende Bedeutung der Sachentscheidung und erhebliche Abweichung von dieser durch die richtlinienkonforme Auslegung. Eine gespaltene Auslegung kommt daneben dann in Betracht, wenn die Sachentscheidung des Gesetzgebers besondere Bedeutung beansprucht und die durch die Richtlinie gebotene Auslegung sich von dieser Sachentscheidung weit entfernt. Hierzu ist erforderlich, den Stellenwert, den der Gesetzgeber der Sachentscheidung auf der einen Seite und der Strukturentscheidung auf der anderen Seite jeweils zugemessen hat, zu ermitteln und die Ergebnisse wertend miteinander zu vergleichen. So spricht angesichts der Bedeutung der Fristsetzung und dem in § 323 Abs. 1 BGB klar zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers viel dafür, die ggf. gebotene richtlinienkonform erweiternde Auslegung des § 323 Abs. 2 BGB auf die Fälle des Verbrauchsgüterkaufs im Sinne von § 474 BGB zu beschränken.130 Eine noch weitergehende Beschränkung auf diejenigen Fälle, die auch unter den Anwendungsbereich des engeren Verbraucherbegriffs der Richtlinie fallen,131 ist dagegen abzulehnen, da durch diese ein Differenzierungskriterium in das nationale Recht einge-

_____ 125 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268 unter II. 1b). Zwar wird dort nur die Überprüfung eines deutschen Umsetzungsgesetzes am Maßstab der Verfassung verweigert, doch kann für die verfassungskonforme Auslegung schwerlich etwas anderes gelten; ebenso Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920; a.A. – freilich ohne Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung – Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 675, dort Fn. 77; diesem folgend Brandner, Die überschießende Umsetzung von Richtlinien, S. 103. 126 Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 79 f. 127 Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 920. Zur Umgrenzung des in der Richtlinie enthaltenen Regelungsauftrags durch Inhalt und Anwendungsbereich der Richtlinie oben Rn. 26. 128 Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 550; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 168 f. 129 Dies gilt auch dann, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich die Orientierung am europäischen Recht vorgibt oder unmittelbar auf europäisches Gemeinschaftsrecht verweist; Auslegungsmaxime wie Verweisung erfolgen aus nationalem Recht und unterliegen daher der Bindung durch die Verfassung. 130 So auch Canaris, Schuldrechtsmodernisierung 2002 (2002), S. XXV f.; ders., JZ 2003, 831, 838; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552; im Ergebnis ebenso Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 19. 131 S. dazu oben Rn. 6. Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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führt würde, welches diesem bislang fremd ist, und zudem Verwerfungen mit der allgemeinen Wertung des § 13 BGB drohten.132 cc) Zusätzliche Auslegungsgesichtspunkte, die nur im überschießenden Bereich der 45 Norm vorhanden sind. Die letzte und vermutlich in der Praxis bedeutsamste Gruppe von Fällen, in denen eine gespaltene Auslegung der einheitlichen Norm ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist, stellen diejenigen Konstellationen dar, in denen durch den erweiterten und über die Richtlinie hinausgehenden Anwendungsbereich des nationalen Rechts abweichende Auslegungsgesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass zur Auslegung der Richtlinie deren Anwendungsbereich heranzuziehen ist.133 Da der Gerichtshof aber im Rahmen der Aufgabenteilung des Art. 267 AEUV stets nur das Unionsrecht auslegt, kommen bei der Auslegung der Richtlinie notwendig allein diejenigen Gesichtspunkte zum Tragen, die den Anwendungsbereich der Richtlinie berühren. Insbesondere soweit aus dem weiteren Anwendungsbereich des nationalen Rechts neue Auslegungsgesichtspunkte erwachsen, kommt eine gespaltene Auslegung des nationalen Rechts in Betracht.134 Dies gilt namentlich dann, wenn der Gesetzgeber allein dem Verbraucherschutz dienende 46 Richtlinien durch Normen umsetzt, die in Erweiterung des persönlichen Anwendungsbereichs auch für den unternehmerischen Rechtsverkehr Geltung verlangen, wie dies bei der Umsetzung der Klauselrichtlinie durch die §§ 305 ff. BGB, bei der Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf durch das allgemeine Kaufrecht und bei der Umsetzung der Richtlinie zum Schutz der Verbraucher gegen unlautere Geschäftspraktiken durch das deutsche Lauterkeitsrecht der Fall ist. In all diesen Fällen legt der Gerichtshof die Richtlinie allein unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes und dabei nach der gefestigten Maxime aus, dass die Union insgesamt ein hohes Verbraucherschutzniveau anstrebe und verbraucherschützende Rechte daher im Zweifel weit, Ausnahmen von verbraucherschützenden Bestimmungen hingegen im Zweifel eng auszulegen seien.135 Da diese Maximen im Verkehr zwischen Unternehmern nicht notwendig zu sachgerechten Ergebnissen führen und umgekehrt Gesichtspunkte, die für den Rechtsverkehr zwischen Unternehmern bedeutsam sind, bei der Auslegung der Richtlinie notwendig unberücksichtigt bleiben, kommt in diesen Fällen auch ein unterschiedliches Auslegungsergebnis und damit eine gespaltene Auslegung in Betracht.136 Dies gilt umso mehr in Konstellationen, in denen die richtlinienkonform auszulegende Norm aufgrund eines offenen Wortlauts besonders große Auslegungsmöglichkeiten eröffnet und die Konformität mit einer verbraucherschützenden Richtlinie durch Fallgruppenbildung hergestellt werden kann. Geht man daher mit dem BGH davon aus, dass sich der Erfüllungsort der Nacherfüllung grundsätzlich nach § 269 BGB richtet und möglichen Anforderungen der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie im Rahmen von § 269 BGB als im Sinne dieser Norm „für das Schuldverhältnis bedeutsame Umstände“ Rechnung getragen werden kann,137 so spricht alles dafür, dies entgegen dem BGH138 auf den Bereich des Verbrauchsgüterkaufes zu beschränken. Denn zum einen bestehen nur insoweit aus der Richtlinie folgende „Umstände des Schuldverhältnisses“. Zum anderen bestehen gerade mit Blick auf die Bestimmung des Leistungsortes zwischen Rechtsgeschäften, an denen ein Ver-

_____ 132 Bamberger/Roth-Faust, § 437 BGB Rn. 19; Mayer/Schürnbrand, JZ 2004, 545, 552. 133 Dazu W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 134 Palandt-Sprau, Einl. Rn. 44. 135 Dazu zu Recht kritisch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 57 ff. 136 A.A. für das AGB-Recht MünchKommBGB-Basedow, vor § 305 BGB Rn. 30; wie hier hingegen Palandt-Grüneberg, vor § 305 BGB Rn. 13. 137 So BGH, NJW 2011, 2278 Rn. 39 ff., 47. 138 BGH, NJW 2011, 2278 Rn. 47 a.E. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

braucher beteiligt ist, und anderen Rechtsgeschäften sachliche Unterschiede; insbesondere ist es den Parteien im unternehmerischen Rechtsverkehr zuzumuten, Erschwernissen, die aus der Festlegung des Leistungsortes erwachsen, durch entsprechende Parteivereinbarung zu begegnen. 47

Aus den gleichen Gründen liegt eine gespaltene Auslegung auch im Bereich der Bilanzrichtlinien nahe. Denn während der Gerichtshof insoweit stets die Auslegung von Normen vornimmt, die für die Aufstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses verbindlich sind, und dabei allein die mit dieser Bilanz verfolgten Zwecke berücksichtigt, kommen im Bereich der Steuerbilanz hiervon abweichende Gesichtspunkte wie der Grundsatz der gleichmäßigen Besteuerung und derjenige der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zum Tragen.

48 Schließlich liegt eine gespaltene Auslegung auch dann nahe, wenn es um in der Richtlinie nicht

enthaltene und damit im richtliniendeterminierten Bereich – soweit eine einschränkende Auslegung möglich ist – nicht anwendbare Tatbestandsmerkmale geht, die bei Lichte betrachtet nicht der Richtlinienumsetzung, sondern der Begrenzung der Reichweite des überschießenden Charakters der nationalen Norm dienen. 49

Zu nennen ist hier die Frage der Zurechnung einer Haustürsituation und damit ein weiteres Versatzstück aus der für die Wissenschaft von der überschießenden Umsetzung noch immer ergiebigen „Heininger-Saga“. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Sachen Heininger, der Berücksichtigung dieser Rechtsprechung durch den BGH in seiner Auslegung des § 5 Abs. 2 HWiG a.F. und der Neufassung der §§ 312a, 355 und 491 Abs. 3 BGB durch das OLG-Vertretungsänderungsgesetz steht mittlerweile fest, dass auch Realkreditverträge, die in den Anwendungsbereich des Haustürwiderrufsrechts fallen, von dem Darlehensnehmer widerrufen werden können.139 Damit hat sich die aktuelle Auseinandersetzung zum einen auf die Rechtsfolgen des Widerrufs und zum anderen auf die Voraussetzung der Anwendung des Haustürwiderrufsrechts verlagert. Was die letztgenannte Problematik angeht, so hatte der Bundesgerichtshof bislang in ständiger Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass für das Bestehen eines verbraucherschützenden Widerrufsrechts nach § 312 BGB a.F. (s. Rn. 1) nicht nur auf das objektive Bestehen einer Haustürsituation abzustellen ist, sondern auch auf deren Zurechenbarkeit gegenüber dem Unternehmer,140 mithin in den Heininger-Fällen gegenüber der darlehensgewährenden Bank. Dieses Zurechenbarkeitskriterium findet zwar im Wortlaut des § 312 BGB a.F. keine unmittelbare Stütze, es gründet aber auf der allgemeinen Systematik der Verantwortlichkeit für das Handeln Dritter und entspricht dem Willen des historischen Gesetzgebers.141 Die Zurechenbarkeit sollte sich deshalb nach den zu § 123 Abs. 2 BGB entwickelten Grundsätzen beurteilen.142 Allerdings findet sich im Wortlaut der alten Haustürgeschäfterichtlinie – ebenso wie in der Verbraucherrechte-Richtlinie (Rn. 1) – nicht eigens ein Zurechenbarkeitskriterium. Daher hatte das OLG Bremen dem EuGH mit Beschluss vom 27. Mai 2004 unter anderem folgende Frage vorgelegt: „1. Ist es mit Art. 1 I der Richtlinie 85/577/EWG vereinbar, die Rechte des Verbrauchers, insbesondere sein Widerrufsrecht, nicht nur vom Vorliegen einer Haustürsituation nach Art. 1 I der Richtlinie abhängig zu machen, sondern auch von zusätzlichen Zurechnungskriterien wie der vom Gewerbetreibenden bewusst herbeigeführten Einschaltung eines Dritten in den Vertragsabschluss oder von einer Fahrlässigkeit des Gewerbetreibenden hinsichtlich des Handelns des Dritten beim Vertrieb mittels Haustürgeschäft?“143

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In ihrer Stellungnahme kommt die Kommission zu dem Schluss, dass ein solches Zurechnungskriterium mit der Haustürgeschäfterichtlinie nicht vereinbar sei, denn nach Art. 5 dieser Richtlinie sei Voraussetzung des Widerrufsrechts nur,

_____ 139 S. bereits Rn. 24; zur Neuregelung durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie s. Fn. 5. 140 BGH, NJW 2003, 424, 425; BGH, ZIP 2005, 1314, 1315. 141 Amtliche Begründung zum HWiG, BT-Drs. 10/2876, S. 11. 142 BGH, NJW 2003, 424, 425; s. nunmehr aber auch BGH, ZIP 2006, 221, 222 f. 143 OLG Bremen, NJW 2004, 2238. Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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„a) dass ein Rechtsgeschäft zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden objektiv abgeschlossen wurde, und b) dass dieser Vertragsschluß in einer Haustürsituation zustande kam.“144 Dem haben sich Generalanwalt Legèr in seinem Schlussantrag145 und der EuGH146 in seinem Urteil vom 25. Ok- 51 tober 2005 angeschlossen. Aus Sicht des nationalen Rechts war daher zu entscheiden, ob weiterhin § 312 BGB a.F. einheitlich dahingehend auszulegen ist, dass ein Widerrufsrecht allein das objektive Bestehen einer Haustürsituation voraussetzt, oder ob im Überschussbereich der Norm das Zurechnungskriterium weiterhin Anwendung findet, § 312 BGB a.F. also gespalten auszulegen ist. Der II. und der XI. Zivilsenat des BGH haben sich in nachfolgenden Urteilen dafür ausgesprochen, auf das Kriterium der Zurechnung in Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH insgesamt zu verzichten.147 Demgegenüber ist in diesem Zusammenhang beachtlich, dass das Zurechnungskriterium den Unternehmer vor den Folgen einer durch ihn nicht steuerbaren und nicht veranlassten Haustürsituation schützen soll. Hierzu kann es aber bei Lichte betrachtet allein im Überschussbereich der Norm kommen, denn der wesentlich engere Anwendungsbereich der alten Richtlinie über Haustürgeschäfte setzt einen wirksamen Vertragsschluss zwischen Unternehmer und Verbraucher oder zumindest die Abgabe eines Angebots durch den Verbraucher in der Haustürsituation voraus. Innerhalb des Anwendungsbereichs der alten Haustürgeschäfterichtlinie kann deshalb schon nach nationalem Recht das Zurechnungskriterium des BGH keine begrenzende Wirkung entfalten, denn soweit der Vermittler als rechtsgeschäftlicher Vertreter des Unternehmers (Vertragsschluss in der Haustürsituation!) oder sonst in dessen Namen und für dessen Rechnung handelt (Art. 2 Sps. 2 der Richtlinie), ist auch das Zurechnungskriterium ohne weiteres erfüllt. Im Ergebnis erfüllt damit – lässt man Transparenzerwägungen außer Betracht – das nationale Recht auch nach der Auslegung der bisher herrschenden Meinung den Regelungsauftrag der Haustürgeschäfterichtlinie, was freilich der Vorlagebeschluss des OLG Bremen listig verschwieg. Zumindest aber dürfte der Wegfall des Zurechnungskriteriums innerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie keine gravierende Wirkung haben, innerhalb des überschießenden Bereichs des nationalen Rechts aber eine unabsehbare Ausweitung des Haustürwiderrufsrechts für Unternehmer bewirken. Da umgekehrt der EuGH wie auch der Richtliniengeber wegen des engeren Anwendungsbereichs der Richtlinie gar keine Veranlassung haben, über ein zusätzliches Zurechnungskriterium nachzudenken, spricht in einem solchen Fall alles dafür, die Wirkung der Richtlinie auf deren Anwendungsbereich zu begrenzen und § 312 BGB a.F. gespalten auszulegen.148 Unter Geltung des neuen § 312b BGB stellt sich die Rechtslage freilich anders dar, erfassen dieser und der ihm zugrunde liegende Art. 2 Nr. 8 lit. c) der Verbraucherrechte-Richtlinie (Rn. 1) doch nunmehr ein dem Vertragsschluss in den Geschäftsräumen unmittelbar vorangehendes Ansprechen des Verbrauchers; ein überschießender Bereich des nationalen Rechts existiert insoweit nicht mehr. Nach den hier entwickelten Kriterien können die Entscheidungen des VIII. Zivilsenats in Sachen Weber/Putz 52 und in dem Granulat-Fall (zu beiden Rn. 22) im Ergebnis, nicht aber in der Begründung überzeugen. Was zunächst die Folge der teleologischen Reduktion des § 439 Abs. 3 S. 2 HS. 2 BGB in Weber/Putz betrifft, so ist es zunächst, soweit man die Möglichkeit einer teleologischen Reduktion für eröffnet erachtet, konsequent, diese auf den Richtlinienbereich zu begrenzen. Da indes, wie oben (Rn. 39) dargelegt wurde, in diesem Fall der Gesetzgeber sowohl die Strukturentscheidung getroffen hatte, den Umfang der Pflichten des Verkäufers bei Nacherfüllung mangelhafter Kaufsachen für Verbrauchsgüterkäufe und für sonstige Käufe in § 439 BGB einheitlich zu regeln, als auch die Sachentscheidung, dem Verkäufer das Recht zuzugestehen, bei unverhältnismäßig hohem Aufwand die Nacherfüllung insgesamt zu verweigern, kann ein gesetzgeberischer Wille für die weitere Entscheidung, in welchen Konstellationen die teleologische Reduktion durchzuführen ist, jedenfalls dann nicht fruchtbar gemacht werden, wenn, wie im vorliegenden Fall, ein hypothetischer Wille des Gesetz-

_____ 144 Kommission, Stellungnahme v. 14.9.2004 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Umdruck S. 13. 145 GA Legèr, SchlA v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 Tz. 31 ff. 146 EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 Rn. 41 ff. 147 BGH, BB 2006, 346, 347; BGH, BB 2006, 853, 854. 148 Ebenso Palandt-Sprau, Einl. Rn. 44; mit gleicher Tendenz bereits Habersack, JZ 2006, 91, 94; Hoffmann, ZIP 2005, 1985, 1988; Thume/Edelmann, BKR 2005, 477, 479 f.; a.A. BGH, BB 2006, 346, 347; BGH, BB 2006, 853, 854; Hofmann, BKR 2005, 487, 490; Staudinger, NJW 2005, 3521, 3522. Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gebers für den Fall der Richtlinienwidrigkeit der Sachentscheidung schlicht nicht zu ermitteln ist. Weder die grundsätzliche Begrenzung der teleologischen Reduktion auf den Verbrauchsgüterkauf, noch die – gegenüber dem Anwendungsbereich der Richtlinie – Erweiterung auf Verbrauchsgüterkaufverträge im Sinne von §§ 474, 13 BGB können daher mit Verweis auf einen Willen des Gesetzgebers begründet werden.149 In der Sache erweist sich die vorgenannte Entscheidung gleichwohl als richtig, dies aber deshalb, weil zum einen die nach der ohnehin fraglichen Auffassung des EuGH eine Richtlinienwidrigkeit begründenden Argumente des Verbraucherschutzes nur im B2C-Geschäft Geltung beanspruchen können, während andererseits dem Ausschluss des Nacherfüllungsanspruchs bei unverhältnismäßig hohen Kosten außerhalb des Verbraucherbereiches eine zusätzliche Bedeutung deshalb zukommt, weil Kosteneffizienz im unternehmerischen Rechtsverkehr ein materielles Auslegungskriterium darstellt. Die Reduktion ist daher aus teleologischen Gründen zunächst auf den Verbraucherbereich zu begrenzen, sie ist hierbei aber auf alle Verbrauchsgüterkaufverträge im Sinne von §§ 474, 13 BGB zu erstrecken, weil diese Unterscheidung zwischen Verbrauchsgüterkaufverträgen im Sinne von §§ 474, 13 BGB einerseits und sonstigen Kaufverträgen andererseits im Kaufrecht systematisch angelegt ist und die vorzunehmende Normspaltung daher an bereits in dem Regelungssystem objektiv angelegten Grenzen verlaufen kann. Aus den gleichen Gründen erweist sich auch die Begrenzung der richtlinienkonformen Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB auf die Fälle des Verbrauchsgüterkaufes durch die Entscheidung des VIII. Zivilsenats in dem Granulat-Fall als lediglich im Ergebnis zutreffend.

IV. Überschießende Umsetzung und Internationales Privatrecht 53 Der hybride Charakter der nationalen Normen in Fällen überschießender Umsetzung zeigt sich

nicht nur bei der Auslegung des nationalen Rechts, sondern auch bei der im Kollisionsrecht angesiedelten Frage, ob und, wenn ja, inwieweit die nationale Vorschrift trotz Maßgeblichkeit ausländischen Rechts Geltung beansprucht. Hintergrund der besonderen Problematik der überschießenden Richtlinienumsetzung ist insoweit nicht die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung und deren Umsetzung innerhalb und außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie, sondern die europarechtliche Pflicht zur internationalprivatrechtlichen Rechtsdurchsetzung zwingender Richtlinienvorgaben in Fällen, in denen an sich das Recht eines Drittstaates zur Anwendung berufen wäre, nach der Entscheidung des EuGH in Sachen Ingmar GB Ltd.150 Da die europarechtlich geschuldete Rechtsdurchsetzung national über Art. 46b EGBGB oder ggf. unter Rückgriff auf Art. 9 Rom I-VO erreicht werden kann, stellt sich auch hier die Frage, ob im Falle einer überschießenden Umsetzung die nationale Umsetzungsnorm kollisionsrechtlich mit ihrem nationalen Anwendungsbereich Geltung oder nur insoweit Geltung beansprucht, als diese Norm der Richtlinienumsetzung dient. Bedenkt man, dass die Rechtsdurchsetzungspflicht nur im Anwendungsbereich der Richtlinie bestehen kann, dass einer gespaltene Anwendung der nationalen Norm keine zwingenden Gründe des nationalen Rechts entgegenstehen und dass es die internationalprivatrechtliche Vertragstreue nahelegt, das anzuwendende Recht außerhalb eines zwingenden Geltungsanspruchs nach den IPR-Regeln zu bestimmen,151 so spricht alles dafür, die Umsetzungsnorm nur in den Fällen als Sachrecht zur Anwendung zu berufen, die von der entsprechenden Richtlinie selbst erfasst werden. Daher sind mit der ganz überwiegenden und zutreffenden Auffassung durch die Sonderanknüpfung von Art. 46b EGBGB zwar die der Richtlinienumsetzung dienenden nationalen Vorschriften einschließlich einer möglichen inhalt-

_____ 149 Wie hier Weiss, ZRP 2013, 66, 67 ff., Herresthal, JuS 2014, 289, 295; Gsell, Anmerkung zu BGH – VIII ZR 226/11 (Granulatfall), LMK 2013, 343739. 150 EuGH v. 9.1.2000 – Rs. C-381/98 Ingmar GB Ltd, Slg. 2000, I-9323 Rn. 25 f.; dazu Freitag/Leible, RIW 2001, 287 ff.; Kindler, BB 2001, 11 ff. 151 Dazu BGH, NJW 2006, 762 Rn. 28 mwN. Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

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lichen Übererfüllung der Richtlinie zur Anwendung berufen,152 dies jedoch nur in Fällen, die im jeweiligen Anwendungsbereich der Richtlinie selbst liegen.153 Nach der zu Art. 34 EGBGB a.F. ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist darüber hinaus auch eine Rechtsdurchsetzung unter Rückgriff auf die Befugnis zur Durchsetzung von Eingriffsnormen (jetzt Art. 9 Rom-I-VO) allenfalls im jeweiligen Anwendungsbereich der Richtlinie selbst möglich.154

V. Zur Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs Abschließend ist auf die Frage einzugehen, ob das nationale Gericht berechtigt sowie ggf. so- 54 gar verpflichtet ist, ein Vorabentscheidungsverfahren auch in Fällen einzuleiten, die außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie liegen, aber von den auch der Richtlinienumsetzung dienenden Normen erfasst werden. Dabei sei zunächst auf die andernorts ausführlich beschriebenen, auf nationalem wie auf europäischem Recht gründenden Bedenken gegen eine Vorlagebefugnis – und erst Recht gegen eine Vorlagepflicht – in Fällen überschießender Umsetzung verwiesen.155 An dieser Stelle gilt es allein, die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des EuGH vor dem Hintergrund der mittlerweile deutlich vorangekommenen mitgliedstaatlichen Dogmatik der Auslegung nationalen Rechts im Überschussbereich zu würdigen.

1. Rechtsprechung des EuGH In nunmehr gefestigter Rechtsprechung156 beantwortet der EuGH Fragen nach der Auslegung 55 europäischer Richtlinien auch dann, wenn der streitgegenständliche Fall außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie angesiedelt, aber eine Auslegung der Richtlinie infolge einer nationalen Erstreckung zur Entscheidung des Verfahrens vor dem mitgliedstaatlichem Gericht erforderlich ist. Der Gerichtshof überlässt die Frage, ob eine solche Auslegung erforderlich ist, grundsätzlich der Einschätzung durch das vorlegende Gericht und beschränkt sich auf eine Missbrauchskontrolle.157

_____ 152 Staudinger-Magnus, Art. 46b EGBGB Rn. 53; MünchKommBGB-Martiny, Art. 46b EGBGB Rn. 75. 153 Staudinger-Magnus, Art. 46b EGBGB Rn. 53; MünchKommBGB-Martiny, Art. 46b EGBGB Rn. 16 ff. Unklar Palandt-Thorn, Art. 46b EGBGB Rn. 3: Der sachliche Anwendungsbereich ergebe sich „allein aus der Richtlinie bzw. dem nationalen Umsetzungsakt“. 154 So BGH, ZIP 2009, 2004 Rn. 32; zuvor bereits BGH, NJW 2006, 762 Rn. 29; für Anwendung des Art. 34 EGBGB a.F. auch im Überschussbereich hingegen Pfeiffer, IPRax 2006, 238, 241. Allgemein zum Verhältnis von Art. 9 Rom-IVO und Art. 46b EGBGB Staudinger-Magnus, Art. 46b EGBGB Rn. 27. 155 Eingehend Habersack/Mayer, JZ 1999, 913 ff.; zur entsprechenden Problematik im Rahmen der §§ 1, 2 Abs. 1 GWB s. Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 37 f. 156 S. namentlich EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 88 ff. mit zahlreichen Nachweisen zur älteren Rechtsprechung; so auch die überwiegende Meinung in der Literatur, z.B. Heß, RabelsZ 66 (2002), 470, 484 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 198 ff.; Lutter, FS Heldrich, S. 577 ff.; Schnorbus, RabelsZ 65 (2001), 654, 693 ff.; Schön, JbFfSt 2001/2002, 29, 31 ff.; krit. demgegenüber neben Habersack/Mayer, JZ 1999, 913, 919 ff. insbes. Hakenberg, RabelsZ 66 (2002), 367, 378 f. und Grigoleit/Herresthal, JZ 2003, 118, 119. 157 Zu dieser Missbrauchskontrolle s. namentlich EuGH v. 10.12.2002 – Rs. C-153/00 Paul der Weduwe, Slg. 2002, I-11319.

Habersack/Mayer

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2. Teil: Allgemeiner Teil

2. Präzisierung der Fragestellung 56 Nach den bislang getroffenen Feststellungen gründet die Richtlinienorientierung der Auslegung

des nationalen Rechts im Überschussbereich allein auf nationalem Recht. In diesem Bereich wirkt die Richtlinie nicht durch richtlinienkonforme Auslegung als interpretatorische Vorrangregel; sie stellt vielmehr einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung dar (oben Rn. 37). Ob im Ergebnis eine einheitliche oder eine gespaltene Auslegung der nationalen Norm vorzunehmen ist, hängt seinerseits bisweilen von dem Ergebnis der Auslegung der Richtlinie durch den EuGH ab, da im Rahmen dieser Gesamtabwägung auch zu berücksichtigen ist, inwieweit sich die richtlinienkonforme Auslegung von der ursprünglichen Sachentscheidung des Gesetzgebers entfernt. Die für die Vorlageberechtigung und ggf. Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte entscheidende Frage lautet daher, ob eine Vorlage auch dann möglich ist, wenn die Richtlinie weder nach europäischem noch nach nationalem Recht unmittelbar anwendbar ist, die Richtlinie aber nach nationalem Recht einen Auslegungsgesichtspunkt innerhalb einer interpretatorischen Gesamtabwägung bildet und der Richtlinie innerhalb dieser Gesamtabwägung zwar Gewicht, aber kein Vorrang zukommt.

3. Vorlagemöglichkeit? 57 Versucht man die soeben formulierte Frage mit den vom EuGH entwickelten Kriterien zu beant-

worten, so zeigt sich, dass die Rechtsprechung hierzu keineswegs eindeutig ist, insbesondere die jüngst ergangenen Urteile des Gerichtshofs in Sachen Nolan158 und in Sachen Romeo159 vielmehr neuerlich Zweifel an einer Vorlageberechtigung deutscher Gerichte in Fällen überschießender Umsetzung begründen. Einerseits betont der EuGH in seiner Dzodzi-Rechtsprechung (oben Rn. 29) den Koopera58 tionscharakter des Verfahrens nach Art. 267 AEUV und gewährt damit den mitgliedstaatlichen Gerichten ein weites Vorlageermessen. Nach diesem Begründungsstrang sind Vorlagen deutscher Gerichte zulässig. Andererseits hat der Gerichtshof bislang davon Abstand genommen, die in Kleinwort Benson entwickelten Kriterien eines unmittelbaren und zwingenden Verweises des nationalen Rechts auf Unionsrecht160 aufzugeben. Bereits den von den Generalanwälten vorgebrachten Bedenken gegen ein Vorabentscheidungsverfahren, welches den Charakter eines Rechtsgutachtens hätte,161 begegnete der Gerichtshof durch Hinweis auf die Bindung der mitgliedstaatlichen Gerichte an das Ergebnis des Vorabentscheidungsverfahrens.162 Und in den Entscheidungen in Sachen Nolan und in Sachen Romeo weist der Gerichtshof die Vorlage als unzulässig zurück, weil der streitgegenständliche Sachverhalt jeweils außerhalb des Anwendungsbereiches der Richtlinie gelegen habe und das zur Anwendung berufene nationale Recht keinen unbedingten

_____ 158 EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-583/10 Nolan. 159 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-313/12 Romeo. 160 EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-346/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 16; krit. dazu Ackermann, in diesem Band, § 21 Rn. 37 ff. 161 Zusammenfassend GA Jacobs, SchlA v. 15.11.2001 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Tz. 61. 162 EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 92. Zu kurz greift daher der Ansatz von Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht, S. 201 ff. und S. 217 ff., wonach eine Bindungswirkung schon deshalb bestehe, weil das vorlegende Gericht an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH gebunden sei, und der EuGH die u.a. in Kleinwort-Benson und BIAO aufgestellten zusätzlichen Voraussetzungen aufgeben solle.

Habersack/Mayer

§ 14 Die überschießende Umsetzung von Richtlinien

325

und zwingenden Verweis auf die entsprechende Richtlinie enthalte.163 Betrachtet man diesen Begründungsstrang, so sind auch nach der Rechtsprechung des EuGH Vorlagen deutscher Gerichte bei überschießender Umsetzung von Richtlinien unzulässig. Die gegenteiligen Sachentscheidungen des EuGH beruhen dann einerseits auf einer Fehleinschätzung der nationalen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV und andererseits auf einer Fehleinschätzung des EuGH hinsichtlich der Wirkung und Verbindlichkeit seiner Urteile bei richtlinienorientierter Auslegung im Rahmen der überschießenden Umsetzung von Richtlinien.

VI. Ausblick Die mit der überschießenden Umsetzung von Richtlinien verbundenen Probleme gehören zu den 59 dogmatisch reizvollen und dabei gleichzeitig praxisrelevanten Methodenfragen unserer Tage. Der gegenwärtige Trend zu einer Ausdehnung der Grenzen richtlinienkonformer Auslegung164 und zu einer unmittelbaren Geltung der Grundfreiheiten auch zwischen Privaten165 nimmt dem Problem der überschießenden Umsetzung nichts von seiner Bedeutung. Im Gegenteil: Je weiter die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung sind und je unmittelbarer Unionsrecht innerhalb seines Anwendungsbereichs wirkt, desto schärfer stellt sich die Frage nach der mittelbaren Wirkung des Unionsrechts bei überschießender Umsetzung.

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_____ 163 So EuGH v. 18.10.2012 – Rs. C-583/10 Nolan, Rn. 47, 51 und EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-313/12 Romeo, Rn. 23. Zur Reaktion des – überrascht wirkenden – vorlegenden Court of Appeal zur Entscheidung in Sachen Nolan s. Court of Appeal v. 4.2.2014 [2014] EWCA Civ 7. 164 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116; BGHZ 179, 27 Rn. 19 ff.; s.a. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 33 ff. 165 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 30 ff. Habersack/Mayer

326

2. Teil: Allgemeiner Teil

§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien 2. Teil: Allgemeiner Teil

Christian Hofmann § 15 Die Vorwirkung von Richtlinien Hofmann Literatur Thomas v. Danwitz, Rechtswirkungen von Richtlinien in der neueren Rechtsprechung des EuGH, JZ 2007, 697–706; Ulrich Ehricke, Vorwirkungen von EU-Richtlinien auf nationale Gesetzgebungsvorhaben, ZIP 2001, 1311–1317; ders., Die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts vor Ende der Umsetzungsfrist, EuZW 1999, 553–559; Martin Franzen, Anmerkung zu EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler, JZ 2007, 191–194; Vera I. Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtinien (2006); Christoph Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung (2003); Christian Hofmann, Die zeitliche Dimension der richtlinienkonformen Auslegung, ZIP 2006, 2113–2118; Abbo Junker/Oliver Aldea, Augenmaß im Europäischen Arbeitsrecht – Die Urteile Adeneler und Navas, EuZW 2007, 13–17; Jürgen Kühling, Vorwirkungen von EG-Richtlinien bei der Anwendung nationalen Rechts – Interpretationsfreiheit für Judikative und Exekutive?, DVBl. 2006, 857–866; Jörg Neuner, Die Vorwirkung von Gesetzen im Privatrecht, in: Johannes Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung – Beiträge für Claus-Wilhelm Canaris zum 65. Geburtstag (2002), S. 83–112; Anna v. Oettingen/David Rabenschlag, Europäische Richtlinien und allgemeiner Gleichheitssatz im innerstaatlichen Recht – Anmerkungen anlässlich des Mangold-Urteils des EuGH, ZEuS 2006, 363–380; Anne Röthel, Vorwirkung von Richtlinien: viel Lärm um Selbstverständliches, ZEuP 2009, 34–55; Utz Schliesky, Die Vorwirkung von gemeinschaftsrechtlichen Richtlinien, DVBl. 2003, 631–641; Wolfgang Weiß, Zur Wirkung von Richtlinien vor Ablauf der Umsetzungsfrist, DVBl. 1998, 568–575; Hinnerk Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote im deutschen Arbeitsrecht (2008). Rechtsprechung EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 InterEnvironnement Wallonie, Slg. 1997, I-1744; EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057; EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, Slg. 2006, I-8339; EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365; EuGH v. 24.3.2011, Rs. C-194/10 Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding, Slg. 2011, I-39; EuGH v. 27.6.2013 – Rs. C-457/11 bis C-460/11 Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al.; BGHZ 138, 55–66; BGH, NJW 2012, 2422; BVerwGE 100, 370–388; BVerwGE 110, 302–320; KG, WM 2011, 493 = BeckRS 2010, 31105.

I. II.

III.

Übersicht Einleitung | 1–2 Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien | 3–6 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist | 3 2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung | 4–5 3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge | 6 Das sog. Frustrationsverbot | 7–25 1. Die Rechtsprechung des EuGH | 8–14 a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie | 8–9 b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold, Stichting und Abt | 10–15 2. Keine generelle Sperrwirkung | 16–17

Hofmann

3.

IV.

Rechtsfolgen des Frustrationsverbots | 18–19 4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien | 20–25 Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts | 26–58 1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist | 27–28 2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden | 29–38 a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler | 30–35 b) Rechtsprechung deutscher Gerichte | 36–38 3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung | 39–58 a) Meinungsstand | 39–43

327

§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

b) c) d)

Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung | 44–48 Nationale Vorgaben | 49–50 Europäische Vorgaben | 51–58

V.

Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung | 59–64

I. Einleitung Der Begriff der „Vorwirkung von Richtlinien“ steht für die Rechtswirkungen, die eine Richtlinie 1 im Stadium zwischen Inkrafttreten und Ablauf der Umsetzungsfrist auf das nationale Recht entfaltet.1 Es geht dabei um die Reichweite der Verpflichtung nationaler Stellen, die Bestimmungen der Richtlinie während des Laufs der Umsetzungsfrist zu beachten. Die wesentlichen Vorgaben finden sich in den Entscheidungen des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler, ergänzend treten ATRAL und Stichting Zuid-Hollandse Milienfederatie hinzu. Ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen zur Wirkung von Richtlinien im nationalen 2 Recht (dazu II.) soll das aus der EuGH-Rechtsprechung entnommene sog. Frustrationsverbot erläutert werden (unter III.). Darin erschöpft sich die Vorwirkungsproblematik nicht, denn einer in Kraft getretenen Richtlinie können vor Ablauf ihrer Umsetzungsfrist weitere Vorgaben für alle nationalen Stellen entspringen, vor allem für die Rechtsprechung, gerade, aber nicht nur in den von Richterrecht geprägten Bereichen. Hierzu existieren neben der Rechsprechung des EuGH auch Urteile deutscher Gerichte (unter IV.). Die nationale Rechtsprechung bildet auch die Grundlage für die letzte Frage, die nach der Verpflichtung der Verwaltung, bei der Anwendung nationalen Rechts die Gefahr einer möglichen Vereitelung der Richtlinienziele berücksichtigen zu müssen (unter V.).

II. Allgemeine Grundsätze zur Wirkung von EU-Richtlinien 1. Umsetzungspflicht nach Ablauf der Umsetzungsfrist Im Unterschied zu EU-Verordnungen sind EU-Richtlinien im Sinne von Art. 288 Abs. 3 AEUV/249 3 Abs. 3 EG nur hinsichtlich ihrer Zielvorgaben verbindlich, während die Modalitäten der Umsetzung den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben.2 Für die Einpassung in das nationale Recht steht den Mitgliedstaaten die in der Richtlinie angeordnete Umsetzungsfrist zur Verfügung.3 Ist diese Frist abgelaufen, müssen nicht nur die Vorgaben der Richtlinie im nationalen Recht umgesetzt sein. Darüber hinaus dürfen die Umsetzungsvorschriften sowie das gesamte nationale Recht nur noch in einer richtlinienkonformen Weise verändert werden.4 Für die Rechtsprechung bedeutet der Ablauf der Umsetzungsfrist, dass sie das nationale Recht, das in den Anwendungsbereich einer Richtlinie fällt, im Lichte von Wortlaut und Zweck der Richtlinie auslegen muss,5 und zwar

_____ 1 Ähnlich Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633. Zur Wirkung von Richtlinien im Vorfeld des EU-Beitritts eines Staates: Ernst, in diesem Band, § 28 Rn. 16 f. 2 Statt aller Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 124. 3 EuGH v. 22.9.1976 – Rs. 10/76 Kommission ./. Italien, Slg. 1976, 1359 Rn. 11 f.; EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 18. 4 Vgl. Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 130. 5 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/ 88 Nijman, Slg. 1989, 3543 Rn. 6; aus der deutschen Rspr. vgl. BGH, NJW 1993, 3139. Einzelheiten bei W.-H. Roth/ Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 16. Hofmann

328

2. Teil: Allgemeiner Teil

auch dann, wenn es unverändert schon vor Erlass der Richtlinie bestand.6 Gleiches gilt für die Rechtsanwendung durch die nationale Verwaltung.7

2. Graduelle Entfaltung von Rechtswirkung 4 Die Frage nach der Vorwirkung von Richtlinien ist zugleich die Frage nach dem zeitlichen Be-

ginn der normativen Bindungswirkung einer Richtlinie. Durch die Umsetzungsfrist unterscheidet sich die Richtlinie nicht nur von der Verordnung, sondern auch von nationalen Gesetzen, die zugleich mit Inkrafttreten ihre vollen Rechtswirkungen entfalten.8 Richtlinien hingegen treten gemäß Art. 297 AEUV/254 EG nach den dort vorgeschriebenen 5 Verfahren in Kraft, schieben jedoch ihre wesentlichen Rechtswirkungen bis zum Zeitpunkt des Ablaufs der Umsetzungsfrist hinaus.9 Zu nennen ist insbesondere die nach Ablauf der Umsetzungsfrist mögliche unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie.10 Der Einzelne kann sich gegenüber dem Staat auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen, wenn diese inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen und die Richtlinie nicht oder nur unzulänglich umgesetzt wurde.11 Demgegenüber ist es den staatlichen Stellen untersagt, die Bestimmungen einer nicht umgesetzten Richtlinie zulasten des Einzelnen anzuwenden, unabhängig davon, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist.12 Zugleich ist auch die Phase vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht frei von Rechtswirkungen.13 Das mit der Richtlinie verfolgte Harmonisierungsziel ist bereits endgültig konkretisiert und der Umsetzungsbefehl an die Mitgliedstaaten ergangen.14 Die Richtlinie ist daher schon in dieser Phase hinsichtlich ihrer Ziele verbindlich und wird insoweit Bestandteil der nationalen Rechtsordnung.15 Für Richtlinien gilt damit eine graduelle Wirkungsintensität: die erste Stufe beginnt mit Inkrafttreten, die zweite mit Ablauf der Umsetzungsfrist.16

_____ 6 EuGH 13.11.1990 – Rs. 106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; dazu ausführlich etwa Craig/de Búrca, EU Law – Text, Cases and Materials (3. Aufl. 2003), S. 213–219. S.a. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 15. 7 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Constanzo Spa, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-224/97 Ciola ./. Land Voralberg, Slg. 1999, I-2517 Rn. 30; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 648; Grabitz/Hilf/Nettesheimv. Bogdandy/Schill, Art. 4 EUV Rn. 62. 8 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 635; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 86; vgl. auch Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645; Sack, WRP 1998, 241, 243. 9 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 118; Weiß, DVBl. 1998, 568, 570; zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien nach Ablauf der Umsetzungsfrist vgl. auch BVerfGE 75, 223, 234 ff.; vgl. auch EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45, wonach die Mitgliedstaaten innerhalb der Umsetzungsfrist ihre Handlungsfreiheit behalten; zu Zwangsgeldern wegen Nichtumsetzung EuGH v. 4.7.2000 – Rs. C-387/97 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2000, I-5047 Rn. 79–99; GA Jacobs, SchlA v. 25.6.1992 – Rs. C-156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, Slg. 1992, I-5578 Tz. 13. 10 Dazu allgemein EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45; EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 46; EuGH v. 10.11.1992 – Rs. C-156/91 Hansa Fleisch Ernst Mundt, Slg. 1992, I-5567 Rn. 19 f.; ausführlich Calliess/Ruffert-Calliess/Puttler/Kahl, Art. 4 EUV Rn. 91–95; Bach, JZ 1990, 1108, 1110; Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, Rn. 149–151; Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtlinien, S. 130 f. 11 EuGH v. 19.1.1982 – Rs. 8/81 Becker, Slg. 1982, 53 Rn. 25; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 7; EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45. 12 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 15 f.; Schwarze-Biervert, Art. 288 AEUV Rn. 30. 13 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 41. 14 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1313. 15 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 638. 16 Vgl. dazu Schliesky, DVBl. 2003, 631, 636; GA Jacobs, SchlA v. 24.4.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1992, I-5578, Tz. 30, 39. Hofmann

§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

329

3. Keine Bindungswirkung durch Richtlinienvorschläge Obgleich sich Inhalt und Ziele einer Richtlinie mitunter schon Jahre vor ihrem Erlass in den 6 Richtlinienvorschlägen der Kommission abzeichnen, geht von solchen Vorschlägen keine Bindungswirkung für die Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten aus. Vor Erlass der Richtlinie fehlt es an einem rechtswirksamen Legislativakt im Sinne von Art. 288 AEUV/249 EG. Den Kommissionsvorschlägen fehlt es an gesetzgeberischer Legitimation,17 und es ist in diesem Stadium noch unklar, ob und mit welchem Inhalt ein Rechtsakt der Union zustande kommen wird.18

III. Das sog. Frustrationsverbot Ist die Richtlinie hingegen in Kraft getreten, existiert ein Rechtsakt der Union, aus dem sich der 7 Umsetzungsbefehl an den nationalen Gesetzgeber ergibt. Da die Richtlinienziele erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist im nationalen Recht gelten müssen, darf der Gesetzgeber zunächst untätig bleiben, also richtlinienwidriges altes Recht unverändert lassen, andererseits jedoch auch darauf verzichten, die Umsetzungsfrist (voll) auszuschöpfen, und schon vor Ablauf die nationalen Vorschriften an die Richtlinienziele anpassen. Problematisch ist ein dritter Fall, wonach der Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist tätig wird und Vorschriften erlässt, die mit den Richtlinienzielen nicht zu vereinbaren sind. Diese Konstellation betrifft die Frage nach der gesetzgeberischen Freiheit in der Umsetzungsphase.

1. Die Rechtsprechung des EuGH a) Die Vorgaben in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie Ausgangspunkt zur Beurteilung der gesetzgeberischen Spielräume während der Umsetzungs- 8 phase ist die EuGH-Entscheidung Inter-Environnement Wallonie.19 In dieser ging es um ein belgisches Gesetz, das in der Umsetzungsphase erlassen worden war und mit den Umweltzielen der umzusetzenden Richtlinie nicht im Einklang stand. Der EuGH kam zu dem Schluss, dass die Mitgliedstaaten aus (den heutigen) Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV, Art. 288 Abs. 3 AEUV und aus der Richtlinie verpflichtet seien, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um das durch die Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf der Umsetzungsfrist zu erreichen. Daraus ergebe sich, dass während des Laufs der Unsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen werden dürften, die geeignet seien, das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen.20 Dem nationalen

_____ 17 Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Gronen, Die „Vorwirkung“ von Richtlinien, S. 21; vgl. auch Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 64, im Zusammenhang mit der Frage nach einer Heranziehung von Regelungsentwürfen für eine systematische Auslegung. 18 Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 28; Schliesky, DVBl. 2003, 631, 633; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 110 f.; ders., in diesem Band, § 12 Rn. 20; Meßerschmidt, ZG 1993, 11 f.; i.Erg. auch Hilf, EuR 1993, 1, 7; Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 24; nach dem Maß der Konkretisierung des Vorschlags einschränkend Furrer, Die Sperrwirkung des sekundären Gemeinschaftsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen (1994), S. 141 f. 19 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411. 20 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40, 44 f.; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477, Rn. 66; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 117–121; so auch schon GA Jacobs, SchlA v. 24.4.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Gericht obliege die Prüfung, ob die Ziele der Richtlinie durch die gesetzgeberischen Maßnahmen ernstlich in Frage gestellt würden. Es habe insbesondere zu prüfen, ob die nationalen Vorschriften eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellten, ihre Geltungsdauer zu beachten und die konkreten Folgen einer Anwendung dieser Vorschriften für die Ziele der Richtlinie zu untersuchen. Stelle die gesetzliche Regelung eine vollständige und endgültige Umsetzung dar und stimme sie mit den Vorgaben der Richtlinie nicht überein, sei zu vermuten, dass das vorgegebene Ziel nicht fristgerecht erreicht werde, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht mehr möglich sei. Demgegenüber stelle der Erlass vorläufiger Vorschriften oder die schrittweise Umsetzung die Ziele der Richtlinie nicht zwangsläufig in Frage.21 9 Der EuGH versteht die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten daher nicht nur im Sinne einer Verpflichtung zu fristgemäßer Umsetzung des Richtlinienziels. Das ist selbstverständlich und nur eine Mindestanforderung. Hinzu tritt vielmehr das Verbot, durch zwischenzeitliche Maßnahmen die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu gefährden. In Anlehnung an das aus Art. 18 WVK22 resultierende Prinzip wird dieser Grundsatz verbreitet als „Frustrationsverbot“ bezeichnet.23

b) Die Vorgaben in den Rechtssachen ATRAL, Mangold, Stichting und Abt 10 Diese Grundsätze wurden in weiteren Entscheidungen bestätigt, zunächst in der Rechtssache

ATRAL.24 Der Kläger hatte Alarmsysteme in Belgien in den Verkehr gebracht und hierbei die Vorgaben der einschlägigen Richtlinie 1999/5/EG25 erfüllt. Die Umsetzungsfrist war jedoch noch nicht abgelaufen, und der belgische Staat hatte eine Verordnung erlassen, die das Inverkehrbringen der Alarmsysteme einem Genehmigungsverfahren unterwarf, was mit den Vorgaben der Richtlinie nicht vereinbar war. Der EuGH entschied, der belgische Staat hätte während des Laufs der Umsetzungsfrist der Richtlinie einen Rechtsakt, der den Vorgaben der Richtlinie zuwider ein Genehmigungsverfahren einführte, nicht erlassen dürfen, da hierdurch die Erreichung der Richtlinienziele ernstlich gefährdet sei.26 11 Die Entscheidung in der Rechtssache Mangold27 betraf eine Altersregelung im deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetz. Der EuGH bestätigte wiederum seine Kernaussage in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, wonach die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen dürfen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich in Frage zu stellen. Dabei wurde erstmals klargestellt, dass dies un-

_____ Slg. 1997, I-7411 Tz. 30, 39; vgl. dazu die Berichterstattung und Folgerungen von Van Calster, E.L.Rev. 23 (1998), 385, 389; zustimmend Schwarze-Biervert, Art. 288 AEUV Rn. 14; Lenz/Borchardt-Hetmeier, Art. 288 AEUV Rn. 11. 21 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-1744, 1748 Rn. 46–49. 22 Vgl. dazu Weiß, DVBl. 1998, 568, 571. 23 Streinz-Streinz, Art. 4 EUV Rn. 69; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 130; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645 f.; v. Danwitz, JZ 2007, 697, 700; Streinz, Europarecht, Rn. 505; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 372; Wollenweber, Das „Mangold“-Urteil und die unmittelbare Wirkung gemeinschaftsrechtlicher Diskriminierungsverbote, S. 93 f. Gegen jede Art von Vorwirkung spricht sich hingegen Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f., aus. 24 EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431. 25 Richtlinie 1999/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 9.3.1999 über Funkanlagen und Telekommunikationseinrichtungen und die gegenseitige Anerkennung ihrer Konformität, ABl. 1999 L 91/10. 26 EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431 Rn. 57–60. 27 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981. Das Urteil hat in der Literatur vor allem wegen seiner arbeitsrechtlichen Konsequenzen Beachtung gefunden, siehe etwa Thüsing, ZIP 2005, 2149–2151; E. Müller, ArbRB 2006, 4; Strybny, BB 2005, 2753 f.; Annuß, BB 2006, 325–327; Nicolai, DB 2005, 2641; Koenigs, DB 2006, 49 f.; Gas, EuZW 2005, 737; Reich, EuZW 2006, 20–22; Brock/Windeln, EWiR 2005, 869; Streinz, JuS 2006, 357–361; Bauer/ Arnold, NJW 2006, 6–12. Hofmann

§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

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abhängig davon gilt, ob die betroffene, nach Inkrafttreten der Richtlinie erlassene nationale Regelung die Umsetzung der Richtlinie bezweckt. Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn die gesetzliche Regelung nur wenige Wochen nach Ablauf der Umsetzungsfrist außer Kraft tritt.28 Entscheidend ist die Wirkung der Vorschrift auf die Zeit nach Ablauf der Umsetzugsfrist, nicht ihre Weitergeltung. Das Frustrationsverbot begründete der EuGH in Mangold einerseits mit einer Besonderheit 12 des Einzelfalls, die darin bestand, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Verlängerung der Umsetzungsfrist zugestanden bekommen hatte, dabei aber zur jährlichen Berichterstattung über die zur Erreichung der Richtlinienziele unternommenen Maßnahmen verpflichtet wurde. Ein solches Zugeständnis impliziere, dass der Mitgliedstaat Maßnahmen ergreife, um die nationalen Vorschriften dem in der Richtlinie vorgeschriebenen Ergebnis anzunähern. Wäre es dem Mitgliedstaat gestattet, in dieser Zeit Maßnahmen zu erlassen, die mit den Zielen der Richtlinie unvereinbar sind, wäre der Verpflichtung jede Wirksamkeit genommen.29 Darüber hinaus stützte der EuGH das Verbot auf den Umstand, dass einige der von dem Übergangsgesetz Betroffenen auch nach Auslaufen des Gesetzes nicht mehr von den dann geltenden arbeitnehmerfreundlicheren Regelungen hätten profitieren können.30 Mit diesem zweiten Ansatz schlug der EuGH die Brücke zu seiner Entscheidung in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie. Der EuGH lässt auch Übergangsregelungen nicht gelten, wenn sie vollendete Tatsachen schaffen und sich hierdurch auf die von der Richtlinie Geschützten nachteilig auswirken. Dies entspricht dem Verbot in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie, die Ziele der Richtlinie ernstlich in Frage zu stellen, und stellt einen typischen Anwendungsfall dieser Grundsätze dar.31 Hinzu kam, dass die nationale Maßnahme nach Auffassung des EuGH gegen einen – vom Gericht in Mangold 13 erstmals postulierten, danach bestätigten und nach wie vor höchst umstrittenen32 – allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, das Verbot der Altersdiskriminierung, verstieß. Zu diesem Verstoß stellte der EuGH fest, die Wahrung des Grundsatzes könne nicht vom Ablauf der Umsetzungsfrist abhängen. Das ausdrückliche Gebot an die nationalen Gerichte, keine entgegenstehende nationale Bestimmung anzuwenden, selbst wenn die Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen ist, bezog der Gerichtshof auch nur auf diesen Verstoß; gleichwohl hätte auch die vom Gerichtshof festgestellte Gefährdung der Richtlinienziele eine derartige Verpflichtung der nationalen Gerichte zu begründen vermocht, s. sogleich (Rn. 18 f.). Schließlich wurden diese Grundsätze in der Entscheidung Stichting Zuid-Hollandse Milieufederatie33 auf eine 14 Sonderkonstellation angewandt. Die betroffene Richtlinie gestattete, die nationalen Vorschriften für Pflanzenschutzmittel über einen längeren Zeitraum schrittweise an die Richtlinienvorgaben heranzuführen. Der EuGH strich die Parallele zur Vorwirkung von Richtlinien heraus und entschied, dass auch während dieses Übergangszeitraums die Ziele der Richtlinie zu beachten seien. Der nationale Gesetzgeber sei daran gehindert, während des Übergangszeitraums Vorschriften zu erlassen, mit denen die Richtlinienziele ernsthaft in Frage gestellt werden könnten.34 In der Entscheidung Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding äußerte sich der EuGH nicht zu mit der Vorwir- 15 kungsproblematik verbundenen Sachfragen, sondern zur Zulässigkeit von Vorlagefragen. Er wies die Vorlagefrage zur Vorwirkungsthematik als unzulässig ab, da die vorgelegte Frage „für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung offensichtlich nicht erheblich“ war.35 Das Verfahren betraf die Aktionärsrechte-Richt-

_____ 28 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 67, 70. 29 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 70–72. 30 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 73. 31 Röthel, ZEuP 2009, 34, 39. 32 Bestätigt durch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 21. Zur Kritik siehe etwa Preis, NZA 2006, 401–410; Rebhahn, in diesem Band, § 18 Rn. 67. 33 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, Slg. 2006, I-8339. 34 EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-138/05 Stichting Zuid Hollandse Milieufederatie, Slg. 2006, I-8339 Rn. 42–48. 35 EuGH v. 24.3.2011, Rs. C-194/10 Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding, Slg. I-39 Rn. 32. Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

linie 2007/36/EG, in der Mindestfristen für die Einberufung der Hauptversammlung angeordnet werden. Das LG München hatte die Frage vorgelegt,36 ob der deutsche Gesetzgeber gehindert gewesen war, während der Umsetzungsfrist dieser Richtlinie ein Gesetz zu erlassen, das Fristen zur Einberufung der Hauptversammlung vorsah, die hinter den Vorgaben der Richtlinie 2007/36/EG zurückblieben.37 Diese Vorlagefrage war jedoch rein theoretischer Natur, denn im entscheidungserheblichen Fall war eine Einberufungsfrist gewählt worden, die den Vorgaben der Richtlinie entsprach.

2. Keine generelle Sperrwirkung 16 Diese mit Inter-Environnement Wallonie begründete und durch weitere Urteile bestätigte und

verfeinerte Rechtsprechung des EuGH hat zu Recht breite Zustimmung gefunden.38 Die Vorwirkungsproblematik führt zum Konflikt zweier Grundsätze des Richtlinienrechts: Einerseits behält der nationale Gesetzgeber während des Laufs der Umsetzungsfrist seine Souveränität im Grundsatz bei, andererseits sind die Mitgliedstaaten gehalten, dem Richtlinienziel mit Ablauf der Umsetzungsfrist auf nationaler Ebene Geltung zu verschaffen. Dieser letzte Grundsatz ist zur Realisierung der Ziele der Union unentbehrlich und setzt sich daher durch. Zugleich gelingt es dem EuGH, die Interessen des nationalen Gesetzgebers nur schonend und im erforderlichen Maße einzuschränken. Ist eine Gefährdung der Richtlinienziele nach Fristablauf nicht zu befürchten, ist der nationale Gesetzgeber auch während des Laufs der Umsetzungsfrist nicht gehindert, „richtlinienwidrige“ Vorschriften zu erlassen. Damit beschränkt die Ansicht, die aus der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten nach Art. 4 17 Abs. 3 UAbs. 2 EUV eine generelle Sperrwirkung für richtlinienwidriges nationales Recht in der Umsetzungsphase ableitet,39 die Mitgliedstaaten über das gebotene Maß hinaus. Da eine richtlinienkonforme Rechtslage erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist hergestellt sein muss, trägt eine umfassende Sperrwirkung der Zweistufigkeit der Richtlinien-Rechtssetzung nicht ausreichend Rechnung.40

_____ 36 LG München I, NZG 2010, 749. 37 Der Gesetzgeber hatte im Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmenpakets zur Stabilisierung des Finanzmarktes (Finanzmarktstabilisierungsgesetz – FMStG), BGBl I 2008, 1982, solche kurzen Fristen zur Einberufung der Hauptversammlung vorgesehen. Das FMStG trat einen Tag vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Richtlinie außer Kraft. Hintergrund waren die von der Finanzkrise in den Jahren 2008–2009 ausgelösten Bankenrettungen in Deutschland. Zur Rettung kollabierender Finanzinstitute war über Nacht das Krisengesetz FMStG gezimmert worden, auf dessen Grundlage die Hypo Real Estate (HRE) verstaatlicht wurde, indem ihre Aktionäre durch eine Kapitalerhöhung erst zu Minderheitsaktionären mit einer Kapitalbeteiligung von zusammen unter 5 % degradiert und anschließend durch ein Squeeze out aus der Gesellschaft zwangsentfernt wurden. Neben etlichen grundlegenden verfassungsrechtlichen Fragen drängte sich die Problematik auf, wie ein solches Vorgehen mit der Kapitalrichtlinie vereinbar sein sollte. Zu dieser Frage und an der Vereinbarkeit zumindest zweifelnd Böckenförde, NJW 2009, 2484; Hopt/ Fleckner/Kumpan/Steffek, WM 2009, 821, 826; Wieneke/Fett, NZG 2009, 8, 11; Spindler, DStR 2008, 2268, 2273 f.; Ziemons, DB 2008, 2635, 2637 f.; Noack, AG 2009, 227, 230; Binder, WM 2008, 2340, 2346; Gurlit, NZG 2009, 601 f. Diese Frage blieb jedoch von den deutschen Instanzgerichten unerwähnt und daher unbeantwortet, siehe OLG München, WM 2011, 2048 = NZG 2011, 1227; LG München I, WM 2012, 1543 = BeckRS 2012, 17121. 38 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 24; Streinz-Streinz, Art. 4 EUV Rn. 69; Grabitz/Hilf/NettesheimNettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 130; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 645 f. 39 Pieper, DVBl. 1990, 684, 685; vgl. insoweit auch GA Mancini, SchlA v. 7.10.1986 – Rs. 30/85 Teuling, Slg. 1987, 2507 Tz. 7. 40 In diesem Sinne Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 130; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133; Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 23 f.; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 371 f.; Gronen, Die „Vorwirkung“ von EG-Richtlinien, S. 97–99; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 481 f.; Kühling, DVBl. 2006, 857, 859. Hofmann

§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

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3. Rechtsfolgen des Frustrationsverbots Zur Durchsetzung der Richtlinienziele sind alle nationalen Stellen berufen, nicht nur das mit der 18 Umsetzung unmittelbar befasste Organ. Erlässt der Gesetzgeber Vorschriften, die das Richtlinienziel ernsthaft in Frage stellen, sind die nationalen Behörden und Gerichte gehalten, einen möglichst richtlinienkonformen Zustand herzustellen. Für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ist dies allgemein anerkannt.41 Unter den vom EuGH vorgegebenen Voraussetzungen kann jedoch auch für die Zeit davor nichts anderes gelten. Dagegen lässt sich nicht einwenden, die richtlinienkonforme Auslegung in diesem Stadium verstoße gegen die Gewaltenteilung. Der Gesetzgeber hat sein Ermessen bereits ausgeübt (wenn auch, wie sich jetzt erweist, fehlerhaft);42 in dieser Situation muss sich das Prinzip der Unionstreue gegenüber dem Gewaltenteilungsgrundsatz durchsetzen. Somit gilt in konsequenter Umsetzung der Vorgaben des EuGH eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Gerichte und Behörden erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts verpflichtet sind. Vorauszugehen hat stets eine sorgfältige Prüfung, ob die Richtlinienziele tatsächlich ernstlich in Frage gestellt werden. Dabei ist zu beachten, dass sich der EuGH gerade nicht gegen jede richtlinienwidrige nationale Vorschrift in der Übergangsperiode ausspricht. Unbedenklich sind daher schrittweise Umsetzungen, etwa erste unzureichende Maßnahmen, sofern weitere Teilumsetzungen noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist erfolgen und stufenweise auf das angestrebte Endziel hingearbeitet wird.43 Ob eine Regelung, die mit Ablauf der Umsetzungsfrist automatisch außer Kraft tritt, nach 19 diesen Grundsätzen zulässig ist, kann nicht pauschal beantwortet werden.44 Einerseits entfaltet sie für Neufälle keine Rechtswirkungen mehr; andererseits mögen Altfälle Bestandsschutz genießen oder irreversible Zustände schaffen und somit die richtlinienwidrigen Wirkungen auch in die Phase nach Ablauf der Umsetzungsfrist hineintragen, insbesondere wenn sie quantitativ oder qualitativ ins Gewicht fallen. Neben dem Beispiel in der Rechtssache Mangold ist etwa an Genehmigungen zu denken, die auch nach Außerkrafttreten der zugrunde liegenden nationalen Normen Bestand haben und deren richtlinienwidrige Folgen daher nachwirken. Eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele ist zugleich nur bei einer größeren Breitenwirkung solcher Genehmigungen zu befürchten. Davon ist etwa bei einem Planfeststellungsverfahren auszugehen, wenn wesentliche Naturbelange irreversibel beeinträchtigt werden, so dass die naturschützenden Ziele einer Richtlinie auch dann unterlaufen werden, wenn die nationalen Vorgaben mit Ablauf der Umsetzungsfrist an die Richtlinienziele angeglichen werden.45

_____ 41 Dezidiert EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 47 f.; EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33; EuGH v. 29.4.1999 – Rs. C-224/97 Ciola ./. Land Voralberg, Slg. 1999, I-2517 Rn. 30; Klein, FS Everling, Bd. I (1995), S. 648; Grabitz/Hilf/Nettesheim-v. Bogdandy/Schill, Art. 4 EUV Rn. 62. 42 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 84. 43 Ehricke, ZIP 2001, 1311, 1314. 44 Die somit erforderliche Einzelfallentscheidung kann sich an den Vorgaben des EuGH in der Rechtssache InterEnvironnement Wallonie ausrichten. Während eine vorläufige und stufenweise Durchsetzung der Richtlinienziele die mangelnde Übereinstimmung nationaler Übergangsvorschriften mit der Richtlinie nicht zwangsläufig begründe, sollen Vorschriften, die sich als eine endgültige und vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, vermuten lassen, dass die Richtlinienziele nicht fristgerecht erreicht werden, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht möglich ist, vgl. EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 48 f. 45 Dazu die noch unten Rn. 61 ff., anzusprechenden Urteile BVerwGE 100, 370; BVerwGE 107, 1; BVerwGE 110, 302, wobei es dort nicht um die Anwendung während der Sperrfrist erlassenen, sondern älteren nationalen Rechts ging.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

4. Keine Auswirkungen auf die Horizontalwirkung von Richtlinien 20 Umstritten ist, wie sich die Vorwirkung auf das Horizontalverhältnis auswirkt. Einige Stimmen

in der Literatur interpretieren das Mangold-Urteil dahin, dass der EuGH eine unmittelbare Horizontalwirkung anerkannt habe und somit von seiner bisherigen Dogmatik für die Phase der Umsetzungsfrist abgekehrt sei.46 Außerhalb der Vorwirkungsfälle beschränkt der EuGH die unmittelbare Anwendung von Richtlinien in ständiger Rechtsprechung auf das Verhältnis von Staat und Bürger, so dass eine horizontale Drittwirkung ausscheidet.47 Im jüngst ergangenen Urteil Abt et al. gegen Hypo Real Estate Holding gab sich der EuGH bedeckt und ließ offen, ob die Vorwirkungsgrundsätze Horizontalwirkung entfalten können.48 Im Mangold-Urteil hatte der EuGH im Ergebnis einem Arbeitgeber untersagt, sich auf die 21 Vorschriften einer nationalen Norm zu stützen, wenn hierdurch für einen Arbeitnehmer ein Zustand entstehen würde, der die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage stellt. Jedenfalls rein faktisch war daher das Verhältnis privater Rechtssubjekte von der Anwendung der Vorwirkungsgrundsätze betroffen. Der EuGH hatte dieses Ergebnis jedoch, wie gezeigt (oben Rn. 13) auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts gestützt. Daher wird dem Urteil die Aussagekraft zur Horizontalwirkung von Richtlinien ganz überwiegend abgesprochen.49 Unabhängig davon bietet die Diskussion Anlass zu einer Stellungnahme zu der Frage, welche Wirkungen sich aus dem Frustrationsverbot für das horizontale Verhältnis Privater ergeben können. Anders formuliert: Können die Grundsätze zur Vorwirkung von Richtlinien dazu führen, dass es einem Privatrechtssubjekt wie in der Rechtssache Mangold untersagt ist, sich zulasten eines anderen Privatrechtssubjekts auf nationale Vorschriften zu berufen? Die Parallelen dieser Fragestellung zur allgemein anerkannten Horizontalwirkung richtli22 nienkonformer Auslegung sind bestechend.50 Aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung ergibt sich zwar nur die generelle Vorgabe an die Träger hoheitlicher Gewalt, das nationale Recht in Übereinstimmung mit den Richtlinienvorgaben zu bringen, hingegen aber nicht ausdrücklich die Verpflichtung, eine nationale Norm unangewendet zu lassen.51 Dieses Ergebnis kann sich jedoch aus einer Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden nationalen Grundsätze ergeben, wenn diese dem Richter die Möglichkeit an die Hand geben, die Richtlinienkonformität des nationalen Rechts dadurch zu erreichen, dass eine den Zielen entgegenstehende nationale Bestimmung unangewendet bleibt.52

_____ 46 So etwa Hailbronner, NZA 2006, 811, 814; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168; Preis, NZA 2006, 401, 404; Giesen, SAE 2006, 45, 50; Thüsing, ZIP 2005, 2149, 2150. S.a. GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. I-9981 Tz. 106–111. 47 Jüngst bestätigt in EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 46. Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien vgl. die Nachweise in Fn. 10. 48 EuGH v. 24.3.2011 – Rs. C-194/10 Abt et al gegen Hypo Real Estate Holding, Slg. 2011, I-39 Rn. 35: „Selbst wenn das Urteil Inter-Environnement Wallonie auf einen Rechtsstreit zwischen Privaten übertragbar sein sollte, ist nicht ersichtlich, dass das Ausgangsverfahren davon betroffen sein könnte (…)“. Siehe auch LG Berlin, NJW-RR 2011, 352, 353, mit der Behauptung, eine Anwendung der Grundsätze der Zahlungsdienste-Richtlinie in der Umsetzungsphase führe zu einer Horizontalwirkung im Verhältnis Privater zueinander, deren Zulässigkeit zweifelhaft sei. Dagegen s. u. Rn. 23–25. 49 Callies/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 57, Fn. 191; Röthel, ZEuP 2009, 34, 42; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 168; Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union (10. Aufl. 2013), § 6 Rn. 31; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 377 f.; Reich, EuZW 2006, 20, 21; Giesen, SAE 2006, 45, 51; vgl. auch Kühling, DVBl. 2006, 857, 860. 50 Dazu W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 13 f. 51 Ein derartiges Verbot ergibt sich nur bei Verstößen gegen Primärrecht, siehe EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 53; grundl. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 9. 52 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116. Zu den Möglichkeiten der deutschen Gerichte BGHZ 179, 27, 34 f. – Quelle: „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung durch teleologische

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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

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Diese Grundsätze gelten auch in der Umsetzungsphase. Der EuGH hat in der Rechtssache 23 Adeneler entschieden, dass ein unionsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung nationalen Rechts auch in der Umsetzungsphase existiert (näher sogleich Rn. 30 ff.).53 Gefährdet eine nationale Norm die Ziele der Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist, kann dies in konsequenter Fortführung der Grundsätze zur Vorwirkung von Richtlinien dazu führen, dass eine nationale Vorschrift unangewendet bleiben muss. Ob von einer solchen Nichtanwendung das Verhältnis von Staat und Bürger oder ein Privatrechtsverhältnis betroffen ist, kann keine Relevanz besitzen, wenn die Prämisse (richtigerweise) lautet, dass die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht gefährdet werden dürfen. Diese Wirkung kann nicht als unmittelbare Anwendung der Richtlinie verstanden werden. 24 Der Private leitet keine Ansprüche unmittelbar aus der Richtlinie ab. Vielmehr wirkt die Richtlinie auf die objektive Rechtslage ein, und die nationalen Grundsätze verpflichten die staatlichen Organe dazu, die nationalen Bestimmungen, die den Richtlinienzielen entgegen stehen, unangewendet zu lassen.54 Dass sich hieraus positive Wirkungen zugunsten eines Privatrechtssubjekts ergeben, denen die Nachteile eines anderen entsprechen, ist unschädlich. Insoweit lassen sich Folgerungen allgemeiner Art aus den Grundsätzen zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien ableiten: Lediglich reflexartige Belastungen privater Dritter stehen einer unmittelbaren Anwendung von Richtlinien nicht entgegen.55 In diesen Wirkungen sind gewisse Parallelen der Mangold-Entscheidung zur Rechtssache Unilever zu erkennen.56 Daran zeigt sich überdies, dass auch für den Umsetzungszeitraum gilt, dass die Grenzen von 25 richtlinienkonformer Auslegung und unmittelbarer Anwendung von Richtlinien fließend sein können.57 Entgegen einer Vielzahl kritischer Stimmen lässt sich folgern, dass Mangold die Vorwirkungsdogmatik konsequent anwendet und die bisherige Dogmatik des EuGH zur unmittelbaren Anwendung von Richtlinien im Horizontalverhältnis nicht antastet.

IV. Die Bedeutung der Vorwirkung für die Auslegung nationalen Rechts Die Grundsätze zur Auslegung von Richtlinien durch nationale Gerichte vor Ablauf der Umset- 26 zungsfrist haben durch die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Adeneler an Konturen gewonnen. Dennoch sind weiterhin zahlreiche Detailfragen streitig. Zu deren Beantwortung ist es erforderlich, nach den nationalen und den europäischen Vorgaben zu differenzieren und davon ausgehend zu beurteilen, ob eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zulässig und sogar geboten ist.

1. Umsetzung durch den Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist Hat der Gesetzgeber die nationalen Vorschriften vor Ablauf der Umsetzungsfrist an die Vorgaben 27 der Richtlinie angepasst, hat er das ihm eingeräumte Ermessen frühzeitig ausgeübt und über

_____ Reduktion“. Einzelheiten bei W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 9; Calliess/Ruffert-Wegener, Art. 19 EUV Rn. 27–30. 53 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057. 54 So die Bewertung zur Rechtssache Unilever durch Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 161– 163; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 367. 55 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839, Rn. 28 ff.; Streinz/Herrmann, RdA 2007, 165, 167; Herrmann, EuZW 2006, 69, 70. 56 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-433/98 Unilever, Slg. 2000, I-7535 Rn. 49–52. 57 Röthel, ZEuP 2009, 34, 44; feststellend und zugleich kritisch Hailbronner, NZA 2006, 811, 814. Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Form und Mittel der Umsetzung in nationales Recht entschieden. In diesen Fällen ergibt sich für die Gerichte jedenfalls aus nationalen Grundsätzen die Pflicht zur Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens zur Richtlinienumsetzung.58 Ein unionsrechtliches Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung vor Ablauf der Umset28 zungsfrist existiert hingegen nur dann, wenn im Sinne der dargestellten EuGH-Rechtsprechung jede andere Auslegung zu einer ernsthaften Gefährdung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist führen würde.59 In diesen Fällen setzt sich die richtlinienkonforme Auslegung gegenüber nationalen Auslegungsprinzipien durch.60

2. Auslegung während des Laufs der Umsetzungsfrist vor legislativem Tätigwerden 29 Problematischer ist die Beurteilung der Rechtslage hingegen in den Fällen, in denen ein nationa-

les Gericht während des Laufs der Umsetzungsfrist mit der Auslegung nationalen Rechts befasst ist, das schon vor Erlass der Richtlinie bestand und bislang von Umsetzungsbestrebungen des nationalen Gesetzgebers unbeeinflusst geblieben ist. Dabei ist zunächst zu untersuchen, ob ein Gericht richtlinienkonform auslegen darf, und sodann, unter welchen Umständen es hierzu verpflichtet ist.

a) Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Adeneler61 30 Da der EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, ATRAL und Mangold primär zur Rolle des Gesetzgebers Stellung bezog, beschränkten sich seine Ausführungen zur Rechtsprechung auf den Hinweis, wie diese mit den gegen das Frustrationsverbot verstoßenden Vorschriften umzugehen hat. In der Rechtssache Adeneler befasste sich der EuGH hingegen auf Vorlage eines griechischen Gerichts mit der Rolle der nationalen Gerichte bei der Auslegung älteren nationalen Rechts während der Umsetzungsphase. 31 Die Vorlagefrage lautete, von welchem Zeitpunkt an ein Gericht das nationale Recht in Ansehung einer Richtlinie, die erst verspätet umgesetzt wurde, auslegen muss. Hierfür benannte das vorlegende Gericht drei denkbare Zeitpunkte, das Inkrafttreten der Richtlinie, den Ablauf der Umsetzungsfrist und den Zeitpunkt des nationalen Umsetzungsaktes.62 Der nationale Gesetzgeber hatte in der Umsetzungsphase keine den Richtlinienzielen widersprechenden Vorschriften erlassen, so dass es um die Frage ging, ob der nationale Richter schon während der Umsetzungsphase gehalten war, das alte, schon vor Erlass der Richtlinie bestehende Recht richtlinienkonform auszulegen.

_____ 58 Ehricke, EuZW 1999, 553, 554; Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 120; Sack, WRP 1998, 241, 242; Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1056 f.; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, S. 52; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 108, Fn. 105; Canaris, FS Bydlinski (2002), S. 75; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 373. 59 So i.Erg. auch Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 195; W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1057; Steindorff, AG 1988, 57, 58. 60 Dies ist die Folge des gemeinschaftsrechtlichen Gebotes, das nationale Umsetzungsrecht richtlinienkonform zu interpretieren, vgl. zu diesem EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 26; EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 7.11.1989 – Rs. 125/88 Nijman, Slg. 1989, 3543 Rn. 6, und zum Vorrang der richtlinienkonformen Auslegung i.Erg. wie hier Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133–135; Lutter, JZ 1992, 593, 604; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 75; Bach, JZ 1990, 1108, 1111; Zuleeg, ZGR 1980, 466, 471; einschränkend Jarass, EuR 1991, 211, 218; a.A. Di Fabio, NJW 1990, 954, 953 (allerdings vor Neufassung des Art. 23 GG). 61 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener u.a., Slg. 2006, I-6057. 62 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 32. Hofmann

§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

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Ausgehend von dem Grundsatz, dass alle staatlichen Stellen im Mitgliedstaat der Verpflichtung unterliegen, den Vorgaben des Unionsrechts zu voller Wirkung zu verhelfen, betonte der EuGH die Verpflichtung der nationalen Gerichte, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten. Daraus folge, dass die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten seien, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden könne, zu vermeiden.63 In Adeneler ging der EuGH damit über seine bisherigen Aussagen hinaus. In den früheren Entscheidungen hatte der EuGH nur vorgegeben, dass die nationalen Gerichte aus unionsrechtlichen Gründen die Regelungen einer Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist in zwei Konstellationen bei der Auslegung nationalen Rechts heranziehen müssen: erstens, wenn der Gesetzgeber nationales Recht in Kraft gesetzt hat, das die Erreichung der Richtlinienziele ernsthaft in Frage stellt; zweitens, wenn der Gesetzgeber die Vorgaben der Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist umgesetzt hat und eine nicht an den Richtlinienzielen orientierte Auslegung die Gefahr birgt, die Erreichung der Richtlinienziele zu gefährden. Da die Vorgabe des EuGH in Adeneler demgegenüber lautete, dass die nationalen Gerichte jede Auslegung nationalen Rechts unterlassen müssen, die ernsthaft geeignet ist, die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu verhindern, wurden nunmehr auch die Fälle einbezogen, in denen es an einem nationalen Gesetzgebungsakt in Reaktion auf den Richtlinienerlass fehlte.64 Hiervon ist der EuGH auch in Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al. nicht abgekehrt. Dort betonte er zwar, dass eine Pflicht der Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist bestehe. Er bezog sich dabei jedoch nur auf die Aussage in Adeneler zu dem Fall, dass der nationale Gesetzgeber die Richtlinie verspätet umsetzt,65 und das deshalb, weil die betreffende Richtlinie jede Wirkung vor dem Ablauf ihrer Unsetzungsfrist gerade ausdrücklich ausschloss.66 Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Vorwirkungsproblematik und der Bedeutung der Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist war daher überflüssig. Entsprechend liegt die Bewertung nahe, die Bedeutung des Urteils nicht über den entschiedenen Einzelfall hinaus auzudehnen und nicht als Abkehr von der deutlich differenzierteren Rechtsprechung in früheren Urteilen zu verstehen.67

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b) Rechtsprechung deutscher Gerichte In der deutschen Rechtsprechung wurden die Fragen nach Berechtigung und Verpflichtung zu 36 richtlinienkonformer Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist mehrfach erörtert. Den Ausgangspunkt bildet ein BGH-Urteil, in dem es nach Erlass der Richtlinie 97/55/EG68 auf die Frage

_____ 63 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 f.; so auch schon GA Tizzano, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. I-9981 Tz. 120. Junker/Aldea, EuZW 2007, 13, 15, ist beizupflichten, dass es sich dabei zwar um eine neue, jedoch lediglich konsequente und aus der bisherigen Vorwirkungsdogmatik abzuleitende Aussage handelt; a.M. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht (9. Aufl. 2014), Rn. 388. 64 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 25. 65 EuGH v. 27.6.2013 – Rs. C-457/11 bis C-460/11 Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al., Rn. 26 unter Bezug auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 115. 66 Siehe Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29/EG vom 22.5.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft. 67 Siehe hierzu die Besonderheiten der Richtlinienvorgaben in Bezug auf den Umsetzungszeitraum in EuGH v. 27.6.2013 – Rs. C-457/11 bis C-460/11 Verwertungsgesellschaft Wort gegen Kyocera et al., Rn. 27. 68 Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997 zur Änderung der Richtlinie 84/ 450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung, ABl. 1997 L 290/18.

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ankam, ob vergleichende Werbung bisheriger Rechtsprechungstradition entsprechend auch weiterhin einen Verstoß gegen § 1 UWG a.F. darstellte oder aufgrund der Vorgaben der Richtlinie nunmehr als zulässig zu beurteilen war. Zum Zeitpunkt der BGH-Entscheidung war § 1 UWG a.F. nur generalklauselartig ausgestaltet und bedurfte der Ausformung durch die Rechtsprechung.69 Die Fallgruppen sittenwidriger Beeinflussung des Wettbewerbs waren als „Richterrecht“ gebildet und beständig weiterentwickelt worden.70 37 Der BGH entschied, seine Rechtsprechung auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist an die Vorgaben einer Richtlinie anpassen zu dürfen. Dies beruhe darauf, dass der Richter nach deutschem Rechtsverständnis befugt sei, sein bisheriges Auslegungsergebnis zu korrigieren und den geänderten rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, was auch für den Zeitraum vor Ablauf der Umsetzungsfrist von Richtlinien gelte. Voraussetzung hierfür sei, dass die nationale Rechtslage mit den Regelungen der Richtlinie nicht im Einklang stehe.71 Bemerkenswert ist, dass sich der BGH nicht nur für befugt, sondern auch dazu verpflichtet hielt, vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen, indem er von sachlicher Gebotenheit sprach. 72 Diese Gebotenheit schien der BGH aus der Inter-Environnement WallonieRechtsprechung abzuleiten.73 Er bewertete eine solche Situation jedoch als seltenen Ausnahmefall. Im Regelfall sei der Gesetzgeber dazu berufen, das den Mitgliedstaaten in Bezug auf die Umsetzung der Richtlinie eingeräumte Ermessen auszuüben. Daher müsse sich die Rechtsprechung grundsätzlich erst dann zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet sehen, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen und der Inhalt der Richtlinie eindeutig sei.74 Gleichwohl greife die Rechtsprechung auch bei früherer Berücksichtigung der Richtlinienziele nicht in die Kompetenzen des Gesetzgebers ein, und zwar nicht nur dann, wenn ohnehin kein Spielraum bei der Umsetzung verbleibe, sondern auch in den übrigen Fällen, da sie der Entscheidung des Gesetzgebers nicht vorgreife.75 38 In jüngeren Urteilen wurden diese Ansätze verengt. Der BGH urteilte zur Vorwirkungsproblematik in einem Verfahren, in dem es um den fahrlässigen Umgang mit Sicherheitsmerkmalen im Online-Banking ging. Das zu beurteilende Verhalten des Zahlungsdienstenutzers fand nach Erlass, aber vor Ablauf der Umsetzungsfrist für die Zahlungsdienste-Richtlinie statt. Der BGH wählte als Ausgangspunkt die vom EuGH in der Rechtssache Adeneler aufgestellten Grundsätze (zu diesen oben Rn. 30–34). Dem Gesetzgeber sei untersagt, Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Ziels ernstlich zu gefährden. Die nationalen Gerichte sollten es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens einer Richtlinie möglichst unterlassen, das innerstaatliche Recht auf eine Weise auszulegen, die die Erreichung des mit der

_____ 69 Erst einige Zeit nach Entscheidung des BGH nahm der deutsche Gesetzgeber die einschlägige Richtlinie zum Anlass, das UWG grundlegend zu überarbeiten und konzeptionell teilweise neu zu gestalten, vgl. dazu das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) v. 3.7.2004, BGBl. 2004 I, 1414. 70 Vgl. etwa (unter bewusster Bezugnahme auf ältere Auflagen) Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht (20. Aufl. 1998), Einl. UWG Rn. 72; Beater, Unlauterer Wettbewerb (2002), § 12 Rn. 1–7; ders., AcP 194 (1994), 82, 83– 85; Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht (6. Aufl. 1999), § 2 Rn. 21. 71 BGHZ 138, 55, 59–64; seine auf die Richtlinie gestützte Rechtsprechungsänderung hat der BGH mehrfach bestätigt, vgl. BGH, NJW 1998, 3561; BGHZ 139, 378; BGH, NJW-RR 2000, 631. 72 BGHZ 138, 55, 64. 73 BGHZ 138, 55, 62–64. Zu einer anderen Interpretation des Urteils gelangt Kühling, DVBl. 2006, 857, 862: Der BGH habe entscheidend auf den Gedanke einer gewandelten Rechtsordnung, nicht auf die Vorgabe der Richtlinie abgestellt. Tatsächlich wird der Gedanke der gewandelten Rechtsordnung jedoch nur bekräftigend nachgeschoben. Siehe auch die ältere Entscheidung des BGH, NJW 1993, 3139, in der er davon ausgegangen war, aus den Vorgaben des europäischen Rechts erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu richtlinienkonformer Auslegung verpflichtet und schon ab deren Inkrafttreten hierzu berechtigt zu sein. 74 BGHZ 138, 55, 61; zustimmend Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 198. 75 BGHZ 138, 55, 62 f. Hofmann

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Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.76 Diesen zutreffenden Ausgangspunkt verengte der BGH darauf, dass eine Pflicht der nationalen Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist bestehe. Sein früheres Urteil zu § 1 GWB a.F. gehe nur für den Fall einer Generalklausel davon aus, dass der Richtlinieninhalt schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist berücksichtigt werden dürfe.77 Im Ergebnis entspricht dem die Ansicht des KG Berlin, dass vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Pflicht nationaler Gerichte zu richtlinienkonformer Auslegung78 und eine Berechtigung hierzu nur dann bestehen soll, wenn eine Generalklausel eine frühzeitige Anpassung im Wege der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ermögliche.79

3. Berechtigung und Verpflichtung der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung a) Meinungsstand Im Schrifttum werden vereinzelt Bedenken gegen eine Befugnis der Rechtsprechung erhoben, vor Ablauf der 39 Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. Diese Bedenken werden teils auf Aspekte des nationalen Rechts, teils auf solche des Unionsrechts gestützt. In nationaler Hinsicht wird vorgebracht, dass eine richtlinienkonforme Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu einer Kompetenzanmaßung in den Fällen führen würde, in denen nach innerstaatlicher Kompetenzverteilung die Legislative die Umsetzung der Richtlinie übernehme. Hier werde der Entscheidung des Gesetzgebers über Form und Mittel der Umsetzung vorgegriffen und der gesetzgeberische Entschluss missachtet, die bisherige nationale Rechtslage (zunächst) beizubehalten.80 Die Folge sei ein nationaler Zuständigkeitskonflikt, wenn die Rechtsprechung anstelle des Gesetzgebers den von der Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraum ausübe.81 Aus europarechtlicher Sicht sind es hingegen Gründe der Umsetzungssicherheit, die gegen die frühzeitige Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung sprechen sollen.82 Überwiegend wird die Zulässigkeit richtlinienkonformer Auslegung hingegen bejaht. Der Richter dürfe schon 40 im Zeitraum zwischen Erlass der Richtlinie und Ablauf der Umsetzungsfrist die Vorgaben der Richtlinie berücksichtigen, wenn er vor der Richtlinie in Kraft getretenes nationales Recht auslege, und seine Rechtsprechung daran anpassen.83 Dafür werden Praktikabilitätserwägungen und der Einwand bloßer Förmelei der Gegenansicht angeführt: Stehe eine Umsetzung der Richtlinie bevor, sei es widersinnig, zunächst noch eine die Richtlinie ignorierende Lösung anzuwenden, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist keinen Bestand mehr haben könne.84 Auch sei eine richtlinienkonforme Rechtsprechung geeignet, die Tätigkeit des Gesetzgebers zu fördern, da für diesen erkennbar werde, inwieweit eine Umsetzung der Richtlinienziele allein durch Rechtsprechungsänderung möglich sei oder noch Handlungsbedarf verbleibe.85

_____ 76 BGH, NJW 2012, 2422, 2423. 77 BGH, NJW 2012, 2422, 2424. 78 KG, WM 2011, 493 = BeckRS 2010, 31105 (unter II.). 79 KG, WM 2011, 493 = BeckRS 2010, 31105 (unter II.). 80 Ehricke, EuZW 1999, 553, 556; Götz, NJW 1992, 1849, 1854. 81 Vgl. Scherzberg, Jura 1993, 225, 232; Staudinger, JR 1999, 198, 199 f. (Anm. zu BGHZ 138, 55): Der Judikative sei nur untersagt, von einer richtlinienkonformen Rechtsprechung während der Umsetzungsfrist abzuweichen, nicht aber eine richtlinienwidrige aufrecht zu erhalten. 82 Ehricke, EuZW 1999, 553, 556. 83 Lutter, JZ 1992, 593, 605; ders., FS Bydlinksi (2002), S. 76; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 108; zweifelnd, ob nicht doch sogar eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung besteht, Ress, DÖV 1990, 489, 492 f. 84 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 57. Nach Everling, ZGR 1992, 376, ist es wenig sinnvoll, während einer längeren Umsetzungsfrist die bisherige Rechtsprechung im Wissen um die Tatsache, diese ab einem bestimmten Zeitpunkt ändern zu müssen, beizubehalten; so auch Sack, WRP 1998, 241, 244. 85 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 203. Hofmann

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Zugleich wird von Vertretern dieser Ansicht betont, dass aus Sicht des Unionsrechts keine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung bestehe: Der den Mitgliedstaaten vom Unionsrecht zugestandene Handlungsspielraum würde durch eine vor Fristablauf bestehende Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung entwertet, wenn ein solches Gebot bestünde. Daraus folge, dass die nationalen Gerichte ihre bisherige, mit der Richtlinie nicht im Einklang stehende Rechtsprechung wahlweise auch beibehalten dürften.86 Nur wenn das Festhalten an der bisherigen Auslegung die Erreichung der Richtlinienziele gefährde, bestehe nach dem Frustrationsverbot schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Pflicht zu richtlinienkonformer Korrektur.87 Wieder andere Stimmen bejahen die Kompetenz der Rechtsprechung zu richtlinienkonformer Auslegung nur in eingeschränktem Maße: Zwar sei eine richtlinienkonforme Auslegung im Regelfall zulässig, was aber dann nicht gelten könne, wenn der Gesetzgeber vor Ablauf der Frist noch nicht vollständig umsetzen wollte.88 Noch restriktiver ist die Ansicht, wonach die Rechtsprechung sich nur dann vor Ablauf der Umsetzungsfrist an den Vorgaben der Richtlinie orientieren darf, wenn eine gesetzliche Anpassung nicht zu erwarten ist oder wenn der Rechtsprechung die Aufgabe der Rechtsfortbildung zufällt.89 Schließlich wird vertreten, dass der Rechtsprechung die Kompetenz zu richtlinienkonformer Auslegung in ihrem ureigensten Kompetenzbereich, der Ausformung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln, zustehe, ihr Rechtsfortbildung vor Ablauf der Umsetzungsfrist jedoch untersagt sei.90 Um die aufgeworfenen Fragen beantworten zu können, ist nach den nationalen und den europäischen Vorgaben zu unterscheiden. Die nationalen Vorgaben sind davon abhängig, welcher Träger öffentlicher Gewalt mit der Umsetzung befasst ist. Daher stellt sich die Vorfrage der innerstaatlichen Zuweisung der Umsetzungsaufgabe.

b) Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung 44 Art. 288 Abs. 3 AEUV überlässt den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel der Umset-

zung, schreibt also keinen bestimmten nationalen Umsetzungsakt vor. Nach der Rechtsprechung des EuGH erfordert die Umsetzung einer Richtlinie zwar nicht notwendig ein Tätigwerden des Gesetzgebers, doch muss die vollständige Anwendung der Richtlinie durch die nationalen Stellen gewährleistet sein. Die Rechtslage muss hinreichend bestimmt und klar sein und die Begünstigten in die Lage versetzen, von ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gerichtlich geltend zu machen.91 Daher hat der EuGH einer Umsetzung durch eine ständige Verwaltungspraxis und durch Verwaltungsvorschriften mehrfach eine Absage erteilt.92

_____ 86 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; i.Erg. auch Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 83. 87 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 130; Oettingen/Rabenschlag, ZEuS 2006, 363, 374; Franzen, JZ 2007, 191, 192. 88 Lutter, JZ 1992, 593, 605; Jarass, EuR 1991, 211, 221. 89 Zu allen Kriterien W.-H. Roth, ZIP 1992, 1054, 1056. 90 So die Unterscheidung von Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 204 f.; ebenso Forsthoff, DStR 2006, 613, 618; gerade das Beispiel des § 1 UWG a.F. zeigt jedoch, dass die Auslegung generalklauselartiger Bestimmungen eine Praxis der Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung begründen kann und darf, so dass eine derartige Differenzierung ungeeignet ist. 91 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17; EuGH v. 7.5.2002 Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18; EuGH v. 23.3.1995 – Rs. C-365/93 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1995, I-499 Rn. 9; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. C-58/89 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-4983 Rn. 13; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 6; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, Slg. 1983, 449 Rn. 10. 92 Vgl. EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 97/81 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 1819 Rn. 12; EuGH v. 6.5.1980 – Rs. 102/79 Kommission ./. Belgien, Slg. 1980, 1473 Rn. 10; EuGH v. 1.3.1983 – Rs. 300/81 Kommission ./. Italien, Slg. 1983, 449 Rn. 10; EuGH v. 15.12.1982 – Rs. 160/82 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 4637 Rn. 4; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 8; EuGH v. 30.5.1991 – Rs. C-361/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-2567 Rn. 20; EuGH v. 17.10.1991 – Rs. C-58/89 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-4983 Rn. 18; dazu etwa Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 122 f.; Everling, NVwZ 1993, 209, 213 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 146–151; Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 26–40. Hofmann

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Folglich muss eine Richtlinie regelmäßig durch einen nationalen Legislativakt umgesetzt werden, während eine Umsetzung durch die Judikative unter den Gesichtspunkten der Rechtsklarheit und Bindungswirkung Bedenken hervorrufen kann.93 Unter der Voraussetzung, dass Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bestehen und damit die genannten Vorgaben des EuGH erfüllt sind, scheidet ein solcher Weg jedoch nicht grundsätzlich aus. So hat der EuGH die Berufung des Mitgliedstaats auf eine klare und eindeutige Rechtsprechung in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich gebilligt. Es sei unerlässlich, dass die Rechtslage, die sich aus den nationalen Umsetzungsmaßnahmen ergebe, ausreichend bestimmt und klar sei, um es den Einzelnen zu ermöglichen, Kenntnis vom Umfang ihrer Rechte und Pflichten zu erlangen. Dies ändere jedoch nichts daran, dass die Mitgliedstaaten schon nach dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV die Form und die Mittel für die Umsetzung der Richtlinien wählen könnten, die das mit den Richtlinien angestrebte Ergebnis am besten gewährleiste. Aus dieser Vorschrift ergebe sich damit, dass die Umsetzung einer Richtlinie in das innerstaatliche Recht nicht unbedingt in jedem Mitgliedstaat eine Handlung des Gesetzgebers verlange.94 Da im konkreten Fall die Richtlinie dem Einzelnen kein konkretes Recht verlieh oder eine klare und bestimmte Verpflichtung auferlegte, ließ es der EuGH ausreichen, dass die Umsetzung im Wege klarer und bestimmter Begriffe durch die Rechtsprechung erfolgte.95 Daraus lässt sich ableiten, dass die europarechtlichen Vorgaben an eine ordnungsgemäße Umsetzung auch ohne Gesetzeserlass eingehalten werden können, wenn die Richtlinie eher allgemeine Vorgaben enthält und von einer gefestigten Rechtsprechung im Mitgliedstaat auszugehen ist.96 Sind die Vorgaben der Richtlinie jedoch konkret und detailliert, muss auch im Wege präziser Normen umgesetzt werden.97 Sind diese europarechtlichen Vorgaben erfüllt, kommt eine Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung in Betracht, wenn die von der Richtlinie erfasste Materie im nationalen Recht von „Richterrecht“ geregelt oder jedenfalls durchdrungen ist. Liegt eine lange höchstrichterliche Rechtsprechungstradition vor, der auch die Untergerichte folgen, stehen auch die Einwände, dass weder die Untergerichte einer höchstrichterlichen Rechtsprechung unterliegen, noch diese an ihre eigenen Präjudizien gebunden ist,98 nicht entgegen.99 Erweist sich die bisherige Rechtsprechung im Wesentlichen als richtlinienkonform – sonst wäre schon aus europarechtlichen Gründen ein legislatives Tätigwerden zu fordern –, im Detail jedoch nachbesserungsbedürftig,

_____ 93 Vgl. dezidiert Ehricke, EuZW 1999, 553, 558; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 121; Everling, NVwZ 1993, 209, 212 f.; Himmelmann, DÖV 1996, 145, 147; i.Erg. auch ablehnend Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 105. 94 EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 76. 95 EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 78, 83. 96 Dazu einerseits EuGH v. 26.6.2003 – Rs. C-233/00 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2003, I-6625 Rn. 55–87: die Umsetzung eines generalklauselartig formulierten Ausnahmetatbestandes durch eine ständige höchstrichterliche Rechtsprechung sollte ausreichen; EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147: Gesetzgebungsmaterialien ausreichend; andererseits EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 19–22, wonach die detaillierten Vorgaben der Klauselrichtlinie durch richterliche Präjudizien nicht ausreichend umgesetzt werden können; vgl. auch Steindorff, EG-Vertrag und Privatrecht (1996), S. 433; Staudinger, WM 1999, 1546, 1547. Herdegen, Europarecht (15. Aufl. 2013), § 8 Rn. 39, stellt darauf ab, dass eine generelle Verbindlichkeit auch für Gerichte und Einzelne eindeutig gewärleistet sein muss. 97 Staudinger, WM 1999, 1546, 1547; Himmelmann, DÖV 1996, 146. 98 Deutlich geringere Bedenken bestehen in Staaten mit Common Law-Tradition, vgl. Ehricke, EuZW 1999, 553, 559; Anklänge auch bei Staudinger, WM 1999, 1546, 1548. 99 So der Einwand von Neu, ZEuP 1999, 123, 138 f. Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

kann dieser Mangel nicht nur durch legislative Korrekturen, sondern auch durch richtlinienkonforme Rechtsfortbildung beseitigt werden.100

c) Nationale Vorgaben 49 Legt die Rechtsprechung vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform aus, so ist in natio-

naler Hinsicht zu beachten, dass sie sich innerhalb der ihr zugewiesenen Kompetenzen halten muss. Daher ist es im Grundsatz zutreffend, hier gewisse Einschränkungen zu fordern. Sofern die Auslegung auf eine Rechtsfortbildung hinausläuft, kann der Rechtsprechung eine Kompetenz hierzu nur in den Bereichen zuerkannt werden, in denen ihr eine derartige Zuständigkeit zukommt. Diese Voraussetzungen lagen etwa in dem vom BGH entschiedenen Fall zu vergleichender Werbung vor (s. oben Rn. 36 f.); dieser hielt sich daher zu Recht zu richtlinienkonformer Auslegung befugt. Zugleich ist die Unterscheidung nach der innerstaatlichen Umsetzungsverantwortung auch 50 für die Frage nach einem nationalen Gebot zu richtlinienkonformer Auslegung relevant. Steht zu erwarten, dass der Gesetzgeber keinen Umsetzungsakt erlassen wird, da der betroffene Bereich traditionellerweise der Rechtsprechung zur Rechtsfortbildung zugewiesen ist, sind die Gerichte nach nationalen Grundsätzen gehalten, richtlinienkonform auszulegen. Dabei lässt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt eine solche nationale Verpflichtung besteht, nur unter Berücksichtigung der Vorgaben des Unionsrechts beantworten. Unter der Prämisse, dass der Mitgliedstaat den Vorgaben des Unionsrechts nachkommen möchte, werden die europarechtlichen Vorgaben insoweit zugleich zu nationalen Geboten. Ist der Rechtsprechung innerstaatlich die Umsetzungsaufgabe zugewiesen, folgt aus einem europarechtlichen Umsetzungsgebot zugleich ein nationales, um einen vom Mitgliedstaat nicht gewollten Verstoß gegen Unionsrecht zu vermeiden.

d) Europäische Vorgaben 51 Europarechtliche Gründe, der nationalen Rechtsprechung die richtlinienkonforme Auslegung

vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu untersagen, bestehen nicht, da die Richtlinie vom Zeitpunkt ihrer Wirksamkeit an Rechtswirkungen entfaltet und nur im Interesse der Mitgliedstaaten eine zeitlich hinausgeschobene Umsetzungspflicht anordnet. Problematisch ist, ob ein europarechtliches Gebot besteht, schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist richtlinienkonform auszulegen. 52 Die jüngste Rechtsprechung des BGH sowie des KG Berlin (s. oben Rn. 38) sowie die dargestellten Literaturansichten (s. oben Rn. 39–42) setzen mehrheitlich die europarechtlich begründeten Verpflichtungen der Legislative, die sich unstreitig bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist Zeit lassen darf, mit denen der Judikative gleich, und folgern daraus, dass diese an ihrer bisherigen Rechtsprechung bis zum Ende der Frist soll festhalten dürfen. Eine solche Gleichsetzung berücksichtigt jedoch die Konsequenzen nicht ausreichend, die sich für die Rechtsprechung aus dem Prinzip der funktionellen Beschränkung ergeben. Für die Gerichte ist es unmöglich, die Wirkung ihrer Rechtsprechung exakt zu terminieren. Ihre Kompetenz erschöpft sich darin, über konkrete Streitfälle zu befinden, während abstrakte Ausführungen zu irrelevanten Rechtsfragen ausscheiden. Betrifft der Regelungsgehalt der Richtlinie – wie etwa bei der Auslegung der Sittenwidrig53 keit im Sinne von § 1 UWG a.F. – einen traditionell durch die Rechtsprechung geprägten Bereich

_____ 100 Herrmann, Richtlinienkonforme Umsetzung durch die Rechtsprechung, S. 190; i.Erg. auch Staudinger, WM 1999, 1546, 1547 f.

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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

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und steht nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber die Richtlinie überhaupt oder auch nur fristgerecht umsetzen wird, haben die Gerichte die Signalwirkung zu beachten, die von ihrer Rechtsprechung auch für die Zeit nach Ablauf der Umsetzungsfrist ausgehen kann. Es ist eine vorausschauende Planung erforderlich, die dazu führen kann, dass richtlinienrelevante Fragen schon frühzeitig im Sinne der Richtlinie entschieden werden müssen. Die Möglichkeit zu rechtzeitiger Korrektur wird nur im Ausnahmefall bestehen, etwa wenn feststeht, dass die Fragestellung zu einem späteren, vor Ablauf der Umsetzungsfrist liegenden Zeitpunkt erneut zur Entscheidung anstehen wird. Eine solche Verpflichtung wird, wenn überhaupt, nur aus den Grundsätzen des nationalen 54 Rechts gefolgert,101 während entsprechende europarechtliche Vorgaben überwiegend dezidiert ausgeschlossen werden.102 Kombiniert man jedoch die Vorgaben des EuGH in den Rechtssachen Inter-Environnement Wallonie, Mangold und Adeneler mit den Folgen der funktionellen Beschränkung der Gerichte in den Fällen, in denen die vom Richtlinienzweck betroffene nationale Rechtsmaterie wesentlich durch Richterrecht geprägt ist, spricht dies für eine andere Bewertung. Nach den Vorgaben des EuGH muss die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie, deren Ziele zu erreichen und alle zur Erfüllung dieser Pflicht geeigneten Maßnahmen zu treffen, mit Ablauf der Umsetzungsfrist erreicht sein. Zugleich trifft diese Verpflichtung alle Träger öffentlicher Gewalt und im Rahmen ihrer Zuständigkeit daher auch die Gerichte.103 Außerdem darf die Erreichung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht durch Maßnahmen während ihres Laufs ernsthaft gefährdet werden.104 Dem entspricht es, wenn der EuGH in Adeneler die Verpflichtung der nationalen Gerichte betont, sich behindernder Maßnahmen im Sinne der Inter-Environnement Wallonie-Rechtsprechung zu enthalten, und folgert, dass die nationalen Gerichte vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Richtlinie an gehalten sind, so weit wie möglich jede Auslegung nationalen Rechts, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist die Richtlinienziele ernsthaft gefährden kann, zu vermeiden.105 Eine Gefährdung der Richtlinienziele ist nicht nur denkbar, wenn die Gerichte während der 55 Umsetzungsfrist ihre Rechtsprechung richtlinienwidrig fortbilden,106 sondern auch dann, wenn sie ihre bisherige Linie unverändert beibehalten und hierdurch eine negative Signalwirkung für den Rechtsverkehr aussenden, die über den Ablauf der Umsetzungsfrist hinaus wirkt. Davon ist aber gerade in den Fällen auszugehen, in denen die Rechtsprechung, nicht die Gesetzgebung, eine Materie beherrscht. Ein Verstoß des Mitgliedstaates gegen die Gemeinschaftsziele nach Art. 10 Abs. 3 EUV/10 EG und die Richtlinienziele nach Art. 288 Abs. 3 AEUV liegt in diesen Fällen primär in der richtlinienwidrigen Rechtsprechung der Gerichte begründet, allenfalls zweitrangig in der legislativen Untätigkeit des Gesetzgebers, der dieser Entwicklung in der Rechtsprechung hätte entgegensteuern können.107

_____ 101 Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508 Fn. 17. 102 Calliess/Ruffert-Ruffert, Art. 288 AEUV Rn. 81–83; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 133–135. In der Tendenz wie hier Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 28. 103 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 12; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 40; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht, S. 53. 104 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environnement Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 f. 105 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 122 f. 106 So Leible/Sosnitza, NJW 1998, 2507, 2508; Neuner, in: Hager u.a. (Hrsg.), Kontinuität im Wandel der Rechtsordnung, S. 106. 107 I.E. so wohl auch Bayreuther, EuZW 1998, 478, 479; vgl. auch Langenbucher-Langenbucher, § 1 Rn. 109, wonach entscheidend sein soll, ob durch die Rechtsprechung derart vollendete Tatsachen geschaffen werden, dass die Umsetzung der Richtlinie ernstlich in Frage steht.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Zweifel an dieser Bewertung könnten sich aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ratti108 ableiten, lassen sich im Ergebnis jedoch ausräumen. Auch dort ging es um das grundsätzliche Verhältnis von nationalem Recht und den Vorgaben der Richtlinie in der Umsetzungsphase. Ein nationales Gericht hatte über die Strafbarkeit eines Betroffenen zu befinden, der die nationalen Kennzeichnungspflichten bei der Herstellung von Lösungsmitteln und Lacken nicht beachtet hatte. Der Betroffene wandte ein, die Vorgaben der Richtlinie erfüllt zu haben, und vertrat die Ansicht, nicht nach strengeren nationalen Vorschriften beurteilt werden zu dürfen. Dem folgte der EuGH nicht, sondern stellte fest, dass bei Richtlinienerlass bereits bestehendes nationales Recht auch in der Umsetzungsphase grundsätzlich weiterhin angewandt werden dürfe. Eine Richtlinie könne erst am Ende der Umsetzungsfrist und nur für den Fall, dass der Mitgliedstaat dem Umsetzungsbefehl nicht nachgekommen sei, Wirkungen für den Einzelnen entfalten. Bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist behielten die Mitgliedstaaten ihre Handlungsfreiheit.109 Daher blieb es dem Einzelnen verwehrt, sich gegenüber den nationalen Vorschriften auf die Vorgaben der Richtlinien zu berufen.110 Vor dem Hintergrund der neueren ATRAL-Entscheidung111 erscheint zweifelhaft, ob der EuGH an dieser Rechtsprechung festhalten würde. Dass der nationale Gesetzgeber in ATRAL während der Umsetzungsphase neue Vorschriften erlassen hatte, in der Rechtssache Ratti hingegen älteres Recht weiterhin angewandt wurde, erscheint kaum als Differnzierungskriterium geeignet, da in Adeneler klargestellt wurde, dass altes wie neues Recht gleichermaßen behindernd wirken kann. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass es für das Frustrationsverbot stets auf die konkreten Auswirkungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist ankommt. Der EuGH könnte durchaus weiterhin zu dem Ergebnis kommen, dass es keine Gefährdung der Richtlinienziele darstelle, bei Zuwiderhandlung gegen altes, zukünftig jedoch richtlinienwidriges Recht Sanktionen zu verhängen (RattiKonstellation), während davon bei einem Gebot, in der Umsetzungsphase erlassene und richtlinienwidrige Vorschriften zu befolgen (ATRAL-Konstellation), auszugehen sei. Entscheidend sind stets die Wirkungen, die nach Ablauf der Umsetzungsfrist verbleiben. Soweit der Rechtsprechung (wie in der Ratti-Konstellation) nicht die innerstaatliche Umsetzungsaufgabe zukommt, sondern eine rechtzeitige Gesetzesänderung zu erwarten ist, steht kaum zu befürchten, dass durch Sanktionen in der Umsetzungsphase ein richtlinienkonformes Verhalten nach Ablauf der Umsetzungsfrist verhindert wird. Daher sind Ratti und die hier vertretenen Grundsätze durchaus zu vereinbaren. Daraus folgt jedoch auch, dass den Entscheidungen deutscher Gerichte (s. oben Rn. 38) nur für den entschiedenen Einzelfall zugestimmt werden kann. Da sie nur einen Einzelfall im Umsetzungzeitraum zu entscheiden hatten und eine rechtzeitige Umsetzung der Richtlinie durch den Gesetzgeber zu erwarten war, bestand keine Verpflichtung zu richtlinienkonformer Auslegung. Widerspruch verdienen hingegen die generellen Aussagen, wonach eine Pflicht zu richtlinienkonformer Auslegung nie bestehen soll und eine Berechtigung nur dann, wenn eine Generalklausel betroffen ist. Diese Folgerungen lassen unberücksichtigt, dass es in jedem Einzelfall entscheidend darauf ankommt, wie sich die Rechtsprechung auf die Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist auswirkt.112

_____ 108 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629. 109 EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45; ausführlich dazu etwa Craig/de Búrca, EU Law – Text, Cases and Materials (3. Aufl. 2003), S. 204–206; bestätigt durch EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477 Rn. 66–69. 110 Zu diesem Grundsatz EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-157/02 Rieser, Slg. 2004, I-1477 Rn. 67–69; EuGH v. 5.4.1979 – Rs. 148/78 Pubblico Ministero ./. Ratti, Slg. 1979, 1629 Rn. 43–45. 111 Nochmals der Hinweis auf EuGH v. 8.5.2003 – Rs. C-14/02 ATRAL, Slg. 2003, I-4431, Rn. 57–60. 112 Interessanterweise könnte gerade im Bereich des Zahlungsverkehrs, zu dem diese Entscheidungen ergingen, die Frage richtlinienkonformer Rechtsprechung in der Umsetzungsphase zukünftig relevant werden. Die Frage, wann im Zahlungsverkehr vom Nachweis eines Sorgfaltspflichtverstoßes des Zahlungsdinestenutzers ausgegangen werden kann, ist in Art. 59 Abs. 2 der Richtlinie 2007/64/EG bewusst undeutlich formuliert. Der deutsche Gesetzgeber folgt dem in § 675w S. 3 BGB mit der ausdrücklichen Begründung, dass diese Aufgabe traditionell von der Rechtsprechung wahrgenommen wurde und dieser auch weiterhin zustehen solle, siehe Hofmann, in: Schwintowski (Hrsg.), Bankrecht (4. Aufl. 2014), § 9 Rn. 107–127. Würde die Richtlinie in diesem Punkt geändert werden, müssten sich die Gerichte in der Umsetzungsphase der Wirkung ihrer Rechtsprechung nach Ablauf der Umsetzungsfrist bewusst sein.

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§ 15 Die Vorwirkung von Richtlinien

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V. Die Vorwirkung von Richtlinien bei der Anwendung nationaler Vorschriften durch die Verwaltung Schließlich stellt sich die Frage nach einer Vorwirkung von Richtlinien auch für die Rechtsan- 59 wendung der nationalen Verwaltung. Nach den bisherigen Feststellungen (oben Rn. 44) kann ausgeschlossen werden, dass die Verwaltung mit der Umsetzung der Richtlinienvorgaben betraut ist. Auch lauten die nationalen Vorgaben an die Verwaltung, Gesetze nur anzuwenden und dabei die Auslegung durch die Rechtsprechung zu beachten, nicht jedoch, selbst Rechtsfortbildung zu betreiben. Erneut ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts von allen 60 staatlichen Stellen zu beachten ist,113 somit auch von der Verwaltung. Dies gilt jedenfalls nach Ablauf der Umsetzungsfrist114 und, wie oben in Rn. 17–19 ausgeführt, zudem davor, soweit das Frustrationsverbot gegenüber den in der Umsetzungsphase erlassenen Gesetzen eingreift. Im Ergebnis kann nichts anderes gelten, wenn ältere, schon vor Richtlinienerlass bestehende Vorschriften zur Anwendung kommen. Auch diese dürfen nur unter Berücksichtigung der Richtlinienziele angewandt werden, wenn anderenfalls eine ernsthafte Gefährdung dieser Ziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist zu befürchten ist. In der deutschen Rechtsprechung findet sich eine Auseinandersetzung mit dieser Frage in Urteilen des 61 BVerwG. Das Gericht unterschied zunächst nach dem Zeitpunkt, zu dem ein Antrag auf Verwaltungshandeln gestellt wurde, und interpretierte die Rechtsprechung des EuGH derart, dass einschlägige Richtlinien nur dann von der nationalen Verwaltung bei ihrer Rechtsanwendung zu beachten seien, wenn der Antrag nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie gestellt wurde. Hingegen sollte ein vor Ablauf der Umsetzungsfrist gestellter Antrag allein nach den geltenden nationalen Vorschriften zu beurteilen sein. Das sollte selbst dann gelten, wenn das beantragte Vorhaben erst nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist zugelassen wurde115 und damit zu diesem Zeitpunkt den Vorgaben der Richtlinie widersprach. Eine derartige Unterscheidung findet sich in der Rechtsprechung des EuGH, auf die das BVerwG Bezug nahm, 62 jedoch gerade nicht,116 und ist vor dem Hintergrund der Inter-Environnement Wallonie-, Mangold- und Adeneler-Rechtsprechung auch unzutreffend, da nicht der Zeitpunkt der Antragstellung, sondern die Vereitelung der Richtlinienziele nach Ablauf der Umsetzungsfrist als entscheidendes Differenzierungskriterium dienen muss. Das wird mittlerweile auch vom BVerwG anerkannt. In späteren Urteilen verwies es auf die Vorgaben des 63 EuGH in der Rechtssache Inter-Environnement Wallonie und folgerte aus dem Gebot der Vertragstreue, dass es den Verwaltungsstellen des Mitgliedstaates auch vor Ablauf der Umsetzungsfrist untersagt sei, vollendete Tatsachen zu schaffen, die eine Erfüllung der Vertragspflichten nach Ablauf der Umsetzungsfrist vereiteln würden.117

Auch für die Rechtsanwendung gilt daher, dass nicht alleine der Ablauf der Umsetzungsfrist für 64 die Pflicht zur Beachtung der Richtlinienvorgaben entscheidend ist, sondern es darüber hinaus auf die Wirkungen der Verwaltungsmaßnahme ankommt. Daher ist während des Laufs der Umsetzungsfrist zu prüfen, ob die Vorgaben des EuGH erfüllt sind, also eine ernsthafte Gefährdung der Richtlinienziele droht. Regelmäßig wird dies bei Verwaltungshandeln nicht zu befürchten

_____ 113 Zur Gemeinschaftstreue aller staatlichen Stellen Calliess/Ruffert-Callies/Puttler/Kahl, Art. 4 EUV Rn. 45; Grabitz/Hilf/Nettesheim-v.Bogdandy/Schill, Art. 4 EUV Rn. 62. 114 EuGH v. 22.6.1989 – Rs. 103/88 Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839 Rn. 28–33. 115 BVerwGE 100, 370, 374. 116 Vgl. EuGH v. 11.8.1995 – Rs. C-431/92 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1995, I-2189 Rn. 29: Der EuGH bezieht nur zu nach Ablauf der Umsetzungsfrist ergangenen Anträgen Stellung, lässt die problematischen Fälle der davor gestellten Anträge, zu denen auch der vom BVerwG zu entscheidende Sachverhalt zählt, hingegen unbeantwortet. 117 BVerwGE 107, 1, 22; BVerwGE 110, 302, 308. Kritisch dazu Kühling, DVBl. 2006, 857, 860. Hofmann

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2. Teil: Allgemeiner Teil

sein. Eine Ausnahme kann etwa bei einem Planfeststellungsverfahren bestehen, da es seinem Zweck entsprechend besondere Breitenwirkung entfalten kann. Ähnliches wird gelten, wenn die Verwaltung gesetzgebungsähnliche Funktionen wahrnimmt, etwa bei Aufstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen.

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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung 2. Teil: Allgemeiner Teil

Frank Rosenkranz § 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung Rosenkranz Literatur Franz Bydlinski, Gegen die „Zeitzündertheorien“ bei der Rechtsprechungsänderung nach staatlichem und europäischem Recht, JBl. 2001, 2–8; Ulrich Everling, Der Ausschluß der Rückwirkung bei der Feststellung der Ungültigkeit von Verordnungen durch den Gerichtshof der EG, in: Jürgen Baur/Peter-Christian Müller-Graff/Manfred Zuleeg (Hrsg.), Europarecht – Energierecht – Wirtschaftsrecht, Festschrift für Bodo Börner (1992), S. 57–75; Tobias Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte – Am Beispiel der deutschen und europäischen Gleichbehandlungsrechtsprechung zur betrieblichen Altersversorgung (2001); Niamh Hyland, Temporal limitation of the effects of the judgments of the Court of Justice – A review of recent case-law, IJEL 2 (1995), 208–233; Juliane Kokott/Thomas Henze, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von EuGH-Urteilen in Steuersachen, NJW 2006, 177–183; Thijmen Koopmans, Retrospectivity Reconsidered, Cambr.L.J. 39 (1980), 287–303; Richard H. Lauwaars, The temporal effect of a declaration of invalidity, in: Henry G. Schermers/Christiaan W.A. Timmermans/Alfred E. Kellermann/J. Stewart Watson (Hrsg.), Article 177 EEC: Experiences and Problems (1987), S. 313– 316; Christoph Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (1996); Philipp Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2012); Christoph Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen (2009); Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (in Vorbereitung für 2015) mit umfassenden Nachweisen; Adam Sagan, Europäischer und nationaler Vertrauensschutz bei Rechtsprechungsänderungen im Arbeits- und allgemeinen Privatrecht, JbJZ 2010, S. 67–102; Frank Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht (2010); Holger Schmitz/ Shqipe Krasniqi, Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Urteilen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – ein allgemeiner Rechtsgrundsatz mit Beachtungspflicht des EuGH in Vorlageverfahren –, EuR 2010, 189–207; Roman Seer/Jörg-Peter Müller, Begrenzung der Wirkungen seiner Richtersprüche durch den EuGH, IWB 2008, 255–268; Jörg Philipp Terhechte, Temporäre Durchbrechung des Vorrangs des europäischen Gemeinschaftsrechts beim Vorliegen „inakzeptabler Regelungslücken“?, EuR 2006, 828–847; Christian Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen (2006); Wolfgang Weiß, Die Einschränkung der zeitlichen Wirkungen von Vorabentscheidungen nach Art. 177 EGV, EuR 1995, 377–397; Ariane Wiedmann, Zeitlos wie ungeklärt: Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung von Urteilen des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG, EuZW 2007, 692–696. Rechtsprechung EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575; EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835; EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735; EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015.

I. II.

Übersicht Überblick | 1–3 Theoretische Grundlagen | 4–15 1. Grundsatz der Rückwirkung | 5–13 a) Auslegungsrückwirkung aufgrund des Normanwendungsbefehls des Gesetzgebers | 6–8 b) Rückwirkung von Rechtsfortbildung | 9 c) Differenzierung bei Rechtsprechungsänderung | 10–11

d)

III.

IV.

Rückwirkung der Unwirksamkeitsentscheidungen | 12–13 2. Verhältnis zur Bindungswirkung von EuGH-Urteilen | 14–15 Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung | 16–19 1. Unwirksamkeit | 17 2. Auslegung | 18–19 Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung | 20–53

Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

1.

2.

Auslegung | 21–44 a) Keine Präklusion | 22–24 aa) Maßstab des EuGH | 23 bb) Kritik: Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals | 24 b) Guter Glaube | 25–39 aa) Bezugspunkt und Inhalt | 26–28 bb) Vertrauensbegründendes Verhalten | 29–34 cc) Ausschluss des guten Glaubens | 35–36 dd) Die Vertrauenden | 37 ee) Zeitpunkt des guten Glaubens | 38–39 c) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen | 40–44 aa) Wirtschaftliche Auswirkungen | 41–42 bb) Schwerwiegende Auswirkungen | 43 cc) Gefahr | 44 Unwirksamkeit | 45–53

a)

Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz | 46–47 b) Öffentliche Interessen | 48–53 aa) Vermeidung einer Regelungslücke | 49–51 bb) Weitere Anwendungsfälle | 52–53 V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung | 54–66 1. Dogmatische Einordnung | 55–56 2. Sachliche Reichweite | 57–58 3. Zeitliche Reichweite | 59–63 a) Auslegung | 59–61 b) Unwirksamkeit | 62–63 4. Personelle Reichweite und Ausnahmen | 64–65 5. Räumliche Reichweite | 66 VI. Prozessuales | 67–79 1. Entscheidung von Amts wegen und Antrag | 68 2. Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen | 69–70 VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht | 71–75

I. Überblick 1 Die Bestimmung der zeitlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs

ist selbst nach einer fünfzigjährigen Rechtsprechungsgeschichte ein „Dauerbrenner“ in der europäischen Rechtswissenschaft.1 Wesentliche Grundlinien zeichnen sich zwar ab, in den Einzelheiten besteht jedoch weiterhin Streit. Ungebrochen ist auch die praktische Relevanz.2 Beschränkungen der zeitlichen Wirkungen sind insbesondere bei Nichtigkeitsklagen regelmäßig anzutreffen und auch bei Auslegungsvorabentscheidungen werden die Betroffenen nicht müde, sie zu beantragen, obwohl dort seit über zehn Jahren keine Beschränkung vorgenommen wurde. Die Stellungnahmen des Gerichtshofs zu Fragen der zeitlichen Wirkung seiner Entscheidungen verteilen sich dabei ungefähr gleich auf das Auslegungsverfahren einerseits und das Ungültigkeits- sowie Nichtigkeitsverfahren andererseits. In den letztgenannten ist die Erfolgsquote eines Antrags hingegen mehr als fünfmal so hoch. Nur selten wird eine Rückwirkungsbeschränkung im Vertragsverletzungsverfahren diskutiert.3 Juristische Sprengkraft erfährt die Rückwirkungsfrage durch die Nähe zu grundlegenden 2 Rechtsprinzipien des Unionsrechts. Sie berührt zuerst die (horizontale) Gewaltenteilung innerhalb der Union, denn die Beschränkung der Rückwirkung stellt die Geltung der ausgelegten Norm in Frage und könnte daher als ein Übergriff in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers angesehen werden. Außerdem muss der Gerichtshof auf den Charakter des Unionsrechts als Mehrebenensystem Rücksicht nehmen. Insoweit ist fraglich, ob und inwieweit das Unionsrecht

_____ 1 Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533, 537. 2 Zahlenmaterial bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 2 D und Anhang I. 3 Zuletzt aber EuGH v. 8.4.2014 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, Rn. 63 ff. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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in seiner Geltung oder Durchsetzung aufgrund von mitgliedstaatlichen Besonderheiten oder Vertrauensschutz gehemmt werden kann. Schließlich wird dieses dreidimensionale Verhältnis um die Komponente des Individualrechtsschutzes erweitert: Bei einer Rückwirkungsbeschränkung wird das im Urteil gefundene Ergebnis erst in der Zukunft verbindlich und damit werden alle (eingelegten und potentiellen) Rechtsbehelfe frustriert, die auf die Durchsetzung des Unionsrechts in der Vergangenheit abzielen. Besonders exponiert ist dabei derjenige, der die EuGHEntscheidung herbeigeführt hat. Als Grundlage der Rückwirkungsbeschränkung dient das auch im Unionsrecht anerkannte 3 Prinzip der Rechtssicherheit. Als primärrechtlicher Rechtsgrundsatz bindet es sämtliche Unionsorgane einschließlich der Rechtsprechung. Auch die Judikative darf daher schutzwürdiges Vertrauen nicht missachten. Dem stehen die unionsrechtliche Kompetenzordnung und der Grundsatz der unionseinheitlichen Geltung des Unionsrechts gegenüber, die ebenso von primärrechtlichem Rang sind. Die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen sind demnach auf dem Wege der praktischen Konkordanz auszugleichen.4

II. Theoretische Grundlagen Der Rechtsprechung ist die Entscheidung von Fällen übertragen, deren tatsächlicher Sachver- 4 halt in der Vergangenheit begonnen hat und zumeist auch schon abgeschlossen ist. Dieser tatsächliche Vergangenheitsbezug kann nicht umgangen werden und erfordert eine Auseinandersetzung mit den zeitlichen Wirkungen der Gerichtsentscheidung. Dennoch folgt aus ihm nicht, welche Normen auf die Vergangenheit angewendet werden müssen und welcher Inhalt diesen zu geben ist. Es ist demnach zu unterscheiden zwischen der unvermeidlichen Rückwirkung des Richterspruchs auf den vergangenen Sachverhalt und der (rückwirkenden) Anwendung der vom Richter dabei herangezogenen Normen.

1. Grundsatz der Rückwirkung Diese Unterscheidung ist sowohl bei der Begründung der Rückwirkung der Auslegung einer 5 Norm zu beachten, als auch bei Begründung der Rückwirkung einer Gerichtsentscheidung über die Aufhebung von Unionsrechtsakten („Unwirksamkeitsentscheidungen“).5

a) Auslegungsrückwirkung aufgrund des Normanwendungsbefehls des Gesetzgebers Die Rückwirkung des Auslegungsvorgangs wird zumeist auf sein Wesen oder seine Natur zu- 6 rückgeführt.6 Klarheit ist dadurch nicht gewonnen. Vielmehr dürfte dies unausgesprochen auf die deklaratorische Auslegungstheorie verweisen, der auch der Europäische Gerichtshof zu folgen scheint.7 In der Tat kann die axiomatische Behauptung, dass der Richter das Recht nur finde

_____ 4 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 121. 5 Das sind vor allem die Gültigkeitsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV und die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV. 6 Z.B. Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 14; v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 523; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003), S. 6; v.d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 94. 7 Nach GA Trstenjak, SchlA v. 17.6.2010 – Rs. C-229/09 Hogan Lovells International, Slg. 2010, I-11335 Tz. 83 zuletzt ausdrücklich EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-429/12 Pohl, Rn. 30 mwN. Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

und in keiner Weise (autonom) setze, zur Begründung der Rückwirkung der Auslegung dienen. Die deklaratorische Theorie beruht insoweit – ebenso wie dezisionistische Antagonisten – auf dem Demokratieprinzip in Verbindung mit dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts: 7 Jede Unionsnorm wird von einem Anwendungsbefehl flankiert, mit dem der Gesetzgeber die Geltung und Anwendung der Norm gebietet. Der Anwendungsbefehl ist Ausdruck des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips, denn er beruht auf dem Grundsatz der Gesetzesbindung der Judikative. Verzichtet der Gesetzgeber auf eine definitorische Konkretisierung des Inhalts einer Norm, so ist der Richter berechtigt und verpflichtet, diese Vorschrift zu interpretieren.8 Das ist wiederum Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips, welches in der institutionellen Diversifikation der EU verwirklicht wurde. Der Konkretisierungsauftrag setzt nun aber mit dem Inkrafttreten der Norm ein, weshalb sich die zeitlichen Wirkungen der Auslegung nicht von der zeitlichen Geltung der Norm ablösen lassen.9 Die tatsächliche Rückbeziehung des Urteils ist dabei der Grund für die Anordnung des Normgebers, die spätere Interpretation durch den Gerichtshof schon ab Inkrafttreten der Norm zugrunde zu legen. Die Rückwirkung der Auslegung ist allen Verfahrensarten gemein, denn der Vorgang der 8 Auslegung ist derselbe, unabhängig vom Verfahren, in dem er vorgenommen wird. Deshalb sind auch die zeitlichen Wirkungen der Auslegung von der Verfahrensart unabhängig und an die ausgelegte Norm angeknüpft.10 Gleichwohl kann sich aus den verfahrensrechtlichen Vorschriften eine Begrenzung der aus dem Urteil zu ziehenden Folgen ergeben. Beispielsweise beruht die Feststellung der Vertragsverletzung nach Art. 258 ff. AEUV auf einer Auslegung des Unionsrechts, die ihrerseits für die Vergangenheit zu beachten ist und deshalb einen unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch begründen kann.11 Gleichwohl ist der verurteilte Mitgliedstaat gemäß Art. 260 AEUV nur verpflichtet, den Vertragsverstoß für die Zukunft abzustellen, nicht aber auch die Folgen früheren vertragswidrigen Verhaltens zu beseitigen.12

b) Rückwirkung von Rechtsfortbildung 9 Die zeitliche Wirkung einer vom Gerichtshof vorgenommenen Rechtsfortbildung beurteilt

sich nach denselben Regeln; insoweit unterscheidet der Gerichtshof zu Recht nicht zwischen Rechtsfortbildung und Auslegung. Das hat seinen Grund zum einen darin, dass Auslegung und Rechtsfortbildung vergleichbare Vorgänge der Rechtsfindung sind.13 Zum anderen besteht das gesetzgeberische Interesse an verbindlichen Verhaltensvorgaben auch im Bereich der Lückenschließung. Der Rechtsanwendungsbefehl ist hier nicht an eine einzelne Norm, wohl aber an die Rechtsordnung als Ganzes angeknüpft. Darüber hinaus gebieten die Rechtssicherheitsinteressen der Betroffenen keine schärfere Begrenzung der Wirkungen einer Rechtsfortbildung als die der Auslegung.14 Sieht man die unionsrechtliche Rechtsfortbildung als methodengebunden an,15 ist

_____ 8 Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 4 D I 2. b) bb). 9 Drüen/Kahler, StuW 2005, 171, 180; Schlachter, ZfA 2007, 249, 265; Weiß, EuR 1995, 377, 378; i.Erg. ebenso Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 41. 10 Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 178; Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479, 489. 11 Vgl. EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich und Bonifaci, Slg. 1991, I-5357 Rn. 28 ff. 12 Streinz-Ehricke, Art. 260 Rn. 8 mwN; Pechstein, EU-Prozessrecht (4. Aufl. 2011), Rn. 311; a.A. Petersen, EG-Richtlinienumsetzung und Übergangsgerechtigkeit (2008), S. 341 ff. 13 Everling, JZ 2000, 217, 218; Schroeder, FS G.H. Roth (2011), S. 739. 14 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 4 D III 2. 15 Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 2 f.; Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 207. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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sie im selben Maße vorhersehbar wie eine Auslegung.16 Zeitlicher Bezugspunkt einer Rechtsfortbildung ist daher der Zeitpunkt, in dem ihre Voraussetzungen erstmals erfüllt waren.

c) Differenzierung bei Rechtsprechungsänderung Der Gerichtshof ist nicht an seine eigene Rechtsprechung gebunden und kann diese jederzeit 10 ändern.17 Besondere prozessuale oder materielle Hürden bestehen dabei nicht,18 insbesondere findet insoweit keine Abwägung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit statt.19 Erwägungen zum Vertrauensschutz der Betroffenen sind vielmehr ausschließlich bei der Bestimmung der zeitlichen Reichweite einer Rechtsprechungsänderung anzustellen, um zu verhindern, dass die „falsche“ Rechtsansicht für die Zukunft perpetuiert wird.20 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs wirkt die geänderte Auslegung, ebenso wie die 11 erstmalige Auslegung einer Norm, auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Vorschrift zurück.21 Allerdings ist umstritten, ob der EuGH in diesem Fall andere tatbestandliche Voraussetzungen für eine Rückwirkungsbeschränkung anlegt.22 Richtigerweise sollte schon im Grundsatz danach unterschieden werden, worauf die Änderung der Rechtsansicht beruht.23 Kommt der Gerichtshof aufgrund einer besseren Rechtserkenntnis zu neuen Ergebnissen, ohne dass sich das normative oder tatsächliche Umfeld geändert hat, gebietet der Rechtsanwendungsbefehl die Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift, denn die Norm sollte ab initio im nunmehr maßgeblichen Sinne verstanden und angewendet werden. Der Gleichheitssatz steht nicht entgegen, denn die Ungleichbehandlung der schon nach dem alten Recht entschiedenen Fälle mit den noch nicht entschiedenen Fällen, die vor dem ändernden Urteil liegen, beruht auf der Rechtskraft ersterer.24 Geht die Rechtsprechungsänderung hingegen auf einen rechtserheblichen Wandel der normativen oder tatsächlichen Bezugspunkte zurück, darf sie nur bis zu dessen Eintreten zurückwirken, denn die frühere Rechtslage war „richtig“ und sollte in dieser Form zur Anwendung kommen.25

d) Rückwirkung der Unwirksamkeitsentscheidungen Mit dem Grundsatz der Rückwirkung einer Auslegung ist nicht bestimmt, dass auch die Aufhe- 12 bung einer Unionsrechtsnorm rückwirkend zu erfolgen hat. Für einen Gleichlauf ließe sich zwar

_____ 16 Dies gilt erst recht, wenn man die Analogie als vom Gleichheitssatz geboten ansieht, vgl. EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-402/07 Sturgeon, Slg. 2009, I-10923 Rn. 48 ff.; Ahmling, Analogiebildung durch den EuGH im Europäischen Privatrecht (2012), S. 161 f. mwN; für die herrschende deutsche Methodenlehre nur Larenz, Methodenlehre, S. 381. 17 Langenbucher, JbJZ 1999, S. 65, 75 mwN; Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law (1998), S. 115, 125 f. 18 Materielle Schranken schon verneinend Lord Mackenzie Stuart/Warner, FS Kutscher (1981), S. 276. 19 A.A. wohl Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 57; krit. auch Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 24; W.-H. Roth, RabelsZ 75 (2011), 787, 840; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH (1995), S. 181 ff. 20 Piekenbrock, ZZP 119 (2006), 3, 15; Höpfner, RdA 2006, 156, 160; Kanzler, FS Spindler (2011), S. 274 f.; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 231; Grosche, Rechtsfortbildung im Unionsrecht (2011), S. 256 f. 21 Vgl. EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097 Rn. 46 ff.; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 64 ff. 22 Umstritten ist insbesondere die Bedeutung des Merkmals der schwerwiegenden wirtschaftlichen Auswirkungen, siehe auch unten Rn. 40. 23 Zu den möglichen Fallgruppen eingehend Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung (2. Aufl. 2011), S. 80 ff. (zum deutschen Recht); Juratowitch, Retroactivity and the Common Law (2008), S. 154 ff. (zum englischen Recht). 24 Pohl, Rechtsprechungsänderung und Rückanknüpfung (2005), S. 191 f. 25 Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung (2. Aufl. 2011), S. 82 ff. Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

ins Feld führen, dass jede Unwirksamkeitsentscheidung auf mindestens zwei Auslegungsvorgängen beruht, der Auslegung des zu prüfenden abgeleiteten Rechts und der Auslegung des höherrangigen Rechts. Die Wirkungen eines Ausspruches über die Unwirksamkeit sind jedoch nicht rechtslogisch vorgegeben. Vielmehr ist aus der unionalen (Prozess-)Rechtsordnung abzuleiten, welche Folgen die festgestellte Rechtswidrigkeit der Unionsnorm hat.26 Die Unwirksamkeit von Unionsrechtsakten kann vor allem in drei Verfahren vom EuGH ge13 prüft werden: in der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 f. AEUV, der Gültigkeitsvorlage nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV und der Inzidentprüfung nach Art. 277 AEUV. Eine Gesamtschau dieser Verfahren ergibt, dass die Aufhebung ein konstitutiver, rückwirkender Akt ist.27 Die jedem Unionsrechtsakt zukommende Gültigkeitsvermutung muss durch den Gerichtshof widerlegt und bestehende Rechtswirkungen des Rechtsakts müssen aufgehoben werden.28 Die Unwirksamkeitsentscheidung wirkt auf den Zeitpunkt des Eintritts des Normkonflikts zurück, da auf diese Weise der Geltung der höherrangigen Norm und ihrem Anwendungsbefehl auf bestmögliche Weise Rechnung getragen werden.

2. Verhältnis zur Bindungswirkung von EuGH-Urteilen 14 Die Rückwirkung der Auslegung oder Unwirksamkeit kann schon im Anlassfall zu Konflikten

mit individuellen Rechtspositionen führen und wirft dort ein „Rückwirkungsproblem“ auf. Eine etwaige Bindungswirkung der Entscheidung für andere Fälle als den Ausgangssachverhalt verstärkt die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen des Urteils noch einmal erheblich.29 Bindung erzeugt außerdem Rechtssicherheit und kann Anlass für (abstrakten) Vertrauensschutz sein. Die Maßstäbe des guten Glaubens und der wirtschaftlichen Auswirkungen müssen sich daran ebenso orientieren wie die räumliche und personelle Reichweite der von der Beschränkung erfassten Sachverhalte. Bindungswirkung kommt dabei zuerst den Aufhebungsentscheidungen des Gerichtshofs im 15 Nichtigkeits- und Gültigkeitsverfahren zu. Die Rechtsfolgen beider Entscheidungsarten sind trotz verschiedener Normsituationen weitgehend vereinheitlicht. Ebenso sind Rechtsanwender an die Auslegung des Unionsrechts durch den Europäischen Gerichthof gebunden.30 Diese Bindung ist unabhängig vom Verfahren, in dem die Auslegung vorgenommen wurde.31 Dogmatisch handelt es sich also wie bei der Rückwirkung nicht um die Bindungswirkung eines Urteils, sondern um Wirkungen, die der Unionsnorm zukommen.32 Dies lässt sich aus der C.I.L.F.I.T.-Recht-

_____ 26 Nettesheim, EuR 2006, 737, 748; Bettermann, FS Eichenberger (1982), S. 597 f. 27 I.Erg. ebenso Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen (1997), S. 64 ff., 115 f.; Nettesheim, EuR 2006, 737, 749 f. Das Unionsrecht kennt daher auch kein sog. „Nichtigkeitsdogma“, a.A. Hein, Inzidentkontrolle (2001), S. 185 ff. Die in den unterschiedlichen Verfahrensarten getroffenen Entscheidungen haben freilich eine verschieden weit reichende Bindungswirkung. 28 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 4 E. 29 Waldhoff, Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, S. 14; Rainer, IStR 1996, 328. 30 Über den Inhalt der Bindung besteht Streit. Die Vertreter eines bindenden Abweichungsverbotes und einer präsumtiv-faktischen Bindungswirkung dürften ungefähr gleich an Zahl sein, siehe die Nachweise bei Schima, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH (2. Aufl. 2004), S. 97 ff.; Klappstein, JbJZ 2009, S. 233, 258 ff. 31 Toth, YEL 4 (1984), 1, 61 Fn. 251; Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law (1998), S. 115, 134 f.; siehe auch oben Rn. 8. 32 I.Erg. ebenso Lenaerts, CMLR 44 (2007), 1625, 1642 unter Berufung auf den deklaratorischen Charakter der Auslegung.

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§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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sprechung ableiten, wonach die Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV entfällt, wenn die Rechtsfrage – gleich in welcher Verfahrensart – vom Gerichtshof bereits geklärt wurde.33

III. Kompetenz zur Beschränkung der zeitlichen Wirkung Diese theoretische Grundlegung ermöglicht, die Kompetenzgrundlagen für die Bestimmung der 16 zeitlichen Wirkung der EuGH-Rechtsprechung herauszuarbeiten. Zum einen erweist sich die grundsätzliche Rückwirkung der Rechtsprechung als strukturell bedingt und muss daher vom Gerichtshof nicht besonders begründet werden. Einer gesonderten Ermächtigung bedarf es daher nicht. Zum anderen legt die theoretische Unterscheidung zwischen Auslegung und Aufhebung nahe, dass auch die Kompetenzen verschieden zu begründen sind.

1. Unwirksamkeit Bei der zeitlichen Beschränkung der Unwirksamkeit einer Unionsnorm kann sich der Gerichts- 17 hof auf die ausdrückliche Bestimmung des Art. 264 Abs. 2 AEUV berufen. Danach liegt es in seinem gebundenen Ermessen, diejenigen Wirkungen der aufgehobenen Norm zu bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind. Die Vorschrift ist Ausprägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit.34 Während die Vorgängervorschriften noch auf Verordnungen beschränkt waren, bezieht sich Art. 264 Abs. 2 AEUV auf sämtliche Handlungen der Union im Sinne von Art. 288 AEUV.35 Im Verfahren der Nichtigkeitsklage ist Art. 264 Abs. 2 AEUV direkt anwendbar. Auf die Gültigkeitsvorlage und die Inzidentrüge findet die Regelung entsprechende Anwendung, da nur so die Kohärenz der Aufhebungsverfahren sichergestellt werden kann.36

2. Auslegung Für die Auslegungsrückwirkungsbeschränkung fehlt es an einer ausdrücklichen Kompetenzzu- 18 weisung. Dennoch muss die auf primärrechtliche Grundsätze zurückzuführende Rückwirkung nicht schrankenlos sichergestellt werden, sondern ist dem Ausgleich mit anderen primärrechtlichen Rechtsgrundsätzen zugänglich. Zu Recht geht der Gerichtshof daher davon aus, dass Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV in Verbindung mit dem Prinzip der Rechtssicherheit eine Beschränkung der Rückwirkung der Auslegung ermöglicht.37 Zur „Wahrung des Rechts bei der Anwendung und Auslegung der Verträge“ gehört auch die Berücksichtigung von Auswirkungen der EuGH-Urteile auf andere schützenswerte Interessen und Rechtspositionen. Dagegen lässt

_____ 33 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 14; Köber, Kooperations- und Beschleunigungsmechanismen im Vorabentscheidungsverfahren (2013), S. 69. 34 Calliess/Ruffert-Cremer, Art. 263 AEUV Rn. 3. 35 Der Gesetzgeber hat damit nur die frühere Rechtslage kodifiziert, denn der EuGH wandte die Vorgängervorschriften analog auf andere Rechtsakte als Verordnungen an, vgl. die ausführliche Darstellung bei Chr. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, S. 28 ff. 36 Zum Gültigkeitsverfahren: EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 17; Weiß, EuR 1995, 377, 384; Bebr, FS Stein (1987), S. 107. Zur Inzidentrüge: Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGHEntscheidungen, § 6 C. 37 EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767 Rn. 32; EuGH v. 13.4.2010 – Rs. C-73/08 Bressol u.a., Slg. 2010, I-2735 Rn. 91; Kerwer, Das europäische Gemeinschaftsrecht und die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte (2003), S. 663 f.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

sich nicht anführen, dass das EuGH-Urteil in einem solchen Fall gänzlich wertlos sei, weil es im Anlassfall nicht entscheidungserheblich sei und daher nicht als Präjudiz für andere Sachverhalte dienen könne.38 Der Gerichtshof ist frei, auch solche Bestandteile einer Urteilsbegründung, die die Entscheidung im Einzelfall nicht tragen, als präjudizfähig anzusehen.39 Dementsprechend sind die materiellrechtlichen Aussagen einer rückwirkungsbeschränkten Entscheidung in gleichem Maße für andere Sachverhalte oder die Zukunft verbindlich wie bei Entscheidungen ohne eine Rückwirkungsbeschränkung. Die Kompetenz zur Auslegungsrückwirkungsbeschränkung gilt auch für das Vertragsverlet19 zungsverfahren.40 Der Gerichtshof konnte die Anwendung der für die Auslegung etablierten Grundsätze zwar bisher stets offen lassen, weil jedenfalls die Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt gewesen wären.41 Da sich die Wirkungen der Auslegung nicht unterscheiden, wenn diese im Vertragsverletzungsverfahren oder etwa im Auslegungsvorabentscheidungsverfahren erfolgt ist, müssen auch die zeitlichen Wirkungen verfahrensübergreifend bestimmt werden.42 Diese sollten außerdem nicht von dem Zufall abhängen, in welchem Verfahren eine bestimmte Rechtsfrage ihrer europarechtlichen Klärung zugeführt wird.

IV. Tatbestand der Rückwirkungsbeschränkung 20 Die Rückwirkung einer Auslegungs- oder Unwirksamkeitsentscheidung darf nur beschränkt

werden, wenn „zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die mit allen betroffenen öffentlichen wie privaten Interessen zusammenhängen“,43 dies gebieten. Der Ausgleich von Rechtssicherheit und „Objektivität des Rechts“44 verlangt eine Abwägung von individuellen und öffentlichen Rechtssicherheitsinteressen auf der einen Seite und dem Prinzip der Gesetzesbindung auf der anderen Seite. Letzteres umfasst die einheitliche Geltung des Unionsrechts unabhängig von den Auswirkungen auf den Einzelfall oder von mitgliedstaatlichen Besonderheiten. Ausgehend von diesen Gemeinsamkeiten unterscheidet der Gerichtshof die konkreten Tatbestandsvoraussetzungen deutlich danach, ob die Auslegung oder die Unwirksamkeit einer Unionsnorm betroffen sind.

_____ 38 Z.B. Lord Hobhouse of Woodborough, in House of Lords v. 27.7.2000 Regina v. Governor of Her Majesty's Prison Brockhill Ex Parte Evans, [2000] 4 All E.R. 15: „Such a decision would by definition not be part of the ratio decidendi of the case and therefore would not constitute an authoritative decision.“ Ähnlich unter Hinweis auf die ausschließliche Zuständigkeit des Gesetzgebers für die Regelung der Zukunft Jansen, ERPL 2 (2000), 336, 340 f. 39 Vgl. Arnull, Interpretation and Precedent in European Community Law (1998), S. 115, 126 f. (dort aber zum Inhalt der Bindungswirkung). Zum englischen Recht McLeod, Legal Method (9. Aufl. 2013), S. 135; Martens, JZ 2011, 348, 352. 40 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 6 E I. 41 Z.B. EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 29 f.; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11913 Rn. 56 ff.; EuGH v. 25.10.2012 – Rs. C-387/11 Kommission ./. Belgien, Rn. 89 ff.; EuGH v. 8.4.2012 – Rs. C-288/12 Kommission ./. Ungarn, Rn. 64. Die Generalanwälte sind gespalten, sie bejahen (z.B. GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 342 f.; GA Kokott, SchlA v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Tz. 84) oder verneinen (z.B. GA Alber, SchlA v. 27.1.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien, Slg. 2000, I-6355 Tz. 100; GA Stix-Hackl, SchlA v. 7.6.2001 – Rs. C-426/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2002, I-2793 Tz. 62) eine Anwendbarkeit der Auslegungsgrundsätze. 42 In diesem Sinne GA Slynn, SchlA v. 17.9.1987 – Rs. 293/85 Kommission ./. Belgien, Slg. 1988, 305, 342 f. 43 EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 28; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 36; ähnlich EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 87. 44 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 57; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 66. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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1. Auslegung Für die Beschränkung der Auslegungsrückwirkung müssen drei Merkmale kumulativ erfüllt sein. 21 Zuerst – als negatives Tatbestandsmerkmal – darf eine Beschränkung nicht präkludiert sein, weil eine ähnliche („konnexe“) Rechtsfrage schon einmal vom Gerichtshof beantwortet wurde und dort ebendiese Beschränkung gleich aus welchem Grund unterblieben ist (a).45 Zudem müssen die Rechtsunterworfenen gutgläubig von einer anderen Rechtslage ausgegangen sein (b).46 Und schließlich müssen wegen des Urteils schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen drohen (c).47

a) Keine Präklusion Das Tatbestandsmerkmal der Präklusion bezweckt, die Einheitlichkeit der Anwendung des Uni- 22 onsrechts gegenüber den Mitgliedstaaten und den Einzelnen sicherzustellen.48 Der Gerichtshof beurteilt das Vorliegen der Präklusion daher „objektiv“ aus seiner Perspektive, nicht etwa aus der Sicht der Rechtsunterworfenen. aa) Maßstab des EuGH. Ungeachtet der rigorosen Rechtsfolge ist der Maßstab der Konnexi- 23 tät nicht abschließend geklärt. Die Feststellung, wann eine Rechtsfrage schon einmal Gegenstand einer gerichtlichen Erörterung war, hängt wesentlich vom Abstraktionsniveau der Rechtsfrage ab und eröffnet dem EuGH daher einen bedeutsamen Einschätzungsspielraum.49 Die Bestimmung der Konnexität verlangt einen Vergleich der Tatsachen unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Normsituation mit Blick auf die gestellte Rechtsfrage. So hat der Gerichtshof den Zugang zu einem Fachhochschulstudium vom Zugang zu einem Universitätsstudium unterschieden, als das Merkmal der „beruflichen Bildung“ im Sinne des heutigen Art. 166 Abs. 1 AEUV entscheidend war.50 Ebenso waren im Hinblick auf Art. 157 Abs.1 AEUV der (diskriminierungsfreie) Zugang zu einem Betriebsrentensystem und dessen (diskriminierungsfreie) Ausgestaltung zu trennen,51 nicht hingegen die diskriminierungsfreie Gewährung einer Betriebsrente und einer betrieblichen Witwenrente im Hinblick auf ihren Entgeltcharakter im Sinne von Art. 157 Abs. 1 AEUV.52 Das Konnexitätsmerkmal weist deutliche Parallelen zur Lehre vom Präjudiz auf,53 wenngleich die Einzelheiten derselben im Unionsrecht noch nicht voll entwickelt sind. bb) Kritik: Ablehnung eines eigenständigen Tatbestandsmerkmals. Das Konnexitäts- 24 merkmal vermengt eine Vielzahl von Einzelproblemen, insbesondere Vorhersehbarkeitserwä-

_____ 45 Verneint z.B. in EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 38 ff.; EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-426/07 Krawczyński, Slg. 2008, I-6021 Rn. 45 ff. 46 Verneint z.B. in EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 34; EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 46. 47 Verneint z.B. in EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945 Rn. 53; EuGH v. 5.10.2006 – verb. Rs. C-290/05 und C-333/05 Nádasdi und Németh, Slg. 2006, I-10115 Rn. 64 ff. 48 Z.B. EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., Rn. 91. 49 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 82; Lang, IStR 2007, 235, 239; Forsthoff, DStR 2005, 1840, 1842; krit. auch Schmitz/Stammler, AöR 136 (2011), 479, 498. 50 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 309/85 Barra, Slg. 1988, 355 Rn. 14 im Gegensatz zu EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot, Slg. 1988, 379 Rn. 29 im Hinblick auf EuGH v. 13.2.1985 – Rs. 293/83 Gravier, Slg. 1985, 593. 51 EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 im Hinblick auf EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, Slg. 1986, 1607. 52 EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 Rn. 15 ff. 53 Vgl. Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 7 B I 2., auch mit Kritik an den in der Literatur vorgenommenen Anleihen beim Streitgegenstandsbegriff.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

gungen im Rahmen des guten Glaubens, die territoriale Reichweite und damit die Antragsbefugnis sowie das Verbot der Nachholung einer Rückwirkungsbeschränkung. Gleichzeitig führt es den EuGH zu Widersprüchen mit dem (subjektiven) Maßstab des „guten Glaubens“ und zu einer größeren Verbindlichkeit seiner eigenen Rechtsprechung im Vergleich zu Rechtsnormen.54 Daher ist es als eigenständiges Merkmal abzulehnen. Vielmehr ist sein Zweck, die einheitliche Geltung des Unionsrechts zu sichern, bei den einzelnen Sachproblemen angemessen zu berücksichtigen. Dies ermöglicht flexiblere Lösungen.55

b) Guter Glaube 25 Das Merkmal des guten Glaubens ist erfüllt, wenn „die Einzelnen und die nationalen Behörden zu

einem mit der Unionsregelung unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine objektive und bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Unionsbestimmungen bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission beigetragen hatte“.56 aa) Bezugspunkt und Inhalt. Bezugspunkt des guten Glaubens muss also die Unionsrechtslage („Unionsbestimmung“) sein.57 Wie die Rechtsunterworfenen das mitgliedstaatliche Recht oder etwa das Völkerrecht verstanden haben oder verstehen mussten, ist irrelevant. Entgegen seiner Formulierung fordert der Gerichtshof nicht nur eine Unsicherheit über die 27 Vorgaben des Unionsrechts, sondern die Überzeugung der Rechtsunterworfenen vom Bestehen einer bestimmten Rechtslage und der Unionsrechtmäßigkeit ihres Verhaltens.58 Unionsnormen sind als abstrakt-generelle Regelungen – jedenfalls in Randbereichen – strukturell unbestimmt,59 weshalb Zweifel oder Unklarheiten über das Verständnis einer Unionsnorm stets zu Lasten der Rechtsunterworfenen gehen und daher für einen guten Glauben nicht genügen können. Damit werden die Mitgliedstaaten auch nicht unangemessen belastet und ihnen die Anpassung ihrer Rechtsordnungen auf einen „bloß vagen Verdacht“ hin auferlegt.60 Als Adressaten des Unionsrechts müssen sich die Mitgliedstaaten ebenso wie die Unionsbürger auf Zweifelslagen einstellen und Vorsorge treffen. Das Merkmal des guten Glaubens ist dennoch nicht subjektiv zu bestimmen. Anerkennung 28 findet die Rechtsüberzeugung nur, wenn sie aus Sicht der Rechtsunterworfenen objektiv berechtigt war.61 Allein dies ermöglicht einen unionseinheitlichen Maßstab.62 26

_____ 54 Eingehend Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 7 B I 4. 55 Osterloh, FS Hassemer (2010), S. 177; Alexander, YEL 8 (1988), 11, 25. 56 Z.B. EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 43; EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 37. 57 St. Rspr.; EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 53; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 69; Franzen, RIW 2010, 577, 578. 58 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 46 f.; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 130; Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, in: Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität? (2006), S. 9, 24 f.; mit abweichenden Maßstäben hingegen z.B. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EUGH (1995), S. 305; Schwarze, NJW 2005, 3459, 3465; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 233. 59 Statt aller Hartley, Constitutional Problems of the European Union (1999), S. 66 ff. 60 So aber Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 180. 61 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 58; EuGH v. 12.10.2000 – Rs. C-372/98 Cooke, Slg. 2000, I-8683 Rn. 46; Broberg/Fenger, Preliminary References to the European Court of Justice (2010), S. 450. 62 GA Stix-Hackl, SchlA v. 5.10.2006 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Tz. 41. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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bb) Vertrauensbegründendes Verhalten. Der faktische Irrtum der Rechtsunterworfenen über die Unionsrechtslage ist jedoch nur dann rechtlich relevant, wenn er durch ein der Union zurechenbares Verhalten veranlasst wurde. Anderenfalls wäre die Selbstbindung der Union auf Grundlage des Verbots widersprüchlichen Verhaltens nicht gerechtfertigt.63 Der Gerichtshof ist dabei vorrangiger Vertrauensveranlasser. Guter Glaube kommt demnach in Betracht, wenn eine gefestigte Rechtsprechung zu einer bestimmten Rechtsfrage besteht.64 Die Änderung dieser Rechtsprechung enttäuscht zumeist Vertrauen in den Fortbestand derselben. Ob tatsächlich eine Rechtsprechungsänderung vorliegt, beurteilt sich – entsprechend dem allgemeinen Gutglaubensmaßstab – aus verobjektiviert-subjektiver Sicht unter Berücksichtigung der Reichweite der bisherigen Rechtsprechung im Hinblick auf Streitgegenstand und/oder Vorlagefragen. Daher kann auch ein missverständliches Urteil des EuGH genügen,65 nicht jedoch die bloße judikative Untätigkeit.66 Verhalten der Kommission kann ebenso guten Glauben begründen. Zwar ist die Kommission im Gegensatz zum Gerichtshof nicht zur verbindlichen Auslegung des Unionsrechts berechtigt, ihr kommt aber eine zentrale Stellung in der Europäischen Union zu. Vertrauensauslösend ist vor allem ihr aktives Tun, beispielsweise in Form von öffentlichen Stellungnahmen zu Rechtsfragen oder der Beendigung von Vertragsverletzungsverfahren. 67 Schweigen oder Unterlassen genügen nur, wenn eine Pflicht zum Tätigwerden bestand.68 Weder zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren noch beispielsweise zur Stellungnahme auf eine Notation nach Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 79/7/EWG ist die Kommission aber verpflichtet, so dass daraus kein guter Glaube abgeleitet werden kann, falls dies unterbleibt oder sich deutlich verzögert.69 Auch die Rechtsansichten anderer Unionsorgane oder -einrichtungen können guten Glauben begründen, soweit ihre Stellungnahmen den Äußerungen des zur Auslegung allein berufenen Gerichtshofs im Einzelfall nahekommen.70 Dies erfordert eine besondere Sachkompetenz sowie ein Mindestmaß an Objektivität. Dementsprechend können Sekundärrechtsakte des Unionsgesetzgebers (Rat und Parlament) einen Irrtum über die Primärrechtslage hervorrufen.71 Stellungnahmen des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer nach Art. 398 RL 2006/

_____ 63 Im Unterschied zur Selbstbindung einzelner Unionsorgane, bei der diese nur sich selbst binden, bindet hier ein Unionsorgan (z.B. die Kommission) ein anderes (den Gerichtshof). 64 Vgl. z.B. EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097; EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119. 65 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 110 im Hinblick auf EuGH v. 10.9.1996 – Rs. C-277/94 Taflan-Met u.a., Slg. 1996, I-4085; krit. dazu Peers, E.L.Rev. 24 (1999), 627, 633. 66 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 50; a.A. Louven, Problematik und Grenzen rückwirkender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, S. 111. 67 EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 32; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 56. 68 GA Sharpston, SchlA v. 22.6.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Tz. 93; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 133 f.; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693; Thömmes, IWB 2006, 375, 379. 69 EuGH v. 12.9.2000 – Rs. C-359/97 Kommission ./. Großbritannien und Nordirland, Slg. 2000, I-6355 Rn. 93; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-239/06 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11913 Rn. 59; EuGH v. 15.12.2009 – Rs. C-387/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-11831 Rn. 59; EuGH v. 19.10.1995 – Rs. C-137/94 Richardson, Slg. 1995, I-3407 Rn. 35; Rengeling/Middecke/Gellermann-Burgi, EU-Rechtsschutz (3. Aufl. 2014), § 6 Rn. 25. 70 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 7 B II 1. b) dd), § 7 B II 3. a) und § 7 B II 3. g). 71 Vgl. EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 42; aber auch EuGH v. 17.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625 Rn. 32. Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

112/EG dürften wegen dessen besonderer Sachkunde und großer Autorität ebenfalls dazu geeignet sein.72 Äußerungen der einzelnen Mitgliedstaaten oder ihrer Einrichtungen kommt entgegen der 33 Formulierung des Gerichtshofs und der Meinung der überwiegenden Literatur keine irrtumsbegründende Relevanz zu.73 Allenfalls ein gemeinsames Verständnis aller Mitgliedstaaten, das sich auf EU-Ebene institutionalisiert und artikuliert, genügt den Anforderungen an eine unionale Selbstbindung. Da die Rückwirkungsbeschränkung räumlich die gesamte EU erfasst, würde sonst das Unionsrecht in seinem Inhalt vom Verständnis einzelner Mitgliedstaaten abhängen. Aus ebendiesem Grund können Rechtsansichten von Privatpersonen, Verbänden oder der 34 Wissenschaft keinen guten Glauben begründen, sie können der Union nicht zugerechnet werden. Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Bosman-Urteil,74 denn dort stellte der Gerichtshof nicht auf die Rechtsansichten der Sportverbände ab, sondern auf die Schwierigkeiten bei der Auslegung des Unionsrechts hinsichtlich der komplizierten Verbandsregelungen.75 cc) Ausschluss des guten Glaubens. Der gute Glaube darf nicht ausgeschlossen sein. Ein Irrtum der Rechtsunterworfenen ist nicht (objektiviert) nachvollziehbar, wenn die Rechtsfrage schon vorher Gegenstand einschlägiger Rechtsprechung war.76 Hier zeigt sich deren Ambivalenz als Auslöser sowie Grenze von Vertrauen. Ob eine vorbestehende Rechtsprechung einschlägig war, beurteilt sich im Einklang mit dem allgemeinen Gutglaubensmaßstab aus verobjektiviertsubjektiver Sicht. Auch der Gerichtshof verneint gelegentlich den guten Glauben aufgrund einer geklärten Rechtslage, obwohl hiermit dasselbe Sachproblem angesprochen ist wie mit dem (hier abgelehnten) Konnexitätsmerkmal. Er hat dementsprechend Probleme, die Sachverhalte entweder der Präklusion oder dem Ausschluss des guten Glaubens zuzuordnen.77 Konsequenterweise müsste der EuGH hier zudem einen objektiven Maßstab anlegen und so Widersprüche mit dem sonst geltenden Gutglaubensmaßstab hervorrufen. Darüber hinaus ist guter Glaube immer dann ausgeschlossen, wenn durch öffentliche 36 Rechtsansichten der Unionsorgane zumindest Zweifel über den Inhalt des Unionsrechts begründet werden. Der Gerichtshof hat beispielsweise auf Schlussanträge aus anderen Verfahren abgestellt78 oder Stellungnahmen der Kommission und die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens als schädlich angesehen.79 35

_____ 72 Der Gerichtshof hat bisher nur eine vertrauenszerstörende Wirkung der Stellungnahmen angenommen, EuGH v. 14.9.2006 – Rs. C-228/05 Stradasfalti, Slg. 2006, I-8391 Rn. 73. 73 Der Obersatz des EuGH findet sich auch in EuGH v. 21.10.2010 – Rs. C-242/09 Albron Catering, Slg. 2010, I-10309 Rn. 37; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress, Rn. 36. Aus der zustimmenden Literatur Wiedmann, EuZW 2007, 692, 695; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 293 f.; Sagan, JbJZ 2010, S. 67, 71 ff. Wie hier hingegen im Ergebnis Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 59; Chr. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, S. 141 f. 74 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 143. 75 Hilf/Pache, NJW 1996, 1169, 1173; a.A. Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788. Die vom EuGH besorgte „Unsicherheit“ hätte freilich nicht für eine Rückwirkungsbeschränkung genügen dürfen, s.o. Rn. 27. 76 Z.B. EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 21; EuGH v. 23.5.2000 – Rs. C-104/98 Buchner u.a., Slg. 2000, I-3625 Rn. 40; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact, Rn. 46. 77 Siehe insbesondere EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 21 sowie in gleicher Sache GA Tesauro, SchlA v. 30.1.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 12; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 38–40. 78 EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44. 79 EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-200/90 Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217 Rn. 22; EuGH v. 11.8.1995 – verb. Rs. C-367/93 bis C-377/93 Roders u.a., Slg. 1995, I-2229 Rn. 4; vgl. auch GA Mengozzi, SchlA v. 12.9.2012 – Rs. C-395/11 BLV Wohn- und Gewerbebau, Tz. 107. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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dd) Die Vertrauenden. Da sich die Notwendigkeit einer Rückwirkungsbeschränkung 37 durch die Bindungswirkung des Urteils verstärkt, sind die Personen, die sich über die Unionsrechtslage geirrt haben können, treffend mit „die betroffenen Verkehrskreise“ umschrieben.80 Betroffen ist, auf wessen rechtliche Beziehungen die ausgelegte Unionsnorm Auswirkungen hat. Im Mehrebenensystem der EU fallen auch die Mitgliedstaaten darunter, soweit sie als Adressaten des Unionsrechts in eigenen Rechtspositionen berührt werden.81 Die Unionsorgane hingegen werden der Union zugerechnet und können nicht auf einen bestimmten Norminhalt vertrauen.82 ee) Zeitpunkt des guten Glaubens. Der Gerichtshof beurteilt den guten Glauben danach, 38 wie er sich zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung darstellt, wobei er im selben Verfahren abgegebene Stellungnahmen der Generalanwälte unbeachtet lässt. Frühere Änderungen im gutglaubensrelevanten Verhalten der Unionsstellen führen – ohne erkennbare Systematik – ein Mal zum Ausschluss und ein anderes Mal zur Bejahung von gutem Glauben.83 Der gute Glaube wird dann ausgehend vom Urteilstag für den gesamten Geltungszeitraum der ausgelegten Unionsnorm rückwirkend fingiert. Demgegenüber zeigt insbesondere das vieldiskutierte Problem der Trittbrettfahrer, dass eine 39 flexiblere Anknüpfung von Beginn und Ende des guten Glaubens notwendig ist. Dort soll die Änderung der Gutglaubenssituation sich ausschließlich auf die personelle Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung auswirken, indem einzelne Rechtsunterworfene von der Rückwirkungsbeschränkung ausgenommen werden,84 obwohl wegen des objektivierten Maßstabs für alle Betroffenen Gleiches gelten müsste. Der gute Glaube ist deshalb für jeden Zeitpunkt in der Vergangenheit getrennt zu bestimmen, was darauf hinausläuft, dass der Gerichtshof deutlicher als bisher Rechenschaft darüber ablegen muss, welche Umstände einen Irrtum begründet oder ausgeschlossen haben.85

c) Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen Als dritte Tatbestandsvoraussetzung muss eine „Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Aus- 40 wirkungen [bestehen], die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren“.86 So soll sichergestellt werden, dass der Geltungsbefehl des Unionsrechts nicht

_____ 80 EuGH v. 28.9.1994 – Rs. C-128/93 Fisscher, Slg. 1994, I-4583 Rn. 25 f.; EuGH v. 24.10.1996 – Rs. C-435/93 Dietz, Slg. 1996, I-5223 Rn. 24 f. 81 v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 140; Borchardt, Der Grundsatz des Vertrauensschutzes im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1988), S. 77 ff.; a.A. Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 37; Balthasar, JbJZ 2010, S. 39, 65. 82 Vgl. zur Kommission GA Jääskinen, SchlA v. 2.12.2010 – Rs. C-148/09 P Belgien ./. Deutsche Post u.a., Slg. 2011, I-8573 Tz. 117. 83 Vgl. EuGH v. 27.5.1981 – verb. Rs. 142/80 und 143/80 Essevi und Salengo, Slg. 1981, 1413; EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-163/90 Legros u.a., Slg. 1992, I-4625; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157. 84 Z.B. Düsterhaus, EuZW 2006, 393, 394; Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 102 ff.; GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 165 ff.; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Tz. 56 ff. 85 Ausführlich Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 7 B II 6. c) und d). 86 EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 76; EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-2/09 Kalinchev, Slg. 2010, I-4939 Rn. 51.

Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

durchbrochen wird, wenn der gute Glaube gar nicht betätigt worden ist.87 Auch bei (ausdrücklichen) Rechtsprechungsänderungen verzichtet der Gerichtshof nicht auf die Prüfung dieser Voraussetzung. Das in eine andere Richtung deutende Vorgehen in der Rechtssache CabanisIssarte blieb ein Einzelfall.88 aa) Wirtschaftliche Auswirkungen. Zu berücksichtigen sind die Auswirkungen des Urteils auf alle Mitgliedstaaten und alle Rechtsunterworfenen, die Prüfung ist nicht etwa nur auf den Staat des Vorlageverfahrens oder gar die Parteien des Ausgangsrechtsstreits zu begrenzen.89 Das ergibt sich aus der unionsweit einheitlichen Geltung des Unionsrechts.90 Prozessual wird dies vor allem durch das Beteiligungsrecht nach Art. 23 EuGH-Satzung in Verbindung mit Art. 96 Abs. 1 lit. b) EuGH-VerfO abgesichert. Der Begriff der „wirtschaftlichen Auswirkungen“ ist weit zu verstehen und erfasst alle in 42 Geld messbaren direkten und indirekten Folgen, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs für die Rechtsunterworfenen ergeben würden.91 Unberücksichtigt bleiben dabei Rechtsverhältnisse, die aufgrund von (auch mitgliedstaatlichen) Bestands- oder Rechtskraftregelungen nicht mehr verändert werden können, ebenso wie Kosten, die von den Betroffenen auf andere Marktteilnehmer überwälzt werden können.92 41

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bb) Schwerwiegende Auswirkungen. Schwerwiegend sind die Auswirkungen, wenn sie die Mitgliedstaaten bzw. deren hoheitliche Untergliederungen, öffentliche Selbstverwaltungsträger oder eine Vielzahl von Unternehmen bzw. Privatpersonen im betroffenen Marktsegment ernsthaft in ihrem wirtschaftlichen Bestand gefährden.93 Deren finanzielle Lasten sind mit aussagekräftigen Marktdaten ins Verhältnis zu setzen, z.B. dem Bruttoinlandsprodukt, dem jeweiligen Steueraufkommen oder dem Umfang privater Rentenversorgungssysteme. Der Gerichtshof hat in der Vergangenheit keine klare Linie erkennen lassen, jedoch nur ganz ausnahmsweise die Voraussetzungen bejaht.94 Dabei hat er regelmäßig Auswirkungen auf eine Vielzahl betroffener Rechtsverhältnisse und Rechtsunterworfener verlangt.95

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cc) Gefahr. Die wirtschaftlichen Auswirkungen müssen jedoch nicht schon mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintreten oder eingetreten sein; es genügt, dass sie drohen.96

_____ 87 Huep, Beschränkung einer Rückwirkung neuer richterlicher Erkenntnisse auf ältere Sachverhalte (2001), S. 238 f. 88 Siehe insbesondere EuGH v. 15.3.2005 – Rs. C-209/03 Bidar, Slg. 2005, I-2119 Rn. 70. Dies übersieht Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 73. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 235 geht davon aus, die Voraussetzungen des guten Glaubens und der wirtschaftlichen Auswirkungen könnten sich in einem beweglichen System teilweise ausgleichen. 89 Wie hier z.B. BSG v. 18.2.2004 – B 10 EG 10/03 R, Rn. 23; GA Jacobs, SchlA v. 15.12.2005 – Rs. C-423/04 Richards, Slg. 2006, I-3585 Tz. 63; GA Kokott, SchlA v. 15.2.2007 – Rs. C-178/05 Kommission ./. Griechenland, Slg. 2007, I-4185 Tz. 86. Anders GA Sharpston, SchlA v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, Slg. 2006, I-10115 Tz. 81; Lang, Intertax 35 (2007), 230, 237; Schnitger, Die Grenzen der Einwirkung der Grundfreiheiten des EG-Vertrages auf das Ertragsteuerrecht (2006), S. 143 f. 90 Das gilt erst recht, wenn man mit dem EuGH davon ausgeht, dass Anträge auf Rückwirkungsbeschränkung in späteren Verfahren mit konnexer Rechtsfrage präkludiert sind. 91 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 117 f. 92 Heß, ZZP 108 (1995), 59, 69 f.; Schwarze, EuR 1977, 43, 50. 93 In diesem Sinne mit unterschiedlichen Formulierungen Hey, GmbHR 2006, 113, 117; Seer/Müller, IWB 2008, 255, 261. 94 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 7 B III 4. a). 95 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht (2010), S. 64; krit. Vording/Lubbers, BTR 2006, 91, 107. 96 Lindemann/Hackemann, IStR 2005, 786, 788. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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Den Betroffenen ist bei der Prognose eine gewisse Fehlertoleranz zuzugestehen. Gleichzeitig ist sicherzustellen, dass nicht schon jede Mutmaßung genügt.

2. Unwirksamkeit Für Unwirksamkeitsentscheidungen sind die Gründe einer Beschränkung der zeitlichen Wir- 45 kungen bislang nur wenig untersucht. Einigkeit besteht allerdings im Ausgangspunkt: In Betracht kommen Erwägungen der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes, überragender öffentlicher Interessen und des Schutzes wohlerworbener Rechte Dritter.97 Der Gerichtshof stützt sich dabei zumeist nicht nur auf einen dieser Gründe, sondern nimmt eine umfassende Interessenabwägung vor und kommt so zu einer flexiblen Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV.98

a) Wohlerworbene Rechte und Vertrauensschutz Vergleichbar der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung schützt der Gerichtshof zuerst Perso- 46 nen, die Rechte in Anspruch genommen haben, die von der aufgehobenen Regelung oder von Durchführungsmaßnahmen eingeräumt wurden.99 Basis des Vertrauens der Betroffenen ist die Gültigkeitsvermutung, die dem rangniederen Unionsrecht zukam.100 Die Gültigkeitsvermutung wurde zwar als vertikale Kompetenzschranke entwickelt, sie entbindet aber darüber hinaus die Rechtsunterworfenen von der Pflicht, den Rechtsakt gleichzeitig als gültig ansehen und dessen Rechtmäßigkeit ständig überprüfen zu müssen.101 Damit ist die abstrakte Vertrauenssituation grundsätzlich bei allen Unionsrechtsakten identisch und folgerichtig prüft der EuGH nicht die Begründung von Vertrauen, sondern dessen Erschütterung. Dies ist – wie bei der Auslegungsrückwirkungsbeschränkung – vor allem der Fall, wenn die Auswirkungen des höherrangigen Unionsrechts auf die in Frage stehende Unionsnorm aufgrund bestehender Rechtsprechung erkennbar waren.102 Wegen der geringen Unterscheidungskraft der Vertrauenssituation, kommt der Prüfung der 47 geschützten Rechtsposition, die durch oder aufgrund des Rechtsakts erworben wurde, große Bedeutung zu. Als solche hat der Gerichtshof beispielsweise anerkannt eingegangene Verträge und erhaltene oder geleistete Zahlungen,103 durchgeführte Im- oder Exporte104 sowie eine abgeschlossene Aussaat von Baumwollpflanzen.105 Die Rechtsposition kann privaten Marktteilneh-

_____ 97 Geiger/Khan/Kotzur-Kotzur, EUV/AEUV (5. Aufl. 2010), Art. 264 AEUV Rn. 7; Streinz-Ehricke, Art. 264 AEUV Rn. 10; Schwarze-Schwarze, Art. 264 AEUV Rn. 9; Lenz/Borchardt-Borchardt, Art. 264 AEUV Rn. 6; Chr. Müller, Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen von EuGH-Entscheidungen, S. 17. Auf öffentliche Interessen beschränkend Weiß, EuR 1995, 377, 392. 98 Vgl. EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 28; EuGH v. 8.11.2001 – Rs. C-228/99 Silos e Mangimi Martini, Slg. 2001, I-8401 Rn. 36. 99 Ausdrücklich EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-360/93 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1195 Rn. 33. 100 Zur Gültigkeitsvermutung EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-199/06 CELF, Slg. 2008, I-469 Rn. 60; Annacker, Der fehlerhafte Rechtsakt im Gemeinschafts- und Unionsrecht (1998), S. 79 ff. 101 Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 255 f.; Woods/Watson, Steiner & Woods EU Law (11. Aufl. 2012), S. 238. 102 Vgl. EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 42 ff.; EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 68 f. 103 EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937 Rn. 74. 104 EuGH v. 26.3.1987 – Rs. 45/86 Kommission ./. Rat, Slg. 1987, 1493 Rn. 23; EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-159/96 Portugal ./. Kommission, Slg. 1998, I-7379 Rn. 52 f.; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-178/03 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-107 Rn. 64 f. 105 EuGH v. 7.9.2006 – Rs. C-310/04 Spanien ./. Rat, Slg. 2006, I-7285 Rn. 139 f. Rosenkranz

362

2. Teil: Allgemeiner Teil

mern ebenso zustehen wie den Mitgliedstaaten,106 nicht aber Einrichtungen der Union selbst.107 Im Gegensatz zur Auslegungsrückwirkung genügen zumeist schon wenige Betroffene.108

b) Öffentliche Interessen 48 Wesentlich häufiger dient die Rückwirkungsbeschränkung nach Art. 264 Abs. 2 AEUV öffentli-

chen Interessen der Europäischen Union. Die rechtswidrigen Vorschriften werden aufrechterhalten, weil ihre Aufhebung mehr Schaden als Nutzen bringt. Während bei den Auslegungsentscheidungen der Zweck der rangniederen mitgliedstaatlichen Norm im Rahmen der Abwägung nicht berücksichtigt wird, stellt hier die Schutzrichtung des abgeleiteten Unionsrechts das wesentliche Abwägungskriterium dar. aa) Vermeidung einer Regelungslücke. Einem Großteil der EuGH-Entscheidungen lässt sich die Zielrichtung entnehmen, die Regelungslücke zu vermeiden, die vom Tag des Urteils bis zum Wirksamwerden eines neuen Rechtsakts auftreten würde. Voraussetzung ist, dass der hypothetische spätere Rechtsakt nicht seinerseits rechtswidrig wäre und er mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erlassen werden wird. Außerdem ist ein besonderes Interesse an der zu schützenden Regelung zu verlangen. 50 Ein späterer Rechtsakt wäre rechtswidrig, wenn sein Ziel überhaupt nicht oder jedenfalls nicht mit dem angegriffenen Mittel erreicht werden könnte. Formelle Fehler (im weiteren Sinne) des aufgehobenen Rechtsakts können hingegen regelmäßig beseitigt werden.109 Die nötige Wahrscheinlichkeit für den erneuten Erlass eines weitgehend inhaltsgleichen Rechtsakts besteht zum einen, wenn der Unionsgesetzgeber – beispielsweise aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen – zum Tätigwerden gezwungen ist. In allen anderen Fällen ist eine Einzelfallbetrachtung anzustellen, wobei unter anderem zu berücksichtigen ist, ob sämtliche Prozessbeteiligten einer Rückwirkungsbeschränkung zugestimmt oder von vorn herein nur formelle Fehler gerügt haben.110 Bei Nichtigkeitsentscheidungen des EuG wird dem Rechtssicherheitsinteresse schon dadurch Rechnung getragen, dass die Aufhebung des Rechtsakts erst mit Ablauf der zweimonatigen Rechtsmittelfrist des Art. 56 Abs. 1 EuGH-Satzung wirksam wird, Art. 60 Abs. 2 EuGHSatzung.111 51 Die zu schützenden Regelungsziele spiegeln das besondere Interesse der Union an der Aufrechterhaltung des Rechtsakts wider. Anschaulich führte GA Léger im Bereich des Verkehrsrechts112 aus: „Würden die Wirkungen der Richtlinie nicht aufrechterhalten, so würde im Ergebnis der Status quo ante wiederhergestellt und das aufgehoben, was immerhin eine Annäherung und einen – wenn auch begrenzten – Beginn einer Harmonisierung der Abgabensätze auf dem

49

_____ 106 EuG v. 13.4.2011 – Rs. T-576/08 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2011, II-1578 Rn. 142; EuGH v. 15.1.1986 – Rs. 41/84 Pinna, Slg. 1986, 1 Rn. 27; EuGH v. 8.9.1994 – verb. Rs. C-363/93, C-407/93 bis C-411/93 Lancry u.a., Slg. 1994, I-3957 Rn. 44 f. Anders, bei Überspannung des Begriffs „Vertrauensschutz“, EuGH v. 19.9.2000 – verb. Rs. C-177/99 und C-181/99 Ampafrance und Sanofi, Slg. 2000, I-7013 Rn. 67. 107 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-239/01 Deutschland ./. Kommission, Slg. 2003, I-10333 Rn. 78. 108 Vgl. EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 36 (128 angelaufene oder durchgeführte Aktionen); EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-106/96 Großbritannien und Nordirland ./. Kommission, Slg. 1998, I-2729 Rn. 40 iVm Rn. 14 (86 Vorhaben zur Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung). 109 Vgl. EuGH v. 7.7.1992 – Rs. C-295/90 Parlament ./. Rat, Slg. 1992, I-4193 Rn. 24; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 56; EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat, Rn. 91. 110 Vgl. z.B. EuGH v. 5.7.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Rn. 30; EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139 Rn. 21; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 86. 111 Langner, Der Europäische Gerichtshof als Rechtsmittelgericht (2003), S. 31. 112 Dazu jüngst auch EuGH v. 6.5.2014 – Rs. C-43/12 Kommission ./. Parlament und Rat, Rn. 54. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

363

Gebiet des Verkehrs in der Gemeinschaft darstellt und zur Verwirklichung der autonomen Verkehrspolitik beiträgt.“113 Neben solchen binnenmarktorientierten Zielen wurde Art. 264 Abs. 2 AEUV unter anderem angewendet bei neu gegründeten Unionsbehörden oder der Einrichtung von technischen Verwaltungsvereinfachungen,114 bereits eingeleiteten Umweltschutzaktionen,115 der Bewältigung der BSE-Krise116, der Bekämpfung von Piraterie116a oder bei Investitionsvorhaben für die Energieinfrastruktur,117 sowie – historisch zuerst – zum Schutz der Kontinuität bei der Besoldung der Unionsangestellten118 und – in jüngerer Zeit verstärkt – zur Aufrechterhaltung von Eingriffen in die persönlichen Freiheiten zum Zwecke der Terrorabwehr oder Verhinderung nuklearer Proliferation („smart sanctions“).119 bb) Weitere Anwendungsfälle. Daneben kann sich das Bedürfnis nach einer Rückwir- 52 kungsbeschränkung aus anderen öffentlichen Unionsinteressen ergeben. Dazu zählt zuerst die Arbeitsfähigkeit der Union oder ihrer Einrichtungen. Diese ist gefährdet, wenn sich Zustimmungshandlungen zum Haushaltsplan als rechtswidrig herausstellen.120 Weiterhin kann eine zu vermeidende Unsicherheit über die geltende Rechtslage bestehen, wenn Zustimmungshandlungen zu völkerrechtlichen Verträgen rückwirkend wegfallen würden.121 Hiervon würden die völkerrechtlichen Pflichten nämlich gemäß Art. 27, 46 Abs. 1 WVK nur in Einzelfällen berührt.122 Marktordnungsziele wiederum sind einschlägig, wenn die Rückabwicklung gezahlter oder erhaltener Währungsausgleichbeträge in den Mitgliedstaaten aufgrund unterschiedlicher Erstattungsregeln zu neuen Wettbewerbsverzerrungen auf dem Gemeinsamen Agrarmarkt führen würde.123 Der Grundsatz der horizontalen Gewaltenteilung gebietet die Anwendung von Art. 264 53 Abs. 2 AEUV, wenn eine rechtswidrige Vorschrift aufrechterhalten wird, um den Beurteilungsspielraum eines anderen Unionsorgans zu schützen.124 Ebenso handelt es sich um eine zeitliche Beschränkung, wenn Unionsrechtsnormen aufrechterhalten werden, um den Kläger in einer

_____ 113 GA Léger, SchlA v. 28.3.1995 – Rs. C-21/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1995, I-1827 Tz. 64. 114 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 36; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 39. 115 EuGH v. 25.2.1999 – verb. Rs. C-164/97 und C-165/97 Parlament ./. Rat, Slg. 1999, I-1139; EuGH v. 21.1.2003 – Rs. C-378/00 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2003, I-937. 116 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-93/00 Parlament ./. Rat, Slg. 2001, I-10119. 116a EuGH v. 24.6.2014 – Rs. C-658/11 Parlament ./. Rat, Rn. 90. 117 EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-490/10 Parlament ./. Rat; ebenso GA Bot, SchlA v. 28.1.2014 – Rs. C-573/12 Ålands Vindkraft, Tz. 120 im Hinblick auf den Ausbau der erneuerbaren Energien. 118 EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575 Rn. 15; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329 Rn. 39; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043 Rn. 95. 119 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 Rn. 373; EuG v. 11.6.2009 – Rs. T-318/01 Othman, Slg. 2009. II-1627 Rn. 99; EuG v. 5.2.2013 – Rs. T-494/10 Bank Saderat Iran, Rn. 125; EuGH v. 3.7.2014 – Rs. T-155/13 Zanjani, Rn. 84. 120 EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 34/86 Rat ./. Parlament, Slg. 1986, 2155 Rn. 48; EuGH v. 31.3.1992 – Rs. C-284/90 Rat ./. Parlament, Slg. 1992, I-2277 Rn. 37; EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-41/95 Rat ./. Parlament, Slg. 1995, I-4411 Rn. 44. Siehe auch zur Europäischen Investitionsbank EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 88. 121 EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 57; EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, Rn. 80 f.; GA Kokott, SchlA v. 23.4.2009 – Rs. C-370/07 Kommission ./. Rat, Slg. 2009, I-8917 Tz. 88. 122 M. Müller, Das Entscheidungsmonopol des EuGH im Kontext völkerrechtlicher Verträge (2012), S. 139 f. 123 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 109/79 Maieseries de Beauce, Slg. 1980, 2883 Rn. 45; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 22; ablehnend Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen (1985), S. 23. 124 EuGH v. 15.10.1980 – Rs. 4/79 Providence agricole de la champagne, Slg. 1980, 2823 Rn. 45 (Währungsausgleichsbeträge); EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 125 f. (Beihilfeentscheidungen).

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Verpflichtungssituation davor zu schützen, dass er statt des erstrebten Mehr an einer Leistung durch den Wegfall der Anspruchsgrundlage noch weniger als vorher erhält.125 Keine zeitliche Beschränkung liegt allerdings vor, wenn die auf einer Ungleichbehandlung beruhende Rechtswidrigkeit durch Einbeziehung der diskriminierten Gruppe in die Vergünstigung beseitigt wird (sog. Anpassung nach oben);126 hier wirkt nicht der rechtswidrige, sondern ein vom Gerichtshof gestalteter, rechtmäßiger Übergangszustand fort.127

V. Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung 54 Bei der Bestimmung der Reichweite einer Rückwirkungsbeschränkung muss sich der Gerichts-

hof am Ausmaß der Verwirklichung der Tatbestandsvoraussetzungen orientieren, denn nur insoweit ist eine Einschränkung des Geltungsanspruchs des ausgelegten oder höherrangigen Rechts gerechtfertigt.128 Die Rechtsfolgenanordnung des Gerichtshofs kann dabei in ihre zeitliche, sachliche, personelle und räumliche Komponenten untergliedert werden. Diese Bestandteile weisen jedoch Wechselwirkungen auf.

1. Dogmatische Einordnung 55 Die dogmatische Einordnung der Beschränkung der Rückwirkung unterscheidet sich bei Ausle-

gung und Unwirksamkeit schon wegen des verschiedenen Bezugspunkts. Da die Rückwirkung der Auslegung ebenso wie deren Bindungswirkung Facetten der Wirkungen der Unionsnorm sind, können weder „die Auslegung“ noch „das Urteil“ in ihrer Rückwirkung beschränkt werden. Der Gerichtshof versteht die Rückwirkungsbeschränkung zwar als Beschränkung der Wirkungen des Urteils,129 begrenzt jedoch das Recht der Parteien und anderen Rechtsunterworfenen, sich auf die fragliche Norm in der ihr gegebenen Auslegung zu berufen.130 Er nimmt der Vorschrift – sui generis – ihre Durchsetzbarkeit, berührt aber ihren materiellen Gehalt nicht.131 Aus der Rückwirkungsbeschränkung lässt sich daher nicht ableiten, ob den Mitgliedstaaten eine nationale Regelung erlaubt ist, die das vom EuGH erzielte, aber rückwirkungsbeschränkte

_____ 125 EuGH v. 20.3.1985 – Rs. 264/82 Timex, Slg. 1985, 849 Rn. 32; EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-445/00 Österreich ./. Rat, Slg. 2003, I-8549 Rn. 104, 106. 126 Z.B. EuGH v. 29.6.1988 – Rs. 300/86 van Landschoot, Slg. 1988, 3443 Rn. 23 f. 127 Finke, IStR 2006, 212, 216; a.A. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag (2. Aufl. 1995), S. 150 f.; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 68 f., 251 f., 259 f. 128 Zu Recht Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 186; eine „Rechtsfolgenlotterie“ befürchtet Seer, Rechtsprechung des EuGH: Rechtsfolgen- oder Grundfreiheitenbeschränkung?, in: Lüdicke (Hrsg.), Europarecht – Ende der nationalen Steuersouveränität? (2006), S. 9, 23. 129 Zustimmend statt aller Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, passim; Anderson/Demetriou, References to the European Court (2. Aufl. 2002), Rn. 14-066 ff. 130 Vgl. z.B. EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027. Der Wortlaut der EuGH-Entscheidungen ist jedoch zumeist uneinheitlich und daher wenig ergiebig. 131 Ähnlich Langenfeld, Die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Europäischen Gemeinschaftsrecht (1990), S. 90; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis (2013), S. 206 f. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

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Ergebnis (gleichsam übererfüllend) doch erreicht;132 die Antwort darauf kann sich nur aus dem übrigen Unionsrecht ergeben.133 Bei den Unwirksamkeitsklagen werden alle oder einzelne ausgewählte materielle Wirkun- 56 gen der rechtswidrigen Rechtsakte aufrechterhalten, nicht hingegen das ranghöhere Recht oder die Nichtigerklärung nach Art. 264 Abs. 1 AEUV begrenzt. Der Tenor der Beschränkung orientiert sich an Art. 264 Abs. 2 AEUV und dem konstitutiven Charakter der Aufhebungsentscheidung.

2. Sachliche Reichweite Welche Sachverhalte inhaltlich von der Rückwirkungsbeschränkung erfasst werden, beurteilt 57 sich bei den Auslegungsentscheidungen vor allem in Abhängigkeit vom Gutglaubenstatbestand. Nur soweit ein anerkennenswerter Irrtum über die Unionsrechtslage gegeben war, sind die zugrundeliegenden Sachverhalte auszunehmen. Deshalb ist zuerst die streitige Rechtsfrage konkret zu benennen. Beispielsweise erfasste die Rückwirkungsbeschränkung in Bosman „Ansprüche im Zusammenhang mit einer Transfer-, Ausbildungs- oder Förderungsentschädigung“, nicht jedoch die ebenfalls streitigen „Ausländerklauseln“,134 während bei Defrenne II nur die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 157 AEUV im Privatrechtsverhältnis im Streit stand.135 Darüber hinaus werden nur Rechtsverhältnisse einbezogen, „deren Wirkungen sich in der Vergangenheit erschöpft haben“.136 Im Bereich des Steuerrechts fallen darunter auch solche Fälle, bei denen der Steueranspruch bereits fällig war.137 Im Arbeitsrecht sind zurückliegende Lohn- oder Gehaltsperioden unantastbar und müssen Rentensysteme nicht für vor dem Urteil liegende Beschäftigungszeiten geändert werden.138 Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen beschränkt zuerst der Anwendungsbereich der 58 aufgehobenen Norm deren Fortwirkungsanordnung. Dies kann weiter begrenzt werden, indem nur Teile eines Rechtsakts aufrechterhalten werden.139 Darüber hinaus kann die Anwendung von Art. 264 Abs. 2 AEUV auf die Maßnahmen beschränkt werden, die aufgrund des unwirksamen Rechtsakts erlassen worden sind.140 Als Durchführungsmaßnahmen kommen alle Formen des europäischen Verwaltungshandelns in Betracht, insbesondere abgeleitete Rechtsakte, privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Rechtsverhältnisse sowie Realakte.141

_____ 132 Vgl. dazu EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929; Huep, RdA 2001, 325, 331 f.; Besselink, CMLR 38 (2001), 437, 451; Ellis, E.L.Rev. 25 (2000), 564, 568; Schlachter, ZfA 2007, 249, 269. 133 Näher Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 8 A II 5. 134 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 145 f. 135 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75 und Tenor Nr. 5. 136 EuGH v. 2.2.1988 – Rs. 24/86 Blaizot u.a., Slg. 1988, 379 Rn. 34; EuGH v. 17.5.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Rn. 44. 137 EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 60. 138 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Tenor Nr. 5; EuGH v. 6.10.1993 – Rs. C-109/91 Ten Oever, Slg. 1993, I-4879 Rn. 19. 139 EuGH v. 18.10.2007 – Rs. C-299/05 Kommission ./. Parlament und Rat, Slg. 2007, I-8695 Rn. 74 f.; vgl. auch die entsprechende Ablehnung in EuGH v. 27.11.1984 – Rs. 232/81 Agricola Commerciale Olio, Slg. 1984, 3881 Rn. 20 f. 140 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 40; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 42. 141 Beispielsweise wurden in EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 drei auf der aufgehobenen Ratsentscheidung basierende Kommissionsentscheidungen aufrechterhalten.

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2. Teil: Allgemeiner Teil

3. Zeitliche Reichweite Die zeitliche Reichweite der Rückwirkungsbeschränkung betrifft die Frage, bis zu welchem Zeitpunkt die EuGH-Entscheidung noch nicht „wirken“ soll.

a) Auslegung 59 Grundsätzlich können sich die Adressaten in den Fällen nicht auf die Norm berufen, die bis zum

Tag des Urteils des Gerichtshofs abgeschlossen waren, wobei der Verkündungstag selbst nicht mehr dazu zählt.142 Eine erste Ausnahme besteht, wenn die Rückwirkungsbeschränkung eines früheren Urteils auf ein späteres übertragen wird.143 Dies geschieht, wenn die Sachverhalte vergleichbar sind, jedoch im früheren Urteil die Rückwirkungsbeschränkung nicht verneint, sondern vorgenommen wurde. Für den EuGH folgt dies zwingend aus seinem (objektiven) Konnexitätsmerkmal (Rn. 22 f.), während nach hier vertretener Ansicht die Erkennbarkeit der geklärten Rechtslage maßgeblich wäre (Rn. 24, 35). 60

61

Als weitere Ausnahme sollte erwogen werden, dass die in einem vergleichbaren früheren Fall nicht gewährte Rückwirkungsbeschränkung nachgeholt wird; für den Gerichtshof erfordert dies freilich zuerst die Aufgabe seines Präklusionsmerkmals (Rn. 24, 35). Die Nachholung einer versäumten Beschränkung stellt – da das Urteil insoweit nicht „berichtigt“ wird im Sinne von Art. 103 EuGH-VerfO/Art. 84 EuG-VerfO – eine Änderung der auf die zeitlichen Wirkungen der konkreten Norm bezogenen Rechtsprechung dar. Daraus ergeben sich jedoch keine Einwände, da Rechtsprechungsänderungen grundsätzlich zulässig sind und nicht ersichtlich ist, warum zwar eine materielle Rechtsfrage geändert werden könnte, nicht aber deren zeitliche Reichweite.144 Weil die geänderte Rückwirkungsentscheidung für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gilt, ist eine Zersplitterung der Geltung des Unionsrechts nicht zu befürchten. Außerdem kann das zwischenzeitlich Ersparte im Rahmen des Erfordernisses schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen berücksichtigt werden. Zuletzt käme auch die Bestimmung einer Übergangsfrist in Betracht, wie sie der Gerichtshof bei den Unwirksamkeitsentscheidungen regelmäßig vornimmt, aber für die Auslegung noch nicht ausdrücklich entschieden hat. Die Literatur steht dem überwiegend kritisch gegenüber.145

b) Unwirksamkeit 62 Auch die Unwirksamkeit zeitigt Folgen grundsätzlich ab dem Urteilstag. Zielt die Beschrän-

kung auf den Schutz des guten Glaubens, kommen ähnliche Abweichungen wie bei den Auslegungsentscheidungen in Betracht. Beim Schutz öffentlicher Interessen ist in vielen Konstellationen auch eine Aufrechterhaltung für einen bestimmten Zeitraum in der Zukunft möglich. Insbesondere wenn eine Regelungslücke vermieden werden soll, muss dem Gesetzgeber eine

_____ 142 Näher Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 8 C I 2. 143 EuGH v. 14.9.1995 – verb. Rs. C-485/93 und C-486/93 Simitzi, Slg. 1995, I-2655 Rn. 34; EuGH v. 7.11.1996 – Rs. C-126/94 Cadi Surgelés, Slg. 1996, I-5647 Rn. 33 f.; EuGH v. 9.9.2004 – Rs. C-72/03 Carbonati Apuani, Slg. 2004, I-8027 Rn. 41 f. Als Rückwirkungsbeschränkung auf einen früheren Zeitpunkt versteht es hingegen Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law (2006), S. 7. 144 Vgl. Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 217; Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 8 C I 3. a) bb); a.A. Kokott/Henze, NJW 2006, 177, 182; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 195. 145 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 100; Wiedmann, EuZW 2007, 692, 694; Nanetti/Mazzotti, EC Tax Review 2006, 166, 170; Drüen/ Kahler, StuW 2005, 171, 180; ähnlich GA Jacobs, SchlA v. 17.3.2005 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 87. Bejahend hingegen Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 8 C I 4.

Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

367

angemessene Frist bis zum Inkrafttreten eines neuen Rechtsakts eingeräumt werden.146 Um die Übergangsphase nicht unbegrenzt andauern zu lassen, sollte das Fristende nach dem Kalender bestimmbar sein.147 Die Dauer der festzusetzenden Frist richtet sich dann nach der vermutlichen Dauer eines zügigen Gesetzgebungsverfahrens unter Berücksichtigung der Nachteile der Fortgeltung des Rechtsakts.148 Bei schweren Grundrechtseingriffen ist daher Eile geboten.149 Die als fortgeltend bezeichneten Wirkungen treten grundsätzlich nach Ablauf einer eventu- 63 ellen Frist nicht rückwirkend außer Kraft. Soweit die Erwägungen der Rechtssicherheit jedoch nur eine vorübergehende Aufrechterhaltung des Rechtsakts gebieten, kann die Rückwirkung auch nur aufgeschoben und nicht aufgehoben werden. Das ist auf dem Wege des Erst-RechtSchlusses als zulässig anzusehen.150 Der Gerichtshof tenoriert diesen Fall als „Aussetzen der Wirkungen der Ungültigerklärung“.151 Im zugrundeliegenden Sachverhalt bestimmte eine französische Regelung, dass Hörfunkunternehmen mit geringen Werbeeinnahmen zu fördern sind. Die erforderlichen Finanzmittel wurden durch eine Abgabe aufgebracht, die alle Unternehmen zu zahlen hatten, die Werbung im Hörfunk vermarkteten. Der Gerichtshof hielt die genehmigende Beihilfeentscheidung der Kommission wegen eines Ermessensfehlers für mit dem Unionsrecht unvereinbar. Mit der vorübergehenden Aufrechterhaltung wollte er jedoch das Entscheidungsmonopol der Kommission schützen und sicherstellen, dass bei einer ablehnenden Neu-Bescheidung der Kommission die in der Vergangenheit erhaltenen Beihilfen zu erstatten sind, während bei einer erneuten Genehmigung die fraglichen Beträge aufgrund des Urteils nicht erst zurückgezahlt werden müssen, bevor sie ein zweites Mal ausgezahlt werden.152

4. Personelle Reichweite und Ausnahmen Der Kreis der Personen, die von der Rückwirkungsbeschränkung betroffen sind, orientiert sich an 64 den inhaltlich erfassten Sachverhalten. Umstritten ist, ob und in welchen Situationen die Parteien des Ausgangsverfahrens oder weitere Personen davon auszunehmen sind. Zu solchen „Rechtsbehelfsführern“ zählt jeder, der „Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hat“.153 Die Begriffe „Klage“ und „entsprechender Rechtsbehelf“ sind autonom auszulegen.154 Sie

_____ 146 Z.B. EuGH v. 5.6.1973 – Rs. 81/72 Kommission ./. Rat, Slg. 1973, 575 Rn. 15; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 59/81 Kommission ./. Rat, Slg. 1982, 3329 Rn. 39; EuGH v. 1.6.1994 – Rs. C-388/92 Parlament ./. Rat, Slg. 1994, I-2067 Rn. 22; EuGH v. 24.11.2010 – Rs. C-40/10 Kommission ./. Parlament, Slg. 2010, I-12043 Rn. 95. 147 Vgl. EuGH v. 30.5.2006 – verb. Rs. C-317/04 und C-318/04 Parlament ./. Rat und Kommission, Slg. 2006, I-4721 Rn. 73; EuGH v. 6.11.2008 – Rs. C-155/07 Parlament ./. Rat, Slg. 2008, I-8103 Rn. 89; EuGH v. 22.10.2013 – Rs. C-137/12 Kommission ./. Rat, Rn. 81. 148 Vgl. EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Rn. 128; EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 43; GA Kokott, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-217/04 Großbritannien und Nordirland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-3771 Tz. 50. 149 Siehe die Dreimonatsfrist von EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u.a., Slg. 2008, I6351 Rn. 375. Das EuG gewährt in solchen Fällen regelmäßig nur die Zweimonatsfrist von Art. 60 Abs. 2 EuGHSatzung (zuzüglich der Entfernungsfrist nach Art. 45 Abs. 1 EuGH-Satzung), EuG v. 7.12.2011 – Rs. T-562/10 HTTS, Slg. 2011, II-8087 Rn. 43. 150 Krit. hingegen Gundel, EWS 2009, 350, 357 Fn. 89. 151 EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Tenor Nr. 2. 152 Erläuternd GA Kokott, SchlA v. 26.6.2008 – Rs. C-333/07 Régie Networks, Slg. 2008, I-10807 Tz. 134 ff. 153 Vgl. EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/76 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 74/75; EuGH v. 9.3.2000 – Rs. C-437/97 Evangelischer Krankenhausverein Wien u.a., Slg. 2000, I-1157 Rn. 60. 154 Ehrke, ÖStZ 2000, 255. Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

erfassen jegliche gerichtliche oder außergerichtliche Geltendmachung eines (auch nationalen) Rechts, das auf dem fraglichen Unionsrecht beruht.155 Die Praxis des Gerichtshofs unterscheidet in der Frage der personellen Rückausnahme sehr 65 deutlich zwischen den Verfahrensarten: Während im Auslegungsverfahren immer eine Ausnahme für die Rechtsbehelfsführer gemacht wurde, erfolgt dies bei den Nichtigkeitsklagen nie. Im Gültigkeitsverfahren prüft der Gerichtshof die personelle Rückausnahme als Frage des Einzelfalls.156 Richtigerweise sollten unabhängig von der Verfahrensart dieselben Maßstäbe angelegt werden, denn in allen Verfahren mit Bindungswirkung hat die EuGH-Entscheidung Auswirkungen auch auf andere Personen als die (möglicherweise privilegierten) Parteien. Demnach ist die Begünstigung des Klägers oder anderer Rechtsbehelfsführer der Grundsatz, von dem begründet abgewichen werden kann. Zweck ist es einerseits, die Rechtsbehelfsführer in ihren (finanziellen) Anstrengungen um die Durchsetzung des Unionsrechts nicht zu frustrieren sowie Unwägbarkeiten im Prozessverlauf auszugleichen.157 Andererseits sind Konstellationen denkbar, in denen die Rückausnahme einzelner oder aller Rechtsbehelfsführer die Rückwirkungsbeschränkung konterkariert.158

5. Räumliche Reichweite 66 Die Beschränkung der zeitlichen Wirkung erfasst alle Mitgliedstaaten in rechtlich gleicher Wei-

se. Für die Unwirksamkeitsverfahren ergibt sich dies aus der unionsweiten Geltung der Aufhebungsentscheidung sowie daraus, dass die Tatbestandsmerkmale einer Beschränkung von der Sach- oder Rechtslage in den einzelnen Mitgliedstaaten unabhängig sind. Aber auch in den Auslegungskonstellationen vertrüge sich eine territoriale Begrenzung weder mit dem Konnexitätsmerkmal noch mit der unionsweiten Geltung der ausgelegten Norm (und der Bindungswirkung des entsprechenden EuGH-Urteils).159 Unterschiede im Ausmaß der wirtschaftlichen Auswirkungen können eine rechtliche Ungleichbehandlung der Mitgliedstaaten nicht rechtfertigen.160

_____ 155 Einzelheiten bei Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 8 D IV. Die Rechtsbehelfsführer müssen sich dabei nicht ausdrücklich auf das Unionsrecht berufen, Arnold, ecolex 2000, 225, 227; a.A. Ehrke, ÖStZ 2000, 256. 156 EuGH v. 27.2.1985 – Rs. 112/83 Produits de Maïs, Slg. 1985, 719 Rn. 18; EuGH v. 10.3.1992 – verb. Rs. C-38/90 und C-151/90 Lomas u.a., Slg. 1992, I-1781 Rn. 25; EuGH v. 8.2.1996 – Rs. C-212/94 FMC, Slg. 1996, I-389 Rn. 57. Die Literatur geht zumeist davon aus, es würden wie bei den Auslegungsverfahren stets die Rechtsbehelfsführer ausgenommen, z.B. Lenaerts/Arts/Masels/Bray, Procedural Law of the European Union (2. Aufl. 2006), Rn. 10-019; Hyland, IJEL 2 (1995), 208, 229; Dauses, FS Everling (1995), S. 240; Everling, FS Börner (1992), S. 69. 157 Aus der zahlreichen Rechtsprechung und Literatur z.B. EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rn. 112; EuGH v. 26.4.1994 – Rs. C-228/92 Roquettes Frères ./. Hauptzollamt Geldern, Slg. 1994, I-1445 Rn. 27; Osterloh, FS Hassemer (2010), S. 178; Schlachter, ZfA 2007, 249, 266; Balthasar, JbJZ 2010, S. 39, 62; Kokott, The jurisprudence of the Court of Justice of the European Communities in the area of tax law (2006), S. 9; GA Lenz, SchlA v. 28.2.1985 – Rs. 33/84 FRAGD, Slg. 1985, 1605, 1611. 158 Dazu lässt sich auch die sog. Trittbrettfahrerproblematik zählen, die freilich schon durch eine genauere Anwendung des Gutglaubensmaßstabs entschärft würde (oben Rn. 39); eingehend Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 214 ff.; GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 165 ff.; GA Tizzano, SchlA v. 10.11.2005 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Tz. 60 ff. 159 Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 106 ff.; Ludewig, Die zeitliche Beschränkung der Wirkung von Urteilen des EuGH in Vorabentscheidungsverfahren, S. 199 ff.; a.A. GA Stix-Hackl, SchlA v. 14.3.2006 – Rs. C-475/03 Banca Popolare di Cremona, Slg. 2006, I-9373 Tz. 180–186; Grabitz/Hilf/Nettesheim-Karpenstein, Art. 267 AEUV Rn. 115; Weiß, EuR 1995, 377, 388; Frenz/Kühl, DStZ 2009, 432, 438. 160 Vgl. Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 8 E. Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

369

VI. Prozessuales Die Notwendigkeit einer Rückwirkungsbeschränkung erörtert der Gerichtshof am Ende des Ur- 67 teils, zumeist gekennzeichnet durch eine eigene Überschrift.161 Das ist Ausdruck der Trennung der Frage der zeitlichen Wirkungen von der sachrechtlichen Thematik. Wird die Rückwirkung beschränkt, so findet dies stets Ausdruck in einer separaten Nummer im Tenor. Die Verneinung wird hingegen regelmäßig nicht tenoriert.

1. Entscheidung von Amts wegen und Antrag Der Gerichtshof entscheidet über die zeitlichen Wirkungen in allen Verfahrensarten von Amts 68 wegen.162 Ein Antrag muss von den Verfahrensbeteiligten nicht gestellt werden. Er ist nur als Anregung zu verstehen und kann hilfreich sein, um die Relevanz der Rückwirkung in den Fokus zu rücken. Den Antrag können sämtliche Verfahrensbeteiligte ungeachtet ihrer Betroffenheit einreichen, im Vorabentscheidungsverfahren kann neben den in Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung Genannten das vorlegende Gericht ausdrücklich nach den zeitlichen Wirkungen fragen.163 Der Antrag kann auch hilfsweise für den Fall einer bestimmten Antwort auf die Sachfragen gestellt werden und unterliegt keinen formellen Anforderungen.

2. Darlegung und Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen Aufgrund der amtswegigen Prüfung existiert keine subjektive Beweis-, sondern nur eine objekti- 69 ve Feststellungslast. Zur Darlegung der die Tatbestandsvoraussetzungen ergebenden Tatsachen sind alle (potentiellen) Verfahrensbeteiligten aufgerufen, die ein Interesse an einer Beschränkung der zeitlichen Wirkung haben. Aufgrund der unionseinheitlichen Wirkung der Rückwirkungsbeschränkung muss der Gerichtshof sämtliches Vorbringen berücksichtigen, unabhängig davon welcher Beteiligte es in welcher Rolle mit welchem Ziel in das Verfahren eingebracht hat.164 Eine Rückwirkungsbeschränkung nimmt der EuGH nur vor, wenn die Tatbestandsvoraus- 70 setzungen ausreichend substantiiert wurden.165 Bei den Unwirksamkeitsentscheidungen ist dafür konkret zu bezeichnen, zu welchen Schwierigkeiten die Unwirksamerklärung führen würde.166 Besonders schwer fällt den Betroffenen regelmäßig, die schwerwiegenden wirtschaftlichen

_____ 161 Z.B. EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-465/11 Forposta und ABC Direct Contact; anders z.B. EuGH v. 3.7.1997 – Rs. C-330/95 Goldsmiths, Slg. 1997, I-3801. 162 EuGH v. 1.4.2008 – verb. Rs. C-14/06 und C-295/06 EP und Dänemark ./. Kommission, Slg. 2008, I-1649 Rn. 85; Sachs, Die Ex-officio-Prüfung durch die Gemeinschaftsgerichte (2008), S. 100. 163 Z.B. EuGH v. 11.9.2003 – Rs. C-211/01 Kommission ./. Rat, Slg. 2003, I-8913 Rn. 54 (Kläger und Beklagter); EuGH v. 3.10.2002 – Rs. C-347/00 Barreira Pérez, Slg. 2002, I-8191 Rn. 43 (Mitgliedstaat); EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., Rn. 26 (Vorlagegericht). 164 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 11.11.2010 – Rs. C-379/09 Casteels, Slg. 2011, I-1379 Tz. 90; zu eng daher GA Sharpston, SchlA v. 13.7.2006 – Rs. C-290/05 Nádasdi, Slg. 2006, I-10115 Tz. 81 und GA Jääskinen, SchlA v. 15.7.2010 – Rs. C-147/08 Römer, Slg. 2011, I-3591 Tz. 159 ff. 165 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99 Athinaïki Zythopoiia AE, Slg. 2001, I-6797 Rn. 38; EuGH v. 6.10.2005 – Rs. C-204/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2005, I-8389 Rn. 30. 166 EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-271/94 Parlament ./. Rat, Slg. 1996, I-1689 Rn. 39; EuGH v. 28.5.1998 – Rs. C-22/96 Parlament ./. Rat, Slg. 1998, I-3231 Rn. 41; EuGH v. 18.6.2002 – Rs. C-314/99 Niederlande ./. Kommission, Slg. 2002, I-5521 Rn. 31.

Rosenkranz

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2. Teil: Allgemeiner Teil

Auswirkungen darzulegen, da sich diese oftmals nur schätzen lassen.167 Dort prüft der Gerichtshof das Vorbringen auf Plausibilität und verlangt eine konkrete Aufschlüsselung der Zahlen.168 Hierfür genügt „eine Kalkulation der durchschnittlich zu erwartenden Rückforderungszahlung bezüglich eines Abgabenpflichtigen für einen gemittelten Zahlungszeitraum hochgerechnet auf die mögliche Anzahl der Rückforderungsberechtigten.“169

VII. Rückwirkungsbeschränkung und mitgliedstaatliches Recht 71 Die Rückwirkung von EuGH-Rechtsprechung und deren Beschränkung haben als Annex zum

Sachrecht selbst keine unmittelbaren Auswirkungen auf das mitgliedstaatliche Recht. Die zeitliche Wirkung von EuGH-Rechtsprechung ist folglich doppelt unionsbezogen. Sie beruht zum einen ausschließlich auf unionsinternen Gründen und wirkt sich zum anderen nur innerhalb des Unionsrechts aus, weshalb auch ein Entscheidungsmonopol des Gerichtshofs170 gerechtfertigt ist. Dieser strenge Unionsrechtsbezug kann durchaus unbefriedigend sein. Er ignoriert den Anwendungsdualismus von unionalem und nationalem Recht, löst eventuelle Normkonflikte einseitig unionsrechtlich auf und übergeht so nationale Besonderheiten. Deshalb ist daneben Raum für mitgliedstaatlichen Vertrauensschutz.171 Soweit es durch dessen Gewährung jedoch zu einem Konflikt zwischen den Vorgaben des Unionsrechts und den Ergebnissen im mitgliedstaatlichen Recht kommt, stellt sich die Frage, ob der jeweils einschlägige Durchsetzungsmechanismus des Unionsrechts dies gestattet oder zu modifizieren ist.172 Die damit angesprochenen Problemkreise können hier nur angerissen werden. Zuerst ist klarzustellen, dass die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie unberührt bleibt. 72 Eine rückwirkende Entscheidung des Gerichtshofs hat deshalb grundsätzlich keine Auswirkungen auf Rechtsverhältnisse, die nach innerstaatlichen Grundsätzen rechts- oder bestandskräftig geworden sind.173 Ebenso obliegt es weiterhin den Mitgliedstaaten, das Verfahren für die Erstattung von unionsrechtlich geschuldeten Rückzahlungsansprüchen auszugestalten. Begrenzt wird die mitgliedstaatliche Verfahrensautonomie nur durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität.174 73 Ein Konflikt von nationalem Recht und unmittelbar anwendbarem Unionsrecht wird – ungeachtet der nationalverfassungsrechtlichen Integrationsschranken – durch das Prinzip des Anwendungsvorrangs aufgelöst. Ob der Anwendungsvorrang des Unionsrechts aufgrund besonderer Umstände und begrenzt auf den jeweiligen Mitgliedstaat zeitweilig außer Kraft gesetzt werden kann, ist derzeit Gegenstand intensiver Erörterungen in Rechtsprechung und Literatur.175 Richti-

_____ 167 Vgl. Lang, IStR 2007, 235, 236; Cordewener/Kofler/van Thiel, CMLR 46 (2009), 1951, 1961. 168 EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-366/99 Griesmar, Slg. 2001, I-9383 Rn. 77; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-402/03 Skov und Bilka, Slg. 2006, I-199 Rn. 52 f.; EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-263/11 Rēdlihs, Rn. 62. 169 Wiedmann, EuZW 2007, 692, 693. 170 Dazu ausdrücklich EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 61/79 Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205 Rn. 18; EuGH v. 10.7.1980 – Rs. 881/79 Ariete, Slg. 1980, 2545 Rn. 8. 171 Lunk, FS Reuter (2010), S. 696; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006), S. 296, 310; Schlachter, ZfA 2007, 249, 267; Steiner, EuZA 2009, 140, 153; Höpfner, ZfA 2010, 449, 483; Kamanabrou, SAE 2009, 233, 236; Tavakoli/Westhäuser, DB 2008, 702, 705; Bydlinski, JBl. 2001, 2, 21. 172 Statt aller Wißmann, FS Bauer (2010), S. 1167. 173 Raitio, The Principle of Legal Certainty in EC Law (2003), S. 198; Anderson/Demetriou, References to the European Court (2. Aufl. 2002), Rn. 14–068. 174 St. Rspr., EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-343/96 Dilexport, Slg. 1999, I-579 Rn. 25 mwN. 175 EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-409/06 Winner Wetten, Slg. 2010, I-8015 Rn. 62 ff.; EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie ASBL; GA Jääskinen, SchlA v. 7.11.2013 – Rs. C-512/12 Octapharma France, Tz. 34 ff.; OVG Münster v. 28.6.2006 – 4 B 961/06; Willers, Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem Rosenkranz

§ 16 Die zeitliche Wirkung der EuGH-Rechtsprechung

371

gerweise dürfte dies nur ganz ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn den Mitgliedstaaten übertragene Wertungsentscheidungen unwiderruflich frustriert werden würden.176 Widerspricht das nationale Recht den Vorgaben von mittelbar anwendbarem Unionsrecht, 74 also insbesondere Richtlinien, wird die Frage nach den Grenzen der Konformauslegung aufgeworfen.177 Ein Anknüpfungspunkt für nationalen Vertrauensschutz könnte sich dabei entweder aus dem Verweis des EuGH auf den Grundsatz der Rechtssicherheit oder aus der „Contra-legemGrenze“ ergeben.178 Darüber hinaus ist zu erwägen, ob die Voraussetzungen des nationalen Vertrauensschutzes im Hinblick auf den Charakter der Richtlinie als Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG oder die Mehrebenenstruktur der EU anzupassen sind.179 Dann wäre insbesondere die Richtlinie als Vertrauenstatbestand in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen.180 Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht jüngst darauf hingewiesen, dass Vertrauens- 75 schutz auch durch einen Schadensersatzanspruch (gleichsam sekundär) gewährt werden kann.181 So könnte das Dilemma der Bürger aufgelöst werden, die sich zwei widersprechenden Rechtsbefehlen ausgesetzt sehen und nur einen befolgen können.182 Gewährt der Mitgliedstaat nationalen Vertrauensschutz und ruft so einen Widerspruch zu den Vorgaben des Unionsrechts hervor, kommt ein Anspruch nach den Grundsätzen des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs in Betracht. Hier erweist sich jedoch die Voraussetzung des hinreichend qualifizierten Verstoßes als Hindernis für eine Verlagerung des Schadens auf die Mitgliedstaaten, denn diese dürften weder den nationalen Vertrauensschutz grob unionsrechtswidrig angewendet, noch die Kollisionslage ebenso herbeigeführt haben.183 Bei der Verneinung nationalen Vertrauensschutzes wird dem Unionsrecht zur vollen Geltung verholfen, so dass ein unionsrechtlicher Anspruch mangels Verletzung einer subjektiven Norm ausscheidet.184 Ob sich ein Anspruch aus dem deutschen Recht ergibt, hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen.185

neue rechte Seite

_____ (2011), S. 78 ff.; Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis (2013), S. 236 ff., 341 ff.; Beukers, CMLR 48 (2011), 1985 ff.; Ehlers/Eggert, JZ 2008, 585 ff.; Terhechte, EuR 2006, 828 ff.; Talos/Arzt, E.L.Rep. 2010, 172 ff.; Koenig/Schreiber, DÖV 2008, 450 ff.; Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 527 ff.; Lock, CMLR 50 (2013), 217 ff.; Pechstein, EU-Prozessrecht (4. Aufl. 2011), Rn. 875 ff. 176 Näher Rosenkranz, Die Beschränkung der Rückwirkung von EuGH-Entscheidungen, § 16 D. 177 Siehe W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 35 ff. 178 Vgl. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110 f. 179 Bejahend Schaer, Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als Grenzen rückwirkender Rechtsprechung im europäischen Arbeitsrecht, S. 203; Herresthal, Rechtsfortbildung im europäischen Bezugsrahmen (2006), S. 310 f.; ablehnend Baldauf, Richtlinienverstoß und Verschiebung der Contra-legem-Grenze im Privatrechtsverhältnis (2013), S. 207 ff. 180 Lunk, FS Reuter (2010), S. 699; M. Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung (2010), S. 181. 181 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 84 f. (Honeywell); siehe allgemein v. Arnauld, Rechtssicherheit (2006), S. 160; Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht (1971), S. 5 f. 182 Zöchling-Jud, FS Heinz Mayer (2011), S. 880. 183 Vgl. kürzlich BGH v. 18.10.2012 – III ZR 196/11, insbes. Rn. 28 ff. 184 Giegerich, EuR 2012, 373, 381 f.; a.A. Schinkels, JZ 2011, 394, 400. 185 BVerfG v. 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06, Rn. 85; verneinend hingegen Karpenstein/Johann, NJW 2010, 3405, 3405 f.; Giegerich, EuR 2012, 373, 383 ff. Rosenkranz

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Rosenkranz

2. Teil: Allgemeiner Teil

§ 17 Europäisches Vertragsrecht

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3. Teil Besonderer Teil Abschnitt 1 Methodenfragen in einzelnen Rechtsgebieten § 17 Europäisches Vertragsrecht 3. Teil: Besonderer Teil

Martin Schmidt-Kessel § 17 Europäisches Vertragsrecht Schmidt-Kessel Literatur Christian von Bar/Ulrich Drobnig, The interaction of contract law and tort and property law in Europe (2004); Christian Baldus/Peter Ch. Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht: Zur Leistungsfähigkeit der deutschen Wissenschaft aus romanischer Perspektive (2006); Hugh Beale/Arthur Hartkamp/Hein Kötz/Dennis Tallon (Hrsg.), Cases, Materials and Text on Contract Law (2002); Jack Beatson, Anson’s Law of Contracts (28. Aufl. 2002); Jens-Hinrich Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht (2012); Claus-Wilhelm Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz: eine methodologische Studie über Voraussetzungen und Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung praeter legem (2. Aufl. 1983); Johannes Cziupka, Dispositives Vertragsrecht (2010); Joseph Chitty, Chitty on Contracts (30. Aufl. 2008); Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (4. Aufl. 1990); ders., Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung (1972); Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band II, Das Rechtsgeschäft (4. Aufl. 1992); Martin Gebauer/Thomas Wiedmann (Hrsg.), Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Die richtlinienkonforme Auslegung des BGB und anderer Gesetze – Erläuterung der wichtigsten EG-Verordnungen (2005); Bernhard Gomard, Obligationsret (2006); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode: Entwurf einer rechtsvergleichend gewonnenen juristischen Methodenlehre (2009); Lorenz Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts (2012); Ernst Kramer, Juristische Methodenlehre (4. Aufl. 2013); Torsten Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht (2004); Hein Kötz, Europäisches Vertragsrecht (1996); ders., Vertragsrecht (2009); Karl Larenz/Manfred Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts (9. Aufl. 2004); Florian Möslein, Dispositives Recht (2011); ders., Dispositive Regeln im transnationalen Privatrechtsverkehr: Same same, but different?, in: Gralf-Peter Callies (Hrsg.), Transnationales Recht (2014), S. 155–177; Filippo Ranieri, Europäisches Obligationenrecht (3. Aufl. 2009); Karl Riesenhuber, EU-Vertragsrecht (2013); ders., System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts (2003); ders., Systembildung durch den CFR – Wirkungen auf die systematische Auslegung des Gemeinschaftsrechts –, in: Martin SchmidtKessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, Entstehung, Inhalte, Anwendung (2009), S. 173–216; Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts: eine verfassungsrechtliche Untersuchung zur Privatrechtswirkung des Grundgesetzes (2001); Peter Schlechtriem/Martin Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil (6. Aufl. 2005); Peter Schlechtriem/Ingeborg Schwenzer, Kommentar zum Einheitlichen UN-Kaufrecht (5. Aufl. 2008); Martin Schmidt-Kessel, Methoden des Europäischen Vertragsrechts, in: Karl Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre – Grundfragen der Methoden Europäischen Privatrechts (2006), S. 309–329; Hannes Unberath/Johannes Cziupka, Dispositives Recht welchen Inhalts? Antworten der ökonomischen Analyse des Rechts, AcP 209 (2009), 37–83; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations: Roman foundations of the civilian tradition (1996). Rechtsprechung EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723; EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-194/94 CIA Security, Slg. 1996, I-2201; EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535; EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7257; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685.

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I.

II. III.

IV.

V.

3. Teil: Besonderer Teil

Übersicht Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem | 2–7 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht | 2–4 2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand | 5–7 Methoden des Unionsrechts im Vertragsrecht | 8–12 Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium | 13–17 1. Instrumentarium des Vertragsrechts | 14 2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts | 15 3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit | 16–17 Vertragsauslegung | 18–23 1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium | 19 2. Objektivierungen | 20–23 a) Bestimmung des Auslegungsmaterials | 21 b) Risikozuweisungen | 22–23 Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht | 24–39 1. Anpassung der Methodik | 26–27 2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons | 28–35

a)

Wortlaut und Entstehungsgeschichte | 29–30 b) Telos der Norm | 31 c) Systemgestützte Erwägungen | 32–35 3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre | 36–37 4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht | 38–39 VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht | 40–46 1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive | 41 2. Anwendung des etablierten Kanons? | 42–43 3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts | 44 4. Verbot der Analogie? | 45–46 VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen | 47–54 1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens | 48 2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen | 49 3. Zur künftigen Auslegung des Instruments | 50–54

1 Die Besonderheiten des Gegenstands Vertragsrecht haben Besonderheiten gegenüber der allge-

meinen juristischen Methodenlehre zur Folge. Das gilt insbesondere soweit es um das Europäische Privatrecht geht, dessen Eigenheiten die vorbehaltlose Übernahme nationaler Methodik der eigenen Heimatrechtsordnung ausschließen. Vorgeschaltet ist zunächst die Frage, was den Vertrag und das Vertragsrecht eigentlich ausmacht – eine Frage, bei deren Beantwortung hinsichtlich des Kerns des Vertragsbegriffs in Europa vermutlich Einigkeit besteht, während sich an den Begriffsrändern ganz massive Divergenzen auftun (I.). Unabhängig vom speziellen Gegenstand des Vertragsrechts finden die verschiedenen allgemeinen Aspekte der Methoden des Unions- und des Unionsprivatrechts auch für das Vertragsrecht Anwendung (II.). In diesen beiden Punkten erschöpft sich die Frage nach den Methoden des Europäischen Vertragsrechts freilich schon aus dem Grunde nicht, dass sich Europäisches Vertragsrecht und das Vertragsrecht im Unionsprivatrecht bei weitem nicht gleichsetzen lassen. Vielmehr ergeben sich aus den normativen Besonderheiten des Vertragsrechts (III.) erhebliche Konsequenzen für das methodische Instrumentarium: Methodische Besonderheit des Vertragsrechts sind zunächst die Regeln zur Auslegung des Vertrags respektive der Parteierklärungen (IV.). Zentrales Charakteristikum des Vertragsrechts ist seine ganz überwiegende Dispositivität, auf welche die herkömmliche – auf Konturierung der Rechtsbindung des Richters ausgerichtete – Methodenlehre nur unzureichend abgestimmt ist (V.). Daraus ergeben sich auch Konsequenzen für die lex artis der Anwendung zwingenden Vertragsrechts (VI.). Der in seinem akademischen Entwurf vorliegende Gemeinsame Referenzrahmen für das Europäische Vertragsrecht sowie der Vorschlag der Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht stellen zusätzliche Herausforderungen an die Methodik (VII.). Schmidt-Kessel

§ 17 Europäisches Vertragsrecht

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I. Vertragsrecht als Topos im Europäischen Rechtssystem 1. Vertragsrecht statt Obligationenrecht Bemerkenswert erscheint zunächst, dass das Vertragsrecht in einer Vielzahl mitgliedstaatlicher 2 Rechtsordnungen keinen eigenständigen systematischen Topos darstellt; es erscheint vielmehr regelmäßig und namentlich auf dem Kontinent nur als Subkategorie zum Obligationenrecht,1 also dem Recht der Obligationen oder – wie es in Deutschland im Anschluss an die unglückliche doppeldeutige Begriffsprägung durch das BGB heißt2 – der Schuldverhältnisse. Im Rahmen dieses Rechts der Rechtsverhältnisse und Pflichten zwischen Personen bilden die vertraglichen Obligationen nur eine Unterkategorie. Vertragsrecht als eigenständiger Topos im System oder jedenfalls in der Darstellung des Rechts ist hingegen heute vor allem in der Tradition des Common Law verwurzelt.3 Für die nordischen Rechtsordnungen lässt sich ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen dem als regionales Einheitsrecht geschaffenen allgemeinen Vertragsgesetz und den ebenso anzutreffenden Lehrbüchern zum Obligationenrecht4 feststellen. In der Rechtsvergleichung wie in zahlreichen Projekten der Rechtsvereinheitlichung ist das 3 Vertragsrecht hingegen ein feststehender Topos: Prominentestes Beispiel ist die entsprechende Ordnung der International Encyclopedia of Comparative Law, welche keine zusammenfassende Behandlung des Obligationenrechts enthält, sondern für das Vertragsrecht, das Deliktsrecht sowie für das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung einschließlich der negotiorum gestio jeweils eigene Bände vorhält. Die Principles for International Commercial Contracts und die Principles of European Contract Law lassen ihre Ausrichtung bereits im Namen deutlich werden5 und dasselbe gilt für den Code Européen de Contrats der sog. Gandolfi-Gruppe. Auch komparatistisch angelegte Lehr- und Textbücher sind vielfach dem Europäischen Vertragsrecht6 und nicht etwa einem Europäischen Obligationenrecht7 gewidmet. Unionsrechtlich ist das Europäische Vertragsrecht als Topos spätestens mit den seit 2001 publizierten Mitteilungen der Kommission und die darum entstandene Diskussion als Gegenstand etabliert;8 die Literatur hat sich auch insoweit der Thematik angenommen. Ist das Europäische Vertragsrecht insgesamt heute auch eine allgemein anerkannte Katego- 4 rie, so wird doch ihr wesentlicher Kern, welcher sie von den benachbarten Gebieten des Obligationenrechts scheidet, nur selten angesprochen: der besondere Geltungsgrund der vertraglichen Pflichten in der autonomen Entscheidung der Parteien für eine Bindung.9 Insoweit unterscheidet sich das Vertragsrecht entscheidend von anderen Quellen von Obligation – und als Konsequenz auch seine Methodik von denen der übrigen Gebiete des Privatrechts.

_____ 1 Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 451. Einer abweichenden Konzeption folgt für das deutsche Vertragsrecht nunmehr Kötz, Vertragsrecht. 2 Dazu Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 3. 3 Siehe nur die klassischen Lehrbücher Beatson, Anson’s Law of Contracts und Chitty, Chitty on Contracts. 4 So etwa für Dänemark das vierbändige Lehrbuch von Gomard, Obligationsret (seit 1971 in mehreren Auflagen). 5 Allerdings enthalten beide Werke in ihrer jüngsten Fassung auch nicht spezifisch vertragsrechtliche Regeln wie die Abtretung und die Aufrechnung. 6 So Kötz, Europäisches Vertragsrecht; Beale/Hartkamp/Kötz/Tallon (Hrsg.), Contract Law. Ebenso das auf das Unionsrecht konzentrierte Lehrbuch Riesenhubers zum „EU-Vertragsrecht“. 7 Prominentestes Gegenbeispiel ist Zimmermann, The Law of Obligations. Siehe ferner Ranieri, Europäisches Obligationenrecht. 8 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. mwN. 9 Eine wichtige – wenngleich umstrittene – Ausnahme hierzu ist die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 5 Nr. 1 und 3 EuGVVO für Fälle des Fehlverhaltens im Umfeld des Vertragsschlusses, dazu EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-334/00 Tacconi, Slg. 2002, I-7357 und dazu Anm. Schmidt-Kessel, ZEuP 2004, 1019. Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

2. Begriffskern und Unschärfen am Begriffsrand 5 Über die Frage, was ein Vertrag und damit der Gegenstand des Vertragsrechts sei, besteht keine

vollständige Einigkeit. Immerhin findet sich jedoch ein gesicherter Begriffskern, welcher aus drei Elementen besteht: der Einordnung des Vertrags als Instrument der Selbstbindung, das Erfordernis des Konsenses als Voraussetzung dieser Bindung und ihre Durchsetzung im Wege des Schadensersatzes. Zugleich ergeben sich jedoch erhebliche Unschärfen am Begriffsrand. Diese betreffen zu6 nächst die Frage, wie weit die Selbstbindung reicht, ob namentlich der Vertrag tendenziell das gesamte Verhältnis zwischen den Parteien einschließlich des Schutzes solcher Integritätsinteressen erfasst, welche nicht zum Kern des Vertrags gehören.10 Hinzu kommen offene Punkte hinsichtlich des Anwendungsbereichs des Vertragsrechts: Erfasst dieses auch einseitig verpflichtende Rechtsverhältnisse (oder gar einseitige Versprechen) oder ist die Gegenleistung (consideration) ein konstituierendes Element?11 Und wie steht es mit Fehlern bei der Vertragsanbahnung? Unterfallen diese dem Vertragsrecht oder zählen sie mangels Eintritt einer Bindung zum außervertraglichen Bereich? Wie ist das Verhältnis des Vertragsrechts zu den Regeln über andere Quellen von Obligationen wie Delikt, rechtsgrundlose Bereicherung, Geschäftsführung ohne Auftrag, bailment oder agency? Alles andere als gesichert ist schließlich die Rechtsbehelfsseite: Während in Deutschland – ermöglicht erst durch die jedenfalls insoweit unglückliche Windscheid’sche Trennung von materiellem Anspruch und dessen prozessualer Durchsetzung – die Erfüllung in Natur überwiegend in das Zentrum des Systems gerückt wird,12 steht die Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Durchsetzung in Natur deutlich zurückhaltender gegenüber.13 Der Entwurf zum Gemeinsamen Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht (DCFR) 7 beantwortet nicht alle dieser Fragen und dasselbe gilt für den Vorschlag der Europäischen Kommission für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht (V-GEK). Immerhin lässt sich zunächst erkennen, dass beide nicht auf gegenseitige Verträge beschränkt sind: Europäisches Vertragsrecht erfasst auch einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte (vgl. II.–4:301 – 4:303 DCFR; Art. 107 V-GEK).14 Selbstverständlicher Kern von Referenzrahmen und V-GEK ist das Leistungsstörungsrecht mit einem System der Rechtsbehelfe des verletzten Teils, in welchem der Zwang zur Naturalerfüllung keine Vorzugsstellung genießt (siehe Buch III Kapitel 3 DCFR; Art. 106, 131, 155, 157 V-GEK). Auch Störungen bei der Vertragsanbahnung werden – entgegen der Mehrheitsauffassung unter den Mitgliedstaaten und auch entgegen den Weichenstellungen für das Internationale Zivilverfahrensrecht15 und das Internationale Privatrecht16 der Union – weitgehend dem Vertragsrecht zugeschlagen.17 Elemente zu einer solchen Haftung für culpa in contrahendo enthält der DCFR an mehreren Stellen, insbesondere in II.–2:104, 3:109, 3:501, 6:107, 7:204, 7:214, 7:304 sowie in VI.–2:204, 2:205, 2:207, 2:208, 2:210; für das Gemeinsame Kaufrecht ist die Tendenz deutlich schwächer ausgeprägt, siehe Art. 55 V-GEK. Offen bleibt hingegen, in welchem Umfang

_____ 10 Dazu bis heute grundlegend Schlechtriem, Vertragsordnung und außervertragliche Haftung (1972). 11 Vgl. Kötz, Europäisches Vertragsrecht, S. 84 ff. sowie ders., in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Stichwort: Seriositätsindizien. 12 Dazu das Rabel’sche Wort vom Erfüllungsanspruch als dem „Rückgrat der Obligation“ (Rabel, Recht des Warenverkaufs, Bd. 1 [1936], S. 376). 13 Siehe Schmidt-Kessel, in: Wagner (Hrsg.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics (2009), S. 69–86. 14 Zum Vertragsbegriff des V-GEK in diesem Sinne Schmidt-Kessel/Schmidt-Kessel Art. 2 GEK-VO-E Rn. 10, Art. 5 GEK-VO-E Rn. 5. 15 Zur Tacconi-Entscheidung des EuGH siehe oben Fn. 9. 16 S. Art. 1 Abs. 2 Ziff. i) Rom I-VO sowie Art. 2 Abs. 1 Rom II-VO. 17 Siehe Buch II Kap. 3 DCFR. Außerdem Art. 1104–1104–1 des Catala-Entwurfs zur Reform des Code Civil. Schmidt-Kessel

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nach dem DCFR und dem V-GEK eine vertragliche Haftung wegen solcher Integritätsverletzungen besteht, welche nicht auf der Verletzung einer zum Vertragskern gehörenden Pflicht beruhen. Die Abgrenzung vom Deliktsrecht, welche bereits den nationalen Rechtsordnungen vielfach Schwierigkeiten bereitet, wird hier dauerhaft schwierig bleiben. Das gilt beim DCFR erst recht, soweit Buch VI DCFR über die außervertragliche Schadensersatzhaftung außer Betracht gelassen wird.18

II. Methoden des Unionsrechts im Vertragsrecht Das Europäische Vertragsrecht kann sich, jedenfalls soweit es bereits heute der Feder des Uni- 8 onsgesetzgebers entspringt, den methodischen Vorgaben des Unionsrechts selbstverständlich nicht entziehen. Insoweit gelten dann grundsätzlich die allgemeinen Regeln und zwar zunächst diejenigen über die Anwendbarkeit und den Vorrang des Unionsrechts unter Privaten. Während jene für die Art. 101 f. AEUV sowie bei Verordnungen, wie sie sich für Verträge bislang vor allem im Transport- und Beförderungsrecht finden,19 selbstverständlich ist, kommt es bei Richtlinien und bei den Grundfreiheiten jedenfalls im Grundsatz zu keiner unmittelbaren horizontalen Anwendung. Für die Grundfreiheiten lässt sich allerdings eine – vor allem für vertragsrechtliche Bestimmungen bedeutsame – Tendenz zur Anwendung unter Privaten konstatieren: Gesichert ist insoweit, dass das Primärrecht die Beschränkung von Grundfreiheiten durch solche Private verbietet, die als sog. intermediäre Gewalten einzuordnen sind und aufgrund ihrer Macht staatsähnlich auftreten.20 Darüber hinaus hat der Gerichtshof bereits vereinzelt erkennen lassen, dass Private auch in anderen Fällen Adressaten von Grundfreiheiten sein können.21 Von praktisch

_____ 18 Zum Verhältnis von Vertrags- und Deliktsrecht (sowie von Vertrags- und Sachenrecht) wegweisend Schlechtriem, Vertragsordnung und außervertragliche Haftung (1972), sowie v. Bar/Drobnig, The interaction of contract law and tort and property law in Europe. 19 Siehe vor allem die Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/ 91, ABl. 2004 L 46/1 (dazu den Vorschlag der Kommission für eine Novelle KOM[2013] 130 endg) sowie die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates v. 9.10.1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, ABl. 1997 L 285/1, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002, ABl. 2002 L 140/2. Siehe ferner die Verordnung (EU) Nr. 1107/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 über die Rechte von behinderten Flugreisenden und Flugreisenden mit eingeschränkter Mobilität EG/1107/2006, ABl. 2006 L 204/1, berichtigt durch ABl. 2013 L 26/34 sowie die Verordnung (EG) Nr. 1008/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.9.2008 über gemeinsame Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten in der Gemeinschaft, ABl. 2008 L 293/3. Passagierschutzverordnungen finden sich auch in anderen Bereichen, nämlich die Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. 2007 L 315/14, die Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004, ABl. 2010 L 334/1 und die Verordnung (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.2.2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/ 2004, ABl. 2011 L 55/1. Unmittelbar anwendbar sind etwa auch die Verordnungen zur Euroeinführung, dazu Schmidt-Kessel, WM 1997, 1732 ff. 20 Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 468 mwN. 21 EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139. Dazu Streinz/Leible, EuZW 2000, 459, 460; Körber, Grundfreiheiten und Privatrecht, S. 680. Die Übertragbarkeit dieser Regeln auf die Dienstleistungsrichtlinie (DLRL) ist allerdings fraglich, s. Schlachter/Ohler-Schmidt-Kessel, Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar (2008), Art. 16 DLRL Rn. 10.

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3. Teil: Besonderer Teil

ungleich größerer Bedeutung für das Vertragsrecht sind die Grundfreiheiten jedoch als Maßstab einer primärrechtskonformen Auslegung.22 Auch die zahlreichen vertragsrechtlichen Richtlinien entfalten grundsätzlich keine horizon9 tale Direktwirkung. Zentraler methodischer Aspekt des durch Richtlinien gesteuerten Vertragsrechts sind daher diejenigen Fragestellungen, welche sich aus dem Gebot richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts ergeben.23 Die Union stellt damit lediglich ein Optimierungsgebot auf und verlangt von den mitgliedstaatlichen Rechtsanwendern daher nur solche Schritte, welche sich im Rahmen der für das autonome nationale Recht maßgebenden Methodik halten. Allerdings muss diese auch vollständig ausgeschöpft werden, so dass etwa die Überwindung einzelner Vorschriften durch die Anwendung von Generalklauseln geboten sein kann.24 Soweit in den Mitgliedstaaten die Gerichte auch rechtsfortbildend tätig werden dürfen, ergibt sich aus der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung nach Art. 288 Abs. 3 AEUV auch das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung,25 wie sie der Bundesgerichtshof in der Rechtssache Quelle auch praktiziert hat.26 Noch weiter reichen die Richtlinienwirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen 10 zwischen Privaten und der öffentlichen Hand. Praktische Bedeutung hat dieser Punkt bislang vor allem für Beschäftigungsverhältnisse des öffentlichen Dienstes erlangt, für welche insbesondere die arbeitsrechtlichen Richtlinien unmittelbar zugunsten der Beschäftigten gelten, wenn sie nicht rechtzeitig oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt sind und die Richtlinie den Beschäftigten eine hinreichend präzise gefasste Rechtsposition einräumt.27 Künftig dürfte er mit Blick auf die Zahlungsverzugsrichtlinie (ZVerzRL)28 auch für Vergütungsansprüche Privater gegen die öffentliche Hand Bedeutung erlangen; dies gilt insbesondere für eine Reihe öffentlichrechtlich organisierter Rechtsverhältnisse29 und für Bauaufträge der öffentlichen Hand. Bislang nicht näher untersucht ist außerdem die Frage einer Francovich-Haftung als Haftung in einem Vertrag.30 Ebenfalls offen ist, ob eine unmittelbare Richtliniengeltung entsprechend der Ausweitung der Wirkung der Grundfreiheiten auf sog. intermediäre Gewalten möglich ist. Die Standardformel des Gerichtshofs zur Abgrenzung erfasst den Staat sowie Organisationen und Einrichtungen, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben.31 Die Ausweitung dieser Formel etwa auf die von den Grundfreiheiten angesprochenen privaten Verbände erscheint zumindest vorstellbar.32 Unmittelbare Wirkungen vermögen Richtlinien ferner dort zu erzeugen, wo sie lediglich mit11 telbar auf vertragliche Rechtsverhältnisse einwirken. Das gilt insbesondere dort, wo eine Richt-

_____ 22 S. Leible/Domröse, in diesem Band, § 8; aus der Sicht des deutschen Vertragsrechts etwa Schlechtriem/ Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 12 ff. 23 S. W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 24 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 116; dazu Riesenhuber/ Domröse, RIW 2005, 47 ff.; Staffhorst, GPR 2005, 89, 90 f.; Schlechtriem/Schmidt-Kessel, Schuldrecht Allgemeiner Teil, Rn. 154a. 25 Siehe nochmals W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 26 BGH, NJW 2009, 427, 428 Rn. 19 ff. in Befolgung von EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685. 27 Grundlegend EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723. Zu den Einzelheiten etwa Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 101 ff. 28 Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.2.2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr, ABl. 2011 Nr. L 48/1. 29 Siehe die Nachweise bei Gebauer/Wiedmann-Schmidt-Kessel, Kap. 4 Rn. 9, 14. 30 Zur dogmatischen Verortung dieser Haftung etwa Streinz-Gellermann, Art. 288 EG Rn. 39. 31 Etwa EuGH v. 4.12.1997 – verb. Rs. C-253/96 bis C-258/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 47. 32 Siehe aber für die Dienstleistungsrichtlinie nochmals Schlachter/Ohler-Schmidt-Kessel, Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar (2008), Art. 16 DLRL Rn. 10.

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linie bestimmte technische Standards verbietet, auf die der Vertrag oder das Gesetz – etwa zur Bestimmung der geschuldeten Qualität von Ware – Bezug nehmen;33 die Richtlinie schließt den verbotenen Standard dann jedenfalls insoweit aus, als er sich nicht aus dem tatsächlichen Parteiwillen ergibt. Entsprechendes kann beim Verbot bestimmter Zulassungsanforderungen an Dienstleister geschehen, soweit die daran geknüpfte (Un-)Wirksamkeit des Vertrages dem Richtlinienziel zuwiderläuft.34 Dieser Verwerfung nationaler Standards aufgrund kollidierender Umsetzungspflichten stehen positive Pflichten unter Bezug auf Unionsrechtsakte bislang hingegen allein bei Verordnungen gegenüber.35 Soweit das Unionsrecht für die Entscheidung vertragsrechtlicher Streitigkeiten Bedeutung 12 erlangt, folgt seine Auslegung im Grundsatz den allgemeinen Regeln unionsrechtlicher Methodik.36 Insbesondere sind die betreffenden Vorschriften und ihre Begriffe autonom und nicht etwa nur mit Blick auf die jeweils berufene nationale Rechtsordnung auszulegen.37 Von den klassischen canones der Auslegung tritt die historische eher in den Hintergrund.38 Die Bedeutung des Wortlauts ist in mehrfacher Hinsicht ambivalent. Ihm müsste zunächst im Blick auf die souveränitätsbeschränkende Wirkung unionsrechtlicher Rechtsakte besondere Bedeutung zukommen. Diese wird jedoch durch die Vielsprachigkeit der Rechtstexte sowie durch die bislang mangelnde Ausbildung einer kohärenten Terminologie des Vertragsrechts der Union erheblich relativiert. Entgegen der insoweit besonders restriktiven deutschen Tradition – aber in Übereinstimmung mit der herrschenden Methodenlehre in einigen anderen Mitgliedstaaten39 – markiert die Wortlautgrenze zudem nicht notwendig eine Grenze zwischen kategorial zu unterscheidender Auslegung und Fortbildung des Unionsrechts.40 Neben den insoweit großzügigeren Traditionen anderer Mitgliedstaaten hat dies seine Ursache auch im zentralen Gewicht der teleologischen Auslegung im Unionsrecht. Bei dieser ist das in Bezug genommene Telos zudem ein doppeltes: Zu fragen ist einerseits nach dem Zweck der einzelnen Norm und andererseits – und insoweit auch systemprägend – nach den aus der Binnenmarktfinalität des Unionsrechts für die einzelne Sachfrage zu ziehenden Konsequenzen.41 Hinter dieser methodischen Abweichung steht damit vor allem die Akzentverschiebung hin zu einem Verständnis des Privat- und insbesondere auch des Vertragsrechts als Steuerungsinstrument und weniger als Instrument des klassischen Interessenausgleichs.

_____ 33 EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535 (gemeinschaftsrechtswidrige Etikettierungsvorschriften begründen keine Vertragswidrigkeit). Vgl. auch EuGH v. 30.4.1996 – Rs. C-194/94 CIA Security, Slg. 1996, I-2201 (verbotswidriges Betreiben eines Gewerbes nicht unlauter, wenn nationale Bestimmung gegen Richtlinie verstößt). 34 Vgl. zur Dienstleistungsrichtlinie und den von ihr erfassten Eingriffsnormen Schlachter/Ohler-Schmidt-Kessel, Europäische Dienstleistungsrichtlinie – Handkommentar (2008), Art. 16 DLRL Rn. 27. 35 Etwa LG Trier, NJW-RR 1996, 564 = CISG-online 160 (zur Verordnung (EWG) Nr. 822/87 und der dadurch begründeten fehlenden Verkehrsfähigkeit von Wein). 36 Dazu Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7, sowie Riesenhuber, ebd., § 10. 37 GA Trstenjak, SchlA v. 11.9.2008 – Rs. C-180/06 Ilsinger, Slg. 2009, I-3961 Tz. 54 mwN. 38 In diesem Sinne Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht (2006), S. 1, 4–6; anders Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 32. 39 Das gilt insbes. für Frankreich, Spanien, Portugal, die Niederlande und teilweise auch für Italien, vgl. die Nachweise bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 132 f., 158 f., 166, 172, 178. Entsprechendes gilt für die Schweiz, vgl. Kramer, Methodenlehre, S. 152. 40 Franzen, Privatrechtsangleichung, S. 358; Herresthal, Rechtsfortbildung im europarechtlichen Bezugsrahmen (2006), S. 317 f.; Baldus/Becker, ZEuP 1997, 873, 883. Hieran knüpft der Bundesgerichtshof ausdrücklich an: BGH, NJW 2009, 427, 428 Rn. 21. Abweichend (und vielleicht zu sehr in der deutschen Methodenlehre verwurzelt) Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 19; Neuner, ebd., § 12 Rn. 2 f., 17. 41 Rösler, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung des Gemeinschaftsrechts, sub 1 (Verwirklichung der Integrationsziele). S. auch GA Trstenjak, SchlA v. 24.4.2008 – Rs. C-265/07 Caffaro, Slg. 2008, I-7085 Tz. 34. Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

III. Normative Besonderheiten des Vertragsrechts und deren Konsequenzen für das methodische Instrumentarium 13 Dem Vertragsrecht kommt eine Doppelaufgabe zu: Es organisiert die vertragliche Bindung und

es bestimmt den Inhalt des Vertrags einschließlich der Folgen von Störungen. Für die Erfüllung dieser Doppelaufgabe stehen dem Vertragsrecht drei Instrumente zur Verfügung: Maßgebend sind zunächst die Parteierklärungen und ihr Zusammenkommen im vertragsbegründenden Konsens; der Code civil spricht insoweit in Art. 1134 Abs. 1 treffend davon, der Vertrag sei das Gesetz der Parteien.42 Weiterhin sind das dispositive Vertragsrecht und weitere Mechanismen heteronomer Vertragsergänzung in den Blick zu nehmen und schließlich das die Freiheit der Parteien beschränkende zwingende Recht.

1. Instrumentarium des Vertragsrechts 14 Die – gegenseitigen oder gemeinschaftlichen – Parteierklärungen sind unter der Herrschaft der

zweigliedrigen Vertragsfreiheit der notwendige Ausgangspunkt für die Behandlung der den Vertrag betreffenden Rechtsfragen: Zunächst ist jeweils zu fragen, ob die Erklärungen hinreichend kongruent sind, um Bindungen zwischen den Parteien hervorrufen zu können, ob also ein Konsens vorliegt. Sodann ist die Frage zu klären, welchen Inhalt dieser Konsens hat. Beide Vorgänge erfolgen mit den Mitteln der Auslegung – zunächst der Parteierklärungen, dann des Konsenses. Diese bildet dementsprechend die primäre methodische Aufgabe des Vertragsrechts. Beherrscht wird die Auslegung von Erklärungen und Konsens bekanntlich durch das Spannungsverhältnis zwischen dem richtigerweise vorrangigem Parteiwillen einerseits und verschiedenen objektiven Gesichtspunkten andererseits, welche sich als notwendige Konsequenz aus dem Umstand ergeben, dass der Parteiwille auch kommuniziert werden muss.

2. Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts 15 Dem dispositiven Recht kommt die Aufgabe zu, den im Wege der Auslegung von Parteierklärun-

gen und Konsens ermittelten Befund zu ergänzen und zu konkretisieren.43 Dabei tritt es im Kollisionsfalle hinter diesem Befund zurück, ist also dem Gesetz der Parteien gegenüber nachrangig. Auch soweit das dispositive Recht mit Mechanismen einer individuellen, d.h. auf den einzelnen Vertrag bezogenen, heteronomen Vertragsergänzung, etwa der implication in fact (vgl. II.–9:101 DCFR) oder der ergänzenden Vertragsauslegung, konkurriert, tritt es richtigerweise zurück:44 Für diese am individuellen Vertrag und damit enger am Willen der Parteien anknüpfenden Mechanismen gebietet dies die Herrschaft der Privatautonomie im Vertragsrecht. Dabei können dispositives Recht und die Mechanismen zur heteronomen wie autonomen Ergänzung des Vertrags im Einzelfall nicht immer klar unterschieden werden: Die verschiedenen Elemente von Art. 35 Abs. 2 CISG und – soweit er den Parteien Spielräume belässt – Art. 2 Abs. 2 Kaufgewähr-

_____ 42 Entsprechend Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 345. 43 Vgl. Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 170. 44 Dazu ausführlich rechtsvergleichend für das englische und deutsche Recht Schmidt-Kessel, ZVglRWiss 96 (1997), 101 ff. Bereits gegen diese Prämisse aus der Sicht des deutschen Rechts Möslein, Dispositives Recht, S. 430 f. unter Verweis auf die abstrakt-generelle Geltung dispositiver Normen, die freilich durch die Dispositivität gerade infrage gestellt wird.

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leistungsrichtlinie (KGRL)45 etwa lassen sich am besten als Auslegungshilfen auffassen und sind im englischen Recht des 19. Jahrhunderts auch genau so entstanden, nämlich als terms implied in fact.46 Damit klingt zugleich das Ideal für die inhaltliche Ausgestaltung dispositiven Rechts an: die Ausrichtung am typisiert-hypothetischen Parteiwillen. Dieses Ideal bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Methodik des dispositiven Rechts.

3. Zwingendes Recht als Grenze der Vertragsfreiheit Zwingendes Vertragsrecht setzt alldem Grenzen: Wege zur vertraglichen Bindung wie auch Ver- 16 tragsinhalte werden ausgeschlossen oder – bis hin zum Kontrahierungszwang – vorgegeben.47 Gleichwohl sind zwingende Normen vom Handeln der Parteien nicht unabhängig: Sie kommen nämlich erst zum Tragen, wenn sich die Parteien – beim Kontrahierungszwang der freie Teil – für ein von ihnen erfasstes Vertragsschlussverfahren oder eine von ihnen erfasste Vertragsgestaltung entscheiden. Auch steht das zwingende Vertragsrecht nicht isoliert, sondern knüpft weitgehend an die Vorgaben des dispositiven Rechts an,48 indem bestimmte – sich auch unter diesem stellende – Fragen der privatautonomen Regelung entzogen werden. Dass sich die Parteien etwa von der Schadensersatzhaftung für eigenen Vorsatz regelmäßig nicht freizeichnen können,49 setzt nicht nur stillschweigend den Vertragsschluss und eine Pflicht des vertragsbrüchigen Teils voraus, sondern verlangt überdies, dass der Rechtsbehelf des Schadensersatzes überhaupt zur Verfügung steht und sich damit die Frage nach dem (Mindest-)Standard der Haftung überhaupt stellt.50 Auch diese Verknüpfung kann für die heranzuziehende Methodik nicht folgenlos bleiben. Diese strukturelle Abhängigkeit des zwingenden vom dispositiven Recht hat der deutsche 17 Gesetzgeber in § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB dadurch perfektioniert, dass er das vornehmlich vom dispositiven Recht gezeichnete gesetzliche Leitbild zum Maßstab der Anwendung einer Norm zwingenden Rechts, nämlich des Verbots unangemessen benachteiligender Vertragsbestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen, erhoben hat. Indem bekanntlich § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB außerdem auf die wesentlichen Rechte und Pflichten verweist, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, geht das Gesetz noch einen Schritt weiter und macht sich die Erkenntnis zueigen, dass das dispositive Recht insoweit nicht allein die Standards setzt, welche den Vertragsinhalt bestimmen.51 Diese flächendeckende enge Verknüpfung des dispositiven Rechts mit den Standards der Inhaltskontrolle entspricht europäischem Standard freilich nicht einmal dort, wo das Unionsrecht selbst Regeln zur Inhaltskontrolle vorsieht.52 Lediglich Art. 7 Abs. 1 lit. c) ZVerzRL scheint hier in die Richtung des deutschen Rechts zu verweisen, freilich ist der dortige Verweis auf das „Leitbild“ einzelner Absätze der Art. 3, 4 und 6 ZVerzRL erheblich zurückhaltender, weil die Anknüpfung an die dispositiven Vorschriften dort endet, wo der andere Teil ei-

_____ 45 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 46 Siehe notes zu II.–9:101 DCFR sowie notes zu IV.A.–2:301 und 2:302 DCFR. 47 S. GA Trstenjak, SchlA v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Tz. 52. 48 Zustimmend Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 42 ff.: „Das zwingende Recht nutzt den dispositiven Ordnungsrahmen“. 49 Siehe nur § 276 Abs. 3 BGB. Offener der DCFR in II.–9:403–9:405; strikt jedoch für die außervertragliche Haftung in VI.–5:401 Abs. 1 DCFR. 50 Zustimmend Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 43. 51 Im Einzelfall hat dies sogar dazu geführt, dass die geübte Vertragspraxis dispositive Normen in einer Weise überspielt hat, dass den Verwendern von AGB die Rückkehr zum Gesetz verwehrt wurde. 52 Art. 3, 4 Klauselrichtlinie. Schmidt-Kessel

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nen „objektiven Grund“ für die Abweichung benennen kann. Selbstverständlich gehören auch in anderen europäischen Rechtsordnungen die Standards, von denen abgewichen wird, zu den Kontrollgesichtspunkten, jedoch kommt es dort nicht zu einer dem deutschen Recht vergleichbaren Engführung.

IV. Vertragsauslegung 18 Obwohl die Vertragsauslegung nach dem Vorstehenden den Kern der vertragsrechtlichen Me-

thodik bildet, ist insoweit eine Beschränkung auf wenige einzelne Punkte geboten. Dies zum einen, weil hier – einheitsrechtlich vor allem zurückgehend auf Art. 8 CISG und die Praxis seiner Anwendung – weitgehende Einigkeit über die anzulegenden materiellen Maßstäbe besteht und zum anderen, weil sich Schwierigkeiten bei der Vertragsauslegung vor allem im tatsächlichen Bereich ergeben und damit eng mit den prozessualen Rahmenbedingungen verknüpft sind – etwa den zugelassenen Beweismitteln, den Regeln für die richterliche Überzeugungsbildung oder der Frage nach Möglichkeit und Umfang der Kontrolle tatrichterlicher Auslegung durch Rechtsmittelgerichte. Zudem sind die unionsrechtlichen Ansätze zu einer allgemeinen Methodik der Vertragsauslegung bislang eher rudimentär, so dass man sich ohnehin weitgehend auf II.–8:101 ff. DCFR sowie auf Art. 8 CISG stützen muss.53

1. Parteiwille als maßgebliches Kriterium 19 Ausgangspunkt ist jeweils der Parteiwille, zunächst im Blick auf die Vertragsschlusserklärungen

und sodann begrenzt darauf, wie er Eingang in den Konsens gefunden hat.54 Er ist, soweit er sich mit dem Verständnis respektive dem Willen des anderen Teils deckt, auch dann maßgebend, wenn er im Wortlaut der getätigten Äußerungen für einen Dritten nicht sichtbar oder nicht erkennbar wird – falsa demonstratio non nocet. Das ergibt sich unmittelbar aus II.–8:101 Abs. 1 DCFR und Art. 8 Abs. 1 CISG, während es für das Unionsprivatrecht bislang abgeleitet werden muss und zwar aus der dieses beherrschenden (formalen) Vertragsfreiheit. Der Parteiwille wirkt auch dort fort, wo er nicht mehr hinreichend konkret ist, um unmittelbar die Beantwortung einzelner Detailfragen leisten zu können, nämlich über den – in Randbereichen nicht selten diffusen – Zweck, welchen die Parteien verfolgt haben, II.–8:102 Abs. 1 lit. e) DCFR, oder welchen eine Partei in Kenntnis und ohne Widerspruch der anderen zum Gegenstand des Vertrags gemacht hat, II.–8:101 Abs. 2 DCFR.55 Die Orientierung der beim Kauf geschuldeten Beschaffenheit der Ware am tatsächlichen oder gewöhnlichen Verwendungszweck, Art. 2 Abs. 2 lit. b) und c) KGRL, VI.A.–2:302 lit. a) und b) DCFR und Art. 35 Abs. 2 lit. a) und b) CISG, ist ein Beispiel für diese Form der vermittelten Wirkung des Parteiwillens.56

_____ 53 Siehe daher zum Folgenden Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG sowie Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen. 54 Abweichend zum Gegenstand der Auslegung Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 1b; die dort vertretene Konzentration auf den Vertrag negiert freilich die Auslegung als Mittel zur vorgelagerten Feststellung des Konsenses. 55 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 356. 56 Vgl. BGer v. 22.12.2000 – 4C.296/2000, CISG-online 628; Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 26.

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2. Objektivierungen Im Übrigen geht es bei den die Auslegung steuernden Regeln einerseits darum, das zur Feststel- 20 lung des Parteiwillens und des von den Parteien objektiv zu erwartenden Verständnisses heranzuziehende Auslegungsmaterial festzulegen, und andererseits um Zweifelsregeln, welche die Risiken des Schweigens bei Vertragsschluss und der Beweisbelastung im nachfolgenden Prozess zuweisen.

a) Bestimmung des Auslegungsmaterials Dabei ist der unionsprivatrechtliche Befund zum Auslegungsmaterial marginal; allenfalls lassen 21 sich Ansätze für ein Gebot zur Auslegung des Vertrags als Ganzes nachweisen,57 nämlich in Art. 4 Abs. 1 Klauselrichtlinie.58 Der Grund dafür liegt in dem Umstand, dass in Europa ein weitestgehender Konsens darüber besteht, dass grundsätzlich jeder Umstand, welcher Schlüsse auf den Willen und das Verständnis der Parteien erlaubt, bei der Auslegung zu berücksichtigen ist, II.–8:102 DCFR und Art. 8 Abs. 3 CISG. Das Europäische Privatrecht kennt insbesondere keine parol evidence rule im strengen Sinne, also keine strikte Beschränkung der Auslegungsgesichtspunkte auf eine den Vertrag verkörpernde Urkunde, soweit die Parteien dies nicht mittels einer merger clause vereinbart haben. Der Rückgriff auf die Verhandlungen der Parteien als Auslegungshilfe ist also möglich.59 Das Unionsrecht stünde vielmehr umgekehrt einer solchen Regel – oder ggf. auch Vertragsklausel – entgegen, wo diese die effektive Durchsetzung einer gewährten Rechtsposition beschränkt. So wäre eine parol evidence rule im strengen Sinne etwa mit Art. 2 Abs. 2 KGRL unvereinbar. Auch die deutsche Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit einer Urkunde bedarf insoweit einer behutsamen Anwendung.60 Generell dürften dem Unionsrecht solche nationalen Auslegungsregeln entgegenstehen, welche die praktische Verwirklichung der betreffenden Regel verhindern.61

b) Risikozuweisungen Auch an Regeln, welche bewusst Auslegungsrisiken zuweisen, ist das Unionsprivatrecht nicht 22 eben reich. Selbstverständlich ergeben sich solche Risikozuweisungen als Nebenfunktion einer jeden dispositiven Norm, weshalb auch hier die Abgrenzung von der Auslegungsregel oder Vermutung häufig nicht zu leisten ist. An allgemeinen Risikozuweisungen enthält das Unionsprivatrecht ausdrücklich nur das Gebot einer Auslegung contra proferentem von nicht im Einzelnen ausgehandelten Klauseln in Art. 5 Abs. 2 Klauselrichtlinie, welches sich – angesichts der europaweiten Akzeptanz dieses Grundsatzes – über den Anwendungsbereich der Richtlinie hinaus verallgemeinern lässt, II.–8:103 DCFR: Wer einseitig Vertragsinhalte vorgibt, trägt das Risiko

_____ 57 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 357. Vgl. auch II.–8:105 DCFR sowie Schlechtriem/Schwenzer-SchmidtKessel, Art. 8 CISG Rn. 29. 58 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 59 S. Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 3 b, dort auch zur abweichenden Entscheidung des House of Lords in Chartbrook Ltd. v Persimmon Homes Ltd. [2009] UKHL 38. 60 Vgl. zur entsprechenden Rechtslage unter dem UN-Kaufrecht Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 32 ff. Anders als dort könnte freilich der Verkäufer seine Haftung nicht durch eine merger clause zu beschränken suchen (s. ebd., Rn. 35). 61 Siehe aber Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 359. Schmidt-Kessel

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einer nicht hinreichend klaren Formulierung.62 Für den gelegentlich postulierten allgemeinen Grundsatz einer verbraucherfreundlichen Auslegung63 findet sich hingegen weder im Unionsrecht noch im DCFR eine hinreichende Basis. Für die im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr bedeutsame Frage nach der Zuweisung von 23 Sprachrisiken64 lässt sich hingegen bislang nicht klar beantworten, wie Art. 4 Abs. 3 und Art. 5 Timesharingrichtlinie 2008 (TSRL 2008)65 und Art. 36 Lebensversicherungsrichtlinie (LVersRL)66 einzuordnen sind:67 Ist die mit der Pflicht zur beglaubigten Übersetzung des Vertrags nach der Timesharingrichtlinie richtigerweise verbundene Zuweisung des Sprachrisikos für Mängel der Übersetzung an den Unternehmer verallgemeinerungsfähig oder handelt es sich insoweit um eine Ausnahme von II.–8:107 DCFR? Noch weniger aussagekräftig ist die nicht einmal durchweg zwingende versicherungsrechtliche Regel. Manches spricht hier für eine auf Verbraucherverträge beschränkte Verallgemeinerung, aus welcher sich eine Generalausnahme vom Grundsatz der Maßgeblichkeit der Ursprungsfassung für Verbraucherverträge ergäbe. Insgesamt dürfte die Freiheit der Mitgliedstaaten bei der privatrechtlichen Zuweisung von Sprachrisiken aber recht groß sein, dafür spricht nicht zuletzt die berufszulassungsrechtliche Regelung in Art. 53 Berufsqualifikationsanerkennungsrichtlinie,68 die den Mitgliedstaaten erlaubt, bei der Berufsausübung (nicht für die Zulassung) Anforderungen an die Sprachkenntnisse zu stellen.

V. Zum Umgang mit dispositivem Vertragsrecht 24 Bislang fehlte es – jedenfalls in Deutschland – an einer generellen Theorie vom dispositiven

Recht.69 Ansätze fanden sich lediglich im Kontext der deutschen Leitbildfunktion bei der AGBKontrolle70 sowie bei Äußerungen zur ökonomischen Analyse des Vertragsrechts.71 Dementspre-

_____ 62 Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 357 f.; Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 47 f.; Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 1a. 63 So Möllers, ZHR 2007, 754, 757. Skeptisch auch Vogenauer, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, Stichwort: Auslegung von Verträgen, sub 1. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 57–61 mwN. 64 Zu den Sprachrisiken im internationalen Einheitsrecht s. Schlechtriem/Schwenzer-Schmidt-Kessel, Art. 8 CISG Rn. 41 ff. mwN. 65 Richtlinie 2008/122/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.1.2009 über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsverträgen, Verträgen über langfristige Urlaubsprodukte sowie Wiederverkaufs- und Tauschverträgen, ABl. 2009 L 33/10. 66 Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.11.2002 über Lebensversicherungen, ABl. 2002 L 345/1. 67 Dazu Riesenhuber, System und Prinzipien, S. 280 ff. 68 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 7.9.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. 2005 L 255/22 in der durch die Richtlinie 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.11.2013 zur Änderung der Richtlinie 2005/36/EG über die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt-Informationssystems („IMI-Verordnung“), ABl. 2013 L 354/132, geänderten Fassung. 69 Nunmehr aber die Arbeiten von Cziupka, Dispositives Vertragsrecht (2010) (S. 4 ausdrücklich dem in der Vorauflage festgestellten Defizit zustimmend); Möslein, Dispositives Recht sowie Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts. Ferner Unberath/Cziupka, Dispositives Recht welchen Inhalts? Antworten der ökonomischen Analyse des Rechts, AcP 209 (2009), 37–83 sowie Möslein, in: Callies (Hrsg.), Transnationales Recht, S. 155–177. Mit besonderer Perspektive auch Binder, Regulierungsinstrumente und Regulierungsstrategien im Kapitalgesellschaftsrecht. 70 Zur Beschränkung der Leitbildfunktion dispositiven Rechts auf die „wesentlichen Grundgedanken“ und die damit verbundene Binnendifferenzierung etwa Staudinger-Coester, § 307 BGB Rn. 247 ff. 71 Zuletzt Unberath/Cziupka, AcP 209 (2009), 37–83. Schmidt-Kessel

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chend fehlte es auch weitgehend an der Vergewisserung, ob die klassischen Auslegungsregeln tatsächlich auch dann unmodifiziert Anwendung finden können, wenn nicht zwingende, sondern dispositive Normen Gegenstand der Auslegung sind. Auch in den zwischenzeitlich erschienenen deutschen Werken zur Theorie des dispositiven Rechts wird nur teilweise auf die Fragen der Konsequenzen der Dispositivität auf die Auslegung der betreffenden Normen eingegangen.72 Ein zusätzliches methodisches Problem könnte sich ergeben, falls sich die Union künftig 25 dazu verstünde staatendispositives Recht zu setzen, also solche Bestimmungen, von denen die Mitgliedstaaten abweichen dürfen und die daher auch nur subsidiär zur Anwendung gelangen. Für eine derartige Selbstbeschneidung des höherrangigen Rechts gibt es national einige Beispiele,73 wobei deren methodische Konsequenzen bislang kaum ausgeleuchtet sind.

1. Anpassung der Methodik Dispositivität von Normen erfordert, wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, eine nicht 26 unerhebliche Anpassung der Methodik; diese lässt sich auf zwei Wegen begründen, nämlich entweder systemimmanent mit dem Argument, dass das Telos des dispositiven Rechts einen besonderen methodischen Umgang mit diesem erfordere, oder mit dem Hinweis, der Gegenstand dispositiven Rechts weise eine vom Recht im Übrigen verschiedene Qualität auf, welche die Entwicklung einer eigenständigen Methodik erfordere. Diese beiden Begründungsstränge führen nicht zu divergierenden Ergebnissen und können daher nebeneinander stehen. Ein weiteres Argument lässt sich anfügen: Gemeinhin wird das methodengeleitete Vorgehen 27 bei der Anwendung und Auslegung von Normen auf den allgemeinen Gleichheitssatz zurückgeführt.74 Dieser gilt freilich im Vertragsrecht nur eingeschränkt, weil die Parteien dem Gebot der Gleichbehandlung zumindest grundsätzlich nicht unterworfen sind: Vertrag ist Diskriminierung.75 Bereits die Verschiedenheit der beteiligten Parteien genügt, um die Ergebnisse unterschiedlich ausfallen zu lassen. Die Anforderungen an die Methodik des dispositiven Rechts sind daher andere als bei anderen Materien.

2. Beschränkte Bedeutung des klassischen Kanons Soweit eine Norm des dispositiven Rechts in Ergänzung eines Vertrags zur Anwendung kommt, 28 erlangt der klassische Kanon der Auslegungsgesichtspunkte nur eingeschränkte Bedeutung für deren Auslegung. Cziupka hat insoweit von einer „methodischen Zäsur“ gesprochen. 76 Der Grund dafür liegt in der Einstellung der Norm in den individuellen vertraglichen Kontext und der damit verbundenen Einbindung in das System des individuellen Vertrags; wie einzelne express terms des Vertrags ist die dispositive Norm nur als Teil des Vertragsganzen zu behandeln

_____ 72 Siehe insbesondere die Auseinandersetzung mit den hier vertretenen Thesen bei Möslein, Dispositives Recht, S. 430 ff. 73 Siehe nur Art. 72 Abs. 3, Art. 84 Abs. 1 GG für die (partiell) länderdispositiven deutschen Bundesgesetze. 74 Grundlegend Michael, Der allgemeine Gleichheitssatz als Methodennorm komparativer Systeme: methodenrechtliche Analyse und Fortentwicklung der Theorie der „beweglichen Systeme“ (1997). 75 Für einen grundlegenden Paradigmenwechsel nunmehr allerdings Grünberger, Personale Gleichheit – der Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht (2013). 76 Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 412. Gegen die im folgenden postulierten Abweichungen Möslein, Dispositives Recht, S. 431–433 auf der Basis seines etatistischen Grundverständnisses konsequent. Mit Methodenehrlichkeit (vgl. Möslein, aaO, S. 433) hat das nichts zu tun, sondern mit divergierenden Verständnissen von den Funktionen dispositiven Rechts.

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und im Blick auf dieses auszulegen – II.–8:105 DCFR. Hierin liegt auch die methodische Rechtfertigung für die gelegentlich anzutreffende und etwas hilflos wirkende Formulierung, die Norm passe auf die konkrete Situation nicht.77

a) Wortlaut und Entstehungsgeschichte 29 Überwindbar werden damit zunächst Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Norm. Für den

individuellen Vertrag ist die gelegentlich auf die frühe römische Republik zurückreichende Vorund Entstehungsgeschichte einer Norm nicht bindend. Gerade im Vertragsrecht älterer Kodifikationen ist der Erlassgrund mancher Normen die Tradition und nicht eine bewusste politische Entscheidung eines Gesetzgebers. Und selbst wenn eine solche – wie bei den allermeisten Bestimmungen in Richtlinien – vorliegt, überspielt im Zweifelsfalle die konkrete vertragliche Konstellation inter partes den historischen Willen des Gesetzgebers bereits allein aufgrund der Dispositivität der Norm. Das kann bei Fehleinschätzungen des Gesetzgebers bezüglich des typischen Parteiwillens zur praktischen Derogation der Norm führen.78 30 Auch der Wortlaut einer Norm erscheint vor diesem Hintergrund nicht als unüberwindbar: Die Sprache und – vor allem – die damit verbundenen Grenzziehungen durch den Gesetzgeber entsprechen vielfach nicht denjenigen der Parteien. Das gilt um so mehr für das Unionsprivatrecht mit seiner Vielsprachigkeit, wo die Termini regelmäßig überdies nicht denjenigen der Rechtssprache des eigenen Umfelds entsprechen.79 Wichtiger noch ist, dass auch wesentliche Funktionen der Wortlautgrenze nicht zum Tragen kommen. Das gilt zum einen für die Funktion des Schutzes der Gewaltenteilung: Da die Kompetenz zur Feststellung des individuellen Vertragsinhalts bei den (nationalen) Gerichten liegt80 und sich der Gesetzgeber mit der Setzung dispositiven Rechts in seinem Regelungsanspruch selbst zurücknimmt,81 besteht bei dessen Auslegung ohnehin nur eine eingeschränkte Konfliktlage zwischen Legislative und Judikative. Der Wortlautgrenze kommt aber auch nicht die gewohnte Funktion einer vertikalen Kompetenzabgrenzung zu: Auch dies hat seinen Grund in der Selbstbeschränkung des Unionsgesetzgebers, welcher zwar den nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzungsverpflichtung bindet, nicht jedoch die Parteien, und damit den nationalen Gerichten die typischen Spielräume dispositiven Rechts belässt: Insbesondere ist der von den nationalen Gerichten festgestellte typische Parteiwille – etwa über die Begründung tatsächlicher Vermutungen – auch dazu geeignet, dispositive Normen des Unionsrechts zu überspielen und damit – inter partes – zu derogieren. Die Kompetenzausübung des Unionsgesetzgebers ist bei der Setzung dispositiven Rechts also weit weniger einschneidend und verringert damit auch in diesem Punkt das Gewicht der Wortlautgrenze und damit des Wortlauts.

b) Telos der Norm 31 Auch ein besonderes Telos, welches der Unionsgesetzgeber mit einer Norm verbindet und wel-

chem im Blick auf die Pflichten des nationalen Gesetzgebers zur Umsetzung, zur effektiven Durchsetzung oder zur Nichtdiskriminierung besondere Bedeutung zukommt, hat bei dispositivem Recht bei weitem nicht das gewohnte Gewicht: Geht es über die Abbildung eines feststellba-

_____ 77 Etwa BGH, NJW 1975, 1116, 1117. 78 Siehe etwa BGH, NJW 1979, 1705 zu §§ 161 Abs. 2, 131 Nr. 4 HGB a.F. 79 Dazu nunmehr Schmidt-Kessel, FS Blaurock (2013), S. 401 ff. 80 Vgl. EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 21 ff. 81 Das gilt unabhängig davon, ob er dazu vielleicht gezwungen ist, weil er nach den Maßgaben des vorrangigen Rechts – etwa der Grundfreiheiten – an der Setzung zwingenden Rechts gehindert ist.

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ren typischen Parteiwillens hinaus, wird die betreffende Norm schnell leerlaufen,82 ohne dass die nationalen Rechtsanwender insoweit pflichtwidrig handeln. Dieses Schicksal könnte etwa dem gesetzlichen Zinssatz für den Zahlungsverzug nach Art. 2 Nr. 6 ZVerzRL für bestimmte Branchen drohen, soweit die dort festgelegten Zinssätze über den für diese Branchen üblichen und allseitig akzeptierten liegen. Ein solches Vorgehen entspricht der Binnenmarktfinalität (nunmehr auch) des Unionsrechts, weil es der damit verbundenen Vorstellung von der Selbstorganisation der Parteien am Markt in den Grenzen des wettbewerbsrechtlichen und des ordnungsrechtlichen Rahmens Vorschub leistet.

c) Systemgestützte Erwägungen Gravierend sind schließlich die Auswirkungen der Dispositivität auf das System und systemati- 32 sche Argumente83 bei der Auslegung der betreffenden Normen: Auch soweit die gesetzliche – äußere – oder die dogmatische – innere – Ordnung des Normgefüges den Anforderungen entspricht, die herkömmlich an ein System gestellt werden, tritt dieses bei der Anwendung des Gesetzes hinter den individuellen Vertrag und dessen Regelungen zurück. Das Phänomen lässt sich als das systematische Paradoxon des dispositiven Rechts84 bezeichnen: Der individuelle Vertrag, d.h. der Anwendungsfall für das gesetzliche System, bewirkt eine Systemstörung85 und beschränkt daher die Bedeutung des gesetzlichen Systems. Die Störung ist jedem individuellen Vertrag inhärent, sie wirkt sich um so stärker aus, je atypischer der Vertrag ist. Sie ist – ökonomisch gesprochen – Konsequenz des vollständigen Vertrags als Leitbild dispositiven Rechts.86 Es handelt sich um eine „direkte Konsequenz der sich nur als subsidiär verstehenden Dispositivnormen“.87 Die probate gesetzgeberische Reaktion heißt Generalklausel; durch sie erst öffnet der Ge- 33 setzgeber seine Regelung dem individuellen Vertrag und muss damit richtigerweise den Primat seines Systems verloren geben. Die vielfach kritisierte Zunahme von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen durch die deutsche Schuldrechtsmodernisierung ist daher nicht mehr als den Realitäten der Privatautonomie geschuldet. Dasselbe gilt im Unionsrecht etwa für den auf die „Verantwortlichkeit“ des Schuldners für die Verzögerung abstellenden Haftungsstandard nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) und Art. 4 Abs. 1 lit. b) ZVerzRL sowie für die Generalklauseln zur Inhaltsbestimmung des Handelsvertretervertrags in Art. 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 Handelsvertreterrichtlinie (HVertrRL).88 Mit der Bedeutung des Systems fallen auch wesentliche systemgestützte Argumente: Das 34 gilt vor allem für das argumentum e contrario, weil dieses auf der Überlegung beruht, ein System erhebe den Anspruch der Vollständigkeit, wie er von einigen Kodifikationen ausdrücklich infra-

_____ 82 Wie hier jetzt Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 130. 83 Zu einer denkbaren systematischen Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Blick auf den (D)CFR siehe Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 202 ff. 84 Diesen Begriff aufnehmend Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 131. 85 Wie hier Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 168, der zutreffend auf das dadurch veranlasste „hermeneutische Wechselspiel zwischen Vertragsauslegung und Dispositivnorminterpretation“ hinweist. Dagegen Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 15 Fn. 42: Das abdingbare Gesetz könne durch Abbedingung nicht gestört werden. 86 Zu diesem Leitbild eingehend zuletzt Unberath/Cziupka, AcP 209 (2009), 37, 44 ff., wo freilich keine methodischen Konsequenzen für die Behandlung dispositiven Rechts gezogen werden. 87 Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 171. 88 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17.

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3. Teil: Besonderer Teil

gegestellt wird.89 Ohne diesen Vollständigkeitsanspruch fehlt es nämlich am tertium non datur, was den Umkehrschluss zu einem unvollständigen und damit nicht tragfähigen werden lässt. Soweit nun Normen des gesetzlichen Systems unter dem individuellen Vertrag Anwendung finden, fehlt es notwendig an der Vollständigkeit dieser in den Vertrag integrierten Systemteile. Die Dispositivität der Normen nimmt dem gesetzlichen System somit – für den Fall der Anwendung – den Vollständigkeitsanspruch; das argumentum e contrario trägt folglich nicht.90 35 Umgekehrt scheitert mit der Analogie eine zentrale systemgestützte Argumentationsform in ihrer klassischen Ausprägung an der Vollständigkeit des Systems des individuellen Vertrags. Insoweit fehlt es schlicht an der nach in Deutschland vorherrschender Auffassung erforderlichen planwidrigen Regelungslücke.91 Dem Vertrag liegt nämlich unter der Herrschaft der Privatautonomie die Regel zugrunde, dass eine inter partes geltend gemachte Rechtsposition einer Basis im Vertrag bedarf. Fehlt diese, kommt es nicht etwa zur Rechtsverweigerung, sondern zur Klageabweisung, respektive zur Zurückweisung des entsprechenden Verteidigungsvorbringens. Mit dieser ex lege jedem Vertrag zugrundeliegenden Regel aber ist kein Vertrag unvollständig oder lückenhaft. Das Festhalten am Lückenerfordernis ließe die Analogie im dispositiven Vertragsrecht leer laufen.92

3. Auswirkungen auf die Rechtsquellenlehre 36 Die vorstehenden Ausführungen lassen in der Konsequenz auch die Rechtsquellenlehre nicht

unberührt: Zu erwägen sind einerseits Zweifel an der Qualität dispositiver Gesetzesregeln als Rechtsquelle und andererseits die Frage nach den Wirkungen von Präjudizien im Vertragsrecht. Zweifel an der Einordnung dispositiver gesetzlicher Regeln als Rechtquelle nährt deren Bezogenheit auf den individuellen Vertrag. Insbesondere kommen sie nur im Einklang mit dem Parteiwillen zur Anwendung und sind damit – soweit es um ihre Anwendung geht – Teil der „lex contractus“.93 Norm und Rechtquelle ist die dispositive Regel insoweit nicht mehr als der Vertrag selbst.94 Umgekehrt kommt der Rechtsprechung bei der Suche nach dem typischen Parteiwillen in 37 aller Regel eine zentrale Bedeutung zu, verfügt sie doch über weit größere praktische Erfahrung im Umgang mit den entsprechenden Verträgen als der Gesetzgeber. Eine ständige Rechtsprechung im Bereich dispositiven Rechts lässt sich daher als Verkörperung eines typisierten Parteiwillens und damit zugleich als Aussage über den typischen Parteiwillen begreifen. Damit aber kommt ihr für die Bestimmung des Vertragsinhalts keine geringere Dignität zu als dem disposi-

_____ 89 S. Art. 10 Abs. 3 port. CC. Vgl. auch die Hinweise zur Schwäche des argumentum e contrario im französischen Recht bei Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 132. 90 Dazu die Zweifel bei Schmidt-Kessel, in: Wagner (Hrsg.), The Common Frame of Reference: A View from Law & Economics (2009), S. 69, 77, sowie Schmidt-Kessel, in: Jud/Wendehorst (Hrsg.), Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? (2009), S. 21, 24 f. sowie 30 f. Vgl. auch den Gebrauch des Arguments durch Faust und Ackermann in ihren Beiträgen in dem von Wagner herausgegebenen Band, S. 24 und 43, 67, sowie durch Schauer in dem von Jud und Wendehorst herausgegebenen Band, S. 105. 91 Grundlegend für das von dieser Auffassung postulierte Erfordernis der Lücke bis heute Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz. 92 Wie hier jetzt auch Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 36 ff. 93 Vgl. Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 3 Rn. 5. Vorliegend geht es selbstverständlich um die rechtstheoretische und nicht um die kollisionsrechtliche Bedeutung dieses Terminus. 94 Kritisch demgegenüber Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 219 ff., Möslein, Dispositives Recht, S. 260 und Kähler, Begriff und Rechtfertigung abdingbaren Rechts, S. 28. Schmidt-Kessel

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tiven Gesetzesrecht.95 Ordnet man dieses noch als Rechtsquelle ein, könnte für jene nichts anderes gelten.

4. Parteidispositives, aber staatenzwingendes Vertragsrecht Ein Sonderproblem ergibt sich aus der Doppelung der Adressaten des Unionsrechts. Dieses rich- 38 tet sich ganz generell an die Mitgliedstaaten (Art. 4 Abs. 1 UAbs. 2 EUV) und gibt der Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht bei der Richtlinienumsetzung in Art. 288 Abs. 3 AEUV eine besondere Gestalt. Alle davon erfassten Regeln sind für die Mitgliedstaaten nicht dispositiv und zwar auch dann nicht, wenn parteidispositive privatrechtliche Normen gesetzt werden. Vor allem dispositives Vertragsrecht der Union ist daher staatenzwingend und zugleich parteidispositiv (zum bislang nur denkbaren Phänomen staatendispositiven Vertragsrechts der Union s. oben Rn. 25). Bei der Auslegung solch doppelt adressierter Regeln ist danach zu unterscheiden, welche 39 Durchsetzungs- und gegebenenfalls Umsetzungspflichten für die Mitgliedstaaten entstehen und welche Bedeutung der jeweiligen Norm – respektive ihrer Umsetzung – bei der Anwendung im Rahmen des einzelnen Vertrags zukommt. Legt man die hier entwickelten Sonderregeln für die Auslegung dispositiven Rechts zugrunde, können sich hier ganz erhebliche Unterschiede zwischen den Auslegungsergebnissen ergeben. So ist insbesondere der Umsetzungsgesetzgeber an das Binnenmarktziel und das konkrete Telos des Unionsgesetzgebers gebunden, welches gelegentlich auch auf die Setzung eines Symbols gerichtet sein kann. Die Parteien sind es hingegen nicht und für sie mag die betreffende Norm im Einzelfall eine gänzlich andere Bedeutung erlangen. So würde die Zahlungsverzugsrichtlinie eine Umsetzung der hohen – aber dispositiven – Verzugszinssätze auch dort verlangen, wo ihre Derogation eine völlige Selbstverständlichkeit wäre. Das Ziel des Unionsgesetzgebers, den typischen Parteiwillen auch durch das Umsetzungsgesetz selbst zu beeinflussen, gäbe dem auch einen Sinn.

VI. Anwendungsfragen bei zwingendem Vertragsrecht Die gesonderte Frage nach der Methode in der Anwendung des dispositiven Vertragsrechts er- 40 laubt nun den Blick auf das Komplement, das zwingende Vertragsrecht. Dabei wird zunächst und vorrangig zu erwägen sein, inwieweit dessen Methodik vom Grundsatz der Vertragsfreiheit gesteuert ist. Ferner stellt sich die Frage nach der Anwendung des etablierten Methodenkanons. Schließlich ist auf zwei Sonderfragen einzugehen, nämlich die Konkretisierung von unabdingbar wirkenden Generalklauseln anhand dispositiver Normen und die Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie im zwingenden Vertragsrecht.

1. Vertragsfreiheit als Auslegungsdirektive In einem von der Vertragsfreiheit beherrschten Vertragsrecht ist jene die beherrschende allge- 41 meine Auslegungsdirektive für freiheitsbeschränkende Vorschriften. Das ergibt sich national wie

_____ 95 Wie hier Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 415. Etatistischer Möslein, Dispositives Recht, S. 41 („materiale Steuerungswirkung“).

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3. Teil: Besonderer Teil

unionsrechtlich aus den betreffenden Freiheitsgrundrechten und Grundfreiheiten.96 Zwingende Vorschriften sind daher eng auszulegen, soweit dies den Umfang der Zwingendstellung reduziert. Unionsrechtlich entspricht eine derartige Restriktion zwingender Normen dem Binnenmarktziel, wie es vor allem in den Grundfreiheiten seinen Niederschlag gefunden hat. In der Konsequenz dieser Haltung hätte es – wie von der Kommission ursprünglich vorgeschlagen97 – gelegen, die kollisionsrechtliche Wählbarkeit anerkannter Grundsätze und Regeln des materiellen Vertragsrechts in der Rom I-VO festzuschreiben.

2. Anwendung des etablierten Kanons? 42 Anders als beim dispositiven Recht, ist der klassische deutsche Kanon der Auslegungsgesichts-

punkte auch für die Auslegung zwingenden Unionsrechts von Belang. Das gilt zunächst für den Wortlaut und die durch diesen gezogene Grenze richterlicher Gesetzesauslegung. Während diese bei dispositiven Normen im Blick auf deren Funktion respektive das Telos der Norm ohne weiteres überwindbar ist, kommt ihr bei zwingendem Privatrecht sowohl unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalts als auch unter demjenigen der Kompetenzabgrenzung zwischen den Staatsgewalten entscheidende Bedeutung zu: Überwindbar ist der Wortlaut daher nur zugunsten der eingeschränkten Freiheit. Ähnlich beschränkt ist letztlich die Funktion der historischen Auslegung (i.e.S.): Ein Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte der Norm erscheint bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts vor allem zugunsten der in ihrer Gestaltungsfreiheit eingeschränkten Partei möglich. Daraus ergibt sich letztlich auch die Lösung des Konflikts eines mit der Wortlautschranke oder der Entstehungsgeschichte in Widerspruch stehenden Telos der Norm: Es lässt sich in Anwendung der Norm insoweit nicht verwirklichen, als die Vertragsfreiheit dadurch beschnitten wird. Von besonderem Interesse ist schließlich die Frage nach dem Wert systematischer Argu43 mente bei der Auslegung zwingenden Vertragsrechts. Zunächst ist dazu festzuhalten, dass ein eigenständiges, von den dispositiven Normen gelöstes System zwingenden Vertragsrechts weder in den Mitgliedstaaten noch im Unionsrecht existiert. Mag es auch – in sich in bestimmter Hinsicht geschlossene – systematische Inseln zwingenden Rechts geben, so knüpfen Beschränkungen der Vertragsfreiheit durchweg tatsächlich an deren Ausübung und regelungstechnisch an das dispositive Recht an.98 Wegen der Ergänzungsfunktion des dispositiven Rechts hat sich dessen System jedoch als ein rein darstellendes ohne Regelungswirkungen entpuppt, welches genau ohne normativen Verlust auch erheblich andere Gestalt haben könnte.99 Damit ist der – durch die Regelungstechnik nahegelegte – Verweis auf das System des dispositiven Rechts für die Auslegung des ius strictum bestenfalls wertlos. Eine Auslegungsstütze kann sich allein aus Regelungszusammenhängen zwingenden Rechts ergeben. Denkbar erscheint etwa im Blick auf Art. 102 AEUV eine restriktive Auslegung der verschiedenen Diskriminierungsverbote des sekundären Unionsrechts dort, wo es überhaupt – also auch in der heterogenen Gruppe der poten-

_____ 96 Vgl. für das deutsche Recht Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, S. 130. 97 KOM(2005) 650 endg, S. 5 f. Zum Vorschlag der Kommission Schäfer, GPR 2006, 54 ff. Zur endgültigen Fassung etwa MünchKommBGB-Martiny, Art. 3 Rom I-VO Rn. 28. 98 Zustimmend Cziupka, Dispositives Vertragsrecht, S. 42 ff. 99 Darin liegt wohl auch der tiefere Grund für die – jedenfalls insoweit zutreffende – These der am Vertragsrecht geschulten Rechtsvergleichung, nationale Rechtsordnungen kämen jeweils zu grundsätzlich identischen Ergebnissen und seien daher funktional äquivalent: siehe Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 33 ff. Schmidt-Kessel

§ 17 Europäisches Vertragsrecht

391

tiellen Diskriminierenden – an jeder Spur einer marktbeherrschenden Stellung respektive an entsprechenden Wirkungen als allgemeines Zugangshindernis fehlt.100

3. Zur Leitbildfunktion des dispositiven Rechts Besondere Fragen stellen sich dort, wo das Vertragsrecht dispositives Recht zum Maßstab der 44 Inhaltskontrolle, also zum Maßstab der Konkretisierung zwingender Normen erhebt; auf die entsprechende Ausnahmestellung des deutschen Rechts wurde oben (Rn. 17) schon hingewiesen. Hier scheint der Gesetzgeber dem zuvor nur darstellenden System dispositiven Rechts einen normativen Wert verliehen zu haben. Entscheidend ist insoweit wiederum § 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB: Indem der Gesetzgeber jenseits des dispositiven Gesetzesrechts Maßstäbe vorsieht, die gegebenenfalls auch in Widerspruch zu diesem stehen können, bleibt es beim Vorrang des typischen Parteiwillens.

4. Verbot der Analogie? Die besondere Bedeutung des Wortlauts und die weitgehende Relativierung systematischer Ar- 45 gumente für die Auslegung zwingenden Vertragsrechts lassen schließlich die Analogie auch im Bereich des zwingenden Vertragsrechts als ein fragwürdiges methodisches Instrument erscheinen. Hinzuweisen ist insoweit zunächst einmal auf den Gesetzesvorbehalt, welcher bei eingreifenden hoheitlichen Akten nicht nur eine Rechtfertigung fordert, sondern an diese auch formale Anforderungen stellt und damit zugleich die Zuständigkeiten klarstellt: Ohne gesetzlich geschriebene Rechtfertigung darf der Eingriff nicht stattfinden.101 Soll eine Analogie zu zwingenden Normen wiederum zu einem unabdingbaren Satz führen, gerät dieser Vorgang in Konflikt mit der staatlichen Zuständigkeitsverteilung. Dürfte dieses erste Bedenken angesichts der offenbaren Rechtsfortbildungszuständigkeiten 46 der Rechtsprechung noch überwindbar sein, scheitert die Analogie in ihrem strengen klassischen Sinne auch für das zwingende Vertragsrecht am Fehlen der Lücke: Ist nämlich die Vertragsfreiheit Grundnorm des Vertragsrechts, ist den Parteien jegliche Gestaltung gestattet, soweit nicht Regeln des ius strictum eingreifen. Damit bleibt auch im zwingenden Vertragsrecht der déni de justice immer aus; es fehlt immer an einer Lücke.

VII. Ausblick: Methodenfragen im Umgang mit dem Gemeinsamen Referenzrahmen und dem Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht Besondere methodische Fragen stellen sich beim Umgang mit dem künftigen Gemeinsamen Re- 47 ferenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht. Entscheidend für das methodische Instrumentarium sind dabei die Funktionen, welche dieses neuartige Gebilde erfüllen soll. Von Interesse ist außerdem die mit dem ersten Punkt eng verknüpfte Frage, ob und inwieweit durch den Gemeinsamen Referenzrahmen Systembildung betrieben wird. Schließlich ist ein Blick auf die Re-

_____ 100 Zu Parallelen zwischen wettbewerbsrechtlichen Diskriminierungsverboten und denjenigen des Antidiskriminierungsrechts siehe die Andeutung bei Schmidt-Kessel, in: Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz im Privatrecht (2006), S. 53, 54. 101 Siehe den allgemeinen Gesetzesvorbehalt in Art. 52 GRCh. Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

levanz des klassischen Kanons der Auslegungsgesichtspunkte für das Verständnis des neuen Instruments zu richten.102 Methodenfragen zum künftigen Gemeinsamen Europäischen Kaufrecht (GEK) werden bislang nur ansatzweise diskutiert;103 hier lassen sich dementsprechend nur wenige erste Hinweise geben.

1. Funktionen des Gemeinsamen Referenzrahmens 48 Der Entwurf zum Gemeinsamen Referenzrahmen ist zunächst einmal nicht mehr als eine rechts-

vergleichende Großstudie von kaum vorstellbarem Ausmaß. Das zeigt bereits die Zahl von 25 Staaten, deren teilweise regional sehr unterschiedlichen Vertragsrechtsordnungen neben dem acquis communautaire Eingang in das Projekt finden sollen. Die Verlautbarungen der Europäischen Kommission zum Zweck des Referenzrahmens gehen freilich deutlich darüber hinaus:104 Die Kommission möchte zunächst eine „Toolbox“, welcher sie bei Gelegenheit rechtsvergleichend abgesicherte Versatzstücke entnehmen kann, um diese in neue oder zu überarbeitende Rechtsakte einzufügen. Insoweit steht die Verbesserung der Qualität vorhandener wie zukünftiger Rechtssetzung im Mittelpunkt. Tatsächlich reicht die Funktion des künftigen Gemeinsamen Referenzrahmens damit viel tiefer: Er soll die Lücke schließen, welche sich aus dem Fehlen einer – bislang nur in Ansätzen erkennbaren – europäischen Vertragsrechtsdogmatik ergibt. Es geht mithin um Ordnung, zunächst um eine Ordnung der Diskussion, in welcher viele Akteure an einander vorbei argumentieren, sodann um eine Ordnung der Begriffe und schließlich – aber erst auf dem Vorangehenden aufbauend – um eine Ordnung des Unionsprivatrechts selbst. Nicht ausgeschlossen ist freilich, dass ein von den Organen der Union sehr eng gefasster Gemeinsamer Referenzrahmen in dieser Funktion durch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten und insbesondere durch den DCFR ganz oder teilweise überlagert wird. Erst recht dürfte die Richtlinienumsetzung in das Gemeinsame Europäische Kaufrecht künftig die Ausbildung einer Europäischen Vertragsrechtsdogmatik und -methodik befördern.

2. Systembildung durch den Gemeinsamen Referenzrahmen und das Gemeinsame Kaufrecht 49 Bereits aus dem DCFR wird deutlich, dass der Gemeinsame Referenzrahmen systematisch ge-

fasst sein wird. Dasselbe gilt für das GEK. Geht es also bei beiden Projekten (auch) um die Schaffung eines Systems des Europäischen Vertragsrechts?105 Dafür spricht vor allem die beschriebene Funktion des DCFR als Ersatz für die fehlende gemeinsame Vertragsrechtsdogmatik, während die „Toolbox“-Funktion einer solchen Systembildung jedenfalls tendenziell zuwiderläuft. Jenseits aller möglichen Herauslösungen einzelner Teile des Referenzrahmens im Zuge verschiedener denkbarer Gesetzgebungsvorhaben, einschließlich der von der Kommission erwogenen optionalen Instrumente,106 insbesondere des GEK, kann die Bedeutung des Systems im Unionsvertragsrecht nicht höher sein als in einer auf der zweigliedrigen Vertragsfreiheit beruhenden

_____ 102 Nicht näher eingegangen werden kann hingegen auf die besonderen Fragen einer Wählbarkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens durch kollisionsrechtliche Rechtswahl. Dazu bereits oben Fn. 80. 103 Siehe immerhin zu systematischen Argumenten Schmidt-Kessel, in: ders. (Hrsg.), Der Entwurf für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht – Kommentar (2014), Einl. Rn. 37–51. 104 Siehe Schmidt-Kessel, GPR 2005, 2 ff. mwN sowie ders., GPR 2005, 204 f. und GPR 2006, 102. 105 Skeptisch insoweit wiederum Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 204 ff. 106 Vgl. Schmidt-Kessel, GPR 2005, 204 f. Schmidt-Kessel

§ 17 Europäisches Vertragsrecht

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Rechtsordnung generell. Das zu erwartende System ist also Lehr- und Darstellungssystem, dem ganz überwiegend keine normativen Folgen eignen.107 Damit ist es weitgehend auch systematischen Argumenten und vor allem dem argumentum e contrario abhold. Für das GEK wird sich hingegen voraussichtlich eine systemfreundlichere Auffassung durchsetzen; mit der Grundausrichtung an dispositivem Vertragsrecht ist dies freilich nicht vereinbar.

3. Zur künftigen Auslegung beider Instrumente Für die Auslegung eines künftigen Gemeinsamen Referenzrahmes oder des künftigen Gemein- 50 samen Kaufrechts wird es zunächst darauf ankommen, ob diese selbst Festlegungen zur Methodik seiner Auslegung und Fortentwicklung treffen. I.–1:102 DCFR und Art. 4 V-GEK sehen – in teilweiser Anlehnung an Art. 7 CISG und Art. 1:106 PECL – entsprechende Bestimmungen vor, welche einerseits die Autonomie des Instruments als Leitlinie vorgeben, jeweils Abs. 1, andererseits die Auslegung an die anwendbaren Grundrechte und -freiheiten sowie an anwendbares Verfassungsrecht bindet, I.–1:102 DCFR Abs. 2. Hinzu kommen Leitlinien der Auslegung, nämlich die Einheitlichkeit der Auslegung, good faith and fair dealing sowie Rechtssicherheit, I.–1:102 DCFR Abs. 3. Hinweise auf die kanonischen Argumente finden sich hingegen nicht; allenfalls der in I.–1:102 DCFR Abs. 5 und Art. 4 Abs. 3 V-GEK angeordnete Vorrang der lex specialis lässt sich als Beleg für eine systematische Auslegung des Textes begreifen. Dafür sprechen auch die Art. 7 Abs. 2 CISG fortentwickelnden Regelungen der Lückenfüllung in I.–1:102 DCFR Abs. 4 und Art. 4 Abs. 2 V-GEK, die sich jedoch von der einheitskaufrechtlichen Fassung ganz erheblich dadurch unterscheiden, dass dem DCFR vier Grundprinzipien – freedom, security, justice, efficiency – ausdrücklich vorangestellt und ausführlich erläutert sind.108 Gemünzt auf das Vertragsrecht im Besonderen stellt sich auch für den DCFR und das GEK 51 die Frage nach der Anwendbarkeit des klassischen deutschen Kanons der Auslegungsgesichtspunkte und dessen mögliche Bedeutung unter dem neuen Instrument. Entsprechend den vorstehenden allgemeinen Überlegungen zur Methodik des Vertragsrechts im Allgemeinen, ist auch insoweit Zurückhaltung angezeigt. Kern dieser Methodik bleiben auch unter einem Gemeinsamen Referenzrahmen oder einem Gemeinsamen Kaufrecht die Regeln über die Vertragsinhaltsbestimmung, II–8:101 ff. DCFR und Art. 58 ff. V-GEK (dazu bereits oben Rn. 18–23). Zusätzlich geschwächt werden demgegenüber für den Gemeinsamen Referenzrahmen zu- 52 nächst historische Argumente betreffend den Normtext. Eine Rückbindung an den Inhaber der Kompetenz zur Rechtssetzung ist nämlich mangels Verbindlichkeit des Gemeinsamen Referenzrahmens nicht geboten. Zwar dürfte das politische Gewicht des Instruments beträchtlich sein, jedoch resultiert dieses Gewicht mehr aus der Sachkompetenz der mit dem Entwurf betrauten Wissenschaftler denn auf einer besonderen politischen Legitimation. Der primäre Charakter des Referenzrahmens als rechtsvergleichende Großstudie wirkt damit zurück auf die Auslegung des künftigen Instruments; verschiedene Schichten des Entstehungsprozesses werden vor allem Widersprüchlichkeiten erklären helfen. Die klassische Funktion als Verwerfungsargument109 kann dem Referenzrahmen selbst damit nicht zukommen; die Entwicklung von Normen aus ihm

_____ 107 Wie hier nun auch Riesenhuber, in: Schmidt-Kessel (Hrsg.), Der Gemeinsame Referenzrahmen, S. 205 f. 108 Siehe v. Bar/Clive/Schulte-Nölke (Hrsg.), Principles, Definition and Model Rules of European Private Law – Full Edition, S. 57–99. 109 Baldus, in: ders./Müller-Graff (Hrsg.), Die Generalklausel im Europäischen Privatrecht, S. 1, 4 f. Schmidt-Kessel

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3. Teil: Besonderer Teil

durch den Gesetzgeber mag aber besser ablesbar sein.110 Für das Gemeinsame Kaufrecht gelten – im Falle seiner Verabschiedung – diese zusätzlichen Bedenken selbstverständlich nicht. Beim Rückgriff auf Wortlautargumente gelten zusätzliche Besonderheiten. Diese beruhen 53 zunächst auf der hervorgehobenen Bedeutung des Englischen als der Arbeitssprache der wissenschaftlichen Vorarbeiten. Der englischen Fassung wird daher selbstverständlich eine gewisse Oberhof-Funktion zukommen und zwar auch für das GEK. Ein zweiter Punkt ergibt sich aus der ursprünglichen Idee der Principles of European Contract Law (PECL), lediglich Grundprinzipien zu formulieren: Zwar bieten die Principles damit eine gewisse Sicherheit bei der Bedeutung des jeweiligen Begriffskerns (beispielsweise kann ein Vertrag danach auch nur eine Seite zu Leistungen verpflichten), jedoch erlaubt die ursprüngliche Formulierung als „Prinzipien“ bisweilen keinen sicheren Schluss auf die Bedeutung an den Begriffsrändern. Während die teleologische Auslegung des Referenzrahmens und des Gemeinsamen Kauf54 rechts vor allem die generellen Schwächen einer auf das Telos bezogenen Argumentation im Vertragsrecht teilen würde, ergibt sich eine zusätzliche Besonderheit schließlich im Blick auf systemgestützte Argumente: Der Gemeinsame Referenzrahmen wie auch das Gemeinsame Kaufrecht sind von vornherein nicht auf eine vollständige Abbildung des Vertragsrechts gerichtet. Jenseits aller generellen Bedenken gegen eine systemgestützte Argumentation im Bereich des Vertragsrechts wird hierdurch vor allem das argumentum e contrario entscheidend geschwächt.111

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_____ 110 Im Blick auf die technischen Mängel des Vorschlags der Kommission für eine Horizontalrichtlinie Verbraucherschutz, KOM(2008) 614 endg, mag man dies freilich bezweifeln, vgl. Schmidt-Kessel, in: Jud/Wendehorst (Hrsg.), Neuordnung des Verbraucherprivatrechts in Europa? (2009), S. 21 ff., sowie dort die weiteren Beiträge. 111 S. oben Rn. 34, 43. Schmidt-Kessel

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§ 18 Europäisches Arbeitsrecht

§ 18 Europäisches Arbeitsrecht 3. Teil: Besonderer Teil

Robert Rebhahn § 18 Europäisches Arbeitsrecht Rebhahn Literatur Anthony Arnull, The European Union and its Court of Justice (2. Aufl. 2006); Catherine Barnard, EC Employment law (3. Aufl. 2012); Gunnar Beck, The Legal Reasoning of the Court of Justice of the EU (2012); Brian Bercusson, European Labour Law (2. Aufl. 2009); Günter Hager, Rechtsmethoden in Europa (2008); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009); Clemens Höpfner, Die systemkonforme Auslegung (2008); Jacob Joussen, Die Auslegung europäischen (Arbeits-)Rechts aus deutsch-italienischer Perspektive (2000); Koen Lenaerts/José A. Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is: Methods of Interpretation and the European Court of Justice, EUI Working Papers AEL 2013/9; Neil MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law (2005); Franz Marhold/Maximilian Fuchs, Europäisches Arbeitsrecht (3. Aufl. 2010); Sebastian A.E. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts (2013); Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. II, Europarecht (3. Aufl. 2012); Siofra O’Leary, Employment Law at the European Court of Justice (2002); Jasmin Pacic, Methoden der Rechtsfindung im Arbeitsrecht (2012); Michael Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht (1994); ders., Effet utile als Auslegungsgrundsatz, EuR 2009, 465– 487; Robert Rebhahn, Zu den Rahmenbedingungen von Rechtsdogmatik, in: Peter Apathy (Hrsg.), Festschrift für Helmut Koziol zum 70. Geburtstag (2010), S. 1461–1480; ders., § 16 Grundrechte des Arbeitslebens, in: Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, Bd. 2, Enzyklopädie Europarecht (2014); ders., Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, in: Attila Fenyves/Ferdinand Kerschner/Andreas Vonkilch (Hrsg.), Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Bd. 1, Nach §§ 6 und 7 ABGB; Karl Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009); Florian Rödl, Arbeitsverfassung, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2. Aufl. 2009), S. 855–904; Günter H. Roth/Peter Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten (2008); Bernd Rüthers/Christian Fischer/Axel Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre (7. Aufl. 2013); Sibylle Seyr, Der Effet utile in der Rechtsprechung des EuGH (2008); Phil Syrpis, EU Intervention in domestic Labour Law (2007); Lubos Tichy/Michael Potacs/Tomás Dombrovsky (Hrsg.), Effet utile (2014).

I. II.

III.

Übersicht Grundlagen | 1–10 Übergreifende systematische Erwägungen | 11–22 1. Mindestvorschriften und Grad der Harmonisierung | 12–17 2. Inneres System und favor laboris als Argumente? | 18–21 3. Tarifautonomie und Unionsrecht | 22 Auslegung des Sekundärrechts | 23–49 1. Wortlaut | 24–27 2. Systematik | 28–33 3. Entstehungsgeschichte | 34–35 4. Regelungszweck | 36–42 5. Pragmatische Schlüsse | 43

IV.

V.

6. Praktische Wirksamkeit | 44–46 7. Rechtsvergleichung | 47–48 8. Rechtsfortbildung | 49 Auslegung des Primärrechts | 50–70 1. Allgemeines | 50–52 2. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht | 53–56 3. Grundrechte | 57–62 4. Diskriminierungsverbote | 63–67 5. Primärrechtskonforme Interpretation | 68 6. Allgemeine Rechtsgrundsätze | 69–70 Schlussbemerkung | 71–72

Rebhahn

396

3. Teil: Besonderer Teil

I. Grundlagen1 1 Die Frage, wie Gerichte Recht erkennen (sollen), betrifft Willensbildung und Verfassung des

Staates/Herrschaftsverbandes, insbesondere das Verhältnis der Gerichte zum geschriebenen Recht.2 Die Antwort ist auch von Tradition und Rechtskultur beeinflusst. Auch wenn in den Mitgliedstaaten dieselben Auslegungsargumente verwendet werden, unterscheiden sich die Methodenlehren darin, wie sie die verschiedenen Argumente verwenden und gewichten. Man kann daher nicht erwarten, dass die Gerichte der EU sich an der Methodenlehre nur einiger Mitgliedstaaten orientieren. Es ist wenig sinnvoll, ihre Urteile streng an diesen Vorstellungen zu messen. Für die Methodenlehre des Unionsrechts ist als Ausgangspunkt die Praxis des EuGH rele2 vant. Dazu sind folgende Punkte bedeutsam. Der EuGH unterscheidet, der Tradition vieler Mitgliedstaaten folgend,3 verbal nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung. Daher ist häufig nicht erkennbar, ob er das geschriebene Recht nur auslegen oder fortentwickeln will. Faktisch entfernt er sich zuweilen, v.a. zum Primärrecht, deutlich davon. Der Primat des geschriebenen Rechts gilt daher im Unionsrecht jedenfalls faktisch nur eingeschränkt. Zweitens sind Urteile des EuGH, insbesondere im Vorabentscheidungsverfahren, für Organe der Mitgliedstaaten verbindlich. Ein Abweichen vom verbindlichen Inhalt ist diesen ohne neuerliche Vorlage nicht erlaubt. In Verbindung mit dem eingeschränkten Primat des geschriebenen Rechts bedeutet dies, dass das Unionsrecht wesentlich auch Fallrechtsordnung ist. Urteile des EuGH bemühen sich weniger um eine systematische Sicht, sondern sind häufig sehr fallbezogen. Ausführungen zur Methodenlehre berücksichtigen dies nicht immer ausreichend. Drittens sind frühere Urteile häufig das wichtigste Mittel der Argumentation des EuGH, auch zum Arbeitsrecht. Am wichtigsten ist daher häufig die zeitlich erste Entscheidung. Arbeit am Unionsrecht ist zunehmend eher Arbeit mit früheren Urteilen als Arbeit am Normtext. Viertens geht der EuGH vom Dogma aus, er erkenne stets nur das Recht, wie es bereits ohne sein Zutun war.4 3 Aufgrund der Lage bei den Rechtsquellen hat die Methodenlehre drei Themen und Aufgaben: Regeln zur Auslegung/Anwendung geschriebenen Unionsrechts; Regeln zur Ableitung der verbindlichen Aussagen eines Urteils; Regeln, wann vom geschriebenen Recht abgewichen werden darf bzw. soll. Das Unionsrecht enthält dazu keine geschriebenen Bestimmungen. Das in Rn. 2 Gesagte gibt nur die Praxis wieder, nicht – aus wissenschaftlicher Sicht – auch den Maßstab. Die Konfrontation der Urteile des EuGH mit einem Maßstab setzt bei der Lehre – über die Wiedergabe der Urteile (Rechtskunde) hinaus – allerdings die Bereitschaft voraus, Urteile gegebenfalls als methodisch „unrichtig“ anzusehen. Diese Bereitschaft war bei nicht wenigen Rechtswissenschaftlern lange Zeit weit geringer als im Verhältnis zu Gerichten des eigenen Landes (etwa nach dem Motto: The ECJ can do no wrong). Die Judikatur wurde oft ohne methodische und damit rechtliche Kritik rezipiert. Seit einiger Zeit mehren sich aber Beiträge, welche diese Kritik üben.5

_____ 1 Der Beitrag befasst sich nicht mit dem Umgang der nationalen Gerichte mit dem Arbeitsrecht der EU. Vgl. dazu Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts (2001); Schlachter, Der Europäische Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1995). 2 Vgl. zum Folgenden Rebhahn, Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, Rn. 1 ff. 3 Vgl. dazu MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes (1991), S. 461 f. 4 Z.B. EuGH v. 12.2.2008 – Rs. C-2/06 Kempter, Slg. 2008, I-411 Rn. 35: „Eine Vorabentscheidung ist nicht konstitutiver, sondern rein deklaratorischer Natur und wirkt daher grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten Vorschrift zurück.“ 5 Zur Kritik an der Auslegungspraxis des EuGH aus Sicht verschiedener Rechtsgebiete vgl. z.B. die Beiträge in: Roth/Hilpold (Hrsg.), Der EuGH und die Souveränität der Mitgliedstaaten. Es wäre ein lohnendes Projekt, für etwa 25 wichtige Urteile des EuGH, deren Begründung methodisch zweifelhaft erscheint, in Zusammenarbeit aus ver-

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Aus der „Verfassung“ der Union lassen sich Anforderungen an die treffende Rechtserkenntnis ableiten. Die Funktion der Gesetzgebung wird von Rat und Parlament ausgeübt (Art. 14 und 16 EUV; Art. 288 ff. AEUV), nicht vom EuGH. Auch weil Urteile des EuGH über den Anlassfall hinaus Verbindlichkeit beanspruchen, müssen sie die Befugnis der zur Rechtssetzung primär berufenen Organe achten und nicht beeinträchtigen. Die Achtung für das geschriebene Recht durch Gerichte ist ein integraler Bestandteil dessen, was als „Rule of Law“6 und als „Rechtstaat“ bezeichnet wird und nach Art. 2 EUV für die EU maßgebend ist. Jede andere Auffassung würde die Setzung geschriebenen Rechts ihrer „praktischen Wirksamkeit“ berauben.7 Aus der Verpflichtung auch der Gerichte der EU auf Rechtsstaat und rule of law lassen sich weitere Anforderungen an Rechtserkenntnis ableiten. Dazu zählen m.E. (auch) im Unionsrecht insbesondere: Transparenz der Entscheidungsfindung durch ausreichende Begründung; Gleichbehandlung; Rechtsfragen sollen idR durch Anwendung des Rechts und nicht durch „discretion“ entschieden werden; sowie Vorhersehbarkeit und Klarheit des Rechts (Rechtssicherheit) und damit auch der Urteile. Vor diesem Hintergrund hat/hätte eine Methodenlehre des Unionsrechts primär Regeln anzugeben, welche Aussagen zur Norm leiten und legitimieren können. Sie soll jene Bedingungen nennen, bei deren Einhaltung auch Personen, die vom Gehalt des Urteils rechtspolitisch nicht überzeugt waren, dieses Ergebnis als legitime Aussage zum geltenden Recht ansehen können. Dafür ist entscheidend, ob das Gericht – der EuGH – seine Auffassung nachvollziehbar herleitet und begründet, mit dem erforderlichen Aufwand an Argumenten. Insbesondere fordert die „Wahrung des Rechts“ (Art. 19 AEUV), dass alle relevanten rechtlichen Aspekte und damit alle zur Verfügung stehenden Auslegungsargumente herangezogen werden – und nicht nur jene, welche das erwünschte Ergebnis stützen.8 Bleibt der Begründungsaufwand hinter den Anforderungen zurück, dann erscheint die Entscheidung als Dezision, die man hinnehmen, oder als Offenbarung, die man glauben kann – oder auch nicht. Die Anforderungen an die Begründung steigen m.E. – jedenfalls bei Bestimmungen, die wie das Arbeitsrecht „nur“ das Zusammenleben regeln und nicht Grundfragen betreffen oder Minderheiten schützen – mit der Schwierigkeit des Gesetzgebers, korrigierend einzugreifen. Normen des Sekundärrechts sind meist schwieriger zu ändern als nationales Verfassungsrecht. Die – auch in diesem Werk aufgegriffene – Unterscheidung zur Methodenlehre zwischen Primär- und Sekundärrecht spiegelt die Praxis des EuGH wieder, der sich de facto zum Sekundärrecht, auch zum Arbeitsrecht, weit mehr an Wortlaut und aus dem Rechtsakt ableitbaren Normzweck orientiert als beim Primärrecht. Nach den aus dem Primärrecht ableitbaren Vorgaben zur Rechtserkenntnis sollten diese Unterschiede aber wohl geringer sein als sie sind. Frühere Entscheidungen sind ein sehr wichtiges Begründungselement des EuGH. Auch wenn man dessen Urteile als Rechtsquelle sieht, ist der Verweis auf frühere Urteile kein den Auslegungsargumenten gleichwertiges Begründungselement. Vielmehr handelt es sich um eine Möglichkeit ökonomischer Fallbearbeitung, indem auf bereits geleistete Begründungsarbeit verwiesen wird. Der Verweis leistet nur dann einen überzeugenden Beitrag zur Begründung,

_____ schiedenen Mitgliedstaaten alternative Begründungen zu erarbeiten, und so die Möglichkeit einer „besseren“ Methode zu erproben. 6 Vgl. Lord Bingham, The Rule of Law (2011), S. 48 ff. 7 Der EuGH sagt jüngst wiederholt, dass die „praktische Wirksamkeit“ des Wortlauts der Normen gewahrt werden müsse; z.B. EuGH v. 6.9.2012 – Rs. C-147/11 Czop, Rn. 32. Dies muss erst recht für das geschriebene Recht insgesamt gelten. 8 Prima facie anders Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, S. 4: Da die Verträge keine Bestimmungen zu den Interpretationsmethoden enthalten, „the ECJ is, in principle, free to choose which of the methods of interpretation at its disposal best serves the EU legal order.“

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wenn das frühere Urteil tatsächlich jene Rechtsfrage „entschieden“ hat, die nun relevant ist, und nicht nur eine im Umfeld gelegene Frage. Der EuGH prüft dies aber nur selten (erkennbar). Insbesondere orientiert er sich nicht an einer ratio decidendi der Vorjudikatur, und belastet sich daher meist nicht mit deren genauer Analyse nach Art des distinguishing. Er verwendet frühere Aussagen häufig auch als Argument in Konstellationen, in denen zweifelhaft ist, ob das frühere Urteil die nun relevante Rechtsfrage bereits beurteilt hat, oder nur eine (entfernt) ähnliche. Es fehlt also eine verlässliche Lehre der Urteilsdeutung. Für eine und in einer Fallrechtsordnung ist aber eine theory of precedent9 erforderlich, die zu ermitteln erlaubt, was eine Entscheidung verbindlich entschieden hat. Das Fehlen einer solchen theory begünstigt die Bereitschaft von manchen Autoren, in die Urteile noch mehr hineinzulesen als der EuGH herauslesen würde. Aufgrund der Fallorientierung der Urteile des EuGH sollte man diese jedenfalls „anders lesen“ als Urteile eines deutschen Höchstgerichts.10 Das Dogma, dass der EuGH stets nur das Recht erkennt wie es ab Inkrafttreten der Norm 8 „schon immer war“ (Rn. 2), verschleiert die rechtsfortbildenden Elemente in der Judikatur. In Verbindung mit der Orientierung an früheren Entscheidungen führt es dazu, dass ein Abgehen von einer Vorentscheidung bislang kaum je offengelegt wird. Zur Betriebsübergangs-RL korrigiert etwa das Urteil Süzen das Urteil Schmidt im entscheidenden Punkt, nämlich dass allein der Übergang des Dienstleistungsauftrags zum Betriebsübergang führt, es legt aber weder die Änderung offen noch setzt es sich mit dem Urteil Schmidt auseinander.11 Das Urteil Kalanke zu Quotenregelungen hat die Politik sehr irritiert. Der EuGH ruderte bald zurück,12 allerdings ohne dies klar offenzulegen (vgl. auch Rn. 55). 9 Der Schlussantrag kann die im Urteil zu einer Frage fehlende Begründung m.E. nur ersetzen, wenn das Urteil diesem zu der Frage ausdrücklich zustimmt. Nur ein Teil der Urteile zum Arbeitsrecht ist in den letzten Jahren dem Schlussantrag ausdrücklich gefolgt, zum Teil aber nicht zur wesentlichen Frage, sondern zu einem Randproblem. Häufig folgt das Gericht dem Schlussantrag auch nicht, und zwar fast immer ohne dies offen zu legen oder sich mit dessen Argumenten auseinanderzusetzen. Ein Beispiel dafür ist das Urteil Hlozek aus 2004 zu Sozialplanzahlungen (vgl. Rn. 64). Der EuGH kennt keine feste Geschäftsverteilung.13 Von Interesse ist dann, ob der Präsident 10 arbeitsrechtliche Fälle überwiegend bestimmten Generalanwälten und Kammern zuweist. Eine Spezialisierung wäre zu Fragen des Sekundärrechts sinnvoll. In den Vorauflagen wurde dargelegt, dass es bei Vorabentscheidungsverfahren bis 2004 Hinweise auf eine Geschäftsverteilung in Arbeitsrechtssachen gab; danach ist das Bild weniger eindeutig. Auch bei den Berichterstattern kann man nur teilweise eine Tendenz zur „Spezialisierung“ erkennen. In der Erstauflage wurde die Frage gestellt, ob ein Einfluss des Berichterstatters auf den Begründungsstil erkennbar ist. Die Auswertung ergab erkennbare Unterschiede in Bezug auf „Verwertung“ von Vorjudikatur, Tiefe der Argumentation zu Wortlaut und Systematik, sowie Auseinandersetzung mit Stel-

_____ 9 Vgl. zur Bedeutung von precedents MacCormick, Rhetoric and the Rule of Law, S. 143 ff.; dort auch zur Unterscheidung zwischen doctrine und theory of precedent. 10 Besonders deutlich ist dies etwa beim Urteil Scattolon (vgl. Rn. 45). 11 EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Schmidt, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen, Slg. 1997, I-1259 Rn. 16 ff. Im Urteil Schmidt hat der neue Auftragnehmer der Arbeitnehmerin die Übernahme nur angeboten, diese hat sie abgelehnt, so dass die „Hauptbelegschaft“ nicht übernommen wurde. Hätte Frau Schmidt das Angebot mit schlechteren Arbeitsbedingungen akzeptiert, so hätte auch nach den Kriterien des Urteils Süzen ein Betriebsübergang vorgelegen. 12 EuGH v. 17.10. 1995 – Rs. C-450/93 Kalanke, Slg. 1995, I-3051; EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-409/95 Marschall, Slg. 1997, I-6363. 13 Man stelle sich den Aufschrei vor, wenn die feste Geschäftsverteilung in manchen Mitgliedstaaten abgeschafft würde.

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lungnahmen und Schlussanträgen. Dies kann hier nicht fortgeführt werden. Wer auf den/die Berichterstatter/in achtet, kann Korrelationen mit der Qualität der Begründung ausmachen.

II. Übergreifende systematische Erwägungen Das Arbeitsrecht ist wohl jener Teil des wirtschaftsrelevanten Privatrechts, in dem die Unter- 11 schiede am größten sind. Die Vorgaben der EU betreffen nur Teile. Im Individualarbeitsrecht sind v.a. Arbeitsschutz und Arbeitszeit, Mindesturlaub, Diskriminierungsverbote, Information über Arbeitsbedingungen, „atypische“ Arbeitsverhältnisse wie Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit, Verfahren bei Massenentlassung, Betriebsübergang sowie Mutterschutz und Elternteilzeit geregelt, im Kollektivarbeitsrecht nur Europäischer Betriebsrat, Information und Konsultation sowie Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen.14 Geht man von den in Mitgliedstaaten meist geregelten Themen aus, so spart das Unionsrecht wichtige Fragen aus, insbesondere Kündigungsschutz, Entgeltfortzahlung, Haftung, Risikoverteilung und Nebenpflichten, sowie das Koalitionsrecht, Tarifverträge und kollektive Konflikte.

1. Mindestvorschriften und Grad der Harmonisierung Nach Art. 153 AEUV hindern darauf gestützte Richtlinien die Mitgliedstaaten „nicht daran, 12 strengere Schutzvorschriften zu treffen, soweit diese mit den Verträgen vereinbar sind.“15 Die meisten Richtlinien zum Arbeitsrecht haben Art. 153 AEUV entweder als Grundlage oder wären heute auf dieser Grundlage zu erlassen. Dies gilt insbesondere für ältere Richtlinien, die noch auf die Binnenmarktkompetenz gestützt waren, aber ausdrücklich strengere Schutzmaßnahmen erlauben. Richtlinien nach Art. 153 AEUV sind daher Mindestvorschriften. Die Tatsache einer Teilharmonisierung war wiederholt als Argument relevant. In manchen Urteilen hat sie zur Entscheidung beigetragen, etwa wenn es um das Anknüpfen an die nationalen Begriffe des Arbeitnehmers16 oder um die Rechtsfolgen wiederholter Befristung17 geht. In anderen hat sie nicht zu einer Verringerung der Pflichten der Mitgliedstaaten geführt.18 Die Frage, ob ein Begriff des (sekundären) Unionsrechts autonom auszulegen ist, ist auch 13 zum Arbeitsrecht im Zweifel jedenfalls dann zu bejahen, wenn der Rechtsakt die mit diesem Begriff umschriebenen Sachverhalte gezielt regelt.19 Beispiele sind die Begriffe „Betrieb“ in der Betriebsübergangsrichtlinie oder „Entlassung“ in der Massenentlassungsrichtlinie.20 Gestützt werden kann die einheitliche Auslegung durch den Zweck der Regelung oder durch das Fehlen des Begriffes in einer Liste, welche die von der Regelung unberührt bleibenden Begriffe nennt. Beide Argumente wurden im Urteil Mau zum Begriff Arbeitsverhältnis in der Insolvenz-Richtlinie verwendet.21 Im Vordergrund stand dabei der „soziale Zweck“ der Richtlinie.

_____ 14 Vgl. z.B. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht (2009). 15 Die Einschränkung hat bisher keine Bedeutung erlangt (dazu Rn. 53): Die Entsende-RL (Rn. 55) wurde nicht auf die sozialpolitische Kompetenz gestützt. 16 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639 Rn. 26 ff. 17 EuGH v. 8.12.2012 – Rs. C-251/11 Martial Huet, Rn. 41. 18 Vgl. EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff.; EuGH v. 14.7.1998 – Rs. C-125/97 Regeling, Slg. 1998, I-4493 Rn. 19 zur Insolvenzrichtlinie. 19 Vgl. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4 f. 20 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 34. 21 EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Karen Mau, Slg. 2003, I-4791 Rn. 39–44. Rebhahn

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Nicht wenige arbeitsrechtlichen Richtlinien verweisen allerdings für den Begriff des Arbeitnehmers, der den Anwendungsbereich bestimmt, auf die nationale Begriffsbildung.22 Mit dieser Teilharmonisierung soll auf die Kohärenz der nationalen Rechtsordnungen Rücksicht genommen werden. Die Entscheidung, ob eine Richtlinie auf die nationalen Begriffe verweist, erfolgt primär anhand des Wortlauts und subsidiär nach dem Regelungszweck.23 Bei Verweis sind die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung an den üblichen nationalen Begriffsinhalt gebunden.24 Dies ergibt sich aus dem Zweck und dem Gebot praktischer Wirksamkeit. Das Arbeitsrecht der Union kann theoretisch drei Zwecke verfolgen: Verbesserung der Ar15 beitsbedingungen als sozialpolitisches Ziel; ökonomische Ziele wie Effizienz, Wettbewerb und hohe Beschäftigung; sowie das Ziel der Integration, insbesondere um Störungen des Wettbewerbes zu vermeiden.25 Auch bei Auslegung von arbeitsrechtlichen Mindestvorschriften stellt sich die Frage, inwieweit die EU aktiv beitragen soll, Unterschiede in den Arbeitsrechtsordnungen einzuebnen. Die einen meinen, geringere Arbeitsstandards seien ein Wettbewerbsfaktor, über den die Mitgliedstaaten selbst sollen entscheiden können. Andere meinen, dass staatliche Sozialstandards möglichst einheitlich sein sollen, um im Binnenmarkt einheitliche Rahmenbedingungen für Wettbewerb zu bieten und einen Wettbewerb mit Arbeitskosten insoweit zu verhindern, auch weil man befürchtet, dass es ein Wettbewerb nach unten wird.26 Die erste Überlegung führt auch bei Mindestvorschriften im Zweifel zu einer restriktiven Interpretation, die zweite zu einer extensiven. Mindestvorschriften dienen immer zumindest auch, wenn nicht primär dem Schutz der Arbeitnehmer. Die oben genannten alternativen Ziele gemeinschaftlicher Rechtssetzung können insoweit nur beschränkt verfolgt werden. Mindestvorschriften dienen insbesondere nicht vorrangig dem Binnenmarkt. Dessen Förderung kann daher auch nicht Leitlinie ihrer Interpretation sein. Die Entsende-RL 96/71/EG wurde von vielen lange als Mindestvorschrift verstanden. Die Ur16 teile Laval und Rüffert sagen, dass die Richtlinie abschließend regelt, welche seiner arbeitsrechtlichen Normen der Staat, in den entsendet wird, für entsendete Arbeitnehmer vorschreiben darf,27 dass sie also keine Mindestvorschrift enthält. Dies wird aus der Richtlinie selbst abgeleitet, v.a. aus Art. 3 Abs. 10, und durch die Dienstleistungsfreiheit erhärtet. Für eine abschließende Regelung spricht auch die in Anspruch genommene Binnenmarktkompetenz.28 Häufig verweisen Richtlinien auf „Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ der Mitglied17 staaten; so z.B. die Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG (Art. 7, 8, 10 und 18), die Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG (Art. 2), die Befristungs-RL 1999/70/EG (§§ 2, 3, 4, 7 und 8) und die Richtlinie 2002/14/EG zu Unterrichtung und Anhörung (Art. 2 und 4). Besondere Bedeutung hat dieser Verweis in der Judikatur bislang allerdings nicht erlangt, was methodisch fragwürdig ist.

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_____ 22 Vgl. dazu z.B. Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 200 ff.; Ziegler, Arbeitnehmerbegriffe im Europäischen Arbeitsrecht (2011), S. 207 ff. 23 Z.B. EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols, Slg. 1985, 2639 Rn. 27; EuGH v. 23.3.1982 – Rs. 53/81 Levin, Slg. 1982, 1035; Pottschmidt, Arbeitnehmerähnliche Personen in Europa (2006), S. 23 ff. 24 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 59. 25 Vgl. Syrpis, EU Intervention in Labour Law, S. 10 ff.; Rödl, Arbeitsverfassung, S. 869 ff. 26 Vgl. z.B. Barnard, EU Employment Law, S. 36 ff.; Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 151 AEUV Rn. 16 ff. 27 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, Slg. 2007, I-11767 Rn. 80; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, Slg. 2008, I-1989 Rn. 33. 28 So bereits Schlachter in: Erfurter Kommentar (5. Aufl. 2005), § 1 AEntG Rn. 2; Rebhahn, Das Recht der Arbeit (1999), S. 177.

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2. Inneres System und favor laboris als Argumente? EuGH und Lehre unterscheiden zu den Auslegungmethoden nicht zwischen verschiedenen 18 Bereichen des Sekundärrechts. Nur bestimmte Argumente – Förderung des Binnenmarkts, effektiver Wettbewerb – sind für einzelne Bereiche charakteristisch. Durchgehende Argumentationsmuster können insbesondere in Betracht kommen, wenn das betreffende Rechtsgebiet systematisch geregelt ist. Zum Arbeitsrecht regelt das Sekundärrecht nur Teilbereiche (Rn. 11). Manche sehen gleichwohl zumindest in einem Teil der Regelungen ein inneres System.29 Zutreffender erscheint wohl, dass das Unionsrecht nur „Fragmente“ des Arbeitsrechts regelt.30 Die Gerichte können daher bei Auslegung einzelner Rechtsakte kaum von einem geschlossenen Konzept des Arbeitsrechts ausgehen. Das erschwert eine systematische Interpretation über die einzelne Richtlinie hinaus. Daran ändert es nichts, wenn der EuGH manche Regelungen für sich als „Grundsatz des Sozialrechts der Gemeinschaft“ ansieht, insbesondere wenn es dazu eine Bestimmung in der GRCh gibt.31 Die sozialpolitische Zielsetzung der Mindestvorschriften wirft die Frage auf, inwieweit bei 19 der Auslegung neben den Interessen der Arbeitnehmer auch auf Interessen der Arbeitgeber Bedacht zu nehmen ist. Der EuGH hat, soweit zu sehen, zum genuinen Arbeitsrecht erst einmal gesagt, dass die Arbeitnehmer die „schwächere Partei des Arbeitsvertrags“ sind.32 Soweit zu sehen gibt es beim EuGH auch kein einheitliches Vorverständnis zur Frage, ob arbeitsrechtliche Vorschriften eher extensiv oder restriktiv auszulegen sind. Zu manchen nicht eindeutigen Fragen urteilt er eher restriktiv, wie zur Bedeutung der Nachweisrichtlinie 91/533/EWG (Rn. 41), zu anderen eher extensiv, wie zum Begriff der Arbeitszeit (Rn. 38) oder dem Vorliegen eines Betriebsüberganges (Rn. 40). Manche leiten aus Art. 150 AEUV ab, dass die Auslegung primär an der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen orientiert sein müsse.33 Diese Maxime hat in der Judikatur bislang, soweit zu sehen, noch keine maßgebende Rolle gespielt.34 Der EuGH hat auch noch nie explizit gesagt, dass arbeitsrechtliche Schutzvorschriften im Zweifel zugunsten der Arbeitnehmer auszulegen seien. Soweit zu sehen praktiziert er eine solche Auslegungsregel bei den Mindestvorschriften auch nicht. Ein Auslegungsgrundsatz „im Zweifel zugunsten des Arbeitnehmers“ (favor laboris) hat sich also nicht herausgebildet. Zwar gehen viele Urteile des EuGH in diese Richtung, allerdings wohl schon deshalb, weil die Union Regelungen „zum Schutz der Arbeitnehmer“ erlassen hat. Aus der Tatsache, dass früher mehrere Urteile jene Auslegung gewählt haben, die den Arbeitnehmerschutz stärkt, haben manche auf eine „arbeitnehmerfreundliche Grundhaltung“ des EuGH geschlossen. Die Urteile Viking und Laval (dazu Rn. 55 f.) haben gezeigt, dass die frühere Judikatur weniger der erwähnten Grundhaltung als der Tatsache geschuldet gewesen sein dürften, dass es dem EuGH darum geht, der jeweiligen Rege-

_____ 29 Grundmann, Zum Harmonisierungskonzept des Europäischen Arbeitsrechts, in: Krause (Hrsg.), Gedächtnisschrift für W. Blomeyer (2004), S. 71 ff. Auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 24, meint, man müsse stets einen „Systembildungswillen“ vermuten. Dies stimmt wohl nur für eine Rechtsordnung, die auf ein kohärentes und umfassendes Regelungssystem zumindest angelegt ist. 30 So die überwiegende Einschätzung; vgl. Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 1 Rn. 41 ff., der selbst etwas mehr an System erkennt. 31 So zum bezahlten Urlaub EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006, I-3423 Rn. 28. 32 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 82; vgl. auch Rn. 37. Zu den Vorschriften betreffend den Gerichtsstand wurde dies aber früh und öfter gesagt; zuletzt EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-154/11 Mahamdia, Rn. 46 mwN. 33 Joussen, Auslegung, S. 246. 34 Sie wird aber zuweilen erwähnt, z.B. in EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-395/06 INPS ./. Bruno und Pettini, Slg. 2010, I-5119 Rn. 30 f. Rebhahn

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lung „praktische Wirksamkeit“ zu verschaffen. Bei der Interpretation arbeitsrechtlicher Normen blickt der EuGH also wohl nur auf den Zweck der konkreten Norm. Die arbeitsrechtlichen Richtlinien nennen idR nur den Schutz der Arbeitnehmer als Rege20 lungsziel. Dies mag erklären, warum der EuGH lange Zeit – soweit zu sehen – die Interessen der Arbeitgeber kaum je explizit angesprochen hat. Die Fokussierung einer Regelung auf den Schutz eines Beteiligten würde nationale Gerichte nicht davon abhalten, bei der Interpretation auch Interessen der anderen Seite und Dritter zu bedenken und sich erkennbar um eine abgewogene Auslegung zu bemühen. Die oft knappe Argumentation des EuGH tut dies jedenfalls nur selten ausdrücklich. Dies begünstigt die in der Literatur wiederholt konstatierte Eindimensionalität der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften,35 die aber durch die Normen nicht zwingend vorgegeben ist.36 Nur wenige Urteile berücksichtigen Interessen der Arbeitgeber ausdrücklich. Zwei davon betreffen den Betriebsübergang. Im Urteil Werhof aus 2006 war fraglich, ob der Erwerber nach Betriebsübergang Änderungen des Veräußererkollektivvertrages aufgrund einer Verweisung im Arbeitsvertrag gegen sich gelten lassen muss. Dabei „können … die Interessen des Erwerbers nicht unberücksichtigt bleiben, der in der Lage sein muss, die für die Fortsetzung seiner Tätigkeit erforderlichen Anpassungen vorzunehmen“.37 2013 hat das Urteil Alemo-Herron (dazu Rn. 60) unter Berufung auf Art. 16 GRCh die Interessen des Erwerbers wiederum explizit einbezogen, nun nach Ansicht mancher zu stark. Auch das Urteil Kücük zur Zulässigkeit wiederholter Befristungen berücksichtigt die Interessen der anderen Seite. Auch wenn Größe des Unternehmens und Zusammensetzung des Personals darauf schließen lassen, dass der Arbeitgeber mit einem wiederholten oder ständigen Bedarf an Vertretungskräften konfrontiert ist, ginge es über die Ziele der Befristungs-RL hinaus, automatisch den Abschluss unbefristeter Verträge zu verlangen.38 In der politischen Diskussion ist oft von einem Europäischen Sozialmodell die Rede.39 Diese 21 Vorstellung hat in der Rechtsprechung noch keine erkennbare Rolle gespielt. In Anbetracht der thematischen Lücken in den Regelungen (dazu Rn. 11) und der großen Unterschiede im Arbeitsund Sozialrecht der Mitgliedstaaten war diese Vorstellung, wenn man unter dem Europäischen Modell mehr als einen „gewissen Unterschied“ zu vielen Staaten außerhalb der EU versteht, eher Parole denn Beschreibung der Realität oder Postulat. Eine Änderung kann die Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen. Neben den für das Arbeitsrecht spezifischen Art. 27 bis 44 GRCh sind hier insbesondere Art. 21 und 23, Art. 7 und 8 sowie Art. 16 GRCh relevant. Die Mehrzahl von für das Arbeitsrecht relevanten Gewährleistungen im geschriebenen Primärrecht kann bewirken, dass sich zum Unionsrecht eine kohärentere Vorstellung von einem System des Arbeitsrechts entwickelt. Eine Hürde dafür kann die nach Art. 51 GRCh eingeschränkte Bindung der Mitgliedstaaten an die Charta darstellen.

3. Tarifautonomie und Unionsrecht 22 Das Unionsrecht sichert – nun in Art. 28 GRCh – das Recht auf kollektive Verhandlungen und

Aktionen ab (vgl. Rn. 59 f.). Fraglich ist, inwieweit dies bei Anwendung von Unionsrecht zu einer

_____ 35 Vgl. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 43 mwN. 36 So schon Schlachter, Der Europäischer Gerichtshof und die Arbeitsgerichtsbarkeit (1995), S. 36. 37 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 38 EuGH v. 26.1.2012 – Rs. C-586/10 Kücük, Rn. 53 f. Das Urteil geht dabei vom Wortlaut aus, wonach die Mitgliedstaaten „gegebenenfalls“ festlegen können, unter welchen Bedingungen befristete als „unbefristete Verträge … zu gelten haben“. 39 Vgl. dazu z.B. Rebhahn, ZESAR 2009, 159 ff. mwN. Rebhahn

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Abschwächung der Vorgaben im Vergleich zu jenen für Mitgliedstaaten führt. Der EuGH hat die Bindungen, die für Normen des Mitgliedstaates gelten, seit jeher auch für kollektive Verträge bejaht. So hat das unmittelbar anwendbare Unionsrecht Vorrang vor einem Kollektivvertrag, der Normwirkung entfaltet. Dies gilt etwa für Diskriminierungsverbote (z.B. Art. 157 AEUV sowie Altersdiskriminierung)40 und die Arbeitnehmerfreizügigkeit.41 Der EuGH hat nicht erkennen lassen, dass aus der Gewährleistung der Tarifautonomie ein wesentlich größerer Gestaltungsspielraum von Tarifverträgen folge als sie der Mitgliedstaat besitzt, und zwar weder vor42 noch nach Inkrafttreten der GRCh. Relevant war dies insbesondere zur Frage, ob die Regelung in Tarifverträgen Diskriminierung (leichter) rechtfertigen kann.43 Die Regelung in einem Tarifvertrag kann daher nur ein Gesichtspunkt bei der Beurteilung sein, ob Unterschiede beim Entgelt auf objektive Faktoren zurückgehen.44 Daher werden auch normativ wirkende Kollektivverträge so weit wie möglich unionsrechtskonform zu interpretieren sein. Richtlinien wirken sich auf Kollektivverträge aber auch nicht stärker aus als auf Gesetze. Auch die Gewährleistung von kollektiven Aktionen hat bisher keinen erkennbaren Einfluss auf die Anwendung anderer Normen des Unionsrechts gehabt (dazu Rn. 61). Insgesamt muss man derzeit schließen, dass die Tarifautonomie bei der Auslegung arbeitsrechtlicher Normen – anders als in Deutschland – bislang keine prominente Rolle spielt.

III. Auslegung des Sekundärrechts Es ist nicht verwunderlich, dass der EuGH die traditionellen Auslegungsargumente verwendet. 23 Daher geht es im Folgenden nicht darum darzulegen, dass der EuGH sie verwendet, sondern eher darum aufzuzeigen, (wann) welches Argument das Ergebnis bestimmt und ob das Urteil alle Argumente einbezieht. Nicht wenige Urteile des EuGH sind methodisch in dem Sinne überzeugend, dass (soweit ersichtlich) alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden. Der Anteil dieser Urteile nimmt m.E. jedenfalls im Bereich des Sekundärrechts eher zu. Beispiele aus neuerer Zeit (die auch Primärrecht betreffen) sind Urteile zu Altersgrenzen in Gesetzen und Tarifverträgen (dazu Rn. 66) sowie das Urteil Jette Ring (Rn. 33). Allerdings gibt es auch Urteile, die sehr schlecht begründet und daher methodisch verfehlt sind. Dazu zählen etwa die Urteile Alemo-Herron (vgl. Rn. 60), Paletta I (dazu Rn. 42) und Danosa (dazu Rn. 48). Methodisch fragwürdig sind auch Urteile, bei denen die Rechtslage nachher weniger klar ist als davor. Dies trifft etwa auf die Urteile Meister45 und Scattolon (Rn. 45) zu.

_____ 40 EuGH v. 27.10.1993 – Rs. C-127/92 Enderby, Slg. 1993, I-5535 Rn. 21; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 Kenny, Rn. 47. 41 Z.B. EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921. 42 Vgl. z.B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz, Slg. 1991, I-297 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1999, I-7713 Rn. 46, alle zu Art. 141 EGV. 43 EuGH v. 13.9.2011 – Rs. C-447/09 Prigge, Slg. 2011, I-8003 Rn. 47; EuGH 8.9.2011 – verb. Rs. C-297/10 und C-298/10 Hennigs, Slg. 2011, I-7965 Rn. 67. 44 Z.B. EuGH v. 31.5.1995 – Rs. C-400/93 Royal Copenhagen, Slg. 1995, I-1275 Rn. 36; EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 Kenny, Rn. 49. 45 EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 Meister. Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

1. Wortlaut 24 In der Judikatur zum Arbeitsrecht spielt der Wortlaut eine herausragende Rolle. Er ist stets der

Ausgangspunkt, soweit keine Vorjudikatur existiert. Die Bedeutung des Wortlautes ist beim Sekundärrecht erkennbar bedeutend größer als beim Primärrecht, der EuGH argumentiert hier i.d.R. primär mit Hilfe des Wortlautes. Die Bedeutung des Wortlautes im Verhältnis zu anderen Argumenten hat im letzten Jahrzehnt wohl zugenommen. Man kann nicht (mehr) sagen, dass der Wortlaut nur der „Ausgangspunkt“ sei. Jede Sprachfassung des Unionsrechts ist gleich verbindlich.46 Der EuGH verweist auch zum 25 Arbeitsrecht eher selten, wenn auch zunehmend, auf verschiedene Fassungen, allerdings ohne systematischen Vergleich. Das Fehlen eines einzigen verbindlichen Textes verursacht aber (auch) im Arbeitsrecht, soweit zu sehen, nur selten Probleme. Mit den verschiedenen Fassungen wird nur selten vertieft argumentiert. So behauptet das Urteil Henke zum Begriff „Betrieb“ der Betriebsübergangs-RL eher, dass die verschiedenen Sprachfassungen das Ergebnis stützen, als dass es dies nachweist.47 Gibt es eine nach Sprachfassungen klar überwiegende Bedeutung, von der nur eine Fassung (oder sehr wenige Fassungen) abweicht, so dürfte faktisch erstere maßgeblich sein, jedenfalls wenn andere Argumente für diese Bedeutung sprechen.48 Im Urteil Junk zur Massenentlassungsrichtlinie 98/59/EG49 war fraglich, ob unter „Entlassung“ der Ausspruch der Kündigung oder erst das Ende des Arbeitsverhältnisses nach Ablauf der Kündigungsfrist zu verstehen ist. In Deutschland vertrat man das zweite. Der EuGH sagt, dass die anderen Sprachfassungen entweder die Kündigungserklärung meinen oder beide Varianten abdecken. Das Urteil sagt dies aber nur kurz, ohne es näher darzutun. Erkennt ein Urteil, dass jeweils mehrere Fassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen der Wortinterpretation führen, so kommt es auf andere Auslegungsmittel an.50 Dies kann die Möglichkeiten vergrößern, vom Wortlaut abzuweichen. Der EuGH hat wiederholt am Gehalt einer Richtlinie, der sich aus dem Wortlaut ergibt, fest26 gehalten, ohne sich durch Zwecküberlegungen anders bestimmen zu lassen. So wurde zur Befristungs-RL gesagt, diese verpflichte nicht dazu, als Rechtsfolge einer missbräuchlichen wiederholten Befristung die Umwandlung in einen unbefristeten Arbeitsvertrag vorzusehen. 51 Schutzzweck und praktische Wirksamkeit kommen erst zum Tragen, wenn der Arbeitgeber doch einen unbefristeten Vertrag anbietet, aber mit deutlich verschlechterten Bedingungen; dies wäre unzulässig.52 Große Bedeutung misst das Urteil Della Rocca dem Wortlaut der Präambel der Befristungs-RL zu. Diese enthält in der Definition der erfassten Arbeitnehmer in § 3 die Wendung „Person mit einem direkt zwischen dem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsvertrag oder -verhältnis.“ Das Urteil zieht dann die Aussage in der Präambel, die Richtlinie gelte „für Arbeitsverhältnisse mit Ausnahme derer, die von einer Leiharbeitsagentur zur Verfügung gestellt werden“, zur Auslegung des Wortes „direkt“ heran. Daraus folge, dass die Richtlinie nicht nur im Verhältnis zum Entleiher, sondern auch im Verhältnis zum Verleiher nicht an-

_____ 46 Z.B. EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 33. 47 EuGH v. 15.10.1996 – Rs. C-298/94 Henke, Slg. 1996, I-4989 Rn. 15. 48 Vgl. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, Rn. 35 ff. Nur die Fassung jenes Mitgliedstaates, aus dem die Vorlage stammte, wich ab, wohl aufgrund eines Übersetzungsfehlers. Gleichwohl stützt das Urteil das Ergebnis mit anderen Argumenten. 49 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 34. 50 So z.B. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 28. 51 Vgl. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, Slg. 2006, I-6057 Rn. 91 ff.; EuGH v. 8.12.2012 – Rs. C-251/11 Martial Huet, Rn. 38 ff. 52 EuGH v. 8.12.2012 – Rs. C-251/11 Martial Huet, Rn. 44. Rebhahn

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wendbar ist, Leiharbeitnehmer also von der Richtlinie nicht erfasst werden.53 Der Begriff „Beschäftigungsbedingungen“, der sich insbesondere in Richtlinien zur Diskriminierung findet, umfasst alle Bestimmungen, für die „gerade das Kriterium der Beschäftigung entscheidend ist, d.h. das zwischen einem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber begründete Arbeitsverhältnis.“ Er erfasst daher z.B. auch die Entschädigung, die die rechtswidrige Verwendung eines befristeten Arbeitsvertrages wiedergutmachen soll.54 Im Verbot der Diskriminierung aufgrund Behinderung hat der Gesetzgeber mit „Behinderung“ „bewusst ein Wort gewählt, das sich von dem der ‚Krankheit‘ unterscheidet. Daher lassen sich die beiden Begriffe nicht schlicht und einfach einander gleichsetzen.“55 Erlaubt eine Richtlinie eine Differenzierung bei Vorliegen von „sachlichen Gründen“, so fallen darunter nur „genau bezeichnete, konkrete Umstände“, die sich auf den Regelungsgegenstand beziehen.56 Die große Bedeutung des Wortlautes bedeutet nicht, dass die Möglichkeiten der Wortlautin- 27 terpretation stets voll ausschöpft werden. Die Überlegungen dazu bleiben auch in Fällen, in denen dies das entscheidende Argument ist, nichts selten hinter dem zurück, was in manchen Mitgliedstaaten bei der Wortlautinterpretation erreicht wird. Der Grund dafür mag sein, dass es keinen einzig verbindlichen Normtext gibt, den man auf Nuancen hin „abhören“ kann.

2. Systematik Die These von der Einheit der Rechtssprache57 hat auch im Arbeitsrecht große Bedeutung. Der 28 EuGH verwendet sie etwa beim Begriff des Arbeitnehmers (dazu Rn. 48). Ferner wird häufig die These/Regel verwendet, dass Ausnahmen eng auszulegen sind,58 insbesondere bei Abweichungen von grundlegenden Vorschriften wie Diskriminierungsverboten,59 aber auch bei Auslegung von (anderem) Sekundärrecht.60 Ein Ausnahmetatbestand von einem Individualrecht könne nämlich „nicht so ausgelegt werden, dass seine Wirkung über das hinausgeht, was zum Schutz der von ihm gewährleisteten Interessen erforderlich ist.“61 Zuweilen wird dabei zu wenig berücksichtigt, ob die Regel, von der abgegangen wird, bei gesamthafter Betrachtung nicht selbst Ausnahme ist. So wird weder zum Diskriminierungsverbot für Private noch zu Vorgaben für Arbeitsverträge ausdrücklich bedacht, dass diese selbst Ausnahmen von Privatautonomie und Vertragsfreiheit sind. Ferner ist eine nicht enge Auslegung einer Ausnahme nicht dasselbe wie deren extensive Auslegung.

_____ 53 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, Rn. 39. 54 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 Carratù, Rn. 35 ff. 55 EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-13/05 Chacon Navas, Slg. 2006, I-6467 Rn. 44. 56 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 Rn. 42 (zur Teilzeit-RL). Vgl. auch EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, Slg. 2006, I-6057 Rn. 58 ff. (zur BefristungsRL). 57 Eher zweifelnd Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 21. 58 Vgl. dazu – kritisch – Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 62 ff. 59 Z.B. EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, Rn. 41 (zu Altersdiskriminierung). 60 Vgl. z.B. EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 222/84 Johnston, Slg. 1986, 1651 Rn. 36, 44; EuGH v. 17.10.1995 – Rs. C-450/93 Kalanke, Slg. 1995, I-3051 Rn. 21. Zur Arbeitszeit-RL EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 35; EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 89; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 52, 65. 61 EuGH v. 17.6.1998 – Rs. C-321/96 Mecklenburg, Slg. 1998, I-3809 Rn. 25. Auch zu Diskriminierungsverboten wird nicht selten gesagt, dass bei Ausnahmen von einem Individualrecht „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist, wonach Ausnahmen nicht über das hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles angemessen und erforderlich ist …“; z.B. EuGH v. 19.3.2002 – Rs. C-476/99 Lommers, Slg. 2002, I-2891 Rn. 39. Rebhahn

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Systematische Erwägungen, die das Zusammenspiel verschiedener Bestimmungen desselben Rechtsaktes beleuchten, finden sich eher selten. Ein allgemein relevantes Beispiel bietet das Urteil Abels:62 Nimmt eine Zusatzbestimmung bestimmte Ansprüche des Arbeitnehmers bei Verwirklichung des Tatbestandes, hier Betriebsübergang, von der Rechtsfolge (Haftung des Erwerbers) aus, so spricht dies dafür, dass die Rechtsfolge für alle anderen Ansprüche eintritt. Systematische Interpretation zu demselben Rechtsgebiet, die über den konkreten Rechtsakt hinausgreift, stand stets vor zwei Schwierigkeiten. Erstens regelte und regelt das Unionsrecht (auch) zum Arbeitsrecht nur einen Teil der relevanten spezifischen und allgemeinen Fragen, sodass das für systematische Interpretation erforderliche Normenumfeld häufig fehlt. Zweitens wurde das Gemeinschaftsrecht in Bezug auf Details und Strukturen als „dynamische“ Rechtsordnung verstanden, und damit letztlich als „unfertige“. Es gibt aber doch Urteile, die überzeugend rechtsaktübergreifend systematisch interpretieren. So arbeitet das Urteil Andersen mit Hilfe des Wortlautes und der Systematik, aber auch unter Rückgriff auf historische und teleologische Argumente den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt eines „befristeten Arbeitsvertrages“ in verschiedenen Richtlinien heraus,63 dies mit dem Ziel, die „innere Kohärenz“ des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Systematische Auslegung in Verbindung mit anderen Rechtsgebieten des Unionsrechts findet sich auf Ebene des Sekundärrechts eher selten. Problematisch ist etwa das Verhältnis von Betriebsübergang und Vergaberecht. Das Urteil Abler verlangt bei Neuauschreibung einer verpachteten Krankenhausküche, deren Betrieb im Wesentlichen aus Kundenbeziehungen und Kücheneinrichtung besteht, die Übernahme des Personals durch den neuen Pächter.64 Damit wird eine Ausschreibung wohl zur Farce, jedenfalls wenn die bislang schlechte Qualität der Speisen durch das Personal (mit)verursacht war. Das Urteil Oy Liikenne bemüht sich, die Vereinbarkeit der Arbeitsvertragsübernahme mit dem Vergaberecht darzutun.65 Allerdings überzeugen diese Versuche bislang nicht. Art. 151 AEUV und die Präambel zum EUV nennen sowohl die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte aus 1989 wie die Europäische Sozialcharta (ESC), zu dieser aber nur die Ursprungsfassung aus 1961 und nicht die Revidierte Fassung aus 1996. In der Vergangenheit nahmen Urteile wiederholt auf die Gemeinschaftscharta Bezug, insbesondere wenn Begründungserwägungen darauf Bezug nehmen, zuweilen auch sonst.66 Die Gemeinschaftscharta ist kein verbindlicher Rechtsakt, ihr Heranziehen mag im zweiten Fall aber durch die Nennung im Primärrecht legitimiert werden. Die Verweise auf die Gemeinschaftscharta hatten wohl keine tragende Bedeutung. Heute sind die dort genannten Positionen i.d.R. in der GRCh erwähnt. Die ESC wird von Urteilen ebenfalls, aber seltener erwähnt.67 Insbesondere die Revidierte Fassung enthält Positionen, die sich in der GRCh nicht wiederfinden. Systematische Interpretation ergibt, dass diese weitergehenden Inhalte bewusst nicht in das Primärrecht übernommen wurden. Völkerrechtliche Verträge, welche die Union selbst unterzeichnet hat, gehen dem Sekundärrecht vor, das daher „nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit“ dem Vertrag auszulegen ist. Das Urteil Jette Ring argumentiert daher zum Begriff „Behinderung“ im Diskriminierungsrecht mit dem einschlägigen UN-Übereinkommen und dem Zweck, um Behinderung einerseits von

_____ 62 So etwa EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 135/83 Abels, Slg. 1985, 469 Rn. 36 f. zur Betriebsübergangs-RL; dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 24. 63 EuGH v. 18.12.2008 – Rs. C-306/07 Andersen, Slg. 2008, I-10279 Rn. 40 ff. 64 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler, Slg. 2003, I-14023 Rn. 30 ff. 65 EuGH v. 25.1.2001 – Rs. C-172/99 Oy Liikenne, Slg. 2001, I-745 Rn. 22–25. 66 Z.B. EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 40. 67 Z.B. EuGH v. 11.12.2007 – C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 43, wo die Gemeinschaftscharta als Rechtsakt bezeichnet wird.

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Krankheit abzugrenzen, aber krankheitsbedingte Zustände nicht auszuschließen.68 Völkerrechtliche Verträge, welche nur Mitgliedstaaten ratifiziert haben, sind bei der Auslegung zu berücksichtigen, wenn die Begründungserwägungen auf den Vertrag Bezug nehmen.69 Ansonsten wäre es aber fragwürdig, wenn ein solcher Vertrag auch dann berücksichtigt wird, falls er bzw. eine Vertragsklausel nicht von der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten ratifiziert wurde; dies gilt für die ESC wie für ILO-Konventionen.70

3. Entstehungsgeschichte Die Bedeutung der historischen Auslegung ist groß, falls man dazu die – regelmäßig erfolgende 34 – Berufung auf Begründungserwägungen zählt. Der EuGH stellt auf die Begründungserwägungen oft entscheidend ab, insbesondere für den Normzweck. Die Möglichkeit, eine von den Sozialpartnern abgeschlossene Vereinbarung zum Rechtsakt der Union zu erheben (Art. 155 AEUV), führt zur Verdoppelung der Begründungserwägungen: Neben jene des Unionsgesetzgebers tritt die Präambel der Vereinbarung. Der EuGH misst dieser dieselbe Bedeutung wie Begründungserwägungen zu, und stellt zuweilen entscheidend auf sie ab.71 Im Übrigen spielt die Entstehungsgeschichte, verstanden als Rückgriff auf Materialien und 35 Gesetzgebungsprozess, in den Entscheidungen zum Arbeitsrecht kaum eine Rolle. Urteile argumentieren damit nur gelegentlich.72 Die Schlussanträge nehmen häufiger auf die Entstehungsgeschichte Bezug,73 insbesondere wenn Beteiligte sich darauf berufen. Eine interessante Frage wirft die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer 2002/14/EG auf. Ihr Art. 8 Abs. 2 verlangt „Sanktionen, die wirksam, angemessen und abschreckend“ sind. Die Kommission hatte Sanktionen vorgeschlagen, die bei Schließung eines Betriebes auch dessen Wiedereröffnung oder die finanzielle Abgeltung für das Nichtwiedereröffnen einschlossen.74 Darüber wurde lange gestritten. Aus der Genese wäre zu schließen, dass die Richtlinie diese Sanktionen nicht verlangt. Es ist aber fraglich, ob der EuGH solche Schlüsse zieht.75

4. Regelungszweck In erster Linie geht es um den Zweck der konkreten Regelung und des Rechtsaktes; davon zu 36 unterscheiden ist die Frage, ob der Rechtsakt Teil eines inneren Systems ist, aus dem sich auf den Zweck schließen lässt (dazu Rn. 18 ff.). Manche Autoren sehen den Regelungszweck als das vorrangige Auslegungsmittel.76 Die Analyse neuerer Urteile kann diese These nicht voll be-

_____ 68 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-335/11 Jette Ring, Rn. 28 ff. Auch die Ausführungen zur Kündigung bei Fehlen „angemessener Vorkehrungen“ und zur verkürzten Kündigungsfrist sind methodisch überzeugend, sieht man davon ab, dass die Ausführungen zu deren Verhältnismäßigkeit eher vage bleiben. 69 Vgl. z.B. EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 Schultz-Hoff, Slg. 2009, I-179 Rn. 37 f. 70 Diese werden von Schlussanträgen, kaum aber von Entscheidungen als Auslegungshilfe herangezogen. 71 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, Rn. 39; dazu Rn. 26. 72 Z.B. EuGH v. 7.12.1995 – Rs. C-448/93 Rockfon, Slg. 1995, I-4291 Rn. 33; EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-116/06 Kiiski, Slg. 2007, I-7643 Rn. 46. 73 Z.B. GA Geelhoed, SchlA v. 6.2.2003 – Rs. C-25/02 Rinke, Slg. 2003, I-8349 Tz. 63 f. GA Mengozzi, SchlA v. 12.1.2012 – Rs. C-415/10 Meister, Tz. 21 verweist zum Auskunftsanspruch bei Diskriminierung darauf, dass der Vorschlag der Kommission diesen enthalten habe, die Richtlinie ihn aber (daher wohl bewusst) nicht vorsehe. Das Urteil erwähnt dieses Argument nicht. 74 Vgl. KOM(1998) 612 endg, ABl. 1999 C 2/3 und dort Art. 7 Abs. 3. 75 Vgl. dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 28. 76 So z.B. Joussen, Auslegung, S. 130 f., S. 170 f., der von einem „Krönungskriterium“ spricht. Rebhahn

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stätigen, selbst wenn man die Berufung auf die praktische Wirksamkeit stets als telelogisches Argument zur Sache sähe (dazu Rn. 44 f.). Zum arbeitsrechtlichen Sekundärrecht gibt es wohl nur wenige neuere Urteile, in denen ein ausreichend deutlicher Wortlaut unter Berufung auf den Zweck hintangestellt würde (vgl. aber Rn. 39). Für den Regelungszweck orientiert sich der EuGH vorwiegend an den Begründungserwägungen oder direkt am Wortlaut, nur selten an anderen Quellen, wie z.B. an der Gemeinschaftscharta (Rn. 32) oder an der Primärrechtsgrundlage. Der Text der konkreten Norm und deren Zweck müssen dabei m.E. bedeutsamer sein als die Begründungserwägungen. Auch wenn der EuGH mit dem Regelungszweck argumentiert, findet sich selten eine intensivere Auseinandersetzung im Lichte unterschiedlicher Auslegungsvarianten. Zuweilen wird zur Begründung bloß ein anderer, etwa in den Erklärungen vorgebrachter, Zweck durch eine Art Folgenanalyse ad absurdum geführt.77 Kaum je ausdrücklich berücksichtigt wird ein Zweck, der bei jeder Norm zu berücksichtigen wäre, nämlich dass die Regelung „in technischer und wirtschaftlicher Hinsicht handhabbar bleiben“ müsse. Erst jüngst weist ein Urteil – wohl erstmals – daruf hin.78 Der Zweck von Art. 21 Verordnung 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit, den Arbeit37 nehmer als schwächere Vertragspartei zu schützen, gebietet es, dass eine Gerichtsstandklausel im Arbeitsvertrag nur zulässig ist, wenn sie die in dieser Verordnung für Klagen des Arbeitnehmers vorgesehenen Gerichtsstände erweitert, nicht aber wenn sie diese einschränkt.79 Verbietet eine arbeitsrechtliche Richtlinie wie Art. 22 Arbeitszeit-RL 2003/88/EG ein Abgehen von ihren Vorgaben zur Höchstarbeitszeit, „es sei denn der Arbeitnehmer hat sich hierzu bereit erklärt“, so greift diese Ausnahme aufgrund des Schutzzwecks nur bei ausdrücklicher und freier Zustimmung des Arbeitnehmers; ein Verweis im Arbeitsvertrag auf einen Kollektivvertrag, der eine Überschreitung erlaubt, genügt nicht.80 Der Verweis auf den nationalen Arbeitnehmerbegriff (Rn. 14) erlaubt – wohl wegen des Regelungszwecks – keine Modifikationen dieses Begriffes bei der Festlegung eines Schwellenwertes. Es widerspricht daher der „Ergebnispflicht“ der Mitgliedstaaten, wenn sie Teilzeitarbeitnehmer nur anteilig berücksichtigen,81 auch wenn diese Modifikation zur Einstellung von Arbeitnehmern motivieren soll. Am ehesten als teleologisches Argument einzuordnen ist die Überlegung, ein Sachverhalt – die Leiharbeit – falle nicht unter eine Richtlinie, die Befristungs-RL, weil es sich um eine komplizierte rechtliche Konstruktion handle, die Richtlinie aber nicht auf deren Besonderheiten Bedacht nimmt.82 38 „Arbeitszeit“ ist der Zentralbegriff der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Problematisch ist insbesondere, inwieweit Bereitschaftszeiten, während derer die Arbeitnehmer am Arbeitsort nur anwesend zu sein haben, unter Arbeitszeit fallen.83 Bei Erlass der Vorgängerrichtlinie 93/104/EG ist man wohl davon ausgegangen, dass diese Arbeitsbereitschaft nicht zur Arbeitszeit zählt.84 Die Definition von „Arbeitszeit“ in Art. 2 Nr. 1 war und ist zwar nicht eindeutig, spricht aber für

_____ 77 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 76; EuGH v. 30.3.2000 – Rs. C-236/98 Jämställdhetsombudsmannen, Slg. 2001, I-2189 Rn. 53; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. BECTU, Slg. 2001, I-4881 Rn. 48 f.; EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen, Slg. 1999, I-8643 Rn. 20; EuGH v 6.4.2000 – Rs. C-226/98 Kreil, Slg. 2000, I-2447 Rn. 39; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 42; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 60, 74. 78 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-546/11 Dansk Jurist, Rn. 70 zur Altersdiskriminierung. 79 EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-154/11 Mahamdia, Rn. 60 ff. 80 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 82 ff. 81 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-385/05 CGT, Slg. 2007, I-611 Rn. 30 ff. 82 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, Rn. 40. 83 EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 47–49; seither einige andere Entscheidungen. Allerdings haben sich nur drei Regierungen am Verfahren beteiligt. 84 Vgl. GA Saggio, SchlA v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 33. Rebhahn

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eine restriktive Interpretation.85 Das Urteil Simap kommt hingegen in sechs Sätzen zum gegenteiligen Ergebnis. Es behauptet nur, dass Bereitschaftszeiten die charakteristischen Merkmale von Arbeitszeit aufweisen und das weite Verständnis dem Ziel der Richtlinie entspreche. Methodisch ist die Begründung des EuGH dünn. Das Urteil wurde in mehreren Mitgliedstaaten heftig kritisiert, auch in Deutschland.86 Die nächste Vorlage wurde wieder vom Plenum entschieden. Das Urteil Jaeger ist ausführlicher begründet.87 Allerdings vermeidet es, auf das Verhältnis von Arbeitszeit und Ruhezeit einzugehen. Dann hätte nämlich erwogen werden müssen, ob Bereitschaftsdienst weder Arbeitszeit noch Ruhezeit ist (was ebenfalls vor Überbeanspruchung schützt). Die Urteile schöpfen also die Möglichkeiten der Argumentation nicht aus, sondern begnügen sich mit jenen Erwägungen, die am besten das gewünschte Ergebnis stützen. Die Folge dieser verunglückten Urteile ist, dass nun mehr als die Hälfte der Mitgliedstaaten die Möglichkeit des Art. 22 der RL 2003/88/EG zum opting-out nutzt, in anderen die Gesundheitsversorgung vor großen Problemen steht, und sich mehrere Ratspräsidentschaften vergeblich abmühten, die Richtlinie zu ändern. Art. 7 Arbeitszeit-RL 2003/88/EG schreibt einen „bezahlten Mindestjahresurlaub von vier 39 Wochen“ vor. Allein aus diesem Wortlaut wird abgeleitet: „Die Richtlinie behandelt den Anspruch auf Jahresurlaub und denjenigen auf Zahlung des Urlaubsentgelts als die zwei Teile eines einzigen Anspruchs.“88 Diese „Einheitstheorie“ hat ebenso weitreichende Folgen wie das Verständnis der Wendung, der Anspruch bestehe „nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vorgesehen sind“. Der EuGH interpretiert diesen Vorbehalt, m.E. entgegen dem Wortlaut, möglichst eng. Der Vorbehalt erlaube es nicht, „bereits die Entstehung eines ausdrücklich allen Arbeitnehmern zuerkannten Anspruchs auszuschließen.“89 Der Anspruch darf daher z.B. bei ordnungsgemäß krankgeschriebenen Arbeitnehmern nicht von der Voraussetzung abhängen, dass sie während des festgelegten Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet haben. Diese Ergebnisse lassen sich nur mit einem starken Regelungszweck stützen, der aber weder näher begründet wird noch sehr überzeugt. Auch der wiederholte Hinweis auf Art. 31 GRCh leistet dies noch nicht. Immerhin wurde gesagt, dass der Urlaubsanspruch bei Teilzeit und Kurzarbeit pro rata temporis berechnet werden darf.90 Die Urteile zur Berechnung des Urlaubsanspruches bei Wechsel der Beschäftigten von Voll- zu Teilzeitarbeit,91 die wohl – im Sinne der Einheitstheorie – auf ein Beibehalten der bezahlten Urlaubstage hinauslaufen, dürften im Ergebnis überzeugen. Die Begründung tut dies nicht, weil sie zu abstrakt bleibt (anschaulich wäre etwa der Hinweis auf den Fall, dass nun zwei Halbtagsbeschäftigungen ausgeübt werden) und nicht auch den Wechsel von Teil- zu Vollzeitarbeit einbezieht. Die Erstfassung der Betriebsübergangs-RL 77/187/EWG knüpfte ihre Rechtsfolgen an den 40 Übergang eines Betriebs oder Betriebsteiles. Die Bestimmung des Anwendungsbereiches bereitet(e) große Schwierigkeiten. Der EuGH hat sich schon früh im Urteil Spijkers, auf dem alle Fol-

_____ 85 Dies sagt auch GA Saggio, SchlA v. 16.12.1999 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Tz. 34–36, der dennoch für das Einbeziehen plädiert. 86 Die deutsche Regierung hatte sich nicht am Verfahren beteiligt. 87 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-151/02 Jaeger, Slg. 2003, I-8389 Rn. 58–67. 88 EuGH v. 16.3.2006 – Rs. C-131/04 Robinson-Steele, Slg. 2006, I‑2531 Rn. 58; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 Schultz-Hoff, Slg. 2009, I-179 Rn. 60. 89 Vgl. EuGH v. 6.4.2006 – Rs. C-124/05 Federatie Nederlandse Vakbeweging, Slg. 2006, I-3423 Rn. 55; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-350/06 Schultz-Hoff, Slg. 2009, I-179 Rn. 47; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 19; EuGH v. 21.6.2012 – Rs. C-78/11 ANGED, Rn. 18. 90 EuGH v. 8.11.2012 – Rs. C-229/11 Heimann. 91 EuGH v. 22.4.2010 – Rs. C-486/08 Zentralbetriebsrat der Landeskrankenhäuser Tirols, Slg. 2010, I-3527 Rn. 32; EuGH v. 13.6.2013 – Rs. C-415/12 Brandes. Treffend z.B. EuGH v. 10.9.2009 – Rs. C-277/08 Pereda, Slg. 2009, I-8405. Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

geentscheidungen aufbauen, vom Wortlaut weit entfernt und gesagt, diese finde auf den Übergang einer wirtschaftlichen Einheit Anwendung, und diesen Begriff als typologischen entfaltet, bei dem mehrere Elemente zu würdigen sind.92 Der EuGH orientierte sich dafür wohl am Normzweck. Das Urteil stellt dazu in einem Satz die „soziale Zielsetzung“ der Richtlinie in den Vordergrund. Die Neufassung durch die Richtlinie 98/50/EG hat die Auslegung des EuGH ausdrücklich aufgenommen, allerdings soll der neue Tatbestand nur vorbehaltlich des alten gelten. Die nachfolgende Judikatur scheint dies aber nicht zu thematisieren.93 Auch in ihr stand der soziale Zweck im Vordergrund, weil der EuGH die Arbeitsverhältnisse auch bei Neuausschreibung eines Dienstleistungsauftrages übergehen lässt, wenn Aufgabe (Kunden) sowie sachliche Betriebsmittel übergehen, etwa bei Neuverpachtung einer Krankenhausküche.94 Aus Wortlaut und Zweck der Richtlinie wurde auch abgeleitet, dass diese nicht nur anwendbar ist, wenn die organisatorische Einheit erhalten bleibt.95 Der Anwendungsbereich der Richtlinie wird somit aus Zweckgründen extensiv verstanden. Dies kann allerdings mit dem sozialen Zweck in Konflikt geraten, falls der Arbeitgeber den Übergang einsetzt, um Arbeitnehmer „loszuwerden“ (etwa durch Übergang auf eine GmbH, die nach einiger Zeit den Betrieb einstellt, auch wenn die übergangene Aufgabe vor Übergang keine Einheit war). Überdies ist fraglich, ob die Betriebsübergangs-RL wirklich nur die Arbeitnehmer schützen soll, oder ob es ihr auch um das Interesse des Arbeitgebers geht, eine lebende Einheit übertragen zu können.96 Jedenfalls die Auffassung, dass die Richtlinie kein effektives Widerspruchsrecht der Arbeitnehmer verlange (Rn. 57), lässt sich besser mit dem zweiten Zweck erklären. Die Urteile Werhof (Rn. 59) und Alemo-Herron (Rn. 60) berücksichtigen explizit die Interessen des Erwerbers.97 Die Gleichheit der Investitionsbedingungen kann nicht als tragender Zweck der Richtlinie gelten, auch wenn die Richtlinie ursprünglich damit legitimiert wurde. Die extensive Interpretation des Anwendungsbereiches vergrößert nämlich die rechtlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten eher, weil sich die Richtlinie umso stärker auswirkt, je stärker der Kündigungsschutz ist. Die Nachweisrichtlinie 91/533/EWG verpflichtet den Arbeitgeber zu einer Mitteilung über 41 Arbeitsbedingungen. Nach Art. 6 der Richtlinie berührt diese nicht die nationalen Beweislastregeln. Gleichwohl hat der EuGH zuerst gesagt, der Zweck der Richtlinie verlange, dass die Mitteilung eine gewisse Beweiskraft habe, die der Arbeitgeber – nur – durch den Beweis des Gegenteils entkräften könne.98 Im Urteil Lange hat er hingegen wieder mehr den Wortlaut des Art. 6 in den Vordergrund gerückt und gesagt, dass sich die Folgen einer fehlenden Mitteilung allein nach nationalem Recht richten.99 Das Urteil Junk leitet zur Massenentlassungsrichtlinie 98/59/ EG die Auffassung, dass unter „Entlassung“ bereits der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist (Rn. 25), vor allem aus der Erwägung ab, dass die Konsultation der Arbeitnehmer-Vertretung nur dann ihren Zweck erfüllen könne, auf die Entscheidung des Arbeitgebers Einfluss zu neh-

_____ 92 EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers, Slg. 1986, 1119 Rn. 10 ff. 93 Urteile zur neuen Fassung sehen keine Probleme der Vereinbarkeit; z.B. EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 Güney-Görres u.a., Slg. 2005, I-11237 Rn. 30; EuGH v. 6.9.2011 – Rs C-108/10 Scattolon, Slg. 2011, I-7491 Rn. 42. Vgl. Wank, FS Birk (2008), S. 948, der nach einem Hinweis auf die Begründung des Urteils Güney-Görres bemerkt: „An dieser Stelle hätte eine Begründung beginnen können.“ 94 EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-340/01 Abler, Slg. 2003, I-14023 Rn. 30 ff. 95 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 Klarenberg, Slg. 2009, I-803 Rn. 45–47. 96 Die Richtlinie 77/187/EWG wurde mit der Beeinträchtigung des Binnenmarktes durch Unterschiede in der Rechtslage begründet. 97 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 Alemo-Herron, Rn. 25: Die Richtlinie dient „nicht nur dem Schutz der Arbeitnehmerinteressen, sondern sie soll auch einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmer einerseits und denen des Erwerbers andererseits gewährleisten.“ 98 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 29 ff. 99 EuGH v. 8.2.2001 – Rs. C-350/99 Lange, Slg. 2001, I-1061 Rn. 32 f. Rebhahn

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men.100 Dies ist methodisch überzeugend.101 Der Regelungszweck war auch in drei Urteilen zur Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat 94/45/EG das entscheidende Argument. Sie betrafen die Mitwirkung des Arbeitgebers bei der Organisation dieses Betriebsrats, und in allen hat der EuGH seine Entscheidung mit dem Argument begründet, das ordnungsgemäße Funktionieren des Europäischen Betriebsrats oder doch die Möglichkeit dafür erforderten eine bestimmte Auslegung, die im Ergebnis eine Regelungslücke schließt.102 Er hat also primär auf den Zweck der Regelung abgestellt, das Bestehen einer Lücke aber (leider) nicht erwähnt. Bedeutung hatte der Regelungszweck auch im Urteil zum Verständnis von „Eintritt der Zahlungsunfähigkeit“ in der Insolvenzrichtlinie 80/987/EWG. Der EuGH legte dar, dass dieser Begriff in Art. 3 und 4 der Richtlinie anders zu verstehen sei als nach der Definition des Art. 2.103 Eine spätere Entscheidung griff dann nur mehr auf dieses Verständnis zurück, ohne erneut telelogische Erwägungen im konkreten Zusammenhang anzustellen.104 Das führte zu einer Korrektur durch die RL 2002/74/ EG. (Zur Entsenderichtlinie 96/71/EG, vgl. Rn. 16, 55.) Zuweilen erlaubt eine verstärkte Bedachtnahme auf den Zweck die Revision einer früheren 42 Auffassung. In den Urteilen Paletta I und II ging es um die Anerkennung von Bestätigungen der Erkrankung aus Sizilien, an deren Richtigkeit der deutsche Arbeitgeber nachvollziehbar zweifelte.105 Das erste Urteil war verfehlt. Die auch von der Kommission anerkannten praktischen Probleme des Arbeitgebers, die Plausibilität der Bestätigung ähnlich wie bei am Arbeitsort ausgestellten Bestätigungen zu verifizieren, wurden mit dem Hinweis auf den Zweck beiseite geschoben, Beweisschwierigkeiten des Arbeitnehmers zu verhindern. Wie häufig wurde hier formal damit argumentiert, dass alles was in der EU den gleichen Namen hat, auch gleichwertig sei. Erst auf den Widerstand der deutschen Gerichte hin fand das zweite Urteil zur Missbrauchsklausel. Bei der Würdigung eines angeblich missbräuchlichen Verhaltens seien jedoch die Ziele der Norm zu beachten. Aus dem Zweck der Bestimmungen zur Anerkennung ausländischer Bestätigungen folgert der EuGH, dass bei deren Vorliegen dem Arbeitnehmer nicht die volle Beweislast für die Arbeitsunfähigkeit zugeschoben werden darf, wenn der Arbeitgeber nur ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit dartun kann. Die Arbeitsunfähigkeit darf dann erst verneint werden, falls der Arbeitgeber selbst Beweise für den Missbrauch dartun kann.

5. Pragmatische Schlüsse Unter pragmatischen Schlüssen kann man Umkehr-, Analogie- und Größenschluss zusammen- 43 fassen. Soweit zu sehen, hat der EuGH noch in keinem arbeitsrechtlichen Urteil ausdrücklich einen Analogieschluss bejaht oder abgelehnt.106 Auch Schlussanträge haben einen von Ver-

_____ 100 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885 Rn. 38. 101 Ebenso Riesenhuber/Domröse, EWS 2005, 97 ff.; a.A. Wank, FS Birk (2008), S. 931, der eine teleologische Auslegung dahingehend erwartet hätte, ob das Anzeigeverfahren so wie das Beratungsverfahren „individualschützende oder arbeitsmarktpolitische Zwecke“ verfolgt. 102 EuGH v. 29.3.2001 – Rs. C-62/99 Bofrost, Slg. 2001, I-2579; EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-440/00 Kühne & Nagel, Slg. 2004, I-787; EuGH v. 15.7.2004 – Rs. C-349/01 ADS Anker, Slg. 2004, I-6803. 103 EuGH v. 10.7.1997 – verb. Rs. C-94/95 und C-95/95 Bonifaci, Slg. 1997, I-3969 Rn. 36–42. 104 EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-160/01 Karen Mau, Slg. 2003, I-4791. 105 EuGH v. 3.6.1992 – Rs. C-45/90 Paletta ./. Brennet, Slg. 1992, I-3423 Rn. 27, 24; EuGH v. 2.5.1996 – Rs. C-206/94 Brennet ./. Paletta, Slg. 1996, I-2357 Rn. 24ff. 106 Eine allgemeine Aussage zur Zulässigkeit von Analogie findet sich nur in zwei Urteilen, zuletzt in EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-152/09 Grootes, Slg. 2010, I-11285 Rn. 41 (unter Berufung auf das Urteil Krohn aus 1985), und ist daher kaum allgemeingültig.

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fahrensbeteiligten befürworteten Analogieschluss eher nur abgelehnt.107 Die eher geringe Rolle des Analogieschlusses mag zum einen damit erklärt werden, dass er in anderen nationalen Methodenlehren weniger Bedeutung hat als in deutschsprachigen Staaten. Zum anderen setzt eine Analogie das Feststellen einer planwidrigen Lücke oder doch einer Gleichheitswidrigkeit der Regelung voraus. Dies ist im Unionsrecht bislang schwieriger als in einer nationalen Rechtsordnung. Der Umkehrschluss findet sich nur selten,108 auch in den Schlussanträgen.109 Das Urteil Della Rocca führt die Tatsache, dass zwei arbeitsrechtliche Richtlinien Leiharbeit ausdrücklich in ihren Anwendungsbereich einbeziehen, als Argument gegen das Einbeziehen in einer dritten Richtlinie.110 Auch wenn ein Umkehrschluss naheliegt, wird er zuweilen nicht verwendet.111 Selten wird ferner mit einem Größenschluss argumentiert.112 Zur Zulässigkeit von Beiträgen zu einem Betriebspensionssystem, die nach dem Alter gestaffelt sind, trifft das Urteil Kristensen beiläufig die allgemein relevante Aussage, dass aus der Zulässigkeit einer schwerwiegenden Unterscheidung (Zulässigkeit von Altersgrenzen) nicht die Zulässigkeit von minder schweren Unterschieden folge,113 lehnt also diesen Größenschluss ab. Auch wenn pragmatische Schlüsse selten explizit verwendet werden, schließt dies nicht aus, dass der EuGH faktisch jene Erwägungen anstellt, die wir darunter verstehen.114 Dies erschwert die Diskussion der Begründungen.

6. Praktische Wirksamkeit 44 Das Argument zur praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts (effet utile) betrifft zum einen die

Auslegung der Norm. Dazu ist es sinnvoll, verschiedene Intensitätsstufen zu unterscheiden:115 (1) Die Norm soll relevant sein; (2) der Bezugspunkt des effet utile (Zweck oder Funktion der Norm) soll beachtet werden, aber (nur) neben den anderen Argumentationsmitteln; (3) der Bezugspunkt soll so weit als möglich verwirklicht werden, die Sorge um die praktische Wirksamkeit dominiert also und schiebt andere Auslegungsargumente beiseite. Nur bei der zweiten Stufe wird der effet utile wie ein „normales“ Argument verwendet. Jedenfalls die dritte Stufe, wohl auch die zweite, ist kein Argument zum Zweck der konkreten Regelung, sondern ein Argument nur zur Wirkungskraft des Unionsrechts. Die zweite, schwache Stufe des effet utile wird auch zum Arbeitsrecht häufig verwendet;116 45 dies ist oft überzeugend. Zuweilen bestimmt die Sorge um die praktische Wirksamkeit die Ausle-

_____ 107 Vgl. GA van Gerven, SchlA v. 30.1.1990 – Rs. C-262/88 Barber, Slg. 1990, I-1889 Tz. 21; GA Cosmas, SchlA v. 29.5.1997 – Rs. C-117/96 Mosbæk, Slg. 1997, I-5017 Tz. 60; GA Jacobs, SchlA v. 23.3.2000 – Rs. C-180/98 Pavel Pavlov, Slg. 2000, I-6451 Tz. 94. 108 EuGH v. 1.12.2005 – Rs. C-14/04 Dellas, Slg. 2005, I-10253 Rn. 43; EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. BECTU, Slg. 2001, I-4881 Rn. 46; sowie oben Rn. 29. Den Umkehrschluss ablehnend: EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-127/05 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 2007, I-4619 Rn. 49. 109 Vgl. aber GA Kokott, Schlussanträge v. 18.5.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Tz. 82. 110 EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-290/12 Della Rocca, Rn. 41. 111 So etwa EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-303/98 Simap, Slg. 2000, I-7963 Rn. 29–38, wo die Vorlage danach fragte. 112 EuGH v. 10.2.2000 – Rs. C-234/96 Deutsche Telekom, Slg. 2000, I-929 Rn. 55; EuGH v. 9.3.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-401/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 112; EuGH v. 11.1.2007 – Rs. C-208/05 ITC GmbH, Slg. 2007, I-181 Rn. 27. 113 EuGH v. 26.9.2013 – Rs. C-476/11 Kristensen, Rn. 51 ff. 114 Vgl. z.B. EuGH v. 12.5.1985 – Rs. 284/83 Dansk Metalarbejderforbund, Slg. 1985, 553 Rn. 10 zur Massenentlassungsrichtlinie. 115 Vgl. Potacs, EuR 2009, 465–487; Rebhahn, Effet utile – Towards a general principle of law?, in: Tichy/Potacs/ Dombrovsky (Hrsg.), Effet utile, S. 147–166. 116 Z.B. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adelener, Slg. 2006, I-6057 Rn. 72, 84; EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-395/06 INPS ./. Bruno und Pettini, Slg. 2010, I-5119 Rn. 73; EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Rebhahn

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gung, ohne dass das Urteil sich darauf beruft. Die Massenentlassungs- und die Betriebsübergangsrichtlinie verlangen die Anhörung einer betrieblichen Arbeitnehmervertretung. Obwohl die Richtlinien dazu nur eine Teilharmonisierung enthalten, verpflichten sie die Mitgliedstaaten, Regelungen über eine Arbeitnehmervertretung auch dann zu schaffen, wenn es sonst keine gibt. Die Teilharmonisierung befreie nicht von der Pflicht jene Maßnahmen zu treffen, welche für die Ausführung der Richtlinie „zweckmäßig“ sind (gemeint war wohl: „erforderlich sind“).117 Die dritte, starke Stufe des effet utile wurde zum arbeitsrechtlichen Sekundärrecht eher selten verwendet. Beispiele sind das Urteil Paletta I (vgl. Rn. 42) und u.U. manche Urteile zum bezahlten Urlaub (vgl. Rn. 39).118 Das Urteil Scattolon würde dazu zählen, wenn man es nicht auf die entschiedene Sachverhaltskonstellation beschränkt. Es wendet sich zum Betriebsübergang gegen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen durch die Anwendung eines neuen Tarifvertrages.119 Für den beurteilten Tarifvertrag, der gezielt den Übergang regelt, überzeugt dies voll, die Formulierungen scheinen aber jeden Erwerbertarifvertrag zu treffen. Das Argument zur praktischen Wirksamkeit betrifft zweitens die Durchsetzung der (bereits 46 ausgelegten) Norm des Unionsrechts. Die Urteile Dekker und Draehmpaehl haben zum Diskriminierungsverbot primär aus dem Wortlaut der Richtlinie abgeleitet, dass es nicht auf Verschulden oder Rechtfertigungsgründe ankommen darf, weil die Richtlinie eine solche Einschränkung nicht vorsieht. Überdies wird gesagt, dass andernfalls die praktische Wirksamkeit der Richtlinie beeinträchtigt wäre.120 Das überzeugte damals nur partiell, auch weil der Mitgliedstaat auch eine öffentlich-rechtliche Strafsanktion hätte wählen können, und diese schon wegen der EMRK Verschulden voraussetzt. Heute verlangen die Richtlinien nur bei Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes ausdrücklich einen verschuldensunabhängigen Ersatzanspruch, während die Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG nur abschreckende Sanktionen verlangt. Man steht dann vor der Frage, ob aus dem Vergleich ein Analogie- oder ein Gegenschluss gezogen werden kann (vgl. auch Rn. 43).121

7. Rechtsvergleichung Die Rechtsvergleichung wird in arbeitsrechtlichen Urteilen kaum je ausdrücklich als Argument 47 genannt, obwohl die Urteile häufig durch interne rechtsvergleichende Studien vorbereitet werden. Insbesondere lässt sich der EuGH durch rechtsvergleichende Erwägungen nicht in seiner Auslegung beschränken.122 Die Schlussanträge enthalten zuweilen rechtsvergleichende Ausführungen; unübertroffen sind jene von Generalanwalt Jacobs zur Tarifautonomie.123

_____ Slg. 2008, I-2483 Rn. 91; EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 Rn. 29; EuGH v. 11.10.2007 – Rs. C-460/06 Paquay, Slg. 2007, I-8511 Rn. 35; EuGH v. 1.3.2012 – Rs. C-393/10 O’Brien, Rn. 36; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009 I-3071 Rn. 98 ff. 117 Massenentlassungen: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-383/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2479 Rn. 24 ff. Betriebsübergang: EuGH v. 8.6.1994 – Rs. C-382/92 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1994, I-2435 Rn. 27 ff. 118 Auch das Urteil EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-346/06 Rüffert, Slg. 2008, I-1989 Rn. 33 zählt wohl schon hierher. 119 EuGH v. 6.9.2011 – Rs C-108/10 Scattolon, Slg. 2011, I-7491 Rn. 72 ff. 120 EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-177/88 Dekker, Slg. 1990, I-3941 Rn. 22; EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195 Rn. 17 ff. 121 Vgl. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 159 ff. 122 Zum Versuch mancher Autoren, dies zur Betriebsübergangsrichtlinie zu tun, vgl. Simitis, in: Sciarra (Hrsg.), Labour Law and the Courts (2001), S. 297 ff. Zu Zielen einer Interpretation auf rechtsvergleichender Grundlage vgl. Deinert, Der europäische Kollektivvertrag (1999), S. 289 ff. mwN. 123 GA Jacobs, SchlA v. 28.1.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751. Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

Allerdings lassen sich manche Ergebnisse, die der EuGH gleichsam nur aus der Entfaltung eines Begriffes gewinnt, am besten als – nicht offengelegte – rechtsvergleichende Auslegung deuten. Im Arbeitsrecht trifft dies insbesondere für den Begriff „Arbeitnehmer“ zu. Der AEUV verwendet ihn vor allem in den Art. 45, 153 und 157. Die Judikatur hatte sich lange nur mit der Freizügigkeit (Art. 45 AEUV) zu befassen. Dabei war zu beachten, dass eine Tätigkeit nur entweder unter die Arbeitnehmer- oder die Niederlassungsfreiheit fallen kann. Der Begriff Arbeitnehmer wurde zur Freizügigkeit – soweit es um die Abgrenzung zu Selbstständigen geht – (nur) etwas präzisiert und dabei traditionell verstanden, nämlich als Person, die „während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält.“124 Bei Art. 153 und 157 AEUV fehlt die erwähnte Beschränkung durch systematische Interpretation. In der ersten Entscheidung, in der es zentral um den Arbeitnehmerbegriff des Art. 141 EG/Art. 157 AEUV ging, dem Urteil Allonby aus 2004, geht der EuGH zwar davon aus, dass das Gemeinschaftsrecht keinen einheitlichen Begriff des Arbeitnehmers kennt.125 Gleichwohl hat er die Rechtsprechung zum früheren Art. 39 EG (Art. 45 AEUV) im Wesentlichen auf Art. 141 EG übertragen und sich mit dem Vortrag der Kommission, dass man „Arbeitnehmer“ hier weiter verstehen könne, nicht wirklich auseinandergesetzt. Die zur Freizügigkeit entwickelte Bedeutung wurde auch zu arbeitsrechtlichen Richtlinien übernommen,126 obwohl der Regelungskontext auch hier je verschieden ist. Der EuGH versteht den Arbeitnehmerbegriff als typologischen, bei dem es im Wesentlichen auf die persönliche Unterordnung und nicht auf die wirtschaftliche Abhängigkeit ankommt. Dies entspricht dem Verständnis der meisten Mitgliedstaaten;127 bemerkenswert ist, dass der EuGH hier die übliche Orientierung am effet utile vermeidet. Die spätere Judikatur hat den Begriff nur wenig konkretisiert. Das Urteil Allonby sagt zwar, charakteristisch sei, dass die „Freiheit bei der Wahl von Zeit, Ort und Inhalt ihrer Arbeit“ eingeschränkt ist.128 Selbst diese Präzisierung wird später kaum aufgegriffen. Überraschend kam das Urteil Danosa (zur Mutterschutz-RL) zur Geschäftsführerin einer Kapitalgesellschaft. Es „bereicherte“ den Arbeitnehmerbegriff mit Elementen, die mit den traditionellen wenig zu tun haben,129 und die – bei allgemeiner Anwendung – zu einer beträchtlichen Änderung und Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffes führen würden. Das Ergebnis, die Anwendung der Mutterschutz-RL, überzeugt, wäre aber besser mit Analogie zu bewerkstelligen gewesen. Im Übrigen darf man sich etwas mehr Anstrengung bei der Konkretisierung des Arbeitnehmerbegriffes erwarten.

8. Rechtsfortbildung 49 Auch wenn man die Grenze von Auslegung und Rechtsfortbildung weit hinausschiebt,130 ist es

leicht, zum Primärrecht Beispiele für eine Rechtsfortbildung durch den EuGH zu finden (nächste

_____ 124 Zuerst EuGH v. 3.7.1986 – Rs. 66/85 Lawrie-Blum, Slg. 1986, 2121 Rn. 16 f. Vgl. Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 153 AEUV Rn. 3 ff.; Rebhahn, EuZA 2012, 3 ff. 125 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, Slg. 2004, I-873 Rn. 62 ff. 126 Z.B. EuGH v. 20.9.2007 – Rs. C-116/06 Kiiski, Slg. 2007, I-7643 Rn. 25. 127 Vgl. z.B. Rebhahn, RdA 2009, S. 154 ff. 128 EuGH v. 13.1.2004 – Rs. C-256/01 Allonby, Slg. 2004, I-873 Rn. 67. 129 EuGH v. 11.11.2010 – Rs. C-232/09 Danosa, Slg. 2010, I-11405 Rn. 46 ff.: Möglichkeit des Vertragspartners, den Vertrag zu beenden; nicht näher definierte Integration; Pflicht, dem Aufsichtsrat Rechenschaft zu geben und mit diesem zusammenzuarbeiten; hingegen kein Abstellen auf Fremdbestimmung bei Zeit und Ort der Arbeit. Offen ist, ob das Urteil als Vorentscheidung für andere Richtlinien angesehen wird. 130 Vgl. zur Grenze z.B. Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 277 ff., der die Grenze eher spät zieht; sowie auch Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB, Nach §§ 6 und 7 Rn. 22 ff.

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Rn). Zum reinen Sekundärrecht sind hingegen jedenfalls im Bereich des Arbeitsrechts Fälle rar, in denen klar Rechtsfortbildung vorliegt. Gelegentlich sagt der EuGH, dass eine Fortentwicklung der Unionsgesetzgebung vorbehalten sei.131

III. Auslegung des Primärrechts 1. Allgemeines Die Ausführungen zum Primärrecht sind nicht anhand der Argumentationsmittel gegliedert, 50 sondern nach Themenbereichen, weil die Argumentation des EuGH in den hier relevanten Fragen sich nur selten an jenen Argumentationsmitteln orientiert. Der EuGH hat entscheidende Schritte zur Fortentwicklung des Rechts anhand arbeitsrechtlicher Fälle getan, die man nur mehr als Rechtsfortbildung einordnen kann. 1976 hat das Urteil Defrenne II zum Verbot der Entgeltdiskriminierung (Art. 119 EWG) die unmittelbare Anwendung zwischen Privaten bejaht.132 Begründet wurde dies vergleichsweise wenig und nur mit Argumenten, welche die Mitgliedstaaten betreffen; auf die Pflichten, die sich daraus für Private ergeben, geht das Urteil nicht ein. Das Urteil hat sich klar von der historischen Motivation der Norm (Wettbewerbspolitik) gelöst und diese zuerst als sozialpolitische, wenig später als menschenrechtliche Norm verstanden.133 Zur mittelbaren Diskriminierung verweist das Urteil Defrenne II noch auf nationale Vorschriften. 1981 wurde das Verbot der mittelbaren Diskriminierung aber als unmittelbar anwendbar angesehen, ohne Anhaltspunkt im Normtext oder vertiefte, ausreichende Begründung.134 1986 wurde für die Gleichbehandlungsrichtlinie erstmals die unmittelbare Anwendung von Richtlinien gegenüber dem Staat bejaht.135 Ebenfalls 1986 wurde gesagt, dass eine mittelbare Diskriminierung nur zulässig ist, wenn die vom Arbeitgeber „gewählten Mittel einem wirklichen Bedürfnis des Unternehmens dienen und für die Erreichung dieses Ziels geeignet und erforderlich sind.“136 Damit hat der EuGH den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in das Arbeitsverhältnis eingeführt. Er hatte dafür zwar Vorbilder bei den Grundfreiheiten, die Geltung des Grundsatzes zulasten Privater ist aber eine andere Dimension. 1991 hat das Urteil Francovich anhand der Insolvenzschutzrichtlinie die Haftung der Mitgliedstaaten für eine fehlerhafte Ausführung von Richtlinien begründet.137 Im Urteil Viking bejaht der EuGH eine Bindung auch der Gewerkschaften an die Grundfreiheiten, so wie er bereits für andere Fälle eine Bindung Privater bejaht hat. Allerdings wird auch die Bindung Privater nicht wirklich begründet. In all diesen Entscheidungen begnügt sich der EuGH offenbar zum wesentlichen Punkt letztlich mit der folgenden Aussage: Es soll so sein, weil wir es so wollen. Am Wortlaut des Primärrechts – zu Recht – festgehalten wurde mit der Auffassung, dass 51 Richtlinien nicht selbst Verpflichtungen für Private begründen, selbst wenn die Bestimmung

_____ 131 Z.B. EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-456/06 Peek & Cloppenburg, Slg. 2008 I-2731 Rn. 38 f. 132 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff. 133 EuGH v. 8.4.1976 – Rs. 43/75 Defrenne II, Slg. 1976, 455 Rn. 8 ff., dort Sozialpolitik; EuGH v. 15.6.1978 – Rs. 149/77 Defrenne III, Slg. 1978, 1365 Rn. 27, dort Menschenrecht. Vgl. auch EuGH v. 10.2.2000 – verb. Rs. C-270/97 und C-271/97 Sievers und Schrage, Slg. 2000, I-929 Rn. 53 ff. 134 EuGH v. 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins, Slg. 1981, 911 Rn. 17f.; vgl. auch EuGH v. 27.3.1980 – Rs. 129/79 Macarthys, Slg. 1980, 1275; EuGH v. 11.3.1981 – Rs. 69/80 Worringham, Slg. 1981, 767. 135 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723 Rn. 48f. 136 EuGH v. 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, Slg. 1986, 1607 Rn. 36. 137 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich, Slg. 1991, I-5357. Rechtsfortbildend war, dass nationale Parlamente als Vollzugsorgane angesehen werden.

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dem Einzelnen klar und unbedingt Rechte gewähren will.138 Abeitnehmer privater Arbeitgeber können sich daher nicht auf eine Richtlinie berufen. Sehr wohl in Betracht kommt die unmittelbare Anwendung im Verhältnis zum Staat als Arbeitgeber.139 Für die Zurechnung einer juristischen Person zum Staat hat der EuGH eine weite Formel entwickelt, die in vielen Fällen keine klaren Schlüsse erlaubt.140 Sie wurde wohl nach reinen Zwecküberlegungen gebildet; eine methodische Begründung ist nicht ersichtlich. Das Nebeneinander der beiden Regeln führt im Arbeitsrecht zu unerfreulichen Diskrepanzen. Arbeitnehmer der Privatwirtschaft sehen darin eine (zusätzliche) Bevorzugung der Staatsbediensteten, obwohl die dogmatische Begründung gerade den Staat belasten will. Die Partialsicht, das Unionsrecht möglichst durchzusetzen, verdeckt den Blick auf die dadurch ausgelöste Verletzung des Gleichheitssatzes. Die Kompetenz aufgrund Art. 153 AEUV gilt nach dessen Abs. 5 nicht für das Arbeitsentgelt. 52 Fraglich ist, wie weit dieser Ausschluss reicht. Im Urteil Alonso war fraglich, ob die BefristungsRL auch die Diskriminierung beim Entgelt verbieten darf. Anders als der Generalanwalt und manche Mitgliedstaaten hat der EuGH die Kompetenz bejaht. Andernfalls würden einige Kompetenzen des Art. 153 AEUV selbst „ihrer Substanz beraubt werden“,141 womit wohl Ähnliches gesagt werden soll wie mit dem effet utile. Die Regelungssperre betreffe also nur die Festlegung der Entgelthöhe, nicht auch die Auswirkungen anderer Regelungen auf das Entgelt oder die Inpflichtnahme von Entgeltfragen für andere Regelungsziele.

2. Grundfreiheiten und Arbeitsrecht 53 Arbeitsrechtliche Gesetze können die Dienst- oder die Niederlassungsfreiheit jedenfalls faktisch

beeinträchtigen. Die Beeinträchtigung ist nur zulässig, wenn sie durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ gerechtfertigt ist und für die Erreichung des Zieles geeignet und erforderlich ist“. Der Schutz der Arbeitnehmer wird zwar häufig als „zwingendes Allgemeininteresse“ (an-)erkannt,142 die genaue Bedeutung dieses Rechtfertigungsgrundes ist hingegen noch nicht geklärt – auch weil die Urteile sich meist nicht näher dazu erklären. Relevant ist das Spannungsfeld v.a. bei Entsendungen und bei kollektiven Maßnahmen. Die Rechtslage dazu ist auch wegen der methodischen Mängel der Urteile problematisch (Rn. 55 f.). Im Übrigen hat der EuGH die Frage, ob Unterschiede in den Arbeitsrechtsordnungen der Mitgliedstaaten, etwa beim Kündigungsschutz, die Grundfreiheiten beeinträchtigen, noch nie aufgegriffen. Dies ist zwar im Ergebnis überzeugend, weil die Verträge offenkundig mit den Unterschieden rechnen. Die Beurteilung ist aber doch weit großzügiger als die üblichen Formeln („weniger attraktiv macht“) nahelegen, und wäre daher näher zu begründen. Zuweilen wurde vorgetragen, dass arbeitsrechtliche Vorschriften, welche die Betriebstreue belohnen, die Freizügigkeit behindern. Der

_____ 138 Vgl. z.B. EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 42; EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 36; sowie Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. 139 So z.B. zur Gleichbehandlungsrichtlinie EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall I, Slg. 1986, 723 Rn. 46 ff.; EuGH v. 12.7.1990 – Rs. C-188/89 Foster, Slg. 1990, I-3313; EuGH v. 2.8.1993 – Rs. C-271/91 Marshall II, Slg.1993, I-4367 Rn. 21; EuGH v. 20.3.2003 – Rs. C-187/00 Kutz-Bauer, Slg. 2003, I-2741 Rn. 71. 140 Z.B. EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-253/96 Kampelmann, Slg. 1997, I-6907 Rn. 46; EuGH v. 5.2.2004 – Rs. C-57/02 Rieser Internationale Transporte, Slg. 2004, I-1477 Rn. 24. 141 EuGH v. 13.9.2007 – Rs. C-307/05 Del Cerro Alonso, Slg. 2007, I-7109 Rn. 31 ff. Vgl. auch EuGH v. 10.6.2010 – verb. Rs. C-395/08 und C-395/06 INPS ./. Bruno und Pettini, Slg. 2010, I-5119 Rn. 35 ff. 142 Vgl. z.B. EuGH v. 23.11.1999 – Rs. C-369/96 Arblade, Slg. 1999, I-8453 Rn. 36; EuGH v. 15.3.2001 – Rs. C-165/98 Mazzoleni, Slg. 2001, I-2189 Rn. 27 ff.; EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte, Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f.; Schwarze-Rebhahn/Reiner, Art. 151 AEUV Rn. 17.

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EuGH hat hier den Eigenwert der arbeitsrechtlichen Vorschriften berücksichtigt.143 Allerdings greift die Rechtfertigung mit Betriebstreue aufgrund zweckbezogener Betrachtung nur, wenn es auf Arbeitszeiten bei demselben Arbeitgeber ankommt.144 Die Effektivität arbeitsrechtlicher Gesetze hängt davon ab, dass sie auf alle Fälle unselbst- 54 ständiger Beschäftigung Anwendung finden, also Schwarzarbeit und Scheinselbständigkeit vermieden werden. Da die Arbeitenden selbst oft nicht in der Lage oder willens sind, ihre Rechte einzufordern, ist in manchen Fällen eine staatliche Kontrolle sinnvoll und erforderlich. Der EuGH sieht einschlägige Maßnahmen aber als Beeinträchtigung der Niederlassungs- oder Dienstleistungsfreiheit und setzt die Hürden für eine Rechtfertigung so hoch an, dass effektive Maßnahmen kaum möglich sind.145 Methodisch ist an diesen Urteilen zu kritisieren, dass sie die sonst hochgehaltene Forderung nach praktischer Wirksamkeit des Unionsrechts in Bezug auf die arbeitsrechtlichen Richtlinien nicht in die Überlegungen einbeziehen. Auch die nun in den Art. 27 ff. GRCh enthaltene Wertung, dass diese Gewährleistungen effektiv werden sollen, bleibt unberücksichtigt. Die Urteile schöpfen die relevanten Argumente nicht aus, die Grundfreiheiten werden den Grundrechten vorgeordnet. Entsendungen von Arbeitnehmern fallen laut EuGH allein unter die Dienstleistungsfreiheit. 55 Fraglich ist dann, welche Arbeitnehmer der Arbeitsstaat schützen darf – nur die Entsendeten oder auch die „eigenen“. Das Urteil Finalarte hat erstmals deutlich gesagt, das vorlegende Gericht müsse „prüfen, ob die Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer fördert.“ Es lehnt zwar den Schutz der inländischen Arbeitnehmer als Rechtfertigungsgrund nicht ausdrücklich ab, sagt aber, dass Beschränkungen nicht durch den Schutz der inländischen Unternehmen gerechtfertigt werden können.146 Die inländischen Arbeitnehmer werden so zu unselbständigen Bestandteilen ihrer Arbeitgeber. Erst 2005 hat der EuGH klar zum Ausdruck gebracht, dass es (nur) um den Schutz der Entsendeten geht.147 Allerdings lässt der EuGH es ausreichen, wenn das nationale Recht die entsendeten Arbeitnehmer faktisch schützt, etwa durch einen Mindestlohn, auch wenn dies die Entsendung weniger wahrscheinlich macht.148 Wenig später hat das Urteil Laval hingegen gesagt, dass auch im „Schutz der Arbeitnehmer des Aufnahmemitgliedstaats gegen ein etwaiges Sozialdumping“ ein zwingender Grund des Allgemeininteresses liegen kann, allerdings (nur) für kollektive Maßnahmen, die „Sozialdumping“ abwehren wollen. Das Urteil zitiert dazu einige frühere Urteile, in denen von Sozialdumping (oder von kollektiven Maßnahmen) aber keine Rede war, und die als Rechtfertigung eher nur den Schutz der Interessen der Entsendeten ansahen. Auch nach dem Urteil Laval ist der Schutz der nationalen Arbeitsrechtsordnung des Arbeitsortes aber kein legitimes Ziel. Fraglich ist überdies, inwieweit das Vorschreiben von Arbeitsbedingungen des Arbeitsstaates mit dem Schutz des fairen Wettbewerbes zwischen inländischen und entsendenden Unternehmen gerechtfertigt werden kann. 2004 hat der EuGH dies akzeptiert.149 Das Urteil Laval hingegen sagt

_____ 143 Insbes. EuGH v. 27.1.2000 – Rs. C-190/98 Graf, Slg. 2000, I-493 Rn. 24 f. 144 EuGH v. 5.12.2013 – Rs. C-514/12 Zentralbetriebsrat der Salzburger Landeskliniken, Rn. 38 ff. 145 Z.B. EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-577/10 Kommission ./. Belgien, Rn. 45 ff. Das Urteil akzeptiert zwar die Ziele der Regelung und sieht besondere Meldepflichten nur für Dienstleister aus anderen Mitgliedstaaten nicht als diskriminierend an, verneint aber die Verhältnismäßigkeit. 146 EuGH v. 25.10.2001 – Rs. C-49/98 Finalarte u.a., Slg. 2001, I-7831 Rn. 39 f. 147 EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2005, I-2733 Rn. 24; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, Slg. 2007, I-11767 Rn. 57. Die dort dafür in Bezug genommenen früheren Urteile sagen gerade nicht ausdrücklich, dass es nur um die Entsendeten geht. 148 EuGH v. 24.1.2002 – Rs. C-164/99 Portugaia Construções, Slg. 2002, I-787. 149 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-60/03 Wolff & Müller, Slg. 2004, I-9553 Rn. 41. Vgl. auch EuGH v. 14.4.2005 – Rs. C-341/02 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2005, I-2733. Rebhahn

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ohne weitere Begründung, dies sei kein tauglicher Rechtfertigungsgrund.150 Der geschilderte Umgang mit Vorjudikatur ist in beiden Fällen – großzügige „Verwertung“ wie schlichtes Verschweigen – methodisch verfehlt. Der methodische Grundfehler der Judikatur zu Entsendungen liegt aber darin, dass der EuGH die Stellung der Entsendung zwischen Dienstleistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit auch bei langfristiger Entsendung nicht releviert, also von den potentiell relevanten Bestimmungen nur eine beachtet. Zur Arbeitnehmerfreizügigkeit wäre hingegen relevant geworden, dass die in Art. 45 Abs. 3 AEUV ausgesprochene Pflicht, die „freizügigen“ Arbeitnehmer bei den Arbeitsbedingungen mit den heimischen Arbeitnehmer gleich zu behandeln, jedenfalls nach einem alten Urteil auch dem Schutz der inländischen Arbeitnehmer dient.151 Die beiden ersten Urteile, welche die Zuordnung von Entsendungen allein zur Dienstleistungsfreiheit aussprachen, haben das Verhältnis zur Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht problematisiert, dafür aber – vielleicht als „Ausgleich“ – noch gesagt, dass „das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, ihre Rechtsvorschriften oder die … geschlossenen Tarifverträge unabhängig davon, in welchem Land der Arbeitgeber ansässig ist, auf alle Personen auszudehnen, die in ihrem Hoheitsgebiet, und sei es auch nur vorübergehend, eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausüben.“152 Dies ist irgendwann „in Vergessenheit geraten“. Auch das Verständnis von „Mindestlohnsätze“ (Art. 3 Entsende-RL 96/71/EG) wird nur am Zweck ausgerichtet, die Dienstleistungsfreiheit nicht zu behindern.153 56 Die Urteile Viking und Laval sagen, dass die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit durch Streik und Boykott, welche Niederlassung oder Dienstleistung weniger attraktiv machen, beeinträchtigt werden, und nur nach allgemeinen Regeln gerechtfertigt werden können.154 Die Anerkennung eines unionsrechtlichen Grundrechts auf kollektive Maßnahmen, mit dem die Urteile anheben, hat bei der Rechtfertigung aber keine erkennbaren Folgen. Dies ist methodisch an sich und in Bezug auf das Verhältnis von Grundfreiheit und Grundrecht mehr als unbefriedigend. Ferner werden die möglichen alternativen Lösungen nicht wirklich diskutiert. Auch der für die Praxis entscheidende Faktor, nämlich das Verständnis von Verhältnismäßigkeit, bleibt weitgehend im Dunkeln.155 Die Regelung von Streik und Boykott wird traditionell jedenfalls „auch“ als Frage des Arbeitsrechts angesehen. Der EuGH betrachtet sie hingegen überwiegend im Kontext der Grundfreiheiten und kommt weitgehend ohne typische arbeitsrechtliche Überlegungen aus. In der Sache geht es um das Grundproblem, dass das Unionsrecht nur eine Teilrechtsordnung ist, die sich lange auf wirtschaftliche Fragen konzentrierte.156

3. Grundrechte 57 Schon vor Inkrafttreten der GRCh hat der EuGH zum Arbeitsrecht zuweilen mit Grundrechten

argumentiert, die er als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts erkannte. Insbesondere hat er Diskriminierungsverbote als solche Grundsätze gesehen (dazu Rn. 63 ff.). Andere Grund-

_____ 150 EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, Slg. 2007, I-11767 Rn. 118 f. Gleichzeitig akzeptiert das Urteil in Rn. 74 f. diese Zielsetzung aber bei der Entsende-Richtlinie. 151 EuGH v. 4.4.1974 – Rs. 167/73 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1974, 359. 152 EuGH v. 3.2.1982 – verb. Rs. 62/81 und 63/81 Seco, Slg. 1982, 223 Rn. 14; EuGH v. 27.3.1990 – Rs. C-113/89 Rush Portuguesa, Slg. 1990, I-1417 Rn. 18. 153 EuGH v. 7.11.2013 – Rs. C-522/12 Isbir, Rn. 38 ff. 154 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, Slg. 2007, I-11767. Vgl. z.B. von Danwitz, EuZA 2010, 6 ff.; Rebhahn, ZESAR 2008, 109 ff. 155 Vgl. dazu z.B. Bercusson, European Labour Law, S. 670 ff. 156 Vgl. dazu z.B. Rödl, Arbeitsverfassung, S. 855 ff. Rebhahn

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rechte der einzelnen Arbeitnehmer wurden vor Inkrafttreten der GRCh nur selten anerkannt bzw. relevant. Zu nennen ist das Urteil Katsikas zur Frage, ob das Arbeitsverhältnis bei Betriebsübergang auch dann übergehe, wenn der Arbeitnehmer dem Übergang ausdrücklich widerspricht. Frühere Entscheidungen waren dahin interpretiert worden, dass ein Widerspruch unbeachtlich sei. 1992 sagte der EuGH, dass er derartiges nie gesagt habe, und lässt den Widerspruch ausdrücklich zu, auch weil eine Verpflichtung der Arbeitnehmer, gegen ihren Willen beim Erwerber zu arbeiten, gegen Grundrechte des Arbeitnehmers verstieße.157 Allerdings überlässt das Urteil die Regelung des Widerspruchs dem nationalen Recht, das auch bloß die Beendigung durch den Arbeitnehmer vorsehen dürfe. Die GRCh enthält insbesondere in den Art. 30 bis 33 „Rechte“ der einzelnen Arbeitnehmer. 58 Dazu gibt es bislang nur wenig Urteile. Der EuGH weist zu Urlaubsfragen (Rn. 39) zwar wiederholt auf Art. 31 Abs. 2 GRCh hin, dies hat aber bislang keine erkennbaren Auswirkungen auf den Inhalt der Entscheidung. Auffallend ist, dass diese Bestimmung nicht zitiert wurde, als es um die Wirkung der Richtlinienbestimmung zum Urlaub zwischen Privaten ging; man wollte so wohl eine Stellungnahme dazu (vgl. Rn. 62) vermeiden. Nicht ausdrücklich releviert hat der EuGH die grundrechtliche Kollisionslage zur Frage, inwieweit der Beklagte bei Klagen wegen Diskriminierung bei der Einstellung die Daten anderer Bewerber offenzulegen hat; hier steht das Interesse der Dritten (Art 8 GRCh) dem Interesse der Diskriminierungskläger (Art 21 GRCh) gegenüber.158 Die Vereinigungsfreiheit wurde erstmals im Urteil Bosman als Gemeinschaftsgrundrecht an- 59 erkannt.159 Allerdings ging die Arbeitnehmerfreizügigkeit vor. Auch die Tarifautonomie wurde in einigen Verfahren an sich anerkannt. Dies hatte aber ebenso wie nun Art. 28 GRCh bislang keine erkennbare Auswirkung auf die Anwendung des Unionsrechts (vgl. Rn. 22).160 Klar zu Tage trat die Frage nach Tarifautonomie zum ersten Mal im Urteil Albany. Es ging um die Anwendbarkeit des Kartellverbotes (Art. 101 AEUV) auf Tarifverträge.161 Generalanwalt Jacobs hat die Frage nach einem Grundrecht verneint. Der EuGH hat diese Frage offengelassen und aufgrund systematischer und teleologischer Überlegungen entschieden, dass Tarifverträge, die der Verbesserung von Arbeitsbedingungen dienen, nicht unter das Kartellverbot fallen. Das Urteil ist ein deutliches Beispiel für systematische Interpretation. Es konzentriert seine Überlegungen aber auf das Allernotwendigste. Das Urteil Werhof aus 2006 argumentiert zu Art. 3 Betriebsübergangs-RL mit dem Grundrecht des Arbeitgebers auf negative Koalitionsfreiheit.162 Es lehnt auch deshalb die Bindung des Erwerbers an den bisher anwendbaren Tarifvertrag in dessen jeweiliger Fassung (dynamische Übernahme) ab. Die Bezugnahme auf ein Grundrecht war wohl nicht notwendig, ist zu kursorisch begründet und unterscheidet nicht ausreichend zwischen der Anordnung einer dynamischen Verweisung durch Gesetz, durch Vertrag oder durch ergänzende Auslegung. Mit der unternehmerischen Freiheit des Arbeitgebers (Art. 16 GRCh) hat zum Arbeitsrecht 60 erstmals das Urteil Alemo-Herron aus 2013 zur Betriebsübergangs-RL argumentiert.163 Fraglich war, ob der Übernehmer an eine Vertragsklausel des Arbeitsvertrages gebunden ist, die auf den für den Übergeber anwendbaren Kollektivvertrag in dessen jeweiliger Fassung verweist. Das

_____ 157 EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-132/91 Katsikas, Slg. 1992, I-6577. 158 EuGH v. 19.4.2012 – Rs. C-415/10 Meister geht auf den grundrechtlichen Schutz der Dritten nicht ein, während EuGH v. 21.7.2011 – Rs. C-104/10 Kelly, Slg. 2011, I-6813 Rn. 55 Art. 8 GRC zumindest erwähnt hat. 159 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 79. 160 Vgl. z.B. EuGH v. 7.2.1991 – Rs. C-184/89 Nimz, Slg. 1991, I-297 Rn. 11; EuGH v. 21.10.1999 – Rs. C-333/97 Lewen, Slg. 1999, I-7243 Rn. 26; EuGH v. 28.10.1999 – Rs. C-187/98 Kommission ./. Griechenland, Slg. 1999, I-7713 Rn. 46, alle zu Art. 141 EGV. Ferner z.B. EuGH v. 30.1.1985 – Rs. 143/83 Kommission ./. Dänemark, Slg. 1985, 427 Rn. 8. 161 EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-67/96 Albany, Slg. 1999, I-5751. 162 EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 33 ff. 163 EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 Alemo-Herron, Rn. 31 ff. Rebhahn

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Urteil sagt nicht nur, dass die Betriebsübergangs-RL die Bindung nicht verlangt (primärrechtskonforme Auslegung), sondern auch, dass der Mitgliedstaat diese Bindung aufgrund Art. 16 GRCh nicht anordnen darf. Das Urteil ist insbesondere zur Ableitung aus der GRCh unzulänglich begründet, u.a. weil es die Vertragsfreiheit des Arbeitnehmers nicht bedenkt und die Bedeutung des Verweises in Art. 16 GRCh auf das Recht von Union und Mitgliedstaaten nicht anspricht. Die Ausführungen zu Art. 16 GRCh fallen im Vergleich zu jenen im Urteil Sky Österreich beträchtlich ab.164 Die Urteile Viking und Laval haben erstmals gesagt, das Recht auf Durchführung einer kol61 lektiven Maßnahme sei ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts.165 Der EuGH hätte dieses Grundrecht – allerdings nur in Bezug auf Streiks um eigene Arbeitsbedingungen, nicht Boykott – überzeugend aus der gemeinsamen Verfassungstradition und allenfalls aus der (noch nicht verbindlichen) GRCh ableiten können. Er hat hingegen ein Amalgam aus Hinweisen benutzt, das methodisch fragwürdig ist.166 Das neu „entdeckte“ Grundrecht hatte aber keine Bedeutung für die Rechtfertigung der kollektiven Maßnahmen vor der Grundfreiheit (vgl. Rn. 56). Dies ist kein methodisch sinnvoller Umgang mit einem Grundrecht. 62 Zur Privatwirkung der Grundrechte hat der EuGH erst 2014 ausdrücklich Stellung genommen, und zwar zu Art. 27 GRCh (Anhörung der Arbeitnehmer, geregelt auch in RL 2002/14/EG). Es ging („nur“) um die Frage, ob der Private verlangen kann, dass die ihn benachteiligende (nicht richtlinienkonforme) nationale Norm unangewendet bleibt. Das Urteil hat nicht gleich eine allgemeine „Formel“ entwickelt. Die Privatwirkung des Art. 27 GRCh wurde abgelehnt. „Aus dessen Wortlaut gehe klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.“ Anders als beim Verbot der Altersdiskriminierung (Rn. 67) lasse sich die Privatwirkung hier auch nicht auf das Grundrecht in Verbindung mit der Richtlinie stützen, weil sich die (an sich hinreichend bestimmte) Bestimmung der Richtlinie „als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art. 27 noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten“ lässt.167 Diese Argumentation ist zwar (zu) knapp, aber dennoch gut nachvollziehbar. Die Formulierung des Urteils lässt wohl offen, ob das Erfordernis der Konkretisierung allein aus der Formulierung des Verweises in Art. 27 GRCh auf Recht von Union und Mitgliedstaaten folgt oder auch/nur aus dem sonstigen Inhalt des Art. 27 GRCh. Dies ist für andere Bestimmungen der GRCh wesentlich, in denen der Verweis anders formuliert ist (z.B. Art. 30) oder fehlt.

4. Diskriminierungsverbote 63 Die Vorschriften gegen Diskriminierung nahmen ihren Ausgang vom Primärrecht (Art. 119 EWG),

wurden über Jahrzehnte durch zahlreiche Richtlinien vertieft und ab 2000 ausgeweitet, um insbesondere ab 2005 wieder im Primärrecht (GRCh und Unionsrechtsgrundsätze; Rn. 67) neue Impulse zu erhalten. Aufgrund der inzwischen erreichten Dichte der Regelungen kann man hier – anders als in vielen anderen Bereichen – bereits von einem unionsrechtlich geordneten Teilgebiet sprechen (das allerdings nun über das Arbeitsrecht hinausgreift). Das Zusammenwirken der beiden Regelungsebenen führte und führt zu interessanten methodischen Problemen. Insbesondere ging und geht es um die Voraussetzungen eines unmittelbar wirkenden Verbotes – früher

_____ 164 EuGH v. 22.1.2013 – Rs. C-283/11 Sky Österreich, Rn. 30 ff. 165 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-438/05 Viking, Slg. 2007, I-10779 Rn. 43 f.; EuGH v. 18.12.2007 – Rs. C-341/05 Laval, Slg. 2007, I-11767 Rn. 90 f. 166 Vgl. z.B. Rebhahn, ZESAR 2008, 109 ff. (111). 167 EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 44 ff. Rebhahn

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wegen der Abgrenzung von Entgelt und sonstigen Arbeitsbedingungen, heute anhand der Reichweite der Primärrechtsnormen. Früher hat der EuGH zum Verbot der Geschlechtsdiskriminierung häufig jene Interpretation gewählt, die das Verbot am weitesten ausdehnte. Für die letzten Jahre lässt sich dies so wohl nicht mehr sagen. Beleg dafür ist die Judikatur zur vergleichbaren Lage, zur gemeinsamen Quelle der Regelung sowie zur Altersdiskriminierung (vgl. Rn. 64– 66). Eine allgemeine Frage, die hier nur aufgeworfen werden kann und die sich insbesondere zu Diskriminierungsverboten stellt, ist, ob die Judikatur des EuGH insgesamt jenen Anforderungen an die Kohärenz einer Regelung entspricht, die der EuGH – zunehmend intensiv – an Regelungen der Mitgliedstaaten stellt. Diskriminierungsverbote gelten nur, wenn sich die Arbeitnehmer in vergleichbarer Lage be- 64 finden. Bei direkter Benachteiligung aufgrund eines missbilligten Kriteriums lässt sich mit der These, es liege keine vergleichbare Lage vor, die Unzulässigkeit vermeiden. Der EuGH verwendet die These zunehmend. Paradigmatisch ist das Urteil Hlozek zu Sozialplanzahlungen.168 Generalanwältin Kokott hat begründet dargetan, dass die Lagen vergleichbar sind. Der EuGH hat mit drei Absätzen anders befunden, ohne sich mit dem Schlussantrag auseinanderzusetzen. Die These verlagert die Entscheidung von der Rechtfertigung zum Tatbestand, was die Diskussion zuweilen erschwert. Es wäre methodisch besser, bei unmittelbarer Diskriminierung auch dort eine Rechtfertigung potentiell zuzulassen, wo das Sekundärrecht dies nicht vorsieht, und diese dafür streng zu handhaben. Als – überzeugende – Konkretisierung der vergleichbaren Lage kann man den Satz sehen, dass ein Diskriminierungsverbot nur für Regelungen anwendbar ist, die von derselben Quelle stammen.169 Dies erlaubt auch unterschiedliche Marktergebnisse auf unterschiedlichen Teilmärkten; dies wiederum berücksichtigt systematische und teleologische Aspekte bei der Anwendung des Verbotes. Die Argumentation mit der nicht vergleichbaren Lage findet sich zunehmend auch zu Diskriminierungsverboten des Sekundärrechts. So sagt das Urteil Wippel zu § 4 Teilzeit-RL 97/81/EG, die Lage von Teilzeitbeschäftigten, die ohne vorangehende Pflicht auf Abruf arbeiten, sei nicht an diesem Verbot zu messen, weil es im Unternehmen keine Vollzeitbeschäftigten mit Arbeit auf Abruf ohne vorangehende Leistungspflicht gegeben hat.170 Zu § 4 Befristungs-RL 1999/70/EG wurde gesagt, dass Arbeitnehmer mit unzulässiger Befristung und jene, deren unbefristetes Arbeitsverhältnis rechtswidrig aufgelöst wurde, sich in Bezug auf die Entschädigung nicht in vergleichbarer Lage befinden, sodass eine geringere Entschädigung im ersten Fall das Diskriminierungsverbot nicht verletzt.171 Die extensive Interpretation des Verbotes der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts 65 zeigte sich etwa beim Verständnis des Begriffs Entgelt in Art. 119 EG, nun Art. 157 AEUV. Der EuGH schließt jede Zuwendung ein, die ihre Ursache im Arbeitsverhältnis hat, unabhängig von der Einordnung im nationalen Recht.172 Die weite Auslegung kann sich auf den Wortlaut stützen, der schon immer „aufgrund des Dienstverhältnisses“ sagte. Überdies führt der EuGH für die weite Auslegung wiederholt den Zweck an. Bis heute nicht gelungen ist es dem EuGH allerdings, den für die Entgeltgleichheit zentralen Begriff der gleichen oder gleichwertigen Arbeit so zu deuten, dass er operationalisierbar ist.173 Vielleicht liegt dies an den Schwierigkeiten der Sache und der Scheu, zu tief in den Marktprozess einzugreifen. In beiden Fällen passt die mitunter exten-

_____ 168 EuGH v. 9.12.2004 – Rs. C-19/02 Hlozek, Slg. 2004, I-11491 Rn. 44 ff. 169 EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-320/00 Lawrence, Slg. 2002, I-7325 Rn. 18. 170 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-313/02 Wippel, Slg. 2004, I-9483 Rn. 52 ff. 171 EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-361/12 Carratù, Rn. 44 f. 172 Vgl. z.B. zur Fortbildung teilzeitbeschäftigter Betriebsratsmitglieder EuGH v. 4.6.1992 – Rs. C-360/90 Bötel, Slg. 1992, I-3589 und EuGH v. 6.2.1996 – Rs. C-457/93 Lewark, Slg. 1996, I-243. Jüngst EuGH v. 6.12.2012 – verb. Rs. C-124/11, C-125/11 und C-143/11 Dittrich u.a., Rn. 35 ff. zur „Beihilfe“ an deutsche Beamte (Krankenbehandlung). 173 EuGH v. 28.2.2013 – Rs. C-427/11 Kenny, Rn. 36 ff. Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

sive Interpretation zu anderen Fragen der Diskriminierung methodisch schlecht zu dieser Zurückhaltung. In den letzten Jahren steht das Verbot der Altersdiskriminierung im Vordergrund der Judika66 tur. Viele der Urteile dazu sind auch methodisch überzeugend. Die entscheidenden Fragen betreffen meist die Verhältnismäßigkeit der Benachteiligung. Praktisch besonders wichtig ist die Zulässigkeit von Regelungen, die dem Arbeitgeber erlauben, das Arbeitsverhältnis bei Erreichen einer Altersgrenze zu beenden, oder die diese Beendigung selbst vorsehen. Fraglich ist, ob sie nach Art. 6 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2000/78 gerechtfertigt werden können. Diese Bestimmung räumt dem EuGH ein beträchtliches Ermessen ein. Der EuGH hält die genannten Regelungen – auch in Anbetracht des Art. 15 Abs. 1 GRCh (Recht zu arbeiten) – für nicht diskriminierend, wenn die Altersgrenze nicht unter dem Zugangsalter zur allgemeinen Altersrente liegt, wobei die Grenze konkret beim 65. bzw. 67. Lebensjahr lag.174 67 Das Urteil Mangold hat 2005 gesagt, dass ein ungeschriebener allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts die Diskriminierung aufgrund des Alters verbietet, auch zwischen Privaten.175 Dies überraschte, wurde die Einführung dieses Verbots eben erst als große Neuerung gesehen. Das Urteil liest das Verbot ohne Begründung in völkerrechtliche Verträge und eine angebliche gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten hinein.176 Methodisch fraglich und fragwürdig ist v.a., wie aus dem Gleichheitssatz ein strengeres Diskriminierungsverbot folgen soll (zumal die GRCh schon damals beide nebeneinander nannte). Auch das Urteil Kücükdeveci klärt diese Frage nicht, sondern begnügt sich – methodisch ungenügend – mit nur einem Satz.177 Manche vertraten, mit dem Urteil Mangold habe der EuGH seine Kompetenzen überschritten; methodisch ist dazu zuweilen fraglich, ob diese Bewertung zum Unionsrecht oder zum nationalen Verfassungsrecht erfolgt.

5. Primärrechtskonforme Interpretation 68 Die Regel, wonach abgeleitetes Gemeinschaftsrecht primärrechtskonform auszulegen ist, wird

auch in arbeitsrechtlichen Urteilen zum Ausdruck gebracht.178 Allerdings prüft der EuGH bislang kaum von sich aus, ob (sein Verständnis von) Sekundärrecht mit Primärrecht vereinbar ist. Der Gedanke der rechtskonformen Interpretation erfordert es auch, Sekundärrecht im Zweifel so auszulegen, dass die Grenze der in Anspruch genommenen Kompetenz der Union nicht überschritten wird. Allerdings kommt diese Überlegung in der Judikatur soweit zu sehen kaum vor, wohl auch weil der EuGH die Kompetenzen der Union stets extensiv versteht. Eine Ausnahme stammt aus der Zeit vor Einführung der sozialpolitischen Kompetenz. Zur Arbeitszeitrichtlinie wurde die Bestimmung, welche die Wochenruhe verpflichtend auf das Wochenende festlegte, aufgehoben, weil diese Festlegung von der damaligen Kompetenz zum (gesundheitlichen) Schutz der Arbeitnehmer nicht mehr umfasst war.179 Der EuGH hat primär mit Wortlaut und Zweck der Kompetenznorm argumentiert. Zu leicht macht es sich der EuGH, wenn er das Argument, eine Richtlinie solle nach dem Vertrag auch die Interessen der Klein- und Mittelbetriebe

_____ 174 EuGH v. 12.10.2010 – Rs. C-45/09 Rosenbladt, Slg. 2010, I-9391; EuGH v. 5.7.2012 – Rs. C-141/11 Hörnfeldt. 175 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981. 176 Zuvor wurde noch gesagt, dass in internationalen Verträgen anerkannte Grundrechte auf Nichtdiskriminierung die Zuständigkeiten der Gemeinschaft nicht erweitern könnten; EuGH v. 17.2.1998 – Rs. C-249/96 Grant, Slg. 1998, I-621 Rn. 45 f. Das Urteil Mangold geht darauf nicht ein. 177 EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 50. 178 Z.B. EuGH v. 9.3.2006 – Rs. C-499/04 Werhof, Slg. 2006, I-2397 Rn. 32. 179 EuGH v. 12.11.1996 – Rs. C-84/94 Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1996, I-5755. Rebhahn

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berücksichtigen, mit dem Hinweis abfertigt, deren Berücksichtigung sei Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Kompetenz.180

6. Allgemeine Rechtsgrundsätze Zu den Unionsrechtsgrundsätzen, die auch für das Sekundärrecht verbindlich sind, zählt der 69 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Allerdings mindert der EuGH dessen Relevanz entscheidend, indem er sagt, eine Bestimmung sei rechtswidrig nur, wenn die Mittel „offensichtlich ungeeignet“ und „offensichtlich außer Verhältnis“ zum Ziel sind.181 Weit strenger wird der Grundsatz zulasten von Privaten angewendet. Schon früh wurde zur mittelbaren Diskriminierung eine Rechtfertigung nur zugelassen, wenn die Unterscheidung zum Erreichen eines legitimen Zieles geeignet und erforderlich ist.182 Er hat damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – ohne direkte Grundlage im positiven Recht – in das Arbeitsverhältnis eingeführt. Inzwischen hat der Gesetzgeber nachgezogen.183 Das Anwenden des Grundsatzes zwischen Privaten ist nicht selbstverständlich und aus traditioneller Sicht eher systemfremd. Der EuGH überlässt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in weitem Umfang den nationalen Gerichten. Das ist dort, wo es um die Anwendung einer Richtlinie geht, nachvollziehbar. Allerdings zerfällt auf diese Weise der entscheidende Teil der mittelbaren Diskriminierung in Teilrechtsordnungen. Methodisch fragwürdig ist die im Vergleich zum Sekundärrecht tendenziell strengere Kontrolldichte bei Privaten, weil der EuGH hier die Privatautonomie des Belasteten nicht ausdrücklich bedenkt. Zu den Rechtsgrundsätzen zählt auch der Vertrauensschutz. Dieser hat allerdings bei der 70 praktisch wichtigsten Frage nur eine sehr geringe Bedeutung, nämlich zur Frage, inwieweit eine – unerwartete – Rechtsauffassung des EuGH auf Sachverhalte der Vergangenheit anwendbar ist: Die Rechtsauffassung wirkt in aller Regel zurück, auch wenn die Rechtslage unklar war (vgl. Rn. 2). Die Rückwirkung entfällt nur, wenn der Unionsgesetzgeber selbst den Eindruck erweckt hat, dass eine Diskriminierung privaten Arbeitgebern erlaubt sei, im Arbeitsrecht insbesondere beim Anfallsalter der Betriebspensionen. Die Urteile kümmern sich wenig um die methodische Frage, ob es nicht weitere Gründe gegen diese Rückwirkung gibt.

VI. Schlussbemerkung Zum Arbeitsrecht der Union stellen sich keine anderen methodischen Probleme als in anderen 71 Bereichen. Die Begründungen des EuGH bleiben (auch) im Arbeitsrecht nicht selten hinter dem zurück, was – unter Berücksichtigung der Bedeutung des Gesagten – für eine überzeugende Argumentation aus dem und zum Recht erforderlich ist. Dies gilt v.a. zum Primärrecht, während die Urteile zum Sekundärrecht häufig – und m.E. zunehmend – eine abgerundete Argumentation geben. Die Rahmenbedingungen zur Methodenlehre des Unionsrechts unterscheiden sich sehr 72 deutlich von jenen, welche die Ausbildung der in Deutschland und Österreich traditionellen

_____ 180 EuGH v. 26.6.2001 – Rs. C-173/99 The Queen ./. BECTU, Slg. 2001, I-4881 Rn. 60. Das Ergebnis ist aber überzeugend. 181 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA, Slg. 2006, I-403 Rn. 78 ff. Vgl. auch EuGH v. 23.10.2012 – verb. Rs. C-581/10 und C-629/10 Nelson u.a., Rn. 72 ff. 182 EuGH 13.5.1986 – Rs. 170/84 Bilka, Slg. 1986, 1607 Rn. 36. Das Urteil begründet dies nicht und beruft sich auch dafür auf das Urteil EuGH 31.3.1981 – Rs. 96/80 Jenkins, Slg. 1981, 911, das aber zu dieser Frage nichts enthält. 183 Z.B. Art. 2 Abs. 2 2. Spst. der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207 idF der RL 2002/73. Rebhahn

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3. Teil: Besonderer Teil

Auslegungsregeln erlaubt haben. Diese Methodenlehre setzt wohl dreierlei voraus: erstens das Bemühen aller Beteiligten – Gesetzgeber, Gerichte, Beobachter – um eine kohärente Rechtsordnung, die möglichst frei von Widersprüchen und damit „systematisch“ ist; zweitens die Überzeugung, dass das maßgebliche Recht primär abgeleitet und damit „gefunden“ und nicht vom Gericht „erfunden“ werden soll; sowie drittens die Überzeugung, dass diese Ableitung nur nach bestimmten Regeln erfolgen soll, deren Beachtung von Beobachtern gewürdigt werden soll. Jede der drei Voraussetzungen ist heute auf der Ebene des Unionsrechts deutlich schwächer verwirklicht als in vielen Mitgliedstaaten. Dies betrifft immer weniger das Sekundärrecht, aber nach wie vor das Primärrecht. Dazu weiß man leider oft nicht recht, welcher Grundstruktur das auf Entscheiden angelegte juristische Denken folgt: ist es normativ, oder dezisionistisch, oder topisch, oder doch eher ein konkretes Ordnungsdenken, etwa des Binnenmarktes? Allerdings hat der EuGH lange Zeit auch wenig Unterstützung bei der Erarbeitung einer spezifischen unionsrechtlichen Methodenlehre erfahren. Es hängt von allen Beteiligten ab, welchen Stellenwert Methoden der Rechtserkenntnis künftig für das Unionsrecht haben werden. Ohne klare Methodenlehre auch des Unionsrechts gibt es wohl keine Rule of Law und keinen Rechtsstaat – denn Methodenfragen sind Verfassungsfragen.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht 3. Teil: Besonderer Teil

Kaspar Krolop § 19 Europäisches Gesellschaftsrecht Krolop Literatur Ulrich Brandt, Die Hauptversammlung in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) (2004); Horst Eidenmüller (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften im deutschen Recht (2005); Ulrich Everling, Das europäische Gesellschaftsrecht vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, in: U.H. Schneider u.a. (Hrsg.), Deutsches und europäisches Gesellschafts-, Konzern- und Kapitalmarktrecht – Festschrift für Lutter (2000), S. 31–45; Jeffrey N. Gordon/Mark J. Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004); Stefan Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht (2. Aufl. 2011), insbes. §§ 3–6; Mathias Habersack/Dirk A. Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht (4. Aufl. 2011), insbes. §§ 3, 4, 6; Klaus J. Hopt, Europäisches Gesellschaftsrecht im Lichte des Aktionsplans der Europäischen Kommission vom Dezember 2012, ZGR 2013, 165–215; Renier R. Kraakmann u.a., The Anatomy of Corporate Law (2. Aufl. 2009); Marcus Lutter (Hrsg.), Legal Capital in Europe (ECFR-Sonderheft 1, 2006); ders./Walter Bayer/Jessica Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht (5. Aufl. 2012); Christoph Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht (2006); ders., Gesellschaftsrecht im System der Europäischen Niederlassungsfreiheit, ZGR 2011, 639–689; Michael J. Ulmer, Harmonisierungsschranken des Aktienrechts (1998); Marc Philippe Weller, Zukunftsfragen des Europäischen Unternehmensrechts, ZEuP 2012, 681–686; Jerome Vermeylen/Ivo Vande Velde, European Cross-Border Mergers and Reorganizations (2012); Dirk A. Verse, Niederlassungsfreiheit und grenzüberschreitende Sitzverlegung, ZEuP 2013, 458–495; Nina Winkler, Das Stimmrecht der Aktionäre in der Europäischen Union (2006); Christine Windbichler, Methodenfragen in einer gestuften Rechtsordnung, in: Andreas Heldrich/Jürgen Prölss/Ingo Koller (Hrsg.), Festschrift für Canaris (2007), S. 1423–1434. Rechtsprechung EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 Hirmann ./. Immofinanz AG; EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 Vale; EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 Friz, Slg. 2010, I-2947; EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641; EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2007, I-8995 – VW; EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-411/03 Sevic, Slg. 2005, I-10805; EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke ./. ADV-ORGA, Slg. 1992, I-4871; BGHZ 178, 192–203 – Trabrennbahn; BGHZ 110, 47–82 – IBH/Lemmerz.

I.

II.

Übersicht „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht | 1–19 1. Eingrenzung | 1–5 2. Europäische Regelungsdichte | 6–19 a) Primärrecht | 6–9 b) Sekundärrecht | 10–14 aa) Verordnungen | 10–11 bb) Richtlinien | 12–14 c) Aktuelle Entwicklung | 15–17 d) Harmonisierung der zwei Geschwindigkeiten | 18–19 Die Auslegung von Richtlinien im Gesellschaftsrecht | 20–41 1. Dynamik der Rechtsentwicklung | 20–21 2. Systemdenken: die Frage der Systemkonvergenz | 22–23 3. Auslegungsfragen bei der Kapitalrichtlinie als Anwendungsbeispiel | 24–37

a)

4.

Dynamisches Wechselspiel zwischen Rechtsentwicklung und Auslegung | 25–27 b) Methodenfragen bei der Hirmann-Entscheidung | 28–37 aa) Normkonflikt auf der Ebene des Sekundärrechts? | 28–30 bb) Begrenzte Bedeutung von formalen Derogationsregeln | 31–33 cc) Betrachtung der Entscheidung aus rechtsvergleichender Sicht | 34–35 dd) Weitere methodenrelevante Aspekte | 36–37 Erträge für eine am Harmonierungsstand orientierte Auslegung | 38–41 a) Differenzierung nach dem Grad der Harmonisierung | 38–39

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3. Teil: Besonderer Teil

b)

III.

Folgerungen für die Bewertung der Spielräume im nationalen Recht | 40–41 Die primärrechtskonforme Auslegung im Gesellschaftsrecht | 42–59 1. Die primärrechtskonforme Auslegung im harmonisierten Bereich | 42–47 a) Nationale Sonderwege als Informationsproblem | 45 b) Bedeutung der Rechtsvergleichung | 46–47 2. Die primärrechtskonforme Auslegung und internationales Gesellschaftsrecht | 48–59 a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts | 50–53

b)

IV.

V.

Wechsel des Gesellschaftsstatuts durch Sitzverlegung | 54–55 c) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts | 56–59 Die Verzahnung von europäischer Verordnung mit nationalem Recht bei der SE | 60–69 1. Das Verhältnis der Vorgaben der SE-VO zum nationalen Recht und zur Satzung | 60–61 2. Besondere Methodenfragen bei der SE | 62–69 a) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie | 62–64 b) Rechtsfortbildung bei der SE | 65–66 Ausblick | 67–69

I. „Gesellschaftsrecht“ im europäischen Recht 1. Eingrenzung 1 Das europäische Primärrecht bezeichnet grundsätzlich keine Rechtsgebiete. Art. 54 Abs. 1 AEUV

stellt „nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften“ natürlichen Personen gleich; Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV spricht die Koordination von Schutzbestimmungen an, die den Gesellschaften im Sinne des Art. 54 Abs. 2 AEUV vorgeschrieben sind. Damit ist nicht entscheidend, ob eine Materie, die das Kollisionsrecht, anderes nationales Recht oder die Definition in Lehrbüchern dem Gesellschaftsrecht zuweist, betroffen ist, sondern nur ob eine Gesellschaft i.S.d. Art. 54 AEUV1 Regelungsadressat ist.2 Theoretisch kommen somit sämtliche Gesellschaftsformen als Gegenstand europäischen 2 Rechts in Betracht; praktisch liegt der Schwerpunkt zur Zeit aber im Kapitalgesellschaftsrecht. Ferner bedeutet „Gesellschaftsrecht“ nicht nur Gesellschaftsorganisationsrecht, die „off the shelf housekeeping rules“, sondern umfasst auch andere Regelungskomplexe, die die Beziehungen von Gesellschaften zu ihrer wirtschaftlichen Umwelt gestalten. In diesem umfassenden Sinne schließt „Gesellschaftsrecht“ Fragen der Mitbestimmung der 3 Arbeitnehmer in Gesellschaftsorganen, des Bilanz-, Insolvenz- und des Kollisionsrechts, vor allem aber auch des Kapitalmarktrechts ein.3 Letzteres hat seinen Hauptsitz bei der Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV); Bilanzrecht, in deutscher Rechtstradition dem Handelsrecht zugeordnet, und Kapitalmarktrecht wiederum sind eng verflochten.4 Teilweise wird das Bilanzrecht

_____ 1 Dieser Begriff ist sehr weit: Alle Gesellschaften des bürgerlichen und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts sowie nach h.M. auch nicht-rechtsfähige Gesellschaften, soweit sie einen Erwerbszweck verfolgen (Callies/Ruffert-Bröhmer, Art. 54 EG Rn. 2, 4; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 1 Rn. 12 ff.); siehe dazu auch unten Rn. 56. 2 Grabitz/Hilf/Nettesheim-Forsthoff, Art. 54 AEUV Rn. 8, 13 f. 3 Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 1 Rn. 4 f. Speziell zum Kollisionsrecht s. EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. H.M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, I-5483 Rn. 22 – Daily Mail. 4 Charakteristisch sind hier vor allem die Vierte Richtlinie 78/660 EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g) über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11 (Jahresabschlussrichtlinie) und die Siebente Richtlinie 83/349 EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g)

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sogar als Herzstück des europäischen Gesellschaftsrechts bezeichnet.5 Das Steuerrecht, die unerwünschte Rechtsquelle des Gesellschaftsrechts, ist nur in einem engen Bereich (Art. 110 ff. AEUV) nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung europäisiert. Mittelbar stehen allerdings auch steuerliche Vorschriften zunehmend auf dem Prüfstand der Grundfreiheiten.6 Einheitliche Mindeststandards für Transparenz und Anlegerschutz sind zentrale Anliegen der europäischen Rechtsangleichung zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes,7 die zu den Kernaufgaben der Union zählt (vgl. Art. 114, 115 AEUV). Zur Herstellung eines Mindeststandards bei der Transparenz von unternehmens- und bewertungsrelevanten Informationen wirken Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht einschließlich Bilanzrecht komplementär zusammen.8 Vielfach ist deshalb zwischen rechtlichen Vorgaben, die sich an kapitalmarktorientierte Un- 4 ternehmen wenden und solchen, die Gesellschaften allgemein betreffen, zu unterscheiden. Das dürfte sowohl für die wissenschaftliche Analyse als auch die Auslegung anhand von Regelungszielen ertragreicher sein als eine formale Trennung von Kapitalmarkt- und Gesellschaftsrecht. Letztere ist gleichwohl wichtig und wird z.B. bei kollisionsrechtlichen Fragestellungen relevant. Das für Gesellschaften relevante Insolvenzrecht ist grundsätzlich mit einzubeziehen, denn 5 die Qualifizierung einer Vorschrift als insolvenzrechtlich oder gesellschaftsrechtlich hängt von nationalen Traditionen ab, die Funktion mag gleichwohl dieselbe sein.9

2. Europäische Regelungsdichte a) Primärrecht Zentraler Anknüpfungspunkt für die Harmonisierung im Gesellschaftsrecht ist Art. 50 Abs. 2 6 lit. g) AEUV, der bei der Niederlassungsfreiheit angesiedelt ist und zu Einzelmaßnahmen ermächtigt, die zur Beseitigung von Hindernissen erforderlich sind. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist diese Vorschrift weit auszulegen; sie ist im Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 2 lit. a) AEUV (vgl. auch Art. 114, 115 AEUV) zu sehen. Danach umfasst die Tätigkeit der Union die An-

_____ des Vertrages über den konsolidierten Abschluss, ABl. 1983 L 193/1 (Konzernbilanzrichtlinie), beide ersetzt durch die Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundene Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen und zur Änderung der Richtlinie 2006/43/EG, ABl. 2013 L 182/19 (EU-Bilanzrichtlinie), sowie die VO (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1 (IFRS-VO). Näher zu dieser Überschneidung u.a. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff. 5 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 495; vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1, 2 ff. 6 Die Entscheidungen des EuGH v. 13.12.2005 – Rs. C-446/03 Marks & Spencer, Slg. 2005, I-10837; EuGH v. 12.9.2006 – Rs. C-196/04 Cadbury Schweppes, Slg. 2006, I-7995 zur Gruppenbesteuerung entfalten Rückwirkungen auf die Konzerngestaltung (vgl. Saß, DB 2006, 123 ff.); vgl. auch Richtlinie 2009/133/EG des Rates v. 19.10.2009 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. 2009 L 310/34, insbes. Begründungserwägungen. 7 Vgl. nur Bröcker, in: Claussen (Hrsg.), Bank- und Börsenrecht (5. Aufl. 2014), § 6 Rn. 4. Zu kapitalmarktrechtlichen Schutzbestimmungen als Mittel zum Zweck zur Verwirklichung des europäischen Kapital- bzw. des Binnenmarkts vgl. Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2406 ff.; Mülbert, WM 2001, 2085, 2092. 8 Ein Beispiel für die Überlappungen ist die Richtlinie 2004/25/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 betreffend Übernahmeangebote, ABl. 2004 L 142/12 (Übernahmerichtlinie); so Kleindieck, ZGR 2002, 546, 558 ff.; Schnorbus, ZHR 166 (2002), 72, 86 f. (im Hinblick auf das WpÜG). Ausdruck zunehmender Verzahnung ist auch, dass Grundmann in seinem Lehrbuch zum „Europäischen Gesellschaftsrecht“ im Kapitel „Finanzierung an Kapitalmärkten“ auch kapitalmarktrechtliche Richtlinien erläutert. 9 Deutlich wird dies auch durch die Verschiebungen von Regelungen aus dem GmbHG in die InsO durch die GmbH-Reform, siehe dazu unten Rn. 56 ff.; außerdem Ehricke, in: Hommelhoff/Helms (Hrsg.), Neue Wege in die Privatgesellschaft (2001), S. 76 ff.; K. Schmidt, FS Großfeld (1999), S. 1037 ff. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

gleichung der nationalen Rechtsvorschriften, soweit dies für das Funktionieren des Gemeinsamen Markts erforderlich ist.10 Somit kann Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV Grundlage für jede Regelung sein, die Gesellschafter oder Dritte schützt und dieser Schutz die Verwirklichung einer Grundfreiheit fördert.11 Gleichwohl ist Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV eine Einzelermächtigung und keine Grundlage für 7 eine Vollharmonisierung. Die Kommission hat in ihren Planungen die Vollharmonisierung zugunsten einer Kombination von Mindeststandards durch punktuelle Harmonisierung und Wettbewerb der Rechtsordnungen im Übrigen aufgegeben. 12 Das Instrument der Empfehlung, Art. 288 Abs. 5 AEUV, hat an Bedeutung zugenommen. Der Unionsgesetzgeber unterliegt den Einschränkungen des Subsidiaritätsprinzips und dem Gebot der Erforderlichkeit (Art. 5 Abs. 3, 4 EUV).13 Keine Kompetenzbeschränkung liegt in dem Begriff „Schutzbestimmung“. Letztlich erfolgt 8 jeder gesetzgeberische Eingriff zum Schutze der Interessen eines Beteiligten. Im Gesellschaftsrecht sind das die typischen Gefahren opportunistischen Verhaltens in Agentursituationen zwischen der Gesellschaft und ihren Gläubigern, den Gesellschaftern und dem Management und den Gesellschaftern untereinander.14 Eine wachsende Rolle im Gesellschaftsrecht spielt die Kapitalverkehrsfreiheit. Die Urteile 9 des EuGH zu Beschränkungen des Anteilserwerbs haben diese vor allem an Art. 63 AEUV gemessen.15 Die Beschränkungen waren aber gesellschaftsrechtlich vermittelt, insbesondere in Form der berühmten Golden Shares. Die genannte Überschneidung von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht setzt sich in der Überlappung von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit fort. Die Abgrenzung ist schwierig und nicht abschließend geklärt. Aber damit kann man grundsätzlich leben, da sich mittlerweile die Vorgaben des EuGH für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit einerseits und der Kapitalverkehrsfreiheit andererseits nicht mehr wesentlich unterscheiden. Ein bedeutender Unterschied besteht allerdings darin, dass die Kapitalverkehrsfreiheit im Gegensatz zu den anderen Grundfreiheiten auch gegenüber Investoren aus Drittstaaten gilt (Art. 63 Abs. 1 AEUV). Vor allem bei steuerrechtlich geprägten Sachverhalten ist diese Frage von praktischer Bedeutung: Soweit eine nationale Regelung primär auf die Niederlassungsfreiheit zielt, wird nach Auffassung des EuGH die Kapitalverkehrsfreiheit verdrängt, so dass sich Investoren aus Drittstaaten auf diese nicht berufen können.16 Eine Änderung

_____ 10 EuGH v. 9.12.1997 – Rs. C-265/95 Kommission ./. Frankreich, Slg. 1997, I-6959, Rn. 18 – Daihatsu = JZ 1998, 193 m. Anm. v. Schön; näher dazu Leible, ZHR 162 (1998), 594, 597 ff.; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 41 f., 46 f.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 98 f. 11 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 98; vgl. auch Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 41, 46; jeweils mwN. 12 Vgl. Aktionsplan der Kommission v. 21.5.2003 zur Modernisierung des Gesellschaftsrechts und Verbesserung der Corporate Governance in der Europäischen Union, KOM(2003) 284 endg; dazu van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484 ff.; Habersack, ZIP 2006, 445, 446 f.; vgl. auch Großfeld, NZG 2005, 1 ff.; zu den skeptischen Stimmen vgl. Merkt, RabelsZ 59 (1995), 545 ff. 13 Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 100. 14 Armour/Hansmann/Kraakman, in: Kraakman u.a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, S. 35 ff. 15 EuGH v. 8.11.2012 – Rs. C-244/11 Kommission ./. Griechenland; EuGH v. 23.10.2007 – Rs. C-112/05 Kommission ./. Deutschland, Slg. 2007, I-8995 – VW; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-503/99 Kommission ./. Belgien, Slg. 2002, I-4809; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-483/99 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-4781; EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-367/98 Kommission ./. Portugal, Slg. 2002, I-4731. Zu weiteren Urteilen in Sachen Golden Shares und zur Entwicklung über diese Konstellation hinaus vgl. nur Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 13 ff.; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317 ff. 16 EuGH v. 10.5.2007 – Rs. C-492/04 Lasertec, Slg. 2007, I-3775; EuGH v. 24.5.2007 – Rs. C-157/05 Holböck, Slg. 2007, I-4051; ähnlich im Hinblick auf die Verdrängung der Dienstleistungsfreiheit EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-452/04 Fidium Finanz ./. BaFin, Slg. 2006, I-9521. Krolop

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des Außenwirtschaftsgesetzes erlaubt der Bundesregierung, Investoren unter bestimmten Voraussetzungen den Erwerb eines Anteils von 25% der Stimmrechte zu untersagen.17 Dies hat eine Diskussion ausgelöst, ob und inwieweit diese Regelung ausschließlich bzw. primär die Niederlassungsfreiheit betrifft, so dass aus der genannten Rechtsprechung des EuGH die Verdrängung der Kapitalverkehrsfreiheit abgeleitet werden kann und damit den betroffenen Investoren aus Drittstaaten die Berufung auf die Golden Share-Rechtsprechung verwehrt ist.18 Die Abgrenzung der Reichweite der Kompetenzzuweisung in Art. 50 Abs. 2 lit. g) AEUV ist dagegen von vergleichsweise geringer Bedeutung.19 Richtlinien, die primär der Gewährleistung der Kapitalverkehrsfreiheit dienen, sind unmittelbar für die Herstellung eines Europäischen Kapitalmarkts und damit unmittelbar für die Verwirklichung des Binnenmarkts relevant.20 Daher können diese Richtlinien unabhängig von der rechtssystematischen Einordnung auf Art. 114, 115 AEUV gestützt werden.21

b) Sekundärrecht aa) Verordnungen. Die Verordnung ist das Instrument der Wahl zur Schaffung neuer euro- 10 päischer Gesellschaftsformen. Die EWIV, die SCE, die SE und der Entwurf einer Verordnung für eine Europäische Privatgesellschaft sowie der Entwurf für eine Europäische Stiftung (FE – Fundatio Europaea) sind die prominenten Beispiele dafür.22 Wegen ihrer vergleichsweise geringeren praktischen Relevanz stehen sie (zunächst) nicht im Vordergrund. Ein rechtstechnischer Hinweis erscheint aber angebracht. Die Verordnungen arbeiten mit zahlreichen Verweisen auf nationales Recht (die EWIV-VO auf das Recht der OHG-äquivalenten Rechtsform, die SE-VO auf das Recht der AG).23 Wie „europäisch“ die jeweilige Rechtsform ist, lässt sich am Umfang der Verweisungen jedoch nicht feststellen (näher dazu unten Rn. 60 f.) Leben und Tod von Gesellschaften werden vom Insolvenzrecht wesentlich mitbestimmt. 11 Hier findet die Insolvenzverordnung24 als (teilweise) Vereinheitlichung von Kollisionsrecht ihren

_____ 17 § 7 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 6 AWG iVm § 53 AWV; näher dazu Krolop, ZRP 2008, 40 ff.; Martini, DÖV 2008, 324 ff.; Weller, ZIP 2008, 857 ff. 18 Dazu Krolop, ZRP 2008, 40, 43 f.; Martini, DÖV 2008, 324 ff.; Weller, ZIP 2008, 857 ff. 19 Jedenfalls ist die Kapitalverkehrsfreiheit im Bereich des hier umrissenen Gesellschaftsrechts weitgehend nur als Diskriminierungs- bzw. Beschränkungsverbot relevant. Nach Grundmann, FS Th. Raiser (2005), S. 84; ders. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 642 ff. ergibt sich in der Gesamtschau von Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit ein allgemeines Gebot der Gewährleistung der Mobilität von Kapitalgesellschaften. 20 S.o. Fn. 8. 21 Vgl. Präambel der Marktmissbrauchsrichtlinie: „gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere Artikel 95“; die Aktionärsrechterichtlinie wird sowohl auf Art. 43 EGV (jetzt Art. 49 AEUV) als auch Art. 95 EGV (Konsumentenschutz; jetzt 169 AEUV) gestützt, vgl. Zetzsche, NZG 2007, 686. 22 VO (EWG) Nr. 2137/85 über die Schaffung einer Europäischen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 L 199/1; VO (EG) Nr. 2157/2001 v. 8.10.2001 über das Statut der SE (SE-VO), ABl. 2001 L 294/1; s. auch Gesetz zur Einführung der Europäischen Gesellschaft (SEEG) v. 22.12.2004, BGBl. 2004 I, 3675. Zum Zusammenspiel mit der SE-VO vgl. MünchKommAktG-Schäfer, Art. 9 SE-VO; näher dazu unten Rn. 60 ff.; Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Privatgesellschaft v. 25.6.2008, KOM(2008) 396; dazu Arbeitskreis Europäisches Unternehmensrecht, NZG 2008, 897; Bücker, ZHR 173 (2009), 281; Hommelhoff/Teichmann, GmbHR 2008, 897; Hügel, ZHR 173 (2009), 309; Krejci, Societas Privata Europaea (2008); Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Stiftung (FE) v.8.2.2012, KOM(2012) 35 endg; näher dazu Verse, EuZW 2013, 336, 341 f. 23 Zur EWIV vgl. Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 1099; zur SE ders., ebd., Rn. 1032 ff. 24 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über das Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1 (EuInsVO), in der weitgehend das europäische Abkommen über das Insolvenzverfahren übernommen wurde, näher dazu Becker, ZEuP 2002, 287 ff. Krolop

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Platz im Gesellschaftsrecht. Wiederum im Überschneidungsbereich von Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht bewegt sich die IFRS-Verordnung, die die Anwendung der Internationalen Rechnungslegungsstandards für Konzernbilanzen kapitalmarktorientierter Unternehmen vorschreibt. Die einzelnen Standards werden im Komitologieverfahren25 verbindlich gemacht und führen zu einer weitgehenden Harmonisierung auf dem Gebiet der Rechnungslegung. bb) Richtlinien. Zum Richtlinienbestand, der hier nicht im Einzelnen vorzustellen ist, gehören auch die Bilanzrichtlinien, die für alle Kapitalgesellschaften und einige kapitalgesellschaftsähnliche Personengesellschaften gelten.26 Das Bilanzrecht hat im deutschen Recht seinen Platz im HGB und gilt nach h.M. als öffentliches Recht. Die gesellschaftsrechtliche Einordnung ergibt sich hier aber nicht nur durch die Bezeichnung durch den europäischen Gesetzgeber selbst, sondern auch materiell. Ferner wird die Kapitalrichtlinie (KapRL),27 die für Aktiengesellschaften ein Mindestkapital und Aufbringung und Erhaltung des festen Grundkapitals vorschreibt, in ihrem Inhalt auch dadurch bestimmt, wie bilanziert wird. Entsprechendes gilt für die Einpersonengesellschaftsrichtlinie.28 13 Die insgesamt große Harmonisierungsdichte durch Richtlinien ist durch das sog. Informationsmodell geprägt. Ein zentraler Ansatzpunkt des europäischen Gesellschaftsrechts ist Gewährleistung von Information, nach der die Marktteilnehmer ihr Verhalten ausrichten können.29 Darin bestätigt sich die Binnenmarktdimension, die über die Niederlassungsfreiheit hinausgeht; die Vergleichbarkeit der Abschlüsse aufgrund eines gemeinsamen Mindeststandards ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Erwerb von Anteilen, für die grenzüberschreitende Kreditvergabe und damit für die Kapitalverkehrsfreiheit. Als erster und prägender Transparenzansatz ist die Publizitätsrichtlinie von 196830 zu nennen, welche die Offenlegung der Vertretungsverhältnisse von Kapitalgesellschaften gewährleistet. 12

_____ 25 Die IAS/IFRS werden vom IASB (International Accounting Standards Board) laufend fortentwickelt. Nach Art. 3, 6 IAS-VO entfalten Standards bzw. deren Änderungen erst mit Übernahme als Kommissionsverordnung im Verfahren nach dem Beschluss 1999/468/EG des Rates vom 28.6.1999 ABl. 1999, L 184/23 (Komitologieverfahren, endorsement); näher dazu Kalss, in diesem Band, § 20 Rn. 33. Es handelt sich dabei um eine Art des „Expertenrechts“ (vgl. Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 67 f.), das aber nicht zu soft law, sondern zu bindenden Normen führt. 26 Jahresabschlussrichtlinie; Konzernbilanzrichtlinie; beide ersetzt durch die Richtlinie 2013/34/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 über den Jahresabschluss, den konsolidierten Abschluss und damit verbundener Berichte von Unternehmen bestimmter Rechtsformen (Bilanzrichtlinie), ABl. 2013 L 182/19; flankierend die Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.5.2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen (Abschlussprüferrichtlinie). Zusammenfassende Darstellung dieses Komplexes in Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 9 Rn. 1 f.; Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 246 ff. 27 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1977 L 26/1 (Kapitalrichtlinie); ersetzt durch Richtlinie 2012/30/EU, ABl. 2012 L 315/74; näher dazu unten Rn. 26 ff. 28 Zwölfte Richtlinie 89/667/EWG des Rates v. 21.12.1989 auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung mit einem einzigen Gesellschafter, ABl. 1989 L 395/40 (Einpersonengesellschaftsrichtlinie); ersetzt durch Richtlinie 2009/102/EG. 29 Näher zum Informationsmodell als einem tragenden Leitgedanken der Harmonisierung im europäischen Gesellschaftsrecht Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 228 ff.; ders., ZIP 2004, 2401, 2405 ff.; Grohmann, Das Informationsmodell im Europäischen Gesellschaftsrecht (2006), insbes. S. 126 ff.; zur Kritik am Informationsmodell Schön, FS Canaris (2007), Bd. I, S. 1193 ff. 30 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8 (Publizitätsrichtlinie); ersetzt durch Richtlinie 2009/102/EG.

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Die Aktivitäten der letzten Dekade haben sich auf Bereiche konzentriert, die von besonderer 14 Relevanz für den grenzüberschreitenden Verkehr sind: Gründung von Tochtergesellschaften und Zweigniederlassungen (Zweigniederlassungsrichtlinie),31 grenzüberschreitende Verschmelzung (Verschmelzungsrichtlinie).32 Letztlich gehört auch die SE in diesen Kontext. Ihre Gründung setzt einen grenzüberschreitenden Bezug voraus.33 Ferner sind die Übernahmerichtlinie34 (in der Schnittmenge mit dem Kapitalmarktrecht) sowie die grenzüberschreitende Teilnahme an Hauptversammlungen, insbesondere die Ausübung des Stimmrechts zu nennen (Aktionärsrechterichtlinie)35 zu nennen. Mit diesen Sekundärrechtsakten, der Änderung und Konsolidierung der Kapitalrichtlinie36 und umfassenden Reformen im Bereich der Rechnungslegung sind bedeutende Punkte des Aktionsplans der Kommission von 200337 abgearbeitet. Bereits in diesem Aktionsplan waren kapitalmarktorientierte Unternehmen und Transparenz Schwerpunkte.38

c) Aktuelle Entwicklung Dieser Fokus soll nach dem neuen, auf einer Konsultation zum europäischen Gesellschaftsrecht 15 und dem Bericht einer von der Kommission eingesetzten Expertenkommission (sogenannte Reflection Group)39 im Dezember 2012 veröffentlichen Aktionsplan (nachfolgend Aktionsplan 2012)40 beibehalten werden. Besondere Bedeutung soll dabei einer (weiteren) Erleichterung der (grenzüberschreitenden) Ausübung von Aktionärsrechten und deren Ausbau zukommen.41 Der Wahlfreiheit zwischen dualistischem und monistischem Organisationsstatut (Vorstand und Aufsichtsrat oder Verwaltungsrat) sowie der Frage der Aufgabe des Kapitalschutzkonzepts, die im

_____ 31 Elfte Richtlinie 89/666/EWG des Rates v. 21.12.1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, ABl. 1989 L 395/36. 32 Richtlinie 2005/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.2005 über die Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten, ABl. 2005 L 310/1; Näheres in Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 918 ff.; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 8 Rn. 52 ff.; Maul, BB 2006 Beil. Nr. 6 (zu Heft 34), 1, 11 ff.; Wyckaert/Geens, ECL 5 (2008), 288. 33 Dies ergibt sich aus dem sogenannten numerus clausus der Gründungsarten (vgl. Art. 2 SE-VO), näher dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 1047 ff. 34 Umgesetzt durch das Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz v. 8.7.2006, BGBl. 2006 I, 1426; zur Relevanz des Übernahmerechts für die Grundfreiheiten näher Kaiser, ZHR 168 (2004), 542 ff.; Grundmann/Möslein, ZGR 2003, 317, 355 ff. 35 Richtlinie 2007/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über die Ausübung bestimmter Rechte von Aktionären in börsennotierten Gesellschaften, ABl. 2006 L 184/17; näher dazu Grundmann/Winkler, ZIP 2006, 1421; zu dieser Problematik aus rechtsvergleichender Sicht Winkler, Das Stimmrecht der Aktionäre in der Europäischen Union. 36 Richtlinie 2006/68/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.9.2006 zur Änderung der Richtlinie 77/91/EWG des Rates in Bezug auf Gründung von Aktiengesellschaften und die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals, ABl. 2006 L 224/1, zurückgehend auf die Vorschläge der Empfehlung der Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des Gesellschaftsrechts bezüglich der Vereinfachung der ersten und der zweiten Gesellschaftsrechts-Richtlinie, KOM(1999) 6037 (sog. SLIM-Gruppe). 37 Dazu s.o. Fn. 12. 38 In Einklang mit Ziff. 3.1.1. des Aktionsplans von 2003 (Fn. 12) werden mit der Neufassung der Jahresabschlussrichtlinie in Art. 46a – vergleichbar mit § 161 AktG – börsennotierte Gesellschaften zur Abgabe einer „Erklärung zur Unternehmensführung“ verpflichtet; zur Umsetzung ins deutsche Recht vgl. § 289a HGB. 39 Reflection Group on the Future of EC Company Law. Im Internet unter http://ec.europa.eu/internal_market/ company/docs/modern/reflectiongroup_report_en.pdf. 40 Aktionsplan: Europäisches Gesellschaftsrecht und Corporate Governance – ein moderner Rechtsrahmen für engagierte Aktionäre und besser überlebensfähige Unternehmen, KOM(2012) 740 endg; näher dazu Hopt, EuZW 2013, 481. 41 Aktionsplan 2012 (Fn. 40), Ziff. 3. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

Aktionsplan 200342 noch wichtige Themen waren, wird keine große Priorität mehr beigemessen.43 Das Projekt der Europäischen Privatgesellschaft scheint einstweilen auf Eis zu liegen.44 Der aus Sicht der Kommission enttäuschenden Resonanz der Einführung der SE soll nicht mit einer Revision der SE-Verordnung begegnet werden, sondern mit Initiativen zu einer „verstärkten Bewusstseinsbildung“ im Hinblick auf die SE. Das Vorhaben, die „wichtigsten Richtlinien auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts“ in einem Rechtsakt zusammenzufassen, verstärkt den Eindruck, dass das Europäische Gesellschaftsrecht in eine Phase der Konsolidierung eintritt. Die nicht abschließende Skizze der Entwicklung im Sekundärrecht zeigt, dass der Rechts16 anwender mit der Problematik einer komplexen Vielstufigkeit und eines vielschichtigen Zusammenspiels von Normen konfrontiert ist.45 Ausgangspunkt sind nationale Vorgaben für das Gesellschaftsrecht. Darauf setzen die europäischen Regeln für Kapitalgesellschaften auf. Von diesen gelten wiederum einige nur für die AG, darunter wiederum einige nur für börsennotierte AGs. Bei letzteren kommt die Verbindung mit dem Kapitalmarktrecht hinzu. Ferner müssen sowohl Regelungsgeber als auch Rechtsanwender zwischen gegenläufigen Strömungen steuern. Im Gesellschaftsrecht im engeren Sinn dominiert die Öffnung zu Marktprozessen, insbesondere im Sinne eines Wettbewerbs der Regelungsgeber, während im kapitalmarktorientierten Bereich die strenge Regelungsdichte zunimmt. Die klassische Richtlinie scheint an Bedeutung zu verlieren. Statt Richtlinien, die viel Umset17 zungsspielraum lassen, werden entweder detaillierte Verordnungen oder sehr enge Richtlinien erlassen (Beispiele sind die IFRS-VO sowie die Sekundärrechtsnormen im Kapitalmarktrecht, welche kapitalmarktorientierte Gesellschaften betreffen, wie die Verordnung zur Durchführung der Prospektrichtlinie46 oder die Richtlinie zur Durchführung der Marktmissbrauchsrichtlinie), oder es werden alternativ flexiblere bzw. „weichere“ Instrumente eingesetzt wie Empfehlungen (beispielsweise zur Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung47 und zur Tätigkeit der Aufsichtsratsmitglieder bzw. nicht geschäftsführender Direktoren,48 Erklärung zur Corporate Governance).49 Die Übernahmerichtlinie ist hier kein geeignetes Gegenbeispiel. Zwar enthält sie ein komplexes System von Wahlrechten für die Mitgliedstaaten, im Übrigen aber sind die Vorgaben so ausführlich, dass sie nur wenig Raum für die individuelle Gestaltung durch den nationalen

_____ 42 Oben Fn. 12; näher dazu in der Vorauflage § 19 Rn. 15 ff. 43 Krit. gegenüber dieser Zurückhaltung Hopt, FS H.P. Westermann (2008), S. 1051 f. 44 Zur SE s. Aktionsplan 2012 (Fn. 40), Ziff. 4.5.; zu der am Widerstand einiger Mitgliedstaaten im Rat gescheiterten Einführung der Europäischen Privatgesellschaft s.o. Fn. 23; die Erwägungen der Reflection Group (s.o. Fn. 39) hinsichtlich von Alternativen (vgl. dazu Hommelhoff, AG 2013, 211 ff.; Möslein, ZHR 176 (2012), 470 ff.) wurden im Aktionsplan 2012 nicht aufgegriffen; vgl. dort Ziff. 4.4. a.E. 45 Schönes Beispiel: Art. 9 SE-VO. Zu den sich dabei ergebenden Methodenfragen näher unten Rn. 60 ff. 46 VO (EG) Nr. 809/2004 der Kommission v. 29.4.2004 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Informationen sowie das Format, die Aufnahme von Informationen mittels Verweis und die Veröffentlichung solcher Prospekte und die Verbreitung von Werbung (ABl. 2003 L 345/64, Prospektrichtlinie), ABl. 2004 L 149/1 (Prospekt-VO). 47 Empfehlung 2004/913/EG der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABl. 2004 L 385/55, ergänzt durch die Empfehlung der Kommission v. 30.4.2009, KOM(2009) 3177. 48 Empfehlung 2005/162/EG der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABl. 2005 L 52/51. 49 Dabei handelt es sich um eine mit § 161 AktG vergleichbare Pflicht zur Abgabe einer Erklärung, inwieweit die Unternehmensführung bestimmten Standards der Corporate Governance entspricht, vgl. Art. 46a Jahresabschlussrichtlinie; ersetzt durch Art. 20 EU-Bilanzrichtlinie (Fn. 26), umgesetzt in § 289a HGB; näher dazu Habersack, NZG 2004, 1, 6 f.; van Hulle/Maul, ZGR 2004, 484, 490 f. Krolop

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Gesetzgeber lassen.50 Ähnliches gilt für die Aktionärsrechterichtlinie, die darauf ausgerichtet ist, das Massenprodukt „Aktie“ zu standardisieren.51

d) Harmonisierung der zwei Geschwindigkeiten Zugespitzt formuliert geht die Entwicklung weg von einer Harmonisierung in die Breite und in 18 die Richtung einer Harmonisierung in die Tiefe52 an den Punkten, die für die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit und der Schaffung eines funktionierenden europäischen Kapitalmarkts von besonderer Bedeutung sind. Hierzu zählen vor allem die Vorgaben zu grenzüberschreitenden Transaktionen, aber auch die Übernahmerichtlinie und die Aktionärsrechterichtlinie, die vor allem auf die Ermöglichung bzw. Erleichterung der grenzüberschreitenden Ausübung von Aktionärsrechten abzielt. Die beiden zuletzt genannten Richtlinien befinden sich im Überschneidungsbereich mit der Kapitalverkehrsfreiheit. Viele neuere Vorgaben des europäischen Gesellschaftsrechts zielen ausschließlich auf börsennotierte Unternehmen. Hierzu zählt insbesondere die Pflicht zur Aufstellung eines Konzernabschlusses nach der IFRS-VO sowie die Pflicht zur Abgabe einer Erklärung zur Corperate Governance53 sowie der vom Europäischen Parlament bereits verabschiedete Vorschlag für eine Verordnung für spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfer.54 Die Empfehlungen der Kommission zu den Aufgaben der Aufsichtsratsmitglieder/nicht geschäftsführender Direktoren55 und zur Einführung einer angemessenen Vergütung der Mitglieder der Unternehmensleitung56 beziehen sich ebenfalls ausschließlich auf börsennotierte Unternehmen. Auch das rechtspolitisch stark umstrittene Vorhaben der Einführung einer Pflicht, schrittweise mindestens 40% der Positionen als Aufsichtsratsmitglied/nicht geschäftsführender Direktor mit Frauen zu besetzen, betrifft nur börsennotierte Unternehmen.57 Die nicht abschließende Aufzählung macht deutlich, dass sich im Zusammenspiel mit den kapitalmarktrechtlichen Richtlinien bei der börsennotierten Gesellschaft eine hohe Harmonisierungsdichte ergibt.58 Dem Fortschreiten der Harmonisierung in den genannten Bereichen stehen die bereits an- 19 gedeuteten Bestrebungen der Deregulierung und der Eröffnung von Wahlrechten gegenüber. Die Schwerfälligkeit der europäischen Gesetzgebung beschwört die Gefahr von Erstarrung herauf.

_____ 50 Vgl. Maul/Muffat-Jeandet, AG 2004, 221 ff., 336 ff.; Mülbert, NZG 2004, 633 ff. 51 Zetzsche, NZG 2007, 686. 52 Vgl. Habersack, NZG 2004, 1, 3 zum Aktionsplan 2003 (Fn. 12): „Konzentration auf punktuelle Maßnahmen“. 53 S.o. Fn. 49. 54 Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über spezifische Anforderungen an die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse, KOM(2011) 779 endg; näher dazu Verse, EuZW 2013, 336, 340. 55 Empfehlung 2005/162/EG der Kommission v. 15.2.2005 zu den Aufgaben von nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften sowie zu den Ausschüssen des Verwaltungs-/Aufsichtsrats, ABl. 2005 L 52/51. 56 Empfehlung 2004/913/EG der Kommission v. 14.12.2004 zur Einführung einer angemessenen Regelung der Vergütung von Mitgliedern der Unternehmensleitung börsennotierter Gesellschaften, ABl. 2004 L 385/55, ergänzt durch die Empfehlung der Kommission v. 30.4.2009, KOM(2009) 3177. 57 Art. 4 Abs. 1 des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Gewährleistung einer ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern unter den nicht geschäftsführenden Direktoren/Aufsichtsratsmitgliedern börsennotierter Gesellschaften und über damit zusammenhängende Maßnahmen, KOM(2009) 348 endg. Wie schon die Ermächtigungsgrundlage Art. 157 Abs. 3 AEUV zeigt, ist dieses Vorhaben kein typischer Fall der Harmonisierung von gesellschaftsrechtlichen Vorgaben, sondern die Verfolgung eines gesellschaftspolitischen Anliegens mit den Mitteln des Gesellschaftsrechts; zur Vereinbarkeit mit dem Primärrecht und dem Grundgesetz siehe Papier/Heidebach, ZGR 2011, 305. 58 Vgl. auch Bestandsaufnahme bei Moßdorf, Spezielles Gesellschaftsrecht für börsennotierte Aktiengesellschaften in den EG-Mitgliedstaaten (2010), 3 ff.

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3. Teil: Besonderer Teil

Explizite Gegenmaßnahmen (die SLIM-Initiative, der Aktionsplan, High Level Group of Independent Stakeholders on Administrative Burdens) wurden bereits ergriffen. Ferner sieht die jüngst verabschiedete EU-Bilanzrichtlinie Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen vor.59 Die europäische Rechtsetzung drängt im Gesellschaftsrecht insoweit nationale Regulierung zurück, als die Grundfreiheiten als Beschränkungsverbot wirken. Das Informationsmodell fördert privatautonome Gestaltung und damit Innovation durch Kautelarjurisprudenz. Wie die Rechtsprechung des EuGH zu Inspire Art60 zeigt, kommt der Wahlfreiheit im Hinblick auf Gesellschaftsstatut, Ort der Zweigniederlassung oder Tochtergesellschaft, Gründungsort und Sitz der Gesellschaft zentrale Bedeutung zu.61 Der Einsatz von Empfehlungen und anderen Formen des soft law ermöglicht die Herausbildung von akzeptanzgetragenen Strukturen.62 Diese andere Form von Dynamik steht im Einklang mit der Aufgabe des Ziels der Vollharmonisierung und der Betonung des Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 3 AEUV). Die nationalen Gesetzgeber reagieren auf diese Dynamik, indem sie sich stärker auf die Konkurrenz durch ausländische Gesellschaftsformen einstellen.63

II. Die Auslegung von Richtlinien im Gesellschaftsrecht 1. Dynamik der Rechtsentwicklung 20 Das europäische Gesellschaftsrecht ist, was für das Europarecht allgemein gilt, in besonderem

Maße „law in action“64 und die Union nicht Sein, sondern Werden.65 Der EuGH verlangt, bei der Auslegung europäischen Rechts den jeweiligen Stand der Harmonisierung der Rechtsvorschriften und Integrationstiefe im entscheidungsrelevanten Bereich zu berücksichtigen.66 Methodisch wird das teilweise als „Grundsatz der dynamischen Auslegung“ bezeichnet.67 Dabei handelt es sich wohl um eine besondere Ausprägung der teleologischen Auslegung.68 Jedenfalls besteht im Ergebnis Einigkeit, dass bei der Anwendung von Unionsrecht dessen Dynamik und Fortentwicklung eine besondere Rolle spielen. Damit ist der Integrationsfortschritt ein wichtiges Leitprinzip

_____ 59 Siehe dazu Mosel/Peters, GWB 2014, 97, 98, 99 f.; Verse, EuZW 2013, 336, 339 f.; kritisch G.H. Roth/Kindler, The Spirit of Corporate Law (2013), S. 185 f. 60 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; s.a. EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919; zur SLIM-Initiative s.o. Fn. 36. 61 Vgl. dazu unten bei Rn. 42, 48 ff. 62 Vgl. Eisenberg, Colum. L. Rev. 99 (1999), 1253. 63 Zur empirischen Bestandsaufnahme vgl. Braun/Eidenmüller/Engert/Hornuf, ZHR 177 (2013), 131; vgl. dazu auch unten Rn. 45, 69. 64 So zum Gemeinschaftsrecht allgemein bereits Oppermann, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht (1977), S. 428. 65 So Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 277. 66 Das Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Wortlaut und Systematik der Richtlinie einerseits und der Vergemeinschaftung sowie den allgemeinen Zielen der europäischen Integration andererseits wird besonders deutlich bei der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 18 AEUV (Freizügigkeit), worin er ein Konzept der Unionsbürgerschaft entwickelt, wonach das Gebot der Gleichbehandlung mit Inländern auch den Zugang zu sozialen Leistungen beinhalte (EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-184/99 Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193; EuGH v. 12.5.1998 – Rs. C-85/96 Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691; EuGH v. 17.9.2002 – Rs. C-413/99 Baumbast und R, Slg. 2002, I-7091); sehr krit. Hailbronner, NJW 2004, 2185 ff. 67 Vgl. Bleckmann, Europarecht, Rn. 555; Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 213 f. mwN; Meyer, Jura 1994, 455, 457 f. 68 So auch Riesenhuber, in diesem Band, § 11 Rn. 43 ff.; vgl. Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 277. Nach der Kritik von Hailbronner, NJW 2004, 2185, 2187, soll es sich um ein Verdecken der Vernachlässigung „klassischer“ Auslegungsmethoden handeln.

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bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.69 Dieses Prinzip ist im Gesellschaftsrecht besonders relevant. Wie die Skizzierung der Entwicklung des Sekundärrechts und der künftigen Entwicklungstendenzen gezeigt hat (oben Rn. 10 ff.), hat man es mit einer Harmonisierung der verschiedenen Geschwindigkeiten zu tun. Damit gilt im Gesellschaftsrecht im besonderen Maße, dass europarechtlich relevante Nor- 21 men im Hinblick auf den Harmonisierungsstand und die Harmonisierungsziele auszulegen sind. Je stärker die Harmonisierung fortgeschritten ist, desto stärker rechtfertigungsbedürftig sind nationale Besonderheiten, desto eher sind europäische Vorgaben im Zweifel weit auszulegen, desto eher können Regelungslücken im Sekundärrecht angenommen werden. Hinzu kommen Besonderheiten des Gesellschaftsrechts, die in der internationalen rechtsvergleichenden und empirischen Forschung herausgearbeitet wurden. Dieser Ansatz geht möglicherweise über die Frage nach einer europäischen Methodenlehre hinaus, ergänzt aber den speziellen Aspekt der Dynamik. Gleichwohl können die nachfolgend genannten Forschungen hilfreich sein für die Beurteilung, welche Auslegungsvariante im Hinblick auf die Erreichung der mit der Richtlinie verfolgten Zwecke und der europäischen Integration zielführend ist.

2. Systemdenken: die Frage der Systemkonvergenz Bisher nur gestreift wurden inhaltliche Elemente des europäischen Gesellschaftsrechts. Das ge- 22 setzliche Mindestkapital, die Aufbringung und Erhaltung des satzungsmäßigen Kapitals i.S.d. Kapitalrichtlinie könnten materielle Systemelemente sein. Gerade diese Regelung ist aber im Einzelnen umstritten. Insgesamt gibt es im Gesellschaftsrecht wohl keinen so ausgeprägten gemeineuropäischen Rechtsbestand wie etwa im Vertragsrecht. Deshalb soll hier ein methodisch relevanter Gesichtspunkt aus der internationalen Corporate Governance-Diskussion eingeführt werden. Dort geht es um die Frage, ob eine Konvergenz in Richtung auf ein optimales Governance-System möglich ist.70 Eine umfassende, einheitliche Antwort auf diese Frage wird es nicht geben. Hartnäckig fortbestehende Divergenzen erklären sich zumeist aus Pfadabhängigkeiten. Interessant ist aber auch die Feststellung, dass selbst bei Konsens über eine erstrebenswerte Regelung die Veränderung als solche Kosten verursacht (switching costs), mit vorhandenen anderen Regeln nicht harmoniert (Vernetzungsproblem) und deshalb unterbleibt oder doch zu suboptimalen Ergebnissen führt.71 Darüber hinaus haben die nationalen, pfadabhängigen Entwicklungen ihre eigene Optimierung erfahren. Im eigenen Land wurde nicht etwa ein europäischer Gipfel des besten Gesellschaftsrechts in Angriff genommen, sondern der lokale Hügel erstiegen (local hill phenomenon).72 Die im europäischen Kontext erforderliche Rechtsvergleichung auf der Ebene der Richtlinienumsetzung, der Ebene des sonstigen nationalen Rechts und auch von soft law gewinnt an Gehalt und Plausibilität, indem sie Pfadabhängigkeiten, Vernetzungen und „lokale Hügel“ identifiziert.73

_____ 69 S. Hallstein, FS Müller-Armack (1961), S. 277, vgl. auch die in Fn. 66 zitierte Rspr. 70 Bratton/McCahery, Colum. J. Transnat’l L. 38 (1999), 313, 333 ff.; Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance (2004); v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland (2008), S. 33 ff. 71 Bebchuk/Roe, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance, S. 69 ff.; vgl. auch v. Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland (2008), S. 364 f. 72 R.H. Schmidt/Spindler, in: Gordon/Roe (Hrsg.), Convergence and Persistence in Corporate Governance, S. 114 ff. 73 Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode, S. 395 ff.; für die Mitbestimmung v. Hein, Die Rezeption USamerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland (2008), S. 222 ff.

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Die Aufgabe der Idee der Vollharmonisierung setzt an deren Stelle das Konzept der Gestaltung von Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber74 und – im Bereich der kapitalmarktorientierten Gesellschaften – für einen funktionierenden Wettbewerb um das Kapital der Anleger in einem europäischen Kapitalmarkt.75

3. Auslegungsfragen bei der Kapitalrichtlinie als Anwendungsbeispiel 24 Die Kapitalrichtlinie ist aus methodischer Sicht besonders interessant, da eine Zuordnung nach

der oben skizzierten Unterscheidung zwischen hoher Harmonisierungsdichte und geringer Harmonisierungsdichte nicht so leicht fällt. Die Kapitalrichtlinie erfasst nur Aktiengesellschaften, bei denen es sich zwar nicht zwingend, aber typischerweise um kapitalmarktorientierte Unternehmen handelt und ist damit im Ausgangspunkt grundsätzlich dem Bereich einer gewollten hohen Harmonisierungsdichte zuzurechnen. Aber es gibt auch gegenläufige Tendenzen.

a) Dynamisches Wechselspiel zwischen Rechtsentwicklung und Auslegung 25 Die Kapitalrichtlinie wurde teilweise als Keimzelle für eine Vollharmonisierung angesehen. Von

diesem Ziel hat man sich aber mittlerweile verabschiedet.76 Die geänderte Richtlinie sieht inzwischen Lockerungsmöglichkeiten vor. Die ohnehin nur punktuellen Vorgaben für die Haftungsverfassung der Gesellschaft, das Regime der Kapitalaufbringung und die Rechte der Aktionäre bei Kapitalmaßnahmen können von den Mitgliedstaaten flexibilisiert werden,77 wovon der deutsche Gesetzgeber zumindest teilweise Gebrauch gemacht hat.78 Das Konzept des Gläubigerschutzes durch Kapitalaufbringung und -erhaltung war nie un26 umstritten und seine Sinnhaftigkeit wird – vor allem aufgrund ökonomischer und rechtsvergleichender Überlegungen – zunehmend in Frage gestellt. Das System sei aufwendig, teuer, bewirke keinen wirklich effizienten Schutz79 und benachteilige unfreiwillige Gläubiger.80 Die im Aktionsplan 200381 enthaltene Erwägung, das Kapitalkonzept langfristig auf den Prüfstand zu stellen, ist im Aktionsplan 2012 nicht aufgegriffen worden. Zwar ist zweifelhaft, ob die Kommission von den Segnungen eines gesetzlichen Mindestkapitals und gesetzlichen Vorgaben zu an Gewinn und Grundkapital orientierten Ausschüttungsbegrenzungen restlos überzeugt ist. Jedoch scheut

_____ 74 So auch Grundmann, in diesem Band, § 9 Rn. 56 ff.; ders., ZGR 2001, 783 ff.; Happ, ZHR 169 (2005), 6, 7 f.; Hommelhoff, ZGR 2001, 238 ff.; G.H. Roth, ZGR 2005, 348, 349 ff. Zu den Rahmenbedingungen für einen funktionierenden Wettbewerb der Regelungsgeber s. Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen im Europäischen Binnenmarkt (2002); Heine, Regulierungswettbewerb im Gesellschaftsrecht (2003); Röpke, Gläubigerschutzregime im europäischen Wettbewerb der Gesellschaftsrechte (2007). 75 Grundmann, ZIP 2004, 2401, 2405 f.; ders., in diesem Band, § 9 Rn. 56 ff.; ders., ZGR 2001, 783 ff. 76 S.o. die Nachweise in Fn. 12. 77 Zur Änderungsrichtlinie s.o. Fn. 36; vgl. auch Ziff. 2.1. des Vorschlags der Kommission für diese Richtlinie; näher dazu Maul, BB 2006 Beil. Nr. 6 (zu Heft 34), 11 ff. 78 Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie (ARUG) v. 30.7.2009, BGBl. 2009 I, 2479. 79 Enriques/Macey, Cornell L. Rev. 86 (2001), 1165 ff.; Hansmann/Kraakmann, Yale L. J. 110 (2000), 1879 ff.; so bereits aus rechtsvergleichender Sicht Kübler, ZHR 168 (2004), S. 216 ff.; ders., in: Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets and Company Law (2003), S. 95 ff.; ders., EBLR 2004, 1031; umfassende Bestandsaufnahme bei Lutter (Hrsg.), Capital in Europe; zur Verteidigung des Kapitalmodells siehe stellvertretend G.H. Roth/Kindler, The Spirit of Corporate Law (2013), S. 185 f. 80 Speziell zu diesem Aspekt Hansmann/Kraakmann, Yale L. J. 110 (2000), 1879; Escher-Weingart, Reform durch Deregulierung im Kapitalgesellschaftsrecht (2002), S. 138 ff.; vgl. auch die Beiträge in der vorigen Fn. 81 Oben Fn. 13. Bestandsaufnahme der Debatte, auch aus rechtsvergleichender Sicht, bei Lutter (Hrsg.), Das Kapital der Aktiengesellschaft in Europa (2005); vgl. auch Vorauflage, § 19 Rn. 62 ff.

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man eine umfangreiche Reform nicht zuletzt deshalb, da sich der Großteil der Beteiligten auf das Kapitalkonzept eingestellt hat. Damit ist die Abkehr von den Überlegungen zur Abkehr vom Kapitalmodell ein Beispiel für die Vermeidung der oben (Rn. 22) erwähnten switching costs. Der Stand der Diskussion um den Stellenwert der Kapitalrichtlinie sowie die vorgenomme- 27 nen Lockerungen sprechen dafür, dass die Kapitalrichtlinie im Zweifel eher als Mindestnorm und nicht als Höchstnorm zu verstehen ist.82 Die Änderungsrichtlinie zur Kapitalrichtlinie83 sieht keine generelle Absenkung des Schutzniveaus vor, sondern schafft ein Wahlrecht. Dies bestätigt den bereits oben erhobenen Befund, dass keine vollständige Vereinheitlichung gewollt ist, sondern der Richtliniengeber in Kauf nimmt, dass in einigen Staaten ein höherer Kapitalaufbringungsschutz betrieben wird als in anderen Staaten.84 Aus all dem lässt sich ferner folgern, dass der Kapitalrichtlinie nicht unterstellt werden kann, sie wolle einen möglichst umfassenden, in jeder Hinsicht abgesicherten Kapitalaufbringungs- und -erhaltungsschutz gewährleisten.85 Dies wird zumindest mittelbar durch das jüngst ergangene Hirmann-Urteil des EuGH86 bestätigt, das auch hinsichtlich der Behandlung des Verhältnisses von Gesellschaftsrecht zum Kapitalmarktrecht interessant ist.

b) Methodenfragen bei der Hirmann-Entscheidung aa) Normkonflikt auf der Ebene des Sekundärrechts? Der österreichische Staatsbürger Alfred Hirmann er- 28 warb auf dem Sekundärmarkt (also durch Wertpapierkauf und nicht durch originäre Zeichnung von Aktien, sogenannter derivativer Erwerb) Aktien einer börsennotierten Aktiengesellschaft und gab an, dabei auf nachweislich fehlerhafte Angaben im Börsenzulassungsprospekt vertraut zu haben und verlangte von der Gesellschaft Schadensersatz. Gemäß Art. 6 der Prospektrichtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass der Aussteller (Emittent der Wertpapiere) für fehlerhafte Prospekte des Emittenten gegenüber dem Anleger haftet.87 Andererseits verbietet die Kapitalrichtlinie in Art. 15 KapRL Ausschüttungen an die Aktionäre, soweit die dort postulierten Grenzen nicht eingehalten sind.88 Eine in Deutschland stark verbreitete, auf das Reichsgericht zurückgehende Auffassung differenziert zwischen 29 originärem Erwerb (Vorrang der Kapitalerhaltung) und derivativem Erwerb.89 Bei Letzterem besteht im deutschen Schrifttum weitgehend Einigkeit, dass die Vorgaben zur Prospekthaftung den Vorgaben zur Kapitalerhaltung vorgehen, wobei häufig auf den lex specialis-Grundsatz verwiesen wird.90 Das ist auf europäischer Ebene jedoch keineswegs so eindeutig. Während das Ausschüttungsverbot in Art. 15 KapRL einigermaßen kon-

_____ 82 Vgl. Hopt/Voigt-Hopt/Voigt, Kapitalmarktinformationshaftung (2005), S. 1, 5. 83 S.o. Fn. 36. 84 Vgl. Titel eines Beitrags von H.P. Westermann, ZHR 172 (2008), 144: „Kapitalschutz als Gestaltungsmöglichkeit“ [für den Gesetzgeber – Anm. des Verfassers]. 85 Vgl. BE 2 RL 2006/68/EG: „… gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass eine Vereinfachung der Richtlinie 77/91/EWG wesentlich zur Steigerung der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen beitragen würde, ohne den Aktionärs- und Gläubigerschutz zu verringern.“ 86 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 Hirmann ./. Immofinanz AG. 87 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die in Prospekten enthaltenen Informationen sowie das Format, die Aufnahme von Informationen mittels Verweis und die Veröffentlichung solcher Prospekte und die Verbreitung von Werbung (ABl. 2003 L 345/64, Prospektrichtlinie), ABl. 2004 L 149/1; siehe auch Rn. 9. 88 In Deutschland hat dieses Dilemma bereits das Reichsgericht auf der Ebene des nationalen Rechts beschäftigt (siehe RGZ 71, 97, 98 f.; RGZ 88, 271, 272). 89 Vgl. RGZ 71, 97, 98 f.; RGZ 88, 271, 272, siehe stellvertretend Schwark/Zimmer-Schwark, Kapitalmarktrechtskommentar (4. Aufl. 2010), §§ 44, 45 BörsG Rn. 13, 184; offen gelassen bei BGH, NJW 2005, 2450 (EM.TV). 90 Siehe vorstehende Fußnote; für allgemeinen Vorrang u.a. OLG Köln, AG 2009, 584, 596; Spindler/Stilz-Cahn/ v. Spannenberg, Aktiengesetz (2. Aufl. 2010), § 57 Rn. 40, vgl. auch Gebauer, Börsenprospekthaftung und Kapitalerhaltungsgrundsatz in der Aktiengesellschaft (1999), S. 77 ff.; 190 ff.; eingehende Aufarbeitung des Meinungsstandes bei Weber, ZHR 176 (2012), 184. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

kret ist, spricht das Europäische Sekundärrecht zur Prospektverantwortlichkeit relativ vage von Haftung und Prospektverantwortlichkeit. Eine vollständige Rückabwicklung inklusive vollem Ersatz des für den Erwerb der Aktien gezahlten Preises ist in der Richtlinie jedenfalls nicht zwingend vorgesehen.91 Der EuGH stellt folgerichtig in der Hirmann-Entscheidung auch fest, dass eine derartige Haftung eine Möglichkeit der angemessenen Umsetzung sei.92 Der BGH hat in der EM.TV-Entscheidung zumindest für deliktische Ansprüche einen Vorrang vor der Kapitalerhaltung gesehen, und dabei – wie auch der Österreichische Oberste Gerichtshof – für eine Vorlage keinen Anlass gesehen.93 Aufgrund der starken Kritik im österreichischen Schrifttum94 hat jedoch das Handelsgericht Wien eine freiwillige Vorlage beschlossen.95 bb) Begrenzte Bedeutung von formalen Derogationsregeln. Im Rahmen der bei einer Überschneidungsproblematik immer notwendigen Betrachtung der Interessenlage im Wechselspiel mit den Regelungszielen96 sollte der Konflikt nicht auf das Verhältnis von Gläubigerschutz (ein Anliegen der Kapitalrichtlinie) und Anlegerschutz (Anliegen der Regulierung zur Prospekthaftung) reduziert werden. Die Kapitalrichtlinie im Allgemeinen und die Vorgaben zur Kapitalerhaltung in Art. 15 KapRL im Besonderen zielen auch auf die Gewährleistung der Gleichbehandlung der Aktionäre.97 Die Gleichbehandlung der Anleger gehört ebenso zu den zentralen Anliegen des Kapitalmarktrechts.98 So wird in einer der Vorlagefragen auch problematisiert, ob die vollständige Erstattung der Einlage gegen das Gebot der Gleichbehandlung der Aktionäre bzw. Anleger verstößt.99 Diese Betrachtung macht zunächst deutlich, dass sich bei der börsennotierten Aktiengesellschaft die Harmonisierungsbestrebungen im Kapitalmarktrecht und Gesellschaftsrecht nicht nur ergänzen, sondern auch Zielkonflikte entstehen können. Da die potentiell in Konflikt stehenden Regelungen beide auf der Ebene des Sekundärrechts angesiedelt sind, können derartige Konflikte nicht ohne Weiteres mit dem lex superior-Grundsatz gelöst werden. Da es sich um verschiedene Rechtsgebiete handelt, und die Regelungen auf unterschiedlichen Ermächtigungsgrundlagen beruhen, ist auch hinsichtlich des lex posterior-Grundsatzes sowie des lex specialisGrundsatzes Zurückhaltung geboten.100 Der EuGH verzichtet auf einen Rückgriff auf diese eher formal-methodischen Argumente, und nähert sich der Problematik mit einer sorgfältigen, an materiellen Kriterien orientierten Absteckung der Regelungsbereiche der involvierten Richtlinien. Er verneint einen Konflikt der Prospektrichtlinie mit Art. 15 KapRL mit der Begründung, dass der Anwendungsbereich der Kapitalrichtlinie nicht eröffnet sei, da gar keine Ausschüttung i.S. dieser Vorschrift vorliege. Prospektfehler seien keine Mängel im Gesellschaftsvertrag, daher habe diese Haftung mit dem gesellschaftsrechtlichen Verhältnis zwischen der Gesellschaft und ihrem Aktionär nichts zu tun.101 cc) Betrachtung der Entscheidung aus rechtsvergleichender Sicht. Aus dem Blickwinkel der traditionellen Betrachtung im deutschen Gesellschaftsrecht mag diese Argumentation etwas überraschen. Die Unterscheidung zwischen Geschäften causa societatis und schuldrechtlichen Verkehrsgeschäften ist dem deutschen Recht zwar geläufig, jedoch geht das deutsche Recht von einem weiten Ausschüttungsbegriff aus, der nicht

_____ 91 Vgl. Fleischer, ZIP 2005, 1805, 1811; Weber, ZHR 176 (2012), 184, 189; zum österreichischen Schrifttum Eckert, GesRZ 2010, 88, 99 ff.; Gruber, JBl. 2007, 90; ders., GesRZ 2010, 73; Karollus, ÖBA 2011, 450. 92 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 Hirmann ./. Immofinanz AG, Rn. 40, 43, 68–69. 93 BGH, NJW 2005, 2450; OGH, GesRZ 2011, 151. 94 S.o. Fn. 92. 95 Handelsgericht Wien, GesRZ 2012, 196. 96 Ähnlich in diesem Zusammenhang Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801, 805. 97 Art. 42 KapRL; zu den Querverbindungen zwischen den Vorgaben zur Kapitalerhöhung bzw. -herabsetzung und der Gewährleistung der Gleichbehandlung der Aktionäre Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 6 Rn. 88 f. 98 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Gebot der Gleichbehandlung im Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht stellvertretend Bachmann, ZHR 170 (2006), 144. 99 Handelsgericht Wien, GesRZ 2012, 196, 2. Vorlagefrage. 100 So auch mit eingehender Begründung Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801, 805. 101 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 Hirmann ./. Immofinanz AG, Rn. 27–29. Krolop

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nur die „Zahlungen von Dividenden und von Zinsen auf Aktien“ (Art. 15 Abs. 1 KapRL) umfasst, sondern jedwede Vermögenszuwendungen, die im Zusammenhang mit der Aktionärsstellung stehen.102 Indem der EuGH bereits Art. 15 KapRL als nicht einschlägig ansieht, zeigt er, dass er zum engen Ausschüttungsbegriff tendiert, wonach Art. 15 KapRL weitgehend nur offene Vermögenszuwendungen an Aktionäre erfasst. Dies passt zu dem oben skizzierten Befund, dass das Kapitalmodell der Kapitalrichtlinie sich auf dem Rückzug befindet.103 Rechtsvergleichend befindet sich der EuGH in guter Gesellschaft. Der vergleichsweise weite Ausschüttungsbegriff im deutschen und österreichischen Gesellschaftsrecht ist ein Beispiel für das oben erwähnte Local Hill-Phänomen.104 Hier wurde ein Sonderweg eingeschlagen, der dazu dient, die Aktiengesellschaft vor der Zufügung von Vermögensnachteilen durch die Einflussnahme von Aktionären zu schützen. Die Mehrheit der europäischen Rechtsordnungen geht von einem engen, formalen Ausschüttungsbegriff aus.105 Dort wird die Problematik nicht unter der Bezeichnung „(verdeckte) Gewinnausschüttung“, sondern unter „Geschäfte mit nahestehenden Aktionären (related party transactions)“ behandelt.106 Diesem Ansatz, der auf Offenlegung und das Erfordernis der Zustimmung der Hauptversammlung zu bestimmten Geschäften setzt, scheint auch die Kommission zu folgen, wenn sie im Aktionsplan 2012 vorsieht, durch eine Änderung der Aktionärsrechterichtlinie (und eben nicht der Kapitalrichtlinie) die Kontrolle der Transaktionen mit nahe stehenden Unternehmen und Personen durch Aktionäre auszubauen.107 Bei der Betrachtung des derivativen Erwerbs von börsennotierten Aktien steht zunehmend ohnehin nicht pri- 35 mär die Begründung einer mitgliedschaftlichen Position im Vordergrund, sondern die Betrachtung des Erwerbs einer Kapitalanlage.108 Auch die – allerdings ausdrücklich auf deliktische Ansprüche beschränkte – Begründung der EM.TV-Entscheidung des BGH liegt auf dieser Linie.109 Der Aktionär wird in diesem Kontext eher als Kapitalanleger angesehen, weniger als Verbandsmitglied. Da der Aktionär sich nach Auffassung des EuGH eher in einer mit einem Drittgläubiger vergleichbaren Position befindet, verneint der EuGH konsequenterweise auch einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.110 Im Hinblick auf den Zweck des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 42 KapRL ist dies folgerichtig, da dessen Gehalt sich auf das Gebot der angemessenen Gleichbehandlung der Aktionäre im verbandsrechtlichen Verhältnis zwischen Gesellschaft und Aktionär beschränkt.111 dd) Weitere methodenrelevante Aspekte. Die vorgestellte Causa bestätigt nicht zuletzt die große Bedeutung 36 des Kapitalmarkts für das europäische Gesellschaftsrecht. Damit einher geht eine stark ökonomische, an Effi-

_____ 102 Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801, 804; Fleischer, in: Lutter (Hrsg.), Legal Capital in Europe, S. 95 ff.; Windbichler, Gesellschaftsrecht (23. Aufl. 2013), § 30 Rn. 20. Dementsprechend werden Rechtsgeschäfte mit Aktionären, die zum Nachteil der Gesellschaft nicht marktüblichen Konditionen entsprechend als (verdeckte) Gewinnausschüttung behandelt; siehe dazu Hüffer (10. Aufl. 2012), § 57 Rn. 7 ff.; rechtsvergleichend G.H. Roth/Kindler, The Spirit of Corporate Law (2013), S. 58 ff. 103 Vgl. Möllers, BB 2005, 1637, 1642; Hopt/Voigt-Hopt/Voigt, Kapitalmarktinformationshaftung (2005), S. 1, 5; die diesen Befund auch als Argument für einen Vorrang der Informationshaftung vor der Kapitalerhaltung anführen; kritisch zur Tragfähigkeit dieser Argumentation de lege lata Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801, 805. 104 S.o. Rn. 22. 105 Instruktiver rechtsvergleichender Überblick bei Fleischer, in: Lutter (Hrsg.), Legal Capital in Europe, S. 95, 98 ff.; siehe auch Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801, 804; G.H. Roth/Kindler, The Spirit of Corporate Law (2013), S. 58 ff. 106 Fleischer, in: Lutter (Hrsg.), Legal Capital in Europe, S. 95, 98 ff.; Enriques/Hertig/Kanda, in: Kraakman u.a. (Hrsg.), The Anatomy of Corporate Law, S. 154 ff., die das Verbot verdeckter Gewinnausschüttungen als eine mögliche Regelungsstrategie unter der Rubrik „Related Party Transactions“ abhandeln. 107 Aktionsplan 2012 (Fn. 40), Ziff. 3.2.; dazu Drygala, AG 2013, 198, 205 ff. 108 Im französischen Recht spricht man etwa vom contrat d’investissement; näher dazu Bonneau/Drummond, Droit des Marchés Financiers (3. Aufl. 2010), Rn. 737 f.; Krolop, Der Rückzug vom organisierten Kapitalmarkt (2005), S. 69 f.; vgl. auch die Länderberichte zur Kapitalmarktinformationshaftung bei Hopt/Voigt, Kapitalmarktinformationshaftung (2005); siehe auch rechtsvergleichenden Befund bei S. 61 und 114. 109 BGH, NJW 2005, 2450. 110 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-174/12 Hirmann ./. Immofinanz AG, Rn. 30. 111 So im Hinblick auf den Vorlagebeschluss Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 801, 806. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

zienzgesichtspunkten orientierte Betrachtungsweise, die den Erwerber von Aktien primär als an Vermögensinteressen orientierten Kapitalanleger112 bzw. Verbraucher113 ansieht. Ferner ruft das Urteil in Erinnerung, dass der Anwendungsbereich der potentiell konfligierenden Regelungen des Sekundärrechts autonom bestimmt werden muss. Die im europäischen Recht verwendeten Begriffe sind ebenfalls autonom auszulegen. Vom nationalen Recht bzw. Traditionen geprägte Raster – wie im vorliegenden Fall der weite Ausschüttungsbegriff – können auf europarechtlicher Ebene in die Irre führen. Hiervor können rechtsvergleichende Betrachtungen schützen.

4. Erträge für eine am Harmonisierungsstand orientierte Auslegung a) Differenzierung nach dem Grad der Harmonisierung 38 Das europäische Gesellschaftsrecht ist in besonderem Maße „law in action“ (s. auch oben

Rn. 20 f.). Das betrifft nicht nur den Harmonisierungsstand, sondern ebenso materielle Weiterentwicklungen. Dieses hohe Maß an Dynamik bedarf eines stimmigen Zusammenspiels, einer laufenden Anpassung und Abstimmung. Dynamische Auslegung kann daher hier nicht bedeuten, von der schieren Anzahl der Rechtsakte114 im Bereich des Gesellschaftsrechts auf einen hohen Harmonisierungsgrad zu schließen und die europarechtlichen Vorgaben im Zweifel weit mit dem Ziel einer möglichst weit gehenden Konvergenz auszulegen. Vielmehr muss der Harmonisierungsstand sehr differenziert betrachtet werden. Es erscheint naheliegend, die wichtigste Abstufung bei der Harmonisierungsdichte in der 39 Unterscheidung zwischen Aktiengesellschaft und kleiner Kapitalgesellschaft zu sehen. Das Bild ist aber komplexer. Zwar gilt eine Reihe von Richtlinien, insbesondere die Kapitalrichtlinie und die Aktionärsrechterichtlinie, nur für Aktiengesellschaften. Angesichts der Deregulierung bei der Kapitalrichtlinie und der vielen Rechtsakte, die für alle Kapitalgesellschaften gelten, ist aber zu konstatieren, dass die Unterscheidung zwischen Aktiengesellschaft und kleiner Kapitalgesellschaft tendenziell an Bedeutung verliert. Wegen der nur börsennotierte Gesellschaften in Bezug nehmenden Vorgaben und der Überschneidung mit den kapitalmarktrechtlichen Regelungen nimmt die Bedeutung der Unterscheidung zwischen der kleinen Kapitalgesellschaft (einschließlich der nicht börsennotierten Aktiengesellschaft) und der kapitalmarktorientierten Gesellschaft stark an Bedeutung zu. Bei Letzterer darf grundsätzlich von einer großen Harmonisierungsdichte ausgegangen werden.

b) Folgerungen für die Bewertung der Spielräume im nationalen Recht 40 Nicht zuletzt die vorgestellte Hirmann-Entscheidung verdeutlicht, dass der Kapitalschutz nicht

absolut gilt, sondern mit gegenläufigen schutzwürdigen Interessen in Ausgleich zu bringen ist.

_____ 112 Zu der ambivalenten Stellung des Aktionärs zwischen Verbandsmitglied und Kapitalanleger bereits Mülbert, Aktiengesellschaft, Unternehmensgruppe und Kapitalmarkt (2. Aufl. 1996), S. 97 ff., 345 ff.; vgl. auch Krolop, Der Rückzug vom organisierten Kapitalmarkt (2005), S. 200 ff. Die Position der Kommission sieht durchaus auch diese Doppelrolle. Dies wird nicht zuletzt darin deutlich, dass sie der Erleichterung der Wahrnehmung des Stimmrechts durch die Aktionäre und dem Ausbau der Befugnisse der Hauptversammlung in ihrem neuen Aktionsplan große Bedeutung beimisst; siehe dazu o. Rn. 15. 113 Zum Verhältnis von europäischem Verbraucherschutz zum (Personen)Gesellschaftsrecht vgl. EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-215/08 E. Friz, Slg. 2010, I-2947, Rn. 44 ff.; eingehend Krolop, Die Gewährung von Risikokapital auf der Grundlage eines schuldrechtlichen Organisationsvertrages, § 6 IV. 4., § 9 II., V. (demnächst erscheinende Habilitationsschrift); Zusammenschau von E.Friz und Hirmann bei Fleischer/Schneider/Thaten, NZG 2012, 802, 808. 114 Vgl. Pistor/Keinan/Kleinheisterkamp/West, JCE 31 (2003), 676; dies., U.Pa.J.Int’l Econ.L. 23 (2002), 791: Anzahl von Veränderungen als Flexibilitätsmaßstab.

Krolop

§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

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Allerdings gibt die Hirmann-Entscheidung nicht abschließend darüber Aufschluss, ob die Kapitalrichtlinie als Mindest- oder Höchstnorm anzusehen ist. Von der hohen Anzahl der Rechtsakte im Bereich der börsennotierten Aktiengesellschaft, darf nicht auf den Willen zur Vollharmonisierung geschlossen werden. Gerade bei börsennotierten Gesellschaften besteht die Gefahr, dass sie zwischen den mannigfaltigen kapitalmarktrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Vorgaben eingezwängt werden und Handlungs- und damit Anpassungsspielräume schrumpfen.115 Die skizzierte Tendenz zur Deregulierung bei der Kapitalrichtlinie (oben Rn. 27 ff.) kann man auch als Gegengewicht zu der massiv steigenden Regelungsdichte im Kapitalmarktrechtrecht sehen, das den Mitgliedstaaten verhältnismäßig geringe Umsetzungs- und Gestaltungsspielräume lässt. Im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz kann man angesichts der skizzierten aktuellen 41 Entwicklung der Diskussion um die Kapitalrichtlinie daher als Faustregel annehmen, dass – soweit eine Regelung nicht explizit als Höchstnorm formuliert ist – Vorgaben in gesellschaftsrechtlichen Richtlinien im Zweifel als Mindestnormen anzusehen sind. Grundsätzlich hat der nationale Gesetzgeber den Spielraum, im eigenen Gesellschaftsrecht über die europäischen Vorgaben hinausgehende Schutzvorkehrungen vorzusehen. Ähnliche Erwägungen finden sich in der Siemens ./. Nold-Entscheidung zur Zulässigkeit der überschießenden Umsetzung der deutschen Regelungen zum Ausschluss des Bezugsrechts bei der Kapitalerhöhung.116

III. Die primärrechtskonforme Auslegung im Gesellschaftsrecht 1. Die primärrechtskonforme Auslegung im harmonisierten Bereich Bei der Frage, ob eine Richtlinie als Mindest- oder Höchstnorm anzusehen ist, ist auch zu be- 42 rücksichtigen, inwieweit das für die Gesellschaft maßgebliche Gesellschaftsrecht (Gesellschaftsstatut) frei wählbar ist. Für die Einordnung der Kapitalrichtlinie als Höchstnorm wurde ins Feld geführt, dass (vermeintlich) überzogene Schutzvorgaben nach deutschem Recht ausländische Gesellschafter/Gesellschaften von der Gründung und damit von der wirtschaftlichen Betätigung in dem jeweiligen Mitgliedstaat abhalten.117 Hier kommt nun die neuere Rechtsprechung des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit im Gesellschaftsrecht für die Auslegung im Lichte der Grundfreiheiten zum Tragen.118 Grundsätzlich darf einer im EU-Ausland gegründeten Gesellschaft die Eintragung einer Zweigniederlassung in das Handelsregister nicht mit Hinweis auf die Gefahr der Umgehung nationaler gesellschaftsrechtlicher Bestimmungen verweigert werden. Wenn aber der Ort der Gründung der Gesellschaft für deren Rechtsstatut maßgeblich ist und die Gesellschaft dieses „huckepack“ überall hin mitnehmen kann, dann ist nicht einzusehen, inwieweit Vorgaben im deutschen Gesellschaftsrecht, die über den von der Kapitalrichtlinie vorgesehenen Mindeststandard hinausgehen, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen sollen. Auch dies spricht dafür, dass den Richtlinien im europäischen Gesellschaftsrecht nicht un- 43 terstellt werden kann, dass sie auf eine Vollharmonisierung zielende Höchstnormen sind. Eine

_____ 115 Ähnlich für das deutsche Aktienrecht Ekkenga, ZGR 1999, 165, 200: „Die börsennotierte AG droht zwischen zwei aufeinander nicht ausreichend abgestimmten Normenkomplexen eingezwängt zu werden: Hier das zwingende Aktienorganisationsrecht mit seinem institutionalisierten Minderheitenschutz, dort die zunehmende Reglementierung des Marktverhaltens zum Zwecke des Anlegerschutzes.“ 116 EuGH v. 19.11.1996 – C 42/95 Siemens ./. Nold, Slg. 1996, I-6017, Rn. 19–21; näher dazu Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, S. 185 ff. 117 Drinkuth, Die Kapitalrichtlinie: Mindest- oder Höchstnorm (1998), S. 174 f.; Steindorff, EuZW 1990, 251, 252 f. 118 S.o. Fn. 66; näher dazu nachfolgend Rn. 57 ff. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

relativ wenig beachtete Entscheidung des EuGH119 zeigt aber, dass der Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers hinsichtlich zulässiger Schutzvorgaben auch dann nicht grenzenlos ist, wenn man das anwendbare Sekundärrecht als Mindestharmonisierung ansieht. Es ging um eine italienische Regelung, wonach ein Unternehmen über ein eingezahltes Mindestkapital von mindestens EUR 10 Millionen verfügen muss, um eine Konzession für das Inkasso öffentlicher Abgaben zu erhalten. Obwohl die Vorgaben zur Höhe des gesetzlichen Mindestkapital in der Kapitalrichtlinie unstreitig als Mindestnorm anzusehen sind,120 sah der EuGH diese Regelung als eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit an, da die Zuverlässigkeit und Funktionsfähigkeit des Inkasso auch durch weniger einschneidende Maßnahmen gewährleistet werden könne.121 Der EuGH geht nicht näher auf die Kapitalrichtlinie ein, sondern prüft (nach Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit) eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit. Er überspringt damit quasi die richtlinienkonforme Auslegung und begibt sich direkt auf die Ebene der primärrechtskonformen Auslegung. Daraus könnte man in Zusammenschau mit der Golden-Shares-Rechtsprechung122 und der 44 Inspire Art-Entscheidung123 folgenden Trend ablesen: Dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung der Mitgliedstaaten werden – auch im harmonisierten Bereich – (wieder) verstärkt Gestaltungsspielräume eingeräumt. Aber aufgrund des aus der Niederlassungsfreiheit – ggf. auch aus der der Kapitalverkehrsfreiheit – folgenden Beschränkungsverbots124 muss bei über den europarechtlich gebotenen Mindestschutz hinausgehenden Schutzvorkehrungen das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Wie weit der Arm der Grundfreiheiten in diesem Zusammenhang im Einzelnen reicht, ist eine immer noch ungeklärte, heftig umstrittene Frage.125 Aber folgende Leitlinie kann formuliert werden: Je stärker die Harmonisierung fortgeschritten ist, desto stärker rechtfertigungsbedürftig sind nationale Besonderheiten, desto eher muss damit gerechnet werden, dass diese Vorgaben vom EuGH im Hinblick auf das Beschränkungsverbot überprüft werden; desto eher stellt sich die Frage, ob Vorschriften des nationalen Rechts europarechtskonform auszulegen sind oder wenigstens europarechtsfreundlich126 ausgelegt werden sollten. Neben der Harmonisierungsdichte und ökonomischen Erwägungen können auch folgende Gesichtspunkte hilfreich sein.

a) Nationale Sonderwege als Informationsproblem 45 Im Hinblick auf den hohen Stellenwert des Informationsmodells und der Herstellung von Trans-

parenz sollte man „überschießende“ Schutzvorkehrungen vor allem dann kritisch hinterfragen, wenn es sich um einen für ausländische Investoren nur schwer erkennbaren nationalen Sonderweg handelt. Im Einzelfall kann eine derartige Intransparenz eine potentielle Beschränkung der Niederlassungsfreiheit sein. Ein in der Vorauflage eingehend vorgestelltes Beispiel hierfür ist

_____ 119 EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-357/10 bis 359/10 Duomo GpA; siehe auch Kern, EuZW 2014, 73. 120 Das folgt bereits aus dem klaren Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 KapRL „… Höhe von mindestens 25.000 ECU“. 121 EuGH v. 10.5.2012 – verb. Rs. C-357/10 bis 359/10 Duomo GpA, Rn. 33–45. 122 S.o. Rn. 9. 123 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155; s.a. o. Rn. 42; näher dazu unten Rn. 48 ff. 124 Siehe dazu Nachweise bei Rn. 9/Fn. 16–17; vgl. auch unten Rn. 49, 56 f. 125 Zu einer europa- bzw. grundfreiheitenfreundlichen Betrachtungsweise siehe stellvertretend Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, Rn. 175 ff.; 642 ff.; 768 ff. Dieser stehen deutlich restriktivere, von Europaskepsis geprägte Auffassungen gegenüber, vgl. G.H. Roth, Vorgaben der Niederlassungsfreiheit für das Kapitalgesellschaftsrecht (2010); MünchKommBGB-Kindler, Internationales Handels- und Gesellschaftsrecht, Einl. Rn. 98 ff.; zu vermittelnden Ansichten siehe Teichmann, ZGR 2011, 639 ff. 126 Zu diesem Begriff GroßkommAktG-Windbichler, vor § 15 AktG Rn. 48. Krolop

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die Lehre von der verdeckten Sacheinlage.127 Dass die Erfüllung einer gegen die Gesellschaft gerichteten Forderung durch die Gesellschaft im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung als eine verdeckte Einbringung der Forderung als Sacheinlage angesehen wurde, und die Einlage daher erneut aufgebracht werden musste,128 hat insbesondere ausländische Inferenten nicht selten überrascht.129 Da sich diese Grundsätze nicht im Gesetz wiederfanden, sondern dieser Local Hill (oben Rn. 22) in der deutschen Rechtslandschaft von der Rechtsprechung im Wege der Rechtsfortbildung aufgeschichtet wurde, stellt sich ein Informationsproblem. Insofern war die Lehre von der verdeckten Sacheinlage ähnlich verdeckt wie ihr Gegenstand. Die Transparenz von über den Mindestschutz hinausgehenden Vorgaben ist daher ein wichtiger Faktor für die Beurteilung der Zulässigkeit derartiger Regelungen. Der Gesetzgeber hat mit der Regelung zur Behandlung der verdeckten Sacheinlage mit dem MoMiG130 nicht nur inhaltlich den lokalen Hügel etwas abgeflacht, sondern mit der Einführung einer gesetzlichen Regelung auch dem Transparenzproblem weitgehend abgeholfen.131

b) Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung Auch wenn im Gesellschaftsrecht häufig keine Vollharmonisierung gewollt ist, bleibt es im Hin- 46 blick auf das angesprochene Informationsproblem wichtig, Local Hill-Phänomene zu erkennen. Rechtsvergleichende Betrachtungen helfen dabei. Das dient aber nicht nur der reiferen Selbsterkenntnis, sondern auch dem europäischen Überblick über die nationalen Täler und Hügel. Nur von dieser Warte kommt man etwa zu der Erkenntnis, dass die im Aktionsplan 2012 vorgesehenen Regelungen zu Related Party Transactions und die Vorgaben zur verdeckten Gewinnausschüttung in Deutschland im Kern sehr ähnliche Regelungsanliegen verfolgen132 und sich daher im Fall einer Umsetzung der Pläne der Kommission in Deutschland das Problem einer eventuell unverhältnismäßigen Aufdoppelung von Vorkehrungen stellt. Der Rechtsvergleich ist aber schon auf der vorgelagerten Ebene der Auslegung der Richtlinie 47 erforderlich. Nur so ist nämlich zu verhindern, dass kraft nationalen Vorverständnisses die acte clair-Doktrin in Anspruch genommen wird, obwohl hinsichtlich der Auslegung einer europäischen Rechtsnorm erhebliche Unklarheiten bestehen. Bei der Analyse der Hirmann-Entscheidung hat sich gezeigt, dass es hinsichtlich der Auslegung des Begriffs „Ausschüttung“ in den Mitgliedstaaten unterschiedliche Traditionen gibt (siehe oben Rn. 34 f.).

2. Die primärrechtskonforme Auslegung und internationales Gesellschaftsrecht Wie bereits erwähnt (oben Rn. 15), liegt ein Schwerpunkt der europarechtlichen Harmonisierung 48 bei Vorgaben für grenzüberschreitende Transaktionen. Diese werfen die Frage des anwendbaren

_____ 127 Siehe dort § 19 Rn. 28–45. 128 Siehe BGHZ 110, 47, 65 – IBH/Lemmerz; Hüffer, Aktiengesetz (7. Aufl. 2006), § 27 Rn. 9 ff.; siehe auch Vorauflage, § 19 Rn. 39–45. 129 Ein gravierender Fall der fehlgeschlagenen Einbringung von Forderungen betraf General Motors. Das Unternehmen wurde im Zuge des Konkurses der IBH Holding AG durch das LG Mainz, AG 1987, 91 ff., zu einer Nachzahlung von 62,8 Mio. DM verurteilt, vgl. dazu Lutter/Gehling, WM 1989, 1445, 1446; vgl. auch BGH, ZIP 1992, 1464 ff. – IBH/Scheich Kamel. 130 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen v. 23.10.2008, BGBl. 2008 I, 2026, insbes. § 19 Abs. 4 GmbHG a.F.; mit dem ARUG in § 27 Abs. 3 AktG auf die AG übertragen. 131 Näher zur Neuregelung der verdeckten Sacheinlage Habersack, AG 2009, 557, 560; Hirte, NZG 2008, 761, 763; Schall, ZGR 2009, 129, 143 f.; siehe dazu auch Vorauflage, § 19 Rn. 44. 132 S.o. Rn. 34. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

Rechts auf. Auf dieser kollisionsrechtlichen Ebene ist nicht nur spezielles Sekundärrecht,133 sondern auch das Primärrecht zu berücksichtigen. Dabei ist sorgfältig zwischen der Beurteilung des nationalen Rechts aufgrund des Gesellschaftsstatuts einerseits und der Gewährleistung der primären Niederlassungsfreiheit (grenzüberschreitende Gründung und unternehmerische Beteiligung an Gesellschaften, Wahlfreiheit hinsichtlich des Gesellschaftsstatuts), andererseits134 zu unterscheiden. Bei der zuletzt genannten Konstellation sieht sich der Rechtsanwender mitunter einem komplexen Dreieck mit den Eckpunkten auszulegender Sekundärakt, Gewährleistungsgehalt der Grundfreiheiten und Kollisionsrecht gegenüber. Ein anschauliches Beispiel für das Einwirken der Niederlassungsfreiheit auf das Kollisions49 recht ist die Behandlung von europäischen Auslandsgesellschaften, insbesondere der (fälschlicherweise) so genannten Scheinauslandsgesellschaft. Bei dieser handelt es sich um eine Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat (Gründungsstaat) ausschließlich zum Zweck der wirtschaftlichen Betätigung in einem anderen Mitgliedstaat (Zuzugsstaat) gegründet wird. In Sachen Überseering135 und Inspire Art136 hat der EuGH statuiert, dass der Zuzugsstaat diese Gesellschaften grundsätzlich ohne Einschränkungen als rechts- und parteifähig anerkennen muss. Die Umgehung bzw. Vermeidung des Gesellschaftsrechts des Zuzugsstaats sei kein Missbrauch, sondern Ausübung der Niederlassungsfreiheit, die nur aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls beschränkt werden dürfe. Bei der Umsetzung dieser Vorgabe im Rahmen der Anwendung des nationalen Rechts sind drei Ebenen zu trennen, die häufig miteinander vermengt werden: Gewährleistung der Wahlfreiheit der für die Gesellschaft maßgeblichen Gesellschaftsrechtsordnung, das heißt Wahl des Gesellschaftsstatuts, dazu a), Wechsel des Gesellschaftstatuts, dazu b) und Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts, dazu c).

a) Gewährleistung der Wahlfreiheit des Gesellschaftsstatuts 50 Zunächst geht es um die Frage, wie das nationale Kollisionsrecht anzuwenden ist, damit die An-

erkennung der im Ausland gegründeten Gesellschaft im Zuzugsstaat gewährleistet ist. Folgte man der in Deutschland lange Zeit herrschenden Sitztheorie,137 wäre der tatsächliche Verwaltungssitz Anknüpfungspunkt für das anzuwendende Sachrecht. Die Rechts- und Parteifähigkeit einer in Großbritannien wirksam gegründeten und eingetragenen Company Limited by Shares (nachfolgend: Limited), deren tatsächliche Hauptverwaltung in Deutschland betrieben wird, würden nach deutschem Gesellschaftsrecht beurteilt. Dies hätte zur Folge, dass in Ermangelung der Eintragung ins Handelsregister die Anerkennung als Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung versagt und sie als Vor-GmbH, OHG oder GbR qualifiziert werden würde, u.a. mit der Konsequenz der unbeschränkten Haftung der Gesellschafter.138 Hierdurch würde die Niederlassungsfreiheit unzulässig beschränkt. 51 Die Vorgaben des EuGH zur Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit durch freie Rechtsformwahl lassen sich im Ergebnis sinnvoll nur dadurch umsetzen, dass die Rechtsverhältnisse der Gesellschaft, insbesondere die Rechts- und Parteifähigkeit nach dem Recht des Gründung-

_____ 133 S. z.B. Art. 12 Verschmelzungsrichtlinie; Art. 4 Abs. 2 lit. a) Übernahmerichtlinie. Die EuInsVO zielt sogar primär auf die Regelung des Kollisionsrechts. 134 Dazu näher unten Rn. 50 ff. 135 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 136 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 137 Vgl. nur Darstellung bei MünchKommAktG-Altmeppen, Europäische Niederlassungsfreiheit Rn. 36 ff. mwN und Eidenmüller, in: ders. (Hrsg.), Ausländische Kapitalgesellschaften (2004), § 1 Rn. 4 ff. 138 So der BGH, NZG 2000, 926 im Vorlagebeschluss, der zu der Überseering-Entscheidung des EuGH geführt hat; ähnlich jüngst im Hinblick auf eine in der Schweiz gegründeten Gesellschaft BGHZ 178, 192 – Trabrennbahn; kritische Bestandsaufnahme bei Bartels, ZHR 176 (2012), 412, 418 ff. Krolop

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staates beurteilt werden (Gründungstheorie). Ferner ist zu beachten, dass die Gründungstheorie an sich keine unmittelbar geltende europarechtliche Norm oder gar selbst Schutzgegenstand der Niederlassungsfreiheit ist, sondern sie ist die Methode des nationalen Kollisionsrechts zur Umsetzung der Vorgaben des EuGH bzw. zur Verwirklichung der Grundfreiheit.139 Dafür sprechen auch Art. 7, 8 und 64 der SE-VO, die für die Europäische Gesellschaft verbindlich Sitz und Hauptverwaltung am selben Ort verlangen, also der Sitztheorie nahe stehen, dafür aber die grenzüberschreitende Sitzverlegung regeln. Von der Frage der Anerkennung einer Gesellschaft mit Gründungs- und Satzungssitz im Ausland (Zuzug) zu 52 unterscheiden ist die Behandlung der Verlegung des faktischen Hauptverwaltungssitzes ins Ausland durch den Wegzugsstaat. In der Cartesio-Entscheidung hat der EuGH betont, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen für die Existenz von auf ihrem Territorium gegründeten Rechtsträgern und deren Fortbestand zu bestimmen. Wenn wie bei der Cartesio-Entscheidung das Recht des Wegzugstaats, konkret das ungarische Recht, im Fall der Verlegung des Verwaltungssitzes ins Ausland die Auflösung der Gesellschaft anordnet, sei dies (und sonstige etwaige Wegzugsbeschränkungen) nicht zu beanstanden.140 Wenn dagegen der Wegzugsstaat – wie neuerdings auch das deutsche Recht für die GmbH (vgl. § 4a GmbHG) – 53 die Verlegung des Verwaltungssitzes ins Auslands unter Beibehaltung des Satzungsitzes erlaubt,141 müssen sich Regelungen, die den Gebrauch von dieser Option weniger attraktiv machen, an dem aus der Niederlassungsfreiheit folgenden Beschränkungsverbot messen lassen. Dies geht aus der National Grid Indus-Entscheidung hervor, in welcher der EuGH in einer besonderen Besteuerung anlässlich dieses Vorgangs (Wegzugsbesteuerung) eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit sah.142

b) Wechsel des Gesellschaftsstatuts durch Sitzverlegung Von der „rechtsformwahrenden Verwaltungssitzverlegung“143 ist die Verlegung des Satzungssit- 54 zes in einen anderen EU-Staat zu unterscheiden, infolgedessen die Gesellschaft dem Recht dieses Staates unterliegen soll. Nach herkömmlicher Sicht im deutschen Kollisionsrecht führt eine derartige Transaktion zur Auflösung der Gesellschaft oder zumindest zur Nichtigkeit eines auf eine derartige Sitzverlegung gerichteten Beschlusses.144 In der Cartesio-Entscheidung145 hat der EuGH obiter dicta auf eine Ausnahme hingewiesen: Die Gesellschaft habe dann Anspruch auf Umzug in einen anderen Mitgliedstaat, wenn sie bereit ist, die bisherige Rechtsform aufzugeben

_____ 139 Dies ebenfalls besonders betonend Schanze/Jüttner, AG 2003, 661, 665. Deshalb sind auch Ansätze im Schrifttum, die bei einzelnen Anknüpfungsfragen weiterhin die Sitztheorie anwenden wollen (Altmeppen, NJW 2004, 97 ff.; vgl. auch P. Ulmer, NJW 2004, 1201, 1208), nicht von vornherein europarechtswidrig, sondern erst dann, wenn die Folge der konkreten Rechtsanknüpfung eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt; zum Ganzen eingehend Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 421 ff. (allgemein), 449 ff.; vgl. auch Schilling, Binnenmarktkonformes Kollisionsrecht (2004), S. 249 ff.: „keine flächendeckende kollisionsrechtliche Aussage“. 140 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 109 ff.; dies wird auch als „Geschöpftheorie“ bezeichnet, näher dazu Verse, ZeuP 2013, 458, 461 ff.; Zimmer/Naendrup, NJW 2009, 545, 546; ähnlich bereits EuGH v. 27.9.1988 – Rs. 81/87 The Queen ./. H.M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, Slg. 1988, 5483 – Daily Mail. 141 Einzelheiten und dogmatische Einordnung sind umstritten Eidenmüller, ZGR 2007, 168, 205 f.; näher dazu Franz/Laeger, DB 2008, 673, 680 ff.; Verse, ZEuP 2013, 458, 465 ff. 142 EuGH v. 29.11.2011 – Rs. C-371/10 National Grid Indus BV ./. Inspecteur van de Belastingdienst/kantoor Rotterdam, Slg. 2011, I-12339 Rn. 28 ff.; näher dazu Verse, ZEuP 2013, 458, 463 ff. 143 Zu dieser Begrifflichkeit siehe Zwischenüberschrift bei Verse, ZEuP 2013, 458, 460. 144 Vgl. Hüffer, § 5 AktG Rn. 12, § 262 AktG Rn. 6, 10; MünchKommAktG-Hüffer, § 262 AktG Rn. 36 f.; Kieninger, Wettbewerb der Privatrechtsordnungen, S. 149; MünchKommBGB-Kindler, Intern. Handels- und Gesellschaftsrecht Rn. 507; OLG Brandenburg, BB 2005, 549, 850; OLG Düsseldorf, BB 2001, 901. 145 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 119 ff. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

und eine Rechtsform nach Maßgabe des Rechts des Zuzugsstaates zu wählen. Diese Auffassung hat der EuGH in der Vale-Entscheidung ausdrücklich bekräftigt.146 Damit kommt es für die Zulässigkeit der Verlegung des Satzungssitzes entscheidend darauf an, ob eine derartige Umwandlung in eine Rechtsform des Zuzugsstaats von diesem zugelassen wird.147 Ist das der Fall, dann ist die Möglichkeit der Verlegung des Satzungssitzes eröffnet, die sich letztlich als grenzüberschreitender Formwechsel darstellt.148 Für einen derartigen Vorgang gibt es keinerlei Vorgaben im europäischen Sekundärrecht.149 Aus methodischer Sicht ist durch die Rechtsprechung des EuGH zum Primärrecht eine Rege55 lungslücke entstanden, die de lege lata im Wege der Analogie geschlossen werden muss. Zunächst bieten sich die Vorgaben zum Formwechsel an, die aber zumindest im deutschen Recht insoweit lückenhaft sind, als sie keine Vorgaben für grenzüberschreitende Sachverhalte enthalten.150 Insbesondere ist nicht klar geregelt, für welche Fragen das Recht des Wegzugsstaats maßgeblich ist und für welche das Recht des Zuzugsstaats.151 Daher erscheint es unvermeidlich, ergänzend partielle Analogien zu den §§ 122a ff. UmwG zur grenzüberschreitenden Verschmelzung heranzuziehen.152 Zumindest soweit man das in der Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung vorgesehene Schutzniveau nicht überschreitet, wird man dem jeweiligen Mitgliedstaat nicht vorhalten können, dass er durch überzogene Schutzvorkehrungen die Niederlassungsfreiheit unangemessen erschwere.153 Wenn sich das für einen derartigen Sitzwechsel geltende Regime, aus einer Kombination von Vorgaben zur grenzüberschreitenden Verschmelzung und zum Formwechsel zusammensetzt, stellt sich erneut das angesprochene Problem einer die Attraktivität des Gebrauchs von der Niederlassungsfreiheit beeinträchtigende Intransparenz (oben Rn. 45). Eine Reihe von Stimmen konstatiert hier eine unionsrechtswidrige „Regelabstinenz“ des deutschen Gesetzgebers.154 Für die Praxis befriedigende Rechtssicherheit kann aber wohl nur durch eine europarechtliche Regelung geschaffen werden.155

c) Bestimmung der Reichweite des Gesellschaftsstatuts 56 Da der BGH mit Rücksicht auf die Niederlassungsfreiheit für den Zuzug von EU-Gesellschaften

der Gründungstheorie folgt,156 hat sich die Debatte von der Frage „Gründungs- oder Sitztheorie“

_____ 146 EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-378/10 Vale; näher dazu Teichmann, DB 2012, 2085; Verse, ZEuP 2013, 458, 476 ff.; zur Rezeption in der deutschen Rechtsprechung vgl. OLG Nürnberg, NZG 2014, 349. 147 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 110; näher dazu Zimmer, NJW 2009, 545, 546; den Zuzug erlaubt z.B. Portugal, vgl. Jayme, IPRax 1987, 46, 47. 148 Verse, ZEuP 2013, 458, 478 ff.; umfassender rechtsvergleichender Überblick bei Vermeylen/Velde, European Cross-Border Mergers and Reorganizations (2012). 149 Auch die Vorgaben zur SE bieten keinen Anhaltspunkt, da Art. 7 und 64 SE-VO verlangen, dass Sitz und Hauptverwaltung sich am selben Ort befinden. 150 Zu diesbezüglichen Regelungen in Spanien, Portugal und Luxemburg s. Stöber, ZIP 2012, 1276; s.a. Fn. 148. 151 Näher dazu Bungert/Raet, DB 2014, 761, 762; Verse, ZEuP 2013, 458, 484 ff.; Weller, IPrax 2013, 530, 532 ff. 152 Zu den im Einzelnen umstrittenen Eckpunkten, die sich hieraus ergeben, s. Bungert/Raet, DB 2014, 761, 762 ff.; Verse, ZEuP 2013, 458, 484 ff.; Wachter, GmbHR 2014, 96, 100; vgl. auch OLG Nürnberg, NZG 2014, 349. 153 Ähnlich Lutter/Bayer/J. Schmidt, Europäisches Unternehmens- und Kapitalmarktrecht, § 6, 60 ff.; Verse, ZEuP 2013, 482 ff. 154 So wörtlich Verse, ZEuP 2013, 458, 480; ähnlich Teichmann, DB 2012, 2091; W.-H. Roth, FS Hoffmann-Becking (2013), S. 970 f.; zur Problematik der Intransparenz im Hinblick auf die Grundfreiheiten allgemein oben Rn. 45. 155 Die Kommission hat im Aktionsplan 2012 (Fn. 40), Ziff. 4.1. angekündigt, einen neuen Anlauf für eine Regelung zur Sitzverlegung zu unternehmen. Die diesbezüglich durchgeführte Konsultation ist allerdings nur auf geringe Resonanz gestoßen, siehe dazu Bungert/Raet, DB 2014, 761, 763 f. 156 BGHZ 154, 185 – Überseering (1. LS der Abschlussentscheidung). Auch der für das Gesellschaftsrecht zuständige II. Zivilsenat ist dem gefolgt (BGH, NJW 2005, 1648; BGH, NJW 2003, 2609); außerhalb des Anwendungsbereichs der Grundfreiheiten hat der BGH dagegen jüngst wieder die Sitztheorie angewendet (BGHZ 178, 192 – TrabKrolop

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(Bestimmung des Gesellschaftsstatuts) auf die Frage verlagert, welche Regelungsbereiche von dem Verweis auf das materielle Gesellschaftsrecht des Gründungsstaates erfasst werden (Inhalt des Gesellschaftsstatuts). Wenn auf eine Gesellschaft ausländisches Gesellschaftsrecht Anwendung findet, handelt es sich um eine Teilrechtsordnung, die es in die Rechtsordnung des Zuzugsstaates und dort insbesondere in die angrenzenden Rechtsgebiete, vor allem in das allgemeine Zivilrecht sowie in das Insolvenz- und Arbeitsrecht, einzubetten gilt. So vielfältig die nationalen Gesellschaftsrechte sind, so vielfältig sind auch deren Abgrenzungen zu den benachbarten Rechtsgebieten. Diese Problematik ist bisher weder auf nationaler noch auf europäischer Ebene gesetzlich geregelt. Zwar sind die Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Kollisionsrechts im Bereich des Schuldvertragsrechts und der nicht vertraglichen Schuldverhältnisse durch die Rom I-VO157 bzw. die Rom II-VO158 weit fortgeschritten, jedoch scheint sich beim Gesellschaftsrecht die Geschichte zu wiederholen. So wie das Internationale Gesellschaftsrecht im EGBGB keine eigene Berücksichtigung fand, sitzt es nun auch auf europäischer Ebene als schwierige Querschnittsmaterie (erneut) zwischen allen Stühlen.159 Dies verdeutlicht auch die kontrovers geführte Diskussion um die kollisionsrechtliche Einordnung der vom BGH entwickelten, nunmehr auf § 826 BGB gestützten Existenzvernichtungshaftung160 und die Insolvenzverschleppungshaftung.161 In Sachen Überseering162 und Inspire Art163 hat der EuGH statuiert, dass der Zuzugsstaat bei 57 Verlegung des Verwaltungssitzes diese Gesellschaften grundsätzlich ohne Einschränkungen als rechts- und parteifähig anerkennen muss. Dies beinhaltet im Hinblick auf die Gewährleistung der Niederlassungsfreiheit für europäische Auslandsgesellschaften ein allgemeines Beschränkungsverbot im Sinne der Dassonville- bzw. Gebhard-Formel.164 Die Anwendung von Haftungs-

_____ rennbahn). Dieses Zögern beim Verlassen des vertrauten Pfades der Sitztheorie mag einen sachlichen Grund darin finden, dass das Regelungsgefälle innerhalb der EU aufgrund der Rechtsharmonisierung geringer ist als gegenüber Drittstaaten; führt aber dazu, dass es derzeit drei verschiedene Regimes für die Behandlung von Auslandsgesellschaften gibt: Gründungstheorie bei Staaten mit Gründungssitz in einem EU-Staat, besondere Vorgaben des deutschamerikanischen Freundschaftsvertrags bei Gründungssitz in den USA (vgl. dazu BGHZ 153, 353; BGH, ZIP 2004, 1549; Drouven/Mödl, NZG 2007, 7); sowie Sitztheorie bei in anderen Drittstaaten gegründeten Gesellschaften; vgl. auch die kritische Bestandsaufnahme bei Bartels, ZHR 176 (2012), 412, 418 ff.; zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung des angesprochenen Pfads Trautrims, ZHR 176 (2012), 435. 157 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008, L 177/6. 158 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. 2007 L 199/40. 159 So nehmen die Rom I-VO und die Rom II-VO in Art. 1 Abs. 2 lit. f) bzw. Art. 1 Abs. 2 lit. d) Fragen und Haftungstatbestände betreffend das Gesellschaftsrecht vom Anwendungsbereich aus; näher dazu Krolop, NotBZ 2007, 265, 270 ff.; krit. zur „Zersplitterung“ bei der Vereinheitlichung des internationalen Privatrechts ohne eine „Kodifikationsidee“ Jayme/Kohler, IPRax 2006, 537 ff.; vgl. auch Basedow, NJW 1996, 1921, 1929. 160 Es werden alle Anknüpfungsvarianten vom Deliktsrecht über das Gesellschaftsrecht bis hin zum Insolvenzrecht vertreten; zu Meinungsstand und differenzierenden Ansätzen Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 29; Krolop, NotBZ 2007, 265, 267 ff.; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 421 ff.; MünchKommGmbHG-Weller, Einl. Rn. 469 ff. 161 Für insolvenzrechtliche Einordnung LG Kiel, NZG 2006, 672 f.; Goette, DStR 2005, 197, 199; Eidenmüller, NJW 2005, 1618, 1620; Habersack/Verse, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3 Rn. 29; zur Gegenansicht vgl. Schall, ZIP 2005, 965, 974; Spindler/Berner, RIW 2004, 7, 12; Teichmann, Binnenmarktkonformes Gesellschaftsrecht, S. 524 ff.; eingehend dazu Vorauflage § 19 Rn. 71 f. 162 EuGH v. 5.11.2002 – Rs. C-208/00 Überseering, Slg. 2002, I-9919. 163 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-167/01 Inspire Art, Slg. 2003, I-10155. 164 Die in EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 855, aufgestellten Grundsätze zur Warenverkehrsfreiheit hat der EuGH in seinem Urteil v. 30.11.1995 – Rs. C-55/94 Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37, auf die Niederlassungsfreiheit übertragen. S.a. o. Rn. 9, 52.

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3. Teil: Besonderer Teil

tatbeständen des deutschen Rechts an der Schnittstelle von Gesellschaftsrecht mit angrenzenden Rechtsgebieten, auf eine in Deutschland aktive Limited ist grundsätzlich geeignet, die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv zu machen, insbesondere wenn es dadurch zu einer Aufdoppelung mit Haftungstatbeständen des englischen Rechts kommt.165 Da die Anerkennung der ausländischen (Teil-)Rechtsordnung als gleichwertig ein Gebot der 58 Niederlassungsfreiheit darstellt, ist die Vermeidung derartige Aufdoppelungen nicht nur sachgerecht, sondern europarechtlich geboten. Es ist ein petitum der modernen IPR-Wissenschaft, zur Vermeidung von Doppelregelungen und negativen Kompetenzkonflikten (auch als „Normmangel“ bezeichnet) bei der kollisionsrechtlichen Qualifikation die Rechtsfolgen zu berücksichtigen.166 Das hat im Bereich des Vertragsrechts auch in der Rom I-VO seinen Niederschlag gefunden.167 Dieser Ansatz erhält durch die Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit eine europarechtliche Dimension. Eine Umsetzung von Rechtsinstituten aus dem Gesellschaftsrecht in benachbarte Rechtsgebiete, wie die durch das MoMiG (vgl. oben Rn. 45) vorgesehene Neuverortung der Insolvenzantragspflicht in § 15a InsO, ist weder vorgreiflich für die kollisionsrechtliche Qualifikation, noch für die Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht.168 59 Solange das IPR des Gesellschaftsrechts nicht auf europäischer Ebene harmonisiert ist,169 wird dem Rechtsanwender daher bei jeder einzelnen Frage hinsichtlich der Qualifikation einer auf der Grenze zwischen Gesellschaftsrecht und einem „benachbarten“ Statut liegenden Norm eine funktional-rechtsvergleichende170 Würdigung abverlangt.

IV. Die Verzahnung von europäischer Verordnung mit nationalem Recht bei der SE 1. Das Verhältnis der Vorgaben in der SE-VO zum nationalen Recht und zur Satzung 60 Die Europäische Gesellschaft wurde durch die SE-VO eingeführt. Diese trifft keine vollständige

Regelung, sondern verweist für die nicht geregelten Bereiche auf das Recht des Sitzstaates der SE (Art. 9 Abs. 1 lit. c) SE-VO). Dort haben die zur Implementierung der SE erlassenen Vorschriften des nationalen Rechts – in Deutschland das Gesetz zur Einführung der SE (SEEG) – Vorrang vor dem allgemeinen Gesellschaftsrecht (Art. 9 Abs. 1 lit. c) Ziff. ii) SE-VO). Daraus ergibt sich ein komplexes Wechselspiel von europäischer Regelungsebene (SE-VO), nationalem Recht und den

_____ 165 Die Einzelheiten sind sehr umstritten; zum kollisionsrechtlichen Gehalt der Grundfreiheiten Schilling, Binnenmarktkonformes Kollisionsrecht (2004), S. 159 ff.; 255 ff. (allgemein), 239 ff. (speziell im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht); s.a. Bayer, BB 2003, 2357, 2362 f.; Leible/Hofmann, EuZW 2003, 677 ff.; Meilicke, GmbHR 2003, 1271, 1272; Spindler/Berner, RIW 2004, 7 ff.; zur Gegenansicht siehe G.H. Roth, Vorgaben der Niederlassungsfreiheit für das Kapitalgesellschaftsrecht (2010). 166 Teilweise wird daher auch von einer funktional-teleologischen Qualifikation gesprochen, vgl. Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht (9. Aufl. 2004), S. 338 ff.; Rauscher, Internationales Privatrecht (4. Aufl. 2012), Rn. 472 ff. 167 Vgl. Art. 9 Abs. 3 S. 2 Rom I-VO zu den Voraussetzungen für die Anwendung von Eingriffsnormen: „Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben“. 168 Ähnlich Bayer, BB 2003, 2357, 2362 f.; Eidenmüller/Rehm, ZGR 2004, 159, 182; Leible/Hofmann, EuZW 2003, 677 ff.; Spindler/Berner, RIW 2004, 7 ff. (allgemein), zur Verortung der Insolvenzantragspflicht in § 15a InsO siehe auch Vorauflage, § 19 Rn. 71 ff.; zur Qualifikation der Neuregelungen zu den Gesellschafterdarlehen siehe Krolop, ZIP 2007, 1738, 1745; MünchKomm-Altmeppen, GmbHG (7. Aufl. 2012), Anh §§ 32a, b Rn. 95 ff. 169 Zum Stand der Harmonisierung des Kollisionsrechts im Bereich des Privatrechts s.o. Rn. 56. 170 Zu der Ernst Rabel zugeschriebenen Methode des funktionalen Rechtsvergleichs und der Kritik an ihr Piek, ZEuP 2013, 60 ff.

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Regelungen der Satzung in der SE, deren Spielräume sich teilweise aus den europäischen Vorgaben, teilweise aus nationalem Recht ergeben. Hinzu kommen noch Bilanzierungsvorschriften, branchenspezifische Regulierungen, ggf. Kapitalmarktrecht(e) und, last but not least, Mitbestimmungsvereinbarungen und nationale (Auffang-)Regelungen in Umsetzung der Ergänzungsrichtlinie zur SE-VO. Wie „europäisch“ die SE ist, lässt sich am Umfang der Verweisungen jedoch nicht feststel- 61 len. Wenn nämlich die Materie keine oder nur mäßige Harmonisierung erfahren hat, ist die europäische Form nur eine äußerliche Hülle.171 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob der Verweis auf das nationale Recht des Sitzstaates in Art. 9 Abs. 1 lit. c SE-VO auch Richterrecht bzw. ungeschriebene Rechtsgrundsätze erfasst.172 Dies wird von der herrschenden Meinung bejaht.173 Diese sollten jedoch nicht mechanisch auf die SE übertragen werden. Vielmehr ist sorgfältig zu überprüfen, ob der Verweis in der SE-VO den gesamten geregelten Bereich erfasst, also eine vom europäischen Verordnungsgeber geplante Lücke ausgefüllt wird, oder ob die Rechtsfortbildung in Bereiche ausgreift, die auch von der SE-VO erfasst werden. Vor diesem Hintergrund wäre zum Beispiel zu problematisieren, ob der Verweis in Art. 52 S. 2 SEVO nur geschriebene Hauptversammlungskompetenzen des nationalen Rechts oder auch die Grundsätze des BGH zur ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenz174 umfasst.175 Die alltägliche Aufgabe des Rechtsanwenders der „Feststellung von Lücken im Gesetz“176 bzw. Auslassungen177 und die sorgfältige Differenzierung zwischen Planwidrigkeit und Planmäßigkeit derselben178 wird damit durch die ständige Orientierung in und an den Ebenen der Normhierarchie ergänzt.

2. Besondere Methodenfragen bei der SE a) Die doppelte Dimension von Satzungsstrenge und Satzungsautonomie Die Satzung der SE ist in Art. 9 SE-VO zweimal erwähnt, in Abs. 1 lit. b) und 1 lit. c) iii).179 Zur Verdeutlichung 62 der sich daraus ergebenden Probleme sei hier eine Satzungsbestimmung einer SE mit Sitz in Deutschland angenommen, welche das Aufsichtsratsmodell wählt, Ausschüsse des Aufsichtsrates sowie die Beschlussfassung und Beschlussfähigkeit im Aufsichtsrat regelt. Der Satzungsgeber einer in Deutschland ansässigen SE sieht sich einer doppelten Kompetenzregelung gegenüber: Die Satzung darf Bestimmungen treffen, wenn die SE-VO

_____ 171 Davies, Gower and Davies: Principles of Modern Company Law (8. Aufl. 2008), Rn. 1–21; in Fn. 153 wird dort vermerkt „… that the SE proposal started as a sausage and ended up as a sausage skin“; hierzu auch Fleischer, AcP 201 (2004), 502, 507; Teichmann, ZGR 2002, 383, 394 ff.; Windbichler, FS Canaris (2007), S. 1425 f. 172 Vgl. Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 48 f.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 65; Wagner, NZG 2002, 985, 987. 173 S. vorgehende Fn. 174 Ausführlich (i.Erg. verneinend) dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 142 ff.; abl. auch MünchKommAktG-Kubis, Art. 52 SE-VO Rn. 22; ebenfalls krit. Lutter/Hommelhoff-Spindler, SEKommentar (2008), Art. 52 SE-VO Rn. 47 (auch mit Nachweisen zur bejahenden h.M.). 175 Vgl. BGHZ 83, 122 – Holzmüller; BGHZ 159, 30 – Gelatine. 176 So der Titel des „Klassikers“ der Methodenlehre von Canaris (2. Aufl. 1983). 177 Die deutsche Literatur zur Feststellung und Ausfüllung von Lücken im Gesetz hat das Kodifikationskonzept oder doch die Vorstellung einer einigermaßen vollständigen Regelung für einen bestimmten Bereich zum Hintergrund. Auf die SE-VO passt dies kaum, vgl. Bachmann, ZEuP 2008, 32, 53 ff. 178 Vgl. dazu die Beiträge im 2. Teil dieses Bandes, insbes. Riesenhuber, § 10 Rn. 23 ff. und Neuner, § 12 Rn. 27 ff. 179 Art. 9 Abs. 1 SE-VO: „Die SE unterliegt … b) sofern die vorliegende Verordnung dies ausdrücklich zulässt, den Bestimmungen der Satzung der SE, c) … iii) den Bestimmungen ihrer Satzung unter den gleichen Voraussetzungen wie im Falle einer nach dem Recht des Sitzstaates der SE gegründeten Aktiengesellschaft …“.

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3. Teil: Besonderer Teil

es ausdrücklich zulässt.180 In einigen Fällen verlangt die Verordnung sogar eine Regelung durch die Satzung. Das gilt z.B. für die Wahl zwischen dem Verwaltungsrats- und dem Aufsichtsratsmodell, Art. 38 SE-VO. Im Übrigen weist die Verordnung die Regelungskompetenz dem nationalen Recht zu, womit auch die Reichweite der Satzungsautonomie sich nach nationalem Recht richtet. Über den Verweis in Art. 9 Abs. 1 lit. c) iii) SE-VO gilt daher grundsätzlich die Satzungsstrenge des § 23 Abs. 5 S. 1 AktG. Allerdings gebührt ausweislich Art. 9 Abs. 1 lit. b) SE-VO einer aufgrund einer Ermächtigung in der SE-VO getroffenen Satzungsbestimmung Vorrang vor den Vorgaben des nationalen Rechts, mögen diese auch nach § 23 Abs. 5 AktG zwingend sein.181 Daraus ergibt sich eine doppelte Satzungsdimension: Teilweise hat die Satzung Vorrang vor dem nationalen Recht, teilweise ist sie nachrangig. Für das genannte Beispiel folgt daraus, dass zunächst die Wahl des Leitungsmodells nicht nur zulässig, sondern sogar geboten ist. Zu untersuchen ist weiter, ob die SE-VO Aufsichtsratsausschüsse und Beschlussfähigkeit regelt und gegebenenfalls eine ermächtigende Satzungsbestimmung vorsieht. Die SE-VO trifft zwar Bestimmungen hinsichtlich verschiedener, den Aufsichtsrat betreffenden Einzelfragen, die aber wiederum gespickt sind mit Verweisungen auf Satzungsbestimmungen und das nationale Recht. Insofern ist die Verordnung nicht abschließend.182 Es liegt eine planmäßige Lücke vor, die nach Maßgabe der Verordnung zu füllen ist. Wenn (ausnahmsweise) eine Planwidrigkeit der Lücke festgestellt werden kann, erhebt sich die Frage, inwieweit auch eine Lückenschließung auf Unionsrechtsebene, etwa durch analoge Anwendung von Vorschriften der SE-VO in Betracht kommt.183 Damit richten sich die rechtlichen Vorgaben für die innere Ordnung des Aufsichtsrates nach deutschem Recht, namentlich nach den §§ 107–110 AktG,184 soweit sie das Problem denn lösen. Im deutschen Aktienrecht gilt jedoch der aus § 107 Abs. 3 S. 1 AktG abgeleitete Grundsatz der Organisationsautonomie des Aufsichtsrates, wonach die Bildung und die Zusammensetzung von Ausschüssen grundsätzlich Sache des Aufsichtsrates selbst sind und die Satzung in diese Autonomie nicht eingreifen darf.185 Hiernach wäre die in diesem Beispiel untersuchte Regelung auch bei der SE unzulässig. Jedoch ist zu beachten, dass die „Organisationsautonomie des Aufsichtsrates“ wie auch der Begriff der „Verbandsautonomie“ zunächst Kategorien des deutschen Gesellschaftsrechts sind. Ob sie universelle Prinzipien des europäischen Gesellschaftsrechts oder vielleicht nur local hills sind, ist zu prüfen. Auch wenn auf eine in Deutschland ansässige SE subsidiär deutsches Aktienrecht Anwendung findet, handelt es sich bei der SE doch um eine europäische Rechtsform, so dass die Rechtsbegriffe und Institute autonom „SE-spezifisch“ im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Rechtsform SE auszulegen sind.186

_____ 180 Dies wird teilweise als SE-spezifische oder auch gemeinschaftsrechtliche (bzw. unionsrechtliche) Satzungsstrenge bezeichnet; vgl. Hommelhoff, FS P. Ulmer (2003), S. 273.; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 36 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 71; MünchKommAktG-Schäfer, Art. 9 SE-VO Rn. 26 mwN. 181 Allerdings begrenzt die SE-VO die Gestaltungsermächtigung an vielen Stellen mit (Rück)Verweis auf das nationale Recht, vgl. Art. 39 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 47 Abs. 1, Abs. 3; Art. 55 Abs. 1 SE-VO. 182 Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 349. Zur Problematik der Abgrenzung eines „Regelungsbereichs“ der SE Bachmann, ZEuP 2008, 32, 37 ff.; Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 29 ff.; Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 54 ff., 67 f.; ders., ZHR 173 (2009), 181, 184 ff.; Schleifle, Die Gründung der SE (2004), S. 19 ff.; Hommelhoff, in: Lutter/Hommelhoff (Hrsg.), Die Europäische Gesellschaft (2005), S. 9 ff.; vgl. auch Raiser, FS Semler (1993), S. 282 f.; Teichmann, ZGR 2002, 383, 395 ff. 183 Dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 36 ff.; MünchKommAktGSchäfer, Art. 9 SE-VO Rn. 15 mwN. Zur Situation bei der SPE vgl. Völter, Der Lückenschluss im Statut der Europäischen Privatgesellschaft (2000). Zur Rechtsfortbildung des europäischen Sekundärrechts allgemein siehe Neuner, in diesem Band, § 12 Rn. 28 ff. 184 Näher dazu Habersack, AG 2006, 345, 349; ders., ZHR 171 (2007), 613, 631 ff. 185 BGHZ 83, 106, 115; BGHZ 122, 342, 355; GroßkommAktG-Hopt/M. Roth, § 107 AktG Rn. 246 ff.; Hüffer, § 107 AktG Rn. 16, 21; zust. Habersack, AG 2006, 345, 349; ders., ZHR 171 (2007), 613, 631; Windbichler, FS Canaris, S. 1433. 186 Dazu Brandt, Die Hauptversammlung der Europäischen Aktiengesellschaft, S. 58 f.; vgl. auch Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 55; Teichmann, ZGR 2002, 383, 398; Wagner, NZG 2002, 985, 987; Nagel/Freis/Kleinsorge-Nagel, Beteiligung der Arbeitnehmer im Unternehmen auf der Grundlage des europäischen Rechts (2. Aufl. 2009), GesRSE Rn. 9 mwN.

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§ 19 Europäisches Gesellschaftsrecht

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b) Rechtsfortbildung bei der SE Der europäische Gesetzgeber sieht in der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung bei der SE, in das deutsche 65 Recht umgesetzt durch das SEBG,187 vor, dass mit einem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer eine Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung getroffen werden soll (vgl. § 21 SEBG). Nur wenn es zu keiner Einigung kommt, finden die gesetzlichen Vorschriften der Auffangregelung zur Arbeitnehmerbeteiligung (§§ 34 ff. SEBG) Anwendung. Die Stellung der in Art. 9 SE-VO nicht erwähnten Vereinbarung über die Arbeitnehmerbeteiligung in der Normenhierarchie der SE ist im Einzelnen stark umstritten.188 Die Verzahnung mit der SE erfolgt dadurch, dass eine SE erst eingetragen werden kann, wenn die Mitbestimmungsfrage gelöst ist, Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 SE-VO. Ein praktisch wie methodisch reizvolles Problem ist die Frage, wie mit diesem Erfordernis bei einer arbeitnehmerlosen SE umzugehen ist. Die ganz h.M. sieht hierin kein Eintragungshindernis und begründet dies überwiegend methodisch mit einer teleologischen Reduktion von Art. 12 Abs. 4 SE-VO und inhaltlich mit der Erwägung, dass die allgemein übliche Gründung von Vorratsgesellschaften möglich sein müsse.189 Allerdings stellt sich das Problem, wie man zu Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung kommt, wenn die Vorrats-SE ihre Geschäfte aufnimmt und Arbeitnehmer einstellt. Nach h.M. ist dann § 18 Abs. 3 SEBG analog anzuwenden.190 Aus methodenkritischer Sicht stellt sich die Frage, ob eine „teleologische“ Reduktion, die eine Lücke schafft, 66 die durch Analogie geschlossen werden muss, wirklich dem Telos der Norm entspricht. Eine verbreitete Auffassung zur Auslegung von Vorgaben zur SE allgemein leitet aus dem Grundsatz des priv ab, dass die Vorgaben für die SE so auszulegen seien, dass die Funktionsfähigkeit und die Praktikabilität dieser Rechtsform möglichst wirksam gesichert werden.191 Die Vorratsgesellschaft ist ein anerkanntes und verbreitetes Gestaltungsinstrument, nach dem gerade bei einer derart komplexen Rechtsform wie der SE großer Bedarf besteht. Die Eintragungsfähigkeit dieser Invention der Kautelarpraxis ist ein wichtiger Faktor für die Attraktivität der SE.192 Allerdings ist auch die auf effektive Sicherung der Arbeitnehmerinteressen gerichtete Zielrichtung der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung zu beachten. Der Ansatz, diesen Interessen durch eine analoge Anwendung von § 18 SEBG Rechnung zu tragen, wird dem Postulat, der Gesamtheit der SE-Regelungen zu größtmöglicher Wirksamkeit zu verhelfen, besser gerecht als die Ablehnung der Eintragungsfähigkeit einer arbeitnehmerlosen SE oder gar die Qualifizierung als Missbrauch zur Verkürzung der Arbeitnehmerrechte i.S.v. § 43 SEBG (vgl. Art. 11 der Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteiligung).193

_____ 187 Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft – SE-Beteiligungsgesetz, BGBl. 2004 I, 3675. 188 Für Vorrang der Satzung und der Satzungsautonomie Hohenstadt/Müller-Bonanni, in: Habersack/Drinhausen (Hrsg.), SE-Recht (2013), § 21 SEBG Rn. 21; Habersack, ZHR 171 (2007), 613, 627 ff.; MünchKommAktG-Jacobs, § 21 SEBG Rn. 6 f.; Windbichler, FS Canaris, S. 1431 f.; zur Gegenansicht siehe LG Nürnberg-Fürth, NZG 2010, 547; Teichmann, Der Konzern 2007, 89, 93 ff.; näher dazu Vorauflage, § 19 Rn. 82. 189 Vgl. stellvertretend Habersack, in: Habersack/Drinhausen (Hrsg.), SE-Recht (2013), Art. 2 SE-VO Rn. 29; Forst, NZG 2009, 687, 689; Kiem, ZHR 173 (2009), 156, 164; im Ergebnis auch OLG Düsseldorf, AG 2009, 629, 630. 190 Stellvertretend dazu und den umstrittenen Einzelheiten Spindler/Stilz-Casper, AktG (2. Aufl. 2010), Art. 2, 3 SE-VO Rn. 31c; Habersack, in: Habersack/Drinhausen (Hrsg.), SE-Recht (2013), Art. 2 SE-VO Rn. 30; eingehend Hörtig, Gründungs- und Umstrukturierungsmöglichkeiten bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) (2011), S. 140 ff., 160 ff. 191 Vgl. Casper, FS P. Ulmer (2003), S. 55; Teichmann, ZGR 2002, 383, 398; Wagner, NZG 2002, 985, 987; vgl. auch SE-VO, BE 10. 192 Vgl. die o. bei Fn. 190 genannten Stimmen. 193 Die Notwendigkeit eines möglichst schonenden Ausgleichs dieser grundsätzlich gleichrangigen Zielrichtungen betont auch Windbichler, FS Canaris, S. 1425, 1426 f., 1434; zur Bewertung im Hinblick auf das Missbrauchsverbot eingehend Mader, Verfahrensmissbrauch nach Art. 11 SE-RiLi (2014), S. 40, 48 ff., 162 f., 199 ff. Krolop

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3. Teil: Besonderer Teil

V. Ausblick 67 Anhand der Ausführungen zum Kollisionsrecht und zur SE wurde deutlich, dass die Verzahnung

von Teilrechtsgebieten bzw. Teilrechtsordnungen eine zentrale, methodisch sehr anspruchsvolle Aufgabe im europäischen Gesellschaftsrecht darstellt, die ohne Rechtsvergleich und intradisziplinären Austausch mit den Nachbargebieten nicht bewältigt werden kann.194 Ferner wurde deutlich, dass es mit zunehmender Harmonisierungsdichte auch auf der Ebene des Sekundärrechts zu Normen- bzw. Zielkonflikten kommen kann, die zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Es bedarf eines breiten Zugriffs, der aktuelle europäische und internationale Entwicklungen, die Gesamtkonzeption des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts sowie die Integrationsziele des AEUV berücksichtigt und dabei Erkenntnisse der Rechtsvergleichung und Ökonomie einbezieht.195 Die Klärung der Abgrenzungsfragen an den Schnittstellen des Gesellschaftsrechts zu Neben68 gebieten ist auch eine wichtige Funktionsvoraussetzung für den bereits mehrfach angesprochenen Wettbewerb der Rechtsordnungen.196 Dem ebenso mehrfach angesprochenen Informationsmodell197 kommt für das Konzept eines in einen harmonisierten Rechtsrahmen eingebetteten Wettbewerbs der Gesellschaftsrechte eine besondere Bedeutung zu. Dieser kann nur dann im Sinne eines race to the top funktionieren, wenn die Nachfrageseite eine informierte Entscheidung treffen kann. Für den nationalen Gesetzgeber als „Anbieter“ folgt daraus: Wenn er besondere strenge 69 oder – im nicht harmonisierten Bereich – laxere Bräuche für gut und richtig hält, muss das kommuniziert werden. Gesellschafter und Gläubiger können dann klar darüber entscheiden, was ihnen wichtig ist. Local hills müssen bei diesem Ansatz nicht zwingend geschleift werden.198 Der durch die Rechtswahlfreiheit eröffnete Wettbewerb zwingt den Regelungsgeber aber dazu, sich Gedanken zu machen, welche Elemente local hills sind, die eigene „Hügellandschaft“ mit anderen zu vergleichen und sein Angebot entsprechend zu formulieren. Damit sollten die Gewährleistung der Grundfreiheiten und die Offenheit für Gesellschaften mit einem ausländischen Gesellschaftsstatut nicht als Bedrohung wahrgenommen werden, sondern als Anlass für eine, der Zukunftsfähigkeit förderliche, kritische Selbstbefragung von Gesetzgebung und Rechtsprechung im Gesellschaftsrecht.

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_____ 194 Vgl. Teichmann, ZHR 175 (2011), 855, 857: „… Die Grenzfälle sind es, die einer Regelung bedürfen. Die Schnittstellen zwischen Gesellschafts-, Insolvenz-, Delikts- und allgemeinem Zivilrecht müssen geklärt werden.“ 195 Vgl. Teichmann, ZHR 177 (2011), 702, 703; vgl. auch das Kapitel zu den Methoden bei Grundmann, Europäisches Gesellschaftsrecht, § 3. 196 Das ist ein wichtiger Unterschied zum Mutterland der Idee des Wettbewerbs der Gesellschaftsrechtsordnungen: In den USA ist die Grenzziehung zu den Nebengebieten, die teilweise Bundesrecht unterliegen, einheitlich, näher zur Bedeutung dieses Aspekt und weiteren Vernetzungseffekten Kirchner/Painter/Wulf/Höppner, AG 2012, 469, 470, 474. 197 S.o. Rn. 13, 45, 54; s.a. Grundmann, in diesem Band, § 9 Rn. 41, 45 ff. 198 Nähere Analyse des Kapitalschutzsystems in Bezug auf die deutsche GmbH als „Qualitätssignal“ aus juristischer und ökonomischer Sicht bei Heine/Röpke, RabelsZ 70 (2006), 138, 151 ff. Krolop

§ 20 Kapitalmarktrecht

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§ 20 Kapitalmarktrecht 3. Teil: Besonderer Teil

Susanne Kalss § 20 Kapitalmarktrecht Kalss Literatur Heinz-Dieter Assmann/Uwe H. Schneider, Kommentar zum WpHG (6. Aufl. 2012); Heinz-Dieter Assmann/Rolf A. Schütze, Handbuch des Kapitalanlagerechts (3. Aufl. 2007); Eilis Ferran, Building an EU Securities Market (2004); Harald Baum, Das Spannungsverhältnis zwischen dem funktionalen Zivilrecht der „Wohlverhaltensregeln“ des WpHG und dem allgemeinen Zivilrecht, ÖBA 2013, 396–406; Andreas Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009); Heribert Hirte/Thomas Möllers (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpHG (2. Aufl. 2014); Elke Gurlit, Handlungsformen der Finanzmarktaufsicht, ZHR 177 (2013), 862–901; Jan Hupka, Die Integration der europäischen Finanzmärkte – Zur Rolle des Committee of European Securities Regulators (CESR) und der Bindungswirkung von Standards, GPR 2008, 286–293; Susanne Kalss, New Challenges for Stock Exchanges, Investment Firms and Other Market Participants, in: Jürgen Basedow u.a. (Hrsg.), Economic regulation and competition (2002), S. 111–129; dies., Kapitalmarktrecht als Schnittmenge mehrerer Regelungsfelder, in: Heinz Peter Rill (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien (1998), S. 183–213; dies./Martin Oppitz/Johannes Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht (2005); Susanne Kalss/Martin Schauer/Martin Winner, Allgemeines Unternehmensrecht (2. Auf. 2014); Lars Klöhn, § 6 Europäisches Kapitalmarktrecht, in: Katja Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht (3. Aufl. 2013); ders., Die private Durchsetzung des Marktmanipulationsverbots, in: Susanne Kalss/Holger Fleischer/Hans-Ueli Vogt (Hrsg.), Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht in Deutschland, Österreich und der Schweiz 2013 (2014), S. 229–249; Thomas Möllers, Europäische Methoden- und Gesetzgebungslehre im Kapitalmarktrecht – Vollharmonisierung, Generalklauseln und soft law im Rahmen des Lamfalussy-Verfahrens als Mittel zur Etablierung von Standards, ZEuP 2008, 480–505; Niamh Moloney, The European Securities and Markets Authority and Institutional Design for the EU Financial Market – A Tale of Two Competences, EBOR 2011, 41–86; dies., The Financial Crisis and EU-Securities Law-Making, in: Stefan Grundmann/Brigitte Haar/Hanno Merkt (Hrsg.), Unternehmen, Markt und Verantwortung, Festschrift für Klaus Hopt (2010), S. 2265–2282; Martin Oppitz, Kapitalmarktaufsicht (Habilitationsschrift 2013); Uwe H. Schneider, Inconsistencies and unsolved Problems in the European Banking Union, EuZW 2013, 452–457; Frank A. Schäfer/Uwe Hamann, Kapitalmarktgesetze (7. EL 2013); Rüdiger Veil, § 5 Rechtsquellen und Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht (2014); Fabian Walla, § 11 Kapitalmarktaufsicht in Europa, in: Rüdiger Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht (2014); ders., § 4 Rechtsetzungsverfahren und Regelungsstrategien, in: Rüdiger Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht (2014); Eddy Wymeersch, The European Financial Supervisory Authorities or ESA’s, in: ders./Klaus J. Hopt/Guido Ferrarini (Hrsg.), Financial Regulation and Supervision (2012), S. 232–317.

I. II.

III.

Übersicht Einleitung | 1 Junges dynamisches Rechtsgebiet | 2–34 1. Laufende Entwicklung des Markts | 2–5 2. Das kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren | 6–15 3. Besonderheiten für die Interpretation der Normen | 16–29 4. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards | 30–36 Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts | 37

IV.

V.

Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie | 38–46 1. Öffentliches – Privates Recht | 38 2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur | 39–40 3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur | 41 4. Vertragliche Regelungen | 42–43 5. Schutzgesetzcharakter von Normen | 44 6. Gespaltene Interpretation | 45–46 Resümee | 47–50

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3. Teil: Besonderer Teil

I. Einleitung 1 Das europäische wie nationale Kapitalmarktrecht werden durch mehrere Charakteristika ge-

prägt, die sich unmittelbar in der Auslegung und Methodik widerspiegeln. Zunächst ist das Kapitalmarktrecht ein sehr junges Gebiet, das sich durch eine dynamische Entwicklung auszeichnet und das ganz wesentlich durch eine neue mehrstufige Regelungstechnik geprägt ist. Weiter ist Kapitalmarktrecht ein Rechtsgebiet, das sich in besonderer Weise ökonomischen Regelungen öffnet, weil die kapitalmarktrechtlichen Normen regelmäßig mit ökonomischen Überlegungen unterlegt werden.1 Besondere Herausforderungen ergeben sich für das Kapitalmarktrecht aus der Informationsasymmetrie zwischen den Marktgegenseiten und den Interessenkonflikten der Finanzdienstleister (Banken). Diese Wertungsgesichtspunkte spielen daher bei der Interpretation der einzelnen Normen eine besondere Rolle. Kapitalmarktrecht bildet schließlich eine Querschnittsmaterie,2 was bedeutet, dass sich kapitalmarktrechtliche Regelungen sowohl aus dem traditionell öffentlich-rechtlichen (regulativen) als auch aus dem traditionell privatrechtlichen Rechtsbereich zusammen finden, wobei principles-based und rules-based regulation einander ergänzen.3 Die großen Bereiche finden wiederum in unterschiedlichen Teildisziplinen Anknüpfungspunkte, wie etwa im Wertpapierrecht, Gesellschaftsrecht, Handelsrecht, Verwaltungsrecht, Wirtschaftsaufsichtsrecht, Strafrecht etc. Dieser Mix von Normen verschiedener Regelungsebenen des europäischen und nationalen Rechts und aus verschiedenen Rechtsbereichen erfordert gerade dort, wo Privat- und öffentliches Recht bzw. europäisches und nationales Recht unmittelbar aufeinandertreffen, besonderes Augenmerk auf Fragen der Auslegung zu richten, um allfällige Diskrepanzen von Auslegungstraditionen bzw. Arbeitstechniken in den unterschiedlichen Disziplinen zu überbrücken und ein stimmiges Verständnis der Gesamtregelungen zu entwickeln.4

II. Junges dynamisches Rechtsgebiet 1. Laufende Entwicklung des Markts 2 Das europäische ebenso wie das nationale Kapitalmarktrecht bilden ein junges Rechtsgebiet,

das sich erst in den letzten rund 25 Jahren in breiter Form entwickelt hat. Zwar war den Architekten eines einheitlichen europäischen Markts von Anfang an klar, dass das Kapitalmarktrecht einer unverzüglichen einheitlichen Regelung bedürfe,5 dennoch dauerte es bis in die 1980erund 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts, dass sich ein relativ einheitliches europäisches Kapital-

_____ 1 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 6; Fleischer/Zimmer, in: Fleischer/Zimmer (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 9, 12, 18. 2 Siehe nur Hopt, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Bd. I, S. 939; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität Wien, S. 194; U.H. Schneider, AG 2001, 269, 269 f.; ferner Buck-Heeb, Kapitalmarktrecht (3. Aufl. 2009), Rn. 3. 3 Vgl. näher Schneider, in: Hutter/Baums (Hrsg.), GS Gruson (2009), 369–378. 4 Zur Selbstregulierung im Bereich des Kapitalmarktrechts vgl. Kämmerer, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 145–163. 5 Beredtes Zeugnis davon ist etwa der sogenannte Segré-Bericht: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – EGKommission, Der Aufbau eines europäischen Kapitalmarkts – Bericht einer von der EWG-Kommission eingesetzten Sachverständigengruppe 1966.

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marktrecht herausbilden konnte,6 das eine angemessene sachliche Reichweite der Regelungen und Regelungstiefe erreichte.7 Trotz dieses Schubs an sekundärrechtlichen Regelungen zeigte sich bald die Unzulänglich- 3 keit des europäischen Normgefüges, um den Marktanforderungen auf Anbieter- und Nachfragerseite tatsächlich gerecht zu werden.8 Seit rund 15 Jahren unterliegen die Finanzindustrie und der Kapitalmarkt fundamentalen Änderungen.9 Verkürzt lassen sich die Ursachen in die Schlagworte Globalisierung der Wirtschaft, Internationalisierung der Finanzmärkte sowie die Institutionalisierung der Vermögensanlagen kleiden. Diese Veränderungskräfte wurden durch die enormen Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie erst möglich und in Europa durch die EU-Harmonisierungsbestrebungen und die Einführung des Euro nachhaltig unterstützt.10 Die Globalisierung des Markts, die Zunahme der Mobilität der Marktteilnehmer, die in immer kürzeren Zyklen stattfindende Kreation neuer Finanzinstrumente (z.B. strukturierte Produkte) und Techniken (z.B. Hochfrequenzhandel) tragen ebenso zum neuen Umfeld bei wie eine offene Politik, die auf weltweit wirkende Entwicklungen und Krisensituationen reagiert. Die dramatischen Änderungen veranlassten die Europäische Kommission 1999 einen Ak- 4 tionsplan für Finanzdienstleistungen vorzulegen (Financial Services Action Plan – FSAP).11 Die Kommission setzte eine Expertengruppe ein, um sowohl inhaltlich Prioritäten als auch verfahrensmäßige Regelungen für die Fortentwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts zu formulieren. Auf der Grundlage des Berichts dieser Experten (Bericht der Weisen – Lamfalussy-Bericht) vom November 200012 formulierte der Europäische Rat eine neue und flexiblere Regelung des Kapitalmarkts.13 Als Reaktion auf die Finanzkrise wurde im Anschluss an den Bericht der de-Larosière- 5 Gruppe14 ein europäisches Finanzaufsichtssystem mit neuen europäischen Finanzaufsichtsbehörden geschaffen.15 Auf der Grundlage von Art. 114 AEUV etablierten die Europäischen Institutionen die neue europäische Aufsichtsarchitektur.16 Das System der Aufsicht beruht auf zwei Säulen: Auf der Makroebene werden systemische Risiken bewältigt, auf der Mikroebene wird das gesamte Finanzmarktgeschehen einschließlich des Kapitalmarkts erfasst.17 Auf der Mikroebene wird die Überwachung der Finanzmärke vom System der Europäischen Finanzmarktaufsicht besorgt (ESFS). Dieses System besteht aus drei eigenständigen Behörden, die mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet sind, nämlich der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (EBA), der

_____ 6 Siehe dazu etwa Assmann, in: Assmann/Schütze (Hrsg.), Handbuch zum Kapitalanlagerecht (3. Aufl. 2007), § 1 Rn. 21ff.; Weber, in: Dauses (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsrecht (2013), F III; Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 4 ff. 7 Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 5; dies., EBOR 2002, 293, 309, 336. 8 Ferrarini, in: ders./Hopt/Wymeersch (Hrsg.), Capital Markets in the Age of the Euro (2002), S. 241. 9 Baum, in: Kono/Paulus/Rajak (Hrsg.), The legal issues of E-commerce (2000), S. 99; Kalss, in: Ferrarini/Hopt/ Wymeersch (Hrsg.), Capital markets in the Age of the Euro (2002), S. 193. 10 Rudolf, in: Habersack/Mülbert/Schlitt (Hrsg.), Unternehmensfinanzierung am Kapitalmarkt (2. Aufl. 2009), § 1 Rn. 5. 11 Kommission – Umsetzung des Finanzmarktrahmens: Aktionsplan Mitteilung der Kommission v. 11.5.1999, Komm (1999) 232 endgültig, abgedruckt in ZBB 1999, 103 f. 12 Bericht des Ausschusses der Weisen über die Reglementierung der europäischen Wertpapiermärkte v. 9.11.2000, europa.eu.int/comm/internal_market/securities/lamfalussy/index_de.htm.europa.eu.int/comm/internal_market/ en/finances/banks/report/de.pdf. 13 S. nur Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 1 Rn. 33; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 119 f. 14 Abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/de_larosiere_report_de.pdf. 15 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 1 ff.; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 177 ff. 16 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 36; Rötting/Lang, EuZW 2012, 8, 12; Lehmann/ Manger-Nestler, ZBB 2011, 2, 4 ff. 17 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 37. Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

Europäischen Versicherungsaufsichtsbehörde (EIOPA) und der – hier besonders relevanten – Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA).18 Zentrale Aufgabe von ESMA ist es, darauf hinzuwirken, die Funktionsweise des Binnenmarkts zu verbessern, indem ein hohes, wirksames und konsistentes Maß an Regulierung und Beaufsichtigung gewährleistet wird.19 Diese Behörden sollen letztlich an einem „single rulebook“ für die Finanzmärkte mitwirken.20 Die gesamte Regelsetzung, -auslegung und -anwendung werden ganz maßgeblich durch diese neue Aufsichtsstruktur geprägt. Abgesehen davon hat sich das Kapitalmarktrecht – getrieben durch die Krise – insgesamt vom gestaltenden und ermächtigenden Recht zu einem reaktiven Recht entwickelt, wie etwa die Regelungen über die Ratingagenturen,21 die Verordnung über Leerverkäufe22 sowie schließlich die Produktinterventionsmechanismen nach MiFID II zeigen. Neben der Integrität und Stabilität des Marktes sind der Anlegerschutz und auch explizit (!) der Verbraucherschutz Aufgaben der Kapitalmarktregulierung durch die ESMA.23 Schließlich ist die Entwicklung des europäischen Kapitalmarktrechts maßgeblich dadurch geprägt, dass es einen immer stärkeren Fokus auf die Sanktionierung zur Sicherung der Einhaltung ihrer Regelungen legt.

2. Das kapitalmarktrechtliche Normsetzungsverfahren 6 Der Technik des Normsetzungsverfahrens24 im Bereich des Kapitalmarktrechts – korrekter im

Bereich des gesamten Finanzmarktrechts – kann ein Bonmot vorangestellt werden: „Comitology is a particularly tricky system. After three of hours of training you understand how it works, but a week later you have forgotten the most important parts of it.“25 Bis 2009 vollzog sich die EUGesetzgebung für den Finanzsektor im sogenannten Lamfalussy-Verfahren, bei dem es sich um eine besondere Ausprägung des Komitologie-Verfahrens handelte.26 Die Gesetzgebung im EU-Finanzsektor, somit im Banken und Versicherungsbereich sowie 7 insbesondere im Kapitalmarkt- und Wertpapierbereich vollzieht sich nach geltender Rechtslage in einem abgestuften Verfahren.27 Ganz massiv betroffen sind im Bereich des Kapitalmarktrechts die Regelungen über den Marktmissbrauch und von MiFID II. Die einzelnen Verfahrensvoraussetzungen sind nicht immer eindeutig aus einer Rechtsquelle zu beziehen, sondern müssen mehreren Quellen entnommen werden. Die Rechtsetzung vollzieht sich auf vier Stufen, wobei eine Stufe in zwei Unterstufen geglie8 dert wird: Auf Stufe 1 verabschieden das Europäische Parlament und der Rat auf Vorschlag der

_____ 18 Verordnung (EU) Nr. 1095/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 zur Errichtung einer Europäischen Aufsichtsbehörde (Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde), zur Änderung des Beschlusses Nr. 716/2009/EG und zur Aufhebung des Beschlusses 2009/77/EG der Kommission, ABl. 2010 L 331/84. 19 BE 10 f. ESMA-VO. 20 Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 871; Wymeersch, ZGR 2011, 443, 458 ff.; Moloney, EBOR 2011, 41, 46 ff.; krit. U.H. Schneider, EuZW 2013, 452, 454; Klöhn, in: Langenbucher (Hrsg.), Europäisches Privat- und Wirtschaftsrecht, § 6 Rn. 22. 21 Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.9.2009 über Ratingagenturen, ABl. 2009 L 302/1. 22 Verordnung (EU) Nr. 236/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2012 über Leerverkäufe und bestimmte Aspekte von Credit Default Swaps, ABl. 2012 L 86/1. 23 BE 11 ESMA-VO. 24 S. allgemein zu den Rechtsquellen Köndgen, in diesem Band, § 6. 25 Gueguen, Comitology: Hijacking European Power (3. Aufl. 2011), S. 47. 26 S. dazu Sydow, JZ 2012, 157–165; Wymeersch, ZGR 2011, 443, 451; Kämmerer, in: ders./Veil (Hrsg.), Übernahmeund Kapitalmarktrecht in der Reformdiskussion (2013), S. 56. 27 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 4 Rn. 3 ff., Rn. 23. Kalss

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EU-Kommission einen Gesetzgebungsakt, den sogenannten Basisrechtsakt. Im Regelfall ist dies eine Rahmenrichtlinie nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 294 AEUV. Der Basisrechtsakt sind etwa die CRD IV-Richtlinie im Bankenbereich, MiFID II sowie die sogenannte Omnibus 2-Richtlinie.28 Der Basisrechtsakt enthält Ermächtigungen an die EU-Kommission, den Basisrechtsakt zu konkretisieren. Durchführungsmaßnahmen sind Richtlinien und Verordnungen sowie ergänzend bindende technische Standards.29 Auf Stufe 2 kann die EU-Kommission aufgrund einer Ermächtigung im Basisrechtsakt delegierte Rechtsakte im Sinne von Art. 290 AEUV oder Durchführungsrechtsakte im Sinne von Art. 291 AEUV erlassen.30 Delegierte Rechtsakte dienen dazu, bestimmte, nicht wesentliche Vorschriften des Basisrechtsaktes zu ergänzen und zu ändern, insbesondere Generalklauseln auszuführen. Nach der Intention sollten auf Stufe 2 nur technische Regelungen durch die EU-Kommission vollzogen werden, nicht aber politisch umstrittene Themen.31 Naturgemäß ist diese Abgrenzung schwierig und nicht immer möglich. Für die Verabschiedung eines Delegierten-Rechtsaktes kann sich die EU-Kommission von dem jeweils zuständigen Fachausschuss der zuständigen Behörde des jeweiligen Sektors beraten lassen. Enthält der Basisrechtsakt von Parlament und Rat die Ermächtigung für einen Durchführungsrechtsakt, der eine einheitliche Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der EU sicherstellen soll, wird auf dieser Ebene die Beteiligung des Europäischen Parlaments und des Rats bereits faktisch ausgeschlossen, jedenfalls deutlich zurückgedrängt.32 Die Durchführungsrechtsakte werden im Prüf- oder Beratungsverfahren erlassen. Die EU-Kommission hat einen Fachausschuss zur Seite. Beim Prüfverfahren kann der Fachausschuss insofern großen Einfluss nehmen, als der Durchführungsrechtakt nur einvernehmlich mit dem Fachausschuss erlassen werden kann und sich die Kommission nicht darüber hinwegsetzen kann, während beim Beratungsverfahren die Kommission die Endentscheidung hat. Neben diesen beiden Rechtsakten auf Stufe 2, nämlich dem delegierten Rechtsakt und dem Durchführungsrechtsakt, wird auf Stufe 2 noch eine wesentliche Konkretisierung der Normen vorgenommen. Neben den genannten Rechtsakten kann nämlich die EU-Kommission auch sogenannte bindende technische Standards (Binding Technical Standards, BTS) erlassen. Diese Standards werden von der jeweils zuständigen ESA (European Supervisory Authority), somit entweder der EBA, der ESMA oder der EIOPA, vorbereitet.33 Die Vorbereitung bezieht sich auch auf die Durchführung öffentlicher Konsultationen, die Einbeziehung der jeweiligen Interessengruppen und die Vornahme einer Kosten-Nutzen-Analyse. Die bindenden technischen Standards sind eigentlich nicht Maßnahmen der EU-Kommission, sondern der jeweiligen Aufsichtsbehörden als eigenständige Rechtspersönlichkeiten (oben Rn. 5). Zwar verleiht die Europäische Kommission dem Standard die rechtlich bindende Wirkung. Sie erarbeitet diese Standards aber inhaltlich nicht, sondern übt im Verfahren nur Kontrollbefugnisse aus.34 Die wesentliche Normierungs- und Gestaltungsarbeit leisten daher die Aufsichtsbehörden. Selbst die EU-Kommission muss bei inhaltlicher Einflussnahme ihre Vorstellungen an die Aufsichtsbehörden adressieren. Die bindenden technischen Standards gewinnen

_____ 28 Vorschlag EU-Kommission zur Änderung der Richtlinien 2003/71/EG und 2009/138 über die Befugnisse der europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen, die betriebliche Altersversorgung und die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde KOM(2011) 8 endg; dazu Peschetz/Brandstetter, ZfR 2011, 67 ff. 29 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 64 ff.; Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721 ff. 30 Stelkens, EuR 2012, 511–546. 31 Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 722. 32 Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 722: positiver Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 872. 33 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 65; Wymeersch, in: ders./Hopt/Ferrarini (Hrsg.), Financial Regulation and Supervision, S. 253. 34 Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 723; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 65. Kalss

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in der Praxis zunehmend an Bedeutung. Somit verschieben sich die Gestaltungsbefugnis und der Einfluss weg von der Kommission hin zu den europäischen Aufsichtsbehörden. Die Erarbeitung der rechtsverbindlichen Standards durch die Aufsichtsbehörden markiert auch den wesentlichen Unterschied zu den früher bestehenden nur beratenden Ausschüssen (Wertpapierausschuss).35 Die bindenden technischen Standards werden zwar gem. Art. 290 bzw. Art. 291 AEUV verbindlich als Verordnung oder Beschluss erlassen. Sie stammen aber nicht aus der Feder der Kommission, sondern aus jener der Aufsichtsbehörde. Dieses endorsement (also eine billigende Übernahme) der Kommission gem. Art. 10 Abs. 1 sowie Art. 15 Abs. 1 ESMA-VO ist dem endorsement der IFSR-Regelungen vergleichbar,36 wenn auch der Entstehungsprozess unterschiedlich ist; die Parallele liegt in der Technik der Inkraftsetzung. Zu unterscheiden sind bindende technische Regulierungsstandards sowie technische Durch13 führungsstandards gem. Art. 10 ff. und Art. 15 ESA-Verordnung. Die bindenden technischen Standards müssen rein technischer Natur sein, sie dürfen keine strategischen oder politischen Entscheidungen enthalten. Einerseits ist die Abgrenzung schwierig, andererseits liegen gerade in den Detailregelungen maßgebliche Entscheidungsspielräume. Das Europäische Parlament und der Rat spielen beim Erlass von technischen Durchführungsstandards keine Rolle. Art. 15 ESA-Verordnung schließt sie aus. Die Fachausschüsse sind in den Erlass bindender technischer Durchführungsstandards nicht eingebunden, d.h. die Gestaltungsbefugnis konzentriert sich ausschließlich auf die europäischen Aufsichtsbehörden. Damit ist eine ganz wesentliche inhaltliche Gestaltungsbefugnis auf die europäischen Aufsichtsbehörden übergegangen. Auf Stufe 3 des Gesetzgebungsverfahrens können die europäischen Aufsichtsbehörden 14 selbstständig und wiederum ohne Beteiligung des Europäischen Parlaments, Rats oder der EUKommission Leitlinien und Empfehlungen (Guidelines und Recommendations) erlassen. Für Leitlinien oder Empfehlungen bedarf es nicht einmal einer Ermächtigung im Basisrechtsakt. Leitlinien und Empfehlungen begründen keine Rechte und Pflichten für die Marktteilnehmer, sie enthalten de jure auch keine verbindlichen rechtlichen Pflichten für die nationalen Aufsichtsbehörden oder Finanzinstitute, sie haben aber eine hohe faktische Bindungswirkung.37 Sie dienen dem Zweck, innerhalb des europäischen Finanzaufsichtssystems die Anwendung des Unionsrechts und der Aufsichtspraktiken anzugleichen. Die nationalen Behörden, wie die Finanzmarktaufsicht (FMA), betonen auch in ihren Rundschreiben, dass sie gem. § 69 Abs. 5 Bankwesengesetz (BWG) bei der Vollziehung ihrer Aufgaben die von der Europäischen Aufsichtsbehörde beschlossenen Leitlinien (Guidelines), Empfehlungen (Recommendations), Standards und andere Maßnahmen anzuwenden haben. Daher legt die FMA das BWG im Sinne der Publikationen der EBA aus;38 eine große Rolle spielt etwa auch die ESMA-Leitlinie zur Gestaltung des Wertpapierprospekts,39 die von den nationalen Behörden, unter anderem der FMA, als quasiverbindliche Regelung angesehen wird.40 Zu erwarten ist, dass auch andere Leitlinien für die Auslegung von kapitalmarktrechtlichen Bestimmungen eine herausragende Stellung erlangen. Eine nationale Aufsichtsbehörde wird sich daher an die Leitlinien und Empfehlungen halten, zumal sie sonst – nach dem comply or explain-Prinzip – erklären muss, warum sie sich nicht an

_____ 35 Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 873. 36 Moloney, FS Hopt, S. 2273; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 64. 37 Gurlit, ZHR 177 (2013), 862, 876; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 61; WeberRey/Horak, WM 2013, 721, 724; Rötting/Lang, EuZW 2012, 8, 10; Michel, DÖV 2011, 728, 732. 38 S. etwa Fit & Proper-Rundschreiben, Mai 2013 der FMA, Fn. 1. 39 ESMA, ESMA update of the CESR recommandations – The consistent implementation of Commission Regulation (EC) Nr 809/2004 implementing the Prospectus Directive, ESMA/2013/319, March 2013. 40 Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 63. Kalss

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die europäische Vorgabe hält. Darin liegen ein maßgeblicher Disziplinierungseffekt und zugleich eine Prangerwirkung.41 Schließlich kann auf Stufe 4 eine Überprüfung der nationalen Umsetzung der EU-Vorschrif- 15 ten kontrolliert werden. Die Umsetzung durch die nationalen Gesetzgebungs- und Aufsichtsbehörden wird dadurch sichergestellt.

3. Besonderheiten für die Interpretation der Normen Nach dem Vierstufen-Regelungsverfahren im Bereich des Kapitalmarktrechts wurden – unter 16 anderem – die Marktmissbrauchsrichtlinie (Market Abuse Directive; MAD),42 und Marktmissbrauchs-Verordnung (Market Abuse Regulation; MAR) die Prospektrichtlinie,43 die Richtlinie für Märkte von Finanzinstrumenten (MiFID II);44 ferner die die Transparenzrichtlinie45 sowie die Richtlinie über Organismen zur gemeinsamen Veranlagung in Wertpapieren (OGAW IV)46 sowie die Richtlinie über Alternative Investment Managementgesellschaften(AIFM) in Kraft gesetzt. Die Komplexität des Regelungsgeflechts zeigt sich etwa dadurch, dass die Marktmiss- 17 brauchsrichtlinie als Rahmenrichtlinie von drei Durchführungsrichtlinien47 und einer Durchführungsverordnung48 ergänzt wird und diese Ausführung der Normen der Kommission von einer Vielzahl vorbereitender und Beratungstexte von ESMA begleitet wird. Allein dieser mehrschichtige Aufbau und die vielen begleitenden Unterlagen zeigen die mehrseitige Dimension des Kapitalmarktrechts.

_____ 41 Lehmann/Manger-Nestler, ZBB 2011, 2–13; Sasserat-Alberti/Hartig, Versicherungsrundschau 2012, 524, 530; Weber-Rey/Horak, WM 2013, 721, 724; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 38; Walla, in: Veil (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 11 Rn. 61. 42 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insidergeschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch), ABl. 2003 L 96/16. 43 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2003 L 345/64. Diese Richtlinie ist derzeitig Gegenstand einer Novellierung nach diesem Verfahren. Vgl. dazu Russ, ZFR 2009/120, 188. 44 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Märkte für Finanzinstrumente zur Aufhebung der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Neufassung) (MiFID II), KOM(2011) 656 endg. 45 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG, ABl. 2004 L 390/38. 46 Richtlinie 2009/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW), ABl. 2009 L 302/32. 47 Richtlinie 2004/72/EG der Kommission v. 29.4.2004 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Zulässige Marktpraktiken, Definition von Insider-Informationen in Bezug auf Warenderivate, Erstellung von Insider-Verzeichnissen, Meldung von Eigengeschäften und Meldung verdächtiger Transaktionen, ABl. 2004 L 162/70; Richtlinie 2003/124/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates betreffend die Begriffsbestimmung und die Veröffentlichung von Insider-Informationen und die Begriffsbestimmung der Marktmanipulation, ABl. 2003 L 399/70; Richtlinie 2003/125/EG der Kommission v. 22.12.2203 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Bezug auf die sachgerechte Darbietung von Anlageempfehlungen und die Offenlegung von Interessenskonflikten, ABl. 2003 L 399/73. 48 Verordnung 2273/2003/EG der Kommission v. 22.12.2003 zur Durchführung der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates – Ausnahmeregelungen für Rückkaufprogramme und Kursstabilisierungsmaßnahmen, ABl. 2003 L 336/33.

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Welche Besonderheiten ergeben sich nun – abgesehen von den eben genannten Schwierigkeiten – aus diesem besonderen Rechtssetzungsregime für die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Bestimmungen?

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a) ESMA hat die klar festgelegte Aufgabe, eine einheitliche Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sicherzustellen.49 In diesem Bereich wurde somit zur Sicherstellung einer einheitlichen Auslegung eine eigenständige Einrichtung etabliert, die Auslegungsaufgaben zu erfüllen hat, was sowohl auf der zweiten Ebene – mit verbindlichen Standards (vgl. Rn. 11 f.) und explizit auf der dritten Ebene des Normsetzungsprozesses mit Leitlinien und Empfehlungen (vgl. Rn. 14) verwirklicht wird. Offenbar wird für den Kapitalmarkt und das Kapitalmarktrecht die Einheitlichkeit des Regelungsverständnisses aufgrund des hohen transnationalen Handelsvolumens und des Verflechtungsgrads zumindest von Teilbereichen (Wertpapiermärkte, Abwicklung etc.) für so wichtig erachtet, dass die Auslegung nicht allein den Rechtsunterworfenen und den nationalen Behörden, sondern zusätzlich einer europaweit wirkenden Behörde überantwortet wird.

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b) Die Regelungstechnik zwingt den Anwender sowohl zur Zusammenschau und stimmigen Auslegung von mehreren Rechtstexten auf europäischer Ebene als auch auf nationaler Ebene. Damit allein ist schon eine Komplizierung des Auslegungsprozesses und der Anwendung der Regelungen verbunden. Die nationalen Texte sind nicht allein auf ihre Europarechtskonformität50 zu überprüfen, zudem ist Sekundärrecht nicht allein am Primärrecht zu messen.51 Vielmehr wird eine eigene Stufe der Auslegung eingezogen, nämlich die Überprüfung der Konformität der Durchführungsrichtlinie bzw. -verordnung mit der Rahmenrichtlinie, um den normativen Gehalt auszumessen.

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c) Die mehrfache Einbindung von ESMA in den Regelungsprozess, vor allem auf der zweiten Regelungsebene sowie auf der dritten Ebene, führen in der Realität zu einer Explosion von Dokumenten, Unterlagen und Materialien, die aufgrund der technischen Möglichkeiten (Download im Internet) dem Rechtsunterworfenen zwar relativ einfach zugänglich sind (ausgedruckt als Halbmeterstöße), ihn aber vor die schwierige Aufgabe stellen, diese Informationsflut zu strukturieren und zu bewältigen, um sie sinnvoll für die Auslegung der kapitalmarktrechtlichen Normen verwenden zu können (mangelnde Transparenz wegen Informationsfülle). Diese Flut von Materialien ist vielfach nur für Experten verfasst worden. Dem Außenstehenden fehlen häufig die notwendigen Fachkenntnisse, zum Teil replizierende oder absichtlich knapp gehaltene Erläuterungen und Erklärungen richtig deuten zu können. Zum Teil sind nicht nur die Rechtsunterworfenen mit dieser Fülle überfordert, sondern auch nationale Legislativabteilungen, welche das Volumen und die Frequenz von Überarbeitungen in der Vorbereitung und in der nachfolgenden Umsetzung der Rechtsakte kaum bewältigen können.

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d) ESMA ist – wie dargestellt – vielfach in den Regelungsprozess eingebunden; ESMA erarbeitet etwa die Leitlinien und gemeinsam mit der Kommission die Technischen Standards und die Technischen Durchführungsstandstandards (vgl. Rn. 11 f.) sowie Consultation Papers und Feedback Statements. Diese Dokumente sind zwar chronologisch geordnet und legen offen, auf

_____ 49 BE 8, Art. 8 f. ESMA-VO. 50 Vgl. dazu W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 51 Vgl. dazu Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. Kalss

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welchen Stand der (geplanten) Richtlinie, Verordnung oder Durchführungsmaßnahme sie sich beziehen, Änderungen oder Überarbeitungen sind aber nicht deutlich ersichtlich. Consultation Papers sind vorbereitende Unterlagen von ESMA, in denen es das tatsächliche 23 Phänomen, die maßgeblichen Fragestellungen und Regelungsprobleme darlegt und daran anknüpfend die maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen formuliert; d.h. die Marktteilnehmer werden zum Zweck der Informationsgewinnung für die Rechtsetzung konsultiert. Feedback Statements sind die zusammengefassten und ausgewerteten Antworten, die ESMA 24 im Rahmen der dem Rechtssetzungsakt vorgeschalteten Konsultationsverfahren erarbeitet; im Regelfall werden von ESMA relativ präzise Fragen zu einzelnen Regelungsbereichen gestellt. Die Feedback Statements lassen die Autorenschaft der Antworten nicht mehr erkennen.52 Feedback Statements sind Zusammenfassungen von Antworten, die ESMA aus Konsultationsverfahren von den Marktteilnehmern gewinnt. ESMA führt vielfach, bevor ein Rechtsakt erlassen wird, ein Konsultationsverfahren durch. Zur Darstellung der Markteinschätzung werden diese Feedback Statements erstellt und veröffentlicht. Sie geben nur die Markteinschätzung insgesamt wieder; die einzelnen Antworten können nicht zugordnet werden. Da dieses Statement nur eine Markteinschätzung widergibt, ist es keine taugliche Quelle für die Interpretation einer Norm.53 Jedenfalls spiegelt sich aber die Diskussion wider und werden wesentliche Argumentationslinien erkennbar. Ein Feedback Statement bildet aber nicht den historischen Willen des Gesetzgebers ab, sondern gibt nur Einblick in die rechtspolitische Diskussion. Der Vorschlag eines technischen Standards oder eines Durchführungsstandards enthält 25 auch eine Erläuterung in dem Sinn, dass die Bestimmung vom Regelungsgeber selbst erläutert und erklärt wird. Schließlich ist ESMA – wie früher CESR54 – berechtigt, zu den vorgeschlagenen Rechtsakten Studien und Berichte zu verfassen, die als Überlegungen und Motive über die Regelungen Aufschluss geben können, wenngleich sie nicht die Qualität von Gesetzesmaterialien haben.55 Dies sind Technical Advices, die ESMA auf Anfrage der Kommission zu geplanten Durchführungsrechtsakten erstellt; somit sind dies Erläuterungen zu den von ESMA selbst vorbereiteten Durchführungsrechtsakten. e) Ein Beispiel für die Bedeutung der Arbeit und Dokumente von ESMA bildet etwa die Kon- 26 kretisierung der Gestaltung des Wertpapierprospekts; dort legt ESMA fest, wie einzelne Zweifelsfragen zu sehen sind. f) Die Vorbereitungs- und Beratungsunterlagen von ESMA sind Unterlagen einer Einrich- 27 tung, die vor allem vollziehende Aufgaben hat, immer mehr aber in den regulatorisch- regulativen Bereich hineinwirkt. Die Unterlagen stellen in zweifacher Weise Auslegungshilfen dar; sie spiegeln einerseits die Meinung der Behörde wider, andererseits die Weisung des Normgebers. g) Die Durchführungsrichtlinien sind von unterschiedlichem Determinierungsgrad; zum 28 Teil wiederholen sie faktisch den Text der Rahmenrichtlinien, die ihrerseits schon sehr – zum Teil zu – detailliert sind,56 zum Teil sind sie derart gestaltet, dass sie beispielhaft aufzählen, was

_____ 52 Dies unterscheidet das Verfahren auch von nationalen Begutachtungsverfahren, bei denen seit geraumer Zeit jedenfalls in Österreich nicht bloß der Ministerialentwurf im Netz von der Homepage des jeweiligen Ministeriums abrufbar ist, sondern auch alle Stellungnahmen dazu. 53 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 51. 54 S. dazu Vorauflage § 20 Rn. 7. 55 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 50. 56 Krit. Ferrarini, ECLR 2005, 19, 27 ff.; s. ferner Möllers, AcP 208 (2008), 480, 487 f.; Schädle, Exekutive Normsetzung in der Finanzmarktaufsicht (2006), S. 130.

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3. Teil: Besonderer Teil

unter bestimmten Formulierungen der Rahmenrichtlinie zu verstehen ist. Als Beispiel sei etwa der Begriff der berechtigten Interessen gem. Art. 1 bzw. 2 der Marktmissbrauchsrichtlinie im Rahmen der Ad-hoc-Publizität genannt, die den Emittenten berechtigen, eine Insiderinformation nicht sofort zu veröffentlichen. Aus der zusätzlichen Ebene auf europäischer Ebene ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber eine neue Form der Umsetzung. Wegen des weiter fortgeschrittenen Determinierungsgrades der Durchführungsbestimmungen verbleibt für den nationalen Gesetzgeber vielfach – abgesehen von ausdrücklichen Regelungsermächtigungen bzw. Aufträgen57 – beinahe kein Regelungsspielraum. Die nationalen – etwa der österreichische – Gesetzgeber begnügen sich vielfach mit der wortwörtlichen Übernahme der europäischen Normtexte, ohne auf den nationalen Kontext einzugehen, d.h. ohne die Systematik der nationalen Gesetze, die Terminologie des nationalen Rechts, den bisherigen Regelungsbestand und das sonstige Regelungsumfeld in angemessener Weise zu berücksichtigen.58 Dies führt dazu, dass die nationalen Regelungen, die zum Teil tatsächlich bloße Abschreibübungen der europäischen Durchführungsnormen sind, bisweilen für das nationale Recht „überschießend“ sind und daher jeweils den nationalen Gegebenheiten entsprechend einschränkend interpretiert werden müssen. Die Besonderheit liegt dabei nicht in der Art der Interpretationstechnik, vielmehr in der unangemessenen Umsetzung, die zum Teil auch durch die mehrstufige Regelungstechnik gefördert wird. Gerade diese Mehrstufigkeit des europäischen Normsetzungsprozesses führt dazu, dass von nationaler Seite ein anderer Maßstab für das Determinierungsgebot, die Übersetzung in nationales Recht und die Auslegung der Normen anerkannt wird, wie sich bei der Marktmissbrauchsrichtlinie oder bei MiFID59 zeigt. Die mehrstufige Regelung und der hohe Determinierungsgrad sollen auch die Rechtssicherheit für die Marktteilnehmer erhöhen, was wiederum auf die Auslegung rückwirkt.60 Schließlich sind die allgemeinen Entwürfe der Kommission, insbesondere die Begründungs29 erwägungen zu nennen, die zur Ermittlung des historischen Willens des Regelgebers herangezogen werden können.61 Commission Staff Working Paper geben wiederum Überlegungen der Kommission für die Erarbeitung und Verabschiedung von Rahmen- oder Durchführungsrechtsakten wieder.62

4. Exkurs: Internationale Rechnungslegungsstandards 30 Das Zusammenwachsen der Kapitalmärkte sowie die Internationalisierung der Wirtschaft verlan-

gen nach einheitlichen internationalen Rechnungslegungsstandards.63 Da die Rechnungslegungsvorschriften vielfach die Basis für kapitalmarktrechtliche Regelungen bilden (z.B. Prospektrecht, Jahresfinanzberichterstattung), sei in wenigen Stichworten auf die besondere Regelungstechnik und damit einhergehend Auslegung von Rechnungslegungsbestimmungen eingegangen. Auf

_____ 57 Vgl. etwa Art. 6 der MarktmissbrauchsRL bezogen auf den Zeitpunkt der Mitteilung einer aufgeschobenen Adhoc-Publizität gegenüber der Aufsichtsbehörde. 58 Vgl. krit. Kalss/Oppitz/Zollner, Österreichisches Kapitalmarktrecht, § 14 Rn. 32. 59 Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates, ABl. 2004 L 145/1. 60 EuGH v. 28.6.2012 – Rs. C-19/11 Geltl ./. Daimler. 61 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 48. 62 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 5 Rn. 49; s. etwa Kommission, Commisson Staff Working Paper, Impact Assessment, SEC(2011) 1279 endg zur TransparenzRL. 63 Vgl. Merkt, in: Baumbach/Hopt (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (36. Aufl. 2014), Einleitung vor § 238 Rn. 93; ausführlich Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 23 ff. Kalss

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europäischer Ebene verpflichtet die IAS-VO64 seit 2005 Gesellschaften, die dem Recht eines Mitgliedstaates unterliegen und deren Wertpapiere in einem Mitgliedstaat zum Handel in einem geregelten Markt65 zugelassen sind, ihre konsolidierten Abschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufzustellen (Art. 4). Art. 5 IAS-VO berechtigt Mitgliedstaaten zu gestatten oder vorzuschreiben, dass Gesellschaften im Sinne des Art. 4 auch ihre Jahresabschlüsse, Gesellschaften, die nicht solche im Sinne des Art. 4 sind, ihre konsolidierten Abschlüsse und/ oder ihre Jahresabschlüsse nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen.66 Die einzelnen Mitgliedstaaten haben von dem ihnen in Art. 5 IAS-VO eingeräumten Wahl- 31 recht unterschiedlich Gebrauch gemacht.67 Der deutsche und österreichische Gesetzgeber haben sich dazu entschlossen nicht von Art. 4 IAS-VO erfassten Unternehmen die Wahl zu überlassen, ob sie ihren Konzernabschluss nach internationalen Rechnungslegungsstandards aufstellen oder nicht (§ 315a Abs. 3 HGB, § 245a Abs. 2 öUGB).68 Eine Verpflichtung zur Aufstellung des Konzernabschlusses nach internationalen Rechnungslegungsstandards besteht nach § 315a Abs. 2 HGB allerdings für Mutterunternehmen, wenn für sie bis zum jeweiligen Bilanzstichtag die Zulassung eines Wertpapiers im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 WpHG zum Handel an einem organisierten Markt im Sinne des § 2 Abs. 5 WpHG im Inland beantragt worden ist.69 Das nationale Rechnungslegungsrecht ist daher durch eine Zweiteilung geprägt, nämlich einerseits IAS/IFRS und andererseits HGB/UGB. Die IAS-Verordnung bezeichnet als internationale Rechnungslegungsstandards die Interna- 32 tional Accounting Standards (IAS), die International Financial Reporting Standards (IFRS) und damit verbundene Auslegungen (SIC70/IFRIC71-Interpretationen),72 spätere Änderungen dieser Standards und damit verbundene Auslegungen sowie künftige Standards und damit verbundene Auslegungen, die vom International Accounting Standards Board (IASB)73 herausgegeben oder

_____ 64 Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. 2002 L 243/1. 65 Im Sinne des Art. 1 Abs. 13 der Richtlinie 93/22/EWG des Rates v. 10.5.1993 über Wertpapierdienstleistungen, ABl. 1993 L 141/27. 66 Art. 9 der IAS-VO enthält Übergangsbestimmungen, wonach Mitgliedstaaten in Abweichung von Art. 4 vorsehen können, dass Art. 4 für Gesellschaften, von denen lediglich Schuldtitel zum Handel in einem geregelten Markt eines Mitgliedstaats zugelassen sind oder deren Wertpapiere zum öffentlichen Handel in einem Nichtmitgliedstaat zugelassen sind und die zu diesem Zweck seit einem Geschäftsjahr, das vor der Veröffentlichung der IAS-VO im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften begann, international anerkannte Standards anwenden, erst für die Geschäftsjahre Anwendung findet, die am oder nach dem 1.1.2007 beginnen. 67 Vgl. die Übersichtstabelle bei Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 108. 68 Vgl. zu dieser Rechtstechnik Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 169 ff. mwN; Kalss/Schauer/Winner, Allgemeines Unternehmensrecht, Rn. 7/57 f. 69 Vgl. zum Einbezug durch Verweisung Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 175. 70 Standing Interpretations Committee. Das SIC setzte sich überwiegend aus Wirtschaftsprüfern der großen internationalen Prüfungsgesellschaften zusammen (vgl. Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/ IFRS [6. Aufl. 2009], S. 71). 71 International Financial Reporting Interpretations Committee. Das IFRIC ist das Nachfolgeorgan des SIC und setzt sich überwiegend aus erfahrenen Fachleuten mit einer insgesamt breiten geographischen Ausrichtung aus den technischen Grundsatzabteilungen internationaler Prüfungsgesellschaften und dem Finanz- und Rechnungswesen der Wirtschaft sowie auch aus Erstellern und Nutzern von Jahresabschlüssen zusammen (vgl. Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez, in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013), Kapitel I Rn. 62 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 73). 72 Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez, in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013) Kapitel I Rn. 62 ff.; Lüdenbach/Hoffmann, IFRS-Kommentar (11. Aufl. 2013), S. 44 ff. 73 Zum IASB vgl. Kleekämper/Kuhlewind/Alvarez, in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (2. Aufl.), Kapitel I Rn. 20 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 69 ff. Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

angenommen wurden (Art. 2 IAS-VO). IAS und IFRS enthalten die internationalen Rechnungslegungsbestimmungen,74 die SIC/IFRIC-Interpretationen stellen weitere Regelungen zur Auslegung der einzelnen Standards dar. Die Zusammensetzung von SIC/IFRIC75 bringt es mit sich, dass Interessenvertreter das maßgebliche Verständnis derartiger Standards vorgeben. Die EU-Kommission beschließt nach dem in Art. 6 Abs. 2 IAS-VO geregelten Verfahren über 33 die Anwendbarkeit von internationalen Rechnungslegungsstandards in der Gemeinschaft (Art. 3 Abs. 1 IAS-VO). Der Anerkennungsprozess auf europäischer Ebene wird als endorsement bezeichnet.76 In einem ersten Schritt setzt sich die European Financial Reporting Advisory Group (EFRAG)77 mit dem Standard oder der Interpretation auseinander und gibt eine Empfehlung für oder gegen die Anerkennung ab.78 Daran anschließend erfolgt eine Prüfung durch die Standards Advice Review Group (SARG).79 Auf der Grundlage der Empfehlung der EFRAG erstellt die Europäische Kommission einen Vorschlag, über den wiederum der Regelungsausschuss für Rechnungslegung (Accounting Regulatory Committee, ARC) abstimmt. Zuletzt haben der Rat und das Europäische Parlament über den Kommissionsvorschlag zu entscheiden.80 Die internationalen Rechnungslegungsstandards können nur dann übernommen werden, wenn sie dem Prinzip von Art. 2 Abs. 3 Bilanzrichtlinie81 und von Art. 16 Abs. 3 Konzernabschlussrichtlinie82 nicht zuwiderlaufen sowie dem europäischen öffentlichen Interesse entsprechen und den Kriterien der Verständlichkeit, Erheblichkeit, Verlässlichkeit und Vergleichbarkeit genügen, die Finanzinformationen erfüllen müssen, um wirtschaftliche Entscheidungen und die Bewertung der Leistung einer Unternehmensleitung zu ermöglichen (Art. 3 Abs. 2 IAS-VO). Nach Art. 2 Abs. 3 Bilanzrichtlinie hat der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft zu vermitteln. Art. 16 Abs. 3 Konzernabschlussrichtlinie normiert in ähnlicher Weise, dass der konsolidierte Abschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Gesamtheit der in die Konsolidierung einbezogenen Unternehmen zu vermitteln hat. Übernommene internationale Rechnungslegungsstandards werden als Kommissionsverordnung vollständig in allen Amtssprachen der Union im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht (Art. 3 Abs. 4 IAS-VO). Der Anerkennungsprozess ist kein schlichtes Durchwinken, was sich daran zeigt, dass beispielsweise der Standard IAS 39 (Finanzinstrumente: Ansatz und Bewertung) erst nach Änderungen anerkannt wurde.83

_____ 74 Zum Aufbau der Standards vgl. nur Adler/Düring/Schmalz, Rechnungslegung nach Internationalen Standards (7. EL 2011), Abschnitt 1 Rn. 8. 75 Siehe Fn. 70. 76 Kritisch diesem Verfahren gegenüber Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 177 f. 77 http://www.efrag.org. 78 Nicht zu unterschätzen sind dabei Rückkoppelungen zwischen den einzelnen Sachverständigen-Gruppen, die die Regelungen noch verzerren können. 79 http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/committees/sarg_de.htm. 80 Näher zum Anerkennungsprozess in der EU vgl. Wollmert/Oser/Molzahn, in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013), Kapitel III Rn. 62 ff.; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 107 ff. 81 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABl. 1978 L 222/11. 82 Siebente Richtlinie 83/349/EWG des Rates v. 13.6.1983 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den konsolidierten Abschluß, ABl. 1983 L 193/1. 83 Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 111 f. Kalss

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Bei der Durchsetzung internationaler Rechnungslegungsstandards kommt auf Ebene der EU 34 – wiederum ESMA – eine wichtige Funktion zu. ESMA beschäftigt sich mit Grundsätzen und der Koordination der Durchsetzung der Rechnungslegung.84 Internationale Rechnungslegungsstandards sind auch dann verbindlich, wenn sie zwischen 35 Vertragsparteien, z.B. zwischen Verkäufer und Käufer eines Unternehmens, zum Zweck der Wertermittlung vertraglich vereinbart werden.85 Das Nebeneinander von in einem aufwendigen Verfahren unter Einbeziehung zahlreicher 36 Organisationen gewonnener Standards sowie von Auslegungen bringt es mit sich, dass sich bei Anwendung der internationalen Rechnungslegungsstandards ähnliche Anwendungs- und Auslegungsfragen wie bei den im Rahmen des neuen kapitalmarktrechtlichen Normsetzungsverfahrens geschaffenen Regelungen stellen. Die Rechtssetzung ist im Rechnungslegungsrecht noch stärker von Praktikern und betroffenen Kreisen geprägt und initiiert als im Kapitalmarktrecht.

III. Effizienz als Maßstab des Kapitalmarktrechts Die Bedeutung von Effizienz als Interpretationsleitlinie des Kapitalmarktrechts wurde bereits 37 ausgeführt (oben Rn. 1).86 Das Kapitalmarktrecht ist in besonderer Weise offen für ökonomische Überlegungen. Der Grund liegt darin, dass effiziente Gestaltung als Regelungsziel an mehreren Stellen der Regelungen genannt wird. Die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktrechts gehört zu den traditionellen Zielbestimmungen jeder kapitalmarktrechtlichen Norm auf europäischer Ebene.87 Das Regelungsziel der Markteffizienz findet sich geradezu routinemäßig in den Begründungserwägungen der einschlägigen Richtlinien und Verordnungen.88 Folgende Beispiele seien genannt: Nach der Transparenzrichtlinie89 ist die Effizienz Regelungsziel, zumal transparente und integrierte Wertpapiermärkte zu einem echten Binnenmarkt in der Gemeinschaft beitragen und eine bessere Kapitalallokation und eine Senkung der Kurskosten ermöglichen. Die Markteffizienz greift auch die Prospektrichtlinie90 auf, wonach die Information die Markteffizienz sicherzustellen habe. Die Marktmissbrauchsrichtlinie91 will wiederum ebenfalls den effizienten Finanzmarkt sicherstellen. Das Kapitalmarktrecht beruht auf der Markteffizienzhypothese,92 wobei deren maßgeblicher Angelpunkt die Informationseffizienz ist. Kapitalmarktrechtliche

_____ 84 Wollmert/Oser/Molzahn, in: Baetge u.a. (Hrsg.), Rechnungslegung nach IFRS (22. EL 2013), Kapitel III Rn. 76; Wagenhofer, Internationale Rechnungslegungsstandards – IAS/IFRS (6. Aufl. 2009), S. 121; vgl. auch CESR Standard No. 2 on Financial Information – Coordination of Enforcement Activities, April 2004. 85 Kirchhof, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 168. 86 Vgl. dazu Franck, in diesem Band, § 5. 87 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 7; Fleischer/Zimmer, in: dies. (Hrsg.), Effizienz als Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2007), S. 18 f. 88 Hellgardt, in: Baum u.a. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrecht, Beiträge für Klaus J. Hopt aus Anlass seiner Emeritierung (2008), S. 397, 402 ff.; Klöhn, in: Langenbucher (Hrsg.), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts, § 6 Rn. 13. 89 Richtlinie 2004/109/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.12.2004 zur Harmonisierung der Transparenzanforderungen in Bezug auf Informationen über Emittenten, deren Wertpapiere zum Handel auf einem geregelten Markt zugelassen sind, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG. 90 Richtlinie 2003/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 4.11.2003 betreffend den Prospekt, der beim öffentlichen Angebot von Wertpapieren oder bei deren Zulassung zum Handel zu veröffentlichen ist, und zur Änderung der Richtlinie 2001/34/EG. 91 Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.1.2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch). 92 Fleischer/Zimmer, in: dies. (Hrsg.), Effizienz und Regelungsziel im Handels- und Wirtschaftsrecht (2008), S. 19.

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3. Teil: Besonderer Teil

Regelungen sind somit ganz auf die Sicherung dieser Informationseffizienz und Sicherung der Funktionsfähigkeit auszulegen. Zivile, öffentlich-rechtliche und strafrechtliche Rechtsfolgen sind unter ökonomischen Regelungen zu beurteilen und zu bewerten.93

IV. Kapitalmarktrecht – Eine Querschnittsmaterie 1. Öffentliches – Privates Recht 38 Kapitalmarktrecht bildet – wie bereits erwähnt (oben Rn. 1) – eine Gemengelage und eine Quer-

schnittsmaterie aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rechtsbereiche, die nach traditioneller Sichtweise einerseits eher dem öffentlichen (regulativen) Recht, andererseits eher dem Privatrecht zugeschlagen werden.94 Primärrecht95 und Sekundärrecht greifen ineinander. Elemente finden sich aus dem Verwaltungsrecht, dem Wirtschaftsverwaltungsrecht, Privatrecht und Gesellschaftsrecht.96 Bei einem Vergleich einzelner Regelungsinstitute ist stets darauf zu achten, dass die Steuerungsinstrumente Privatrecht und Öffentliches Recht in unterschiedlichem Maß eingesetzt werden.97 Besonders deutlich wird dies nicht nur im Bereich der Festlegung von Rechten und Pflichten und deren tatbestandsmäßigen Abgrenzung, sondern auch bei Sanktionierung dieser Pflichten.98 Nicht zufällig spricht man in einzelnen Regelungsbereichen von der Zwitteroder Mehrfachstellung einzelner Normen und Instrumente.

2. Wohlverhaltensregeln – eine Doppelnatur 39 Wohlverhaltensregeln, somit die Informations- und Aufklärungspflichten von Wertpapierfirmen

gemäß Art. 19 MiFID; §§ 31 ff. WpHG; §§ 38ff. Wertpapieraufsichtsgesetz (WAG) sind typische Beispiele von Regelungen mit doppelter Rechtsnatur, somit Bestimmungen, die aufsichtsrechtliche Pflichten regeln und zugleich funktionales Zivilrecht darstellen.99 Einerseits sind sie öffentlich-rechtliche, d.h. aufsichtsrechtliche Verhaltensnormen,100 zugleich sind sie aber auch Ausdruck des privatrechtlichen vertraglichen bzw. vorvertraglichen Schuldverhältnisses (Geschäftsbesorgungsvertrag als zentrales Verbindungsglied).101 Die MiFID trifft keine explizite Aussage zur Qualifikation der einzelnen Regelung als öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche

_____ 93 Möllers, AcP 208 (2008), 1, 35. 94 Vgl. zu dieser Teilung Köndgen, in diesem Band, § 6. 95 S. dazu vor allem Riesenhuber, in: Hopt/Veil/Kämmerer (Hrsg.), Kapitalmarktgesetzgebung im Europäischen Binnenmarkt (2008), S. 23. 96 Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 482 ff.; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 12; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Gruber, in: Koppensteiner (Hrsg.), Österreichisches und europäisches Wirtschaftsprivatrecht (1998), Teil IV, S. 10. 97 Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 482 ff. 98 Klöhn, in: Kalss/Fleischer/Vogt (Hrsg.), Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht in Deutschland, Österreich und Schweiz 2013 (2014), S. 229, 235; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 12 Rn. 4 ff. 99 Baum, ÖBA 2013, 396; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 410 ff. 100 Baum, ÖBA 2013, 396, 399. 101 Zur Frage der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit über das WpHG/WAG hinausgehender zivilrechtlicher Pflichten Mülbert, WM 2007, 1149, 1157; ders., ZHR 172 (2008), 170, 183 ff.; Knobl/Janovsky, ZFR 2008, 68, 69 f. (verneinend); hingegen Assmann, ZBB 2008, 21, 30; Veil, ZBB 2008, 34, 41 ff. (bejahend); vgl. auch Graf, ZFR 2009/55, 82, 83 ff.; Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 410 ff. Kalss

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Norm.102 Nach österreichischem Verständnis war diese Doppelseitigkeit der Rechtsnatur der Wohlverhaltensregeln für das WAG 1996 eindeutig;103 es bestand nicht bloß eine Ausstrahlungswirkung; nach dem WAG 2007 wird dies zum Teil weiterhin so gesehen.104, 105 Zum Teil wird nun für die einzelnen aufsichtsrechtlichen Pflichten differenziert: Die Qualifikation als Doppelnatur kann nur für Generalklauseln angenommen werden, nicht hingegen für konkrete Verhaltensanordnungen, die tief in das Detail gehen.106 Grundsätzlich kommt den konkreten öffentlichrechtlichen Verhaltenspflichten daher kein vertraglicher Charakter zu, sondern entfalten sie nur eine Ausstrahlungswirkung auf privatrechtliche Rechtsverhältnisse. Ausstrahlung darf dabei nicht als neue Art der Auslegung verstanden werden, vielmehr wird damit nur die systematische Interpretation im Sinne einer arbeitsteiligen Rechtsordnung mit dem Ziel einer widerspruchsfreien Ordnung verstanden.107 Auch nach deutschem Recht wird vertreten, dass den Wohlverhaltensregelungen ausschließlich öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlicher Charakter zukomme und die Durchsetzung ausschließlich Angelegenheit der Aufsichtsbehörde (BaFin) sei.108 Auch den §§ 31–37 WpHG n.F. wird primär aufsichtsrechtliche Qualität zugesprochen und sind sie nach einem Teil der Lehre ausschließlich öffentlich-rechtlicher Natur.109 Dafür wird insbesondere die Interpretationsbefugnis der BaFin gemäß § 35 WpHG sowie die allgemeine Zurechnung der Regelungen ins Treffen geführt. Jedenfalls sind die Wohlverhaltensregeln zwingender Natur und können nicht abbedungen werden.110 Zum Teil wird in der Literatur vertreten, dass die Regelungen eine Doppelnatur haben und sie sowohl Aufsichtsrecht und Zivilrecht darstellen.111 Ein Teil der Lehre vertritt hingegen die Auffassung, dass das Aufsichtsrecht auf das Zivilrecht bloß ausstrahlt, d.h., dass der Rechtsgedanke des Aufsichtsrechts ins Zivil- und Vertragsrecht transferiert wird und daher die Vertragsregelungen prägt, d.h. wiederum ist in systematischer Interpretation ein möglichst widerspruchsfreier Rahmen der Pflichten zu ermitteln.112 Auf die zivilrechtli-

_____ 102 Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 25 Rn. 11; Moloney, EC Securities Regulation (2. Aufl. 2009), S. 641. 103 Graf, ZFR 2009/55, 82, 84; Gruber, ecolex 2008, 7, 8 ff.; ders, in: Braumüller u.a. (Hrsg.), Von der MiFID zum WAG (2007), S. 83, 153; Oppitz, in: Apathy/Iro/Koziol (Hrsg.), Österreichisches Bankvertragsrecht (2. Aufl. 2007), VI Rn. 2/57 ff.; zur Rechtslage vor dem WAG 2007: Knobl, in: Frölichsthal u.a. (Hrsg.), Kommentar zum Wertpapieraufsichtsgesetz (1998), § 11 Rn. 1 ff.; Knobl, ÖBA 1997, 3 ff.; Winternitz, Wertpapieraufsichtsgesetz (1998), § 11 Rn. 1; Kalss, FS 100 Jahre Wirtschaftsuniversität, S. 194. 104 Graf, in: Gruber/Raschauer (Hrsg.), WAG (2010), § 38 Rn. 48; Bauer/Zehetner, in: Gruber/Raschauer (Hrsg.), WAG (2010), § 29 Rn. 47. 105 Brandl/Klausberger, ZFR 2009/89, 131, 131 f.; dies, in: Brandl/Saria (Hrsg.), Praxiskommentar zum WAG (2008), § 38 Rn. 5; Knobl/Janovsky, ZFR 2008, 68, 70; vgl. auch Winternitz/Aigner, Wertpapieraufsichtsgesetz 2007 (2007), S. 18. 106 Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 528; Knobl/Grafenhofer, GesRZ 2010, 29. 107 Oppitz, Kapitalmarktaufsicht, S. 534; Baum, ÖBA 2013, 396, 406; Rothenhöfer, in: Baum u.a. (Hrsg.), Perspektiven des Wirtschaftsrecht, Beiträge für Klaus J. Hopt aus Anlass seiner Emeritierung (2008), S. 725 ff. 108 Bliesener, Aufsichtsrechtliche Verhaltenspflichten beim Wertpapierhandel (1998), S. 140 ff.; Baum, ÖBA 2013, 396, 399. 109 S. dazu Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), vor §§ 31 bis 37a Rn. 56; Baum, ÖBA 2013, 396, 396 ff. 110 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (6. Aufl. 2012), § 31 Rn. 3; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), vor §§ 31 bis 37a Rn. 56. 111 Möllers, in: Hirte/Möllers (Hrsg.), Kölner Kommentar zum WpHG (2. Auflage 2014), § 31 Rn. 15; Benicke, Wertpapiervermögensverwaltung (2006), S. 467 ff.; Mülbert, WM 2007, 1149, 1157; Kumpan/Hellgardt, DB 2006, 1714, 1715; Möllers, AcP 207 (2007), 651, 655; Veil, WM 2007, 1821, 1825; Weichert/Wenninger, WM 2007, 627, 635; Einsele, JZ 2008, 477, 482 f.; a.A. Baum, ÖBA 2013, 396, 402 f. 112 Vgl. Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (6. Aufl. 2012), § 31 Rn. 3; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), vor §§ 31 bis 37a Rn. 58 f.; Baum, ÖBA 2013, 396, 405. Kalss

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3. Teil: Besonderer Teil

chen Ansprüche kann – trotz der Vorprägung durch das Aufsichtsrecht – auch verzichtet werden.113 Ein weiteres Beispiel für die Zwitter- bzw. Doppelstellung von kapitalmarktrechtlichen Rege40 lungen bildet Art. 9 der Pensionsfonds-Richtlinie sowie § 19 Pensionskassengesetz (PKG) über die expliziten Informationspflichten des Arbeitgebers, die durch eine Verordnung der Finanzmarktaufsicht114 konkretisiert werden und unter diesem Aspekt klar als öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtliche Bestimmungen zu deuten sind. Bereits vor Inkraftsetzung dieser Regelungen und der Konkretisierungen durch die Aufsichtsbehörde wurde aber schon aus dem Vertragsbzw. Schuldverhältnis der hohe Standard an Informations- und Aufklärungspflichten abgeleitet.115 Wiederum zeigt sich, dass hier allgemeine vertragliche Schutz- und Sorgfaltspflichten in Gestalt besonderer Informations- und Aufklärungspflichten bestehen, die vertragsrechtlich zu sanktionieren sind, d.h. jedenfalls zu Haftungsansprüchen führen können, umgekehrt zugleich eine aufsichtsrechtliche Komponente den Pflichten innewohnt und deren Verletzung zu aufsichtsrechtlichen und auch verwaltungsstrafrechtlichen Maßnahmen berechtigt.

3. Auslegung der Regelungen mit Doppelnatur 41 Die verschiedene Qualifikation der Wohlverhaltensregelungen hat – zum Teil – auch unterschied-

liche Auswirkungen auf das Verständnis der Wohlverhaltensregelungen, ihre unmittelbare Inanspruchnahmemöglichkeit durch den einzelnen Anleger und letztlich auch auf die Auslegung dieser Normen. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass das Aufsichtsrecht und das Privatrecht nicht auseinander laufen sollen;116 für die Sanktionierung sind die Wege aber verschieden. Inwieweit wirkt sich nun diese zweifache Rechtsnatur auf die Gestaltung der zivilrechtlichen Position einerseits bzw. auf die Auslegung der jeweiligen Bestimmungen der Wohlverhaltensregeln aus?

4. Vertragliche Regelungen 42 Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen tatsächlich als Ausdruck der vertraglichen und

vorvertraglichen Pflichten, denen auch ein öffentlich-rechtlicher bzw. aufsichtsrechtlicher Charakter zukommt, sind sie jedenfalls als vertragsrechtliche Regelungen anzusehen und sind für den Zweck der Auslegung des Vertrags nach allgemeinen vertragsrechtlichen Grundsätzen auszulegen. Nach österreichischem Recht ist für die vertraglichen Regelungen vor allem § 914 ABGB anzuwenden, der seine Parallele in § 133 BGB hat, wonach der Wille der Vertragsparteien wesentliches Element der Auslegung darstellt.117 Wenn eine Regelung im Wortlaut der Vereinbarung keine Deckung mehr findet, ist auf die ergänzende Vertragsauslegung zurückzugreifen, d.h. es ist zu überlegen, was vernünftige Parteien – wären sie in Kenntnis der Situation – vereinbart hätten.

_____ 113 Koller, in: Assmann/Schneider (Hrsg.), Kommentar zum WpHG (6. Aufl. 2012), § 31 Rn. 3. 114 Verordnung der Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA) über Inhalt und Gliederung der Information einer Pensionskasse an Anwartschaftsberechtigte, Leistungsberechtigte, Hinterbliebene oder Versicherte (Informationspflichtenverordnung Pensionskassen – InfoV-PK), öBGBl. II 424/2012, abrufbar unter www.fma.gv.at. 115 OGH, JBl. 2013, 393; OGH, ecolex 2003, 856 (ORF) sowie OGH v. 24.6.2004 – 8 ObA 52/03k (BA-CA). 116 Baum, ÖBA 2013, 396, 405. 117 Siehe nur Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Vonkilch, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2011), § 914 Rn. 138 ff.; Rummel, in: ders. (Hrsg.), ABGB (3. Aufl. 2000), § 914 ABGB Rn. 4. Kalss

§ 20 Kapitalmarktrecht

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Betrachtet man die vertraglichen oder vorvertraglichen Pflichten hingegen unter dem 43 Brennglas des öffentlichen Rechts, ist auf sie der Kanon der Gesetzesinterpretation öffentlicher und insbesondere strafrechtlicher Normen anzuwenden. Maßgeblich ist nicht der Wille der Parteien, sondern allein der normative Gehalt der gesetzlichen Norm. Für dessen Ermittlung stehen die traditionellen öffentlich-rechtlichen Instrumente der Wortlautinterpretation, der historischen und systematischen Interpretation und mit gebotener Vorsicht auch der teleologischen Interpretation zur Verfügung. Allein aus der unterschiedlichen Zugänglichkeit der Interpretationstechniken können – in einzelnen Fällen – verschiedene Ergebnisse der Rechte- und Pflichtenkonkretisierung erzielt werden.

5. Schutzgesetzcharakter von Normen Betrachtet man die Wohlverhaltensregelungen gem. §§ 31 ff. WpHG als Schutzgesetze, ändert 44 sich der Auslegungsmodus: Nicht mehr vertragliche, sondern gesetzliche Normen gilt es zu interpretieren, sodass nicht das Repertoire der Vertragsauslegung, sondern jenes der Gesetzesauslegung heranzuziehen ist,118 woraus divergierende Ergebnisse bei der Ausfüllung der konkreten Pflicht möglich sind. Der BGH hat aber etwa § 31 Abs. 1 Nr. 2 WpHG a.F. jedenfalls zum Teil die Schutzgesetzqualität abgesprochen, 119 in einem weiteren Urteil offengelassen.120 Bedeutender ist aber die Doppelqualifikation Schutzgesetz – öffentlich rechtliche Verhaltensnorm. Diese Parallele gilt auch bei anderen Schutzgesetzen im Rahmen kapitalmarktrechtlicher Regelungen. Beispiele für Schutzgesetze bilden etwa die Offenlegungspflichten für Emittenten nach dem österreichischen Börsegesetz (öBörseG), die in Umsetzung einzelner Richtlinien ergangen sind. Als Schutzgesetz genannt sei nach österreichischem Verständnis die Ad-hoc-Publizitätspflicht121 gem. § 48d öBörseG, der Art. 6 der Marktmissbrauchsrichtlinie umsetzt, und der die Offenlegung von Insiderinformationen, die einen Emittenten unmittelbar betreffen, anordnet. Nach deutschem Verständnis wird die Schutzgesetzqualifikation von § 15 WpHG abgelehnt.122 Ein weiteres Beispiel für ein Schutzgesetz stellt etwa das Verbot der Marktmanipulation gem. § 48a öBörseG (entspricht § 20a WpHG) dar123 sowie die Offenlegungspflicht der Stimmrechtsanteile durch einen Anleger gem. §§ 91 ff. öBörseG (Beteiligungspublizität – §§ 21 ff. WpHG).124 Die Schutzgesetze begründen im Regelfall kapitalmarktrechtliche Verhaltenspflichten, insbesondere Informationsund sonstige Pflichten von Emittenten oder deren Organe oder sonstigen Marktteilnehmern (Wertpapierdienstleistungsunternehmen), deren Verletzung in Österreich mit von der Finanzmarktaufsicht (FMA) zu verhängenden verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionen zu ahnden ist. In Deutschland hat die BaFin den Verstoß gegen die öffentlich-rechtlichen Verhaltenspflichten

_____ 118 Zum Verhältnis: Vonkilch, in: Fenyves/Kerschner/Vonkilch (Hrsg.), Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2011), § 914 Rn. 8 f. 119 BGH, ZBB 2007, 193, 195. 120 BGH, WM 2007, 487–489. 121 OGH, GesRZ 2012, 252; Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 12; Kalss/Oppitz, in: Hopt/Voigt (Hrsg.), Prospekthaftung und Kapitalmarktinformationshaftung (2004), S. 857; ferner Rüffler, ÖBA 2009, 724, 726 f.; a.A. nunmehr Enzinger, FS Straube (2009), S. 19, 24 ff. 122 Vgl. nur Pfüller, in: Fuchs (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), § 15 Rn. 439; Möllers, in: Hirte/Möllers (Hrsg.), WpHG (2. Aufl. 2014), §§ 37b, c Rn. 10, der individualschutzrechtliche Aspekt folgt aus § 37b WpHG. 123 OGH, GesRn. 2012, 252; Oppitz, ÖBA 2005, 169–184; Kalss/Puck, in: Aicher/Kalss/Oppitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts (1998), S. 358; Altendorfer, in: Aicher/Kalss/Oppitz (Hrsg.), Grundfragen des neuen Börserechts (1998), S. 234. 124 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 19 Rn. 40, 42; Kalss, ÖBA 1993, 918; dies./Zollner, ÖBA 2007, 884, 900.

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3. Teil: Besonderer Teil

mit der Verhängung von Bußgeldern zu sanktionieren. Die kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten stellen somit verwaltungsrechtliche Pflichten dar, die mit einer verwaltungsstrafrechtlichen Sanktion bzw. einem Bußgeld bewehrt sind. Ob allein bereits aus der leicht fahrlässigen Verletzung einer konkreten kapitalmarktrechtlichen Norm die zivilrechtliche Haftung wegen Schutzgesetzverletzung folgt, ist nicht zwingend, sondern hängt von der übertretenen Norm ab, nämlich ob sie auch subjektive Elemente enthält.125

6. Gespaltene Interpretation 45 Der Zwitterstellung der kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten (Schutzgesetz – öffentlich-

rechtliche Pflicht) ist bei der Auslegung dadurch Rechnung zu tragen, dass sie weder zur Gänze den allgemeinen zivilrechtlichen Auslegungsgrundsätzen unterliegen, noch allein der regelmäßig engeren Auslegung nach dem öffentlichen Recht. So ist etwa das im Verwaltungsstrafrecht geltende Analogieverbot nicht auf die zivilrechtliche Auslegung zu übernehmen (vgl. Art. 103 GG).126 Vielmehr ist – ähnlich wie etwa im Kartellrecht127 – von einer gespaltenen oder mehrspurigen Gesetzesauslegung auszugehen.128 Ein und dieselbe Norm kann nach den zivil- oder strafrechtlichen Auslegungsregeln interpretiert werden. Der EuGH hat zwar ausgesprochen, dass ein und dieselbe Norm über die Anwendung der Bestimmung von Zivil- und Strafgerichten einheitlich auszulegen seien,129 eine generelle Ablehnung gespaltener Interpretation ist darin aber nicht zu sehen,130 vielmehr hat sich diese Frage dem EuGH konkret gar nicht gestellt. Dies bedeutet etwa, dass die Auslegung der zivilrechtlichen Verhaltenspflichten dem allgemeinen Bürgerlichen Recht folgt, soweit es um die Auslotung des Schutzgesetzes als Grundlage der Beurteilung von Haftungsfolgen geht. Unter dem Gesichtspunkt der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung gelten die für das Verwaltungsstrafrecht geltenden methodologischen Restriktionen. Insbesondere bedeutet dies, dass die Methodenbeschränkung des Verbots der Analogie und einer extensiven Interpretation innerhalb der äußersten Wortlautgrenze zu Lasten des Täters zu berücksichtigen ist.131 Während für die Interpretation der verwaltungsstrafrechtlich sanktionierten Verhaltenspflichten somit im Lichte des öffentlich-rechtlich aufsichtsrechtlichen Regimes das Analogieverbot ebenso wie die Grenze des äußerten möglichen Wortsinns zu beachten sind, gelten diese Auslegungsgrundsätze nicht für die zivilrechtliche Pflicht einschließlich ihrer Absicherung durch Haftungsansprüche. Die Auslegung der zivilrechtlich abgesicherten Verhaltenspflichten folgt den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen, insbesondere können auffüllungsbedürftige Gesetzeslücken durch Analogie beseitigt werden. Pflichten, die die Wohlverhaltensregeln widerspiegeln, können daher vor allem nach österreichischem Verständnis durch analoge Anwendung ausgedehnt werden. Die Zulässigkeit der analogen Anwendung beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbaren kapitalmarktrechtlichen Verhaltenspflichten, sondern schließt auch deren

_____ 125 Vgl. dazu Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 376. 126 Vgl. nur Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht (8. Aufl. 2003), Rn. 731; Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 8. 127 Vgl. nur Koppensteiner, Österreichisches und Europäisches Wettbewerbsrecht (3. Aufl. 1997), Rn. 8 ff. 128 Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f.; Grundmann, in: Ebenroth u.a. (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (2. Aufl. 2009), Rn. VI 32; a.A. etwa Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), Einl. Rn. 79 mwN. 129 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-384/02 Grøngaard und Bang, Slg. 2005 I-9939 Rn. 28. 130 So Veil, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Kapitalmarktrecht, § 6 Rn. 9. 131 Siehe nur Leukauf/Steininger, Kommentar zum StGB (3. Aufl. 1992 ), § 1 Rn. 16, 20; Kienapfel, ÖJZ 1986, 338 ff.; OGH, EvBl 1975/268, OGH, EvBl 1976/278.

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§ 20 Kapitalmarktrecht

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zivilrechtliche Absicherung durch Haftung ein.132 Die durch ausdehnende Interpretation oder durch Analogie gewonnene Verhaltenspflicht kann daher ebenso wie die ausdrücklich normierte Norm als Schutzgesetz i.S.v. § 1311 ABGB (§ 823 BGB) qualifiziert werden, sodass insbesondere auch die Verletzung der über den Gesetzeswortlaut hinausgehenden Pflichten eine Haftung auslösen kann.133 Für die deliktische Schutzgesetzhaftung können daher auch Straftatbestände, insbesondere auch Verwaltungsstraftatbestände, durch Analogie erweitert werden.134 Das Analogieverbot beschränkt sich unmittelbar auf die Verhängung der Strafsanktion. Für den deliktischen, d.h. zivilrechtlichen Bereich, besteht aber kein Anlass, die auch sonst zulässige Analogie zu verbieten, weil durch die sekundäre deliktische Anknüpfung der strafrechtliche Anwendungsbereich nicht berührt wird.135 Vom Straftatbestand wird nur die Verhaltenspflicht übernommen, der strafrechtliche Eingriff wird aber in das Zivilrecht nicht transferiert. Wegen Fehlens dieses Eingriffscharakters bedarf es im Zivilrecht nicht dieser engen wortlautabhängigen Auslegung. Beispiele für die Notwendigkeit derart gespaltener Gesetzesauslegungen bilden etwa die 46 Herstellung einer parallelen Frist für die Mitteilung an die Aufsichtsbehörde und die Offenlegung gegenüber dem Publikum von directors’ dealings-Geschäften (Geschäfte von Führungskräften mit Aktien der eigenen Gesellschaft).136 Als weiteres Beispiel wird in der Literatur die analoge Anwendung von § 25 WpHG auf Cash Settled Equity Swaps angeführt,137 d.h. die Anwendung der Mitteilungspflichten von Aktionären gegenüber der Gesellschaft und dem Markt, obwohl der Wortlaut die Gestaltung nicht erfasst, der Regelungszweck aber dafür spricht.138 Allein eine Bestrafung der gemeinsam vorgehenden, aber nicht offen legenden Veräußerer wird an den Grenzen des Wortlauts scheitern. Sollte aber einem Anleger bzw. der Gesellschaft daraus ein Schaden entstehen, könnte ein Schadenersatz auf die Verletzung der Offenlegungspflicht gestützt werden.

V. Resümee Das europäische Kapitalmarktrecht stellt den Rechtsanwender mit seiner neuen mehrschichti- 47 gen Regelungstechnik bei Anwendung und Auslegung europäischer wie nationaler Normen vor schwierige Aufgaben. Wegen der Fülle des Materials, der verschiedenen Ebenen und Qualifikation der Normen, die unterschiedliche Bedeutung einzelner Auslegungshilfen und des Auslegungsprozedere müssen sich Markt- und Rechtsanwender vielfältigen Fragen der Interpretation stellen.

_____ 132 Cahn, ZHR 1998, 1, 8 f. 133 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218 f.; s. ferner Schneider/ Anzinger, ZIP 2009, 9. 134 Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 218; Dellinger, ÖBA 1989, 1124; Dellinger, Vorstandshaftung und Geschäftsführerhaftung im Insolvenzfall insbesondere gegenüber sogenannten Neugläubigern (1989), S. 105 f.; Schmiedel, Deliktsobligationen nach deutschem Kartellrecht, Erster Teil (1974), S. 239 f.; U.H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 9; Grundmann, in: Ebenroth u.a. (Hrsg.), Handelsgesetzbuch (2. Aufl. 2009), Rn. VI 32; a.A. Jauernig-Teichmann, § 823 BGB Rn. 46; Fuchs, in: ders. (Hrsg.), Wertpapierhandelsgesetz (2009), Einl. Rn. 79 mwN. 135 Schmiedel, Deliktsobligationen (1974), S. 240; Karollus, Funktion und Dogmatik der Haftung aus Schutzgesetzverletzung (1992), S. 219; U.H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 9. 136 Kalss/Oppitz/Zollner, Kapitalmarktrecht, § 18 Rn. 48; Kalss/Zollner, GeS 2005, S. 113 f. 137 U.H. Schneider/Anzinger, ZIP 2009, 1, 7. 138 Ein Cash Settled Equity Swap ist eine Gestaltung, bei der dem Stillhalter ein Vollrecht eingeräumt wird, zum Fälligkeits-/Verfallszeitpunkt seine Leistungspflicht entweder durch Lieferung von Aktien oder durch die Zahlung eines Barausgleichs zu erfüllen.

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3. Teil: Besonderer Teil

Die Auslegung kapitalmarktrechtlicher Normen verlangt eine tiefgehende Einbeziehung ökonomischer Überlegungen, um dem gesetzgeberischen Willen der Effizienzsteigerung gerecht zu werden. 49 Dem querschnitthaften Charakter des Kapitalmarktrechts soll durch die Anerkennung der unterschiedlichen Provenienz der Regelungen in der Auslegung Rechnung getragen werden, wobei aber dennoch die Einheitlichkeit der Rechtsordnung zu wahren oder jedenfalls anzustreben ist. Rechnungslegung bildet eine maßgebliche Basis des Kapitalmarktrechts, insbesondere des 50 Informationsrechts. Das besondere Zusammenspiel von privater und hoheitlicher Normgebung begründet eine Vielzahl von Fragen auch für die Auslegung und das Verständnis der neuen Regelungen.

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§ 21 Europäisches Kartellrecht

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§ 21 Europäisches Kartellrecht 3. Teil: Besonderer Teil

Thomas Ackermann § 21 Europäisches Kartellrecht Ackermann Literatur Josef Drexl, Europäisierung und Ökonomisierung des deutschen Kartellrechts, in: Klaus J. Hopt/Dimitris Tzuganatos (Hrsg.), Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts (2006), S. 223–264; David Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe – Protecting Prometheus (1998); Giorgio Monti, EC Competition Law (2007); ErnstJoachim Mestmäcker/Heike Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht (2. Aufl. 2004).

I.

II.

Übersicht Die Quellen des EU-Kartellrechts | 3 1. Primärrecht | 4–5 2. Sekundärrecht | 6–9 a) Die Kartellverordnung | 7 b) Gruppenfreistellungsverordnungen | 8 c) Die Fusionskontrollverordnung | 9 3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission? | 10–11 Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen | 12–29 1. Autonome Begrifflichkeit | 15–17 2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung | 18–22 3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot | 23–26

4.

III.

Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? | 27–29 Die Ausstrahlung des EU-Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht | 30 1. Vorrang des EU-Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts | 31–33 2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts | 34 a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWBNormen | 35–36 b) Vorlagemöglichkeit? | 37–38 3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht | 39

Das europäische Kartellrecht genießt den Status einer weitgehend verselbständigten Materie, 1 deren Behandlung vorwiegend auf den Kreis einschlägig ausgewiesener Wissenschaftler, Anwälte und Beamten der Kommission sowie nationaler Kartellbehörden beschränkt bleibt. Zeitschriften,1 Vereinigungen und periodische Diskussionsforen,2 reichlich vorhandene Handbücher und Kommentare,3 die sich exklusiv den in diesem Bereich auftretenden Rechtsfragen widmen,

_____ 1 Einen Schwerpunkt im europäischen Kartellrecht haben insbesondere die folgenden Zeitschriften: Concurrences (Revue des droits de la concurrence), Competition Policy International (CPI), European Competition Law Review (ECLR), Journal of Competition Law & Economics (JCLE), European Competition Journal (ECJ), Journal of European Competition Law & Practice (JECLAP), Neue Zeitschrift für Kartellrecht (NZKart), Zeitschrift für Wettbewerbsrecht (ZWeR), Wirtschaft und Wettbewerb (WuW) und World Competition (World Comp). 2 In Deutschland zeichnen sich das Forschungsinstitut für Wirtschaftsverfassung und Wettbewerb e.V. (FIW) sowie die Studienvereinigung Kartellrecht e.V. durch regelmäßige Veranstaltungen und Publikationen aus; auf internationaler Ebene seien die Academic Society for Competition Law (ASCOLA), das European Competition Law Forum am Europäischen Hochschulinstitut Florenz und das Fordham Competition Law Institute beispielhaft hervorgehoben. 3 Neben in den vorangestellten Literaturhinweisen angeführten Werken von Mestmäcker/Schweitzer und Monti seien als wichtige Grundlagen für vertieftes inhaltliches Arbeiten genannt: Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EU-Kartellrecht (3. Aufl. 2014); Bellamy/Child, European Union Law of Competition (7. Aufl. 2013); Faull/Nikpay, The EU Law of Competition (3. Aufl. 2014); Jaeger u.a. (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Bände II/III: EG-Kartellrecht (Loseblatt); Goyder, EC Competition Law (5. Aufl. 2009), Immenga/Mestmäcker (Hrsg.), Wettbewerbsrecht, Band 1 (Teil 1 und 2): Kommentar zum Europäischen Kartellrecht (5. Aufl. 2012); Korah, An Introductory Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

sind äußere Zeichen für das Vorliegen einer juristischen Subdisziplin, die, wiewohl unter dem Dach des Europarechts zu Hause und in letzter Instanz auf die Rechtsprechung nicht spezialisierter Richter des EuGH angewiesen, seit langem ein Eigenleben führt. Dazu hat zweifellos beigetragen, dass die Durchdringung des Dickichts primär- und v.a. sekundärrechtlicher Wettbewerbsregeln und der sie überwuchernden Praxis schon wegen des dafür erforderlichen zeitlichen Aufwands ein Expertentum fordert. 2 Aber darum geht es nicht allein: Die Auseinandersetzung mit Fragen des europäischen Kartellrechts zeichnet sich auch durch eine besondere Herangehensweise aus, die ihrerseits auf Besonderheiten des Gegenstands zurückgeht. Hierzu gehört zunächst die – allen Kartellrechten gemeinsame – Ausrichtung auf einen ökonomischen Zweck, nämlich die Ermöglichung und Aufrechterhaltung des Wettbewerbs auf Märkten, sodann die – nur dem europäischen Kartellrecht eigene – Zugehörigkeit der Wettbewerbsregeln zu den konstitutionellen Merkmalen einer supranationalen Institution. Was folgt aus diesem Befund für die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen? Wie strahlt die daraus entwickelte Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auf die Kartellrechte der Mitgliedstaaten aus? Nach einer Bestandsaufnahme der Quellen des EU-Kartellrechts, welche die besonderen Schwierigkeiten der Rechts„findung“ und -anwendung in diesem Bereich offen legt, sei diesen Fragen nachgegangen. Ihre Beantwortung hat das Ziel, den Leser, dessen juristische Arbeitstechnik an Gegenständen des deutschen Rechts geschult ist, für die Eigenheiten des Umgangs mit den europäischen Wettbewerbsregeln zu sensibilisieren.

I. Die Quellen des EU-Kartellrechts 3 Wirtschaftlichen Wettbewerb gilt es nicht nur vor Beschränkungen durch Unternehmen, sondern

auch vor Beeinträchtigungen durch staatliches Handeln zu schützen. Die Wettbewerbsordnung der EU trägt beiden Schutzrichtungen Rechnung. Daher gesellen sich den unternehmensadressierten Normen weitere Regeln hinzu, die auf die Beseitigung von Wettbewerbsverfälschungen durch staatliche Marktregulierung, Beihilfen oder Vergabepraktiken gerichtet sind. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich indes auf den unternehmensadressierten Teil der Wettbewerbsregeln und damit auf den klassischen Kernbestand des Kartellrechts, wie er uns auch in nationalen Rechtsordnungen begegnet.

1. Primärrecht 4 Anders als etwa sein einfachgesetzliches Pendant im deutschen Recht (das GWB) hat das euro-

päische Wettbewerbsrecht für Unternehmen Verfassungsrang. Unter der Geltung des EG-Vertrags ließen die Zielbestimmungen der Gemeinschaft die konstitutive Bedeutung des Wettbewerbsschutzes für die europäische Integration unmittelbar erkennen: Nach Art. 3 Abs. 1 lit. g) EG zählte zu den der Verwirklichung der Ziele des Art. 2 EG dienenden Tätigkeitsbereichen der Ge-

_____ Guide to EC Competition Law and Practice (9. Aufl. 2007); Langen/Bunte (Hrsg.), Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 2: Europäisches Kartellrecht (12. Aufl. 2014); Loewenheim/Meessen/Riesenkampff (Hrsg.), Kartellrecht (2. Aufl. 2009); Münchener Kommentar zum Europäischen und Deutschen Wettbewerbsrecht, Band 1: Europäisches Wettbewerbsrecht (2007); Ritter/Braun, European Competition Law: A Practitioner’s Guide (3. Aufl. 2004); Van Bael/Bellis, Competition Law of the European Community (5. Aufl. 2010); Whish/Bailey, Competition Law (7. Aufl. 2012); Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts (2. Aufl. 2008). Ackermann

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meinschaft „ein System, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt“. Der Vertrag von Lissabon hat diese klare Aussage aus den Normtexten des EUV und des AEUV herausgenommen und in das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb verschoben, das sich in einer nicht sehr glücklich formulierten Parenthese auf die „Tatsache“ bezieht, „dass der Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrags über die Europäische Union beschrieben wird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“. Auch diese Aussage hat freilich primärrechtlichen Rang, und es ist zu hoffen, dass der vergleichsweise versteckte Ort, an dem sie nun zu finden ist, nicht zu Rückschlüssen auf einen verminderten Stellenwert des Wettbewerbs im Gesamtgefüge des Unionsrechts Anlass gibt.4 Die primärrechtlichen Eckpfeiler des Systems, auf das sich das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb bezieht, finden sich im Kapitel 1 des VII. Titels des AEUV. Von diesen Regeln nehmen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in Art. 101 AEUV und das Verbot des Missbrauchs einer beherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV die Unternehmen in die Pflicht. Bereits seit der Frühzeit der europäischen Integration ist anerkannt, dass diese Verbote unmittelbar anwendbar sind.5 Ebenso anerkannt ist ihr international zwingender Charakter: Ist der Anwendungsbereich der Verbote eröffnet, haben staatliche wie auch Schiedsgerichte ihnen in privaten Rechtsstreitigkeiten unabhängig von dem auf die rechtliche Beziehung zwischen den Parteien im Übrigen anwendbaren (mitgliedstaatlichen oder drittstaatlichen) Recht Geltung zu verschaffen.6 Schon bei oberflächlicher Lektüre der Vorschriften wird deutlich, dass diesem Rechtsan- 5 wendungsbefehl nicht leicht nachzukommen ist: Zentrale Tatbestandsvoraussetzungen der Verbote wie das Bezwecken oder Bewirken einer „Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs“ in Art. 101 Abs. 1 AEUV oder die „missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung“ in Art. 102 AEUV erweisen sich von vornherein trotz der jeweils beigegebenen Regelbeispiele als ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe. Andere Begriffe wie der des „Unternehmens“ oder der „Vereinbarung“ wirken möglicherweise vertrauter; aber diese Vertrautheit ist trügerisch, da von einem zivilrechtlichen Vorverständnis getragen, das im Kartellrecht leicht in die Irre führt. Hier in Anbetracht schwankender wettbewerbspolitischer „Moden“ den festen Boden einer gesicherten und zugleich dem Anliegen des Wettbewerbsschutzes gerecht werdenden Auslegung zu gewinnen, ist ein zentrales methodisches Problem, das sich Richtern, Kartellbehörden und Kautelarjuristen gleichermaßen stellt.

2. Sekundärrecht Die primärrechtlichen Regeln werden durch Verordnungen zu einem umfassenden System des 6 Wettbewerbsschutzes ausgebaut, und zwar mit Blick auf die verfahrensrechtliche Durchsetzung der Art. 101 und 102 AEUV, die Handhabung der Freistellungsregelung in Art. 101 Abs. 3 AEUV und die Ergänzung des Kartell- und des Missbrauchsverbots um eine präventive Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. Die sekundärrechtliche Ebene des EU-Kartellrechts trägt indes in ihrer gegenwärtigen Gestalt nur in Ansätzen zur Lösung des soeben skizzierten Problems der schutzzweckgerechten Konkretisierung der Wettbewerbsregeln bei; teilweise verschärft sie es sogar.

_____ 4 Dazu Müller-Graff, ZHR 173 (2009), 443, 445 f. 5 EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, Slg. 1962, 99, 112. 6 EuGH v. 1.6.1999 – Rs. C-126 97 Eco Swiss China Time, Slg. 1999, I-3055 Rn. 36 mit Bezug auf Schiedsverfahren. Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

a) Die Kartellverordnung 7 Die auf Art. 87 EWG (nunmehr Art. 103 AEUV) gestützte Kartellverordnung 17/627 des Rates, die

bis 2004 das Verfahren zur Durchsetzung des Kartell- und des Missbrauchsverbots regelte, gestaltete die zunächst in Art. 85 EWG enthaltenen Regelung über Kartelle und sonstige koordinierte Wettbewerbsbeschränkungen als Verbot mit Erlaubnisvorbehalt aus. Das Monopol zur Erteilung von Freistellungen wurde der Kommission übertragen. Die Bürde, das Vorliegen der Freistellungsvoraussetzungen wie das Erfordernis der „Verbesserung der Warenerzeugung und verteilung“ oder der „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“ im Einzelfall zu beurteilen, hatte demnach allein die Kommission – unter der zurückhaltenden Aufsicht des EuG und des EuGH8 – zu tragen. Hiermit brach die am 1. Mai 2004 an die Stelle der VO 17/62 getretene VO 1/20039 zugunsten eines Systems der Legalausnahme: Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003 erklärt nunmehr auch die Freistellungsvorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV für unmittelbar anwendbar. Damit wird einer dezentralisierten Kartellrechtsanwendung durch die Gerichte und Behörden der Mitgliedstaaten der Boden bereitet. Insbesondere von deutscher Seite wurde die Primärrechtskonformität dieser Neuerung nachhaltig bestritten.10 Unbestreitbar ist jedenfalls, dass sie die ohnehin beträchtliche Schwierigkeit einer unionsweit einheitlichen und für die Rechtsunterworfenen vorhersehbaren Anwendung des Kartellverbots weiter erhöht: Den Problemen der Konkretisierung des Verbotstatbestandes in Art. 101 Abs. 1 AEUV gesellt sich nunmehr für jeden Rechtsanwender die weitere Herausforderung hinzu, die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV anhand komplexer ökonomischer Wertungen auszufüllen.

b) Gruppenfreistellungsverordnungen 8 Die mit Art. 101 Abs. 3 AEUV verbundenen „Subsumtionsrisiken“ werden durch die sogenannten

Gruppenfreistellungsverordnungen (GVOen) in gewissem Umfang verringert. Die Kommission, der hierfür die Zuständigkeit vom Rat übertragen wurde,11 stellt durch diese Verordnungen bestimmte Kategorien von Vereinbarungen, für die bei typisierender Betrachtung eine einheitliche wettbewerbsrechtliche Würdigung getroffen werden kann, vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV frei. Nach der Preisgabe des Freistellungsmonopols (Rn. 7) haben diese Verordnungen ihre ursprüngliche Hauptaufgabe, die Kommission von einer nicht zu bewältigenden Masse von Einzelfreistellungsverfahren zu entlasten, verloren. Ihre Funktion besteht nunmehr darin, die dezentralisierte Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten zu steuern. 12 Die vor diesem Hintergrund geschaffene, neue Generation von Freistellungsverordnungen13 bedient sich aller-

_____ 7 Verordnung (EWG) Nr. 17 des Rates v. 6.2.1962 – Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. 1962 13/4. 8 Zur Gewährung eines Beurteilungsspielraums durch EuGH und EuG s.u. Rn. 27 ff. 9 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates v. 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1/1. 10 Kritisch etwa Deringer, EuZW 2000, 5 ff.; Mestmäcker, EuZW 1999, 523 ff.; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 13 Rn. 9 ff.; Möschel, JZ 2000, 61 ff.; Rittner, DB 1999, 1485 f. – Für die Position der Kommission (die außerhalb Deutschlands weit weniger heftig bekämpft wurde) z.B. Ehlermann, CMLR 37 (2000), 537 ff. 11 Für den Bereich der horizontalen Kooperation durch die VO 2821/71, ABl. 1972 L 285/46, zuletzt geändert durch VO 1/2003, ABl. 2003 L 1/1; für den Bereich der vertikalen Kooperation und des Technologietransfers durch die VO 19/65, ABl. 1965 36/533, zuletzt geändert durch VO 1/2003. – Sektorspezifische Regelungen bleiben hier außer Betracht. 12 Die Wirkung der Verordnungen nur noch deklaratorisch und nicht konstitutiv zu nennen, trifft allerdings nicht zu; dazu zutr. Fuchs, ZWeR 2005, 1, 9 ff., und Baron, WuW 2006, 358 ff.; a.A. etwa Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht (3. Aufl. 2014), Art. 83 Rn. 12. 13 Als nicht sektorspezifische Verordnungen sind zu nennen: VO 330/2010, ABl. 2010 L 102/1 (Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen); VO 316/2014, ABl. 2014 L 93/17 (Gruppenfreistellung für Technologietransfervereinba-

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dings in dem Bestreben, im Rahmen eines „more economic approach“ wettbewerbsbeschränkende Abreden (Rn. 22) nicht mehr „formalistisch“, sondern wirtschaftlich „realistisch“ zu bewerten, marktbezogener Beurteilungsmaßstäbe. Es versteht sich, dass diese Maßstäbe ihrerseits rechtlich wie tatsächlich nicht einfach zu handhaben sind: Wenn etwa Art. 3 VO 330/2010 eine Marktanteilsschwelle von 30% vorsieht, jenseits derer die Gruppenfreistellung für Vertikalvereinbarungen nicht gilt, werden unweigerlich Fragen nach den Kriterien der Marktabgrenzung in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht laut, die sich aus der Verordnung selbst nicht beantworten lassen, und stellt sich das Problem der Ermittlung des für die Marktabgrenzung und -anteilsbestimmung erforderlichen Datenmaterials.

c) Die Fusionskontrollverordnung Mit der Fusionskontrollverordnung (FKVO)14 hat der Rat schließlich den unternehmensadressier- 9 ten Wettbewerbsregeln in Gestalt des Kartell- und des Missbrauchsverbots eine „dritte Säule“ hinzugefügt, die Unternehmenszusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung einer präventiven Kontrolle durch die Kommission unterwirft, wie sie allein auf der Grundlage der Art. 101 und 102 AEUV nicht möglich wäre.15 Nachdem der europäische Gesetzgeber hierfür zunächst einen Marktbeherrschungstest herangezogen hatte, erhob er in der seit dem 1. Mai 2004 geltenden Fassung der FKVO das Kriterium der erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs (nach der englischen Terminologie „significant impediment of effective competition“ SIEC-Test genannt) zum neuen materiellen Beurteilungsmaßstab. Die Anwendung dieses Maßstabs ist zwar allein der – einer Überprüfung durch das EuG und den EuGH ausgesetzten – Entscheidung der Kommission und nicht den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten anvertraut, seine relative Unbestimmtheit auch im Vergleich zum älteren Marktbeherrschungstest wirft jedoch die – bisher nicht abschließend beantwortbare – Frage auf, inwieweit die recht strenge Überwachung der Fusionskontrollpraxis der Kommission durch die europäische Judikative16 auch künftig ihre Wirksamkeit behält.

3. Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission Die begriffliche Unschärfe kartellrechtlicher Normen primär- wie sekundärrechtlicher Prove- 10 nienz lässt den mit ihrer Anwendung betrauten Behörden und Gerichten faktisch einen beträchtlichen Wertungsspielraum, der durch Vorgaben in den Urteilen der europäischen Gerichte nur ansatzweise eingeengt wird. Dies verschafft der Kommission jenseits ihrer Normsetzungsaufgabe im Bereich der Gruppenfreistellungsverordnungen und ihrer kartellverwaltungsrechtlichen

_____ rungen); VO 1218/2010, ABl. 2010 L 335/43 (Gruppenfreistellung für Spezialisierungsvereinbarungen); VO 1217/2010, ABl. 2010 L 335/36 (Gruppenfreistellung für Forschungs- und Entwicklungsvereinbarungen). 14 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates v. 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004 L 24/1 (seit dem 1.5.2004 in Kraft); ursprüngliche Fassung war die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates v. 21.12.1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 1989 L 395/1. 15 Zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Unternehmenszusammenschlüsse EuGH v. 17.11. 1987 – verb. Rs. 142/84 und 156/84 BAT und Reynolds ./. Kommission, Slg. 1987, 4487 Rn. 37, zur Anwendbarkeit von Art. 102 AEUV EuGH v. 21.2.1973 – Rs. 6/72 Europemballage und Continental Can ./. Kommission, Slg. 1973, 215, 244 f. 16 Der Reform vorangegangen waren im Jahr 2002 drei Niederlagen der Kommission in Fusionskontrollfällen vor dem EuG; vgl. EuG v. 6.6.2002 – Rs. T-342/99 Airtours ./. Kommission, Slg. 2002, II-2585; EuG v. 22.10.2002 – Rs. T-77/ 02 Schneider Electric ./. Kommission, Slg. 2002, II-4201; EuG v. 25.10.2002 – Rs. T-5/02 Tetra Laval ./. Kommission, Slg. 2002, II-4381.

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3. Teil: Besonderer Teil

Entscheidungspraxis eine zentrale Rolle bei der Beantwortung von Auslegungsfragen: Nicht nur zur Erläuterung der eigenen Praxis (insbesondere mit Blick auf die Handhabung eines ihr zustehenden Aufgreifermessens), sondern auch zur Orientierung mitgliedstaatlicher Behörden und Gerichte über die Anwendung der europäischen Wettbewerbsregeln behandelt die Kommission zahlreiche der sich insoweit stellenden Fragen in Leitlinien und Bekanntmachungen.17 Diese sollen nach Ansicht der Kommission über eine dadurch herbeigeführte, in ihrer Reichweite noch nicht abschließend geklärte Selbstbindung18 hinaus mittelbar Außenwirkung entfalten. „Selbst wenn Bekanntmachungen und Leitlinien für die innerstaatlichen Instanzen nicht verbindlich sind“, geht die Kommission davon aus, dass sie „einen wertvollen Beitrag zur kohärenten Anwendung des Gemeinschaftsrechts leisten [dürften], da Einzelentscheidungen der Kommission ihren Inhalt bestätigen werden. Soweit diese Entscheidungen auch noch vom Gerichtshof bestätigt werden, bilden die Bekanntmachungen und Leitlinien, auf die sie sich beziehen, einen Teil des Regelwerks, das von den nationalen Behörden angewendet werden muss.“19 Der darin zum Ausdruck kommenden Vorstellung, die informellen Instrumente der Kom11 mission könnten durch die richterrechtliche Billigung der auf ihrer Basis getroffenen Entscheidungen zur Rechtsquelle aufgewertet werden, ist zu widersprechen:20 Die Nachprüfung von Entscheidungen der Kommission durch das EuG und den EuGH bezieht sich auf die Normanwendung im Einzelfall, bei der die abstrakt-generellen Aussagen der Leitlinien und Bekanntmachungen im Rahmen ihrer eine Selbstbindung begründenden Wirkung eine Rolle spielen, aber nicht ohne weiteres mit den eigenen interpretativen Aussagen der europäischen Gerichte gleichgesetzt werden dürfen. An deren Vorrang gegenüber den Leitlinien der Kommission hat GA Kokott im Verfahren British Airways zu Recht erinnert.21 Insoweit bestehen Bedenken gegenüber der neuesten Vorgehensweise der Kommission, die in ihrer Mitteilung zur Anwendung von Art. 102 AEUV auf Behinderungsmissbräuche22 faktisch interpretative Aussagen über das Missbrauchsverbot macht, diese jedoch als Setzung von Anwendungsprioritäten und damit als Ausdruck ihres Aufgreifermessens deklariert, um so einem möglichen Konflikt mit der Verbotsauslegung durch den EuGH und das EuG zu entgehen.23 Gleichwohl ist die hohe Meinung der Kommission von der Bedeutung des von ihr geschaffenen soft law nicht unberechtigt: Dessen faktischer Einfluss auf die Kartellrechtsanwendung in den Mitgliedstaaten ist groß, weil nationale Behörden und Gerichte zwar nicht an die darin enthaltenen abstrakt-generellen Formulierungen, aber an die darauf beruhende Entscheidungspraxis der Kommission gebunden sind, die dadurch in die Rolle eines authentischen Interpreten der Wettbewerbsregeln hineingewachsen ist.24

_____ 17 Beispiele: Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101/82; Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft, ABl. 1997 C 372/1; Bekanntmachung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Art. 81 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis), ABl. 2001 C 368/13; Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101/97. 18 Dazu Pampel, Rechtsnatur und Rechtswirkungen horizontaler und vertikaler Leitlinien im reformierten europäischen Wettbewerbsrecht (2005), S. 55 ff.; Smulders, CPI 5 (2009), 25 ff.; Thomas, EuR 2009, 423 ff. 19 Weißbuch über die Modernisierung der Vorschriften zur Anwendung der Art. 85 und 86 EG-Vertrag, KOM(1999) 101 endg, ABl. 1999 C 132/1 Rn. 86. 20 Vgl. auch schon Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 3 Rn. 61. 21 GA Kokott, SchlA v. 23.2.2006 – Rs. C-95/04 P British Airways ./. Kommission, Slg. 2006, I-2331 Tz. 28. 22 ABl. 2009 C 45/7. 23 Zur Rechtfertigung dieser Vorgehensweise vgl. Bulst, RabelsZ 73 (2009), 704, 710 ff. 24 Für eine faktische, aber nicht rechtliche Bindung auch Pohlmann, WuW 2005, 1005, 1008 f., in Erwiderung auf einen Beitrag von Schweda, WuW 2004, 1133 ff., der eine rechtliche Bindung postuliert. – Zur Rolle der Verwaltungspraxis der Kommission im Verhältnis zur nationalen Anwendungsebene s.u. Rn. 23 ff.

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II. Die Interpretation EU-kartellrechtlicher Normen Die Aufgabe, die prima facie schwer zu fassende Begrifflichkeit der europäischen Wettbewerbs- 12 regeln zu subsumtionsfähigen Aussagen zu verdichten, fällt nicht nur der Kommission, dem EuG und dem EuGH, sondern auch den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten zu, welche die Regeln (mit Ausnahme der FKVO) anzuwenden haben. Die praktische Bewältigung dieser Konkretisierungsaufgabe könnte im Ansatz durchaus mit den Mitteln der Auslegungskriterien beschrieben werden, wie sie in deutschen Hörsälen in loser Anknüpfung an Savigny gelehrt werden, und ebenso fiele es nicht schwer, in der EU-kartellrechtlichen Praxis die Verbindung der Auslegung mit rechtsfortbildenden Elementen nachzuweisen, wie sie nach deutscher Modellvorstellung für die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe charakteristisch ist.25 Die Validität der Argumente, mit denen die Diskussion um die Konkretisierung EU-kartellrechtlicher Begriffe geführt wird, hängt allerdings nicht in erster Linie von solchen Klassifikationen ab. Den methodischen Zugang zum EU-kartellrechtlichen Diskurs findet vielmehr leichter, wer 13 von den beiden eingangs beschriebenen Besonderheiten dieses Rechtsgebiets ausgeht: Zum einen verlangt die Ausrichtung kartellrechtlicher Normen auf den Wettbewerbsschutz vom Rechtsanwender, die in diese Richtung zu steuernden Strukturen und Verhaltensweisen auf Märkten zu verstehen und zu bewerten, um den ausfüllungsbedürftigen Tatbeständen einen dem Normzweck entsprechenden Sinn geben zu können. Hierfür wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse heranzuziehen, ist vor diesem Hintergrund im Kartellrecht weitaus selbstverständlicher als in anderen Bereichen, in denen über die Verhaltenssteuerung durch Recht als Einbruchstelle der ökonomischen Analyse in die Normauslegung gestritten wird.26 – Zum anderen hat die Interpretation der EU-Wettbewerbsregeln als Bestandteil der europäischen Verfassung jenen dynamischen Charakter, der den Umgang der EuGH-Rechtsprechung mit der europäischen Rechtsordnung im Ganzen kennzeichnet:27 Schon mit der Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit der in den Art. 101 Abs. AEUV und Art. 102 AEUV niedergelegten Verbote28 hat der Gerichtshof den ersten Schritt getan, um die einzelnen Wettbewerbsregeln des Vertrags zu einer funktionierenden Wettbewerbsordnung für den Binnenmarkt auszugestalten. Diese Aufgabe besteht fort. Wie sich diese Grundaussagen auf die Interpretation des EU-Kartellrechts auswirken, sei 14 nachfolgend anhand von vier Fragestellungen demonstriert. Die beiden ersten Fragen zielen auf das „Wie?“ der Interpretation, nämlich auf die Rolle des normativen und des ökonomischen Kontextes für die kartellrechtliche Begriffsbildung, die beiden letzten auf das „Wer?“, nämlich auf die Hierarchie der Norminterpreten in einem zwischen europäischer und nationaler Ebene sowie zwischen judikativen und administrativen Funktionen unterscheidenden supranationalen System.

1. Autonome Begrifflichkeit Eine erste Folgerung wurde bereits angedeutet: EU-kartellrechtliche Begriffe sind autonom aus- 15 zulegen. Der Wettbewerbsschutz im Binnenmarkt als besonderer normativer Kontext, in den sie gestellt sind, lässt es grundsätzlich nicht zu, ihnen Inhalte beizulegen, die aus anderen Verwendungszusammenhängen importiert werden. Gerade beim Umgang mit Begriffen, denen ein spe-

_____ 25 26 27 28

Vgl. hierzu Röthel, in diesem Band, § 11. Vgl. hierzu Franck, in diesem Band, § 5. Vgl. hierzu Riesenhuber, in diesem Band, § 10. EuGH v. 6.4.1962 – Rs. 13/61 De Geus ./. Bosch, Slg. 1962, 99, 112. Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

zifisch kartellrechtlicher Gehalt nicht ins Gesicht geschrieben steht, hat der Norminterpret diese Einsicht zu beherzigen. Betrachten wir beispielsweise den Begriff des „Unternehmens“ als Kennzeichnung der 16 Normadressaten in den Art. 10129 und 102 AEUV:30 Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung ist Unternehmen im Sinne der Wettbewerbsregeln jede „eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit“.31 Diese Definition ist darauf ausgerichtet, wirtschaftliches Handeln umfassend und unabhängig von der Substanz und der institutionellen Verfasstheit des jeweiligen Handlungsträgers zu erfassen, damit nicht dem Schutzzweck der Wettbewerbsregeln zuwider ungeschriebene Ausnahmebereiche geschaffen werden, die einer kartellrechtlichen Kontrolle von vornherein entzogen sind. Unternehmen in diesem funktionalen Sinne sind etwa auch Freiberufler32 und diejenigen, die auf den Gebieten des Sports, der Wissenschaft und der Kultur marktmäßig tätig sind.33 Dass die Ausübung dieser Tätigkeiten besonderen Regeln unterliegt und dass für die Zwecke des nationalen Steuer-, Handels- oder Gesellschaftsrechts möglicherweise andere Maßstäbe gelten, ändert nichts an der Einordnung der sich auf diesen Gebieten marktmäßig als Anbieter oder als Nachfrager (nicht notwendig mit Gewinnerzielungsabsicht)34 Betätigenden als Unternehmen i.S.d. Art. 101 f. AEUV. Nicht anders verhält es sich mit der Grenzziehung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht: Ist die ausgeübte Tätigkeit wirtschaftlicher und nicht hoheitlicher Natur, steht eine öffentlich-rechtliche Organisation oder Rechtsform nicht der Anwendung der Wettbewerbsregeln auf den Staat und dessen Untergliederungen mit Blick auf diese Tätigkeit entgegen.35 Gewisse Inkonsequenzen bei der Handhabung des Unternehmensbegriffs – etwa bei der überwiegend abgelehnten Unternehmenseigenschaft von Arbeitnehmern beim Angebot von Arbeitsleistungen –36 mögen zwar belegen, dass sich auch die kartellrechtliche Praxis nicht ganz von wettbewerbsfremden Vorprägungen befreien kann, doch jedenfalls im Grundsatz dürfte die im funktionalen Unternehmensbegriff zum Ausdruck kommende Autonomie der kartellrechtlichen Begriffsbildung außer Frage stehen. Dieser Autonomie ist auch in umgekehrter Richtung Rechnung zu tragen: Kartellrechtliche 17 Normaussagen dürfen aufgrund ihrer spezifisch wettbewerbsbezogenen Wertung nicht ohne

_____ 29 Art. 101 AEUV ist außerdem an „Unternehmensvereinigungen“ gerichtet, deren Adressatenstellung von der Unternehmensqualität ihrer Mitglieder, jedoch nicht der Vereinigung selbst abhängt. 30 Vgl. zum Unternehmensbegriff außer der allgemeinen kartellrechtlichen Lit. insbes. die Monographie von Pohlmann, Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht (1999), sowie die Beiträge von Benicke, EWS 1997, 373 ff.; Jennert, WuW 2004, 37 ff.; Louri, LIEI 29 (2002), 143 ff., W.-H. Roth, FS Bechtold (2006), S. 393 ff., und Slot, FS Everling, Bd. II (1995), S. 1413 ff. 31 EuGH v. 23.4.1991 – Rs. C-41/90 Höfner, Slg. 1991, I-1979 Rn. 21; EuGH v. 11.12.1997 – Rs. C-55/96 Job Centre, Slg. 1997, I-7119 Rn. 21; EuGH v. 18.6.1998 – Rs. C-35/96 Kommission ./. Italien, Slg. 1998, I-3851 Rn. 36. 32 Dazu EuGH v. 19.2.2002 – Rs. C-309/99 Wouters, Slg. 2002, I-1577 Rn. 102 (Rechtsanwälte). 33 Vgl. dazu den Überblick bei W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 63 ff. 34 GA Lenz, SchlA v. 20.9.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4930 Tz. 255. 35 Im Grundsatz unstr., statt vieler Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 2 (10. Aufl. 2006), Art. 81 EG – Generelle Prinzipien Rn. 8. Missverständlich, da scheinbar auf institutionelle Gegebenheiten abstellend, allerdings EuGH v. 19.1.1994 – Rs. C-364/92 SAT Fluggesellschaft ./. Eurocontrol, Slg. 1994, I-43 Rn. 31 (fehlende Unternehmenseigenschaft einer für die Luftüberwachung zuständigen internationalen Organisation). In der Sache kontrovers beurteilt wird insbes. die Ablehnung der unternehmerischen Natur der Nachfrage der öffentlichen Hand, soweit diese nicht mit einer wirtschaftlichen Angebotstätigkeit korrespondiert, durch EuGH v. 11.7.2006 – Rs. C-205/03 P FENIN, Slg. 2006, I-6295 Rn. 25 ff.; dazu kritisch W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 45 ff. 36 So Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 2 (12. Aufl. 2014), Art. 81 – Generelle Prinzipien Rn. 7; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 8 Rn. 31; a.A. W.-H. Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht (Stand: 2009), Grundlagen Art. 81 Abs. 1 EG Rn. 53 ff.

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Weiteres in andere Rechtsgebiete exportiert werden. Symptomatisch für die Verkennung dieser Differenz ist der Versuch, die Klauselkataloge der Gruppenfreistellungsverordnungen für die zivilrechtliche AGB-Kontrolle fruchtbar zu machen. So heißt es etwa im deutschen Schrifttum, der Vertikal-GVO 330/2010 komme bei der Prüfung formularmäßiger Festlegungen der Laufzeit von Bierlieferungsverträgen Leitbildfunktion zu; die in Art. 5 VO 330/2010 zugelassene Obergrenze von fünf Jahren dürfe daher in AGB nicht überschritten werden.37 Diese Ansicht vernachlässigt, dass nicht Gesichtspunkte der Vertragsgerechtigkeit und des angemessenen Interessenausgleichs zwischen den Parteien eines Bierlieferungsvertrags, sondern die (pauschalierte) Einschätzung der Wettbewerbsschädlichkeit einer solchen Vereinbarung den Ausschlag für die kartellrechtliche Festlegung gegeben haben.

2. Die Bedeutung ökonomischer Erkenntnisse für die Kartellrechtsanwendung Dass ökonomische Erkenntnisse für ein Rechtsgebiet relevant sind, das sich Märkten widmet, ist 18 ohne Weiteres nachzuvollziehen. Mit dieser Aussage wird das Verhältnis zwischen rechtlichen und wirtschaftswissenschaftlichen Kriterien für die Bewertung des Wettbewerbsgeschehens aber noch nicht methodisch präzise erfasst. Zwei Klarstellungen sind insoweit geboten: Einerseits wäre es naiv, sich von der Wirtschaftswissenschaft eine Definition des Wettbe- 19 werbs zu erhoffen, die sich für die Kartellrechtsanwendung unmittelbar fruchtbar machen lässt. Voraussetzungen und Ergebnisse des Wettbewerbs dürfen nicht als mechanistisch greifbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung missverstanden werden, welcher der kartellrechtlichen Würdigung ein sicheres Fundament bieten könnte. Die Freiheit der Marktteilnehmer, über die dezentralen Koordinierungsvorgänge zu entscheiden, die das Marktgeschehen ausmachen, erlaubt solche Festlegungen nicht. Daher würde niemand behaupten, dass das Ziel der Formulierung und Auslegung wettbewerbsschützender Normen die Annäherung realen Marktgeschehens an die preistheoretische Modellvorstellung vollkommener Konkurrenz sein kann, unter deren (gedachten) Bedingungen ein Wohlfahrtsoptimum erzielt wird. Andererseits ginge es fehl, die Bedeutung der Ökonomik für das Kartellrecht auf die Bereit- 20 stellung des Datenmaterials zu reduzieren, das erforderlich ist, um im Einzelfall das Vorliegen feststehender rechtlicher Kriterien feststellen zu können. Die materiellen Voraussetzungen, die im Zentrum der unternehmensadressierten Wettbewerbsregeln stehen (nämlich das Bezwecken oder Bewirken einer Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs in Art. 101 Abs. 1 AEUV, die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung in Art. 102 AEUV und schließlich auch der SIEC-Test der reformierten FKVO), sind nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern können nur im Rückgriff auf die Ziele konkretisiert werden, welche die Union mit dem Wettbewerbsschutz verfolgt. Dies sind die gesamtwirtschaftlichen Ziele, die insbesondere Art. 3 Abs. 3 EUV normiert, und der Schutz wirtschaftlicher Freiheit, ohne die eine Öffnung und Offenhaltung nationaler Märkte nicht gedacht werden kann. Wie aber können wettbewerbsbeschränkende Koordinierungen, missbräuchliche Verhaltensweisen und Unternehmensfusionen identifiziert werden, die nicht im Einklang mit diesen Zielsetzungen stehen? An dieser Stelle gewinnen wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage wettbewerbspolitischer Empfehlungen normative Relevanz: Sie verhelfen den Rechtsanwendern dazu, aus den vergleichsweise unbestimmten Begriffen des europäischen Kartellrechts anhand der dem EUV und dem AEUV zugrunde liegenden Funktionen des Wettbewerbsschutzes operable Kriterien zu gewinnen. Dass dies „nur unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit der

_____ 37 Palandt-Grüneberg, § 307 Rn. 78 mwN zum Meinungsstand. Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

Rechtsanwendung“38 geschehen kann, zwingt allerdings zu selektivem Vorgehen, denn die begrenzten Erkenntnismöglichkeiten in rechtsförmigen Verfahren vor Gerichten und Kartellbehörden lassen es nun einmal nicht zu, beliebig komplexe Analysen anzustellen. 21 Die Verschränkung des Kartellrechts mit wirtschaftswissenschaftlichen Einsichten über das Wettbewerbsgeschehen führt dazu, dass wechselnde ökonomische Strömungen um die wettbewerbspolitische Orientierung nicht nur der Kartellrechtsgesetzgebung, sondern auch der Kartellrechtsanwendung konkurrieren. Umschwünge auf der Ebene wettbewerbspolitischer Leitbilder können vor diesem Hintergrund zu einschneidenden Änderungen in der kartellrechtlichen Praxis führen. Geradezu klassisches Beispiel hierfür ist die unter dem Einfluss der Chicago School erfolgte Abkehr des U.S.-Supreme Court von der bis Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfochtenen strengen Behandlung vertikaler Vertriebsbeschränkungen nach sec. 1 Sherman Act.39 Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG hat solche Wendungen bisher nicht vollzogen und es geschafft, ohne deutliche Festlegung auf ein wettbewerbspolitisches Leitbild den Eindruck einer einigermaßen kontinuierlichen Entwicklung zu vermitteln.40 Anders sieht es dagegen bei der Kommission aus, die seit Ende der 90er Jahre auf allen Ge22 bieten des europäischen Kartellrechts einen „stärker wirtschaftlichen Ansatz“ („more economic approach“) vorantreibt. Hinter diesem Schlagwort verbirgt sich das Anliegen, mit den bereits umgesetzten Reformen im Bereich des Kartellverbots und der Fusionskontrolle41 sowie mit der allerdings bisher über die Formulierung von „Anwendungsprioritäten“ (dazu Rn. 11) nicht hinausgekommenen Modernisierung der Anwendung des Missbrauchsverbots42 die kartellrechtliche Bewertung unternehmerischer Praktiken stärker von ihren Marktwirkungen und weniger von formalen Kriterien abhängig zu machen. Dies ist nicht der Ort, das inhaltliche Für und Wider dieser Neuorientierung zu beurteilen.43 Der Zugang zu der hierüber geführten Diskussion erschließt sich jedoch nur, wenn man auch die methodische Dimension der Beeinflussung der Kartellrechtsgesetzgebung und -anwendung durch divergierende ökonomische Perspektiven in den Blick nimmt: Wenn von einem „more economic approach“ die Rede ist, geht es im Grunde nicht um eine mehr, sondern um eine andere ökonomische Fundierung der Wettbewerbspolitik der Union,44 nämlich um die Ablösung des im Kern auf die ordoliberale Freiburger Schule zurückgehenden Wettbewerbsverständnisses, das auf die Erhaltung der Wettbewerbsfreiheit der Marktteilnehmer durch klar zugeschnittene Verbote freiheitsbeschränkender Verhaltensweisen

_____ 38 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 2 Rn. 76. Dieser Einsicht wird auch von wirtschaftswissenschaftlicher Seite Rechnung getragen, etwa von Evans, World Comp 28 (2005), 93 ff. und I. Schmidt, WuW 2005, 877. 39 Grundlegend ist das Urteil Continental T.V., Inc. v. GTE Sylvania, Inc., 433 U.S. 36 (1977). Näher zu dieser USamerikanischen Entwicklung Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason (1998), S. 11 ff. 40 Gegen den (bereits einige Zeit zurückliegenden) Versuch Väths, Die Wettbewerbskonzeption des Europäischen Gerichtshofs (1987), aus einzelnen Aussagen des Gerichtshofs wettbewerbspolitische Modellvorstellungen abzuleiten, wendet sich zu Recht Everling, WuW 1990, 995, 1008. Den Versuch, die europäische Praxis zu einer neben die Harvard oder die Chicago School tretenden European School zu stilisieren, macht Hildebrand, The Role of Economic Analysis in the EC Competition Rules (3. Aufl. 2009). 41 Zur „Ökonomisierung“ der Fusionskontrolle Christiansen, WuW 2005, 285 ff.; Díaz, World Comp 27 (2004), 177 ff. 42 Vgl. die Mitteilung: Erläuterungen zu den Prioritäten der Kommission bei der Anwendung von Artikel 82 des EG-Vertrags auf Fälle des Behinderungsmissbrauchs, ABl. 2009 C 45/7; dazu Bulst, RabelsZ 73 (2009), 704 ff.; Möschel, JZ 2009, 1040 ff. 43 Näher zu inhaltlichen Aspekten Basedow, WuW 2007, 712 ff.; Hellwig, FS Mestmäcker (2006), S. 231 ff.; Hildebrand, WuW 2005, 513 ff.; Schmidtchen, WuW 2006, 6 ff.; v. Weizsäcker, WuW 2007, 1078; Zimmer, WuW 2007, 1198; zur Konvergenz der auf einen „more economic approach“ gerichteten Bestrebungen mit den Entwicklungen in den USA Vickers, ECJ 2007, 1 ff. 44 Auch Kritiker des „more economic approach“ bestreiten daher nicht, dass eine wirtschaftliche Betrachtungsweise im Kartellrecht unerlässlich ist; so ausdrücklich Immenga, WuW 2006, 463. Ackermann

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zielt, durch einen wohlfahrtsökonomischen Ansatz, der eine ergebnisbezogene Bewertung unternehmerischen Marktverhaltens nach Effizienzkriterien anstrebt.45 „More economic“ ist dieser Ansatz allerdings in seinen Auswirkungen auf die kartellrechtliche Praxis: Um den Einfluss einer bestimmten unternehmerischen Maßnahme auf das Marktergebnis im Einzelfall ex post feststellen oder zukunftsgerichtet prognostizieren zu können, müssen Rechtsanwender wie auch Rechtsunterworfene, die das Risiko eines Kartellrechtsverstoßes einschätzen wollen, den wirtschaftlichen Kontext der Maßnahme naturgemäß intensiver untersuchen, als dies bei Zugrundelegung eines eher „formalistischen“ Konzepts der Fall wäre: Maßgeblich ist danach die Feststellung einer wohlfahrtsmindernden Wirkung des untersuchten Verhaltens, wobei mehrheitlich nicht eine Beeinträchtigung der Gesamt-, sondern der Verbraucherwohlfahrt für entscheidend gehalten wird. Während sich die Kommission gerade die Vermeidung von Wohlfahrtseinbußen der Verbraucher auf die Fahnen geschrieben hat, lassen sich der Rechtsprechung des EuGH allerdings in jüngster Zeit vermehrt Zeichen für eine fehlende Bereitschaft entnehmen, eine entsprechende Wende auf der Ebene der Auslegung des Primärrechts mitzuvollziehen.46

3. Das Verhältnis der europäischen zur nationalen Anwendungsebene: Das Kohärenzgebot Die Konkretisierung der unmittelbar anwendbaren Regeln des Unionskartellrechts im Bereich 23 des Kartell- und des Missbrauchsverbots ist nicht nur das Alltagsgeschäft der Kommission, deren Generaldirektion Wettbewerb mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe betraut ist, sondern obliegt auch den nationalen Kartellbehörden (in Deutschland nach § 50 GWB dem Bundeskartellamt und den nach Landesrecht zuständigen obersten Landesbehörden) sowie jedem nationalen Richter, der im Rahmen eines Rechtsstreits über die Anwendung einer EU-kartellrechtlichen Norm zu entscheiden hat. Damit stellt sich eine für Rechtssysteme mit mehr als einer Anwendungsebene typische Frage: Wie wird die einheitliche Anwendung des Rechts bei parallelen Zuständigkeiten auf der „höheren“ (hier der europäischen) und auf der „niedrigeren“ (hier der nationalen) Ebene sichergestellt? Auch wenn wir Auslegung und Anwendung von Normen zu unterscheiden pflegen, hat die Beantwortung dieser Frage offenkundig Bedeutung für die Interpretationshoheit über die europäischen Wettbewerbsregeln, denn die in der Normanwendung übergeordnete Instanz erlangt auch die interpretatorische Hegemonie über das anzuwendende Recht. Der schlichte Verweis auf den EuGH, der hier wie auch sonst im Europarecht an der Spitze 24 der Pyramide richterlicher Norminterpreten steht, wird dem Problem nicht gerecht. Zwar führen Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Kommission über das EuG zum EuGH und eröffnet Art. 267 AEUV in jedem nationalen Anwendungsfall, soweit er nur (spätestens in der Rechtsmittelinstanz) vor ein nationales Gericht gelangt, den Zugang zum Gerichtshof, aber damit wird die Gefahr einander im Einzelfall widersprechender Entscheidungen über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf nationaler und auf europäischer Ebene nicht wirksam gebannt. Es bedarf vielmehr eines Regimes, das bereits die Entstehung von Anwendungskonflikten verhindert, um die Kohärenz der europäischen Wettbewerbsordnung zu wahren. Der EuGH misst dieser Aufgabe primärrechtlichen Rang zu: Nach der Rechtsprechung des 25 Gerichtshofs sind die Mitgliedstaaten aus Geist und System des Vertrags dazu verpflichtet, die

_____ 45 Eine gründliche Analyse der hier nur angedeuteten Entwicklung bietet Gerber, Law and Competition in Twentieth Century Europe. 46 Ablehnend zum Erfordernis eines „consumer harm“ EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-8/08 T-Mobile Netherlands, Slg. 2009, I-4529 Rn. 36 ff.; EuGH v. 6.10.2009 – Rs. C-501/06 P GlaxoSmithKline, Slg. 2009, I-9291 Rn. 63. Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern.47 In den Entscheidungen Delimitis48 und Masterfoods49 hat der EuGH daraus aufsehenerregende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen der Kommission und den nationalen Gerichten bei der Kartellrechtsanwendung gezogen: Hat der nationale Richter über einen Sachverhalt zu entscheiden, der noch Gegenstand einer Kommissionsentscheidung werden kann, ist er gehalten, eigene Entscheidungen zu vermeiden, die mit der beabsichtigten Kommissionsentscheidung kollidieren könnten. Liegt bereits eine Kommissionsentscheidung vor, die denselben Sachverhalt betrifft, darf er keine Entscheidung treffen, die dieser zuwiderläuft. Umgekehrt ist die Kommission an eine vorangehende Entscheidung des nationalen Richters nicht gebunden. Daraus ergibt sich ein absoluter Vorrang von Kommissionsentscheidungen gegenüber den Entscheidungen nationaler Gerichte. Das Resultat mag zu denken geben, weil es einer Vorstellung von europarechtlicher Gewaltenteilung zuwiderläuft, in der die Gerichte der Mitgliedstaaten als Teil der das Europarecht anwendenden Judikative der Kommission als Exekutive gleichrangig gegenüberstehen.50 Doch ist diese Sicht nicht zwingend:51 Der Gewaltenteilungsgrundsatz wird in der Anwendungsstruktur, die der EuGH den Wettbewerbsregeln gegeben hat, im Verhältnis der Unionsorgane EuGH und Kommission verwirklicht. Der nationale Richter hat an der judikativen Überwachungsfunktion gegenüber der Exekutive auf der europäischen Ebene immerhin insoweit teil, als er den Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV anrufen kann. 26 Der Rat hat diese Rechtsprechung zum Verhältnis der Kommission zu den nationalen Gerichten mittlerweile in Art. 16 VO 1/2003 kodifiziert und ihre Grundsätze zudem auf das Verhältnis der Kommission zu nationalen Behörden erstreckt. Der aus dem Kohärenzgebot abgeleitete Primat der europäischen vor der nationalen Anwendungsebene des EU-Kartellrechts ist damit vollständig abgesichert. Für die Interpretation der unmittelbar anwendbaren Wettbewerbsregeln folgt daraus eine eigentümliche Hierarchie: Die einzelfallbezogene Auslegung dieser Regeln in der Verwaltungspraxis der Kommission setzt sich gegenüber einer abweichenden Normkonkretisierung durch nationale Institutionen, und seien es auch Gerichte, durch und ist ihrerseits nur den Maßgaben der europäischen Gerichtsbarkeit unterworfen.

4. Die Rolle der europäischen Judikative: Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte durch Beurteilungsspielräume? 27 Es bleibt der zweite Teil der Frage nach der Hierarchie der Norminterpreten: Wie gestaltet sich

die vom EuG und vom EuGH verantwortete Kontrolle der Konkretisierung des unmittelbar anwendbaren europäischen Kartellrechts? Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage ist die Rechtsprechung des EuGH aus der 28 Zeit vor Inkrafttreten der VO 1/2003. Wie bereits erwähnt, hatte die Kommission damals die alleinige Zuständigkeit zur Erteilung von Freistellungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV. Die Erwägun-

_____ 47 So die Zusammenfassung bei Streinz-Streinz, Art. 4 EUV Rn. 33. Mit Blick auf die Wettbewerbsregeln wird die „uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die (unbeeinträchtigte) Wirksamkeit der zu seinem Vollzug ergangenen oder zu treffenden Maßnahmen“ postuliert in EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 Rn. 9. 48 EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-234/89 Delimitis ./. Henninger Bräu, Slg. 1991, I-935 Rn. 47. 49 EuGH v. 14.12.2000 – Rs. C-344/98 Masterfoods ./. HB Ice Cream, Slg. 2000, I-11369 Rn. 48 ff. 50 Diese Vorstellung erschien mir vorzugswürdig (vgl. Ackermann, Art. 85 Abs. 1 EWGV und die rule of reason [1998], S. 139), hat sich aber nicht durchgesetzt. 51 Zustimmung findet die Masterfoods-Doktrin bei Langen/Bunte-Sura, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 2 (12. Aufl. 2014), Art. 16 VO 1/2003 Rn. 4; Kritik bei Geiger, EuZW 2001, 116, 117; Gröning, WRP 2001, 83, 89.

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gen, welche die Kommission bei der Würdigung der Voraussetzungen des Freistellungstatbestands anstellte, wurden vom EuGH (und seit 1989 vom EuG) stets nur einer zurückhaltenden Überprüfung unterzogen. Die Kommission sei, heißt es bereits im Urteil Consten und Grundig aus dem Jahr 1966, „bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu schwierigen Wertungen wirtschaftlicher Sachverhalte gezwungen. Die gerichtliche Nachprüfung dieser Wertungen muss dem Rechnung tragen und sich deshalb auf die Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Tatsachen und deren Subsumtion unter die Begriffe des geltenden Rechts beschränken.“52 Diese Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle der damals konstitutiven Freistellungsentscheidungen der Kommission hat die Rechtsprechung des EuGH und des EuG wiederholt bestätigt.53 Darüber hinaus hat der EuGH der Kommission aber auch einen Beurteilungsspielraum bei der Konkretisierung des auch damals schon unmittelbar anwendbaren Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV zugebilligt. Dies brachte erstmals das Remia-Urteil unmissverständlich zum Ausdruck: In Anbetracht der in diesem Fall erforderlichen „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ habe der Gerichtshof „seine Prüfung … auf die Frage zu beschränken, ob die Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob die Begründung ausreichend ist, ob der Sachverhalt zutreffend festgestellt worden ist und ob keine offensichtlich fehlerhafte Würdigung des Sachverhalts und kein Ermessensmissbrauch vorliegen.“54 Wenn die Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte der Kommission auch bei unmittel- 29 bar anwendbarem Kartellrecht zugute kommen soll, ergibt sich unweigerlich die weitere, mit der Dezentralisierung der Kartellrechtsanwendung drängend gewordene Frage: Sollen nicht auch nationale Behörden und Gerichte, ja sogar die rechtsunterworfenen Unternehmen bei der Selbsteinschätzung ihres Wettbewerbsverhaltens einen Beurteilungsspielraum in Anspruch nehmen können, weil und soweit ihnen genauso wie der Kommission die „Würdigung komplexer wirtschaftlicher Gegebenheiten“ bei der Anwendung kartellrechtlicher Normen abverlangt wird?55 In der Tat entstünde eine kaum überzeugend erklärbare Schieflage, wenn der EuGH die Wahrnehmung seiner Auslegungszuständigkeit bei ein und derselben Norm danach differenzierte, ob sie von der Kommission, von einer nationalen Behörde oder von einem nationalen Gericht angewendet wird. Richtigerweise sollte diese Schieflage aber nicht dadurch behoben werden, dass der Gerichtshof die Normkonkretisierung im Kartellrecht generell nur noch auf die Verletzung bestimmter äußerer Grenzen überprüft und sich dadurch seiner Funktion als Wahrer der Einheit des Unionsrechts teilweise begibt. Vielmehr sollte der EuGH den umgekehrten Weg beschreiten und im Zusammenhang mit den Art. 101 und 102 AEUV wie auch sonst bei unmittelbar anwend-

_____ 52 EuGH v. 13.7.1966 – verb. Rs. 56/64 und 58/64 Consten und Grundig ./. Kommission, Slg. 1966, 321, 396. 53 Z.B. EuGH v. 25.10.1977 – Rs. 26/76 Metro ./. Kommission, Slg. 1977, 1875 Rn. 50; EuG v. 8.6.1995 – Rs. T-7/93 Langnese-Iglo ./. Kommission, Slg. 1995, II-1533 Rn. 178; EuG v. 8.6. 1995 – Rs. T-9/93 Schöller ./. Kommission, Slg. 1995, II-1611 Rn. 140. 54 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 42/84 Remia ./. Kommission, Slg. 1985, 2545 Rn. 34; bestätigt durch EuGH v. 17.11.1987 – verb. Rs. 142/84 und 156/84 BAT und Reynolds ./. Kommission, Slg. 1987, 4487 Rn. 62; EuGH v. 15.6.1993 – Rs. C-225/91 Matra ./. Kommission, Slg. 1993, I-3203 Rn. 23 und 25; EuG v. 29.6.1993 – Rs. T-7/92 Asia Motor France ./. Kommission, Slg. 1993, II-669 Rn. 33; EuG v. 23.10.2003 – Rs. T-65/98 Van den Bergh Foods ./. Kommission, Slg. 2003, II-4662 Rn. 80. In erweitertem (rechtsordnungs- oder disziplinübergreifendem) Zusammenhang behandeln diese Rspr. Adam, Die Kontrolldichte-Konzeption des EuGH und deutscher Gerichte (1993); Herdegen/Richter, in: Frowein (Hrsg.), Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung (1993), S. 209 ff.; Nolte, Beurteilungsspielräume im Kartellrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Bundesrepublik Deutschland (1997); ausführliche Würdigungen der zitierten Rspr. zu Art. 101 AEUV außerdem bei Bailey, CMLR 41 (2004), 1327 ff.; Fritzsche, Ermessen und institutionelles Gleichgewicht: Die Kompetenzteilung zwischen Europäischer Kommission und Gericht erster Instanz (2008) und Koch, ZWeR 2005, 380 ff. 55 In dieser Richtung mit Bezug auf nationale Behörden und Gerichte Jaeger, WuW 2000, 1062, 1071 ff., mit Bezug auf die Unternehmen Bechtold, WuW 2003, 343. Ackermann

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3. Teil: Besonderer Teil

baren Normen des Europarechts keine Wertungsprärogative einer anderen Institution anerkennen.56

III. Die Ausstrahlung des europäischen Kartellrechts auf das mitgliedstaatliche Kartellrecht 30 In welcher Weise das Europarecht im Allgemeinen die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts

beeinflusst, erläutern die Beiträge zur primärrechts- und zur richtlinienkonformen Auslegung (einschließlich der Frage der überschießenden Umsetzung) in diesem Band.57 Die Ausstrahlung der europäischen auf die nationale Rechtsebene weist jedoch im Bereich des Kartellrechts Besonderheiten auf, die gerade auch im deutschen Kartellrecht Anlass zu methodisch interessanten Neuerungen gegeben haben.

1. Vorrang des europäischen Kartellrechts und autonome Anpassung des mitgliedstaatlichen Rechts 31 Europäisches und nationales Kartellrecht koexistieren seit jeher, ohne dass Akte des europäi-

schen Gesetzgebers für eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechte gesorgt hätten. Dass es dennoch zu einer Anpassung der nationalen Kartellrechte an das Vorbild der europäischen Wettbewerbsordnung gekommen ist, hat seine Ursache in Anpassungszwängen, die durch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Kartellrechtsebenen bedingt sind: Die europäischen Wettbewerbsregeln genießen, soweit ihr Anwendungsbereich reicht, Vor32 rang gegenüber dem nationalen Kartellrecht. In der wegweisenden Entscheidung Walt Wilhelm58 aus dem Jahre 1969 hat der EuGH dieses Rangverhältnis im Sinne eines Anwendungsvorrangs des Unionsrechts interpretiert (sog. modifizierte Zweischrankentheorie). Manches Rätsel, das dieses Urteil aufgibt,59 ist mittlerweile durch sekundärrechtliche Regelungen auf der Grundlage von Art. 103 Abs. 2 lit. e) AEUV gelöst worden. Zum einen schließt Art. 21 Abs. 3 FKVO die Anwendung nationalen Wettbewerbsrechts auf die von der Verordnung erfassten Zusammenschlüsse von unionsweiter Bedeutung grundsätzlich aus. Zum anderen schränkt Art. 3 VO 1/ 2003 den Anwendungsspielraum für nationales Recht im Bereich der von Art. 101 AEUV erfassten Sachverhalte erheblich ein: Soweit eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel in der Union zu beeinträchtigen, und daher unter Art. 101 Abs. 1 AEUV fällt, kommt die Anwendung strengeren nationalen Rechts nicht in Betracht. Oberhalb der Schwelle der Zwischenstaatlichkeitsklausel bleibt damit im Wesentlichen nur noch bei der Beurteilung einseitiger missbräuchlicher Verhaltensweisen (also im Bereich des Art. 102 AEUV) Raum für eigene Wertungen des nationalen Kartellrechts. Etwas vergröbernd kann man

_____ 56 I.E. ebenfalls kritisch zur Reduzierung der Kontrolldichte Fuchs, ZWeR 2005 1, 21; Koch, ZWeR 2005, 380, 395; etwas zurückhaltender Bailey, CMLR 41 (2004), 1327, 1360. 57 Vgl. Leible/Domröse, in diesem Band, § 8; W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13; Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14. 58 EuGH v. 13.2.1969 – Rs. 14/68 Walt Wilhelm ./. Bundeskartellamt, Slg. 1969, 1 Rn. 3 ff. 59 Es fehlte in Anbetracht der als ungenügend empfundenen richterrechtlichen Vorrangregel vor Verabschiedung der VO 1/2003 nicht an Versuchen des Schrifttums, ein effektiveres Regime zu begründen; vgl. etwa Walz, Der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Kartellrecht (1994); Jung, Subsidiarität im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen (1995).

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also festhalten: „Große“ Fälle im Bereich der Fusionskontrolle und des Kartellverbots werden nur nach EU-Recht beurteilt, „kleine“ nur nach nationalem Recht. Diese Vorrangregelung hat die mitgliedstaatlichen und namentlich den deutschen Gesetz- 33 geber unter erheblichen Anpassungsdruck gesetzt. Zwar mag strengeres nationales Kartellrecht unterhalb der Eingriffsschwellen der EU-Wettbewerbsregeln europa- wie auch verfassungsrechtlich zulässig sein,60 aber ein solches Wertungsgefälle zwischen europäischem und nationalem Recht wäre niemandem verständlich zu machen. Darüber hinaus führen jegliche Abweichungen des nationalen vom europäischen Kartellrecht zumindest im Bereich des Art. 101 AEUV zu erheblicher Rechtsunsicherheit, weil in Anbetracht der in mancherlei Hinsicht unklaren Reichweite der Zwischenstaatlichkeitsklausel oft unsicher ist, ob nationales oder europäisches Recht Anwendung findet. Eine autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln an das europäische Vorbild war deshalb spätestens seit Verabschiedung der VO 1/2003 rechtspolitisch geradezu unumgänglich. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dieser Einsicht nicht verschlossen und, nachdem bereits die 6. GWB-Novelle 1998 erste Schritte in diese Richtung gemacht hatte, mit der am 1. Juli 2005 in Kraft getretenen 7. GWB-Novelle v.a. eine sehr weitreichende Angleichung der deutschen Regelung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen an das Regime des Art. 101 AEUV vollzogen.61 In methodischer Hinsicht sind zwei Aspekte dieses autonomen Angleichungsakts von besonderem Interesse: die europarechtsorientierte Auslegung der an das EU-Recht angepassten Normen des GWB und die vom Gesetzgeber in § 2 Abs. 2 GWB ausgesprochene dynamische Verweisung auf europäisches Sekundärrecht, nämlich auf die zu Art. 101 Abs. 3 AEUV ergangenen Gruppenfreistellungsverordnungen.

2. Die europarechtsorientierte Auslegung des deutschen Kartellrechts Die novellierten §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB übernehmen Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV mit Aus- 34 nahme der Zwischenstaatlichkeitsklausel im Wortlaut. Damit ist das normative Fundament für einen dies- und jenseits der europarechtlichen Anwendungsschwelle einheitlichen Schutz vor kooperativen Wettbewerbsbeschränkungen gelegt. Anders als etwa der italienische und der britische Gesetzgeber62 hat der deutsche Gesetzgeber sich freilich nicht dazu durchringen können, so wie ursprünglich von der Bundesregierung geplant,63 die Auslegung dieser (und anderer) an das EU-Recht angelehnter Normen des GWB in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des europäischen Wettbewerbsrechts gesetzlich vorzugeben. Gleichwohl führt – nicht anders als in den Konstellationen überschießender Richtlinienumsetzung – die Auslegung der angeglichenen GWB-Normen zur Orientierung am europarechtlichen Vorbild, was – wiederum nicht anders als bei der überschießenden Richtlinienumsetzung – die Frage nach der Möglichkeit einer Anrufung des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren hervorruft.

_____ 60 Zum Fehlen einer – von Steindorff, in: FIW (Hrsg.), Schwerpunkte des Kartellrechts 1986/87 (1988), S. 27, 35 ff., befürworteten – europarechtlichen Pflicht zur Anpassung des mitgliedstaatlichen Kartellrechts Ackermann, JbJZ 1997, S. 203, 210 ff. – Zur Nichtanwendbarkeit von Art. 3 Abs. 1 GG als Grundlage einer Anpassungspflicht mit Blick auf Unterschiede zwischen deutscher und europäischer Fusionskontrolle K. Westermann, Die Einwirkungen der europäischen auf die deutsche Fusionskontrolle (1996), S. 74 ff. 61 Eine informative Darstellung der 7. GWB-Novelle bieten Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006), S. 1 ff. 62 Vgl. Art. 1 Abs. 4 legge antitrust Nr. 287 v. 10.10.1990 und sec. 60 Competition Act 1998. 63 Vgl. § 23 RegE und dazu BT-Drs. 15/3640, S. 47. Ackermann

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a) Europarechtsorientierung als Resultat der Auslegung angeglichener GWB-Normen 35 Die Anwender der angeglichenen GWB-Normen sind zunächst nicht kraft Europarechts ver-

pflichtet, zu Auslegungsergebnissen zu gelangen, die mit der Handhabung der europarechtlichen Vorbilder durch den EuGH, das EuG und die Kommission übereinstimmen. Der Vorrang des EU-Kartellrechts kommt hier nicht zum Tragen, da das GWB insoweit aufgrund der unmittelbar anwendbaren Normierung des Rangverhältnisses in Art. 3 VO 1/2003 (die eine deklaratorische Regelung in § 22 GWB wiederholt) ohnehin keinen Anwendungsanspruch erhebt. Ebensowenig droht eine vom Verständnis gleichlautender europarechtlicher Begriffe abweichende Interpretation der im GWB verwendeten Begriffe die Auslegung des Europarechts so zu beeinflussen, dass dessen Wirksamkeit in Frage gestellt sein könnte.64 Es bleibt die Möglichkeit, die Ausrichtung am europäischen Vorbild aus Gründen des natio36 nalen Rechts herzuleiten, und zwar, weil es an einer gesetzlichen Anordnung fehlt, im Wege der Interpretation der autonom angeglichenen Normen. Die Übereinstimmung mit dem Wortlaut der entsprechenden EU-Regeln und das gesetzgeberische Anliegen, das deutsche Kartellrecht mit dieser Angleichung auch in der Sache an der europarechtlichen Bewertung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen und sonstiger Koordinierungsformen auszurichten, lassen die Europarechtsorientierung unabweisbar erscheinen. Dies wird bestätigt durch die Begründung, mit der der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren die letztlich im Vermittlungsausschuss vorgenommene Streichung der gesetzlichen Auslegungsregel zu Gunsten des Europarechts forderte: Die Auslegung im Lichte der europäischen Regeln sei eine „methodische Selbstverständlichkeit“.65 Auch der BGH legt diese Prämisse mittlerweile seiner Rechtsprechung zu § 1 GWB zugrunde.66 Dem ist an dieser Stelle nichts hinzuzufügen.67

b) Vorlagemöglichkeit? 37 Zu klären bleibt, ob der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens angerufen werden

kann, wenn die europarechtsorientierte Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in Frage steht. Hier gelangt man in das Fahrwasser einer mittlerweile sattsam bekannten68 EuGH-Rechtsprechung, zu der einerseits eine Reihe von Urteilen gehört, in denen der Gerichtshof Vorlagefragen beantwortete, die sich im Zusammenhang einer autonomen Anknüpfung nationalen Rechts an EURecht stellten,69 andererseits aber auch die Entscheidung Kleinwort Benson, in der der EuGH

_____ 64 Für eine ausführliche Diskussion der Erheblichkeit dieser Überlegung im Zusammenhang mit der überschießenden Richtlinienumsetzung vgl. Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 27 ff., sowie Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006), S.107 ff. 65 BT-Drs. 15/3640, S. 75. Bei der Auslegung des GWB in der Fassung der 7. Novelle wird die Orientierung am Europarecht nunmehr auch in der Praxis- und Ausbildungsliteratur zur Kenntnis genommen, vgl. Becker/Hossenfelder, Einführung in das neue Kartellrecht (2006), S. 14 („kein Auseinanderklaffen bei der Anwendung der §§ 1, 2 GWB und des Art. 81 EG zu erwarten“); Kapp, Kartellrecht in der Unternehmenspraxis (2005), S. 34 („nur noch wenig Raum für eine anderweitige Behandlung“); zurückhaltender Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1 (12. Aufl. 2014), Einführung zum GWB Rn. 60 („Abwägungsgesichtspunkt“). 66 BGH, WuW/E DE-R 2554 Rn. 17 – Subunternehmervertrag II. 67 Die inhaltlichen Konsequenzen aus dieser methodischen Einsicht sind dagegen nicht selbstverständlich. Bereits für das GWB in der Fassung der 6. Novelle hat Schanze, Die europaorientierte Auslegung des Kartellverbots (2003), eine Durchführung dieses Gedankens unternommen. 68 Dazu bereits Ackermann, JbJZ 1997, S. 203, 223; Drexl, FS Heldrich (2005), S. 78 ff.; Jäger, Überschießende Richtlinienumsetzung im Privatrecht (2006), S. 173 ff.; sowie Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 54 ff. 69 EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I- 3763 Rn. 33 f.; EuGH v. 8.11.1990 – Rs. C-231/89 Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003 Rn. 18 f.; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 24 f.; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-28/95 Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161 Rn. 25. Ackermann

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seine Zuständigkeit ablehnte, als der englische Court of Appeal eine Auslegung des EuGVÜ erbat, die er zur Abgrenzung einer englisch-schottischen Zuständigkeitsregelung nach dem Vorbild des EuGVÜ heranziehen wollte.70 Im Bereich des Kartellrechts hat der EuGH jedenfalls ein Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erklärt, das sich auf ein durch ausdrückliche gesetzgeberische Anordnung an die europäischen Vorgaben gebundenes nationales Kartellrecht bezog.71 Nimmt man die §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB in den Blick, so ist die Ähnlichkeit zu der Konstella- 38 tion in Kleinwort Benson unverkennbar: Es handelt sich um Normen, die dem Art. 101 AEUV nachgebildet wurden und deren Auslegung nur im Sinne einer „methodischen Selbstverständlichkeit“, aber nicht durch rechtlich zwingende Vorgaben an diesem Vorbild ausgerichtet wird. Der vom EuGH zur Begründung seiner Unzuständigkeit angeführte Gesichtspunkt, dass das vorlegende Gericht frei entscheiden konnte, ob es die Auslegung des EuGVÜ für das nationale Recht übernehmen wollte, so dass sich der Gerichtshof in die Rolle einer beratenden Institution gedrängt sah, könnte auch hier zum Tragen kommen. Aber abgesehen davon, dass die restriktive Haltung in Kleinwort Benson möglicherweise rechtlich nicht überzeugt,72 darf man aus einem anderen Grund hoffen, dass der EuGH Mittel und Wege finden wird, der europaorientierten Auslegung der §§ 1 und 2 Abs. 1 GWB seine Unterstützung im Vorabentscheidungsverfahren zu geben: Das Rechtsproblem, das der Court of Appeal in Kleinwort Benson mit Hilfe des EuGH lösen wollte, war integrationspolitisch irrelevant. Es scheint aber schwer vorstellbar, dass der Gerichtshof nicht einem nationalen Richter die Hand reichen würde, der sich bemüht, das Gebäude der europäischen Wettbewerbsordnung mit den Bausteinen des nationalen Kartellrechts zu vervollständigen.

3. Dynamische Verweisung auf Sekundärrecht Ein gesetzgebungstechnisches Novum im GWB stellt schließlich die dynamische Verweisung auf 39 europäisches Sekundärrecht dar. § 2 Abs. 2 S. 1 GWB erklärt die europäischen Gruppenfreistellungsverordnungen in ihrer jeweils geltenden Fassung für entsprechend anwendbar, und zwar, wie S. 2 hinzufügt, „auch, soweit die dort genannten Vereinbarungen, Beschlüsse und Verhaltensweisen nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zu beeinträchtigen“. Die Formulierung ist irreführend: Weil Gruppenfreistellungsverordnungen oberhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle ohnehin unmittelbar anwendbar sind, hat nur die Anordnung der entsprechenden Anwendbarkeit unterhalb der Zwischenstaatlichkeitsschwelle einen eigenständigen Gehalt. In methodischer Hinsicht wirft diese Verweisung Fragen auf:73 Zu welchen Anpassungen an den nationalen Kontext ist der Rechtsanwender befugt, der über § 2 Abs. 2 GWB zur „entsprechenden“ Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellung gelangt? Teilt sich die konstitutive (nämlich „abschirmende“) Bedeutung, welche die Gruppenfreistellungen im europäischen Recht haben,74 über die Verweisung auch dem deutschen Recht mit? Werden deutsche Gerichte die Möglichkeit haben, Auslegungsfragen, die sich im Zusammenhang mit einer im streitigen Fall nicht unmittelbar, sondern nur kraft Verweisung entsprechend anwendbaren Gruppenfreistellung ergeben, dem EuGH vorzulegen? Während die letzte Frage gewiss bejahen muss, wer schon die Zulässigkeit von Vorlagen aus dem Bereich der §§ 1

_____ 70 71 72 73 74

EuGH v. 28.3.1995 – Rs. C-343/93 Kleinwort Benson, Slg. 1995, I-615 Rn. 22 ff. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-280/06 ETI, Slg. 2007, I-10893 Rn. 23 ff. Kritisch Drexl, in: Hopt/Tzuganatos (Hrsg.), Europäisierung des Handels- und Wirtschaftsrechts, S. 223, 246. Zur hier nicht erörterten Verfassungsmäßigkeit (bejahend) Ehricke/Blask, JZ 2003, 722 ff. Dazu schon oben Fn. 11.

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3. Teil: Besonderer Teil

und 2 Abs. 1 GWB befürwortet, bieten die beiden ersten Fragen Schwierigkeiten, die über eine einführende Behandlung methodenrelevanter Fragen des Kartellrechts hinausgehen.75 Sie mögen als Beleg für die Fähigkeit des Kartellrechtsgesetzgebers auf deutscher wie auf europäischer Ebene stehen, die Rechtsanwender immer wieder mit neuen technischen Finessen zu erfreuen.

neue Seite

_____ 75 Vgl. für eine Stellungnahme Langen/Bunte-Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Bd. 1 (12. Aufl. 2014), § 2 Rn. 68 ff., Rn. 76 f.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

Abschnitt 2 Methodenfragen in der Rechtsprechung 3. Teil: Besonderer Teil

§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH § 22 Die Rechtsprechung des EuGH Stotz

Rüdiger Stotz* I. II.

Übersicht Allgemeines | 2–10 Auslegung des Unionsrechts | 11–34 1. Auslegungskanon | 12–17 a) Wörtliche Auslegung | 12 b) Historische Auslegung | 13 c) Systematische Auslegung | 14 d) Teleologische Auslegung | 15–17 2. Unionsrechtstypische Auslegungsregeln | 18–31 a) Autonome und einheitliche Auslegung | 19 b) Primärrechtskonforme Auslegung | 20–21 c) Völkerrechtskonforme Auslegung | 22

d)

III.

IV.

V. VI.

Rechtsvergleichende Auslegung | 23–31 Auslegung des nationalen Rechts | 32–42 1. Vertragsverletzungsverfahren | 32 2. Schiedsverfahren | 33 3. Unionsrechtlicher Verweis auf nationales Recht | 34 4. Unionsrechtskonforme Auslegung | 35–42 „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht | 43–53 Bedeutung von Präjudizien | 54–57 Ausblick | 58

Der Fokus der nachfolgenden Abhandlung zu Methodenfragen liegt auf der Rechtsprechung des 1 EuGH. Alle Beiträge dieses Handbuchs haben sich aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Themenstellungen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs auseinandergesetzt. Im Folgenden sollen aus einer generellen Perspektive die Schwerpunkte dort gesetzt werden, wo die Rechtsprechung zur Auslegungsthematik noch in der Entwicklung begriffen ist bzw. sich aktuelle Fragen stellen. Dazu ist zunächst an bestimmte Faktoren zu erinnern, die auf die Methodik des Gerichtshofs Einfluss haben. Sodann wird die Auslegungsthematik Unionsrecht/nationales Recht im engeren Sinne behandelt und dabei insbesondere die Aufgabenverteilung zwischen dem EuGH und den nationalen Gerichten näher untersucht. Abschließend werden einige Hinweise zum Wert von Präjudizien in der Rechtsprechung des EuGH gegeben.

I. Allgemeines Vorab ist auf einige Faktoren hinzuweisen, die die Schwierigkeiten verdeutlichen, unter denen 2 der Gerichtshof seine Aufgabe wahrnimmt und die unmittelbaren Einfluss auf die Methode haben.

_____ * Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung wieder. Der Verfasser dankt Frau Dr. Petra ŠkvařilováPelzl, Verwaltungsrätin in der Generaldirektion Bibliothek, Wissenschaftlicher Dienst und Dokumentation des Gerichtshofs der Europäischen Union, für wertvolle Hilfe bei der Erstellung der dritten Auflage.

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Zunächst zum Akteur: Die personelle Heterogenität der Mitglieder des EuGH – er ist mit Persönlichkeiten besetzt, die vor ihrer Berufung in unterschiedlichen Bereichen als Richter, Hochschullehrer, Politiker, oberste Verwaltungsbeamte, Rechtsanwälte oder in vergleichbar herausgehobenen Positionen tätig waren – ist als solche nicht singulär. Eine solche Besetzung kennzeichnet, im Unterschied zu den regelmäßig homogen, d.h. mit spezialisierten Berufsrichtern besetzten obersten nationalen Fachgerichten, regelmäßig auch nationale Verfassungsgerichte. Die Heterogenität wird im Fall des Gerichtshofs aber dadurch signifikant verstärkt, dass die Richter und Generalanwälte in 28 unterschiedlichen Rechtskulturen beheimatet sind. Ulrich Everling, von 1980 bis 1988 Richter am Gerichtshof und bis heute unermüdlicher Mittler des europäischen Rechts, hebt diesen Umstand stets besonders hervor. Er weist darauf hin, dass die Mitglieder des Gerichtshofs ihre jeweiligen Traditionen, Grundvorstellungen, Wertungen und materiellen wie formellen Eigenheiten in die gemeinsame Willensbildung mit einbringen und sich aus den individuellen Beiträgen dieser unterschiedlichen Persönlichkeiten das vom Gerichtshof gesprochene Recht formt.1 Je mehr Europa politisch, rechtlich und kulturell zusammenwächst und sich vor allem die 4 juristische Ausbildung noch stärker europäisch vernetzt, desto weniger markant mögen diese Unterschiede zukünftig sein. Gegenwärtig stellt diese heterogene Zusammensetzung für den Gerichtshof jedoch eine besondere Herausforderung dar. Denn ihm obliegen nicht lediglich verfassungsgerichtliche Aufgaben, d.h. die Kontrolle der Vertragskonformität sekundärrechtlicher und nationaler Maßnahmen, sondern er nimmt gerade bei der Auslegung des sekundären Unionsrechts regelmäßig auch eine fachgerichtliche Funktion ein, die mittlerweile einen denkbar weiten Rechtsbereich umfasst. Nicht nur wächst der Bestand sekundärrechtlicher Normen stetig an und erobert bislang rein national geregelte Bereiche – das Privatrecht und das Strafrecht sind hierfür das beste Beispiel. Auch die Komplexität der geregelten Materien nimmt stark zu – man denke nur an die Regelungen im Bereich des europäischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts.2 In den vergangenen Jahren ist dies von den gesetzgebenden Organen als Problem erkannt worden. Unter den Stichworten „Bessere Rechtsetzung“ (neuerdings „Intelligente Regulierung“ bzw. „Smart Regulation“ oder auch „Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung“), „Folgenabschätzung“ und „Rechtsvereinfachung“ wurden neue Initiativen im Vorfeld der Rechtsetzung ergriffen, um die Qualität der Gesetzgebung gerade im Hinblick auf deren Auswirkung nachhaltig zu stärken.3 In die Rechtssetzungspraxis haben diese Maßnahmen mittlerweile flächendeckend Eingang gefunden und sich positiv auf Qualität und Umfang der europäischen Gesetzgebung ausgewirkt. 5 Dennoch gestaltet sich die Konsensfindung in einem Rat von 28 Mitgliedstaaten bei voller Mitwirkung des Europäischen Parlaments bisweilen sehr schwierig und führt dazu, dass strittige Punkte im Text der Rechtsakte nicht geklärt, sondern im claire obscure gelassen werden, um 3

_____ 1 Everling, JZ 2000, 217, 222. 2 Vgl. z.B. die Maßnahmen zur Sicherung der Finanzmarktstabilität seit Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise. 3 Grundlegend Mitteilung der Kommission über Folgenabschätzung sowie Aktionsplan „Vereinfachung und Verbesserung des Regelungsumfelds“ v. 5.6.2002, KOM(2002) 278 endg; Interinstitutionnelle Vereinbarung „Bessere Rechtsetzung“ v. 16.12.2003; Ratsdokument 7797/05 v. 5.4.2005, KOM(2005) 97 endg; Aktionsprogramm der Kommission zur Verringerung der Verwaltungslasten v. 24.1.2007, KOM(2007) 23 endg; Mitteilung der Kommission: „Intelligente Regulierung in der Europäischen Union“ v. 8.10.2010, KOM(2010) 543 endg; Sonderbericht Nr. 3/2010 des Europäischen Rechnungshofs: „Folgenabschätzung in den EU-Organen: helfen sie bei der Entscheidungsfindung?“; Mitteilung der Kommission über die regulatorische Eignung der EU-Vorschriften v. 12.12.2012 („Regulatory Fitness and Performance Programme“ – „REFIT-Programm“), KOM(2012) 746 endg.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

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nach langen und kontroversen Verhandlungen die Verabschiedung zu ermöglichen und der Ratspräsidentschaft den angestrebten Erfolg zu verschaffen. Es ist politische Realität, dass in der letzten Verhandlungsphase rechtsdogmatische und –systematische Erwägungen, denen bis dahin nicht Rechnung getragen wurde – entsprechenden Empfehlungen der Juristischen Dienste von Rat und Kommission wird insoweit durchaus nicht immer gefolgt –, einen erreichten Kompromiss nicht mehr in Frage stellen dürfen („Wir gewinnen hier keinen Schönheitspreis“). Die Folgen einer solchen Verfahrensweise zeigen sich, wenn die Rechtsakte von den nationalen Gesetzgebern umgesetzt, den Verwaltungen angewandt und letztlich den Gerichten ausgelegt werden. Der Gerichtshof muss sich dann mit Fragen auseinandersetzen, die im Gesetzgebungsprozess bewusst oder unbewusst offengeblieben sind und möglicherweise sogar widersprüchlich geregelt wurden. Sicherlich ist mangelhafte Qualität der Rechtsetzung, soweit sie trotz der anerkennenswer- 6 ten Bemühungen um Verbesserung noch auftritt, kein typisch europäisches Phänomen, sondern hinlänglich aus dem nationalen Bereich bekannt. Auf europäischer Ebene potenzieren sich aber die Probleme, die damit einhergehen. Der Gerichtshof, dem es in letzter Instanz zufällt, eine in sich schlüssige und verbindliche Auslegung zu geben, muss bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe nicht nur der begrenzten Verbandskompetenz der Union, die auch für ihn gilt, Rechnung tragen sowie die Prärogativen des europäischen Gesetzgebers respektieren. Er muss auch und vor allem das ihm unterbreitete Rechtsproblem einer sachgerechten Lösung zuführen und dies mit Richtern, die aufgrund ihrer Herkunft, Ausbildung und beruflichen Erfahrung ganz unterschiedlichen Ansätzen folgen. Dabei kommt ein Wertungselement ins Spiel, das Axel Flessner4 trefflich als „Gedanken der Mäßigung und der Bescheidung“ identifiziert hat. „[Dieser muss] in der Union herrschen […], sollen alle gegensätzlichen nationalen und rechtskulturellen Interessen unter ihrem Dach ein Auskommen finden. Es darf nicht übertrieben oder auch nur bis ans logische Ende getrieben werden. Dieser Gedanke herrscht offenbar und muss herrschen bei der Schaffung von Normen und er wird (und darf) auch herrschen bei ihrer Anwendung, d.h. faktisch: unter den Mitgliedern des EuGH.“ Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass der Gerichtshof allen Versuchen der In- 7 strumentalisierung energisch widersteht. Dies bedeutet in erster Linie, dass Mitgliedstaaten, denen es nicht gelungen ist, ihren Standpunkt in den Verhandlungen in Brüssel durchzusetzen, regelmäßig nicht darauf hoffen dürfen, diesen nachträglich in Luxemburg anerkannt zu bekommen. Aber auch subtileren Formen der Instrumentalisierung, selbst wenn sie unbewusst erfolgen, erteilt der Gerichtshof eine Absage. Diese bestehen darin, das Unionsrecht ausschließlich oder vorwiegend aus dem Blickwinkel des vertrauten nationalen Rechts zu betrachten. Es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen des Gerichtshofs, dass Prozessparteien immer wieder wie selbstverständlich davon ausgehen, dass europäische Normen denselben Bedeutungsgehalt haben wie entsprechende nationale Bestimmungen oder dass sie sich erkennbar länderspezifisch geprägter Argumentationsmuster bedienen. Bei den Richtern und Generalanwälten verfängt ein solcher Vortrag in der Regel schon allein deshalb nicht, weil diese mit den nationalen Vergleichsparametern nicht hinreichend vertraut sind. Ein solch einseitiger Vortrag kann daher nicht überzeugen. Nicht nur methodisch, sondern bereits rein faktisch besteht daher zu einem autonomen, ggf. rechtsvergleichend unterstützten, Ansatz bei der Interpretation des europäischen Rechts keine Alternative (unten Rn. 19, 23 ff.). Dies alles ist weitgehend bekannt, wird aber in der Praxis immer noch nicht hinreichend be- 8 rücksichtigt. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand. Zwar ist die Kenntnis des europäischen

_____ 4 Flessner, JZ 2002, 14, 20. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

Rechts im Vergleich zu früher mittlerweile stark gewachsen, in erster Linie dank einer wesentlich intensiveren universitären Ausbildung, der Blickwinkel bleibt aber dennoch oftmals interessengeleitet national. Fundierte rechtsvergleichende Analysen sind aufwendig und kostspielig. Von Rechtsanwaltskanzleien kleineren oder mittleren Zuschnitts sind sie per se kaum zu erwarten und selbst multinational operierende Kanzleien leisten dies nur in Ausnahmefällen. Allenfalls die Kommission ist hierzu in der Lage. Zwar bedarf es zur Lösung anhängiger Streitfragen in vielen Fällen nicht des Rechtsvergleichs im materiellrechtlichen Sinn, weil das Unionsrecht aus sich selbst heraus interpretationsfähig ist oder unionsrechtliche Konzepte keiner unmittelbaren Ableitung aus dem nationalen Recht zugänglich sind.5 Auch dann ist aber der rechtsvergleichend geschulte Blick der Richter auf Wertung und Interessenausgleich im europäischen Kontext gerichtet und orientiert sich nicht an einseitigen nationalen Belangen (unten Rn. 23 ff.). Schließlich ist die Bedeutung des Parteivortrags für die Auslegung hervorzuheben. Bekannt9 lich prüft der Gerichtshof nach Klagegründen (moyens), Art. 21 EuGH-Satzung. Was nicht gerügt wird, sei es vom Kläger in Direktklagen oder vom nationalen Gericht im Verfahren der Gültigkeitsprüfung nach Art. 267 AEUV,6 ist regelmäßig auch nicht Gegenstand der rechtlichen Überprüfung. Qualität und Aussagekraft des Urteils hängen deshalb entscheidend vom Parteivortrag ab und können, falls dieser mangelhaft ist, durch das Urteil nur bedingt aufgefangen werden. Daher empfiehlt es sich, ähnlich wie bei Urteilen amerikanischer Gerichte, nicht nur abstrakt die Urteilsgründe zu analysieren, sondern sie stets im Lichte von Sachverhalt und Parteivortrag zu lesen. 10 Generell kann man feststellen, dass die Prozessparteien die Möglichkeiten, die Rechtsprechung des EuGH und des Gerichts durch fundierte Argumentation zu beeinflussen, in der Vergangenheit nicht immer optimal ausgeschöpft haben. Vor allem wurde versäumt, dem Gerichtshof die ökonomischen und administrativen Auswirkungen seiner Rechtsprechung vor Augen zu führen.7 In jüngerer Zeit haben die Mitgliedstaaten ihre Argumentation in dieser Hinsicht stärker substantiiert, wie insbesondere die Rechtsprechung auf dem Gebiet der Direktbesteuerung8 belegt. Adressat des Petitums, auch die wirtschaftlichen, finanziellen und administrativen Auswirkungen der Rechtsprechung in den Blick zu nehmen, sind aber nicht nur die Prozessparteien und vor allem die Kommission, die in allen Vorabentscheidungsverfahren interveniert. Auch der europäische Gesetzgeber ist hier insoweit angesprochen, als er die Begründungserwägungen seiner Rechtsakte entsprechend ausrichten und damit nicht zuletzt dem Gerichtshof wesentliche Begründungselemente an die Hand geben muss. In dieser Hinsicht ist zu begrüßen, dass die der europäischen Gesetzgebung seit Einführung des Konzepts der Besseren Rechtsetzung zugrunde-

_____ 5 Edward, in: Carey-Miller/Zimmermann (Hrsg.), The Civilian Tradition and Scots Law – Aberdeen Quincentenary Essays (1997), S. 310. 6 Vgl. EuGH v. 11.11.1997 – Rs. C-408/95 Eurotunnel, Slg. 1997, I-6315 Rn. 34; i.E. Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen Umweltrecht, Bd. 1 (2. Aufl. 2003), § 45 Rn. 201. 7 Vgl. Schwarze, NJW 2005, 3459, 3464 f., der eine gesteigerte Sensibilität des EuGH auch für die finanziellen Folgen seiner Rechtsprechung anmahnt. 8 Vgl. die Rspr. bezüglich der Anträge auf zeitliche Begrenzung der Wirkungen der Urteile: EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 221–225; EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-292/04 Meilicke u.a., Slg. 2007, I-1835 Rn. 32–41; EuGH v. 10.4.2014 – Rs. C-190/12 Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, Rn. 107. Siehe auch im Bereich des Erdgasbinnenmarkts: EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, Rn. 57; zur Verbrauchssteuer EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-82/12 Transportes Jordi Besora, Rn. 37 ff.; beantragt von einem Mobilfunkanbieter: EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, Rn. 49 ff. I.E. zur Begrenzung der zeitlichen Wirkung von Urteilen des EuGH Rosenkranz, in diesem Band, § 16. Stotz

§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

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liegende Folgenabschätzung (vgl. Rn. 4) inzwischen auch in die Rechtsprechung Eingang gefunden hat.9

II. Auslegung des Unionsrechts Formal betrachtet folgt der Gerichtshof bei seiner Auslegung des Unionsrechts, wie nationale 11 Gerichte auch, dem hinlänglich bekannten Kanon der Auslegungsmethoden. Dies gilt auch für das Europäische Privat- und Schuldvertragsrecht.10 Es gelten allerdings einige unionsrechtstypische Besonderheiten (unten Rn. 18–32).11

1. Auslegungskanon a) Wörtliche Auslegung Ausgangspunkt jeder rationalen Interpretation ist zunächst der Wortlaut.12 Bei divergierenden 12 Sprachversionen eines auszulegenden Textes gibt der Gerichtshof zunächst den stereotypen Hinweis, grundsätzlich sei allen Sprachfassungen einer Unionsvorschrift der gleiche Wert beizumessen.13 Er folgert u.a. daraus, dass keine Unterschiede nach der Größe der Bevölkerung der Mitgliedstaaten gemacht werden können, die die betreffende Sprache gebraucht.14 Um die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu wahren, müsse dann, wenn die Sprachfassungen voneinander abweichen, die betreffende Vorschrift anhand von Sinn und Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört.15 Auch wenn die sprachliche Auslegung nicht divergiert, stützt sie der Gerichtshof bisweilen durch eine teleologische Interpretation ab.16 Eine Regel, wann dies der Fall ist, besteht nicht und hängt von den Umständen des Falles ab, nicht zuletzt vom individuellen Argumentationsstil des jeweiligen Berichterstatters. Die Arbeitssprachen, denen sich die Unionsorgane im Gesetzgebungsprozess ggf. bedienen, spielen dagegen, anders

_____ 9 In seinem Urteil v. 8.6.2010 – Rs. C-58/08 Vodafone u.a., Slg. 2010, I-4999 wies der EuGH auf die Durchführung einer Folgenabschätzung vor der Erarbeitung des Vorschlags für die Verordnung Nr. 717/2007 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Gemeinschaft hin. In diesem Vorabentscheidungsverfahren, das die Gültigkeit der genannten Verordnung betraf, stützte sich der Gerichtshof u.a. auf die Folgenabschätzung der Kommission, um zum Schluss zu gelangen, dass die Prüfung der Vorlagefragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Verordnung berühren könnte (Rn. 45, 55 u. 58). Der EuGH und insbes. die Generalanwälte haben sich bereits des Öfteren auf Folgenabschätzungen berufen (vgl. GA Sharpston, SchlA v. 14.4.2011 – Rs. C-53/10 Mücksch, Slg. 2011, I-8313 Tz. 36; EuGH v. 12.5.2011 – Rs. C-176/09 Luxemburg ./. Parlament u. Rat, Slg. 2011, I-3727 Rn. 65; GA Wathelet, SchlA v. 24.10.2013 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, Tz. 55–58). 10 Vgl. Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529. 11 Vgl. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9. 12 Vgl. EuGH v. 26.3.2009 – Rs. C-348/07 Semen, Slg. 2009, I-2341 Rn. 27–28; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-247/08 Gaz de France – Berliner Investissement, Slg. 2009, I-9225 Rn. 26; GA Mengozzi, SchlA v. 30.4.2014 – Rs. C-338/13 Noorzia, Tz. 32 ff. 13 Diesbezüglich vgl. EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 39, 51; GA Kokott, SchlA v. 17.1.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami u.a., Tz. 31. 14 Vgl. EuGH v. 20.11.2003 – Rs. C-152/01 Kyocera, Slg. 2003, I-13821 Rn. 32 f. Siehe auch GA Trstenjak, SchlA v. 8.3.2007 – Rs. C-466/03 Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft, Slg. 2007, I-5357 Tz. 62 u. Fn. 32. 15 Vgl. EuGH v. 27.10.1977 – Rs. 30/77 Bouchereau, Slg. 1977, 1999 Rn. 14; EuGH v.17.12.1998 – Rs. C-236/97 Codan, Slg. 1998, I-8679 Rn. 28; EuGH v. 22.10.2009 – verb. Rs. C-261/08 und C-348/08 Zurita García, Slg. 2009, I-10143 Rn. 54–47; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-486/12 X, Rn. 19 ff.; EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-74/13 GSV, Rn. 27; EuGH v. 9.4.2014 – Rs. C-616/11 T-Mobile Austria, Rn. 32. 16 Vgl. EuGH v. 11.6.2009 – Rs. C-542/07 P Imagination Technologies ./. HABM, Slg. 2009, I-4937 Rn. 43–44. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

als in der Literatur bisweilen angenommen,17 keine Rolle bei der Lösung sprachlicher Divergenzen, weil dies die postulierte Gleichheit aller Sprachversionen gerade wieder in Frage stellen würde.

b) Historische Auslegung 13 Die historische Auslegung, die sich auf Materialien bei der Genese der auszulegenden Bestim-

mungen stützt und nur vergleichsweise selten zum Tragen kam, hat in letzter Zeit eine deutliche Aufwertung erfahren.18 In der früheren Rechtsprechung wurden diese Materialien zwar ggf. im Urteil bei der Schilderung der Entstehungsgeschichte des Rechtsstreits bzw. der Darstellung des rechtlichen Rahmens erwähnt, dienten aber sehr selten als eigentliches Begründungselement bei der rechtlichen Wertung durch den Gerichtshof“.19 Die Zurückhaltung des Gerichtshofs in diesem Punkt war nachvollziehbar, denn bei den bis zu ihrem Erlass regelmäßig höchst umstrittenen Unionsrechtsakten konnte letztlich nur der im Amtsblatt veröffentlichte Text autoritativen Charakter beanspruchen. Nach ständiger Rechtsprechung konnten deshalb auch Erklärungen, selbst wenn sie von Rat und Kommission gemeinsam aus Anlass der Verabschiedung eines Rechtsakts zu Protokoll gegeben wurden, nicht zu dessen Auslegung herangezogen werden, wenn ihr Inhalt in der fraglichen Bestimmung keinen Ausdruck gefunden hatte.20 In der jüngeren Rechtsprechung werden entsprechende Vorarbeiten (oben Rn. 4) jedoch des Öfteren unterstützend herangezogen21 und sogar das Primärrecht wird inzwischen von dieser Entwicklung erfasst:22 „Zwar hat speziell die Entstehungsgeschichte bei der Auslegung des Primärrechts bislang keine Rolle gespielt, weil die ‚travaux préparatoires‘ zu den Gründungsverträgen größtenteils nicht verfügbar waren. Die Praxis der Einsetzung von Konventen zur Vorbereitung von Vertragsänderungen hat jedoch, ebenso wie die Praxis der Veröffentlichung der Mandate von Regierungskonferenzen, zu einem grundlegenden Wandel in diesem Bereich geführt. Die gesteigerte Transparenz im Vorfeld von Vertragsänderungen eröffnet neue Möglichkeiten für die Vertragsauslegung, die als ergänzendes Auslegungsmittel nicht ungenutzt bleiben sollten, wenn – wie hier – die Bedeutung einer Vorschrift unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, des Regelungszusammenhangs und der verfolgten Ziele im Unklaren bleibt.“23

_____ 17 Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 530 unter Hinweis auf Oppermann, Europarecht (2. Aufl. 1999), Rn. 683. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 16. 18 Vgl. Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 19 ff.; siehe auch Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 32 ff. 19 Vgl. etwa den Hinweis im Urteil EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 20, dass weder die Fernabsatzrichtlinie 97/7/EG noch „die für ihre Auslegung maßgebenden Dokumente, wie etwa die vorbereitenden Arbeiten, Aufschluss über die genaue Bedeutung des in Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie genannten Begriffs Dienstleistungen [im Bereich] Beförderung“ geben. 20 EuGH v. 26.2.1991 – Rs. C-292/89 Antonissen, Slg. 1991, I-745 Rn. 18; EuGH v. 29.5.1997 – Rs. C-329/95 VAG Sverige, Slg. 1997, I-2675 Rn. 23; EuGH v. 24.6.2004 – Rs. C-49/02 Heidelberger Bauchemie, Slg. 2004, I-6129 Rn. 17; EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 32; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-242/08 Swiss Re Germany Holding, Slg. 2009, I-10099 Rn. 62. Die Generalanwälte waren der historischen Auslegung nicht so verschlossen wie der Gerichtshof, wobei sie sich dieser des Öfteren in Bezug auf die 6. Mehrwertsteuerrichtlinie bedienten. Vgl. GA Trstenjak, SchlA v. 9.12.2008 – Rs. C-572/07 RLRE Tellmer Property, Slg. 2009, I-4983 Tz. 58; GA Jacobs, SchlA v. 21.3.2002 – Rs. C-292/00 Davidoff, Slg. 2003, I-389 Tz. 34–35 (auf dem Gebiet des Markenrechts). 21 Vgl. EuGH v. 23.2.2010 – Rs. C-310/08 Ibrahim u Secretary of State for the Home Department, Slg. 2010, I-1065 Rn. 47; EuGH v. 23.2.2010 – Rs. C-480/08 Teixeira, Slg. 2010, I-1107 Rn. 58; EuGH v. 20.6.2013 – Rs. C-635/11 Kommission ./. Niederlande, Rn. 35. 22 Vgl. EuGH v. 27.11.2012 – Rs. C-370/12 Pringle, Rn. 135 (Bezug nehmend auf die Entstehungsgeschichte des Vertrags von Maastricht); EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami u.a., Rn. 50. 23 GA Kokott, SchlA v. 17.1.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami u.a., Tz. 32. Stotz

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c) Systematische Auslegung Die systematische Auslegung, d.h. die Auslegung einer Vorschrift nach ihrer Stellung im äuße- 14 ren System des Rechtsakts, ist recht verbreitet und dient vor allem der Abrundung von textlicher und teleologischer Interpretation.24

d) Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung, die nach Sinn und Zweck der Regelung fragt, gibt dem Urteil 15 schließlich die notwendige inhaltliche Fundierung. Sie „trägt“ in aller Regel das Judikat. Die Erwägungen, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang anstellt, reichen von grundlegenden Erkenntnissen über Legitimation und Substanz der Unionsrechtsordnung bis hin zur Ermittlung des konkreten Sinngehalts einer einzelnen sekundärrechtlichen Vorschrift. Da die Verträge keine fertige Rechtsordnung geschaffen haben, liegt auch die Rechtsfortbildung im Spektrum der teleologischen Auslegung.25 So zählt gerade die wegweisende Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Grundlagen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zum unionsrechtlichen Besitzstand. Dabei sollte nicht verkannt werden, dass der Gerichtshof das primäre Unionsrecht nur maßvoll und mit Zurückhaltung systemkonform fortentwickelt. Der Anteil rechtsfortbildender Judikate ist begrenzt und erstreckt sich von den Inkunabeln europäischer Rechtsprechung van Gend en Loos26 und Costa ./. E.N.E.L.27 über die Rechtsprechung zur Geltung der Grundrechte bis hin zur Entwicklung des gemeinschaftlichen Staatshaftungssystems in Francovich.28 In bestimmten Bereichen, so bei der Fortentwicklung des unionsrechtlichen Rechtsschutzsystems, hat der Gerichtshof die Tür zur Rechtsfortbildung zunächst aufgestoßen,29 später aber wieder geschlossen und auf den Verfassungsgesetzgeber verwiesen.30 Ein Indiz dafür, dass der Gerichtshof in den Bereich der Rechtsfortbildung vorstößt, ist regelmäßig die sonst sehr spärliche kombinierte Zitierung der Urteile van Gend en Loos und Costa ./. E.N.E.L. Ein Beispiel hierfür ist das Urteil Courage,31 in dem der Gerichtshof begründet, dass ein Einzelner, auch wenn er selbst Partei eines

_____ 24 Vgl. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-73/07 Satakunnan Markkinapörssi u. Satamedia, Slg. 2008, I-9831 Rn. 51; EuGH v. 17.2.2009 – Rs. C-465/07 Elgafaji, Slg. 2009, I-921 Rn. 38; EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-347/08 Vorarlberger Gebietskrankenkasse, Slg. 2009, I-8661 Rn. 35; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-1/13 Cartier parfums-lunettes SAS u. Axa Corporate Solutions assurances, Rn. 33 f.; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-79/13 Saciri u.a., Rn. 35; GA Mengozzi, SchlA v. 30.4.2014 – Rs. C-338/13 Noorzia, Tz. 51 ff. 25 Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem eindrucksvollen Urteil Kloppenburg v. 8.4.1987 anerkannt, BVerfG 75, 223. Im Urteil v. 30.6.2009 zum Vertrag von Lissabon hat das BVerfG allerdings Grenzen einer Auslegung aufgezeigt, die sich nicht mehr an der im Völkervertragsrecht geltenden effet-utile-Regel orientiert, sondern den im Primärrecht vorgegebenen Rahmen überschreitet, BVerfGE 123, 267 Rn. 237–243; zur Rechtsfortbildung Lenaerts/ Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 27 ff.; eingehend Neuner, in diesem Band, § 12; s.a. Dawson/De Witte/Muir (Hrsg.), Judicial Activism at the European Court of Justice (2013). 26 EuGH v. 7.3.1985 – Rs. 32/84 van Gend en Loos, Slg. 1985, 779. Vgl. Cour de justice de l’Union européenne, Tizzano/Kokott/Prechal (Organisationsausschuss), 50ème anniversaire de l'arrêt Van Gend en Loos : 1963–2013 : actes du colloque (2013). 27 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1253. 28 EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1991, I-5357. 29 EuGH v. 23.4.1986 – Rs. C-294/83 Les Verts ./. Parlament, Slg. 1986, 1339 u. EuGH v. 22.5.1990 – Rs. C-70/88 Parlament ./. Rat, Slg. 1990, I-2041 – Tschernobyl. 30 EuGH v. 25.7.2002 – Rs. C-50/00 Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677 Rn. 41 und EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-263/02 Jégo-Quéré, Slg. 2004, I-3425 Rn. 31; EuGH v. 10.9.2009 – verb. Rs. C-445/07 P und C-455/07 P Ente per le Ville vesuviane, Slg. 2009, I-7993 Rn. 29. Siehe aber auch EuGH v. 13.3.2007 – Rs. C-432/05 Unibet, Slg. 2007, I-2271 Rn. 42, 64. Diese Zurückhaltung wurde auch in der jüngsten Rechtsprechung im Hinblick auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Nichtigkeitsklage von natürlichen und juristischen Personen in der Neufassung von Art. 263 Abs. 4 AEUV fortgeführt (EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami u.a.). Siehe dazu Stotz, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts (34. EL 2013), P. I. Rn. 135 ff. 31 EuGH v. 20.9.2001 – Rs. C-453/99 Courage u. Crehan, Slg. 2001, I-6297 Rn. 19. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

wettbewerbsbeschränkenden Vertrags ist, berechtigt ist, sich auf die Nichtigkeit dieses Vertrages nach Art. 81 Abs. 2 EG (jetzt Art. 101 Abs. 2 AEUV) zu berufen und Schadensersatz zu verlangen. 16 Dass sich der Gerichtshof der teleologischen Auslegung bedient, lässt sich regelmäßig auch daran erkennen, dass er explizit die Frage nach der „praktischen“ oder „vollen Wirksamkeit“, dem „effet utile“, der zu interpretierenden Bestimmung aufwirft.32 Die Berufung auf das „effet utile“ hat dabei allerdings dieselbe Funktion wie die Ermittlung von „Sinn und Zweck“ („ratio“, „finalité“, „objectif“) einer Regelung.33 Handelt es sich um eine Norm des sekundären Unionsrechts, so greift der Gerichtshof zur 17 Interpretation regelmäßig auf die Begründungserwägungen des Rechtsakts zurück.34 Vielfach stellt dieser notwendige Vorspann zum verfügenden Teil der Regelung (Art. 296 AEUV) die wichtigste Orientierung für deren Zielsetzung und Sinngehalt dar.35 Ein allzu unkritischer Umgang mit den Begründungserwägungen ist jedoch nicht angezeigt. Zu Recht hat der Gerichtshof darauf verwiesen, dass die Begründungserwägungen eines Rechtsakts der Union rechtlich nicht verbindlich sind und weder zur Rechtfertigung einer Abweichung von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsaktes angeführt werden können36 noch zur Auslegung dieser Bestimmungen in einem Sinn, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht, herangezogen werden können.37 Aber selbst dann, wenn kein offensichtlicher Widerspruch zwischen dem Text des Rechtsakts und den Begründungserwägungen vorliegt, ist zu berücksichtigen, dass letztere nach ständiger Rechtsprechung nur die „Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, […] zum Ausdruck bringen“.38 In seiner jüngsten Rechtsprechung stellt der Gerichtshof klar, dass die Begründungserwägungen eines Unionsrechtsakts seinen Inhalt oder sein Ziel präzisieren können.39 Von dieser Entwicklung wird inzwischen auch das Primärrecht erfasst.40 Der Gerichtshof sollte hier allerdings nicht zu unkritisch sein. Gelegentlich erwecken Urteilspassagen

_____ 32 Vgl. EuGH v. 10.9.2013 – Rs. C-383/13 PPU G. u. R., Rn. 36 ff.; oder auch das den Grundsatz der Rechtskraft durchbrechende Urteil v. 18.7.2007 – Rs. C-119/05 Lucchini, Slg. 2007, I-6199 Rn. 61; zur Auslegung nationalen Rechts: EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-530/12 P HABM ./. National Lottery Commission, Rn. 40; gelegentlich ist auch nur von der Wirksamkeit, der „effectivité“, die Rede, vgl. EuGH v. 11.6.2009 – Rs. C-429/07 X BV, Slg. 2009, I-4833 Rn. 36–39. 33 Vgl. Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 251 ff., der im Rahmen seiner Typologie der teleologischen Auslegung in der Rspr. des Gerichtshofs in diesem Zusammenhang von sog. „functional interpretation“ spricht. Siehe auch Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 25. 34 Vgl. EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-524/06 Huber, Slg. 2008, I-9705 Rn. 50; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-228/06 Soysal u.a., Slg. 2009, I-1031 Rn. 53; EuGH v. 20.1.2009 – Rs. C-240/07 Sony Music Entertainment, Slg. 2009, I-263 Rn. 23, 34; EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-222/07 UTECA, Slg. 2009, I-1407 Rn. 23, 28; EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-347/08 Vorarlberger Gebietskrankenkasse, Slg. 2009, I-8661 Rn. 36, 40. 35 S. Köndgen, in diesem Band, § 6 Rn. 48 ff. 36 EuGH v. 19.11.1998 – Rs. C-162/97 Nilsson u.a., Slg. 1998, I-7477 Rn. 54; EuGH v. 12.5.2005 – Rs. C-444/03 Meta Fackler, Slg. 2005, I-3913 Rn. 25. 37 EuGH v. 24.11.2005 – Rs. C-136/04 Deutsches Milch-Kontor, Slg. 2005, I-10095 Rn. 32; EuGH v. 2.4.2009 – Rs. C-134/08 Tyson Parketthandel, Slg. 2009, I-2875 Rn. 16. 38 Dies allerdings so klar und eindeutig, dass die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann, vgl. EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-372/97 Italien./. Kommission, Slg. 2004, I-3679 Rn. 69. 39 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA u. ELFAA, Slg. 2006, I-403 Rn. 76; EuGH v. 22.12.2008 – Rs. C-549/07 Wallentin-Hermann, Slg. 2008, I-11061 Rn. 17; EuGH v. 17.2.2009 – Rs. C-465/07 Elgafaji, Slg. 2009, I-921 Rn. 36 f.; EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07 Sturgeon u.a., Slg. 2009, I-10923 Rn. 42 ff. 40 Im Urteil Åkerberg Fransson (EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10, Rn. 20) werden die Erläuterungen zu Art. 51 der Grundrechtecharta als unterstützendes Argument für die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Anwendungsbereichs der Charta verwendet. Vgl. auch EuGH v. 22.12.2010 – Rs. C-279/09 DEB, Slg. 2010, I-13849 Rn. 32. Die Berücksichtigung der Erläuterungen der Charta für deren Auslegung ist allerdings in Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta vorgegeben/vorgeschrieben.

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§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

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den Eindruck, als stünden Begründungserwägungen und verfügende Bestimmungen eines Rechtsakts auf derselben Stufe. Derartige redaktionelle Ungereimtheiten sind aber bei der Fülle der Verfahren unvermeidbar und auch solange unschädlich, als die Begründungserwägungen nicht qualitativ an die Stelle des Rechtstextes treten.41

2. Unionsrechtstypische Auslegungsregeln Ferner hat die Rechtsprechung die klassischen Auslegungsmethoden ergänzende Auslegungsre- 18 geln entwickelt, die der Besonderheit der Unionsrechtsordnung Rechnung tragen.

a) Autonome und einheitliche Auslegung So verlangen es die einheitliche Anwendung des Unionsrechts und der Gleichheitsgrundsatz, 19 die Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen.42

b) Primärrechtskonforme Auslegung Weiterhin betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass eine Bestimmung des abge- 20 leiteten Unionsrechts möglichst so auszulegen ist, dass sie mit dem Vertrag und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen vereinbar ist.43 Diese primärrechtskonforme Auslegung des Sekundärrechts bildet der Gerichtshof speziell mit Blick auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Grundrechte kontinuierlich fort.44 Das Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Char- 21 ta) ging quantitativ und qualitativ mit einer signifikanten Stärkung der Rechtsprechung in diesem Bereich einher. Zum einen stieg die Anzahl der Rechtssachen, in denen die in der Charta verankerten Rechte und Grundsätze in Bezug genommen wurden, stark an.45 Gerade im Hinblick

_____ 41 Im Urteil Sturgeon (EuGH v. 19.11.2009 – verb. Rs. C-402/07 und C-432/07, Slg. 2009, I-10923 Rn. 43) hat der Gerichtshof u.a. auf eine Begründungserwägung abgestellt, um eine Analogie zwischen der Annullierung und der Verspätung eines Fluges im Hinblick auf den Ausgleichsanspruch der Fluggäste gegen Luftfahrtunternehmen herbeizuführen. 42 EuGH v. 19.9.2000 – Rs. C-287/98 Linster, Slg. 2000, I-6917 Rn. 43; EuGH v. 14.12.2006 – Rs. C-316/05 Nokia, Slg. 2006, I-12083 Rn. 21; EuGH v. 18.10.2011 – Rs. C-34/10 Brüstle, Slg. 2011, I-9821 Rn. 25 f.; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-116/12 Christodoulou u.a., Rn. 34. Zur autonomen Auslegung im Verhältnis zum Völkerrecht vgl. jüngst EuGH v. 30.1.2014 – Rs. C-285/12 Diakite, Rn. 17 ff. S.a. Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 4 ff. 43 EuGH v. 10.7.2008 – Rs. C-413/06 P Bertelsmann u. Sony Corporation of America ./. Impala, Slg. 2008, I-4951 Rn. 174; EuGH v. 19.12.2012 – C-549/11 Orfey Balgaria, Rn. 32. 44 Vgl. EuGH v. 26.6.2007 – Rs. C-305/05 Ordre des barreaux francophones et germanophone u.a., Slg. 2007, I-5305 Rn. 28; EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 68 ff.; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-557/07 LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten, Slg. 2009, I-1227 Rn. 28 f.; EuGH v. 1.3.2011 – Rs. C-236/09 Association belge des Consommateurs Test-Achats u.a., Slg. 2011, I-773 Rn. 30 ff.; EuGH v. 8.12.2011 – Rs. C-371/08 Ziebell (ursprünglich Örnek), Rn. 82; EuGH v. 18.7.2013 – Rs. C-426/11 Alemo-Herron u.a., Rn. 31 ff. Eingehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 7 ff. Vgl. auch Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, Klang-Kommentar zum ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 66 ff. 45 Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon (1.12.2009) hat der Gerichtshof 2180 Rechtssachen entschieden (Stand: 7.5.2014). In 240 Rechtssachen wurde die Charta der Grundrechte zitiert (11%), in 140 Fällen wurden die Aussagen des Gerichtshofs zur Charta in die Leitsätze aufgenommen (6,5%) und in 21 Fällen war die Charta Gegenstand des Tenors der Entscheidung. Stellt man diesen auf viereinhalb Jahre bezogenen Daten die Zahlen für das Jahr 2013 gegenüber – 570 Entscheidungen insgesamt, in 90 wird die Charta erwähnt (16%), in 60 Fällen ist die Charta

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3. Teil: Besonderer Teil

auf die Grundrechtskonformität des sekundären Unionsrechts übt der Gerichtshof eine zunehmend striktere Haltung aus, wie die jüngste Nichtigerklärung der Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten belegt.46

c) Völkerrechtskonforme Auslegung 22 Eine weitere Auslegungsregel, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung betont, ist die

Verpflichtung, das Unionsrecht nach Möglichkeit im Lichte des Völkerrechts auszulegen,47 insbesondere soweit es um die Durchführung der von der Union geschlossenen völkerrechtlichen Verträge geht.48 Gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV binden die von der Union geschlossenen Übereinkünfte die Organe der Union und die Mitgliedstaaten, so dass solche Übereinkünfte gegenüber den Rechtsakten der Union Vorrang genießen.49 Dieser Vorrang auf der Ebene des Unionsrechts erstreckt sich allerdings nicht auf das Primärrecht.50 Die durch einen völkerrechtlichen Vertrag auferlegten Verpflichtungen können nicht die Verfassungsgrundsätze des Unionsrechts, zu denen die Achtung der Menschenrechte zählt, beeinträchtigen.51

d) Rechtsvergleichende Auslegung 23 In der Praxis eine bedeutende Rolle spielt die rechtsvergleichende Auslegung. Sie ist im Vertrag

selbst angelegt. Explizit bestimmt sich seit jeher die außervertragliche Haftung der Union nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind, Art. 340 AEUV iVm Art. 268 AEUV. Über diese spezifische Verpflichtung hinaus hat der Gerichtshof bereits in den fünfziger Jahren aus seinem generellen Rechtsprechungsauftrag (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) die Pflicht abgeleitet, „Fragen, für deren Lösung der Vertrag keine Vorschriften enthält, von sich aus unter Berücksichtigung der in Gesetzgebung, Lehre und Rechtsprechung der Mitgliedstaaten anerkannten Regeln zu entscheiden, wenn er sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetzen will.“52 Mittlerweile ist ein Großteil die nach dieser Methode entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte Bestandteil der Charta der Grundrechte. Seit deren Inkrafttreten stützt sich der Gerichtshof bei der Interpretation der dort genannten Rechte und Grundsätze nicht mehr auf die auch weiterhin in Art. 6 Abs. 3 EUV angeführten Rechtsquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungslieferungen der Mit-

_____ Gegenstand eines Leitsatzes (11 %) und in 9 Fällen ist die Charta Gegenstand des Tenors (1,5%) –, so wird die wachsende Bedeutung der Charta in der Rechtsprechung sichtbar. 46 EuGH v. 8.3.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland u.a. 47 Vgl. EuGH v. 24.11.1992 – Rs. C-286/90 Poulsen u. Diva Navigation, Slg. 1992, I-6019 Rn. 13–15; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, Slg. 2009, I-6569 Rn. 32; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-537/11 Manzi u. Compagnia Naviera Orchestra, Rn. 45 ff. Eingehend zur völkerrechtskonformen Auslegung Lenaerts/Gutiérrez-Fons, To Say What the Law of the EU Is, EUI Working Papers AEL 2013/9, S. 29 ff.; Simon, in: Kronenberger/D’Allesio/Placco (Hrsg.), De Rome à Lisbonne: les juridictions de l’Union européenne à la croisée des chemins (2013), S. 279 ff. 48 Vgl. EuGH v. 16.6.1998 – Rs. C-162/96 Racke, Slg. 1998, I-3655 Rn. 45; EuGH v. 14.12.2000 – verb. Rs. C-300/98 und C-392/98 Dior u.a., Slg. 2000, I-11307 Rn. 47, 49; EuGH v. 7.12.2006 – Rs. C-306/05 SGAE, Slg. 2006, I-11519 Rn. 35 mwN; EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 60; EuGH v. 3.6.2008 – Rs. C-308/06 Intertanko u.a., Slg. 2008, I-4057 Rn. 42, 49 ff.; EuGH v. 6.5.2010 – Rs. C-63/09 Walz, Slg. 2010, I-4239 Rn. 20 ff.; EuGH v. 8.3.2011 – Rs. C-240/09 Lesoochranárske zoskupenie, Slg. 2011, I-1255 Rn. 30 f., 50 f.; EuGH v.11.4.2013 – verb. Rs. C-335/11 und C-337/11 HK Danmark, Rn. 29. 49 Vgl. EuGH v. 21.12.2011 – Rs. C-366/10 Air Transport Association of America u.a., Slg. 2011, I-13755 Rn. 50; EuGH v. 11.4.2013 – verb. Rs. C-335/11 und C-337/11 HK Danmark, Rn. 28. 50 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 Rn. 308. 51 EuGH v. 3.9.2008 – verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P Kadi u.a., Slg. 2008, I-6351 Rn. 285. 52 EuGH v. 12.7.1957 – Rs. 7/56 und 3/57 bis 7/57 Algera u.a. ./. Gemeinsame Versammlung, Slg. 1957, 81, 118. Stotz

§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

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gliedstaaten,53 sondern legt unmittelbar die Chartabestimmungen aus, was zu einer substantiellen „Verdichtung“ des Grundrechtsschutzes geführt hat.54 Soweit der Gerichtshof über diese Kodifizierung hinaus aufgerufen ist, sich zu Bestehen und Reichweite allgemeiner Rechtsgrundsätze zu äußern, hat er im Fall Audiolux generell präzisiert,55 dass allgemeine Rechtsgrundsätze Verfassungsrang haben. Regelungen, die sehr spezifische Fallkonstellationen betreffen und eine detaillierte gesetzgeberische Ausarbeitung erfordern, sind dem abgeleiteten Unionsrecht zuzurechnen.56 Ihnen fehlt der allgemeine übergreifende Charakter, der allgemeinen Rechtsgrundsätzen naturgemäß innewohnt.57 Methodisch hebt der Gerichtshof seit Beginn seiner Grundrechts-Rechtsprechung hervor, dass „die Gewährleistung dieser Rechte zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein [muss]“, dass sie sich aber auch „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen [muss].“58 Dieser Ansatz zeichnet einen zweistufigen Prozess bei der Ermittlung von Bestehen und Bedeutungsgehalt allgemeiner Rechtsgrundsätze vor: Zunächst erfolgt die Bestandsaufnahme der nationalen Rechtsordnungen, danach die Wertung im Lichte von Struktur und Zielen der Union. Dieser Linie folgend hat der Gerichtshof in jüngerer Zeit einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt.59 Ein solcher Anspruch, „wie er in den meisten Mitgliedstaaten vorgesehen ist“, setze nicht voraus, „dass das Verhalten des Beklagten rechtswidrig oder schuldhaft war.“ Ferner müsse der Bereicherung jede wirksame Rechtsgrundlage, etwa in Form vertraglicher Verpflichtungen, fehlen.60 Da unter diesen Umständen die ungerechtfertigte Bereicherung „ein den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsames außervertragliches Schuldverhältnis begründet, kann sich die Gemeinschaft der Anwendung dieser Grundsätze auf sie selbst nicht entziehen, wenn ihr eine natürliche oder juristische Person zur Last legt, sie habe sich zu deren Lasten ungerechtfertigt bereichert.“61 Die Rechtsvergleichung dient also der Kohärenz zwischen europäischen und nationalen Regelungsmodellen. Umstritten ist, ob es der wertende Vergleich auch erlaubt, allgemeine Rechtsgrundsätze anzuerkennen, wenn diese nur in einer Minderheit mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen verankert sind. Generalanwalt Poiares Maduro sah in dem Umstand, dass nur das spanische und französische Recht eine Haftung der öffentlichen Hand für einen rechtmäßigen Gesetzgebungsakt vor-

_____ 53 Vgl. Skouris, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde (2013), S. 83, 89 f.; Lenaerts/Gutiérrez-Fons, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights: A Commentary (2014), S. 1559, 1592; Berger, ÖJZ 2012, 205, 211; Rosas/Kaila, Il Diritto dell’Unione Europea 2011, 12; von Danwitz/Paraschas, Fordham Int’l LJ 2012, 1396, 1423 f.; Kokott/Sobotta, The Charter of Fundamental Rights of the European Union after Lisbon, EUI Working Papers AEL 2010/6, S. 4; Safjan, Areas of Application of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, EUI Working Papers LAW 2012/22, S. 13 f. 54 Vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 957 (Rn. 69 ff.): Die „Verdichtung“ des Grundrechtsschutzes folgt aus dem Umstand, dass die Charta nicht nur Grundrechte und Grundsätze (Art. 52 Abs. 4 u. 5) enthält, die partiell einen weitergehenden Schutz als die EMRK gewähren (Art. 52. Abs. 1), sondern auch eine eigene Schrankensystematik (Art. 52 Abs. 2), die der Gerichtshof im Hinblick auf jedes Grundrecht konkret und konsequent durchprüft, vgl. zuletzt EuGH v. 8.3.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland u.a., Rn. 38–69 (Vorratsdatenspeicherung). 55 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823. 56 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823 Rn. 62, 63. 57 EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-101/08 Audiolux u.a., Slg. 2009, I-9823 Rn. 42, 63. 58 EuGH v. 17.12.1970 – Rs. 11/70 Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125 Rn. 4. 59 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P Masdar (UK), Slg. 2008, I-9761. 60 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P Masdar (UK), Slg. 2008, I-9761 Rn. 46. 61 EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-47/07 P Masdar (UK), Slg. 2008, I-9761 Rn. 47. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

sehen, kein Hindernis für die Anerkennung eines solchen Grundsatzes im Unionsrecht.62 Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt und hat festgestellt, dass er zwar aufgrund der vergleichenden Prüfung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sehr früh eine Übereinstimmung dieser Rechtsordnungen hinsichtlich der Anerkennung eines Grundsatzes der Haftung für rechtswidriges Handeln oder Unterlassen der öffentlichen Gewalt, einschließlich normativer Art, getroffen habe, „dass dies aber keineswegs auch in Bezug auf das eventuelle Bestehen eines Grundsatzes der Haftung für rechtmäßiges Handeln oder Unterlassen der öffentlichen Gewalt, insbesondere wenn es normativer Art ist, gilt.“63 Generalanwältin Kokott hält dennoch prinzipiell daran fest, dass auch ein Rechtsgrundsatz, der nur in einer Minderheit der nationalen Rechtsordnungen bekannt oder gar fest verankert ist, von den Unionsgerichten als Bestandteil der Unionsrechtsordnung identifiziert werden kann.64 Soweit ersichtlich ist der Gerichtshof jedoch weiterhin nicht bereit, das Ergebnis der Bestandsaufnahme der nationalen Rechtsordnungen über eine derart weitreichende Wertung zu korrigieren.65 In seinem Urteil Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals ./. Kommission aus dem Jahre 201066 hat er darauf hingewiesen, dass sich die Rechtslage in den Mitgliedstaaten der Union in den Jahren seit der Verkündung des Urteils AM & S Europe ./. Kommission aus dem Jahre 198267 nicht in einem Maße entwickelt hat, das es rechtfertigen würde, Syndikusanwälten den Schutz der Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant zuzuerkennen. In Bezug auf die Rechtsordnungen der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (2010) könne „keine überwiegende Tendenz“ zugunsten des Schutzes der Vertraulichkeit der unternehmens- oder konzerninternen Kommunikation mit Syndikusanwälten festgestellt werden.68 Fehlt eine solche Tendenz, kommt die Anerkennung eines allgemeinen aus den nationalen Rechtsordnungen abgeleiteten Rechtsgrundsatzes demnach faktisch nicht in Betracht. Dies schließt nicht aus, dass allgemeine Rechtsgrundsätze darüber hinaus ihren Geltungs28 grund unmittelbar in den Grundrechten bzw. einer grundrechtskonformen Auslegung des Sekundärrechts finden können. In der Rechtssache Google Spain und Google ging es um die Frage, ob eine betroffene Person von einem Suchmaschinenbetreiber verlangen kann, von der Ergebnisliste, die im Anschluss an eine anhand ihres Namens durchgeführte Suche angezeigt wird, Links zu von Dritten rechtmäßig veröffentlichten Internetseiten mit wahrheitsgemäßen Informationen über sie zu entfernen, weil diese Informationen ihr schaden können oder weil sie möchte, dass sie nach einer gewissen Zeit „vergessen“ werden. Im Hinblick auf den Vortrag der Kläger des Ausgangsverfahrens, ihnen stehe ein „Recht auf Vergessenwerden“ zu,69 erwähnt Generalanwalt Jääskinen kurz die Rechtslage in „einigen Mitgliedstaaten“, die jedoch offensichtlich mehrheitlich kein derartiges Recht wiederspiegelt.70 Er lehnt deshalb die Existenz eines solchen Rechts auf Unionsebene ab. Der Gerichtshof geht darauf nicht gesondert ein, sondern beschränkt sich von vornherein auf die Auslegung der Richtlinie im Lichte der Grundrechte auf Achtung des Privatlebens (Art. 7 GRCh) und auf Schutz der personenbezogenen Daten (Art. 8 GRCh). Danach überwiegen die Rechte Einzelner auf Nichtverbreitung sie betreffender Informationen grundsätzlich nicht nur gegenüber dem wirtschaftlichen Interesse des Suchmaschinenbe-

_____ 62 SchlA v. 20.2.2008 – verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P FIAMM u.a., Slg. 2008, I-6513 Rn. 55–57, 62, 63. 63 EuGH v. 9.9.2008 – verb. Rs. C-120/06 P und C-121/06 P FIAMM u.a., Slg. 2008, I-6513 Rn. 175. 64 SchlA v. 29.4.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, Slg. I-2010, I-6513 Tz. 95. 65 Die von GA Kokott als Beleg für ihre These angeführte Rechtsprechung relativiert sie selbst, vgl. SchlA v. 29.4.2010 – Rs. C-550/07 Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, Slg. I-2010, I-6513 Tz. 96. 66 EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 P Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, Slg. 2010, I-8301 Rn. 76. 67 EuGH v. 18.5.1982 – Rs. 155/79 AM & S Europe, Slg. 1982, 1575 Rn. 19 ff. 68 EuGH v. 14.9.2010 – Rs. C-550/07 P Akzo Nobel Chemicals u. Akcros Chemicals, Slg. 2010, I-8301 Rn. 74. 69 EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 Google Spain und Google, Rn. 91. 70 SchlA v. 25.6.2013 – Rs. C-131/12 Google Spain und Google, Fn. 67. Stotz

§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

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treibers, sondern auch gegenüber dem Interesse der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu der Information.71 Nicht ein rechtsvergleichender Befund, sondern die grundrechtskonforme Auslegung entsprechender Richtlinienbestimmungen hat hier faktisch den Weg zur Anerkennung eines allgemeinen Rechts auf Vergessenwerden geebnet. Jenseits der Ermittlung des Bestehens und der Reichweite allgemeiner Rechtsgrundsätze 29 erweist sich die Rechtsvergleichung in der Praxis des Gerichtshofs darüber hinaus als unverzichtbare Erkenntnisquelle für die Auslegung des primären und sekundären Unionsrechts. Auch hier steht der Gedanke der Kohärenz europäischer und nationaler Regelungsmodelle im Vordergrund (oben Rn. 25). Am häufigsten nutzt der Gerichtshof rechtsvergleichende Erkenntnisse in Fällen, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten Spielräume im Rahmen der Einschränkung von Grundfreiheiten oder der Umsetzung von Richtlinien einräumt.72 Es geht dann darum, den Umfang dieser Spielräume zu bestimmen. Da hier regelmäßig die Rechtmäßigkeit von Handlungen einzelner Mitgliedstaaten zur Diskussion steht, kann für den Gerichtshof ein Blick auf Rechtslage und -praxis in anderen Mitgliedstaaten hilfreich sein. In welchen Fällen er auf solche Erkenntnisse zurückgreift, belegen vor allem die Schlussanträge der Generalanwälte. Die Urteile selbst sind dazu weniger ergiebig. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der Gerichtshof im Zuge der gerichtsinternen Bearbeitung der Fälle sehr viel häufiger rechtsvergleichende Überlegungen anstellt, als sich dies in Schlussanträgen oder Urteilen widerspiegelt. Zu den Fällen aus jüngerer Zeit, in denen die Rechtsvergleichung im Rahmen der Einschrän- 30 kung der Grundfreiheiten eine Rolle gespielt hat, zählen die Vertragsverletzungsverfahren Kommission ./. Polen73 und Kommission ./. Litauen,74 in denen es um die in beiden Staaten bestehende Verpflichtung ging, für die Zulassung von Personenkraftwagen eine ggf. auf der rechten Seite befindliche Lenkanlage auf die linke Seite zu versetzen. Nachdem bereits Generalanwalt Jääskinen unter Hinweis auf die Rechtslage in anderen Mitgliedstaaten festgestellt hatte, dass die beklagten Staaten mit dieser Regelung relativ isoliert seien und es gemäßigtere Ansätze gebe, um die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten,75 stellte der Gerichtshof fest, nach den ihm zur Verfügung stehenden Informationen erlaubten die Regelungen von 22 Mitgliedstaaten, d.h. der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten, entweder ausdrücklich die Zulassung von Fahrzeugen, deren Fahrerplatz sich auf derselben Seite wie die Verkehrsrichtung befindet, oder tolerierten sie, auch wenn in bestimmten dieser Mitgliedstaaten der Zustand des Straßennetzes mit dem in der Republik Polen vergleichbar sei.76 Zusammen mit anderen Erwägungen qualifizierte er deshalb die streitigen Regelungen als unverhältnismäßig und damit als einen Verstoß gegen Art. 34 AEUV sowie die entsprechenden EU-Richtlinien.77 Zu erwähnen ist schließlich der große Bereich der Richtlinien, in dem der Gerichtshof immer 31 wieder mit Rechtsfragen konfrontiert wird, bei deren Beantwortung die rechtsvergleichende Perspektive hilfreich ist. So stellte sich in der Rechtssache Chatzi78 die Frage, ob die Rahmenvereinbarung über Elternurlaub im Anhang der Richtlinie 96/75/EG dahin auszulegen ist, dass bei der

_____ 71 EuGH v. 13.5.2014 – Rs. C-131/12 Google Spain und Google, Rn. 99. 72 Eine systematische Auswertung der Rechtsprechung kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Zu einer Typologie rechtsvergleichender Ansätze in der Rechtsprechung vgl. Lenaerts, in: Van der Mensbrugghe (Hrsg.), L’utilisation de la méthode comparative en droit européen (2003), S. 111, 113 ff. 73 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen. 74 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen. 75 Verb. SchlA v. 7.11.2013 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen und Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, Tz. 93–96. 76 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen, Rn. 61 bzw. EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, Rn. 66. 77 EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11 Kommission ./. Polen, Rn. 64 bzw. EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, Rn. 69. 78 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, Slg. 2010, I-8489. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

Geburt von Zwillingen der im nationalen Recht vorgesehene Elternurlaub zu verdoppeln ist. Der Gerichtshof verneinte dies unter Hinweis darauf, dass es sich bei den Bestimmungen der Rahmenvereinbarung um Mindestanforderungen handelt, bei denen die Mitgliedstaaten ein weites Ermessen bei der Durchführung des Elternurlaubs haben, und sich die nationalen Umsetzungsmaßnahmen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat erheblich unterscheiden.79 Eine Verdopplung der Dauer des Elternurlaubs stelle nicht unbedingt die einzige geeignete Maßnahme dar, die die Mitgliedstaaten ergreifen könnten, um Eltern von Zwillingen die Abstimmung zwischen Familien- und Berufsleben zu erleichtern; vielmehr müsse das gesamte System betrachtet werden, zu dem die Maßnahmen gehörten, mit denen den Belastungen, denen sich diese Eltern gegenübersehen, begegnet werden solle.80 Wie bereits erwähnt (oben Rn. 28), lässt sich aus einem Rechtsvergleich nicht immer eine von der Mehrheit der Mitgliedstaaten getragene Rechtslage oder -praxis ableiten.81 Das mindert aber nicht deren Erkenntniswert, sondern verstärkt vielmehr die Bedeutung der vor allem an den Zielen der Regelung orientierten Auslegung.

III. Auslegung des nationalen Rechts 1. Vertragsverletzungsverfahren 32 Die Verträge beschränken die Rolle des Gerichtshofs nicht auf die Auslegung des Unionsrechts,

sondern erkennen ihm in bestimmten Fallkonstellationen unmittelbar die Aufgabe zu, auch nationales Recht auszulegen bzw. anzuwenden. Der bekannteste Fall ist die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV,82 bei der der Gerichtshof in einem streitigen Verfahren über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht befindet.83 Die Aufgabe, den Sinngehalt des nationalen Rechts zu ermitteln, wird ihm dadurch erleichtert, dass der betroffene Mitgliedstaat an dem Verfahren als Partei beteiligt ist und seine streitige Regelung erläutern und rechtfertigen kann und dass es letztlich der Kommission obliegt, den Beweis der Unionsrechtswidrigkeit zu erbringen. Unklarheiten des nationalen Rechts gehen allerdings zu Lasten des Mitgliedstaats. Der Gerichtshof kehrt in diesen Fällen die Beweislast um.84

2. Schiedsverfahren 33 Wesentlich größere Probleme stellen sich in dem – allerdings seltenen – Fall, dass die Zustän-

digkeit des Gerichtshofs auf der Schiedsklausel eines privatrechtlichen Vertrags zwischen der Kommission und einem Unternehmen nach Art. 272 AEUV beruht, in dem die Geltung nationalen Rechts vereinbart ist und der Gerichtshof die Vertragsklauseln im Lichte des nationalen Rechts auslegen muss. Von der Kommission, die in diesem Verfahren als Partei auftritt, kann der Gerichtshof insoweit keine „neutrale“ Stellungnahme wie üblicherweise in den Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV erwarten. Der Mitgliedstaat wiederum, dessen Recht dem

_____ 79 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, Slg. 2010, I-8489 Rn. 60. Vgl. GA Kokott, Stellungnahme v. 7.7.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, Slg. 2010, I-8489 Tz. 54 mit näheren Angaben zur Rechtslage in den Mitgliedstaaten. 80 EuGH v. 16.9.2010 – Rs. C-149/10 Chatzi, Slg. 2010, I-8489 Rn. 59. 81 Vgl. auch GA Bot, SchlA v. 10.3.2011 – Rs C-34/10 Brüstle, Slg. 2011, I-9825 Tz. 66 ff. zur Auslegung des Begriffs des menschlichen Embryos. 82 Entsprechendes gilt für die Staatenklage nach Art. 259 AEUV. 83 Vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 993 ff. (Rn. 73 ff.). 84 Vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 1003 f. (Rn. 92). Stotz

§ 22 Die Rechtsprechung des EuGH

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Vertrag zugrunde liegt, tritt dem Rechtsstreit in aller Regel nicht bei. Der Gerichtshof ist deshalb in der Situation eines jeden nationalen Richters, der in einem Fall mit Auslandsberührung nach den Regeln des Internationalen Privatrechts ausländisches Recht anwenden muss und dabei naturgemäß größeren Risiken der Fehlinterpretation ausgesetzt ist als bei der Auslegung des ihm vertrauten Rechts.85 Gegenstand einer Rechtssache aus jüngerer Zeit war etwa die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Anwendung nationalen Rechts, das das Gericht aufgrund einer entsprechenden Rechtswahl der Parteien im erstinstanzlichen Verfahren angewandt hat, einer Überprüfung durch den Gerichtshof im Rechtsmittel zugänglich ist.86

3. Unionsrechtlicher Verweis auf nationales Recht Gelegentlich verweist das Unionsrecht auch auf das nationale Recht. Eine interessante Entwick- 34 lung hinsichtlich der Zuständigkeit der Unionsgerichte zur Auslegung nationaler Rechtsvorschriften ist in den letzten Jahren auf dem Gebiet des Markenrechts zu verzeichnen. Im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens betreffend einen Antrag auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke aufgrund eines nach nationalem Recht geschützten älteren Namensrechts bestätigte der Gerichtshof die Zuständigkeit des Gerichts, die Rechtmäßigkeit der vom HABM vorgenommenen Beurteilung der angeführten nationalen Rechtsvorschriften zu überprüfen.87 Zugleich stellte der EuGH fest, er sei zuständig zu prüfen, ob das Gericht auf der Grundlage der ihm vorgelegten Unterlagen den Wortlaut der fraglichen nationalen Vorschriften oder der sich auf sie beziehenden nationalen Rechtsprechung und juristischen Literatur nicht verfälscht hat und ob es keine Feststellungen getroffen hat, die dem Inhalt oder der Tragweite der in Frage stehenden nationalen Rechtsnormen offensichtlich zuwiderlaufen.87a In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage, ob das Gericht von Amts wegen den Inhalt nationalen Rechts ermitteln darf, das von der Partei geltend gemacht wird, welche die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke wegen eines älteren Rechts, das von diesem nationalen Recht geschützt wird, beantragt.88 Die jüngste Rechtsprechung hat diese Frage unter Hinweis auf die praktische Wirksamkeit der Gemeinschaftsmarkenverordnung und auf den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bejaht.89

4. Unionsrechtskonforme Auslegung Soweit der Gerichtshof – wie im Regelfall – nicht selbst nationales Recht auslegt, erinnert er den 35 nationalen Richter an dessen Verpflichtung, sein nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen. Diese Verpflichtung kommt zum Tragen, um einen Konflikt zwischen unionsrechtlicher und nationaler Rechtsordnung im Wege der Auslegung zu verhindern. Ihren Ursprung hat sie in dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz, eine Vorschrift nach Möglichkeit so

_____ 85 Vgl. EuGH Urteil v. 17.2.2000 – Rs. C-156/97 Kommission ./. Van Balkom, Slg. 2000, I-1095 Rn. 10, 33, 42, 46. 86 Siehe GA Kokott, SchlA v. 27.2.2014 – Rs. C-531/12 P Commune de Millau u. SEMEA, Tz. 71 ff.: die GA schlägt vor, die bisherige Rechtsprechungslinie zu überdenken und die in der Rs. Edwin ./. HABM für das Markenrecht entwickelte Lösung (siehe folgende Rn.) auf das Rechtsmittelverfahren in Schiedsklauselfällen zu übertragen. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil v. 19.6.2014 zu der Frage allerdings nicht Stellung bezogen. 87 EuGH v. 5.7.2011 – Rs. C-263/09 P Edwin ./. HABM, Slg. 2011, I-5853 Rn. 52. Vgl. auch Idot, Europe 2011 Nr. 8–9, 39 f.; Lerach, E.L.Rep. 2011, 220 ff.; Trézéguet, RLDI 2011, 40 f. 87a EuGH v. 5.7.2011 – Rs. C-263/09 P Edwin ./. HABM, Slg. 2011, I-5853 Rn. 53. Siehe ausführlich dazu GA Kokott, SchlA v. 27.1.2011 – Rs. C-263/09 P Edwin ./. HABM, Tz. 49 ff. 88 Bejahend GA Bot, SchlA v. 28.11.2013 – Rs. C-530/12 P HABM ./. National Lottery Commission, Tz. 86 ff. 89 EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-530/12 P HABM ./. National Lottery Commission, Rn. 39 ff. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

auszulegen, dass ihre Gültigkeit nicht infrage steht.90 Diese Regel, als verfassungskonforme Auslegung aus dem innerstaatlichen Bereich bekannt und ebenso im Verhältnis des sekundären zum primären Unionsrecht anwendbar (oben Rn. 20), liegt auch der Rechtsprechung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts zugrunde.91 Den nationalen Gerichten obliegt es dabei, „das innerstaatliche Gesetz unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen ihr nationales Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden.“92 Zu den Prüfungsparametern zählen auch die in der Charta enthaltenen Grundrechte und allgemeinen Grundsätze.93 Gelingt die konforme Auslegung nicht, wird der Konflikt im Falle unmittelbar wirksamen Unionsrechts durch die Vorrangregel entschieden, d.h. die Gerichte dürfen entgegenstehende innerstaatliche Vorschriften nicht anwenden.94 Aber auch dort, wo die Vorrangregel nicht greift, verpflichtet der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte zu unionsrechtskonformer Auslegung. Relevant wird dies bei Richtlinienbestimmungen, bei denen entweder nicht alle Vorausset36 zungen für eine unmittelbare Wirksamkeit – inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt – vorliegen oder die zwar diese Voraussetzungen erfüllen, eine unmittelbare Wirkung aber dennoch nicht in Betracht kommt, weil die entsprechende Richtlinienbestimmung in einem Rechtsstreit, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, unmittelbar zur Anwendung kommen soll, was der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zu Recht ablehnt.95 Im Fall Pfeiffer hat der Gerichtshof die mitgliedstaatlichen Gerichte noch einmal eindringlich daran erinnert, alle im nationalen Recht vorhandenen Auslegungsmethoden zu nutzen, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen: „Ermöglicht es das nationale Recht durch die Anwendung seiner Auslegungsmethoden, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist, so ist das nationale Gericht verpflichtet, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.“96

_____ 90 EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-403/99 Italien ./. Kommission, Slg. 2001, I-6883 Rn. 37. 91 Seit EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891; vgl. EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 ff.; EuGH v. 5.7.2007 – Rs.C-321/05 Kofoed, Slg. 2007, I-5795 Rn. 45; EuGH v. 11.4.2013 – Rs. C-138/12 „Rusedespred“, Rn. 37. Eingehend zur unionsrechtskonformen Auslegung auch Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 136 ff.; Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 38 ff.; W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 92 Vgl. EuGH v. 18.3.2004 – Rs. C-8/02 Leichtle, Slg. 2004, I-2641 Rn. 58; EuGH v. 16.10.2010 – Rs. C-239/09 Seydaland Vereinigte Agrarbetriebe, Slg. 2010, I-13083 Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung; EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-84/12 Koushkaki, Rn. 76; Fenyves/Kerschner/Vonkilch-Rebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 145. 93 So EuGH v. 21.12.2011 – verb. Rs. C-411/10 und C-493/10 NS, Slg. 2011, I-13905 Rn. 77, zur primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. 94 Vgl. EuGH v. 4.2.1988 – Rs. 157/86 Murphy u.a., Slg. 1988, 673 Rn. 11; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-262/97 Engelbrecht, Slg. 2000, I-7321 Rn. 38 ff.; EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 ČEZ, Slg. 2009, I-10265 Rn. 138; EuGH v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 und C-189/10 Melki u. Abdeli, Slg. 2010, I-5667 Rn. 44–47, 50–57; EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-595/12 Napoli, Rn. 50. 95 Vgl. EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 24 f.; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rn. 59. Siehe aber auch EuGH v. 19.1.2010 – Rs. C-555/07 Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Rn. 48 ff. 96 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 116; ebenso EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rn. 64. Aus jüngster Zeit vgl. EuGH v. 10.10.2013 – Rs. C-306/12 Spedition Welter, Rn. 28 ff.; EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-565/12 LCL Le Crédit Lyonnais, Rn. 54. Stotz

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Auch wenn das Erfordernis der richtlinienkonformen Auslegung nicht so weit reichen kann, dass eine Richtlinie selbst und unabhängig von einem nationalen Umsetzungsakt Einzelnen Verpflichtungen auferlegt oder die strafrechtliche Verantwortlichkeit der ihren Bestimmungen Zuwiderhandelnden bestimmt oder verschärft,97 so ist doch anerkannt, dass der Staat grundsätzlich Einzelnen eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts entgegenhalten kann.98 Der Bundesgerichtshof hat aus dieser Rechtsprechung gefolgert, dass der Grundsatz der 37 richtlinienkonformen Auslegung von den nationalen Gerichten über eine Gesetzesauslegung im engeren Sinne hinaus auch verlangt, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden.99 Eine solche Rechtsfortbildung im Wege einer teleologischen Reduktion setze eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus. Diese könne sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung ausdrücklich seine Absicht bekundet habe, eine richtlinienkonforme Regelung zu schaffen, diese Annahme aber fehlerhaft sei. Ob das Gebot einer richtlinienkonformen Rechtsfortbildung als zwingendes Postulat aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs abgeleitet werden kann, erscheint eher zweifelhaft.100 Der Gerichtshof hat nämlich unzweideutig klargestellt, dass eine richtlinienkonforme Aus- 38 legung contra legem von den nationalen Gerichten nicht gefordert wird: „Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird … durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt; auch darf sie nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.“101

Abgesehen davon, dass eine contra legem-Auslegung wohl in allen mitgliedstaatlichen Rechts- 39 ordnungen in höchstem Maße problematisch, wenn nicht gar generell unzulässig sein dürfte, hat die deutsche Rechtsprechung, soweit ersichtlich, diesen Schritt im Hinblick auf die unionsrechtliche Problematik niemals explizit vollzogen.102 So hat denn auch das Arbeitsgericht Lör-

_____ 97 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969 Rn. 9 u. 13; EuGH v. 26.9.1996 – Rs. C-168/95 Arcaro, Slg. 1996, I-4705 Rn. 36 f. 98 EuGH v. 5.7.2007 – Rs. C-321/05 Kofoed, Slg. 2007, I-5795 Rn. 45. 99 BGHZ 179, 27 – Quelle, ergangen auf Vorabentscheidung des Gerichtshofs, EuGH v. 17.4.2008 – C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685, dazu Möllers/Möhring, JZ 2008, 942. Der BGH-Entscheidung zust. Pfeiffer, NJW 2009, 412; Möllers, JZ 2009, 405, abl. Höpfner, JZ 2009, 403. Siehe auch BGH, RRa 2013, 47, zur richtlinienkonformen Auslegung im Pauschalreiserecht („mustergültig“ nach Staudinger, RRa 2012, 106) sowie BGH, DAR 2012, 206, mit Bestätigung der Quelle-Rspr. zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung im Verbrauchsgüterkaufrecht (dazu Staudinger, DAR 2012, 228), auch ergangen auf Vorabentscheidung des Gerichtshofs, EuGH v. 16.6.2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Gebr. Weber u. Putz, Slg. 2011, I-5257. Eingehend zur richtlinienkonformen Rechtsfortbildung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 48 ff. 100 Zu aktuellen Fallbeispielen der Rechtsfortbildung durch den EuGH vgl. Toader, in: Verschraegen (Hrsg.), Interdisziplinäre Studien zur Komparatistik und zum Kollisionsrecht, Bd III (2012), S. 25 ff. 101 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110; vgl. auch EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06 Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 100; EuGH v. 12.6.2008 – Rs. C-364/07 Vassilakis u.a., Slg. 2008, I-90 Rn. 58; EuGH v. 23.4.2009 – verb. Rs. C-378/07 bis C-380/07 Angelidaki u.a., Slg. 2009, I-3071 Rn. 199; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-12/08 Mono Car Styling, Slg. 2009, I-6653 Rn. 61; zuvor bereits zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 45. Aus jüngster Zeit vgl. EuGH v. 15.1.2014 – Rs. C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 39; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 45; EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler u. Káslerné Rábai, Rn. 65. 102 Im Unterschied zu Teilen der Literatur, vgl. Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 ff.; ebenso W.-H. Roth/ Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 60 ff. Stotz

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rach in einem der Schlussurteile auf die Rechtssachen Pfeiffer u.a. eine richtlinienkonforme contra legem-Auslegung im Anschluss an das Bundesarbeitsgericht103 zu Recht abgelehnt.104 Sicherlich dürfte die Grenze zwischen der vom BGH geforderten richtlinienkonformen 40 Rechtsfortbildung, die er eindeutig jenseits des Wortlauts der fraglichen nationalen Regelung verortet, und einer als contra legem zu qualifizierenden Auslegung nicht einfach zu ziehen sein. Die Berufung auf den Willen des Gesetzgebers führt dabei nicht notwendigerweise zu größerer Erkenntnis. Realistischerweise wird ein Mitgliedstaat nicht eingestehen, Richtlinienvorgaben bewusst fehlerhaft umzusetzen, da er sich mit diesem Eingeständnis einer sicheren Verurteilung durch den Gerichtshof und dem unmittelbaren Risiko nachfolgender Sanktionen (Art. 260 AEUV) sowie von Staatshaftungsansprüchen aussetzt.105 Hält ein Mitgliedstaat eine Richtlinienbestimmung für primärrechtswidrig, muss er von sich aus innerhalb bestimmter Fristen den Gerichtshof im Wege der Nichtigkeitsklage anrufen und die Aufhebung der Bestimmung beantragen. An seiner unbedingten Verpflichtung, die aus seiner Sicht fehlerhafte Bestimmung in nationales Recht umzusetzen, ändert dies nichts. Zumindest in der jüngeren deutschen Umsetzungspraxis dürften Fälle des bewussten und offenen Abweichens von Richtlinienbestimmungen nicht mehr anzutreffen sein.106 Der Wille des deutschen Gesetzgebers, Richtlinien vollständig und korrekt umzusetzen, kann also generell unterstellt werden und wird zudem in jedem Umsetzungsgesetz ausdrücklich hervorgehoben. 41 Faktisch läuft die Rechtsauffassung des BGH darauf hinaus, richtlinienwidrige Bestimmungen eines Umsetzungsgesetzes unter Berufung auf den generellen gesetzgeberischen Willen sowie auf Rechtsfiguren wie die der „planwidrigen Unvollständigkeit“ bzw. der „verdeckten Regelungslücke“107 teleologisch zu reduzieren und damit richtlinienkonform fortzubilden. Ob dies rechtsdogmatisch bereits hinreichend ausgeleuchtet ist und von anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes nachvollzogen wird, bleibt abzuwarten. Es handelt sich jedenfalls um eine Frage des deutschen Rechts, bei der die vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil zum Ausdruck gebrachten Reserven gegenüber einer extensiven Auslegung des Unionsrechts108 nicht greifen. Rechtspolitisch ist diese Rechtsprechung zweifellos insoweit zu begrüßen, als sie den Gesetzgeber nicht dem Risiko von Staatshaftungsansprüchen109 aussetzt, sondern den Gerichten die Aufgabe zuweist, Defizite der Umsetzungsgesetzgebung im Wege der Auslegung zu korrigieren. 42 Neben der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung hat seit dem Urteil Wachauf aus dem Jahre 1989110 die EU-grundrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts stark an Bedeutung

_____ 103 BAG, AP Nr. 14 zu § 17 KSchG 1969, sub B.III.4. mwN. 104 ArbG Lörrach, BeckRS 2005, 41791, sub II.3. 105 Der Staatssekretärausschuss für Europafragen der Bundesregierung hat deshalb strikte Regeln zur rechtzeitigen Umsetzung von EU-Richtlinien sowie zur Abstellung von Vertragsverstößen sowie zur Abwendung drohender Sanktionen erlassen. Zur Staatshaftung als einer mittelbaren unionsrechtlichen Kontrolle der nationalen Gesetze vgl. Stotz/Škvařilová-Pelzl, in: Kluth/Krings (Hrsg.), Gesetzgebung (2014), S. 993 ff. (Rn. 128 ff.). 106 Auch W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 66, räumen ein, dass derartige Fälle in der Praxis „eher selten vorkommen“. 107 Immerhin handelte es sich bei dem inkriminierten Nutzungsersatzanspruch des Verkäufers um eine explizite gesetzliche Regelung. Zweifelnd aber Sperber, EWS 2009, 358, 359. Zur Fortentwicklung der BGH-Rechtsprechung bezüglich der richtlinienkonformen Rechtsfortbildung vgl. Staudinger, RRa 2012, 106. 108 Vgl. BVerfGE 123, 267 Rn. 237–243. 109 Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch ist bekanntlich aus Anlass einer fehlgeschlagenen horizontalen Richtlinienanwendung kreiert worden, vgl. EuGH v. 19.11.1991 – verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 Francovich u.a., Slg. 1990, I-5357; EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 112; EuGH v. 12.6.2008 – Rs. C-364/07 Vassilakis u.a., Slg. 2008, I-90 Rn. 60; EuGH v. 24.1.2012 – Rs. C-282/10 Dominguez, Rn. 42 f. 110 EuGH v. 13.7.1989 – Rs. 5/88 Wachauf, Slg. 1989, 2609 sowie die Folgerechtsprechung, vgl. Stotz, FS Dauses (2014), S. 412 ff.

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gewonnen. Art. 51 Abs. 1 GRCh verpflichtet mittlerweile die Mitgliedstaaten ausdrücklich zur Beachtung der Charta, jedoch strikt begrenzt auf die Durchführung des Rechts der Union („ausschließlich“). Im Urteil Åkerberg Fransson hat der Gerichtshof dieser Bestimmung klare Konturen gegeben.111 So stimmt der Anwendungsbereich der Charta mit demjenigen des Unionsrechts überein.112 Allerdings löst nur das die Mitgliedstaaten verpflichtende Unionsrecht die Geltung der Charta auf mitgliedstaatlicher Ebene aus,113 nicht die Vielzahl unspezifischer Unionsakte, die auf das nationale Rechts einwirken. Der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 51 Abs. 1 der Charta liegt daher ein eingrenzendes Konzept zugrunde.114 Nicht zuletzt aufgrund seiner hohen praktischen Relevanz kommt dem Urteil eine besondere (verfassungs-)politische Bedeutung zu, was sich in der Intensität der wissenschaftlichen Kommentierungen niederschlägt.115

IV. „Auslegung“ durch den Gerichtshof und „Anwendung“ durch das nationale Gericht Besondere Aufmerksamkeit widmet der Gerichtshof der Abgrenzung seiner Zuständigkeit im 43 Verhältnis zu derjenigen der mitgliedstaatlichen Gerichte. Insoweit betont er in ständiger Rechtsprechung,116 dass das in Art. 267 AEUV vorgesehene Verfahren auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. In die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fallen danach die Entscheidung über den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens sowie die Anwendung der vom Gerichtshof ausgelegten Unionsrechtsvorschriften auf nationale Maßnahmen oder Gegebenheiten; ferner obliegt ihm die Prüfung der Erforderlichkeit der Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der Fragen, die es dem Gerichtshof vorlegt.117 Dem Gerichtshof fällt die Aufgabe zu, das Unionsrecht auszulegen und ggf. die Gültigkeit von sekundärem Unionsrecht mit dem Vertrag zu überprüfen. Die EuGH-Verfahrensordnung spiegelt diese Aufgabentrennung in prozeduraler Hinsicht 44 wider. Anlässlich der Neufassung im Jahre 2012118 wurden die Regelungen über die Vorlagen zur Vorabentscheidung der praktischen Bedeutung dieser Verfahren entsprechend119 umgestaltet

_____ 111 EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, Rn. 18 ff. 112 EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, Rn. 21. 113 In diesem Sinne Rn. 28 sowie jüngst EuGH v. 6.3.2014 – Rs. C-206/13 Siragusa, EuGH v. 26.2.2013 – Rs. C-617/10 Åkerberg Fransson, Rn. 26. 114 Vgl. Stotz, FS Dauses (2014), S. 427; in diesem Sinne auch Lenaerts, in: Kronenberger/D’Allesio/Placco (Hrsg.), De Rome à Lisbonne: les juridictions de l’Union européenne à la croisée des chemins (2013), S. 107, 117 f. 115 Vgl. beispielhaft die Kommentierungen des Urteils durch den Präsidenten des Gerichtshofs Skouris (Il Diritto dell’Unione Europea 2013, 229) sowie durch Vizepräsident Lenaerts (siehe die vorige Fn.); für die weiteren Kommentierungen – rund 100 (Stand Mai 2014) – siehe www.curia.eu unter Rechtsprechung – Urteilsanmerkungen und -besprechungen – Teil 3, S. 637 ff. 116 Vgl. EuGH v. 19.2.2004 – Rs. C-329/01 British Sugar, Slg. 2004, I-1899 Rn. 70 f.; EuGH v. 6.3.2007 – verb. Rs. C-338/04, C-359/04 und C-360/04 Placanica u. a., Slg. 2007, I-1891 Rn. 36; EuGH v. 8.9.2009 – Rs. C-42/07 Liga Portuguesa de Futebol Profissional u. Baw International, Slg. 2009, I-7633 Rn. 37; EuGH v. 4.6.2013 – Rs. C-300/11 ZZ, Rn. 36. 117 Vgl. EuGH v.18.7.2007 – Rs. C-119/05 Lucchini, Slg. 2007, I-6199 Rn. 43; EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-314/08 Filipiak, Slg. 2009, I-11049 Rn. 40; EuGH v. 5.12.2013 – verb. Rs. C-618/11, C-637/11 und C-659/11 TVI, Rn. 21. 118 ABl. 2012 L 265/1. Die revidierte EuGH-Verfahrensordnung ist am 1.11.2012 in Kraft getreten (Art. 210 EuGHVerfO). 119 Von den 2013 erledigten Rechtssachen ergingen knapp 60% auf Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, vgl. Jahresbericht 2013 des Gerichtshofs der EU, Punkt D, Statistik 5 (in absoluten Zahlen stiegen die Vorabentscheidungsersuchen von 256 im Jahre 2009 auf 413 im Jahre 2013 an).

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und präzisiert. Sie stehen nunmehr an der Spitze der Verfahrensarten120 und bestimmte, aus der Rechtsprechung resultierende Erfordernisse zu einzelnen Verfahrensfragen wurden kodifiziert und weiterentwickelt.121 Für die Abgrenzung der Zuständigkeiten von besonderer Bedeutung sind die in Art. 53 Abs. 2 EuGH-VerfO genannten Fälle der offensichtlichen Unzuständigkeit – die Vorlage fällt nicht in den Anwendungsbereich der EU-Rechts – sowie die in Art. 94 EuGH-VerfO genannten Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens.122 Sie umfassen – eine kurze Darstellung des Streitgegenstands und des maßgeblichen Sachverhalts, wie er vom vorlegenden Gericht festgestellt worden ist, oder zumindest eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Vorlagefragen beruhen; – den Wortlaut der möglicherweise auf den Fall anwendbaren nationalen Vorschriften und gegebenenfalls die einschlägige nationale Rechtsprechung; – eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt. 45 Bislang schon hatte sich der Gerichtshof im Rahmen seines justiziellen Dialogs mit den nationa-

len Gerichten zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit für befugt erachtet, bestimmte formale Mindestvoraussetzungen an eine aus sich heraus verständliche Vorlage zu stellen. So musste das nationale Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellten Fragen einfügen, festlegen oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutern,123 auf denen seine Fragen beruhen. Ferner prüfte er die Umstände, unter denen er von den nationalen Gerichten angerufen wurde, um nicht über offensichtlich konstruierte Rechtsstreite entscheiden oder Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben zu müssen, bei denen die begehrte Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Rechtsstreits steht.124 Dies gelang nicht immer. So waren die Antworten des Gerichtshofs in dem bekannten Fall Heininger125 zur Auslegung der Haustürgeschäfterichtlinie letztlich hypothetisch, da eine Beweisaufnahme des nationalen Gerichts in letzter Instanz das Fehlen einer Haustürsituation feststellte.126 In anderen Fällen war die Zulässigkeit der Vorlage

_____ 120 Dritter Titel der EuGH-VerfO, Art. 93–118. 121 Vgl. Dittert, EuZW 2013, 726. 122 In seinen Empfehlungen an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen weist der Gerichtshof ausdrücklich auf diese Anforderungen hin, ABl. 2012 C 338/1, Rn. 22. 123 Vgl. EuGH v. 26.1.1993 – Rs. C-320/90 bis C-322/90 Telemarsicabruzzo u.a., Slg. 1993, I-393 Rn. 6; EuGH v. 21.9.1999 – Rs. C-115/97 bis C-117/97 Brentjens’, Slg. 1999, I-6025 Rn. 38; EuGH v. 23.3.2006 – Rs. C-237/04 Enirisorse, Slg. 2006, I-2843 Rn. 17; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-247/08 Gaz de France – Berliner Investissement, Slg. 2009, I-9225 Rn. 20; EuGH v. 21.11.2013 – Rs. C-284/12 Deutsche Lufthansa, Rn. 20; EuGH v. 13.2.2014 – Rs. C-367/12 SokollSeebacher, Rn. 15. 124 Vgl. EuGH v. 7.1.2003 – Rs. C-306/99 BIAO, Slg. 2003, I-1 Rn. 89; EuGH v. 1.10.2009 – Rs. C-567/07 Woningstichting Sint Servatius, Slg. 2009, I-9021 Rn. 43; EuGH v. 30.5. 2013 – Rs. C-651/11 X, Rn. 21; EuGH v. 27.2.2014 – Rs. C-351/12 OSA, Rn. 50. 125 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 126 Vgl. OLG München, WM 2003, 69. Siehe auch GA Léger, SchlA v. 28.9.2004 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Tz. 43–47, mit dem Vorschlag, das betreffende Vorabentscheidungsersuchen als hypothetisch und damit unzulässig zu verwerfen, da es das vorlegende LG Bochum ausdrücklich offengelassen habe, ob im Ausgangsverfahren tatsächlich eine die Anwendung der Richtlinie rechtfertigende „Haustürsituation“ vorliege. Der Gerichtshof ist dem nicht gefolgt, sondern hat das Ersuchen für zulässig erklärt; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 44.

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von vornherein höchst zweifelhaft, bot dem Gerichtshof aber die Gelegenheit, sich aus gegebenem Anlass zu bestimmten streitigen Rechtsfragen zu äußern.127 Die explizite Festschreibung der Zulässigkeitskriterien für Vorabentscheidungsersuchen in 46 Art. 94 der revidierten Verfahrensordnung wird zweifellos dazu beitragen, die Rechtsprechung in diesem Bereich zu verstetigen. Zwar lassen die ersten auf Art. 94 gestützten Beschlüsse erkennen, dass die neue Bestimmung im Lichte der bisherigen Rechtsprechung ausgelegt werden wird.128 Da es sich hierbei aber überwiegend um Kammer-Rechtsprechung handelt, die vor Inkrafttreten der neuen Regelung bisweilen heterogen war, wird der Rückgriff auf den geschriebenen Text bei einer ständig steigenden Zahl von Vorabentscheidungsersuchen129 zwangsläufig eine kohärentere und striktere Auslegung der Anforderungen an Vorlagen nationaler Gerichte mit sich bringen. In materiellrechtlicher Hinsicht betont der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass er 47 dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts geben kann, die diesem bei der Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens von Nutzen sein können.130 Dementsprechend deutet er Fragen nach der Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht in eine abstrakte Auslegungsfrage um.131 Gerade weil der Gerichtshof dem nationalen Gericht eine „nützliche“ Antwort geben will, hält er sich bei der Beantwortung der Vorlagefragen nicht sklavisch an deren Wortlaut, sondern formuliert sie je nach Bedarf um, ändert ihre Reihenfolge oder fasst sie zusammen.132 Dabei präzisiert er ggf. auch diejenigen unionsrechtlichen Vorschriften, die das vorlegende Gericht in seiner Frage nicht angeführt hat, die aber unter Berücksichtigung des Streitgegenstands der Auslegung bedürfen.133 Dieses Vorgehen verdeutlicht, dass der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen vor ihrer Beantwortung sehr sorgfältig aufbereitet und sie ggf. im Hinblick auf die vorgelegte Problematik filtert. Ohne eine solche Steuerung könnte der Gerichtshof seiner Aufgabe, dem vorlegenden Gericht eine nützliche Antwort zu geben, nicht nachkommen. Vor diesem Hintergrund wird bereits deutlich, dass die Funktionsteilung, die nach der 48 Rechtsprechung das Vorabentscheidungsverfahren bestimmt – der Gerichtshof ist für die Auslegung des Unionsrechts, das nationale Gericht für dessen Anwendung im Einzelfall zuständig –, zwar primärrechtlich in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV angelegt ist, in der Praxis aber je nach den Gegebenheiten des Falles justiert werden muss und dabei nicht immer idealty-

_____ 127 Als prominentes Beispiel für diese Art von Judikatur vgl. EuGH v. 22.4.1997 – Rs. C-180/95 Draehmpaehl, Slg. 1997, I-2195. Auch der Sachverhalt, der dem Urteil im Verfahren Mangold zugrunde lag, führte nicht zur Unzulässigkeit der Vorlage (vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 32–39). Im Fall der ungünstigeren Behandlung einer Bestellmutter hinsichtlich der (Nicht-)Gewährung von Mutterschaftsurlaub (EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-167/12 CD) hat sich der Gerichtshof zu wichtigen Fragen in diesem Zusammenhang geäußert, auch wenn der Bestellmutter der bezahlte Urlaub vom Arbeitgeber letztlich gewährt wurde (vgl. Rn. 23; es gab allerdings einen Parallelfall zur gleichen Problematik: EuGH v. 18.3.2014 – Rs. C-363/12 Z). 128 Vgl. EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-560/11 Debiasi, Rn. 24; EuGH v. 14.11.2013 – Rs. C-257/13 Mlamali, Rn. 22. 129 Siehe oben Fn. 120. 130 So bereits EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1268; zuletzt EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-303/12 Imfeld u. Garcet, Rn. 38 mwN. 131 Vgl. aus jüngerer Zeit EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-523/12 Dirextra Alta Formazione, Rn. 17. 132 Vgl. EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 ČEZ, Slg. 2009, I-10265 Rn. 54, 69 f.; EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, Slg. 2009, I-6569 Rn. 26, 30, 53; EuGH v. 14.10.2010 – Rs. C-243/09 Fuß, Slg. 2010, I-9849 Rn. 39; EuGH v. 13.2.2014 – verb. Rs. C-419/12 und C-420/12 Crono Service u.a., Rn. 27 ff.; EuGH v. 13.2.2014 – verb. Rs. C-162/12 und C-163/12 Airport Shuttle Express u.a., Rn. 29 ff. 133 EuGH v. 16.1.2003 – Rs. C-265/01 Annie Pansard u.a., Slg. 2003, I-683 Rn. 19; EuGH v. 28.2.2008 – Rs. C-2/07 Abraham u.a., Slg. 2008, I-1197 Rn. 24; EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 ČEZ, Slg. 2009, I-10265 Rn. 84; EuGH v. 13.2.2014 – verb. Rs. C-512/11 und C-513/11 TSN u. YTN, Rn. 33; EuGH v. 13.2.2014 – verb. Rs. C-162/12 und C-163/12 Airport Shuttle Express u.a., Rn. 32 ff.; EuGH v. 9.4.2014 – verb. Rs. C-512/11 und C-513/11 Ville d'Ottignies-Louvain-laNeuve u.a., Rn. 33. Stotz

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pische Trennschärfe erreicht. Der ehemalige Präsident des Gerichtshofs Rodríguez Iglesias räumt ein, dass für eine effiziente Kooperation zwischen innerstaatlichen Gerichten und Gerichtshof nicht in jedem Fall eine abstrakte Aufgabentrennung möglich ist.134 So könne es Situationen geben, in denen der Gerichtshof zur Herstellung der Rechtssicherheit konkrete Aussagen zu treffen habe, die normalerweise den nationalen Richtern vorbehalten seien.135 Groh136 weist nach, dass die Zuordnung zahlreicher Beurteilungsvorgänge zu Auslegung bzw. Anwendung durch den Gerichtshof alles andere als einheitlich ist. Die Rechtsprechung liefert dafür in der Tat umfangreiche Belege. So hat der Gerichtshof in 49 einigen Fällen selbst geprüft, ob ein Betriebsübergang im Sinne der Richtlinien 77/187 bzw. 2001/23137 vorliegt,138 in anderen hat er diese Prüfung dem nationalen Gericht überlassen.139 Ebenso ist er bei Fragen verfahren, ob ein Verhalten irreführend im Sinne der Richtlinien 2005/ 29140 und 2006/114141 ist142 oder ob im Rahmen der unionsrechtlichen Staatshaftung ein Verstoß gegen das Unionsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann.143

_____ 134 Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten (2000), S. 10. 135 Rodríguez Iglesias, Der Europäische Gerichtshof und die Gerichte der Mitgliedstaaten (2000), S. 8. 136 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005). 137 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26, inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 138 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 5.5.1988 – verb. Rs. 144/87 und 145/87 Berg ./. Besselsen, Slg. 1988, 2559 Rn. 18; EuGH v. 14.4.1994 – Rs. C-392/92 Christel Schmidt, Slg. 1994, I-1311 Rn. 17 u. 20; aus jüngerer Zeit EuGH v. 20.1.2011 – Rs. C-463/09 CLECE, Slg. 2011, I-95 Rn. 42, 43; EuGH v. 14.3.2014 – Rs. C-458/12 Amatori u.a., Rn. 42, 52. 139 Vgl. EuGH v. 18.3.1986 – Rs. C-24/85 Spijkers ./. Benedik, Slg. 1986, 1119 Rn. 14; EuGH v. 19.5.1992 – Rs. C-29/91 Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189 Rn. 25 u. 29; EuGH v. 11.3.1997 – Rs. C-13/95 Süzen, Slg. 1997, I-1259 Rn. 22; EuGH v. 2.12.1999 – Rs. C-234/98 Allen u.a., Slg. 1999, I-8643 Rn. 38; EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-175/99 Mayeur, Slg. 2000, I-7755 Rn. 55; EuGH v. 15.12.2005 – verb. Rs. C-232/04 und C-233/04 Güney-Görres u.a., Slg. 2005, I-11237 Rn. 44; EuGH v. 13.9.2007 – C-458/05 Jouini u.a, Slg. 2007, I-7301 Rn. 38; EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-466/07 Klarenberg, Slg. 2009, I-803 Rn. 53. 140 Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.5.2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG u. 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005 L 149/22, berichtigt im ABl. 2009 L 253/18). 141 Richtlinie 2006/114/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung (ABl. 2006 L 376/21), die die Richtlinie 84/450/EWG ersetzt. 142 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: EuGH v. 6.7.1995 – Rs. C-470/93 Mars, Slg. 1995, I-1923 Rn. 21 ff.; EuGH v. 9.2.1999 – Rs. C-383/97 van der Laan, Slg. 1999, I-731 Rn. 41; EuGH v. 4.4.2000 – Rs. C-465/98 Darbo, Slg. 2000, I-2297 Rn. 33, anders im selben Urteil Rn. 20; EuGH v. 11.7.2013 – Rs. C-657/11 Belgian Electronic Sorting Technology, Rn. 60; EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-59/12 Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, Rn. 37. Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das vorlegende Gericht: EuGH v. 28.1.1999 – Rs. C-303/97 Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513 Rn. 36 mwN aus der früheren Rechtsprechung; EuGH v. 13.1.2000 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-117 Rn. 30 f.; EuGH v. 8.4.2003 – Rs. C-44/01 Pippig Augenoptik, Slg. 2003, I-3095 Rn. 53; EuGH v. 19.9.2006 – Rs. C-356/04 Lidl Belgium, Slg. 2006, I-8501 Rn. 86; EuGH v.12.5.2011 – Rs. C-122/10 Ving Sverige, Slg. 2011, I-3903 Rn. 70f.; EuGH v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 Pereničová u. Perenič, Rn. 47. 143 Der Gerichtshof betont, dass es grundsätzlich den nationalen Gerichten obliegt, die Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, entsprechend den vom ihm hierfür entwickelten Leitlinien konkret anzuwenden, vgl. EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/ 93 British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631 Rn. 41; EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C446/04 Test Claimants in the FII Group Litigation, Slg. 2006, I-11753 Rn. 210, 212–217; EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, Slg. 2010, I-12167 Rn. 48. Lässt der gegebene Sachverhalt jedoch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht erkennen oder liegt dieser ersichtlich nicht vor, stellt der Gerichtshof selbst dies fest, vgl. EuGH v. 26.3.1996 – Rs. C-392/93

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Auch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit zeigt sich ein heterogenes Bild. Teilweise 50 prüft er sie selbst,144 teilweise überlässt er sie dem nationalen Gericht.145 Auf dem stark gewachsenen Gebiet der Direktbesteuerung, auf dem der Schwerpunkt der Urteile – nach der regelmäßigen Bejahung des Vorliegens einer Beschränkung der einschlägigen Grundfreiheit146 – inzwischen bei den Ausführungen zur eventuellen Rechtfertigung einer solchen Beschränkung liegt,147 tendiert der Gerichtshof mittlerweile dazu, die Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst durchzuführen.148 Soweit er sie gelegentlich dem nationalen Richter überlässt,149 mag dies der Komplexität der fraglichen Steuerregelung geschuldet sein, die dem Gerichtshof nicht in jedem Fall eine eigene Wertung erlauben. Ein vergleichbarer Befund zeigte sich bei der Warenverkehrsfreiheit,150 bei der die Ausweitung der Keck-Rechtsprechung auf sog. Benutzungsmodalitäten zur Diskussion stand.151 Im Fall Kommission ./. Italien hielt der Gerichtshof das – kategorische – Verbot für Kleinkrafträder, Krafträder, dreirädrige und vierrädrige Kraftfahrzeuge, einen Anhänger zu ziehen, aus Gründen des Schutzes der Sicherheit des Straßenverkehrs für gerechtfertigt und führte die Verhältnismäßigkeitsprüfung selbst durch.152 Dagegen überließ er es im Fall Mickels-

_____ British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631 Rn. 45; EuGH v. 17.10.1996 – verb. Rs. C-283/94, C-291/94 und C-292/94 Denkavit u.a., Slg. 1996, I-5063 Rn. 53; EuGH v. 25.11.2010 – Rs. C-429/09 Fuß, Slg. 2010, I-12167 Rn. 53–58; EuGH v. 25.4.2013 – Rs. C-398/11 Hogan u.a., Rn. 52. 144 Vgl. z.B. EuGH v. 18.5.1993 – Rs. C-126/91 Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361 Rn. 15 ff.; EuGH v. 6.6.2000 – Rs. C-281/98 Angonese, Slg. 2000, I-4139 Rn. 44; EuGH v. 3.10.2000 – Rs. C-58/98 Corsten, Slg. 2000, I-7919 Rn. 39 f.; EuGH v. 29.11.2001 – Rs. C-17/00 De Coster, Slg. 2001, I-9445 Rn. 36 ff.; EuGH v. 21.3.2002 – Rs. C-451/99 Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193 Rn. 47 und 50; EuGH v. 17.9. 2002 – Rs. C-413/99 Baumbast, Slg. 2002, I-7091 Rn. 93. 145 Vgl. z.B. EuGH v. 31.3.1993 – Rs. C-19/92 Kraus, Slg. 1993, I-1663 Rn. 41 u. EuGH v. 1.2.2001 – Rs. C-108/96 Mac Quen, Slg. 2001, I-837 Rn. 31 ff.; EuGH v. 8.3.2001 – Rs. C-405/98 Gourmet International Products, Slg. 2001, I-795 Rn. 33 u. 41. Siehe aber – mit entgegengesetzter Argumentation – EuGH v. 16.12.1992 – Rs. C-169/91 B&Q, Slg. 1992, I-6635 Rn. 14. 146 Z.B. in Bezug auf die Kapitalverkehrsfreiheit, die in den Direktbesteuerungsfällen häufig anwendbar ist, stellt in Anlehnung an die Dassonville-Formel jede innerstaatliche oder unionsrechtliche Regelung, die geeignet ist, den freien Kapitalverkehr illusorisch zu machen, eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit dar, vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C 483/99 Kommission ./. Frankreich, Slg. 2002, I-4781 Rn. 41. Weitere Beispiele zu diesem breit angelegten Beschränkungsbegriff: EuGH v. 20.5.2008 – Rs. C-194/06 Orange European Smallcap Fund, Slg. 2008, I-3747 Rn. 74; EuGH v. 27.1.2009 – Rs. C-318/07 Persche, Slg. 2009, I-359 Rn. 38; EuGH v.13.3.2014 – Rs. C-375/12 Bouanich, Rn. 55 f. 147 Vgl. EuGH v. 15.10.2009 – Rs. C-35/08 Busley u. Cibrian Fernandez, Slg. 2009, I-9807 Rn. 28, 31–32, EuGH v. 19.11.2009 – Rs. C-540/07 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-10983 Rn. 49, 55–61, 68–72, 75; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-164/12 DMC, Rn. 44–68; EuGH v. 10.4.2014 – Rs. C-190/12 Emerging Markets Series of DFA Investment Trust Company, Rn. 54–104. 148 Vgl. EuGH v. 11.6.2009 – verb. Rs. C-155/08 und C-157/08 X u. Passenheim-van Schoot, Slg. 2009, I-5093 Rn. 47–75; EuGH v. 23.10.2008 – Rs. C-157/07 Krankenheim Ruhesitz am Wannsee-Seniorenheimstatt, Slg. 2008, I-8061 Rn. 40, 44–45; EuGH v. 27.11.2008 – Rs. C-418/07 Papillon, Slg. 2008, I-8947 Rn. 33, 52–62; EuGH v. 13.11.2012 – Rs. C-35/11 Test Claimants in the FII Group Litigation, Rn. 60–65; EuGH v. 12.12.2013 – Rs. C-303/12 Imfeld u. Garcet, Rn. 64–80; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-164/12 DMC, Rn. 59–69 149 Vgl. EuGH v. 17.9.2009 – Rs. C-182/08 Glaxo Wellcome, Slg. 2009, I-8591 Rn. 93–100, 102; EuGH v. 21.1.2010 – Rs. C-311/08 SGI, Slg. 2010, I-487 Rn. 63–64, 67, 69–72, 75 f.; EuGH v. 23.1.2014 – Rs. C-164/12 DMC, Rn. 57 f. 150 EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 u. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-142/05 Mickelsson u. Roos, Slg. 2009, I-4273. 151 Vgl. GA Kokott, SchlA v. 14.12.2006 – Rs. C-142/05 Mickelsson u. Roos, Slg. 2009, I-4273 Tz. 42–56, die dazu geführt haben, dass die Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien der großen Kammer zugewiesen wurde und neue SchlA angefordert wurden, siehe GA Bot, SchlA v. 8.7.2008 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 Tz. 44– 137. 152 EuGH v. 10.2.2009 – Rs. C-110/05 Kommission ./. Italien, Slg. 2009, I-519 Rn. 64–66. Aus jüngster Zeit vgl. die Urteile Kommission ./. Polen (EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-639/11) und EuGH v. 20.3.2014 – Rs. C-61/12 Kommission ./. Litauen, in denen der EuGH die von Polen auferlegte Verpflichtung, das Lenkrad auf die linke Seite zu versetzen, wenn es sich auf der rechten Seite befindet, als für die Erreichung des Ziels der Verkehrssicherheit nicht notwendig und folglich als mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar ansah.

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3. Teil: Besonderer Teil

son u. Roos, wo ein derart kategorisches Verbot nicht bestand, dem vorlegenden Gericht zu prüfen, ob die aufgestellten Bedingungen erfüllt sind und das schwedische Verbot des Führens von Wassermotorrädern außerhalb von öffentlichen Wasserstraßen aus Gründen des Umweltschutzes gerechtfertigt ist und der Verhältnismäßigkeitsprüfung standhält.153 In anderen Bereichen wie dem der Informationsgesellschaft, des geistigen Eigentums oder des Datenschutzes neigt er wiederum dazu, dem nationalen Richter mehr Spielraum zu gewähren,154 was in den Fällen Promusicae und LSG-Gesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten155 sogar so weit ging, dass gegensätzliche nationale Regelungen hinsichtlich der Pflicht zur Offenlegung von personenbezogenen Verkehrsdaten der Inhaber bestimmter Teilnehmeranschlüsse durch Telekommunikationsanbieter an private Dritte zum Zweck der zivilrechtlichen Verfolgung von Urheberrechtsverstößen Bestand hatten.156 Auch die Rechtsprechung zur Generalklausel der Klauselrichtlinie157 gab Anlass zu Diskus51 sionen.158 Hatte der Gerichtshof im Urteil Océano Grupo159 entschieden, dass eine von einem Gewerbetreibenden vorformulierte Vertragsklausel, die die Zuständigkeit für alle Rechtsstreitigkeiten dem Gericht zuwies, in dessen Bezirk dieser Gewerbetreibende seine Niederlassung hatte, als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie anzusehen sei, so entschied er im Urteil Freiburger Kommunalbauten,160 es sei Sache des nationalen Gerichts, festzustellen, ob eine Vertragsklausel wie die des Ausgangsverfahrens die Kriterien erfüllt, um als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 der Klauselrichtlinie qualifiziert zu werden.161 Das Signal, die nationalen Gerichte sollten die Missbräuchlichkeit von Vertragsklauseln nach Möglichkeit in eigener Verantwortung prüfen griff er in der weiteren Rechtsprechung auf. Demgemäß erstreckt sich die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die Auslegung des Begriffs „missbräuchliche Vertragsklausel“ in Art. 3 Abs. 1 und im Anhang der Richtlinie sowie auf die Kriterien, die das nationale Gericht bei

_____ 153 EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-142/05 Mickelsson u. Roos, Slg. 2009, I-4273 Rn. 32–34, 36, 38–40, 42–44. Dem war so auch im Fall Sandström (EuGH v. 15.4.2010 – Rs. C-433/05 Sandström, Slg. 2010, I-2885 Rn. 33, 36–40) als auch in der Rechtssache Lahousse (EuGH v.18.11.2010 – Rs. C-142/09 Lahousse u. Lavichy, Slg. 2010, I-11685 Rn. 44–48), in der allerdings ein allgemeines Verbot des Verkaufs oder der Benutzung von Material, das die Steigerung der Leistung und/oder Geschwindigkeit von Kleinkrafträdern ermöglichte, bestand. 154 So bei der Beurteilung, ob eine Handlung, die im Laufe eines Datenerfassungsverfahrens vorgenommen wird, das darin besteht, einen aus elf Wörtern bestehenden Auszug eines geschützten Werkes zu speichern und auszudrucken, die unter den Begriff der teilweisen Vervielfältigung im Sinne von Art. 2 der Informationsgesellschaftrichtlinie fallen kann, wenn die wiedergegebenen Bestandteile – was vom vorlegenden Gericht zu beurteilen ist – die eigene geistige Schöpfung durch den Urheber zum Ausdruck bringen, EuGH v. 16.7.2009 – Rs. C-5/08 Infopaq, Slg. 2009, I-6569 Rn. 51. Vgl. auch das erste Urteil zur Gemeinschaftsgeschmacksmusterverordnung: EuGH v. 2.7.2009 – Rs. C-32/08 FEIA, Slg. 2009, I-5611 Rn. 80; auf dem Gebiet des Datenschutzes: EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-524/06 Huber, Slg. 2008, I-9705 Rn. 66 f. 155 EuGH v. 29.1.2008 – Rs. C-275/06 Promusicae, Slg. 2008, I-271 Rn. 70; EuGH v. 19.2.2009 – Rs. C-557/07 LSGGesellschaft zur Wahrnehmung von Leistungsschutzrechten, Slg. 2009, I-1227 Rn. 29. 156 Der Gerichtshof appellierte in diesen Entscheidungen an die nationalen Gerichte, auf ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten und auf den Einklang mit den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, wie etwa dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, zu achten. Aus jüngster Zeit vgl. EuGH v. 27.3.2014 – Rs. C-314/12 UPC Telekabel Wien, Rn. 64. 157 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 158 Eingehend zur Auslegung von Generalklauseln Röthel, in diesem Band, § 11. 159 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo Editorial u.a., Slg. 2000, I-4941 Rn. 21–24. 160 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 161 Wo die Grenzlinie zwischen der Definition allgemeiner Kriterien und der Anwendung dieser Kriterien auf den Einzelfall verläuft, war auch in der Lehre umstritten. Während W.-H. Roth sich mit beachtlichen Argumenten für eine restriktive Rolle des Gerichtshofs bei der Konkretisierung von Generalklauseln in Richtlinien ausgesprochen hatte, W.-H. Roth, FS Drobnig (1998), S. 140 ff., setzten andere auf die wichtige Rolle des Gerichtshofs bei der Fortentwicklung des unionsrechtlichen Missbrauchskriteriums, vgl. Remien, RabelsZ 66 (2002), 503, 525. Stotz

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der Prüfung einer Vertragsklausel im Hinblick auf die Bestimmungen der Richtlinie anwenden darf oder muss. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung dieser Kriterien über die konkrete Bewertung einer bestimmten Vertragsklausel anhand der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden.162 Angesichts der unterschiedlichen Praxis des Gerichtshofs in den einzelnen Rechtsbereichen 52 forderte Generalanwalt Jacobs anlässlich einer Vorlage zur zollrechtlichen Tarifierung eine grundlegende Reflexion darüber, welche Fragen im Rahmen des Art. 267 AEUV sinnvollerweise dem Gerichtshof zur Auslegung vorzulegen seien und welche die nationalen Gerichte in eigener Verantwortung entscheiden müssten.163 Dabei wandte er sich gegen eine immer filigranere Rechtsprechung, mit der nicht die einheitliche Anwendung des Unionsrechts gefördert werde, sondern die tendenziell zu weniger denn zu mehr Rechtssicherheit führe.164 Vorlagen sollten deshalb dem Gerichtshof nur dann unterbreitet werden, wenn es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung handele und eine einheitliche Auslegung wirklich erforderlich sei.165 Die Kriterien der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung zur Reichweite der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte müssten hierzu angepasst werden. Diese Anregung,166 der Dichotomie – Auslegung durch den Gerichtshof/Anwendung durch 53 das nationale Gericht – schärfere Konturen zu verleihen, hat der Gerichtshof bislang nicht aufgegriffen. Er vermeidet auch weiterhin über die C.I.L.F.I.T-Formel hinausgehende Konkretisierungen und entscheidet die Zuordnungsproblematik fallweise, mit dem Risiko einer partiell dezisionistischen Rechtsprechung. Die bereits zitierte Studie von Groh plädiert mit beachtlichen Argumenten dafür, das Auslegungsbedürfnis der Vorlagefragen kritischer als bisher an den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens zu messen, d.h. (1) ob sie zur Wahrung der Einheitlichkeit des Unionsrechts erforderlich sind, (2) ob sie den nationalen Gerichten bei der Durchsetzung des Unionsrechts dienen, sofern diese bei der Interpretation des Unionsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen, und (3) ob sie dem Schutz individueller Rechtspositionen förderlich sind, sofern die Vorlage zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt.167 In der Praxis entschärft sich die Problematik allerdings dadurch, dass der Gerichtshof Vorlagefragen, bei denen die Antwort klar ist oder sich eindeutig aus der Rechtsprechung ergibt, dem verein-

_____ 162 Vgl. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713 Rn. 42 ff.; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 VB Pénzügyi Lízing, Slg. 2010, I-10847 Rn. 43 f.; EuGH v. 16.11.2010 – Rs. C-76/10 Pohotovosť, Slg. 2010, I-11557 Rn. 60 ff.; EuGH v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 Pereničová u. Perenič, Rn. 47; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 Invitel, Rn. 22; EuGH v. 21.3.2013 – Rs. C-92/11 RWE Vertrieb, Rn. 48; EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz, Rn. 66; EuGH v. 14.11.2013 – verb. Rs. C-537/12 und C-116/13 Banco Popular Español, Rn. 63, 71; EuGH v. 21.12.2013 – Rs. C-472/11 Banif Plus Bank, Rn. 41; aus jüngster Zeit vgl. EuGH v. 16.1.2014 – Rs. C-226/12 Constructora Principado, Rn. 20, 30; EuGH v. 30.4.2014 – Rs. C-26/13 Kásler u. Káslerné Rábai, Rn. 59, 74. 163 GA Jacobs, SchlA v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495. 164 GA Jacobs, SchlA v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 20 f. 165 GA Jacobs, SchlA v. 19.7.1997 – Rs. C-338/95 Wiener, Slg. 1997, I-6495 Tz. 64. In einem markenrechtlichen Fall präzisierte er, dass der Gerichtshof zur einheitlichen Anwendung der Richtlinie und der Rechtssicherheit effektiver dadurch beitragen könne, dass er die allgemeinen Kriterien und insbesondere den Maßstab für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr eindeutig festlege, als durch den Erlass von Entscheidungen, die zu sehr auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls eingehen, SchlA v. 29.10.1998 – Rs. C-342/97 Lloyd Schuhfabrik, Slg. 1999, I-3821. 166 Auch andere Generalanwälte haben sich gegen eine zu starke Einzelfallorientierung der Rechtsprechung ausgesprochen, vgl. GA van Gerven, SchlA v. 22.11.1990 – Rs. C-312/89 Conforam u.a., Slg. 1990, I-1007 Tz. 7; GA Gulmann, SchlA v. 29.9.1993 – Rs. C-315/92 Verband Sozialer Wettbewerb, Slg. 1994, I-319 Tz. 9 (Clinique); GA Fennelly, SchlA v. 16.9.1999 – Rs. C-220/98 Estée Lauder, Slg. 2000, I-119 Tz. 31; GA Ruiz-Jarabo Colomer, SchlA v. 30.6.2005 – Rs. C-461/03 Gaston Schul, Slg. 2005, I-10513 Tz. 80–87; GA Cruz Villalón, SchlA v. 10.6.2010 – Rs. C-173/09 Elchinov, Slg. 2010, I-8889 Tz. 29–33. 167 Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 118 f. Stotz

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fachten Verfahren nach Art. 99 EuGH-VerfO168 unterwirft, d.h. er weist die Vorlage ohne mündliche Verhandlung und Schlussanträge durch einen mit Gründen versehenen Beschluss ab. Die Vorlage bleibt damit zulässig169 und scheitert nicht prinzipiell an der fehlenden Auslegungskompetenz des Gerichtshofs. Die von Generalanwalt Jacobs proklamierte Änderung der C.I.L.F.I.T.-Formel dürfte damit erst dann auf der Tagesordnung stehen, wenn die Arbeitsbelastung170 durch Vorabentscheidungsersuchen ein Ausmaß annähme, dass sie nur über eine Zulässigkeitsbeschränkung der Vorlagefragen eingedämmt werden könnte.

V. Bedeutung von Präjudizien 54 Eine bedeutende Rolle nehmen in der Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs die eigenen Prä-

judizien ein. Bekanntlich setzt sich der Gerichtshof in seinen Urteilen – sehr zum Leidwesen der rechtslehrenden Zunft – nicht mit der wissenschaftlichen Literatur auseinander. Die Gründe hierfür hat der erste deutsche Richter am Gerichtshof, Otto Riese, wie folgt beschrieben: „Bei seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Gerichtshof selbstverständlich soweit als möglich alle erreichbaren Quellen, setzt sich mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur auseinander und nimmt häufig eingehende rechtsvergleichende Studien vor, die freilich zuweilen noch weiter hätten vertieft werden sollen. Dies alles kommt in den Urteilen – im Gegensatz zu den Schlussanträgen der Generalanwälte – nicht zum Ausdruck, da der Gerichtshof sich seit Beginn seiner Tätigkeit dazu entschlossen hat, in den Urteilen auf Zitate zu verzichten, ausgehend von der Ansicht, dass es nicht Aufgabe der Rechtsprechung sei, zu wissenschaftlichen Diskussionen Stellung zu nehmen, aber auch aus der Erkenntnis, dass in einigen Mitgliedstaaten sehr zahlreiche Publikationen zum neuen europäischen Gemeinschaftsrecht erscheinen, in anderen nur weinige, und dass es dem Gemeinschaftsgefühl abträglich sein könnte, wenn ein Urteil sich nur oder ganz überwiegend auf die Literatur eines der Mitgliedstaaten stützte.“171

55 Diese Aussage von Anfang der sechziger Jahre hat noch heute Gültigkeit. Mit Ausnahme von

gelegentlichen Referenzen auf die Schlussanträge der Generalanwälte, mit denen der Gerichtshof Mitte der neunziger Jahre eine frühe Praxis wieder aufleben ließ, greift der Gerichtshof in der Begründung seiner Urteile ausschließlich auf seine frühere Rechtsprechung zurück. Nach der Wiedergabe des wesentlichen Parteivortrags und der anwendbaren Rechtsvorschrift zitiert er als Einstieg zu seiner Begründung in aller Regel zunächst die zu der streitigen Rechtsfrage bereits bestehende Rechtsprechung und entwickelt davon ausgehend seine Argumentationslinie. Diese Art der Urteilsbegründung hat interpretationsbegrenzende, teilweise sogar interpretationsersetzende Funktion. Sie begünstigt tendenziell das Denken in Fällen gegenüber dem Denken in allgemeinen Regeln. Die Auslegung anhand der üblichen Methoden wird so gewissermaßen zum Sediment, das über die stetigen Verweise in späteren Entscheidungen kontinuierlich mitgetra-

_____ 168 Gemäß Art. 99 EuGH-VerfO kann der Gerichtshof, wenn eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage mit einer Frage übereinstimmt, die der Gerichtshof bereits entschieden hat, wenn die Antwort auf eine solche Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung der zur Vorabentscheidung vorgelegten Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt, auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden. 169 Vgl. aus jüngerer Zeit EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-154/12 Isera & Scaldis Sugar u.a., Rn. 21; ebenso GA Trstenjak, SchlA v. 11.9.2008 – Rs. C-52/07 Kanal 5 et TV 4, Slg. 2008, I-9275, Rn. 29. 170 Auch GA Cruz Villalón, SchlA v. 10.6.2010 – Rs. C-173/09 Elchinov, Slg. 2010, I-8889 Tz. 29, stellt auf diesen Zusammenhang ab. 171 Riese, Das Sprachproblem in der Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (1963), S. 507, 516.

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gen wird. Dieses schrittweise Vorgehen jeweils aufbauend auf vorherigen Urteilen dient der Vorhersehbarkeit, Kohärenz172 und letztlich Akzeptanz der Rechtsprechung.173 Im Unterschied zum U.S. Supreme Court174 hat der Gerichtshof die Existenz einer stare deci- 56 sis-Regel jedoch niemals anerkannt. Dennoch sind Fälle, in denen der Gerichtshof offen von seiner früheren Rechtsprechung abweicht, äußerst rar.175 Zum einen zeigt der Gerichtshof nicht jede Änderung seiner Rechtsprechung an. Zahlreicher 57 sind die Fälle, in denen er eine frühere Rechtsprechung aufgibt, ohne dies entsprechend zu kennzeichnen,176 auch wenn selbst diese Fälle gemessen am Gesamtvolumen der Rechtsprechungstätigkeit höchst begrenzt bleiben.177 Zum anderen prüft der Gerichtshof stets mit größter Sorgfalt, ob er, statt einer einmal eingeschlagenen, sich mittlerweile aber als problematisch erweisenden Rechtsprechung weiterhin zu folgen, sich nicht besser offen von dieser distanziert, insbesondere wenn mehrere Generalanwälte ihm dies überzeugend nahelegen.178 Hält der Gerichtshof dennoch an seiner Rechtsprechung fest, so dürfte dies für ihn in erster Linie eine Frage der Rechtssicherheit und erst danach eine Frage der eigenen Glaubwürdigkeit sein. Jedenfalls rührt ein Overruling heute nicht mehr an den Grundfesten der europäischen Rechtsordnung. Ein sorgfältig begründetes Abweichen von früherer Rechtsprechung zeugt auch vom souveränen und lebendigen Umgang mit dem Recht.

VI. Ausblick Betrachtet man die Rechtsprechung aus jüngerer Zeit, so sind mehrere Tendenzen erkennbar. 58 Zunächst gewinnt die historische Auslegung sowohl im sekundären als auch im primären Unionsrecht zunehmend an Bedeutung, vor allem weil entsprechende Gesetzes- und Vertragsmaterialien heute fundierter und besser aufbereitet zur Verfügung stehen (oben Rn. 4, 13). Die seit geraumer Zeit andauernden Bemühungen der Institutionen und der Mitgliedstaaten um eine verbesserte Gesetz- und Verfassungsgebung auf Unionsebene werden damit honoriert. Sodann macht sich der Einfluss der mit dem Vertrag von Lissabon in Kraft getretenen Charta der Grundrechte auf die Auslegung des Unionsrechts und das in Durchführung ergangene nationale Recht nachdrücklich bemerkbar. Der Anteil der Rechtssachen, in denen der Gerichtshof die Charta interpretiert, steigt kontinuierlich an (oben Rn. 21). Nachdem er in der Rechtssache Åkerberg Fransson zudem den Anwendungsbereich der Charta mit dem des Unionsrechts gleichgesetzt

_____ 172 Vgl. Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren (2005), S. 180 f. 173 Vgl. Everling, JZ 2000, 217, 227. Kritisch zur Bedeutung der Vorjudikatur Fenyves/Kerschner/VonkilchRebhahn, ABGB (3. Aufl. 2014), Nach §§ 6 und 7 Rn. 114 ff. 174 Vgl. Supreme Court v. 29.6.1992 – Planned Parenthood of Southeastern Pa. v. Casey, 505 U.S. 833 (1992). 175 Vgl. EuGH v. 17.10.1989 – Rs. C-10/89 HAG GF, Slg. 1990, I-3711 Rn. 10; EuGH v. 24.11.1993 – verb. Rs. C-267/91 und C-268/91 Keck u. Mithouard, Slg. 1993, I-6097 Rn. 16; sowie zuletzt EuGH v. 25.7.2008 – Rs. C 127/08 Metock u.a., Slg. 2008, I-6241 Rn. 58 ff. 176 Vgl. Mehdi, FS Bourrinet (2004), S. 113–136. 177 Vgl. Simon, in: Carpano (Hrsg.), Le revirement de jurisprudence en droit européen (2012), S. 389, 403 f. Siehe auch ebenda Tinière, S. 145–160, Carpano, S. 181–206, Rigaux, S. 209–225; Nourissat, S. 251–262 mit Beispielen von Fällen der Aufgabe der früheren Rspr. durch den EuGH. 178 Vgl. etwa die Rechtssachen, in denen der Gerichtshof gegen die überzeugenden Stellungnahmen mehrerer Generalanwälte daran festgehalten hat, auch auf solche Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, in denen die Unionsrechtsvorschriften, deren Auslegung begehrt wurde, nur aufgrund einer vom nationalen Recht vorgenommenen Verweisung anwendbar waren, vgl. u.a. EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763 Rn. 37; EuGH v. 17.7.1997 – Rs. C-130/95 Giloy, Slg. 1997, I-4291 Rn. 28; sowie die entsprechenden Schlussanträge; seither st. Rspr., vgl. EuGH v. 15.5.2003 – Rs. C-300/01 Salzmann, Slg. 2003, I-4899 Rn. 34; EuGH v. 29.4.2004 – Rs. C-222/01 British American Tobacco Manufacturing, Slg. 2004, I-4683 Rn. 40. Stotz

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3. Teil: Besonderer Teil

hat (oben Rn. 42), rücken zunehmend „Durchführungs“-Sachverhalte in den Fokus. Damit bleibt angesichts konstant hoher Eingangszahlen bei den Vorabentscheidungsersuchen die Frage der in Art. 19 Abs. 1 EUV und Art. 267 Abs. 1 AEUV verankerten Aufgabenteilung zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten auf der Tagesordnung. Die 2012 grundlegend revidierte Verfahrensordnung des Gerichtshofs spielt dabei eine zentrale Rolle. Dem Gerichtshof stehen mit den Art. 53 Abs. 2, 94 und 99 EuGH-VerfO Steuerungsinstrumente zur Verfügung, die es ihm erlauben, in Fällen offensichtlicher Unzuständigkeit, bei Nichterfüllung inhaltlicher Mindesterfordernisse sowie bei Fehlen vernünftiger Zweifel an der Antwort Vorabentscheidungsersuchen durch Beschluss ohne Beteiligung der Parteien zurückzuweisen. Es ist davon auszugehen, dass der Gerichtshof diese Bestimmungen konsequent anwenden wird.

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

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§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) 3. Teil: Besonderer Teil Schmidt-Räntsch

Johanna Schmidt-Räntsch § 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB) Literatur Jürgen Basedow, Der Bundesgerichtshof, seine Rechtsanwälte und die Verantwortung für das europäische Privatrecht, in: Gerd Pfeiffer/Joachim Kummer/Silke Scheuch (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner (1996), S. 651– 681; Michael Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses (2001); Christian Calliess, Der EuGH als gesetzlicher Richter im Sinne des Grundgesetzes – Auf dem Weg zu einer kohärenten Kontrolle der unionsrechtlichen Vorlagepflicht?, NJW 2013, 1905–1910; Ninon Colneric, Auslegung des Gemeinschaftsrechts und gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, ZEuP 2005, 225–233; Max Foerster, Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV und Anhängigkeit derselben Rechtsfrage am EuGH, EuZW 2011, 901–907; Ekkehardt von Heymann/Karen Annertzok, Zur Bindung der Rechtsprechung an nationale Gesetze und EU-Richtlinien, BKR 2002, 234–235; Nils Grosche/Jan Höft, Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ohne Grenzen? – Zugleich Besprechung von BGH, NJW 2009, 427 – Quelle, NJOZ 2009, 2294–2309 mit Zusammenfassung in NJW 2009, 2416–2417; Peter Hommelhoff, Die Rolle der nationalen Gerichte bei der Europäisierung des Privatrechts, in: Claus-Wilhelm Canaris u.a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Band 2 (2000), S. 889–925; Juliane Kokott/Thomas Hense/Christoph Sobotta, Die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof und die Folgen ihrer Verletzung, JZ 2006, 633–641; Andreas Piekenbrock/Götz Schulze, Die Grenzen richtlinienkonformer Auslegung – autonomes Richterrecht oder horizontale Direktwirkung, WM 2002, 521–529; Thomas Pfeiffer, Richtlinienkonforme Auslegung im Privatrecht, StudZR 2004, 171–194; ders., Richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut des nationalen Gesetzes – Die Quelle-Folgeentscheidung des BGH, NJW 2009, 412– 413; Oliver Remien, Die Vorlagepflicht bei Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, RabelsZ 66 (2002), 503–530; René Repasi, Die Reichweite des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Richtlinienumsetzung, EuZW 2009, 756–757; Karl Riesenhuber/Ronny Domröse, Richtlinienkonforme Rechtsfindung und nationale Methodenlehre – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Urt. v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis 403/01 Pfeiffer u.a., RIW 2005, 47– 54; Thomas Ritter, Neue Werteordnung für die Gesetzesauslegung durch den Lissabon-Vertrag, NJW 2010, 1110– 1114; Wulf-Henning Roth, Die Europäisierung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in: Barbara Dauner-Lieb/Horst Konzen/Karsten Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis (2003), S. 25–39; Bettina Schöndorf-Haubold, Die Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von EU-Recht durch nationale Gerichte, JuS 2006, 112–115; Reiner Schulze (Hrsg.), Die Auslegung europäischen Privatrechts und angeglichenen Rechts (1999); Monika Schlachter, Richtlinienkonforme Rechtsfindung – ein neues Stadium im Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und den nationalen Gerichten – Besprechung des Urteils EuGH v. 5.10.2004 – C-397/01 bis C-403/01, RdA 2005, 115–120; Natascha Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung (2004); Matthias Thume/Hervé Edelmann, Keine Pflicht zur systemwidrigen richtlinienkonformen Rechtsfortbildung – zugleich eine Besprechung der Urteile des EuGH vom 25.10.2005 in den Rechtssachen C-229/04 („Crailsheimer Volksbank“) und C-350/03 („Schulte“), BKR 2005, 477–487; Matthias Wendel, Neue Akzente im europäischen Grundrechtsverbund – Die fachgerichtliche Vorlage an den EuGH als Prozessvoraussetzung der konkreten Normenkontrolle, EuZW 2012, 213–218. Rechtsprechung EuGH v. 22.10.1987 – Rs. 314/85 Foto-Frost, Slg. 1987, 4199; EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis 244/98 Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941; EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945; EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273; EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215; EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), Slg. 2006, I-403; BGHZ 179, 27 – Quelle.

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I.

II.

3. Teil: Besonderer Teil

Übersicht Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB | 1–7 1. Öffentliches Recht | 1–3 2. Zivil- und Arbeitsrecht | 4 3. Strafrecht | 5–7 Auslegungskompetenz der OGB | 8–48 1. Auslegungsmonopol des EuGH | 8–13 a) Auslegung des Unionsrechts | 8–10 b) Anwendung des Unionsrechts | 11–12 c) Gültigkeit des Unionsrechts | 13 2. Vorlagerecht | 14–21 a) Entscheidungserhebliche Fragen | 14–15 b) Vorlagezeitpunkt | 16–18 c) Vorlageberechtigte Gerichte | 19–20 d) Vorlageermessen | 21 3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV | 22–32 a) Grundsatz | 22 b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht | 23–30 aa) Klärung durch den EuGH | 24–25 bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts | 26–28 cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH | 29–30 c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht | 31–32 4. Vorlageverfahren vor den OGB | 33–41 a) Form und Anlass der Vorlage | 33–34 b) Inhalt des Vorlagebeschlusses | 35–40 aa) Tenor | 35 bb) Begründung | 36–39 cc) Praxis der OGB | 40 c) Technische Abwicklung | 41 5. Vorlageverfahren vor dem EuGH | 42–47 a) Schriftliches Vorverfahren | 42–43 b) Mündliche Verhandlung | 44

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III.

IV.

V.

c) Urteil des EuGH | 45–46 d) Parallelverfahren | 47 Auslegungssituationen | 48–85 1. Vorabentscheidungsersuchen | 48–50 2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen | 51–52 3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts | 53–63 a) Primäres Gemeinschaftsrecht | 53 b) Verordnungsrecht | 54–60 aa) Öffentliches Recht | 54–57 bb) Zivilrecht | 58–60 c) Richtlinien und (Rahmen-) Beschlüsse | 61–63 4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften | 64–75 a) Umsetzungspflicht | 64–68 b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften | 69–74 aa) EU-konforme Auslegung | 69–71 bb) Überschießende Umsetzung | 72–74 c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln | 75 5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften | 76 6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht | 77–81 a) EU-rechtliche Haftung | 77–79 b) Amtshaftung | 80–81 7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten | 82–85 a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten | 82–83 b) Überbrückung durch Rechtsprechung | 84–85 Auslegungsmethoden | 86–90 1. Vorbemerkung | 86 2. Wortlautauslegung | 87 3. Systematische Auslegung | 88 4. Historische Auslegung | 89 5. Teleologische Auslegung | 90 Fazit | 91

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I. Mögliche Gegenstände der Auslegung durch die OGB 1. Öffentliches Recht Der weit überwiegende Bestand der Normen des EU-Rechts ist aus deutscher Sicht dem öffentli- 1 chen Recht zuzuordnen. Fragen der Anwendung und Auslegung solcher EU-Rechtsnormen stellen sich deshalb in erster Linie den für das öffentliche Recht zuständigen obersten Gerichtshöfen des Bundes, dem BVerwG, dem BFH und dem BSG. In der Rechtsprechung dieser obersten Gerichtshöfe nimmt das EU-Recht einen je nach Sachgebiet mehr oder weniger breiten, aber tendenziell immer breiter werdenden und auch immer mehr Rechtsgebiete durchdringenden Raum ein. So bildet etwa die Anwendung der einschlägigen umweltrechtlichen Richtlinien1 bei der gerichtlichen Überprüfung der meisten Planfeststellungsbeschlüsse den wesentlichen Schwerpunkt.2 Die Rechtsprechung des BFH etwa zum Umsatzsteuerrecht ist heute durch die Umsatzsteuerrichtlinien der EU geprägt.3 In nicht geringem Umfang ist auch der BGH mit der Anwendung solcher EU-Rechtsnormen 2 befasst. Wichtige Teilbereiche des öffentlichen Rechts sind nämlich dem BGH gesetzlich zugewiesen: Das sind vor allem das Kartellrecht, das Vergaberecht, die Überprüfung der Entscheidungen des DPMA und das Berufsrecht der Rechtsanwälte und Notare. Die ersten drei Bereiche sind sehr stark, der vierte Bereich schon merklich EU-rechtlich durchdrungen. Der BGH muss sich auch außerhalb solcher Rechtswegzuweisungen mit deutschem öffentli- 3 chem Recht und damit auch mit Verordnungen oder mit den das deutsche öffentliche Recht vorbestimmenden EU-Rechtsnormen befassen. Das ist beim Amtshaftungs-, Wettbewerbs- und auch im Strafrecht der Fall. Amtshaftungsfälle, Straftaten und Wettbewerbsverstöße können sich auf nahezu allen Feldern des öffentlichen Rechts ereignen. Auch das Freiheitsentziehungsrecht gehört dazu. Ob der Haftgrund der unerlaubten Einreise nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AufenthG gegeben ist, ist bei der Überprüfung von Ab- oder Zurückschiebungshaft zu prüfen,4 ggf. auch anhand der einschlägigen EU-Normen. Mit Art. 28 gibt die sog. Dublin-III-Verordnung5 auch den Haftgrund vor.5a § 62a AufenthG ist im Lichte der Rückführungsrichtlinie5b einschränkend auszulegen.5c Dementsprechend lassen sich die Gebiete des öffentlichen Rechts, mit denen der BGH auf diesen Wegen befasst wird, nicht thematisch eingrenzen.

_____ 1 Z.B. Richtlinie 79/409/EWG des Rates v. 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl. 1979 L 102/1 (Vogelschutz-Richtlinie); Richtlinie 92/43/EWG des Rates v. 21.5.1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, ABl. 1992 L 206/7, zuletzt geändert durch Richtlinie 2006/105/EG v. 20.11.2006, ABl. 2006 L 363/368 (FFH-Richtlinie); Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13. 12. 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. 2012 L 26/1 (UVP-Richtlinie). 2 Z.B. BVerwG, NuR 2009, 334, 408 – Flughafen Weeze; BVerwG, NuR 2009, 776 – BAB A 44; VG Dresden, UPR 2009, 360 – Dresdner Waldschlößchenbrücke (Vollabdruck bei juris). 3 Z.B. BFHE 226, 205; 226, 435. 4 Nachweise bei Schmidt-Räntsch, NVwZ 2014, 110, 113. 5 Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung), ABl. 2013 L 180/31. 5a BGH, Asylmagazin 2014, 315 Rn. 11. 5b BGH v. 25.7.2014 – V ZB 137/14, Rn. 8 (juris). 5c Richtlinie 2008/115/EG des europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. 2008 L 348/98.

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3. Teil: Besonderer Teil

2. Zivil- und Arbeitsrecht 4 Ähnlich stark EU-rechtlich durchdrungen wie das öffentliche Recht ist inzwischen das Arbeits-

recht. Neben den grundrechtlichen Gewährleistungen des EU-Primärrechts6 sind hier eine ganze Reihe von EU-Richtlinien zum internationalen,7 zum Individual-8 und zum kollektiven Arbeitsrecht9 zu nennen. Diese Richtlinien prägen auch die Rechtsprechung des BAG zu den Umsetzungsvorschriften.10 Demgegenüber hat der BGH als oberster Gerichtshof der ordentlichen Gerichtsbarkeit in erster Linie Vorschriften des Zivilprozessrechts, des materiellen Zivil- und Handelsrechts und des Strafrechts anzuwenden. Aber auch dazu gehören in inzwischen nicht unbeträchtlichem, allerdings gebietsweise unterschiedlichem Umfang auch unmittelbar geltende EU-Rechtsnormen. Die EU-rechtlich vorbestimmten Bereiche des deutschen Zivilprozess-, Zivil- und Handelsrechts sind vor allem: das internationale Zivilprozess- und Insolvenzrecht, das Gesellschaftsrecht, das Recht der gewerblichen Schutzrechte und das Urheberrecht, das Handelsvertreterrecht, das Kaufrecht und das Verbraucherschutzrecht.

3. Strafrecht 5 Das Strafrecht der Mitgliedstaaten der EU ist sehr heterogen und deshalb bislang in seinem

Kernbestand noch nicht so tief EU-rechtlich vorbestimmt wie das Zivilrecht. Das bedeutet aber nicht, dass das Strafrecht einer solchen Durchdringung von vornherein entzogen wäre. Die Querschnittskompetenzen der EU erfassen auf ihrem Sektor alle Rechtsgebiete ohne Ausnahme, auch das Strafrecht. Bislang hat die EU aber meist davon abgesehen, den Mitgliedstaaten speziell strafrechtliche 6 Sanktionen vorzugeben, sondern ihnen die Wahl der Sanktion, oft auch das Durchsetzungsmittel überhaupt, freigestellt. Deshalb besteht meist kein EU-rechtlicher Zwang zur Umsetzung in Form von Strafrechtsnormen, der aber entgegen verbreiteter Ansicht möglich wäre.11 Allerdings müssen auch Tatbestände von Strafrechtsnormen bisweilen unter Rückgriff auf Normen anderer Rechtsgebiete ausgefüllt werden. Soweit diese EU-rechtlich geregelt oder vorbestimmt sind, muss ggf. auch bei der Anwendung von Strafrechtsnormen EU-Recht angewendet werden. Bislang ist das meist auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts der Fall. Eine solche Notwendigkeit kann aber auch bei den Normen des Kernstrafrechts auftre7 ten. Beispiele sind das Steuer- und Umweltstrafrecht12 oder § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG, den der BGH

_____ 6 Dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 2 Rn. 3, 10, 11. 7 Z.B. Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. 1997 L 18/1; dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 6. 8 Z.B. Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/23; Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 30/16; zu diesen: Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, §§ 9 und 11. 9 Z.B. Richtlinie 2009/38/EG des Rates v. 6.5.2009 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrats oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, ABl. 2009 L 122/28; dazu Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht, § 28. 10 Z.B. BAG, RIW 2010, 76; NZA 2009, 378; BAGE 126, 352. 11 EuGH v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 Kommission ./. Rat, Slg. 2005, I-7879 Rn. 48. 12 Vgl. etwa BGHSt 43, 219, 224 ff.; BGHSt 37, 168, 174 ff. Schmidt-Räntsch

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unter Rückgriff auf Art. 72 ff. Börsenrechtsrichtlinie13 und Kommentare der Kommission14 auslegt.15 Neben der Ausfüllung von Straftatbeständen durch das Unionsrecht ergibt sich bisweilen auch die Notwendigkeit, nationale Strafnormen EU-rechtskonform einzuschränken.16

II. Auslegungskompetenz der OGB 1. Auslegungsmonopol des EuGH a) Auslegung des Unionsrechts Dieses thematisch breit angelegte Spektrum von Fallgestaltungen, die die obersten Gerichtshöfe 8 des Bundes unter unmittelbarer oder mittelbarer Anwendung und Auslegung von EU-Recht zu lösen haben, gibt inhaltlich vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung methodischer Grundsätze zur Anwendung und Auslegung des EU-Rechts. Diese können die Gerichtshöfe des Bundes aber nur in eingeschränktem Umfang nutzen. Die Auslegung des Unionsrechts ist nach Art. 267 Abs. 1 AEUV Sache des EuGH. Ihm allein 9 steht es zu, den Vertrag und das Sekundärrecht auszulegen und die Gültigkeit17 von Handlungen der Organe zu überprüfen. Handlungen der Organe sind im vorliegenden Kontext vor allem die Verordnung, die Richtlinie, die Entscheidung18 (des Rates oder der Kommission) und der nach Art. 81 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 288 Abs. 4 AEUV mögliche Beschluss, der inhaltlich dem nach Maßgabe des bisherigen Art. 35 EU möglichen Rahmenbeschluss19 nach dem bisherigen Art. 34 EU entspricht. Seine Auslegungskompetenz könnte der EuGH nicht wahrnehmen, wenn die Gerichte der 10 Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit und unter bestimmten Voraussetzungen auch die Verpflichtung hätten, Fragen der Auslegung des Unionsrechts und der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten dem EuGH vorzulegen. Das ist der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV.

b) Anwendung des Unionsrechts Von der Auslegung des Unionsrechts ist seine Anwendung auf den konkreten Einzelfall zu un- 11 terscheiden.20 Diese Unterscheidung hat der EuGH im Urteil Freiburger Kommunalbauten21 prägnant herausgearbeitet. In jenem Fall hatte der VII. Zivilsenat des BGH dem EuGH die Frage vorgelegt, ob das Klauselwerk einer Bürgschaft nach der MaBV mit der Klauselrichtlinie in Überein-

_____ 13 Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.5.2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen, ABl. 2001 L 184/1. 14 Kommentare zu bestimmten Artikeln der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.7.2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates v. 25.7.1978 sowie zur Siebenten Richtlinie 83/349/EWG v. 13.6.1983 über Rechnungslegung v. November 2003, unveröffentlicht, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/internal_market/accounting/docs/ ias/200311-comments/ias_200311-comments_de.pdf. 15 BGHSt 49, 381, 389. 16 BGH, NJW 2003, 2842, 2843. 17 Z.B. BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Omeprazol. 18 Z.B. BGHZ 146, 153, 160. 19 Zu dessen Wirkungen: EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; Adam, EuZW 2005, 558, 560. 20 V. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EGV Rn. 32. 21 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

stimmung steht.22 Diese Vorlage hat der EuGH als unzulässig zurückgewiesen. Er hat dabei in Abgrenzung zu seiner Océano-Entscheidung23 deutlich gemacht, dass es bei der Auslegung des Rechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens, wie im nationalen Recht, im Wesentlichen darum geht, die für die Subsumtion eines Einzelfalls unter das Gesetz erforderlichen Obersätze und ihren Inhalt festzustellen. Ob aber im Einzelfall die Erfordernisse des so konkretisierten EU-Rechts erfüllt sind oder nicht, sei, so der EuGH,24 nicht mehr eine Frage der Auslegung des EU-Rechts, sondern seiner Anwendung auf den Einzelfall, die den Gerichten der Mitgliedstaaten obliege. Diese Grundsätze hat er im Fall Kattner Stahlbau GmbH25 bekräftigt. Aus der Rechtsprechung des BGH lassen sich als Anwendungsbeispiele weiter nennen die 12 Anwendung des EuGVÜ bzw. der EuGVVO,26 des Marken- und Sortenschutzrechts27 oder des Arznei- und Lebensmittelrechts28 im konkreten Einzelfall oder die Prüfung von Mietvertragsklauseln in der Form von AGB.29 Nicht vorlagefähig wäre ferner etwa auch die Frage, ob die konkreten Umstände des Einzelfalls die Annahme außergewöhnlicher Umstände im Sinne der Rechtsprechung des EuGH30 rechtfertigen, die eine Ausnahme von den artenschutzrechtlichen Verboten nach Art. 16 FFH-Richtlinie erlauben.31 Entsprechendes gilt für die Frage, ob der Bundesverkehrswegeplans 2003 mit Vorschriften der FFH-Richtlinie und der Vogelschutz-Richtlinie übereinstimmt.32

c) Gültigkeit des Unionsrechts 13 Im Verfahren vor dem nationalen Gericht kann nicht nur die Auslegung und Anwendung des

EU-Primär- oder EU-Sekundärrechts, sondern auch die Frage entscheidungserheblich sein, ob das EU-Sekundärrecht seinerseits dem Primärrecht entspricht. Zweifel daran könnten die Mitgliedstaaten durch eine, allerdings nach Art. 263 Abs. 6 AEUV innerhalb von zwei Monaten nach Bekanntgabe des Rechtsakts zu erhebende, eigene Anfechtungsklage nach Art. 263 Abs. 2 AEUV klären.33 Geschieht das nicht, hindert das nach Art. 277 AEUV eine Inzidentüberprüfung aus Anlass eines nationalen Gerichtsverfahrens nicht. Der EG-Rechtsakt kann aber nicht durch das nationale Gericht, auch nicht durch einen nationalen obersten Gerichtshof, sondern nur durch den EuGH für ungültig erklärt werden.34

_____ 22 BGH, BGH-Report 2002, 835, 836. 23 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 Rn. 21–24. 24 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403 Rn. 22. 25 EuGH v. 5.3.2009 – Rs. C-350/07 Kattner Stahlbau-GmbH ./. Maschinenbau- und Metall-Berufsgenossenschaft, Slg. 2009, I-1513 Rn. 24. 26 BGH, NJW 2006, 230; BGH, GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet. 27 BGH, BGH-Report 2005, 446, 447 – Maglite; BGHZ 139, 59, 63 f. – Fläminger; BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II; GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III; EuZW 2009, 708. 28 BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; BGH, GRUR 2006, 513, 514 f. – Arzneimittelwerbung im Internet, mwN zur Rechtsprechung des EuGH. 29 BGH, NZM 2004, 734. 30 EuGH v. 14.6.2007 – Rs. C-342/05 Kommission ./. Finnland, Slg. 2007, I-4713. 31 Beispiel nach BVerwG, NuR 2009, 414. 32 BVerwG v. 3.12.2008 – 9 B 35/08, juris. 33 Beispiele sind die beiden deutschen Klageverfahren gegen die Tabakwerberichtlinie, vgl. EuGH v. 5.10.2000 – Rs. C-376/98 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419 (Nichtigerklärung) und EuGH v. 12.12.2006 – Rs. C-380/03 Deutschland ./. Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573 (Klageabweisung). 34 EuGH v. 21.2.1991 – verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Slg. 1991, I-415 Rn. 17; EuGH v. 21.3.2000 – Rs. C-6/99 Greenpeace France u.a., Slg. 2000, I-1651 Rn. 54; EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade (Vereinigtes Königreich), Slg. 2006, I-403 Rn. 27; EuGH v. 8.4.2014 – verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Digital Rights Ireland. Schmidt-Räntsch

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2. Vorlagerecht a) Entscheidungserhebliche Fragen Fragen der Auslegung des EU-Rechts können die Gerichte der Mitgliedstaaten nach Art. 267 Abs. 2 14 AEUV dem EuGH vorlegen, wenn sie entscheidungserheblich sind. Aus welchen Gründen das der Fall ist, ist ohne Bedeutung. Die Entscheidungserheblichkeit kann sich schon daraus ergeben, dass es sich um eine unmittelbar anwendbare Verordnung handelt. Sie kann auch daraus folgen, dass eine nationale Vorschrift zur Umsetzung einer Richtlinie oder eine nicht speziell zur Umsetzung von EU-Recht geschaffene, dazu aber auch dienende allgemeine nationale Vorschrift unter Rückgriff auf die Richtlinie EU-konform auszulegen oder durch EU-Recht auszufüllen und zu diesem Zweck festzustellen ist, welche inhaltlichen Vorgaben das EU-Recht hierfür macht.35 Bei der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit steht dem nationalen Richter ein Er- 15 messen zu. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist es allein Sache des nationalen Gerichts, sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen.36 Der EuGH prüft deshalb grundsätzlich nicht, ob der vorlegende Richter die Erheblichkeit der ihm gestellten Frage nach dem nationalen Recht zutreffend angenommen hat.37 Die Grenzen des Ermessens sind aber erreicht, wenn die Erheblichkeit der dem EuGH vorgelegten Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits aus dem Vorlagebeschluss nicht mehr erkennbar wird oder die dem EuGH vorgelegte Frage nur hypothetischen Charakter hat.38 Unerheblich ist etwa die Frage nach den Grenzen des Anwendungsbereichs einer Richtlinie dann, wenn der nationale Gesetzgeber über die Richtlinie hinausgehen kann.39

b) Vorlagezeitpunkt Art. 267 Abs. 2 AEUV schreibt nicht vor, zu welchem Zeitpunkt während des Verfahrens der na- 16 tionale Richter das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten hat. Der EuGH verlangt aber, dass der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen so weit geklärt sind, dass sich der Gerichtshof über alle Tatsachen- und Rechtsfragen unterrichten kann, auf die es bei der von ihm vorzunehmenden Auslegung des Unionsrechts möglicherweise ankommt.40 Auch dabei hat der nationale Richter einen Beurteilungsspielraum, den er aber überschrei- 17 tet, wenn im Zeitpunkt der Vorlage nicht absehbar ist, dass und weshalb es auf die Frage ankommt.41 Fehlt es an der Sachaufklärung, ist sie vor einer Vorlage an den EuGH nachzuho-

_____ 35 Zu Vorlageberechtigung und ggfs. -pflicht in Fällen einer überschießenden Richtlinienumsetzung s. Habersack/ Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 49 ff. 36 EuGH v. 15.12.1995 – Rs. C-415/93 Bosman, Slg. 1995, I-4921 Rn. 59; EuGH v. 15.6.2006 – Rs. C-466/04 Acereda Herrera, Slg. 2006, I-5341 Rn. 47; EuGH v. 10.3.2009 – Rs. C-345/06 Heinrich ./. Österreich, Slg. 2009, I-1659 Rn. 36 f.; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, Slg. 2009, I-10063 Rn. 25; EuGH v. 28.2.2012 – Rs. C-41/11 Inter-Environnement Wallonie and Terre wallonne, Rn. 35. 37 Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 35; Schwarze-Schwarze, Art. 267 AEUV Rn. 37. 38 EuGH v. 13.3.2001 – Rs. C-379/98 PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099 Rn. 39; EuGH v. 17.5.2001 – Rs. C-340/99 TNT Traco, Slg. 2001, I-4109 Rn. 31; EuGH v. 6.12.2001 – Rs. C-472/99 Clean Car Autoservice, Slg. 2001, I-9687 Rn. 14; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, Slg. 2009, I-10063; in der Sache Mangold hat der EuGH ein objektives Bedürfnis zur Klärung der angesprochenen Fragen ausreichen lassen: EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 38. 39 BGH, NJW 2005, 53, 55 für Versteigerung nach § 312d Abs. 4 BGB; BGHSt 43, 219, 226 ff. für Umweltstrafrecht. 40 Nr. 19 der Hinweise des EuGH zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 11.6.2005, ABl. 2005 C 143/1. 41 EuGH v. 16.7.1992 – Rs. C-83/91 Meilicke, Slg. 1992, I-4871 Rn. 23, 26, 29. Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

len.42 Wenn aber die Ermittlungen eine sachgerechte Beantwortung der Vorlagefrage erlauben, prüft der EuGH nicht nach, ob sich nach nationalem Recht oder nach dem Vortrag der Parteien eine Lösung ohne Beantwortung der Frage finden ließe.43 Der nationale Richter könnte den EuGH mit einer Frage zur Auslegung von Unionsrecht befassen, bevor er eine umfangreiche Beweisaufnahme durchführt, deren Ergebnis sie entbehrlich macht. Er könnte aber auch den einzigen Zeugen zunächst noch vernehmen. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes stellt sich diese Frage nicht, weil sie an den festgestellten Sachverhalt gebunden sind. Es lässt sich nicht immer ausschließen, dass der EuGH eine Frage zur Auslegung des EU18 Rechts beantwortet, obwohl dies ex post betrachtet nicht notwendig gewesen wäre. Ein Beispiel hierfür ist das Vorabentscheidungsersuchen des BGH44 im Fall Heininger zur Reichweite der früheren Haustürgeschäfterichtlinie45 (HtWRL), in dem sich nach der Entscheidung des EuGH46 und der Aufhebung des Berufungsurteils durch den BGH47 ergab, dass es an einer Haustürsituation im Sinne der Richtlinie48 fehlte.49

c) Vorlageberechtigte Gerichte 19 Vorlageberechtigt ist, außer in den Fällen des bisherigen Art. 68 EG,50 jedes Gericht, aber nur das

eines Mitgliedstaats, kein supranationales Gericht.51 Es kommt nicht darauf an, welchem Gerichtszweig es angehört. Unerheblich ist, ob es sich um ein erstinstanzliches, ein Berufungs-, ein Revisions- oder um ein Verfassungsgericht handelt. Ohne Bedeutung ist auch, welcher Spruchkörper in dem Gericht zu entscheiden hat, ob es sich um einen allein entscheidenden Amtsrichter, einen Einzelrichter, eine Kammer oder einen Senat handelt. Der EuGH prüft nicht, ob der nationale Richter nach den nationalen Vorschriften zuständig 20 war. Entscheidend für ihn ist nur, dass ein wirksames Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH vorliegt.

d) Vorlageermessen 21 Das nationale Gericht ist nach Art. 267 Abs. 2 AEUV grundsätzlich nicht verpflichtet, vorzulegen.

Es kann die EU-rechtliche Vorfrage auch selbst entscheiden und die Anrufung des EuGH dem Berufungs- oder Revisionsverfahren oder einem anderen statthaften Rechtsmittelverfahren (in der ordentlichen Gerichtsbarkeit z.B. dem Rechtsbeschwerdeverfahren) überlassen. Bei der Aus-

_____ 42 Z.B. BGH, NJW 1999, 3261, 3263; BGH, GRUR 2006, 405, 407 – Aufbereiter II: Zurückverweisung mit der Maßgabe, nach Aufklärung selbst vorzulegen. 43 EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meerts ./. Proost NV, Slg. 2009, I-10063. 44 BGH, NJW 2000, 521. 45 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1986 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31, aufgegangen in der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64. 46 EuGH v. 13.12.2001 – Rs. C-481/99 Heininger, Slg. 2001, I-9945. 47 BGHZ 150, 248, 251. 48 Art. 1 Abs. 1 HtWRL ist strenger als § 312 BGB, wonach der Vertrag nicht in der Haustürsituation geschlossen, sondern nur durch diese bestimmt werden muss: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA; AnwaltKommBGB-Ring, § 312 BGB Rn. 2. 49 OLG München, WM 2003, 69 f.; siehe auch Stotz, in diesem Band, § 22 Rn. 45. 50 Dazu EuGH v. 25.6.2009 – Rs. C-14/08 Roda Golf & Beach Resort SL, Slg. 2009, I-5439. 51 EuGH v. 14.6.2011 – Rs. C-196/09 Miles ./. Europäische Schulen, Slg. 2011, I-5105 Rn. 39 f. Schmidt-Räntsch

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übung des Ermessens sollte allerdings der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens berücksichtigt werden. Es soll in erster Linie divergierende Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten über den Inhalt des Unionsrechts vermeiden. Deshalb sollte auch der nicht zur Vorlage verpflichtete Richter von einer Vorlage im Grundsatz nur absehen, wenn ein zur Vorlage verpflichteter Richter dazu nicht verpflichtet wäre,52 also nur, wenn der Inhalt des EU-Rechts offenkundig oder anhand der gefestigten Rechtsprechung zu ermitteln ist.53 Wenn zu erwarten ist, dass die Frage auch bei anderen Gerichten derselben Gerichtsbarkeit auftritt, sollte dagegen von einer Vorlage abgesehen, ein Rechtsmittel zugelassen und die Koordinierungsmöglichkeit des zuständigen obersten Gerichtshofs des Bundes genutzt werden. Abweichend hiervon muss das nationale Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH richten, wenn es in seiner Entscheidung einen EU-Rechtsakt (inzident) für ungültig erklären will. Es dürfte auch nicht abwarten, ob der zuständige oberste Gerichtshof seine Auffassung teilt.54 Will ein Gericht eine Norm zur Umsetzung von Unionsrecht nach Art. 100 GG dem BVerfG vorlegen, muss es zuvor ggf. durch ein Vorabentscheidungsersuchen klären, ob dem Gesetzgeber ein Spielraum verblieben ist.55

3. Vorlagepflicht der OGB gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV a) Grundsatz Vorlagepflichtig sind nach Art. 267 Abs. 3 AEUV Gerichte, deren Entscheidungen mit Rechtsmit- 22 teln nach dem innerstaatlichen Recht nicht mehr angefochten werden können. Das sind in erster Linie die obersten Gerichtshöfe des Bundes und das BVerfG.56 Dazu gehören aber auch andere Gerichte, wenn sie Entscheidungen erlassen, gegen die förmliche Rechtsmittel wie die Berufung oder Revision, die Beschwerde, die Rechtsbeschwerde oder die Nichtzulassungsbeschwerde57 nicht gegeben sind oder von der Zulassung durch das entscheidende Gericht abhängen und dieses das Rechtsmittel nicht zulassen will.

b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht Die nach Wortlaut und Zweck des Art. 267 Abs. 3 AEUV an sich unbeschränkte Pflicht der obers- 23 ten Gerichtshöfe des Bundes zur Vorlage kennt allerdings doch einige Ausnahmen. aa) Klärung durch den EuGH. Eine Vorlage ist nicht erforderlich, wenn die anstehenden 24 Fragen durch den EuGH bereits geklärt sind. Dann hat das Vorabentscheidungsverfahren nämlich seinen Zweck erreicht. Eine spezielle Ausprägung dieser Situation ist der Fall, dass der EuGH eine grundsätzliche Frage geklärt hat und der zuständige oberste Gerichtshof des Bundes eine Änderung der eigenen Rechtsprechung vornimmt und dabei Einzelheiten zu klären hat. Hierfür lassen sich Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG anführen, das jeweils eine erneute Anrufung des EuGH nicht als notwendig angesehen hat. Ein Beispiel ist die Auslegung des Begriffs Entlassung in der Massenentlassungs-Richtlinie (MERL)58 durch den

_____ 52 Davon gehen BGH, NJW 1999, 3261, 3263 und wohl auch BGHSt 37, 168, 175 aus. 53 In diesem Sinne wohl BVerwG, NVwZ 2005, 598, 601. 54 Vgl. oben Rn. 13 a.E. 55 BVerfGE 129, 186 Rn. 47 f. 56 Dies hat bisher nur einmal vorgelegt, nämlich im Fall betreffend den sog. OTM-Beschluss des Rates der EZB, vgl. BVerfG, NJW 2014, 907. 57 Schwarze-Schwarze, Art. 267 AEUV Rn. 44. 58 Richtlinie 98/59/EG des Rates v. 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen, ABl. 1998 L 225/16.

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3. Teil: Besonderer Teil

EuGH.59 Das BAG änderte seine Rechtsprechung, legte aber wegen der von ihm für das nationale deutsche Recht verneinten Rückwirkung nicht erneut vor.60 Ähnlich hielt es der BGH bei der Umsetzung des Urteils des EuGH61 zur internationalen Zuständigkeit für Insolvenzanfechtungsklagen bei fehlendem sachlichem Gerichtsstand im Inland.62 Zu einer solchen wiederholten Anfrage kann es, außer bei einem Versehen des nationalen 25 Gerichts, vor allem dann kommen, wenn das nationale Gericht nicht weiß, dass der EuGH mit der von ihm gestellten Frage bereits befasst ist. Um das zu vermeiden, werden die Vorabentscheidungsersuche der nationalen Gerichte und die von ihnen vorgelegten Fragen im Teil C des Amtsblatts der EU veröffentlicht. Allerdings geht der Sachverhalt, der dem Ersuchen zugrunde liegt, aus dem Veröffentlichungstext nicht hervor, so dass das nationale Gerichte nicht ohne weiteres beurteilen kann, ob das dem EuGH vorliegende Vorabentscheidungsersuchen alle Aspekte des zu entscheidenden Falls abdeckt. Das kann zu Doppelvorlagen führen. Der EuGH kann bei dem vorlegenden nationalen Gericht anfragen, ob es im Blick auf die ergangenen Entscheidungen des EuGH an dem Ersuchen festhält63 und solche sachlich unnötigen Vorentscheidungsersuchen gemäß Art. 104 § 3 Abs. 1 EuGH-VerfO nach Anhörung des Generalanwalts im Beschlusswege erledigen64 bb) Offenkundigkeit der Auslegung des EU-Rechts. Wie das nationale Recht ist auch das EU-Recht nicht immer auslegungsbedürftig. Es gibt auch im EU-Recht zahlreiche Vorschriften, deren Inhalt sich ohne weiteres erschließt. Solche Fragen können die nationalen Gerichte selbst entscheiden, ohne dass eine Schwächung des EU-Rechts durch widersprüchliche Auslegungen der nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten zu befürchten ist. Deshalb ist eine Vorlage nach ständiger Rechtsprechung des EuGH entbehrlich, wenn die 27 Auslegung des EU-Rechts offenkundig ist. Offenkundig ist die Auslegung dann, wenn keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und der EuGH auch keine Zweifel an dem Auslegungsergebnis haben würden.65 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerfG ist die (fehlende) Notwendigkeit, das Antiterrordateigesetz am Maßstab des EU-Rechts zu messen.66 Beispiele aus der Rechtsprechung des BGH sind die Anforderungen an eine verdeckte Sacheinlage,67 die Eignung eines Zahlwortes als Marke,68 die Verfahrensaussetzung nach EU-Sortenschutzrecht,69 der Begriff des Reisenden in der Pauschalreiserichtlinie, 70 das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht und Wettbewerbsrecht71 oder die Anforderungen an die internationale Zuständigkeit für Unterlassungs-72 oder Klagen aus Verbraucherwerkverträgen. 73 Beispiele aus der Rechtsprechung des BVerwG sind die Frage, ob ein Einzelner einen Verstoß gegen die FFH-Richtlinie geltend machen

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_____ 59 EuGH v. 27.1.2005 – Rs. C-188/03 Junk, Slg. 2005, I-885. 60 BAG, NZA 2007, 1101. 61 EuGH v. 12.2.2009 – Rs. C-339/07 Christopher Seagon ./. Deko Marty Belgium NV, Slg. 2009, I-767. 62 BGH, NJW 2009, 2215. 63 Z.B. BGH, WM 2013, 2160. 64 Ein Beispiel EuGH v. 19.5.2009 – Rs. C-166/08 Strafverfahren gegen Guido Weber, Slg. 2009, I-4253. 65 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 16; v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 67; Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 47 f. 66 BVerfGE 133, 277 Rn. 90. 67 BGHZ 110, 47, 69 ff. – IBH/Lemmerz. 68 BGH, NJW 1995, 1752, 1754 – Quattro II. 69 BGH, GRUR 2009, 750. 70 BGH, NJW 2002, 2238, 2239 f. 71 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 72 BGH, NJW 2006, 689. 73 BGH, ZIP 2006, 1013, 1016. Schmidt-Räntsch

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kann,74 dass nicht jedem Vorhaben, das das Erfordernis der Planrechtfertigung erfüllt, ein besonderes Gewicht zukommt, das eine Abweichungsentscheidung nach Art. 6 Abs. 4 FFH-Richtlinie rechtfertigt,75 die Anwendbarkeit der SUP-Richtlinie76 auf Altfälle,77 die Anwendung des Beihilferechts78 oder die Reichweite des Verbandsklagerechts nach der UVP-Richtlinie.79 Beispiele aus der Rechtsprechung des BAG sind die Vereinbarkeit der hochschulrechtlichen Befristungsregelung mit der Befristungsrichtlinie der EU80 oder die Anwendung von Art. 27 Abs. 1 EuGVVO.81 Offenkundig ist eine Auslegung nach dem Verständnis der obersten Gerichtshöfe des Bun- 28 des nicht nur, wenn sie keiner weiteren Erklärung bedarf. Es genügt vielmehr, was aber regelmäßig nicht ausdrücklich ausgeführt wird, wenn das Auslegungsergebnis ohne Schwierigkeiten aus dem Unionsrecht entwickelt werden kann.82 Das muss anhand des Unionsrechts begründet werden; die Begründung muss auch zeigen, dass sie wirklich eindeutig ist.83 cc) Klärung anhand der Rechtsprechung des EuGH. Zwischen den beiden vorgenannten 29 Fallgruppen liegt ein Fall, der in der Praxis häufig vorkommt: Der Fall vor dem nationalen Gericht wirft eine Frage der Anwendung und Auslegung des EU-Rechts auf, die der EuGH zwar noch nicht exakt in dieser Form entschieden hat, die sich aber anhand der Rechtsprechung des EuGH ohne weiteres beantworten lässt. In dieser Fallgestaltung ist das EU-Recht durch die bereits vorhandene Rechtsprechung des EuGH so klar geworden, dass es weitergehender Konkretisierung nicht bedarf. Voraussetzung hierfür ist eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH, unabhängig davon, in welcher Verfahrensart sie sich gebildet hat; das nationale Gericht ist an einer neuen Vorlage nicht gehindert, wenn es diese für angebracht hält.84 Wann diese Voraussetzung zu bejahen ist, lässt sich naturgemäß nicht allgemein bestimmen. Dies richtet sich vielmehr nach dem Grad der Durchdringung des betreffenden Rechtsgebiets durch den EuGH und dem Inhalt der Frage. Als Beispiele mögen der Umfang der Pflicht zur Anerkennung ausländischer Eignungsprü- 30 fungen für die Zulassung als Wirtschaftsprüfer, der sich nach Ansicht des BGH aus der Rechtsprechung des EuGH ohne die Notwendigkeit einer Vorlage an den EuGH ermitteln lässt,85 die Dienstleistungsfreiheit von Rechtsanwälten,86 die Strukturkündigung nach der GVO 1400/2002 (Kraftfahrzeuge),87 die Anwendung des Eignungsprüfungsgesetzes auf ausländische Rechtsanwälte,88 der Begriff des Aufbereiters nach EU-Sortenschutzrecht,89 die Voraussetzungen des sortenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs, 90 Eintragungshindernisse bei Formmarken, 91 die Rechtspre-

_____ 74 BVerwGE 128, 358, 366 – Mühlenberger Loch. 75 BVerwG, NuR 2009, 789, 790 – Flughafen Münster. 76 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.7.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. 2001 L 197/30. 77 BVerwG v. 23.8.2006 – 4 A 1075/04, juris. 78 BVerwGE 138, 322 Rn. 13, 17. 79 BVerwGE 148, 155 Rn. 24 ff. 80 BAG, NZA 2009, 84. 81 BAG, IPRspr. 2007, Nr. 180c, 498. 82 Z.B. BGHZ 161, 79, 83 f.; BVerwG, NVwZ 1996, 389 – Tiergartentunnel Berlin; BAG, DB 2009, 626 – Altersdiskriminierung bei betriebsbedingter Kündigung. 83 BVerfG, NJW 2010, 1268, 1271. 84 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 14 f. 85 BGH, NJW 2005, 747 f. 86 BGH, NJW 2009, 1822; BGH, NJW 2011, 1517 Rn. 13 ff.; vgl. auch BGH, NJW 2010, 3783. 87 BGH, WM 2009, 1121. 88 BGH, NJW 1997, 867, 868 f. 89 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. 90 BGH, GRUR 2006, 407, 409 – Auskunftsanspruch bei Nachbau III. 91 BGH, GRUR 2006, 589, 590 – Rasierer mit drei Scherköpfen. Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

chung des EuGH zur Übertragung der Milch-Referenzmengen auf den Verpächter nach der VO (EWG) Nr. 3950/92,92 zur Heilmittelwerbung,93 seine Rechtsprechung zu den Schranken des markenrechtlichen Schutzes bei einer unzulässigen Beschränkung des freien Warenverkehrs,94 der Begriff derselben Tat in Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens,95 die Anwendung der Richtlinie 2000/78/EG96 auf Notare,97 die Ausnahme der Notare von der Dienstleistungsfreiheit98 oder das Telekommunikationsrecht99 dienen. Aus der Rechtsprechung des BSG wären die Fragen zu nennen, ob sozialversicherungsrechtliche Voraussetzungen des nationalen Rechts auch durch den Bezug von Arbeitsunfallrenten eines anderen Mitgliedstaats erfüllt100 oder ob Ansprüche auf Familienleistungen für die Zeit vor Erlass des Sürül-Urteils des EuGH vom 4. Mai 1999101 aus Art. 3 Abs. 1 des Assoziationsratsbeschlusses 3/80 abgeleitet werden können.102 Ähnlich beurteilte das BAG im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH103 die Frage, ob nur die von dem Arbeitgeber finanzierten, nicht die zusätzlich und freiwillig allein vom Arbeitnehmer finanzierten Anteile der von der Pensionskasse geschuldeten Versorgungsleistungen Leistungen der betrieblichen Altersversorgung sind und deshalb dem Diskriminierungsverbot des Art. 157 AEUV unterfallen.104 Ein anderes Beispiel ist die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 MERL, die nach Ansicht des BAG eindeutig ergibt, dass für die Erfüllung der Konsultationspflicht bei Massenentlassungen nicht die Anrufung eines unparteiischen Dritten gefordert ist, um mit dem Betriebsrat als nationalem Arbeitnehmervertreter zu einer Einigung über die geplante Massenentlassung zu gelangen.105 Beispiele aus der Rechtsprechung des BFH sind die Frage, ob die pauschale Besteuerung von Erträgen aus im Inland nicht registrierten ausländischen Investmentfonds (sog. „schwarzen Fonds“) gemäß § 18 Abs. 3 AuslInvestmG gegen Art. 65 AEUV106 oder ob die Anknüpfung der Kindergeldberechtigung an den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in den Fällen, in denen der Kindergeldberechtigte mit seiner Familie den Wohnsitz in das EU-Ausland verlegt, gegen EG-Primärrecht verstößt.107 Ein Beispiel aus der Rechtsprechung des BVerwG sind die Einzelheiten der Anwendung von Art. 4 der Vogelschutz-Richtlinie.108

c) Verstöße gegen die Vorlagepflicht 31 Verstöße gegen die Vorlagepflicht stellen eine Verletzung des EU-Vertrages dar, die grundsätz-

lich mit den Mitteln des Vertragsverletzungsverfahrens verfolgt werden kann.109 In der Regel

_____ 92 BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211. 93 BGH, NJW-RR 2009, 620, 622. 94 BGH, GRUR 2005, 52, 53; ähnlich BGH, EuZW 2010, 71 – Kaufgewährleistungsrichtlinie. 95 BGH, NJW 2014, 1025 Rn. 15. 96 Richtlinie des Rates 2000/78/EG v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16. 97 BGHZ 185, 30 Rn. 15 f. und BGH, NJW 2014, 631. 98 BGHZ 196, 271 Rn. 29 ff. 99 BGH, NJW 2011, 1509 Rn. 33 f. 100 BSGE 95, 293. 101 EuGH v. 4.5.1999 – Rs. C-262/96 Sürül, Slg. 1999, I-2685. 102 BSG, EuroAS 2004, 162. 103 EuGH v. 8.9.1994 – Rs. C-200/91 Coloroll, Slg. 1994, I-4389 Rn. 90 f. 104 BAGE 112, 1. 105 BAGE 99, 377. 106 BFH, BFH/NV 2009, 731. 107 BFH, FamRZ 2009, 507. 108 BVerwG, Buchholz 451.91 Europ UmweltR Nr. 33 – Anschlussstelle Magdala/Jena/Göschwitz. 109 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 106 ff. Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

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wird es allerdings bei einem feststellenden Urteil des EuGH nach Art. 258 AEUV sein Bewenden haben. Zu der Verhängung von Zwangsgeldern nach Art. 260 AEUV wird es kaum kommen können, da das einzelstaatliche Verfahren nicht wiederholbar ist. Unter besonderen Umständen kann die Verletzung der Vorlagepflicht aber auch einen Staats- 32 haftungsanspruch nach sich ziehen,110 der nicht durch nationale Vorschriften ausgeschlossen werden darf.111 Das setzt allerdings voraus, dass der Verstoß offenkundig112 ist. Daran kann es fehlen, wenn das Gericht (wie im Fall Köbler der österreichische VwGH) eine Vorlage in der irrigen Annahme zurückzieht, die Frage sei schon entschieden. Die Verletzung der Vorlagepflicht stellt zudem auch eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG dar. Eine Verfassungsbeschwerde lässt sich allerdings mit diesem Verstoß nur begründen, wenn die Verletzung der Vorlagepflicht bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.113 Das ist normalerweise der Fall, wenn das Gericht die europarechtlichen Dimensionen des Falles völlig verkannt und deshalb nicht vorgelegt hat, obwohl es von der Rechtsprechung des EuGH abwich, wenn die Rechtsprechung des EuGH Lücken aufweist und es sich einer eindeutig vorzuziehenden Meinung nicht angeschlossen und dem EuGH die Frage nicht vorgelegt hat und wenn es mit einem eigenen Begründungsansatz eine Vorlage vermeidet.114 Ob auch eine Anhörungsrüge analog § 321a ZPO und den entsprechenden Vorschriften anderer Verfahrensordnungen auf eine Verletzung der Vorlagepflicht gestützt werden kann, hält der BGH für möglich, hat dies aber bislang offen gelassen.115 Das sollte aber möglich sein, wenn dieser Gesichtspunkt in der Rechtsmittelbegründung angesprochen worden ist.

4. Vorlageverfahren vor den OGB a) Form und Anlass der Vorlage Über die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens entscheiden das nationale Gericht und 33 damit auch die obersten Gerichtshöfe des Bundes von Amts wegen. Das gilt nicht nur in Verfahren, in denen der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, sondern auch im Zivilrechtsstreit, der vom Beibringungsgrundsatz geprägt ist. Bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes und Gerichten, deren Entscheidungen nicht angegriffen werden können, ist dieses Ermessen nicht gegeben. Art. 267 AEUV eröffnet den Parteien mit dem Vorabentscheidungsersuchen keinen Rechtsbehelf.116 Deshalb können die Parteien des Rechtsstreits eine Vorlage nur anregen, aber nicht beantragen. In welcher Form die Vorlage des nationalen Gerichts zu erfolgen hat, legt das EU-Recht 34 nicht fest. Das bestimmt sich vielmehr nach dem nationalen Verfahrensrecht. In Deutschland ist das der Beschluss, weil über eine Vorlagefrage an den EuGH regelmäßig nicht mündlich verhandelt werden muss. Eine mündliche Verhandlung hierüber ist aber möglich, etwa um das Fragenprogramm mit den Parteien zu erörtern.117

_____ 110 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 54 ff., 116 ff.; BGH, NJW 2005, 747. 111 EuGH v. 13.6.2006 – Rs. C-173/03 Traghetti del Mediterraneo SpA, Slg. 2006, I-5177. 112 Eingehend Solar, Vorlagepflichtverletzung mitgliedstaatlicher Gerichte und ihre Sanierung, S. 129 ff.; Schöndorf-Haubold, JuS 2006, 112, 113. 113 BVerfG, NVwZ 2001, 1148, 1149; BVerwG, NJW 2010, 1268, 1269; BVerwG, NVwZ 2012, 426; BVerfGK 19, 197; BGH, EuZW 2012, 190 Rn. 29; v. d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 71; Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 52. 114 BVerfG, NJW 2010, 1268, 1269; BVerfG, NVwZ 2012, 297 Rn. 17. 115 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 116 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-344/04 IATA ./. Dept. of Trade, Slg. 2006, I-403 Rn. 28. 117 Z.B. BGH, ZOV 2012, 43. Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

b) Inhalt des Vorlagebeschlusses 35

aa) Tenor. Der Tenor des Beschlusses besteht aus der Aussetzung des Verfahrens118 und Formulierung der Frage(n), die dem EuGH zur Beantwortung vorgelegt werden solle(n). Da der EuGH nur abstrakte Fragen der Auslegung des Unionsrechts klären darf, darf die Frage nicht konkret auf den Einzelfall bezogen werden. Das Gericht hat vielmehr aus dem ihm vorliegenden Sachverhalt eine abstrakte Rechtsfrage zu entwickeln, die der EuGH losgelöst vom Einzelfall und abstrakt beantworten kann. Schon in der dem EuGH vorzulegenden Frage sollte das Auslegungsproblem auf den Punkt gebracht und möglichst präzise und einfach formuliert werden.

bb) Begründung. Der Vorlagebeschluss ist zu begründen. Eine solche Begründung und ihre Ausgestaltung sind gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt. Allerdings ergeben sich aus der dem EuGH mit Art. 267 AEUV gestellten Aufgabe gewisse Mindestanforderungen. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss die Vorlageentscheidung die genauen Gründe angeben, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Gemeinschaftsrechts fraglich und die Vorlage von Vorabentscheidungsfragen an den Gerichtshof erforderlich erscheinen. Dazu sieht der EuGH ein Mindestmaß an Erläuterungen durch das vorlegende nationale Gericht zu den Gründen für die Wahl der Unionsbestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang als unerlässlich an, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Ausgangsrechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt.119 Der EuGH hat hierzu Hinweise120 zusammengestellt. Diese Hinweise sind rechtlich nicht verbindlich. 37 Die Begründung des Vorlagebeschlusses besteht aus zwei Teilen. In einem ersten Teil ist der tatsächliche und rechtliche Rahmen darzustellen, in dem sich die Vorlagefrage stellt. Der nationale Richter hat dem EuGH also den Sachverhalt zu schildern, den er zu beurteilen hat. Außerdem hat er dem EuGH darzulegen, wie der Fall vorbehaltlich der zu klärenden Rechtsfrage zu lösen ist und in welcher Hinsicht es auf die Klärung der dem EuGH vorgelegten Frage ankommt. Nach Nr. 22 S. 3 Sps. 2 der Hinweise des EuGH soll dabei auch der Wortlaut der einschlägigen nationalen Vorschriften mitgeteilt werden, was je nach dem Umfang im Text des Beschlusses oder durch Beifügung als Anlage geschehen kann. Der Ertrag des Vorentscheidungsersuchens hängt ganz wesentlich von einer einfachen und klaren Darstellung von Problemstellung und Auslegungsfrage ab. Sie gibt den anderen Mitgliedstaaten und den entscheidenden Richter, die sich dem Unionsrecht aus der Perspektive einer anderen Rechtsordnung nähern und es aus supranationaler Perspektive auszulegen haben, am ehesten die Möglichkeit zu erfassen, worum es dem vorlegenden Gericht geht, und ihm eine zielführende Antwort auf seine Fragen zu geben. Umfang und Ausführlichkeit stehen im Ermessen des vorlegenden Richters. Nr. 22 S. 1 der 38 Hinweise des EuGH gibt als Richtschnur einen Umfang von zehn Seiten an, weist aber darauf hin, dass sich der Umfang letztlich nach der Sache richten muss. Die Schilderung muss deshalb zwar nicht immer lang, wohl aber so ausführlich sein, dass der EuGH die Frage ggf. zuspitzen oder umformulieren kann, um sie sachgerecht und zielführend zu beantworten.121 Nur so können 36

_____ 118 In der Praxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes wird stets ausdrücklich ausgesetzt. Partiell überholt daher Brück, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof als Bestandteil des deutschen Zivilprozesses, S. 133 ff. 119 EuGH v. 7.4.1995 – Rs. C-167/94 Grau Gomis u.a., Slg. 1995, I-1023 Rn. 9; EuGH v. 6.12.2005 – verb. Rs. C-453/ 03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04 ABNA u.a., Slg. 2005, I-10423 Rn. 46; EuGH v. 31.1.2008 – Rs. C-380/05 Centro Europa 7, Slg. 2008, I-349 Rn. 54; EuGH v. 22.10.2009 – Rs. C-116/08 Meert ./. Proost NV, Slg. 2009, I-10063. 120 Hinweise zur Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen durch die nationalen Gerichte v. 5.12.2009, ABl. 2009 C 297/1. 121 Z.B. BGH, WRP 2011, 344. Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

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auch die anderen am Verfahren vor dem EuGH beteiligten Stellen eine sachgerechte Stellungnahme abgeben. Das sind neben den Organen der EU auch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die an Verfahren vor einem obersten Gerichtshof des Bundes in dieser Eigenschaft nicht immer beteiligt sind. In einem zweiten Teil der Begründung ist die Fragestellung aufzubereiten. Dem EuGH ist 39 darzustellen, welche Auslegungszweifel geklärt werden sollen, jedenfalls aber welche Auslegungsmöglichkeiten bestehen.122 Wird die Gültigkeit eines EU-Rechtsaktes in Zweifel gezogen, sind diese Zweifel näher zu erläutern. Auch hier haben die vorlegenden Gerichte ein Gestaltungsermessen. Zweck der Darstellung ist es, dem EuGH die Feststellung zu erlauben, worum es dem nationalen Richter geht. Hierauf sollte besondere Sorgfalt verwandt werden. cc) Praxis der OGB. Die Vorlagebeschlüsse der obersten Gerichtshöfe des Bundes folgen 40 durchweg dem dargestellten Grundmuster. In der Ausgestaltung dieses Grundmusters sind sie allerdings durchaus unterschiedlich. Es gibt eher knapp gehaltene Vorlagebeschlüsse.123 Andere Vorlagebeschlüsse setzen sich mit der Auslegung des EU-Rechts sehr eingehend auseinander124 und entlasten damit im Ergebnis den Generalanwalt des EuGH.

c) Technische Abwicklung Der Beschluss wird den Verfahrensbeteiligten zugestellt und ist dann in 20facher Ausfertigung 41 dem Kanzler des Gerichtshofs zuzustellen. Nach Nr. 29 der Hinweise des EuGH sollen auch die Verfahrensakten, jedenfalls aber Kopien davon, übersandt werden. Der BGH legt dem EuGH deshalb die gesamte Verfahrensakte, also die bei dem BGH selbst entstehende Akte und die bei den Vorinstanzen entstandenen Akten, vor.125 Zurück bleibt nur ein Senatsheft, in dem Kopien der Schriftsätze der Verfahrensbeteiligten und Vorbereitungsunterlagen des Senats enthalten sind. Die Verfahrensakte wird beim EuGH, jedenfalls beim Generalanwalt, auch durchaus verwertet.126

5. Vorlageverfahren vor dem EuGH a) Schriftliches Vorverfahren Beim EuGH wird der Vorlagebeschluss in die anderen Amtssprachen übersetzt und den Verfah- 42 rensbeteiligten zur Stellungnahme zugeleitet. Verfahrensbeteiligte sind nicht nur die am nationalen Gerichtsverfahren beteiligten Parteien unter Einschluss von Nebenintervenienten oder Beigeladenen. Dazu gehören darüber hinaus auch alle Mitgliedstaaten und die Kommission. Der

_____ 122 Z.B. BGH, ZIP 2013, 2167; BGH, GRUR 2013, 1137; BGH, RIW 2013, 726. 123 Z.B. BGH, WRP 2002, 547, 549 – GERRI/KERRY Spring; BGH, BB 2000, 1507, 1508 – Solokünstler; BGH, GRUR 1999, 600, 601 – Haarfärbemittel; BGH, GRUR 1998, 738 f. – Diät-Käse; BGH, NJW 1996, 930, 932 – Bürgschaft als Haustürgeschäft; BGH, ZIP 1995, 372, 373 f. – Siemens; BVerwG, Blutalkohol 46, 350 – Fahrerlaubnis; BVerwG, NVwZ 2008, 686 – erschlichene Einbürgerung; BVerwG, Buchholz 240 § 48 BBesG Nr. 11. 124 Z.B. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; BGH, EuZW 2005, 156, 158 f.; BGH, NJW 2002, 2464, 2467 f., 2468 ff.; BGH, EuZW 2009, 667 – Provisionsanspruch des Handelsvertreters bei möglicher Kündigung; BGH, EuZW 2010, 313; BGH, ZOV 2012, 43; BVerwG, AuAS 2009, 267 – Assoziationsratsbeschluss; BVerwG, NuR 2009, 481 – Zuteilungsgesetz 2007; BVerwG, NVwZ 2009, 592; BVerwGE 132, 79; 128, 278; BVerwG, DVBl. 2008, 1255; BAG, RIW 2010, 76 – Altersgrenze bei Lufthansapiloten. 125 Vgl. BGH, BGH-Report 2001, 223, insoweit nur bei juris veröffentlicht. 126 Vgl. z.B. GA Léger, SchlA v. 2.6.2005 – Rs. C-229/04 Crailsheimer Volksbank, Slg. 2005, I-9273 Tz. 47. Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

Rat und die Europäische Zentralbank werden nur beteiligt, wenn die Vorlagefrage dies nahe legt. Im schriftlichen Vorverfahren haben die Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme. In der 43 Regel äußern sich die Parteien des Rechtsstreits und die Kommission. Die Mitgliedstaaten äußern sich dann, wenn die Klärung der einen oder anderen Rechtsfrage für sie übergeordnete Bedeutung hat. Die Stellungnahmen werden den anderen Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis übersandt. Diese haben keinen Anspruch darauf, sich noch einmal schriftsätzlich zu diesen Stellungnahmen zu äußern. Sie können dies aber tun, wenn sie das für angezeigt halten und die Stellungnahmefrist noch nicht abgelaufen ist.

b) Mündliche Verhandlung 44 Im Anschluss an das schriftliche Vorverfahren findet eine mündliche Verhandlung vor dem

EuGH statt. Sie wird eingeleitet durch die Schlussanträge des Generalanwalts, in welchen dieser den Fall EU-rechtlich aufarbeitet und dem EuGH eine Beantwortung der Vorlagefrage aus EUrechtlicher Sicht vorschlägt. Hierüber wird vor dem EuGH mündlich verhandelt. An der mündlichen Verhandlung können alle Verfahrensbeteiligten teilnehmen.127 Hat der EuGH die Frage bereits beantwortet oder ergibt sich die Antwort aus der Rechtsprechung des EuGH, kann der EuGH nach Anhörung des Generalstaatsanwalts von dessen Beteiligung absehen und durch Beschluss entscheiden, Art. 104 § 3 EuGH-VerfO.

c) Urteil des EuGH 45 Den Abschluss des Verfahrens bildet das Vorabentscheidungsurteil des EuGH. Darin schildert

der EuGH gewöhnlich den ihm vorgestellten Sachverhalt. Er beantwortet dann die ihm vorgelegten Fragen der Reihe nach, indem er jeweils zunächst den EU-rechtlichen Hintergrund erläutert und anschließend die Frage beantwortet. Das Urteil bindet das vorlegende Gericht.128 46 Das Verfahren vor dem EuGH ist kostenfrei. Über die sonst entstehenden Kosten entscheidet das nationale Gericht in seiner abschließenden Entscheidung.

d) Parallelverfahren 47 Stellt sich eine vorabentscheidungsfähige Frage in mehreren Verfahren, muss das Gericht ein

Vorabentscheidungsersuchen nicht in allen Verfahren stellen. Es kann sich auf ein Ersuchen in einer oder mehrerer dieser Sachen beschränken und die übrigen Verfahren aussetzen.129

III. Auslegungssituationen 1. Vorabentscheidungsersuchen 48 Die Situation, in welcher die obersten Gerichtshöfe des Bundes am intensivsten Gelegenheit zur

Auslegung des EU-Rechts haben, ist das Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. Das klingt auf den ersten Blick paradox. Denn das Vorabentscheidungsersuchen stellen die obersten Gerichtshöfe des Bundes ja gerade dann, wenn sie keine Auslegungskompetenz haben und die

_____ 127 Streinz-Ehricke, Art. 267 AEUV Rn. 62. 128 Zur Bindungswirkung im Übrigen: v.d. Groeben/Schwarze-Gaitanides, Art. 234 EG Rn. 90 ff. 129 BGH, RIW 2012, 405. Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

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Auslegung dem EuGH im Wege eben ihres Ersuchens überlassen müssen. Wie ausgeführt, müssen die obersten Gerichtshöfe des Bundes in ihren Ersuchen indes nicht nur die Vorlagefragen benennen, sondern auch darstellen, warum die EU-Norm Auslegungsfragen aufwirft und welche Auslegungsalternativen bestehen. Dieses Erfordernis zwingt die obersten Gerichtshöfe des Bundes zwar nicht, sich eingehend 49 mit der Auslegung der EU-Norm auseinanderzusetzen. Es gibt ihnen aber Gelegenheit dazu. Die deutschen Gerichte müssen an dem Auslegungsprozess nicht nur gewissermaßen passiv teilnehmen. Sie haben vielmehr durchaus die Möglichkeit, sich aktiv in den judiziellen Dialog130 einzuschalten, indem sie aus ihrer Sicht zur Auslegung der Normen Stellung beziehen und ggf. auch einen Auslegungsvorschlag machen. Von dieser Möglichkeit machen die obersten Gerichtshöfe des Bundes in unterschiedlichem Umfang Gebrauch. Teils nehmen sie zu der Auslegung des EU-Rechts sehr eingehend Stellung und schlagen auch eine konkrete Auslegung vor.131 Teils nehmen sie sich hier eher zurück.132 Dies hängt in erster Linie von den konkreten Fragen ab. Das erscheint jedenfalls dann angezeigt, wenn der oberste Gerichtshof mit dem Rechtsge- 50 biet intensiver befasst ist. Denn dann verfügt er über eine auf Fallmaterial gestützte ausgeprägte Expertise, die er dem EuGH nicht vorenthalten sollte. Ein solches Vorgehen dient auch der besseren Durchdringung des EU-Rechts. Anhand der eigenen Fallpraxis lässt sich besser überblicken, welche Folgefragen die Auslegung des EU-Rechts im einen oder anderen Sinne aufwirft und welche Auswirkungen sie in der Praxis hat.

2. Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen Gelegenheit zur Auslegung des EU-Rechts haben die obersten Gerichtshöfe des Bundes auch im 51 umgekehrten Fall der Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen. Darüber, ob ein Vorabentscheidungsersuchen zu stellen ist, entscheidet das nationale Gericht von Amts wegen. Das hindert die Parteien gerade auch bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes nicht daran, die Stellung eines solchen Ersuchens anzuregen. Mitunter hat ein solcher Vorschlag aber auch taktische Gründe, nämlich den Zweck, beim EuGH eine Änderung der nationalen Rechtsprechung zu erreichen. Das ist legitim. Das nationale Gericht kann und muss aber prüfen, ob die Vorlage an den EuGH wirklich sachgerecht oder rechtlich geboten ist. Auch das erfordert eine Auslegung des EU-Rechts, die allerdings von der Natur der Sache her nicht ausgeprägt sein kann. Sie muss aber erkennen lassen, dass ein Vorabentscheidungsersuchen wirklich nicht erforderlich ist.133 Beispiele sind die sog. Schrottimmobilien134 oder der vergebliche Versuch, den BGH dazu zu 52 bewegen, den EuGH im Hinblick auf das Entfallen von Anerkennungshindernissen nach Art. 34 Nr. 2 EuGVVO erneut mit der Frage einer Anerkennung von Versäumnisurteilen,135 dem Stromeinspeisungsgesetz,136 mit der Auslegung von Mietvertragsklauseln am Maßstab der Klauselrichtlinie,137 mit den Voraussetzungen der internationalen Zuständigkeit für Unterlassungskla-

_____ 130 131 132 133 134 135 136 137

Dazu Schmidt-Räntsch, EWiR 2005, 282. BGH, GRUR 2005, 348 – Bestellnummernübernahme; BVerwG, AuAS 2009, 267. BVerwG, NuR 2009, 481; BFHE 223, 358; BFHE 221, 284. BVerfG, NJW 2010, 1268, 1270 f. BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, NJW 2004, 154, 155; BGH, WM 2003, 2186. BGH, NJW 2004, 3189. BGHZ 155, 141, 157 f. BGH, NZM 2004, 734.

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3. Teil: Besonderer Teil

gen,138 mit dem Schutzzweck der Jahresabschlussrichtlinien139 zu befassen oder gar einer Anhörungsrüge analog § 321a ZPO stattzugeben, um eine Vorlage zum Verhältnis des Gemeinschaftsgeschmacksmusterrechts zum Wettbewerbsrecht zu ermöglichen.140 In der Praxis des BVerwG sind hier die Versuche zu nennen, Planfeststellungsbeschlüsse unter Hinweis auf das EU-Recht doch noch zu Fall zu bringen,141 eine Kampfhundsteuer zu vermeiden142 oder die Berechnung der Arbeitszeiten bei der Feuerwehr zu beeinflussen.143

3. Anwendung unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts a) Primäres Gemeinschaftsrecht 53 Gelegenheit zur eigenständigen Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht haben die

obersten Gerichtshöfe des Bundes, soweit sie dazu nach den Ausführungen unter II. berufen sind, zunächst bei den unmittelbar auch für Bürger und Unternehmen geltenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Das primäre Gemeinschaftsrecht regelt zwar in erster Linie die Rechtsbeziehungen der Organe der Gemeinschaften untereinander und zwischen den Mitgliedstaaten. Es gibt aber auch Vorschriften des primären Unionsrechts, die von den Behörden der Mitgliedstaaten zu beachten sind.144 Andere Vorschriften gelten zwischen den Beteiligten und können in Verfahren vor den ordentlichen Gerichten Bedeutung erlangen. Das sind vor allem die Vorschriften der Art. 101 und 102 AEUV über wettbewerbshindernde Vereinbarungen145 und den Missbrauch einer den Markt beherrschenden Stellung. Die Vorschriften des EU-Beihilfenrechts der Art. 107 ff. AEUV gehören dazu.146 Auch andere Vorschriften der Unionsverträge, z.B. Art. 36 AEUV,147 können unmittelbare Wirkung haben und z.B. in Verfahren vor dem BGH anzuwenden sein.

b) Verordnungsrecht aa) Öffentliches Recht. Häufiger werden die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten mit EU-Verordnungsrecht konfrontiert. Es gilt nach Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar in jedem Mitgliedstaat und ist auch für Bürger und Unternehmen und nicht nur für die Mitgliedstaaten verbindlich. Gegenstand des EU-Verordnungsrechts sind aber überwiegend Materien, die nach deutschem Rechtsverständnis dem öffentlichen Recht zuzuordnen und deshalb in erster Linie von den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Finanz- und der Sozialgerichtsbarkeit, unter den OGB also von BVerwG, BFH und BSG, zu beurteilen sind. Allerdings kann die Anwendung und Umsetzung von EU-Verordnungsrecht auch von den 55 ordentlichen oder den Arbeitsgerichten148 zu beurteilen sein. Das ist vor allem in Fällen aus dem Bereich des Amts- und Staatshaftungsrechts, des Wettbewerbsrechts und des Strafrechts der

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_____ 138 BGH, NJW 2006, 689. 139 BGH, NJW 2006, 690, 691. 140 BGH, BGH-Report 2006, 671, 672. 141 BVerwG, NVwZ 2008, 1115. 142 BVerwG, NVwZ 2005, 598. 143 BVerwGE 119, 363. 144 BVerwG, RdL 2008, 222; BVerwGE 129, 116; BVerwG, NVwZ 2006, 703; BAG, NZA 2008, 1417, 1419. 145 Beispiel: BGH, WRP 2004, 1378, 1380 f. – Citroën. 146 Dazu Schmidt-Räntsch, NJW 2005, 106, 107 f.; aus der Rechtsprechung des BGH: BGH, EuZW 2003, 444; BGH, EuZW 2004, 252; BGH, VIZ 2004, 77; BGHZ 155, 141, 157 f. 147 BGHZ 155, 141, 158. 148 BAG, NZA-RR 2009, 354; BGH, NJW 2008, 2797. Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

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Fall. Verordnungen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt richten sich oft (auch) an die Behörden der Mitgliedstaaten und sind von ihnen bei ihrem Amtswalten zu beachten. Geschieht dies nicht, so löst dies unter den gleichen Voraussetzungen Schadensersatzansprüche aus wie ein Verstoß gegen nationale Vorschriften. Vor allem EU-Verordnungen mit lebensmittelrechtlichem oder gewerberechtlichem Inhalt 56 richten sich oft nicht nur an Behörden, sondern in erster Linie an die Gewerbetreibenden selbst. Sie geben ihnen bestimmte Rezepturen vor, verbieten die Verwendung bestimmter Stoffe und Verfahren und dergleichen mehr. Hält sich ein Gewerbetreibender nicht an diese Vorschriften, verschafft er sich einen unerlaubten Sondervorteil gegenüber seinen Wettbewerbern, die sich an die Vorschriften halten und handelt deshalb wettbewerbswidrig im Sinne von § 3 UWG.149 Verlangt ein Wettbewerber nach § 13 UWG Unterlassung, haben die ordentlichen Gerichte in solchen Fällen im Kern zu prüfen, ob die lebensmittel- oder gewerberechtlichen Vorschriften eingehalten sind. Handelt es sich dabei um EU-Verordnungsrecht, ist dieses heranzuziehen.150 Aus EU-Verordnungsrecht können sich auch in anderen Bereichen Vorgaben für die An- 57 wendung des nationalen Rechts ergeben. Das war etwa bei der pachtrechtlichen Zuordnung der Milchreferenzmenge der Fall, die durch das EU-Marktordnungsrecht151 bestimmt wurde.152 Ein anderes Anwendungsbeispiel ist die Zurückschiebungshaft, für welche die Haftgründe durch Art. 28 der Dublin-III-Verordnung festgelegt werden152a. bb) Zivilrecht. Auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts gab und gibt es vergleichsweise 58 wenig EU-Verordnungsrecht. Der Unionsgesetzgeber zieht hier bisher die Rechtsform der Richtlinie vor, weil sie den Mitgliedstaaten das Einpassen der unionsrechtlichen Vorgaben in die nationale Zivilrechtsordnung erleichtert. Die recht häufigen Verzögerungen bei der Umsetzung und vor allem die sich bei der Umsetzung ergebenden Regelungsunterschiede in den Mitgliedstaaten haben bei der Kommission die Neigung verstärkt, auch auf dem Gebiet des Zivil- und Handelsrechts unmittelbar geltendes Verordnungsrecht vorzuschlagen, das dann in Deutschland von den dazu in erster Linie berufenen ordentlichen Gerichten und dem BGH zu beurteilen ist. Zu nennen sind hier die EuGVVO (auch: Brüssel I-VO),153 die EuEheVO (auch: Brüssel IIa- 59 VO), 154 die Zustellungsverordnung, 155 die Insolvenzverordnung, 156 die Beweisaufnahmeverordnung157 und die Vollstreckungsverordnung.158

_____ 149 BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut (betraf allerdings eine Richtlinie). 150 BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein. 151 Verordnung (EWG) Nr. 3950/92 des Rates v. 28.12.1992 über die Erhebung einer Zusatzabgabe im Milchsektor, ABl. 1992 L 405/1, aufgehoben mit Wirkung v. 1.4.2004 durch Art. 25 der Verordnung (EG) Nr. 1788/2003 des Rates v. 29.9.2003 über die Erhebung einer Abgabe im Milchsektor, ABl. 2003 L 270/123. 152 BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211. Diese Beihilfe ist inzwischen durch eine unternehmensbezogene Beihilfe ersetzt worden. 152a BGH, Asylmagazin 2014, 315 Rn. 11. 153 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 v. 22.12.2000 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/6. 154 Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates v. 27.11.2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. 2003 L 338/1. 155 Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates v. 29.5.2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten, ABl. 2000 L 160/37. 156 Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. 2000 L 160/1. 157 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates v. 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. 2001 L 174/1. 158 Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.4.2004 zur Einführung eines Europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. 2004 L 143/15.

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3. Teil: Besonderer Teil

EU-Verordnungsrecht gibt es nicht nur auf dem Gebiet des internationalen Insolvenz- und Prozessrechts. Es gibt dies, wenn auch in geringerem Umfang, im Bereich des materiellen Zivilund Handelsrechts. Weitgehend „vergemeinschaftet“ ist das internationale Privatrecht.159 Zu nennen sind ferner Vorschriften über gewerbliche Schutzrechte160 und die supranationalen Gesellschaftsformen der EWIV161 und der SE,162 etwa auch die Verordnung über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro163 und, im Zusammenhang mit der Umstellung auf den Euro, die Vorschriften über die Einführung des Euro, die sich auch mit der Umstellung von vertraglichen Preisregelungen befassen. 164 Im Reiserecht hat die Fluggastrechte-Verordnung (EG) Nr. 261/ 2004165 besondere Bedeutung erlangt. Sie ist durch vergleichbare Regelungen für andere Verkehrsmittel166 ergänzt worden, die zum Teil strenger sind.167

c) Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüsse 61 Unmittelbar gelten können im Einzelfall auch Vorschriften von Richtlinien. Voraussetzung hier-

für ist neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist vor allem, dass die Richtlinienvorschrift hinreichend bestimmt ist, der Mitgliedstaat also kein Gestaltungsermessen hat.168 Teilweise wird darüber hinaus auch verlangt, dass die Richtlinie subjektive Rechte des Einzelnen formuliert, was sich in der Rechtsprechung des EuGH aber nicht zwingend widerspiegelt.169 Eine unmittelbare Anwendung der Richtlinie kommt auch nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat in Frage.

_____ 159 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. 2008 L 177/6; Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“), ABl. 2007 L 199/40 und Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 des Rates v. 20.12.2010 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts, ABl. 2010 L 343/10. 160 Vgl. z.B. Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1993 L 11/1 idF der Verordnung (EG) Nr. 422/2004 des Rates v. 19.2.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 40/94 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 2004 L 70/1; Verordnung (EG) Nr. 2100/94 v. 27.7.1994 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 1994 L 227/1, idF der Verordnung (EG) Nr. 873/2004 des Rates v. 29.4.2004 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 über den gemeinschaftlichen Sortenschutz, ABl. 2004 L 162/38; Verordnung (EG) Nr. 1610/96 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.7.1996 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Pflanzenschutzmittel, ABl. 1996 L 198/30; Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1. 161 Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates v. 25.7.1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl. 1985 L 199/1. 162 Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates v. 8.10.2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. 2001 L 294/1. 163 Verordnung (EG) Nr. 2569/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.12.2001 über grenzüberschreitende Zahlungen in Euro, ABl. 2001 L 344/13. 164 Vgl. etwa BGH, RdL 2005, 147; zu den Einzelheiten der Euro-Einführung Schmidt-Räntsch, ZIP 1998, 2041 ff. 165 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 11.2.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91, ABl. 2004 L 46/1. 166 Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. 2007 L 315/14; Verordnung (EU) Nr. 1177/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 24.11.2010 über die Fahrgastrechte im See- und Binnenschiffsverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004, ABl. 2010 Nr. L 334/1 und Verordnung (EU) Nr. 181/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.2.2011 über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004, ABl. 2011 L 55/1. 167 EuGH v. 26. 9. 2013 – Rs. C-509/11 ÖBB-Personenverkehr AG: keine Entlastung bei höherer Gewalt. 168 V. d. Groeben/Schwarze-Schmidt, Art. 249 EG Rn. 42; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 101 ff. 169 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 110. Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

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Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien im Verhältnis der Bürger untereinander ist 62 bislang nicht anerkannt.170 Im Arbeitsrecht kommt der EuGH allerdings unter Rückgriff auf das Primärrecht zu anderen Ergebnissen.171 Das bedeutet, dass die unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienvorschriften nur im Bereich des öffentlichen Rechts zum Tragen kommt. Die ordentlichen Gerichte werden hiermit nur im Rahmen von Haftungs-, Wettbewerbs- und Strafprozessen konfrontiert. Beschlüsse nach Art. 288 Abs. 3 AEUV stehen funktionell den Richtlinien gleich. Nach dem 63 Urteil des EuGH in der Rechtssache Pupino172 haben sie auch annähernd gleiche Rechtswirkungen. Entschieden ist das bislang nur für die Frage der EU-konformen Auslegung. Die Begründung des EuGH lässt aber erwarten, dass dies auch im Übrigen so beurteilt werden wird.

4. Anwendung von Umsetzungsvorschriften a) Umsetzungspflicht Der weit überwiegende Teil des Unionsrechts mit prozessrechtlichem, zivil- und handelsrechtlichem, aber auch von öffentlich-rechtlichem Inhalt ist bislang nicht in der Form der Verordnung, sondern in der Form der Richtlinie erlassen worden. Richtlinien gelten aber, wie ausgeführt, im Unterschied zu Verordnungen im Verhältnis Privater untereinander nicht unmittelbar. Sie sind vielmehr an die Mitgliedstaaten gerichtet und verpflichten diese, ihre Rechtsordnung an die Vorgaben der Richtlinie anzupassen. Da die Vorgaben solcher Richtlinien regelmäßig das Verhältnis der Bürger und Unternehmen untereinander betreffen, liegen bei ihnen die Voraussetzungen einer unmittelbaren Anwendung in der Regel nicht vor. Das nationale Gericht hat deshalb grundsätzlich nicht die Richtlinie, sondern allein die Vorschriften zu ihrer Umsetzung auszulegen und anzuwenden und muss, auch wenn diese verspätet erlassen werden, grundsätzlich erst deren Erlass abwarten. Es hat also vorbehaltlich noch zu erläuternder Ausnahmen zunächst keine Gelegenheit, solche Richtlinien selbst auszulegen und anzuwenden. Die inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie hat der nationale Gesetzgeber umzusetzen; eine Umsetzung durch Verwaltungsvorschrift reicht nicht.173 Die Vorgaben sind in älteren Richtlinien auf dem Gebiet des Zivilrechts zurückhaltender als in neueren Richtlinien, deren Vorgaben zum Teil ausgesprochen engmaschig sind. Wie der nationale Gesetzgeber das erreicht, steht ihm nach der Natur der Richtlinie frei. Er kann ein Sondergesetz erlassen, wie dies etwa mit dem Haustürwiderrufs-174 oder dem TeilzeitWohnrechtegesetz175 geschehen ist, die beide in das BGB überführt worden sind. Beispiele aus dem Arbeitsrecht sind das Arbeitnehmer-Entsendegesetz,176 das Gesetz zur Umsetzung der EG-

_____ 170 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 108 f. 171 Vgl. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 77. 172 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; dazu: Adam, EuZW 2005, 558, 560. 173 BVerwG, NVwZ 2012, 641 Rn. 21. 174 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften idF der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. 2000 I, 956, das die Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31, umsetzte. 175 Gesetz über die Veräußerung von Teilzeitnutzungsrechten an Wohngebäuden idF der Bekanntmachung v. 29.6.2000, BGBl. 2000 I, 958, das die Richtlinie 94/47/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.10.1994 zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl. 1994 L 280/82, umsetzte. 176 Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen v. 20.4.2009, BGBl. 2009 I, 799.

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3. Teil: Besonderer Teil

Rahmenrichtlinie Arbeitsschutz und weiterer Arbeitsschutzrichtlinien177 oder das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge.178 Im Bereich des öffentlichen Rechts könnten das UVP-Gesetz179 oder das Umweltinformationsgesetz180 genannt werden. Der Gesetzgeber kann sich, wie etwa im Reiserecht,181 im Recht der AGB-Kontrolle182 oder im Steuerrecht, zur Umsetzung der Richtlinie aber auch vorhandener Vorschriften bedienen. Der Gesetzgeber hat auch die Möglichkeit, neue allgemeine Vorschriften zu erlassen. Ein Beispiel hierfür ist die Umsetzung der Kaufgewährleistungsrichtlinie183 und der Verbraucherrechterichtlinie.184 Wie auch immer der Mitgliedstaat seine Umsetzungspflicht erfüllt, sie endet wie stets nicht 68 mit dem Erlass der Gesetze. Vielmehr hat er durch die zuständigen Stellen sicherzustellen, dass die erlassenen Vorschriften auch so angewendet werden, dass die Vorgaben und Ziele der umgesetzten Richtlinie erreicht werden.

b) Auslegung von Umsetzungsvorschriften aa) EU-konforme Auslegung. Bei der Auslegung der zur Umsetzung von Richtlinien und (Rahmen-)Beschlüssen nach Art. 288 Abs. 4 AEUV185 erlassenen Vorschriften ist der nationale Richter deshalb nicht frei. Er kann sie nicht autonom so auslegen, wie das aus nationaler deutscher Sicht empfehlenswert oder geboten ist. Die Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie nach Art. 288 Abs. 3 AEUV erschöpft sich nicht in dem Erlass der erforderlichen nationalen Umsetzungsvorschriften. Diese Umsetzungsvorschriften sind vielmehr von den Verwaltungsorganen und von den Gerichten so anzuwenden, dass Inhalt und Ziele der Richtlinie effektiv verwirklicht werden (sog. effet utile). Zu diesem Zweck haben die nationalen Gerichte der Mitgliedstaaten das Umsetzungsrecht 70 unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH EU-konform auszulegen. Dabei ist allerdings auch zu berücksichtigen, inwieweit sich der zu entscheidende Fall von den in der Rechtsprechung des EuGH bereits entschiedenen Fällen unterscheidet.186 Im Wege einer vorgreifend richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts wird gelegentlich auch ein Vorabentscheidung an den EuGH vermieden.187

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_____ 177 V. 7.8.1996, BGBl. 1996 I, 1246. 178 V. 21.12.2000, BGBl. 2000 I, 1966. 179 Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung idF der Bekanntmachung v. 25.6.2005, BGBl. 2005 I, 1757, 2797, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes v. 11.8.2009, BGBl. 2009 I, 2723. 180 V. 22.12.2004, BGBl. 2004 I, 3704. 181 Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates v. 23.6.1990 über Pauschalreisen v. 24.6.1994, BGBl. 1994 I, 1322, mit dem die Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59, umgesetzt wurde. 182 Gesetz zur Änderung des AGB-Gesetzes und der Insolvenzordnung v. 19.7.1996, BGBl. 1996 I, 1013, mit dem die Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über mißbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29, umgesetzt wurde. 183 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 184 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.10.2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64 umgesetzt durch das Gesetz zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie und zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der Wohnungsvermittlung vom 23. September 2013, BGBl. 2013 I, 3642. 185 EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285; dazu Adam, EuZW 2005, 558, 560. 186 Z.B. in BGH, NJW-RR 2003, 327, 328 – Zulassungsnummer III. 187 Vgl. BGH, GRUR 2009, 1064. Schmidt-Räntsch

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Die Grenze der EU-konformen Auslegung bildet zwar grundsätzlich der Wortlaut des natio- 71 nalen Umsetzungsrechts.188 Die Gerichte der Mitgliedstaaten haben aber alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel der Auslegung zu nutzen, um ein der Richtlinie entsprechendes Rechtsanwendungsergebnis zu erzielen. Sie müssen deshalb die Techniken, mit denen im nationalen Kontext Normenkonflikte vermieden werden, auch in einem Konflikt des nationalen mit dem EU-Recht anwenden.189 Dieses Anforderungsprofil relativiert die Wortlautgrenze stark.190 Wie weit die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur richtlinienkonformen Anwendung des nationalen Rechts geht, wird am Beispiel des sog. Quelle-Falls deutlich. Es ging um die Frage, ob es mit der Kaufgewährleistungsrichtlinie vereinbar ist, dem Verkäufer bei der Nacherfüllung einer mangelhaften Sache im Wege der Ersatzlieferung gegen den Käufer einen Anspruch auf Ersatz der Nutzung der mangelhaften Sache einzuräumen. Der BGH legte in seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH dar, dass das deutsche Recht dies so vorsehe und nicht anders auszulegen sei.191 Nachdem der EuGH die Vorlagefrage verneint hatte,192 stand der BGH vor der Frage, wie er das keine Auslegungsspielräumen gebende deutsche Kaufrecht EU-rechtskonform anwenden konnte. Er entschied sich für eine richtlinienkonforme richterliche Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion der fraglichen Vorschrift.193 Der von dem EuGH geprägte Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung verlange von den nationalen Gerichten aber mehr als bloße Auslegung im engeren Sinne. Er unterscheide anders als der deutsche Rechtskreis nicht zwischen Auslegung (im engeren Sinne) und Rechtsfortbildung. Dieser Unterschied im Ansatz wird auch in dem in diesem Zusammenhang wegweisenden Urteil des EuGH in der Rechtssache Mangold194 deutlich. Der BGH leitet deshalb aus dem Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung die Notwendigkeit ab, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich ist, richtlinienkonform fortzubilden.195 Das sei im Bereich des Verbraucherrechts möglich, weil der deutsche Gesetzgeber bestrebt gewesen sei, eine EG-konforme Regelung zu schaffen. Ähnlich verfuhr der BGH bei der Umsetzung des Urteils des EuGH in der Rechtssache Weber und Putz196 zu der Frage einer Haftung des Verkäufers für die Kosten des Ausbaus fehlerhafter Ware und des Wiedereinbaus der nachgelieferten197 und bei der Umsetzung des Urteils des EuGH vom 19.12.2013198 zum Widerrufsrecht bei Versicherungsverträgen.199 Dieses Vorgehen ist auch unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesbindung des Richters nicht zu beanstanden.200 Auf dieser Grundlage kann es im Einzelfall auch geboten sein, EU-widriges nationales Recht nicht anzuwenden.201

bb) Überschießende Umsetzung. Eine EU-konforme Auslegung bereitet bei Vorschriften 72 keine Schwierigkeiten, die ausschließlich Fälle betreffen, die von den Richtlinien erfasst werden. Das ist regelmäßig bei Sondergesetzen der Fall, die zur Umsetzung einzelner Richtlinien

_____ 188 BGH, NJW-RR 2005, 354, 355; BGH, NJW 2004, 153, 154; BGH, WM 2003, 2186, 2187. 189 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 113 f.; ähnlich auch BGHZ 150, 248, 253. 190 Riesenhuber/Domröse, RIW 2005, 47, 51 f.; der BGH spricht in BGHZ 160, 134, 140 und NJW 2004, 2971 (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilungen) von „berichtigender Auslegung“, die er aber in casu verneint; sehr weit geht er bei der Auslegung von § 5 Abs. 2 HWiG in BGHZ 150, 248, 253. 191 NJW 2006, 3200, 3201. 192 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685. 193 BGHZ 179, 27, 34 f. 194 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold ./. Helm, Slg. 2005, I-9981 Rn. 77. 195 BGHZ 179, 27, 35. 196 EuGH v. 16. 6. 2011 – verb. Rs. C-65/09 und C-87/09 Weber und Putz, Slg. 2011, I-5257. 197 BGHZ 195, 135 Rn. 16 f.; dazu Schmidt-Räntsch, in: Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler (Hrsg), Produzentenhaftung, Nr. 1400 S. 92 f. 198 EuGH v. 19.12.2013 – Rs. C-209/12 Endress. 199 BGH, WM 2014, 1030. 200 BVerfG, NJW 2012, 669 Rn. 51. 201 EuGH v. 27.10.2009 – Rs. C-115/08 Österreich ./. ČEZ as, Slg. 2009, I-10265; EuGH v. 12.1.2010 – Rs. C-341/08 Petersen ./. Berufungsausschuss für Zahnärzte für den Bezirk Westfalen-Lippe, Slg. 2010, I-47; Schmidt-Räntsch, NZM 2007, 6, 8; W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 49 ff., 57. Schmidt-Räntsch

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3. Teil: Besonderer Teil

erlassen werden. Anders liegt es aber bei allgemeinen oder besonderen Vorschriften, die auch auf Fälle anwendbar sind, die von den Richtlinien selbst nicht erfasst werden. Beispiele hierfür sind die Vorschriften des mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts umgestalteten Leistungsstörungs- und Kaufrechts, die nicht nur für Verbrauchsgüterkäufe im Sinne der Kaufgewährleistungsrichtlinie gelten, sondern schlechthin für alle Kaufverträge und auch für ganz andere Verträge. In diesen Fällen besteht eine Verpflichtung zur EU-konformen Auslegung nur, soweit es sich um Fälle handelt, die von den Richtlinien erfasst werden. Im Übrigen aber besteht eine EU-rechtliche Pflicht zur EU-konformen Auslegung nicht.202 Eine solche überschießende Umsetzung ist EU-rechtlich unbedenklich. Sicherzustellen ist 73 nach der Rechtsprechung des EuGH lediglich, dass der Rechtsanwender klar erkennen kann, wie die von der Richtlinie erfassten Fälle behandelt werden sollen.203 Das bedeutet, dass überschießende nationale Umsetzungsvorschriften EU-rechtlich gespalten ausgelegt werden können, nämlich EU-konform für die von den Richtlinien erfassten Fälle und autonom im Übrigen.204 Eine solche gespaltene Auslegung ist aber nur möglich, wenn sie den nationalen Vorgaben genügt. Sie darf also nicht im Widerspruch zu dem im Gesetz zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und zur Systematik des Gesetzes stehen,205 außerdem muss für eine unterschiedliche Behandlung der Fallgruppen ein sachlicher Grund gegeben sein. Es lässt sich zwar nicht ausschließen, dass diese Vorgaben in dem einen oder anderen Fall 74 erfüllt sind. In der Regel werden sie aber nicht erfüllt sein. Es wäre zum Beispiel nicht möglich, den Begriff des geringfügigen Mangels bei Verbrauchsgüterkäufen anders auszulegen als bei Immobilienkäufen,206 oder das Widerrufsrecht nach den Haustürwiderrufsvorschriften nur bei Realkreditverträgen, nicht aber auch bei Personalkreditverträgen zu geben.207 Werden Anlagen den hohen Umweltstandards des EU-Rechts (in casu der IVU-Richtlinie) unterstellt, können diese nicht deshalb anders interpretiert werden, weil die Unterstellung EU-rechtlich nicht geboten war. Die Auslegung der Antidiskriminierungsrichtlinien durch den EuGH schlägt im Anwendungsbereich des AGG zwangsläufig auf die Bereiche durch, in denen die Einführung eines Diskriminierungsverbots EU-rechtlich nicht zwingend war. Sachlich möglich ist es allerdings, Sonderlösungen für den Verbrauchsgüterkauf – in casu die richtlinienkonforme Auslegung von § 439 Abs. 2 BGB208 – auf Verbrauchsgüterkäufe zu beschränken.209

c) Sonderfall: Umsetzung durch Generalklauseln 75 Der nationale Gesetzgeber kann sich, wie ausgeführt, zur Umsetzung von Richtlinien auch vor-

handener nationaler Vorschriften bedienen. Es war deshalb zulässig, die naturschutzrechtlichen EU-Richtlinien im Bundesnaturschutzgesetz210 umzusetzen. Nationale Generalklauseln sind dafür aber nur geeignet, wenn sie in der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine gefestigte Ausprägung in Fallgruppen erfahren haben, die die Vorgaben der umzusetzenden Richtlinie hinrei-

_____ 202 Einzelheiten dazu bei Schmidt-Räntsch, FS Wenzel (2005), S. 413 f. 203 EuGH v. 16.7.1998 – Rs. C-264/96 ICI, Slg. 1998, I-4695 Rn. 34. 204 Eingehend dazu Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 25 ff. 205 W.-H. Roth, in: Dauner-Lieb/Konzen/Schmidt (Hrsg.), Das neue Schuldrecht in der Praxis, S. 34 f.; Prütting/ Wegen/Weinreich-Prütting, BGB-Kommentar (5. Aufl. 2010), Einl. Rn. 35 a.E. 206 Schmidt-Räntsch, FS Wenzel (2005), S. 415 f.; vgl. in diesem Zusammenhang auch BGH, ZIP 2006, 904, 905 Rn. 11. 207 BGH, NJW 2002, 1881, 1883; BGH, BB 2004, 2711, 2712. 208 BGHZ 192, 148 Rn. 25; BGHZ 195, 136 Rn. 16. 209 So BGH, GuT 2013, 133; BGHZ 195, 135 Rn. 17; BGH, IBR 2013, 593. 210 Mehrfach neu erlassen, derzeit idF des Gesetzes v. 29.7.2009, BGBl. 2009 I, 2542. Schmidt-Räntsch

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chend konkret abbildet.211 Das war etwa bei § 1 UWG a.F. (heute § 3 UWG) der Fall, der in der Rechtsprechung des BGH eine Konkretisierung in festen Fallgruppen erfahren hat und die Vorgaben der früheren wettbewerbsrechtlichen Richtlinien deutlich abbildete. Dagegen hat der EuGH eine Vorschrift des niederländischen Nieuw Burgerlijk Wetboek (NBW) nicht ausreichen lassen, die inhaltlich § 307 Abs. 1 BGB entsprach.212 Es fehlten nämlich konkretisierende Vorschriften, wie sie z.B. das BGB in den §§ 308 und 309 aufweist. Aus diesem Grund genügten die Generalklauseln des BGB auch nicht zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien der EU.213

5. Anwendung ausfüllungsbedürftiger nationaler Vorschriften Anders liegt es bei Generalklauseln, die nicht speziell zur Umsetzung einer Richtlinie gedacht 76 sind. Solche Generalklauseln müssen regelmäßig konkretisiert werden. Die Konkretisierung ist oft nur unter Rückgriff auf Vorschriften aus anderen Rechtsbereichen möglich. Dazu kann unmittelbar geltendes EU-Recht, dazu können aber auch EU-rechtlich vorbestimmte nationale Vorschriften gehören. Ein Beispiel ist die Beachtung der Verkehrssicherungspflicht, die sowohl im vertragsrechtlichen als auch im deliktsrechtlichen Kontext eine Rolle spielt. Die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht ergeben sich regelmäßig aus gewerberechtlichen Vorschriften oder DIN- und ähnlichen Normen.214 Diese können auf EU-Recht beruhen oder selbst EU-Recht sein. Ein anderes Beispiel ist die Ausfüllung von § 400 Abs. 1 Nr. 1 AktG durch die einschlägigen EU-Rechtsnormen.215

6. Haftung für verspätete Umsetzung von EU-Recht a) EU-rechtliche Haftung Bürgern und Unternehmen kann aber aus der verspäteten Umsetzung ein Schaden entstehen. 77 Diesen Schaden haben die Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH dem Bürger unter besonderen Umständen zu ersetzen. Die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm muss den Zweck haben, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß muss hinreichend qualifiziert216 sein. Außerdem muss zwischen dem Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat obliegende Verpflich- 78 tung und dem dem Geschädigten entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen.217 Diese Voraussetzungen waren etwa bei Art. 7 der Pauschalreiserichtlinie218 gegeben, derzufolge der Mitgliedstaat den Pauschalreisenden gegen das Risiko einer Insolvenz des Reiseveranstalters abzusichern hat.219 Bei der Einlagensicherungsrichtlinie,220 nach der die

_____ 211 Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 93. 212 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 17 f., 21; weniger streng aber EuGH v. 7.5.2002 – Rs. C-478/99 Kommission ./. Schweden, Slg. 2002, I-4147 Rn. 18, 20. 213 Entwurfsbegründung in BT-Drs. 16/1780, S. 39 f. 214 BGH, NJW 2004, 1449, 1450. 215 BGH, NJW 2005, 445, 448. 216 Dazu z.B. BGHZ 146, 153, 160 ff.; BGH, NJW 2009, 2534 – Verpackungsverordnung; BGH, RdL 2009, 265 – Danske Slagetier. 217 EuGH v. 30.9.2003 – Rs. C-224/01 Köbler, Slg. 2003, I-10239 Rn. 30 f.; BGH, NJW 2005, 742. 218 Richtlinie 90/314/EWG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 219 EuGH v. 8.10.1996 – verb. Rs. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94 Dillenkofer u.a., Slg. 1996, I-4845 Rn. 22, 36 ff.; EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-140/97 Rechberger, Slg. 1999, I-3499 Rn. 44 ff. 220 Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 30.5.1994 über Einlagensicherungssysteme, ABl. 1994 L 135/5.

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3. Teil: Besonderer Teil

Mitgliedstaaten zur Sicherung der Einlagen einen Fonds einzurichten haben, lag es genauso.221 Selbst wenn eine Richtlinie solche Rechte begründet, wie z.B. die von Deutschland nicht rechtzeitig umgesetzten222 Richtlinien 68/151/EWG und 78/660/EWG über die Offenlegung von Jahresabschlüssen,223 kann der konkret geltend gemachte Schaden außerhalb des Schutzbereichs dieses Rechts liegen.224 Für das Versäumnis haftet in Deutschland die Körperschaft, die für die Umsetzung zustän79 dig ist, bei Bundesvorschriften also der Bund, der sich aber im Einzelfall entlasten kann, wenn die ausführenden Landesbehörden ein eigenes Verschulden bei der Umsetzung des nationalen Rechts trifft.225 Über solche Schadensersatzansprüche entscheiden die ordentlichen Gerichte.

b) Amtshaftung 80 Die Vorgaben einer nicht rechtzeitig umgesetzten Richtlinie können allerdings von den ordentli-

chen Gerichten auch im Zusammenhang mit einem Amtshaftungsrechtsstreit zu beachten sein. Einmal kann es sein, dass die Richtlinie den Behörden der Mitgliedstaaten besondere Amtspflichten dafür auferlegt, dass die vorzusehenden Einrichtungen auch tatsächlich eingerichtet werden. Das war etwa der eigentliche Gegenstand der soeben schon erwähnten Rechtssache Paul, in der eine solche Amtspflicht kraft Richtlinie aber verneint wurde.226 Ferner kann es sein, dass eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie mit öffentlich-recht81 lichem Inhalt unmittelbar anzuwenden und das Verhalten der Behörde an den Vorgaben der Richtlinie unmittelbar zu messen ist. Dem hätten die ordentlichen Gerichte im Amtshaftungsprozess nachzugehen.

7. Überbrückung von Umsetzungsdefiziten a) Allgemeine Folgen von Umsetzungsdefiziten 82 Das nationale Recht der Mitgliedstaaten kann dem EU-Recht widersprechen. Widerspricht es

unmittelbar geltendem Verordnungsrecht, haben die nationalen Gerichte nur das vorrangige und unmittelbar geltende Verordnungsrecht anzuwenden. Das ihm widersprechende nationale Recht bleibt außer Anwendung.227 Etwas anderes könnte nur gelten, wenn ausnahmsweise der Verfassungsvorbehalt greift.228 Das ist aber regelmäßig nicht der Fall, weil die bisher vorgenommenen Übertragungen von Kompetenzen an die Union verfassungsrechtlich unbedenklich waren und das Unionsrecht jedenfalls nach Erlass der Grundrechtscharta und ihrer Anerkennung durch Art. 6 EUV eine ausreichende Grundrechtsgarantie enthält. Anders liegt es bei einem Widerspruch des nationalen Rechts zu einer EU-Richtlinie. Die EU83 Richtlinie verpflichtet den Mitgliedstaat dazu, sein Recht an die Vorgaben der Richtlinie anzu-

_____ 221 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Rn. 26 f. 222 EuGH v. 4.12.1997 – Rs. C-97/96 Daihaitsu, Slg. 1997, I-6843; EuGH v. 29.9.1998 – Rs. C-191/95 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1998, I-5449. 223 BGH, NJW 2006, 690, 691. 224 BGH, NJW 2006, 690, 691 Rn. 11. 225 BGHZ 161, 224, 234; ähnlich BGHZ 146, 153, 164. 226 EuGH v. 12.10.2004 – Rs. C-222/02 Paul, Slg. 2004, I-9425 Rn. 30 f.; ihm folgend BGH, NJW 2005, 742, 743. 227 EuGH v. 3.6.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251, 1270; v.d. Groeben/Schwarze-G. Schmidt, Art. 249 EG Rn. 2, 6; Streinz-Schroeder, Art. 288 AEUV Rn. 46, 62 f. 228 Dazu Grabitz/Hilf/Nettesheim-Nettesheim, Art. 288 AEUV Rn. 55 ff.; v.d. Groeben/Schwarze-G. Schmidt, Art. 249 EG Rn. 5.

Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

545

passen. Sie kann aber das Recht der Mitgliedstaaten nicht ändern oder außer Kraft setzen. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist.

b) Überbrückung durch Rechtsprechung Die Versäumung der Frist zur Umsetzung einer Richtlinie ist regelmäßig in erster Linie ein Ver- 84 säumnis des nationalen Gesetz- oder Verordnungsgebers. Der Gesetz- und der Verordnungsgeber des Mitgliedstaates sind aber nicht die einzigen Adressaten der Umsetzungspflicht. Die Umsetzungspflicht trifft vielmehr alle Organe des Staates, die dazu beitragen können. Das sind auch die Gerichte.229 Sie können eine privatrechtswirksame Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist zwar nicht unmittelbar anwenden. Sie haben sich aber bei der Auslegung des nationalen Rechts unabhängig davon, ob es vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, jedenfalls dann, wenn die Richtlinie unbedingt und hinreichend bestimmt ist,230 so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, sodass das mit dieser verfolgte Ziel, auch im Verhältnis von Privaten untereinander, in größtmöglichem Umfang erreicht wird.231 Im Vorgriff auf die spätere Änderung von § 474 Abs. 2 BGB232 hat der BGH deshalb mit einer teleologischen Reduktion der Vorschrift im Wege richterlicher Rechtsfortbildung einen EU-rechtskonformen Zustand hergestellt.233 Ähnlich liegt es bei der Auslegung von § 439 Abs. 2 BGB.234 Die Pflicht der Gerichte zur Beteiligung an der Umsetzung von EU-Richtlinien besteht nicht 85 erst nach Ablauf der Umsetzungsfrist,235 sondern auch schon davor.236 Deshalb hätten die ordentlichen Gerichte beispielsweise die Vorgaben der Rassendiskriminierungsrichtlinie237 schon vor dem Erlass des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes beachten müssen, wenn sich ein Mietinteressent gegen die Verweigerung eines Mietvertrags wegen seiner Hautfarbe zivilrechtlich hätte wehren wollen oder ein Verbraucherverband im Unterlassungsklageverfahren nach § 1 UKlaG ethnische Gruppen benachteiligende Allgemeine Geschäftsbedingungen zur Überprüfung gestellt hätte.237a Die Umsetzung des Unionsrechts in der Rechtsprechung enthebt den nationalen Gesetzgeber nicht seiner eigenen EU-rechtlichen Verpflichtungen.238

_____ 229 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer u.a., Slg. 2004, I-8835 Rn. 110 f. 230 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; BGHZ 151, 300, 315 – Elektronischer Pressespiegel. 231 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941 Rn. 30; BGH, NJW 2001, 3698, 3699 f. – U-Bahn-Waggons; BGH, NJW 1993, 3139 – Dos; BGHSt 37, 168, 174 f. 232 Durch Gesetz v. 16.12.2008, BGBl. 2008 I, 2399. 233 BGHZ 179, 27 – Quelle. 234 BGHZ 195, 135 – Weber/Putz. 235 BGHZ 199, 43 Rn. 16 zur Berücksichtigung der Dienstleistungs-Richtlinie 2006/123/EG bei der Auslegung von § 43b BRAO oder BGH, InfAuslR 2014, 148 für die Berücksichtigung der Vorgaben der Richtlinie 2008/115/EG im Freiheitsentziehungsrecht. 236 EuGH v. 18.12.1997 – Rs. C-129/96 Inter-Environment Wallonie, Slg. 1997, I-7411 Rn. 44 ff.; BGHZ 138, 55, 62 – Testpreis-Angebot; eingehend zur Vorwirkung von Richtlinien Hofmann, in diesem Band, § 15 Rn. 30 ff. 237 Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29.6.2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. 2000 L 180/22. 237a Schmidt-Räntsch, NZM 2007, 6, 16. 238 EuGH v. 10.5.2001 – Rs. C-144/99 Kommission ./. Niederlande, Slg. 2001, I-3541 Rn. 21. Schmidt-Räntsch

546

3. Teil: Besonderer Teil

IV. Auslegungsmethoden 1. Vorbemerkung 86 Die obersten Gerichtshöfe des Bundes sind zwar inhaltlich mit den unterschiedlichsten Fragen

der Anwendung des Gemeinschaftsrechts befasst. Wenn die obersten Gerichtshöfe des Bundes EU-Vorschriften auslegen, wenden sie je nach den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalls die klassischen Auslegungsmethoden an und berücksichtigen bei dem EU-Recht zusätzlich auch die Begründungserwägungen. Gelegentlich greifen sie auch auf die Stellungnahme der EU-Kommission in einschlägigen Verfahren zurück,239 deren Verständnis als sog. Hüterin der Verträge trotz des Auslegungsmonopols des EuGH durchaus Gewicht zukommt. Im Einzelnen ergibt sich Folgendes.

2. Wortlautauslegung 87 Die in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes am häufigsten verwandte Me-

thode zur Auslegung des Unionsrechts ist die Wortauslegung.240 Zur Auslegung des Unionsrechts kommen die obersten Gerichtshöfe in erster Linie, wenn sie das Unionsrecht als klar und eindeutig ansehen. Sie befassen sich mit der Auslegung des Unionsrechts aber auch in Vorabentscheidungsersuchen. Dabei berücksichtigen sie naturgemäß die Rechtsprechung des EuGH.241 Gelegentlich spielen auch die verschiedenen Sprachfassungen eine Rolle.242

3. Systematische Auslegung 88 Eine systematische Auslegung des EU-Rechts unter Einbeziehung auch die des Rechtsaktes Sys-

tematik verdeutlichender Begründungserwägungen kommt in der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes häufiger vor. Beispiele hierfür sind aus dem Bereich des Marken- und Wettbewerbsrechts der Fall Bestellnummernübernahme 243 zum Zusammenspiel von Art. 3a Abs. 1 lit. d) und g) der EU-Richtlinie zur vergleichenden Werbung244 oder der Fall Omeprazol245 zur Gültigkeit und Auslegung der Art. 15 und 19 der Arzneimittel-Schutzzertifikat-Richtlinie.246

_____ 239 BGH, GRUR 2006, 405, 406 – Aufbereiter II. 240 Beispiele: BGH, NJW 2005, 747; BGH, GRUR 2005, 258, 260 – Roximycin; BGH, GRUR 2004, 1037, 1038 f. – Johanniskraut; BGH, NJW 2004, 2664, 2665 – Informatec (fehlerhafte Ad-hoc-Mitteilung) ebenso BGH, NJW 2004, 2668 und 2971; BGH, WRP 2004, 1378, 1380 – Citroën; BGH, MDR 2004, 1415, 1416; BGH, BGH-Report 2004, 1430, 1432 – Honigwein; BGH, GRUR 2004, 793, 796 – Sportlernahrung II; BGHZ 158, 236, 244, 247 f. – Internet-Versteigerung; BGH, WM 2003, 2186 – Schrottimmobilien; BGHZ 151, 286, 293 – Muskelaufbaupräparate; BGH, ZLR 2002, 660, 665 – Sportlernahrung; BGH, NJW 2001, 2963, 2965 – Vollmacht für Verbraucherkreditvertrag. 241 Z.B. BGH, RdL 2005, 82, 83; BGH, NJW-RR 2004, 210, 211; BGH, MDR 2004, 1415, 1416; BGH, NJW-RR 2000, 438, 439. 242 Z.B. BGH, WRP 2004, 1388, 1390 f. – Polifeprosan; BGH, EuZW 2004, 537 – Nachbauvergütung; BGH, NVwZ 2014, 166 Rn. 16 zur sog. Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG; kritisch insoweit EuGH v. 17.7.2014 – verb. Rs. C473/13 und C-514/13 Bero und Bouzalmate, Rn. 28. 243 BGH, GRUR 2005, 348 f. 244 Richtlinie 84/450/EWG des Rates v. 10.9.1984 über irreführende und vergleichende Werbung, ABl. 1984 L 250/17, idF der Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 6.10.1997, ABl. 1997 L 290/18. 245 BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 246 Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates v. 18.6.1992 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel, ABl. 1992 L 182/1.

Schmidt-Räntsch

§ 23 Die Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (OGB)

547

Beispiele aus anderen Bereichen sind das Reitunfall-Urteil des BGH zu den EU-rechtlichen Vorgaben für die Möglichkeit des Reiseveranstalters, sich von der Haftung für Schäden des Reisenden zu entlasten,247 der Fall Kerosinzuschlag I248 zu den EU-Vorgaben für nachträgliche Preiserhöhungen bei Pauschalreisen oder der Fall Davidoff Hot Water zu der grundrechtskonformen Auslegung der Richtlinie zur Durchsetzung geistigen Eigentums.249 Ausführungen zur Systematik von Gemeinschaftsrecht finden sich in geeigneten Fällen auch in Urteilen ohne vorherige Befassung des EuGH.250

4. Historische Auslegung Die historische Auslegung ist bei der Auslegung des Unionsrechts zu berücksichtigen.251 Sie fin- 89 det sich in der Rechtspraxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes ebenso wie bei der Auslegung des nationalen Rechts eher selten.252 Sie findet sich tendenziell eher bei Entscheidungen, die EUrechtlich stärker durchdrungen sind. 253 Bei Rechtsgebieten, die EU-rechtlich weniger stark durchdrungen sind, findet sich eine historische Auslegung nicht.

5. Teleologische Auslegung In der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Auslegung des Unionsrechts 90 findet sich auch die teleologische Auslegung. Ein Beispiel ist das unberechtigte Festhalten eines ausländischen Schiffs unter Verstoß gegen die Anforderung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Hier hatten sich die Landesbehörden mit einem Hinweis auf die Richtlinie 95/21/EG254 zu verteidigen versucht. Dies hielt einer an ihrem Zweck ausgerichteten Auslegung der Richtlinie offensichtlich nicht stand.255 Weitere Beispiele sind das Schriftformerfordernis nach Art. 17 Abs. 1 EuGVÜ/LugÜ,256 die Auslegung des § 312b Abs. 2 BGB257 nach dem Schutzzweck der Fernabsatzrichtlinie,258 die Auslegung des § 137h UrhG259 unter Rückgriff auf den Zweck des Art. 7 Abs. 3 der Satelliten- und Kabelrichtlinie,260 die Bewertung von Vergabeentscheidungen am Zweck der

_____ 247 BGH, NJW 2005, 418, 420. 248 BGH, NJW 2003, 507, 508 f. 249 BGH, GRUR 2013, 1237 Rn. 24 f. 250 Z.B. BGH, NJW 2000, 3212, 3214 – Programmfehlerbeseitigung. 251 EuGH v. 3.10.2013 – Rs. C-583/11 P Inuit Tapiriit Kanatami, Rn. 50. 252 Z.B. BGH, NJW-RR 2002, 1615, 1616 – Bodensee-Tafelwasser; BGH, NJW 2013, 2814, oder die Vorabentscheidungsersuchen des BGH in NVwZ 2014, 166 Rn. 17, in GRUR 2013, 1247 Rn. 14 oder in NJW-RR 2012, 436. 253 Z.B. BGH, GRUR 2000, 1020, 1021 – La Bohème; BGH, NJW 2000, 521, 523 (Vorlage Heininger); ansatzweise auch BGH, GRUR 2000, 392, 393 ff. – Opremazol. 254 Richtlinie 95/21/EG des Rates v. 19.6.1995 zur Durchsetzung internationaler Normen für die Schiffssicherheit, die Verhütung von Verschmutzung und die Lebens- und Arbeitsbedingungen an Bord von Schiffen, die Ge meinschaftshäfen anlaufen und in Hoheitsgewässern der Mitgliedstaaten fahren (Hafenstaatkontrolle), ABl. 1995 L 157/1. 255 BGHZ 161, 224, 230 f. 256 BGH, MDR 2004, 1371. 257 BGH, NJW 2004, 3699, 3670. 258 Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19. 259 BGH, GRUR 2005, 48, 50 – Man spricht deutsch. 260 Richtlinie 93/83/EWG des Rates v. 27.9.1993 zur Koordinierung bestimmter urheber- und leistungsschutzrechtlicher Vorschriften betreffend Satellitenrundfunk- und Kabelweiterverbreitung, ABl. 1993 L 248/15.

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3. Teil: Besonderer Teil

maßgeblichen Koordinierungsrichtlinie,261 die Anforderungen an Packungsbeilagen für Humanarzneimittel262 oder die Vorlagebeschlüsse zur Bemessung der Nachbauentschädigung im Sortenschutz.263 Dabei werden auch die bei deutschen Normen nicht vorhandenen Begründungserwägungen264 berücksichtigt.265

V. Fazit 91 –

– – –

Die obersten Gerichtshöfe des Bundes können EU-Recht nur auslegen, wenn es klar oder in der Rechtsprechung des EuGH geklärt ist. Sie befassen sich mit der Auslegung des EU-Rechts häufiger, als es dieser enge Rahmen erwarten lässt. Gegenstand der Auslegung sind nicht nur EU-Vorschriften mit typisch zivilrechtlichem Inhalt, sondern auch Normen mit öffentlich-rechtlichem Inhalt. Die obersten Gerichtshöfe des Bundes folgen den klassischen Auslegungsmethoden, meist in einer knappen Wortauslegung. Gerade bei Vorabentscheidungsersuchen, aber auch in anderen Fällen, wenden sie auch die anderen möglichen Auslegungsmethoden an.

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_____ 261 BGH, NZBau 2004, 517, 518; BGHZ 148, 55, 62 f. 262 BGH, NJW 1998, 3412, 3413 – Neutrotat forte. 263 BGH, EuZW 2005, 156, 158 f. 264 Dazu Riesenhuber, in diesem Band, § 10 Rn. 35 ff.; zu ihrer Bedeutung bei überschießender Umsetzung: BGH, NJW 2004, 362, 363 – SIVA. 265 BGH, NJW-RR 2000, 631, 632 f. – Generika-Werbung; BGH, NJW 2005, 747. Schmidt-Räntsch

§ 24 Frankreich

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Abschnitt 3 Perspektiven anderer Mitgliedstaaten § 24 Frankreich 3. Teil: Besonderer Teil

Ulrike Babusiaux § 24 Frankreich Babusiaux Literatur Ulrike Babusiaux, Die richtlinienkonforme Auslegung im deutschen und französischen Zivilrecht (2007); Louis Bach, Lois et décrets, in: Répertoire de droit civil (2013); ders./Jean-Sylvestre Bergé/Marie-Laure Niboyet (Hrsg.), La réception du droit communautaire en droit privé des États membres (2003); Jean-Sylvestre Bergé, L’application du droit national, international et européen (2013); Guy Canivet, Le droit communautaire et le juge national, in: Denys Simon (Hrsg.), Le droit communautaire et les métamorphoses du droit (2003), S. 81–95; Chloé Charpy, Le statut constitutionnel du droit communautaire dans la jurisprudence (récente) du Conseil constitutionnel et du Conseil d’État, RFDC 2009, 621–647; Olivier Dubos, Les juridictions nationales juge communautaire (2001); Pierre-Marie Dupuy/Yann Kerbrat, Droit international public (11. Aufl. 2012); Aline Humbert, La mutation de l’office du juge français: réflexions sur l’influence du droit d’origine externe sur la fonction juridictionnelle, unveröff. Diss. Strasbourg (2005); Henri Labayle, Question prioritaire de constitutionnalité et question préjudicielle: ordonner le dialogue des juges, RFDA 2010, 659–678; ders./Rostane Mehdi, Le conseil constitutionnel, le mandat européen et le renvoi préjudiciel à la Cour de justice, RFDA 2013, 461–476; Rémy Libchaber, Les article 4 et 5 du Code civil ou les devoirs contradictoires du juge civil, in: Georges Fauré/Geneviève Koubi (Hrsg.), Le titre préliminiaire du Code civil (2003); Joël Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, in: Répertoire de droit communautaire (2011, mise à jour oct. 2013); Béligh Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne (2007); Alain Ondoua, Étude des rapports entre le droit communautaire et la constitution en France. L’ordre constitutionnel comme guide au renforcement de l’intégration européenne (2001). Rechtsprechung Cass. mixte v. 24.5.1975, Cafés Jacques Vabre, Bull. Nr. 4; Cass. v. 16.4.2010, QPC, Nr. 10-40.002, Aziz Melki et Sélim Abdéli, RFDA 2010, 445–229, AJDA 2010, 1023, note Manin; C.E. Ass. v. 20.10.1989, Nicolo, Rec. S. 190; C.E. Ass. v. 8.2.2007, Sté Arcelor Atlantique, Rec. S. 55; Cons. const., déc. Nr. 2004-505 DC v. 19.11.2004, Traité établissant une Constitution pour l’Europe, Rec. S. 173; Cons. const., déc. Nr. 2004-496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, Rec. S. 101; Cons. const., déc. Nr. 2006-535 DC v. 30.3.2006, Loi pour l’égalité des chances, Rec. S. 50; Cons. const., déc. Nr. 2010-605 DC v. 12.5.2010, Loi relative à l’ouverture à la concurrence et à la régulation du secteur des jeux d’argents et de hasard en ligne; Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 4.4.2013, M. Jeremy F; Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 14.6.2013, M. Jeremy F; EuGH v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 und C-189/10 Melki et Abdéli, Slg. I-5667; EuGH v. 30.5.2013 – Rs. C-168/13 PPU Jeremy F.

I. II. III.

Übersicht Ein Rechtssystem im Umbruch | 1 Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem | 2–8 Unionsrecht und nationales (französisches) Recht | 9–25 1. Allgemeines Verhältnis zum Völkerrecht | 10–12 2. Verhältnis zum Unionsrecht | 13–15 3. Veränderungen durch die Einführung der konkreten Normenkontrolle 2008 | 16–22 4. Anwendungsvorrang und sekundäres Unionsrecht, insbes. Richtlinien | 23–25

IV.

V.

Europäische Methodenlehre im nationalen Recht | 26–35 1. Das traditionelle Verständnis der jurisdiktionellen Funktion | 27 2. Der nationale Richter als Anwender des Unionsrechts | 28–32 3. Die (notwendige) Koordination von Rechtsquellen nationalen und unionsrechtlichen Ursprungs | 33–35 Die Befreiung des Richters und der jurisdiktionelle Dialog in Europa | 36–37

Babusiaux

550

3. Teil: Besonderer Teil

I. Ein Rechtssystem im Umbruch 1 Frankreichs Rechtssystem befindet sich in einem Umbruch, dessen Gründe einerseits in der eu-

ropäischen Rechtsangleichung, andererseits in der 2008 eingeführten Verfassungsbeschwerde (question prioritaire de constitutionnalité) zu suchen sind. Beide Entwicklungen führen zu einer Infragestellung traditioneller Begründungsmuster und zu einer Veränderung der Rolle der Gerichte im Rechtssystem. Diese Entwicklung1 ist noch nicht abgeschlossen, sodass allenfalls Tendenzen erkennbar sind. Aus Sicht der europäischen Methodenlehre ist hervorzuheben, dass sich die französische Rechtsprechung und Lehre bei der Behandlung der europäischen Privatrechtsangleichung eher auf die kompetenzrechtlichen und rechtsquellentheoretischen Fragen konzentriert als auf die Methodologie der Rechtsanwendung wie sie im deutschen Rechtsdiskurs im Zentrum steht (vgl. Rn. 8).

II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 2 Während Frankreich seit der Revolution (1789) fünfzehn verschiedene Verfassungen hatte,2

zeichnen sich die staatlichen Institutionen, vor allem die Gerichtsorganisation, seit der Revolution durch ihre Beständigkeit aus: Noch immer scheidet das Gerichtssystem dem revolutionären Verständnis vom Prinzip der Gewaltenteilung entsprechend streng zwischen ordentlicher Gerichtsbarkeit (Zivil- und Strafgerichte) und der als Privileg der Administration verstandenen Verwaltungsgerichtsbarkeit.3 Kompetenzkonflikte zwischen beiden Rechtswegen können nur durch Anrufung des paritätisch mit Richtern aus den beiden Obergerichten besetzten Tribunal des Conflits beseitigt werden.4 Für die ordentliche Gerichtsbarkeit wacht die Cour de cassation, für die Verwaltungsgerichte der Conseil d’État über die Rechtsanwendung der Untergerichte und garantiert damit die Einheitlichkeit der Rechtsprechung im jeweiligen Rechtsweg.5 Beide obersten Gerichte können die Urteile der Instanzgerichte aufheben (cassation) oder halten (rejet), ggf. auch unter Hinweis auf das zutreffende Rechtsverständnis verweisen (renvoi). Dieser machtvollen Position, die durch die Fülle richterrechtlicher Institute, aber auch durch die Häufigkeit von nicht immer vorhersehbaren Rechtsprechungsänderungen (revirements) manifest wird, steht nicht entgegen, dass sich beide Gerichte – ebenfalls in Berufung auf die revolutionäre Tradition – als „Mund des Gesetzes“ (bouche de la loi) verstehen, und formal eine strenge Gesetzesbindung postulieren.6

_____ 1 Zur geplanten Reform des Vertragsrechts, vgl. http://www.textes.justice.gouv.fr/art_pix/avant_projet_regime_ obligations.pdf. 2 Einen ersten Zugriff bietet Godechot/Faupin, Les Constitutions de la France depuis 1789 (2006). 3 Vgl. Gesetz v. 16.–24.8.1790: „Die richterlichen Aufgaben unterscheiden sich klar von denen der Verwaltung und werden auch immer unabhängig von ihnen fortbestehen. Die Richter mißbrauchen ihre Amtsgewalt, wenn sie die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden in irgendeiner Weise beeinträchtigen oder einen Verwaltungsbeamten wegen der Führung seiner Dienstgeschäfte vorladen.“ (Übersetzung nach Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht [3. Aufl. 2000], S. 61). Zur Entwicklung vgl. ausführlich Pacteau, Le Conseil d’État et la fonction de la justice aministrative française au XIXe siècle (2003). 4 Vgl. nur Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), S. 52 f. Einzelheiten bei Debard/Guinchard/Montagnier/Varinard, Institutions juridictionelles (11. Aufl. 2013). 5 Vgl. Jobard-Bachellier/Bachellier/Buk Lament, La technique de cassation (8. Aufl. 2013). 6 Zum fiktiven Charakter dieser Annahme vgl. Molfessis, Loi et jurisprudence, Pouvoirs 126 (2008) 87–100; zur Entwertung des Gesetzes vgl. auch Bécane/Couderc/Hérin, La loi (2. Aufl. 2010). Babusiaux

§ 24 Frankreich

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Die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 hat diese traditionellen Strukturen verändert und 3 teilweise aufgebrochen.7 Eine erste, für das Gefüge der Gesamtrechtsordnung wichtige Veränderung, betraf die Rolle des Gesetzes (loi): Die Verfassung der Fünften Republik (1958) hatte sich ursprünglich dem Zweck verschrieben, die Instabilitäten, die die Regierungsbildung unter der Dritten und Vierten Republik gekennzeichnet hatten, zu beseitigen. Zu diesem Zweck wurden einerseits die parlamentarischen Kontrollrechte gegenüber der Regierung beschränkt (sog. parlementarisme rationalisé), andererseits wurde die Vorherrschaft des Gesetzes zugunsten der Exekutive gebrochen.8 Insbesondere kann sich die Regierung ermächtigen lassen, bestimmte Gesetzgebungsvorhaben auf dem Wege der gesetzesvertretenden Verordnung (ordonnance) durchzusetzen (Art. 38 Const.).9 Dieses Vorgehen hat gerade auch für die Umsetzung europäischer Richtlinien Bedeutung erlangt, da, vor allem wenn sich der französische Gesetzgeber im Umsetzungsverzug befindet, die Richtlinien oftmals im Wege der ordonnance in die französische Rechtsordnung transferiert werden.10 Durch die Verfassungsreform vom 23. Juli 2008 wurde die Bedeutung des Parlaments insoweit gestärkt, als nunmehr eine ausdrückliche Ratifikation der ordonnance durch das Parlament verlangt wird, wenn die ordonnance auch nach ihrem Erlass mit Gesetzesrang weiterbestehen soll.11 Gleichzeitig wurden die Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt, um ein größeres Gleichgewicht zwischen den Verfassungsorganen (réequilibrage des institutions) zu erreichen.12 Wesentliche Veränderungen hat die Verfassungsreform von 2008 auch für das französische 4 Gerichtssystem eingeleitet, indem – erstmalig in der französischen Geschichte – eine ex-postKontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen eingeführt wurde.13 Der neu eingefügte Verfassungsartikel Art. 61–1 Const. bestimmt: „Wenn anlässlich eines Gerichtsverfahrens vor einem Gericht vorgetragen wird, dass eine gesetzliche Bestimmung Rechte und Freiheitsrechte verletzt, die von der Verfassung garantiert werden, kann der Conseil constitutionnel durch Vorlage des Conseil d’État oder der Cour de cassation mit dieser Frage befasst werden.“14 Entgegen der früheren Rechtslage, die lediglich eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen vor ihrer Promulgation vorsah, besteht nun für die Fachgerichte die Möglichkeit, auch bereits verabschiedete Gesetze, deren Verfassungskonformität im Rahmen eines Rechtsstreites in Zweifel gerät, durch Weiterleitung an das jeweils zuständige oberste Gericht eines jeden Rechtswegs

_____ 7 Verfassungsgesetz Nr. 2008–724 v. 23.7.2008, JORF v. 24.7.2008, S. 11890/11895, NOR: JUSX0807076L. 8 Ein Überblick bei Hamon/Troper, Droit constitutionnel (34. Aufl. 2013), Rn. 457, 474 (zum parlementarisme rationalisé); Rn. 744–751 (zur Gesetzgebung mittels ordonnances). 9 Art. 38 Const. (ursprüngliche Version): „(1) Le Gouvernement peut, pour l’exécution de son programme, demander au Parlement l’autorisation de prendre par ordonnances, pendant un délai limité, des mesures qui sont normalement du domaine de la loi.“, dazu Bach, Lois et décrets, Rn. 46 mwN. 10 Vgl. z.B. Gesetz Nr. 2004-237 v. 18.3.2004, JORF Nr. 67 v. 19.3.2004, S. 5311, NOR: MAEX0300214L; Gesetz Nr. 2001-1 v. 3.1.2001, JORF Nr. 3 v. 4.1.2001, S. 93, NOR: MAEX0000132L; kritisch Leveneur, Quarante-six transpositions par ordonnances: où va-t-on?, Contrats, conc., consom. fév. 2001, 3–8. 11 Einfügung eines Satz 3 in Abs. 2 des Art. 38 Const.: „Elles [sc. les ordonnances] ne peuvent être ratifiées que de manière expresse“. 12 Die Überlegungen des Comité de réflexion zur Reform finden sich unter: http://www.ladocumentationfrancaise. fr/var/storage/rapports-publics/074000697/0000.pdf. 13 Zu den Auswirkungen vgl. die Studie von Cartier, La QPC, le procès et ses juges (2013), in der insbesondere auch die „mutation du dualisme juridictionnel“ erörtert wird. 14 Art. 61-1 Const.:“(1) Lorsque, à l’occasion d’une instance en cours devant une juridiction, il est soutenu qu’une disposition législative porte atteinte aux droits et libertés que la Constitution garantit, le Conseil constitutionnel peut être saisi de cette question sur renvoi du Conseil d’État ou de la Cour de cassation qui se prononce dans un délai déterminé“. Babusiaux

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dem Conseil constitutionnel (Verfassungsrat) zur Prüfung vorzulegen.15 Das die Verfassung ausführende Gesetz (loi organique) bezeichnet diese Frage als „vorrangige Frage der Verfassungsmäßigkeit“ (question prioritaire de constitutionnalité, sog. QPC).16 Durch diese Qualifizierung wollte der Gesetzgeber den Gerichten aufgegeben, die Frage der Verfassungsmäßigkeit vorrangig vor der Europarechtskonformität zu untersuchen und zu entscheiden. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Gerichte die Verfassungsfrage umgehen und sich auf die Prüfung der Europarechtskonformität einer französischen Norm zurückzuziehen (unten Rn. 17).17 Die Einführung und die anhaltende innerfranzösische Debatte um die QPC ist damit das deutlichste Zeichen dafür, dass sich die Rolle der Gerichte gegenüber dem Gesetzgeber gewandelt hat, indem diese nicht nur die Gesetze anwenden, sondern auch die Kompatibilität von Gesetzen mit dem Europarecht, und neu auch mit dem Verfassungsrecht prüfen.18 Gleichzeitig überwindet die QPC die traditionell strenge Trennung zwischen den ordentlichen und den Verwaltungsgerichten, indem die Verfassungsfrage für beide verbindlich vom Conseil constitutionnel entschieden wird. Dies kommt vor allem darin zum Ausdruck, dass die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes Bindungswirkung für beide Rechtswege entfaltet.19 Auch mit Blick auf die Verfassungskontrolle bleiben der Cour de cassation und dem Conseil d’État allerdings eine besondere Kontrollfunktion gegenüber den Untergerichten erhalten: Beide obersten Gerichte fungieren als „Filter“ für die Vorlage der QPC an den Conseil constitutionnel, ohne dass insoweit eine Rekursmöglichkeit besteht.20 Angesichts der starken Orientierung an jurisdiktioneller Kompetenz und gegenseitiger 5 Kompetenzbeschränkung zwischen Verwaltungs-, Verfassungs- und ordentlichen Gerichten hat die methodologische Aufarbeitung von Konflikten zwischen Normen unterschiedlicher jurisdiktioneller Zuordnung geringere Bedeutung als im deutschen Methodenverständnis.21 Vorrangiges Thema der französischen Methodenlehre (im Privatrecht) sind die zwei Stufen der Rechtsanwendung. Nach wie vor grundlegend sind dafür die Ausführungen von François Gény, die ihrerseits in Auseinandersetzung mit der deutschen Pandektenwissenschaft entwickelt wurden.22 Ausgangspunkt der Rechtsanwendung ist danach die Gesetzesauslegung,23 die sowohl die Anwendung eines im Wortlaut klaren Gesetzes als auch die Erforschung des gesetzgeberischen

_____ 15 Damit erhält der Conseil constitutionnel, dem die ehemaligen Staatspräsidenten von Rechts wegen angehören, den eigentlichen Status eines Gerichts. Einzelheiten unter: http://www.conseil-constitutionnel.fr/. 16 Gesetz Nr. 2009-1523 v. 10.12.2009, JORF Nr. 0287 v. 11.12.2009, S. 21379, NOR: JUSX0902104L. 17 Vgl. Art. 23-2 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 2009-1523 v. 10.12.2009: „En tout état de cause, la juridiction doit, lorsqu’elle est saisie de moyens contestant la conformité d’une disposition législative, d’une part, aux droits et libertés garantis par la Constitution et, d’autre part, aux engagements internationaux de la France, se prononcer par priorité sur la transmission de la question de constitutionnalité au Conseil d’État ou à la Cour de cassation“. Zu den Hintergründen vgl. Burgogue-Larsen, RFDA 2009, 787–799, 796: „le constituant (…) a en effet estimé qu’il n’est pas sain que le contrôle de conventionnalité (…) prenne dans l’ordre interne plus de place que le contrôle de la constitutionnalité“. 18 Einen allgemeinen Überblick bieten Dupic/Briand, La question prioritaire de constitutionnalité, une révolution des droits fondamentaux (2013), bes. S. 45–49, S. 61–65, S. 154–161. 19 Vgl. Art. 23-2 Abs. 1 Ziff. 2 des Gesetzes Nr. 2009-1523 v. 10.12.2009 zu den Bedingungen für die Weiterleitung an den Conseil constitutionnel: „Elle [sc. la loi] n’a pas déjà été déclarée conforme à la Constitution dans les motifs et le dispositif d’une décision du Conseil constitutionnel, sauf changement des circonstances“. 20 Die QPC der Cour de cassation sind auf der Internetseite des Gerichts abrufbar: http://www.courdecassation.fr/ jurisprudence_2/questions_prioritaires_constitutionnalite_3396/constitutionnalite_soumises_3641/. 21 Vgl. v.a. Bergé, L’application du droit national, Rn. 172–232. 22 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif, 2 Bde. (2. Aufl. 1919). Zur Bedeutung Génys heute vgl. Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012), Rn. 552–554 mwN. 23 Vgl. Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, S. 74 f., dazu Frydman, Le sens des lois (2005), S. 488–490. Zum Mythos der école d’exégèse, der hier zu Unrecht gepflegt wird, vgl. Bürge, Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert (2. Aufl. 1995), S. 225–245.

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Willens eines prima facie unklaren Gesetzestextes umfasst.24 Die hierüber hinausgehende richterliche Tätigkeit ist keine Gesetzesanwendung, sondern „freie“ Rechtsfindung des Richters, deren Regeln Gény beschrieben hat.25 „Frei“ ist der Richter nur insoweit, als er seine Entscheidung ohne Gesetzestext zu fällen hat, sich also nicht auf eine formelle Rechtsquelle zurückziehen kann. Im Gegensatz zur (deutschen) Freirechtsschule verlangt die von Gény begründete libre recherche scientifique eine wissenschaftliche, d.h. objektivierte Entscheidungsfindung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass der Richter die rechtlichen wie tatsächlichen Argumente für die jeweilige Lösung ermittelt und gegeneinander abwägt. Da der Richter eine zeitgemäße und den aktuellen sozialen Gegebenheiten angemessene Entscheidung zu treffen hat, darf er nach Génys Konstruktion auch dem Willen des historischen Gesetzgebers widersprechen, wenn dieser von anderen Voraussetzungen, als sie zum Entscheidungszeitpunkt vorliegen, ausging.26 Die beiden Rechtsanwendungsstufen nach Gény lassen sich nach den Vorgaben des Rechts- 6 verweigerungsverbotes in Art. 4 Code civil (C.civ.) abgrenzen.27 Nach dieser Vorschrift kann der Richter, der die Urteilsfindung unter dem Vorwand des Schweigens, der Undeutlichkeit oder der Unvollständigkeit des Gesetzes verweigert, wegen Verstoßes gegen das Rechtsverweigerungsverbot strafrechtlich verfolgt werden.28 Wenn der Rechtsanwender mithin auch dann zu entscheiden hat, wenn dem Gesetz bei subjektiver Auslegung keine klare Maxime zu entnehmen ist, so handelt es sich nicht mehr um Gesetzesauslegung (interprétation),29 sondern um textlich nicht gebundene, freie Rechtsfindung (libre recherche).30 Folgt man Gény, kann der Richter dabei alle sonstigen Erkenntnisquellen zur Begründung 7 seiner rechtlichen Lösung heranziehen,31 ist also gerade nicht auf das „Recht“ im Sinne einer echten Rechtsquelle beschränkt. Inwieweit Art. 12 Abs. 1 Nouveau Code de procédure civile (NCPC), der den Richter an das Recht bindet,32 hier Grenzen setzt, ist in der Doktrin umstritten, was auch mit den Schwierigkeiten des Rechtsquellenbegriffs zusammenhängen dürfte, dessen Grenzen zum soziologischen Rechtsquellenbegriff durchaus unschärfer sind als in der deutschen Rechtstheorie.33 Seit den 1970er Jahren gibt es eine intensive Diskussion darüber, ob nicht die Jurisprudenz oder sogar die Doktrin selbst Rechtsquelle sei. Dabei wird immer wieder darauf verwiesen, dass es für den Einzelfall im Ergebnis keinen Unterschied bedeutet, ob der Richter, der zur Entscheidung gezwungen ist, letztere aus einer echten oder aus einer soziologischen Rechtsquelle ableitet.34 Grundlage der Rechtsgeltung im Einzelfall (vgl. Art. 5 C.civ., dazu unter

_____ 24 Bach, Lois et décrets, Rn. 324–326. 25 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, S. 74–234; zum Fortwirken Génys vgl. nur Jamin, Francois Gény d’un siècle à l’autre, in: Jestaz/Thomasset/Vanderlinden (Hrsg.), François Gény, Mythe et réalité (2000), S. 25–28. 26 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 1, S. 222–226. 27 Vgl. zuletzt Chevallier, L’interprétation des lois, in: Fauré/Koubi (Hrsg.), Le titre préliminaire du Code civil (2003), 125–141. 28 Art. 4 C.civ.: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra être poursuivi comme coupable de déni de justice“, dazu Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012), Rn. 352 f. 29 Gemeint ist ein enges Verständnis im Sinne der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens (détermination du sens d’un texte), vgl. auch Rieg, in: L’interprétation par le juge des règles écrites, Travaux Association Henri Capitant XXIV (1978/79), S. 70. 30 Bach, Lois et décrets, Rn. 345 f. mwN. 31 Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), Bd. 2, bes. S. 77–79, S. 93–113. 32 Art. 12 Abs. 1 NCPC: „Der Richter entscheidet den Rechtsstreit in Übereinstimmung mit den Rechtsregeln, die auf ihn anwendbar sind“, dazu Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile. Droit interne et droit européen (3. Aufl. 2012), Rn. 507–510. 33 Sehr klar Carbonnier, Droit civil I (2004), S. 192–309. 34 Vgl. nur Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012), Rn. 197–200 (doctrine), Rn. 360–362 (jurisprudence).

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Rn. 27) ist der Richterspruch, nicht die Rechtsquelle, die er bei seiner Entscheidungsfindung herangezogen hat. Entsprechend diesem Verständnis der richterlichen Funktion sieht die französische Doktrin 8 das Neben- und Miteinander von nationalem Privatrecht und Unionsrecht nicht als Methodenproblem der Gesetzesanwendung und -auslegung, sondern vorrangig als Rechtsquellenfrage, d.h. als Problem der Koordination der nationalen und unionsrechtlichen Rechtsquellen (unten Rn. 33–35). Dabei wird die Vorgabe, europäisches, d.h. supranationales Recht mit Vorrang vor dem nationalen Gesetz anzuwenden, als Befreiung des französischen Richters von der Unterwerfung unter das Joch des (französischen) Gesetzes angesehen (dazu unten Rn. 36). Damit steht die Veränderung der jurisdiktionellen Funktion des Richters durch das Unionsrecht und die unionsrechtliche Ausweitung seiner Handlungskompetenzen, v.a. gegenüber dem Gesetzgeber, im Mittelpunkt der französischen Diskussion der europäischen Rechtsangleichung (dazu unten Rn. 28–32).

III. Unionsrecht und nationales (französisches) Recht 9 Schon durch die Sonderkompetenz des EuGH für das europäische Recht wird nach französischer

Auffassung die besondere Stellung des Unionsrechts im Vergleich zum sonstigen internationalen Recht deutlich erkennbar: Während die französischen Fachgerichte bis 1990 bzw. 1995 nicht befugt waren, völkerrechtliche Verträge selbst auszulegen,35 sondern gezwungen waren, durch Vorlage an das zuständige Ministerium die Auslegung der für den Vertragsschluss verantwortlichen Exekutive abzuwarten, galt für das Gemeinschaftsrecht und gilt für das Unionsrecht gem. Art. 267 AEUV das Auslegungs- und Verwerfungsmonopol des EuGH. Aus dieser Perspektive ist es verständlich, dass die nationalen französischen Gerichte die Unterordnung unter das europäische Gericht als Fortschritt im Vergleich zur Vorlagepflicht gegenüber der nationalen Verwaltung ansehen. Gleichzeitig erklärt das lange Überleben der authentischen Interpretation (interprétation authentique)36 sowie die strenge kompetenzrechtliche Scheidung von ordentlicher und Verwaltungsgerichtsbarkeit die Leichtigkeit, mit der man in Frankreich das Rechtsprechungsmonopol des EuGH akzeptiert: Der EuGH ist die von den Vertragsstaaten eingesetzte Instanz, die anstelle der Vertragsparteien die Auslegung des Vertrages vornimmt. Seine Befugnis entspricht damit dem Satz eius est legem interpretari cuius est condere.37 Die Übernahme der vom EuGH vorgegebenen zweckgeleiteten Auslegung des Unionsrecht (interprétation téléologique) durch die französischen Gerichte wird damit als logische Konsequenz der Kompetenzverteilung aufgefasst und ohne weiteres akzeptiert.38 Aus dieser Abhängigkeit lassen sich nach französischer Vorstellung alle Besonderheiten des Unionsrechts im Vergleich zum sonstigen Völkerrecht erklären.

_____ 35 C.E. v. 29.6.1990, G.I.S.T.I., Rec. S. 171. Eine Übersicht zur früheren Rechtsprechung bei Humbert, La mutation de l’office du juge français, Rn. 258 mit Fn. 13. Die Cour de cassation hatte bereits zuvor eine grosse Anzahl von Ausnahmen zugelassen, so dass der Abschied von der authentischen Auslegung, der erst mit Cass. civ. v. 19.12.1995, Banque africaine de développement c/Bank of Credit international et autres, Bull. civ. Nr. 327, eindeutig vollzogen wurde, leicht fiel und erwartet worden war. Auch dazu Humbert, aaO, Rn. 273 mit Fn. 29. 36 Vgl. nur Bach, Lois et décrets, Rn. 267 f. und Rn. 324. 37 So die Grundlage der früheren Rechtsprechung, vgl. C.E. v. 23.7.1823, Veuve Murat, Comtesse de Lipoma, Rec. S. 545 und C.E. v. 3.9.1823, Rougement, Rec. S. 575. 38 Als eine Methode unter vielen erscheint die teleologische Auslegung bei Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012), Rn. 554.

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1. Allgemeines Verhältnis zum Völkerrecht Für die Integration des internationalen Rechts in die französische Rechtsordnung folgt die fran- 10 zösische Verfassung der Fünften Republik dem traditionellen Ansatz des Monismus.39 Art. 53 Const. bestimmt, dass „Friedensverträge, Handelsabkommen, Abkommen und Verträge mit Blick auf die internationale Organisation, solche, die die Finanzen des Staates binden, solche, die Bestimmungen gesetzlicher Natur verändern, solche, die den Status von Personen betreffen, solche, die eine Abtrennung, Austausch oder Hinzufügung des Territoriums betreffen, nur durch ein Gesetz ratifiziert werden können.“40 Das hiermit für die wichtigsten völkerrechtlichen Verträge vorgeschriebene Gesetz dient lediglich der Ratifizierung. Ist diese ordnungsgemäß vollzogen, hat der Vertrag ohne weiteren Umsetzungsakt unmittelbare Geltung41 und ist selbstvollziehend (autoexécutoire). Normenhierarchisch steht der völkerrechtliche Vertrag, wie Art. 55 Const. bestimmt, auf der zweitobersten Stufe der französischen Rechtsordnung, unterhalb der Verfassung (constitution) und oberhalb des Gesetzes (loi),42 sofern er auch von der anderen Seite angewandt wird (réserve de réciprocité).43 Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages ist gemäß Art. 54 11 Const. auf eine a-priori-Kontrolle beschränkt. So untersucht der Conseil constitutionnel vor der Ratifikation auf Antrag des Präsidenten der Republik, des Premierministers oder eines Präsidenten der beiden Parlamentskammern, ob der zu ratifizierende Vertrag verfassungskonform ist.44 Stellt der Conseil constitutionnel die Inkompatibilität des Vertrages mit der Verfassung fest, ist letztere anzupassen. Auf diese Weise ist die Verfassung der Fünften Republik für die Annahme des Vertrages von Maastricht und desjenigen von Lissabon geändert worden.45 Ist der Vertrag – unabhängig davon, ob mit oder ohne Anrufung des Conseil constitutionnel – einmal ratifiziert worden, kann er nachträglich nicht mehr auf seine Verfassungskonformität überprüft werden. Dies gilt für den Conseil constitutionnel und a fortiori für die Fachgerichte, d.h. auch für die Cour de cassation als höchstem französischen Zivilgericht und den Conseil d’État als oberstem Verwaltungsgericht.46 Die Fachgerichte überwachen dagegen die Vereinbarkeit von Gesetzen mit völkerrechtli- 12 chen Verträgen, d.h. die „Vertragskonformität“ des nationalen Gesetzes (conventionnalité de la loi). Dabei fühlten sich beide Gerichtszweige traditionell derart eng an den gesetzgeberischen Willen gebunden,47 dass sie vermieden, ein Gesetz, das nach der Ratifizierung des völkerrechtlichen Vertrages erlassen worden war und gegen diesen verstieß, unangewendet zu lassen (théo-

_____ 39 Vgl. Dupuy/Kerbrat, Droit international public, Rn. 430 und Rn. 441–443 zu dualistischen Tendenzen in der Rechtsprechung. 40 Art. 53 Const.: „Les traités de paix, les traités de commerce, les traités ou accords relatifs à l’organisation internationale, ceux qui engagent les finances de l’État, ceux qui modifient des dispositions de nature législative, ceux qui sont relatifs à l’état des personnes, ceux qui comportent cession, échange ou adjonction de territoire, ne peuvent être ratifiés ou approuvés qu’en vertu d’une loi. Ils ne prennent effet qu’après avoir été ratifiés ou approuvés“. 41 Vgl. Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012), Rn. 260. 42 Art. 55 Const.: „Bei ordnungsgemäßer Ratifizierung oder Zustimmung gehen Verträge oder Abkommen mit ihrer Veröffentlichung den Gesetzen vor, vorbehaltlich der jeweiligen Anwendung des Abkommens oder des Vertrages durch die andere Partei“. 43 Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012), Rn. 260 f. Kritisch zu diesem Vorbehalt Dupuy/Kerbrat, Droit international public, Rn. 430: „particulièrement maladroit“. 44 Art. 54 Const.: „Wenn der (…) angerufene Verfassungsrat erklärt hat, dass eine internationale Verpflichtung eine der Verfassung entgegenstehende Klausel enthält, darf die Ermächtigung zu deren Ratifizierung oder Zustimmung erst nach Verfassungsänderung ergehen“. 45 Vgl. Hamon/Troper, Droit constitutionnel (34. Aufl. 2013), Rn. 698 f. 46 Zum Gerichtsaufbau vgl. nur Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), S. 51–55 mwN. 47 Vgl. auch Dupuy/Kerbrat, Droit international public, Rn. 440. Babusiaux

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rie de la loi-écran, unten Rn. 16). Insoweit sollte trotz des normenhierarchischen Vorrangs des völkerrechtlichen Vertrages die lex-posterior-Regel gelten, da es den Fachgerichten verwehrt sei, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, d.h. die in Art. 55 Const. angesprochene Normenhierarchie, zu überprüfen.48

2. Verhältnis zum Unionsrecht 13 Mit Blick auf das europäische Recht hat die Cour de cassation die Anwendung der lex-posterior-

Regel schon 1975 in der Entscheidung Cafés Jacques Vabre aufgegeben.49 Sie betraf die Frage, ob die Gesellschaft Cafés Jacques Vabre, die Instantkaffee aus den Niederlanden importiert hatte, sich auf das Zollverbot des Art. 95 EWG von 1957 (heute Art. 30 AEUV) berufen konnte, obwohl das 1966 erlassene Zollgesetz einen entsprechenden Zoll vorsah. Nach der bis dato gültigen Rechtsprechung hätte sich das spätere Gesetz gegenüber dem völkerrechtlichen Vertrag durchgesetzt. Die Cour de cassation wies diese Möglichkeit hingegen zurück: „Aber unter Berücksichtigung, dass der Vertrag vom 25. März 1957, der aufgrund des Art. 55 der Verfassung einen höheren Rang hat als Gesetze, eine eigene Rechtsordnung geschaffen hat, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten integriert ist, (…) hat die Cour d’appel zu Recht entschieden, Art. 95 des Vertrages in diesem Fall anzuwenden unter Ausschluss des Art. 265 des Zollgesetzes, auch wenn dieser letzte Text später ergangen sei.“50 Damit hat die Cour de cassation gleichzeitig den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Gesetz anerkannt (vgl. dazu unten Rn. 19). Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, d.h. der Conseil d’État, hat länger an der traditionellen Po14 sition festgehalten und erst 1989 (Nicolo) anerkannt, dass das primäre Unionsrecht (damals: Gemeinschaftsrecht) Vorrang vor dem französischen Gesetz hat.51 In dieser Entscheidung ließ der Conseil d’État ein Wahlgesetz unangewendet, das gegen die Römischen Verträge verstieß, obwohl das fragliche Gesetz nach deren Ratifikation erlassen worden war. Den damit anerkannten Vorrang des Unionsrechts hat der Conseil d’État dann aber rasch auch auf das sekundäre Unionsrecht52 übertragen. Eine gewisse Unsicherheit besteht nach wie vor hinsichtlich des Verhältnisses von französi15 schem Verfassungsrecht und Unionsrecht.53 Schon 1975 hat der Conseil constitutionnel festgehalten, dass die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eines Gesetzes nicht zur Verfassungswidrigkeit desselben führe; hieran hat auch die Konstitutionalisierung des Verhältnisses zur europäischen Union, das heißt die Einführung des Art. 88–1 Const. im Zusammenhang mit der Ratifikation des Vertrages von Maastricht,54 nichts geändert. Die Frage der Unionsrechtswidrigkeit (contrôle de

_____ 48 Vgl. Dupuy/Kerbrat, Droit international public, Rn. 442 f.; Hamon/Troper, Droit constitutionnel (34. Aufl. 2013), Rn. 695. 49 Cass. mixte v. 24.5.1975, Cafés Jacques Vabre, Bull. Nr. 4. Weitere Rechtsprechung der Cour de cassation bei Tallec, Mélanges Boulouis (1991), S. 368–370 und Chaltiel, La souveraineté de l’état et l’Union européenne, l’exemple français (2000), S. 312 f. mwN. 50 „Mais attendu que le Traité du 25 mars 1957, qui, en vertu de l’article [55] de la Constitution, a une autorité supérieure à celle des lois, institue un ordre juridique propre intégré à celui des Etats membres; (…) que, dès lors, c’est à bon droit, (…) que la cour d’appel a décidé que l’article 95 du traité devait être appliquée en l’espèce, à l’exclusion de l’article 265 du Code des douanes, bien que ce dernier texte fût posterieur“. 51 C.E. Ass. v. 20.10.1989, Nicolo, Rec. S. 190. Zur Entwicklung vgl. Delvallez, Le juge administratif et la primauté du droit communautaire (2011). 52 Vgl. C.E. v. 24.9.1990, Boisdet, Rec. S. 251; C.E. Ass. v. 28.2.1992, S.A. Rothmans int. France, S.A. Philips Morris France, Rec. S. 78/81. 53 Ein Überblick bei Hamon/Troper, Droit constitutionnel (34. Aufl. 2013) Rn. 703. 54 Fassung des Art. 88-1 Const. (in Folge des Vertrags von Lissabon): „La République participe à l’Union européenne constituée d’États qui ont choisi librement d’exercer en commun certaines de leurs compétences en vertu du Babusiaux

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conventionnalité) und der Verfassungswidrigkeit (contrôle de constitutionnalité) sind mithin getrennt zu untersuchen und liegen in der Kompetenz unterschiedlicher Gerichte: Verantwortlich für die Konformität mit dem Unionsrecht sind die Fachgerichte, insbesondere die Cour de cassation und der Conseil d’État; die Kontrolle der Verfassungskonformität liegt dagegen in der Hand des Conseil constitutionnel.55

3. Veränderungen durch die Einführung der konkreten Normenkontrolle 2008 Die Kontrollmöglichkeiten der Gerichte gegenüber dem Gesetzgeber sind mit der Einführung der 16 konkreten Normenkontrolle für Gesetze in der Verfassungsreform von 2008 (oben Rn. 4) stark ausgeweitet; insbesondere hat die Reform der Theorie vom „Gesetzesschirm“ (théorie de la loiécran) die Grundlage entzogen. Diese Theorie besagte, den Gerichte sei es verwehrt, bei Anwendung eines Gesetzes die Verfassung heranzuziehen, um den Gesetzgeber zu kontrollieren (oben Rn. 12).56 Die konkrete Normenkontrolle erlaubt nunmehr ausdrücklich, in jeglichem Prozess die Verfassungskonformität des Gesetzes in Frage zu stellen. Zu diesem Zweck muss die Norm dem Conseil constitutionnel, über den „Filter“ von Cour de cassation und Conseil d’État, im Verfahren einer QPC vorgelegt werden (vgl. oben Rn. 4). Dabei wird gleichzeitig die Frage virulent, in welchem Verhältnis die Verfassungskonformität eines Gesetzes und dessen Unionskonformität stehen. Damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob die Verfassung ihrerseits einen „Schirm“ bietet, der nicht zugunsten des Unionsrechts durchbrochen werden darf. Diese Frage erhielt ihre eigentliche Zuspitzung dadurch, dass das die Verfassung konkreti- 17 sierende Verfassungsgesetz (loi organique Nr. 2009–1523 v. 10.12.2009) den prioritären Charakter der QPC festschrieb (oben Rn. 4).57 Dieser Regelung zufolge waren die Gerichte gehalten, vor einer Vorlage an den EuGH wegen Zweifeln an der Unionsrechtskonformität zunächst den Conseil constitutionnel bezüglich der Verfassungsmäßigkeit der Norm anzurufen (question prioritaire).58 Zur Begründung dieses Vorrangs verweist der Bericht der Gesetzeskommission darauf, dass die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Nichtigkeit des Gesetzes und damit zu einer für alle gültigen Verwerfung (Wirkung erga omnes) führe, während sich die Prüfung der Unionsrechtskonformität durch den Fachrichter auf die Wirkung inter partes beschränke.59 Übersehen hat man allerdings, dass die auch in Frankreich üblichen Auslegungsvorbehalte des Conseil consti-

_____ traité sur l’Union européenne et du traité sur le fonctionnement de l’Union européenne, tels qu’ils résultent du traité signé à Lisbonne le 13 décembre 2007“. 55 Einzelheiten bei Ondoua, Etude des rapports entre le droit communautaire et la constitution en France, S. 63– 82. 56 „Lorsque, à l’occasion d’une instance en cours devant une juridiction, il est soutenu qu’une disposition législative porte atteinte aux droits et libertés que la Constitution garantit, le Conseil constitutionnel peut être saisi de cette question sur renvoi du Conseil d’État ou de la Cour de cassation (…)“. 57 Art. 23-2 Abs. 2: „En tout état de cause, la juridiction doit, lorsqu’elle est saisie de moyens contestant la conformité d’une disposition législative d’une part aux droits et libertés garantis par la Constitution et d’autre part aux engagements internationaux de la France, se prononcer en premier sur la transmission de la question de la constitutionnalité au Conseil d’État ou à la Cour de cassation.“ Dies gilt auch für die Weiterleitung durch die beiden Höchstgerichte, vgl. Art. 23-5 Abs. 2. Zu allem vgl. Warsmann, Rapport au nom de la commission des lois constitutionnelles sur le projet de loi organique (n° 1975) relatif à l’application de l’article 61-1 de la Constitution, XII législature, 4 nov. 2009, S. 24 und 26. 58 Zu den Gründen vgl. Warsmann, Rapport au nom de la commission des lois constitutionnelles sur le projet de loi organique (n° 1975) relatif à l’application de l’article 61-1 de la Constitution, XII législature, 4 nov. 2009, S. 6 f. 59 Vgl. bereits Fillon/Dati, Projet de loi organique relatif à l’application de l’article 61-1 de la Constitution, XIII législature, 8 avril 2009, S. 5: „Cette priorité d’examen est liée à l’effet erga omnes de la déclaration d’inconstitutionnalité qui conduira à l’abrogation de la disposition législative contestée“. Babusiaux

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tutionnel (réserves d’interprétation), nach denen eine Norm bei einer bestimmten Auslegung „noch verfassungskonform“ sein kann, für den Rechtsanwender zu neuen Konflikten führen können. Hinzu kommt, dass die Gerichte die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nicht von Amts wegen prüfen können, sondern nur auf Antrag einer Partei, während die Europarechtskonformität auch von Amts wegen Berücksichtigung finden muss.60 Angesichts des latenten Konflikts zwischen der angeordneten Priorität der QPC mit dem Eu18 roparecht ergriff die Cour de cassation im Jahre 2010 die Möglichkeit, die Unionsrechtswidrigkeit der Regelung von Seiten des EuGH prüfen zu lassen.61 Die Vorlagefrage der Cour de cassation lautete: „Steht Art. 267 AEUV Rechtsvorschriften wie den durch das verfassungsergänzende Gesetz Nr. 2009-1523 vom 10. Dezember 2009 eingefügten Art. 23-2 Abs. 2 und 23-5 Abs. 2 der ordonnance Nr. 58-1067 vom 7. November 1958 entgegen, soweit diese den Gerichten vorschreiben, vorrangig über die Übermittlung der bei ihnen aufgeworfenen Frage der Verfassungsmäßigkeit an den Conseil constitutionnel zu befinden, sofern sich die Unvereinbarkeit einer nationalen Rechtsvorschrift mit der Verfassung aus ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht ergibt?“62 Dass diese Vorlage allein zur Lösung des innerfranzösischen Streits um die QPC erfolgte, zeigt sich schon darin, dass die Cour de cassation der Begründung der Vorlage die an sich überwundene Auffassung vertrat, der Vertrag von Lissabon sei über Art. 88-1 Const. zum Maßstab der Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Gesetzes geworden (oben Rn. 15).63 Dennoch hatte die Vorlage die erwünschte Wirkung. Der EuGH stellte nämlich fest, Art. 267 AEUV stehe nationalen Rechtsvorschriften, die eine Vorrangigkeit der Verfassungsmäßigkeitsprüfung vorsehen, nicht entgegen, soweit es den nationalen Gerichten erstens freistehe, in jedem Moment des Verfahrens, den sie für geeignet halten, dem Gerichtshof jede Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, zweitens, jede Maßnahme zu erlassen, die erforderlich sei, um den vorläufigen gerichtlichen Schutz der durch die Rechtsordnung der Union eingeräumten Rechte sicherzustellen, und drittens nach Abschluss eines solchen Zwischenverfahrens die fragliche nationale gesetzliche Bestimmung unangewandt zu lassen, wenn sie sie als unionsrechtswidrig ansähen.64 Soweit diese drei Bedingungen erfüllt sind, verstößt die französische Regelung der QPC mithin nicht gegen das Unionssrecht. 65 Die Lösung des EuGH für das Verhältnis von QPC und Unionsrecht folgt einer Begründungs19 linie, die der Conseil constitutionnel – in Reaktion auf die Vorlage der Cour de cassation an den EuGH, wenngleich in einem anderen Verfahren! – vorgezeichnet hatte:66 In der Entscheidung vom 12. Mai 2010, die die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über die Wettbewerbsöffnung und

_____ 60 Ausführlich dazu sowie weitere Bedenken bei Burgorgue-Larsen, RFDA 2009, 787–798, bes. 796–798. 61 Anlass war die Frage, ob Art. 78-2 Abs. 4 des Code de procédure pénale mit Art. 67 des Vertrags von Lissabon vereinbar ist. Zu den sonstigen Bewertungen vgl. Simon/Rigaux, Europe 2010, 5; Molfessis, Pouvoirs 137 (2011), 83– 99. 62 Cass. v. 16.4.2010, QPC, Nr. 10-40.001/002, Aziz Melki et Sélim Abdeli, RFDA 2010, 445–449, AJDA 2010, 1023 note Manin: „L’article 267 du Traité sur le fonctionnement de l’Union européenne signé à Lisbonne le 13 décembre 2007 s’oppose-t-il à une législation telle que celle résultant des articles 23-2, alinéa 2, et 23-5, alinéa 2, de l’ordonnance n° 58-1067 du 7 novembre 1958 créés par la loi organique n° 2009-1523 du 10 décembre 2009, en ce qu’ils imposent aux juridictions de se prononcer par priorité sur la transmission, au Conseil constitutionnel, de la question de constitutionnalité qui leur est posée, dans la mesure où cette question se prévaut de la non-conformité à la Constitution d’un texte de droit interne, en raison de sa contrariété aux dispositions du droit de l’Union?“. 63 Dutheil de la Rochère, RTD eur. 2010, 577–587, 578 f. 64 EuGH v. 22.6.2010 – verb. Rs. C-188/10 und C-189/10 Melki et Abdéli, Slg. I-5667. 65 Zum Kompromisscharakter der Entscheidung vgl. Sarmiento, RTD eur. 2010, 588–598, 593 f. 66 Cons. const., déc. Nr. 2010-605 DC v. 12.5.2010, Loi relative à l’ouverture à la concurrence et à la régulation du secteur des jeux d’argents et de hasard en ligne, dazu Mathieu/Rousseau, Les grandes décisions de la question prioritaire de constitutionnalité (2013), S. 95 f.

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Regulierung des Bereiches der Geld- und Glücksspiele im Internet behandelte,67 stellte der Conseil constitutionnel zunächst fest, dass seine Kompetenz, die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes gem. Art. 62 Const. mit Wirkung erga omnes festzustellen,68 die europarechtlich garantierte Prüfung der Unionsrechtskonformität durch die Fachgerichte nicht beeinträchtige. Weiter betonte er, dass die Anordnung der Priorität der Verfassungsfrage im Verfassungsgesetz keineswegs die Kompetenz der Gerichte beeinträchtige, in dringenden Fällen Eilmaßnahmen zu ergreifen und den notwendigen vorläufigen Rechtsschutz in Erwartung der künftigen Gerichtsentscheidung zu gewähren. Vor allem aber seien die ordentlichen Gerichte und die Verwaltungsgerichte nicht gehindert, sondern sogar verpflichtet, neben der Vorlage an den Conseil constitutionnel zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dem EuGH Vorlagefragen gem. Art. 267 AEUV vorzulegen. Gleichsinnig äußerte sich zwei Tage später der Conseil d’État in einem ihn betreffenden Verfahren.69 Ebenso unionsfreundlich hat die Cour de cassation diese Vorgaben umgesetzt: Die Assemblée plenière hat am 29. Juni 2010 entschieden, im Ausgangsverfahren, das sie zur Vorlage an den EuGH verwendet hatte, auf eine Weiterleitung der QPC an den Conseil constitutionnel zu verzichten und das französische Gesetz wegen seiner Europarechtswidrigkeit unangewendet lassen.70 Das viel kommentierte Geschehen zwischen Cour de cassation, EuGH, Conseil d’État und 20 Conseil constitutionnel lässt sich geradezu als Anwendungsfall des vor allem vom EuGH immer wieder beschworenen Dialogs zwischen den nationalen Gerichten und dem europäischen Gericht deuten.71 Es zeigt aber zudem, dass die in Frankreich für die europäische Rechtsangleichung auch methodisch im Vordergrund stehende Koordination von Rechtsquellen (oben Rn. 8) eine institutionelle Entsprechung hat: Der französischen Tradition folgend (oben Rn. 2) hat jedes Recht sein Gericht bzw. jedes Gericht sein Recht; die zunehmende Verschränkung des nationalen Rechts mit den europäischen Vorgaben sowie die Konstitutionalisierung des Privatrechts wird nicht so sehr als eine methodologische Herausforderung für den einzelnen Rechtsanwender gesehen, sondern in erster Linie als eine Frage der Abstimmung zwischen Gerichten unterschiedlicher Kompetenz. Die im Dialog von 2010 angedeutete Europarechtsfreundlichkeit des Conseil constitutionnel 21 hat 2013 eine neue Dimension erreicht, indem der Conseil constitutionnel selbst, und dies in Abkehr von seiner bisherigen Position,72 im Rahmen des Vorlageverfahrens an den EuGH herangetreten ist.73 Interessanterweise hatte die Cour de cassation in diesem Fall zunächst die QPC vorgelegt, sich also vorrangig für die Frage der Verfassungskonformität interessiert. Anlass war das

_____ 67 Cons. const., déc. Nr. 2010-605 DC v. 12.5.2010, Jeux d’argents et de hasard en ligne; die Entscheidung findet sich in deutsch unter: http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/bank/download/2010605DCde 2010_605dc.pdf. 68 Art. 62 Const.: „(1) Une disposition déclarée inconstitutionnelle sur le fondement de l’article 61 ne peut être promulguée ni mise en application. (2) Une disposition déclarée inconstitutionnelle sur le fondement de l’article 61-1 est abrogée à compter de la publication de la décision du Conseil constitutionnel ou d’une date ultérieure fixée par cette décision. Le Conseil constitutionnel détermine les conditions et limites dans lesquelles les effets que la disposition a produits sont susceptibles d’être remis en cause. (3) Les décisions du Conseil constitutionnel ne sont susceptibles d’aucun recours. Elles s’imposent aux pouvoirs publics et à toutes les autorités administratives et juridictionnelles“. 69 C.E. v. 14.5.2010, Rujovic, Rec. S. 156, dazu Labayle, RFDA 2010, 674 f. mwN. 70 Remy-Corlay, RTD civ. 2010, 743–748, 747 f. 71 Zu diesem Aspekt vgl. v.a. Simon, Rev. crit. DIP 100 (2011), 1–20; Bonichot, Rec. Dalloz 2013, 1805–1809. 72 Noch in der Entscheidung des Cons. const. v. 12.5.2010 heißt es zu den Grenzen der Entscheidungsbefugnis: „zweitens, der Verfassungsrat, welcher vor Verkündung des Gesetzes und innerhalb der von Artikel 61 der Verfassung gesetzten Frist zu entscheiden hat, den Gerichtshof der Europäischen Union nicht mit einer Vorlage nach Artikel 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union anrufen kann; (…)“. 73 Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 4.4.2013, M. Jeremy F, dazu Labayle/Mehdi, RFDA 2013, 461–476. Babusiaux

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Gesuch der englischen Behörden an Frankreich, einen bereits erlassenen europäischen Haftbefehl zu erweitern. Eine derartige Erweiterungsentscheidung ist gem. Art. 695-46 des französischen Code de procédure pénale unanfechtbar,74 was die Cour de cassation und auch der Conseil constitutionnel als Verstoß gegen wesentliche Grundrechtsgarantien der französischen Verfassung ansahen.75 Da die Vorschrift der französischen Strafprozessordnung auf dem Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl beruhte, sah sich der Conseil constitutionnel gehindert, die Verfassungswidrigkeit der französischen Norm festzustellen. Er legte daher zunächst dem EuGH die Frage vor, ob der Rahmenbeschluss eine Rekursmöglichkeit verbiete, das heißt ob die Verfassungswidrigkeit des französischen Gesetzes auf der Umsetzung der europäischen Vorgaben beruhe.76 Da der EuGH in seiner Antwort auf die Vorlage zum Ergebnis kam, dass der Rahmenbeschluss keineswegs jeden Rekurs ausschließe, sondern im Interesse der effizienten Zusammenarbeit in Justizsachen lediglich die Fristen des Rahmenbeschluss zu wahren seien,77 konnte der Conseil constitutionnel in der Folge am 13. Juni 2013 die Verfassungswidrigkeit der französischen Vorschrift feststellen.78 Die Entscheidung, des Conseil constitutionnel, vor Feststellung der Verfassungswidrigkeit 22 eines französischen Umsetzungsgesetzes die Europarechtskonformität prüfen zu lassen, wird in Frankreich als Signal in Richtung einer echten Kooperation zwischen Conseil constitutionnel und EuGH angesehen.79 Es bleibt aber die Frage, inwieweit die Vorlageentscheidung wirklich verallgemeinerbar ist, da sie sich auch damit erklären lässt, dass die Umsetzung des europäischen Haftbefehls vorgängig zu einer Verfassungsänderung geführt hat: Indem der Verfassungsgeber Art. 88-2 Const. eingefügt hat, hat er – dem Conseil constitutionnel zufolge – selbst zum Ausdruck gebracht, dass die Verfassung sich den europäischen Vorgaben fügt.80 Ob dies auch für Konstellationen gilt, in denen die Verfassung nicht ausdrücklich zugunsten der europäischen Umsetzung geändert werden musste, der Conseil constitutionnel also allenfalls auf die allgemeine Regelung des Art. 88-1 Const. rekurrieren kann, muss bis dato offenbleiben.81

_____ 74 Art. 695-46 Abs. 4 Code de procédure pénale (Strafprozessordnung): „(…) Nachdem die Chambre de l’instruction sich vergewissert hat, dass das Ersuchen auch die nach Art. 695-13 erforderlichen Angaben enthält und gegebenenfalls Garantien im Sinne von Art. 695-32 erhalten hat, erlässt sie binnen 30 Tagen nach Eingang des Ersuchens ihre unanfechtbare Entscheidung. (…)“. 75 Der Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 4.4.2013, M. Jeremy F, erörtert schon im Vorlagebeschluss eine Verletzung der Rechtsweggarantie sowie der Gleichheit vor dem Gesetz. 76 Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 4.4.2013, M. Jeremy F: „Les articles 27 et 28 de la décision-cadre n°2002/ 584/JAI du Conseil du 13 juin 2002, relative au mandat d’arrêt européen et aux procédures de remise entre Etats membres, doivent-ils être interpréetés en ce sens qu’ils opposent à ce que les Etats membres prévoient un recours suspendant l’exécution de la décision de l’autorité judiciaire qui statue, dans un délai de trente jours à compter de la réception de la demande, (…)?“. 77 EuGH v. 30.5. 2013 – Rs. C-168/13 PPU Jeremy F. 78 Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 13.6.2013, M. Jeremy F, auch in deutscher Sprache unter: http://www. conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/deutsch/vorrangige-frage-zur-verfassungsmassigkeit/entschei dungen-2013/entscheidung-nr-2013–314-qpc-vom-14-juni-2013.138045.html. 79 Aus der umfangreichen Lit. vgl. v.a. Puig, RTD civ. 2013, 564–572; Simon, „Il y a toujours une première fois“. À propos de la décision 2013-314 QPC du Conseil constitutionnel du 4 avril 2013, Europe 2013, 6–10; Magnon, RFDC 2013, 917–940. 80 Cons. const., déc. Nr. 2013-314 QPC v. 14.6.2013, M. Jeremy F: „que, par ces dispositions particulières, le constituant a entendu lever les obstacles constitutionnels s’opposant à l’adoption des dispositions législatives découlant nécessairement des actes pris par les institutions de l’Union européenne relatives au mandat d’arrêt européen; que, par suite, il appartient au Conseil constitutionnel saisi de dispositions législatives relatives au mandat d’arrêt européen de contrôler la conformité à la Constitution de celles de ces dispositions législatives (…)“. 81 Unsicher auch Geslot, Revue de l’Union européenne 2013, 537–543. Babusiaux

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4. Anwendungsvorrang und sekundäres Unionsrecht, insbes. Richtlinien Besondere Fragen entstehen auch in Frankreich hinsichtlich der Integration des sekundären 23 Unionsrechts in die nationale Normenhierarchie. Bis zum Jahre 2004 wurde in der Rechtsprechung auch das Sekundärrecht nach den Vorgaben des Art. 55 Const. (oben Rn. 10) behandelt. So charakterisierte der Conseil constitutionnel das Sekundärrecht als „Folgen der von Frankreich übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen, die in den Anwendungsbereich des Art. 55 Const. übergegangen sind“.82 Die in der Logik des Unionsrechts zutreffende Charakterisierung bringt freilich mit sich, dass die in der Verfassung vorgesehene rein präventive Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des supranationalen Rechtes (oben Rn. 11) beim Sekundärrecht vollständig ins Leere geht. So erkannte sich der Conseil constitutionnel zwar eine Kontrollbefugnis nach Art. 54 Const. bei Änderungen des völkerrechtlichen Vertrages zu, konnte also über neue Vertragsgrundlagen befinden. Er weigerte sich aber, die Verfassungskonformität des sekundären Unionsrechts zu beurteilen, da dieses nach der eigentlichen Ratifikation entstehe. Gestützt auf Art. 88-1 Const., den erst die Verfassungsänderung zum Vertrag von Maastricht 24 eingeführt hatte, fand der Conseil constitutionnel im Jahre 2004 eine Möglichkeit, Umsetzungsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu kontrollieren.83 Art. 88-1 Const. regelt die Übertragung von Rechtssetzungskompetenzen auf die Europäische Union. Aus der verfassungsrechtlichen Normierung leitet der Conseil constitutionnel ab, auch die Umsetzung unionsrechtlicher Richtlinien in das innerstaatliche Recht sei ein Verfassungsgebot (exigence constitutionnelle), dem lediglich eine ausdrückliche gegenteilige Bestimmung der Verfassung entgegengesetzt werden könne.84 In der Konsequenz dieser Entscheidung liegt es, dass sich der Conseil constitutionnel nicht nur die Befugnis zuerkennt, zu prüfen, ob der Gesetzgeber seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung nachgekommen ist, sondern auch, ob die Umsetzung nicht offensichtlich mit anderen verfassungsrechtlichen Vorgaben, in welchen die verfassungsrechtliche Identität Frankreichs zum Ausdruck kommt, kollidiert.85 Gleichzeitig erkennt der Conseil constitutionnel den Vorrang des europäischen Sekundärrechts vor dem französischen Gesetzesrecht ausdrücklich an, indem er auf die Integration der europäischen Rechtsordnung über die französische Verfassung verweist.86 Es hat den Anschein, dass diese Kompromissformel auch mit der Position des EuGH in Einklang steht, die dieser in der Entscheidung Melki et Abdéli 2010 konkretisiert hat (oben Rn. 18). Die Entscheidung wird in Frankreich dahingehend gedeutet, der EuGH erkenne

_____ 82 Cons. const., déc. Nr. 77–90 v. 30.12.1977, Isoglucose, Rec. S. 44: „conséquences d’engagements internationaux souscrits par la France qui sont entrés dans le champ de l’article 55 de la constitution“. 83 Cons. const., déc. Nr. 2004-496 DC v. 10.6.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, Rec. S. 101; dazu Gautier/Melleray, AJDA 2004, 1537–1541; Bruce, Contrôle de constitutionnalité et contrôle de conventionnalité. Réflexions autour de l’article 88-1 de la Constitution dans la jurisprudence du Conseil constitutionnel, http:// www.droitconstitutionnel.org/congresmtp/textes5/BRUCE2.pdf. Ein Überblick bei Hamon/Troper, Droit constitutionnel (34. Aufl. 2013) Rn. 701–703. 84 Art. 88-1 Const. „La république participe aux Communautés européenes et à l’Union européenne, constituées d’États qui ont choisi librement, en vertu des traités qui les ont instituées, d’exercer en commun certaines de leurs compétences“. 85 Vgl. v.a. Cons. const., déc. Nr. 2006-540 DC v. 27.7.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société de l’information, Rec. S. 88; Cons. const., déc. Nr. 2006-543 DC v. 30.11.2006, Loi relative au secteur de l’énergie, Rec. S. 50; vgl. auch Cons. const., déc. Nr. 2010-605 v. 12.5.2010, Loi relative à l’ouverture à la concurrence et à la régulation du secteur des jeux d’argents et de hasard en ligne. Zum Ganzen Charpy, RFDC 2009, 621, 625 f.; Levade, AJDA 2011, 1257–1261, 1260 f.; Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, Rn. 80. 86 Cons. const. déc. Nr. 2004-505 v. 19.11.2004, Traité établissant une Constitution pour l’Europe, Rec. S. 173 „[la Constitution] a consacré l’existence d’un ordre juridique communautaire intégré à l’ordre juridique interne et distinct de l’ordre juridique international“; auf deutsch unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/ root/bank/download/2004505DCde2004_505dc.pdf.

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die Möglichkeit an, eine Richtlinie, soweit sie in einem nationalen Gesetz umgesetzt ist, jedenfalls mittelbar einer Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu unterziehen,87 wenngleich er an der Notwendigkeit der unionsrechtlichen Vorlage festhalte.88 Durch diese Angleichung der Positionen von Conseil constitutionnel und EuGH kann es nur noch dann zu Kompetenzkonflikten um die Verfassungsmäßigkeit eines, eine Richtlinie transkribierenden Gesetzes kommen, wenn die französische Verfassung eine Regelung kennt, die sich nicht im europäischen Primärrecht und auch nicht in anderen europäischen Grundlagennormen verankern lässt und daher als Ausdruck der verfassungsrechtlichen Identität Frankreichs anzusehen ist.89 Zu Recht wird daher hervorgehoben, dass der vom Conseil constitutionnel formulierte Vorbehalt der verfassungsrechtlichen Identität vorrangig dazu dient, an der gerade erst eingeführten verfassungsrechtlichen Kontrolle von Gesetzen auch dann festzuhalten, wenn diese durch Richtlinien induziert sind bzw. sich als Abbild der Richtlinie darstellen.90 In Folge des Conseil constitutionnel haben sich auch die Fachgerichte, namentlich die Cour 25 de cassation und der Conseil d’État, an diesen Vorgaben zum Verhältnis von Verfassungsrecht und Unionsrecht orientiert: Beide Gerichte haben den Vorrang der Verfassung vor dem internationalen Recht festgestellt,91 sind aber für das Europarecht, und zwar auch für das Sekundärrecht, auf die differenzierende Position des Conseil constitutionnel eingeschwenkt.92 Diese Integration des Unionsrechts in die französische Rechtsordnung durch die Gerichte wird in der Doktrin zwar nicht nur begrüßt, aber als Ausdruck richterlicher Gestaltungsmacht hingenommen.93 Jedenfalls für die Gesetzesanwendung ist damit der Vorrang des primären wie sekundären Unionsrecht nicht mehr zweifelhaft.94

IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht 26 Wie gesehen (oben Rn. 8) stehen die mit der europäischen Rechtsangleichung verbundenen

Veränderungen der richterlichen Funktion und des richterlichen Selbstverständnisses, vor allem im Verhältnis zum Gesetzgeber, im Mittelpunkt der französischen Diskussion. Schon die 1983

_____ 87 Roux, Rec. Dalloz 2010, 2524 f.; ähnlich Simon, Rev. crit. DIP 100 (2011), 1-20, 18f. 88 Vgl. Bertrand, RFDA 2011, 367–376, 375 f.; ebenso Sarmiento, RTD eur. 2010, 588–598, 597 f. 89 Zum Unterschied zwischen französischem und deutschem Recht in dieser Hinsicht vgl. v.a. F.C. Mayer, Europarecht als französisches Verfassungsrecht, Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht, Paper 1/05, 2005, 8 f. 90 Vertiefend zur sog. directive-écran vgl. Millet, Le contrôle de constitutionnalité des lois de transposition. Etude de droit comparé France-Allemagne (2011), S. 62–64. 91 Cass. Ass. v. 2.6.2000, Mlle Fraisse, Bull. Nr. 4; C.E. Ass. v. 30.10.1998, Sarran, Levacher et autres, Rec. S. 368; zu beiden vgl. Charpy, RFDC 2009, 621, 628–630; ein Überblick bei Dupuy/Kerbrat, Droit international public, S. 442– 443. 92 C.E. Ass. v. 8.2.2008, Sté Arcelor Atlantique et Lorraine, Rec. S. 55. Zur Entscheidung vgl. den rechtsvergleichenden Kommentar von F.C. Mayer/Lenski/Wendel, Der Vorrang des Europarechts in Frankreich (Anmerkung), Europarecht 2008, 57–87 (= WHI Paper 11/08). 93 Zum Verhältnis der Verfassung zum Sekundärrecht vgl. Chavrier, Droit de l’union et des communautés européennes et le contentieux administraitf, in: Répertoire de contentieux administratif (2013), Rn. 80–85; Hamon/ Troper, Droit constitutionnel (34. Aufl. 2013), Rn. 703; polemisch Terré, Introduction générale au droit (9. Aufl. 2012) Rn. 312: „On se demandera par quelle singulière aberration un peuple adulte a pu ainsi aliéner (…) le soin de dire son droit entre les mains d’hommes qui lui sont extérieurs et qui n’ont pas pour première mission le bien commun de la société française.“ 94 Vgl. Chavrier, Droit de l’Union et de communautés européennes et contentieux administratif, in: Répertoire de contentieux administratif (2013), Rn. 86–91 zu beiden obersten Gerichten.

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erschienene Dissertation Ami Baravs95 vertrat den Standpunkt, die Anwendung des damaligen Gemeinschaftsrechts mit seinen vielfältigen Kontrollbefugnissen gegenüber dem Gesetzgeber habe den Richter, obwohl er staatliches Organ bleibt, gleichsam aus seinen nationalen Bindungen enthoben und dadurch seine Kompetenzen gegenüber dem Gesetz gestärkt. Olivier Dubos hat diese Sichtweise vor allem für das öffentliche Recht präzisiert.96 Allgemein hat Aline Humbert dargestellt, wie sich die richterliche Funktion unter dem Eindruck des supranationalen Rechts verändert hat.97 Die genannten Monographien gehen davon aus, dass der Richter mit der Anwendung des europäischen Rechts eine über die staatliche Rechtsprechung hinausgehende Kompetenz ausübt und dadurch neue Befugnisse im Verhältnis zu anderen Gewalten aber auch im Prozessgeschehen erhält.

1. Das traditionelle Verständnis der jurisdiktionellen Funktion Hintergrund dieser Bewertung ist die Tatsache, dass die Gerichte in der revolutionären Tradition 27 der Gewaltenteilung (séparation des pouvoirs) keine gleichberechtigte dritte Gewalt darstellen, sondern nur als Vollstrecker des gesetzlichen Willens angesehen werden, als Mund des Gesetzes (bouche de la loi) (oben Rn. 2).98 Diese Beschränkung richterlicher Gewalt ist nicht nur Ausdruck der vorrevolutionären Angst vor einem gouvernement des juges,99 die etwa Eingang in die Gestaltung des Art. 5 C.civ. gefunden hat (oben Rn. 7).100 Vielmehr fand die enge Definition der richterlichen Gewalt ihren Niederschlag noch in der Verfassung der Fünften Republik von 1958: Bis zur Einführung der konkreten Normenkontrolle (Art. 61–1 Const.) durch die Reform von 2008 konnten die Fachgerichte das Gesetz nicht auf seine Verfassungskonformität prüfen, der Rückgriff auf die Verfassungsnorm im Angesicht des Gesetzgebers war also ausgeschlossen (Theorie vom Gesetzesschirm, vgl. oben Rn. 16).101

2. Der nationale Richter als Anwender des Unionsrechts Diese für das nationale Recht erst mit der Einführung der konkreten Normenkontrolle (oben 28 Rn. 4) gewichene Begrenzung der richterlichen Gewalt gilt für das Unionsrecht seit längerem nicht mehr. Seit der Anerkennung des Anwendungsvorrangs des Europarechts vor dem französischen Gesetzesrecht 1975 bzw. 1989 sitzen die Cour de cassation und der Conseil d’État über den

_____ 95 Barav, La fonction communautaire du juge national, Diss. Strasbourg (1983); vgl. ders., La plénitude du juge national en sa qualité de juge communautaire, in: L’Europe et le droit – Mélanges en hommage à Jean Boulouis (1991), S. 1–20. 96 Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire (2001). 97 Humbert, La mutation de l’office du juge français (2005). 98 Libchaber, Les article 4 et 5 du Code civil ou les devoirs contradictoires du juge civil, S. 143–158. 99 Zum Begriff vgl. Troper, La théorie du droit, le droit, l’état (2001), S. 234–247, ferner De Béchillon, Le gouvernement des juges: une question à dissoudre (2002), S. 973–978. 100 Art. 5 C.civ.: „Es ist den Gerichten verboten, durch allgemeine Bestimmung oder Verordnung über die Sachen zu entscheiden, die ihnen vorgelegt sind.“ („Il est défendu aux juges de prononcer par voie de disposition générale et réglementaire sur les causes qui leur sont soumises.“). 101 Das Verfassungsgesetz Nr. 74-904 v. 29.10.1974 fügte in Art. 61 Abs. 2 ein: „Zu demselben Zweck [sc. zur Prüfung der Vereinbarkeit mit der Verfassung] können Gesetze vor der Verkündung vom Präsidenten der Republik, vom Premierminister, vom Präsidenten der Nationalversammlung, vom Präsidenten des Senats oder von sechzig Abgeordneten oder sechzig Senatoren dem Conseil constitutionnel zugeleitet werden. Aus diesem Grund hemmt die Anrufung des Conseil constitutionnel die Verkündigungsfrist“, vgl. Art. 61 Abs. 4 Const. und Art. 62 Abs. 1 Const., der bestimmt: „Eine für verfassungswidrig erklärte Bestimmung darf weder verkündet noch in Kraft gesetzt werden“.

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Gesetzgeber zu Gericht, indem sie die Unionsrechtskonformität des französischen Gesetzes kontrollieren und sich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH auch befugt sehen, ein unionsrechtswidriges Gesetz nicht anzuwenden (vgl. oben Rn. 13). Obwohl die französische Rechtsprechung die unmittelbare Geltung des Unionsrechts ursprünglich verfassungsrechtlich begründet hat (oben Rn. 24), führt die Anwendung des supranationalen Rechts den Richter somit aus seinen nationalen Bindungen heraus. 29 Voraussetzung des unionsrechtlichen Zugriffs auf die nationalen Gerichte ist die unmittelbare Geltung (immédiateté) des Unionsrechts, die auch die französische Doktrin von der unmittelbaren Anwendung (applicabilité, effet direct) des Unionsrechts unterscheidet.102 Letztere gilt als Ausdruck einer maximalen unionsrechtlichen Kompetenz des nationalen Richters (compétence communautaire maximum).103 Aber auch die unmittelbare Geltung wird als Kompetenzzuwachs aufgefasst, weil der Richter nicht mehr allein dem nationalen Gesetzgeber gehorche, sondern den europäischen Verträgen und den Organen der supranationalen Organisation.104 Die hieraus folgende gestufte Wirkungskraft der unionsrechtlichen Normen beschreibt die französische Doktrin, indem sie die Auslegungswirkung (effet d’interprétation), die Verdrängungswirkung (effet d’éviction) und die Entschädigungswirkung (effet de réparation) unterscheidet.105 Unter der Auslegungswirkung, die den geringsten Eingriff in die nationale Rechtsordnung darstellt und auch Vorschriften ohne unmittelbare Geltung zukommt, versteht die französische Doktrin die vom EuGH formulierte Verpflichtung der nationalen Gerichte,106 das gesamte nationale Recht im Lichte des Unionsrechts auszulegen (vgl. unten Rn. 33). Sie gilt auch und gerade für Richtlinien.107 Voraussetzung der Verdrängungswirkung, d.h. der Verpflichtung des Richters, das dem Unionsrecht entgegenstehende nationale Recht unangewendet zu lassen, ist dagegen die unmittelbare Geltung der unionsrechtlichen Vorschrift.108 Aus diesem Grund kann auch Richtlinien Verdrängungswirkung zukommen, sofern sich hieraus nicht ein rechtsfreier Raum (vide juridique) ergibt.109 Entschädigungswirkung haben letztlich alle unmittelbar anwendbaren Vorschriften, ausnahmsweise auch die nicht umgesetzte Richtlinie, soweit es um Ansprüche des Bürgers gegen den Staat geht.110 Aufgrund ihrer weitreichenden Folgen für die nationale Gesetzesanwendung gelten vor allem die Verdrängungs- und Reparationswirkung in Frankreich als Beleg für ein gewandeltes richterliches Selbstverständnis gegenüber dem Gesetz. Nimmt man die Staatshaftung für die fehlende Umsetzung von Richtlinien hinzu,111 erscheint die traditionelle

_____ 102 Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, Rn. 22, der 27 die Bedeutung des Vorrangs gegenüber diesen Unterscheidungen betont. 103 Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 172. 104 Als Beteiligung des Richters an der Normsetzung deutet dies z.B. Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne, Rn. 455–463. 105 Ausführlich Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 127–171. Eine Übersicht über die verschiedenen Wirkungen der Richtlinie auch bei Guyomar, RFDA 2009, 1125. 106 EuGH v. 20.5.1976 – Rs. 111/75 Mazzalai, Slg. 1976, 657. 107 Ein Überblick über die Rechtsprechung des Conseil d’État in dieser Frage vgl. Chavrier, Droit de l’Union et de communautés européennes et contentieux administratif, in: Répertoire de contentieux administratif (2013) Rn. 129– 139. 108 Vgl. – aus deutscher Sicht – Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 Rn. 48–51 und W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 12–14. 109 Zu den Einzelheiten der Position des Conseil d’État, vgl. Humbert, La mutation de l’office du juge français, Rn. 961–973. 110 Auch hierzu Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 172–217. 111 Vgl. zuletzt allgemein Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté europénne, Rn 464– 475. Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts auch beim Verstoß gegen privatrechtliche Richtlinien betont diesbezüglich Cass. com. v. 8.7.2008, Bull. Nr. 151.

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Unterordnung der Judikative unter die Legislative durch das Unionsrecht in ihr Gegenteil verkehrt. Besondere Aufmerksamkeit hat zuletzt ein vierter Effekt des Unionsrechts, die sog. „Erset- 30 zungswirkung“ (effet de substitution), erlangt. Darunter versteht die französische Lehre die Möglichkeit, dem Gesetzgeber den Gehalt einer nicht umgesetzten Richtlinie entgegenzuhalten und – vorausgesetzt, die Umsetzungsfrist ist abgelaufen und die Richtlinie hinreichend präzise und unbedingt – anstelle des nationalen Gesetzes die Richtlinie zur Anwendung zu bringen.112 In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH gilt dieser Effekt vorrangig für vertikale Verhältnisse, also insbesondere zugunsten des Rechtsunterworfenen gegenüber dem Mitgliedstaat. Während die Cour de cassation die vertikale Wirkung der Richtlinie anerkannt hat,113 hat sich der Conseil d’État seit 1978 (Cohn-Bendit) im Grundsatz geweigert, einer nichtumgesetzten Richtlinie derartige Kontrollwirkungen zuzuerkennen.114 Erst in der vielbeachteten Entscheidung Mme Perreux ist der Conseil d’État auf die europarechtsfreundliche Linie der Cour de cassation eingeschwenkt und hat eine der Antragstellerin günstige Regelung der Beweislast auch schon für die Zeit anerkannt, in der die Richtlinie zwar noch nicht umgesetzt war, aber hätte umgesetzt sein müssen.115 Die Cour de cassation folgt dem EuGH, vor allem im Arbeitsrecht,116 sogar darin, dass sie Richtlinien, insoweit deren Regelung Ausdruck einer primärrechtlichen Vorgabe ist, direkt zwischen Privaten anwendet,117 wenngleich sie betont, dass diese horizontale Wirkung die Ausnahme bleiben muss.118 In dieser kompetenzrechtlichen Sichtweise ist für die nationalen Gerichte anstelle der Ab- 31 hängigkeit vom nationalen Gesetzgeber die Unterordnung unter den EuGH getreten, da dieser die Auslegungshoheit und das Verwerfungsmonopol für das Unionsrecht innehat.119 Auch diese Unterordnung unter ein nicht-staatliches Gericht wird aber auf nationaler Ebene als Kompetenz-

_____ 112 Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, Rn. 27 und 29. 113 Cass. 1re civ. v. 23.11.2004, Bull. Nr. 280; Cass. com. v. 7.6.2006, Bull. Nr. 136. 114 C.E. v. 30.10.2009, n° 298348 AJDA 2009 S. 2385 Mme Perreux: „Considérant (…) qu’en outre, tout justiciable peut se prévaloir, à l’appui d’un recours dirigé contre un acte administratif non réglementaire, des dispositions précises et inconditionnelles d’une directive, lorsque l’Etat n’a pas pris, dans le délais impartis par celle-ci, les mesures de transposition nécessaire“. 115 Zu Einzelheiten der Entscheidungen vgl. Bertrand, RFDA 2011, 367–376. 116 Vgl. v.a. EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981. Zum Einfluss des europäischen Rechts auf das französische Arbeitsrecht vgl. Lhernould, Droit social 2010, 893–895. Zur Bewertung vgl. auch Dubout, RTD eur. 2010, 277–295. 117 Vgl. z.B. Cass. soc. v. 11.5.2010, Bull. Nr. 105: „Qu’en statuant ainsi, sans constater que, pour la catégorie d’emploi de cette salariée, la différence de traitement fondée sur l’âge était objectivement et raisonnablement justifiée par un objectif légitime et que les moyens pour réaliser cet objectif étaient appropriés et nécessaires, la cour d’appel, qui devait appliquer la directive communautaire consacrant un principe général du droit de l’Union, a violé le texte susvisé“; Cass. soc. v. 16.2.2011, Bull. Nr. 52: „Vu l’article 6 § 1 de la Directive 2000/78/CE du 27 novembre 2000 portant création d’un cadre général en faveur de l’égalité de traitement en matière d’emploi et de travail; (…) Qu’en statuant ainsi, sans constater que, pour la catégorie d’emploi de ce salarié, la différence de traitement fondée sur l’âge était objectivement et raisonnablement justifiée par un objectif légitime et que les moyens pour réaliser cet objectif étaient appropriés et nécessaires, la cour d’appel, qui devait appliquer la directive communautaire consacrant un principe général du droit de l’Union, a violé le texte susvisé“. 118 Vgl. z.B. Cass. soc. v. 3.7.2012, Bull. Nr. 205; Cass. soc. v. 13.3.2013 Bull. Nr. 41: „Mais attendu que la directive n° 2003/88/CE ne pouvant permettre, dans un litige entre des particuliers, d’écarter les effets d’une disposition de droit national contraire, la cour d’appel a retenu à bon droit, au regard de l’article L. 3141–3 du code du travail, que le salarié ne pouvait prétendre au paiement d’une indemnité compensatrice de congés payés au titre d’une période de suspension du contrat de travail ne relevant pas de l’article L. 3141–5 du code du travail; que le moyen ne peut être accueilli“. 119 Vgl. Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 216 f.; Molinier, Primauté du droit de l’Union européenne, Rn. 2–4 mwN.

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zuwachs der Gerichte gedeutet, da die unionsrechtlichen Verpflichtungen gerade neue Rechtspositionen im Innern begründen (vgl. oben Rn. 26). Wenig Schwierigkeiten bereitet den französischen Gerichten auch der Vorrang des Unions32 rechts (primauté du droit de l‘union), zumal er auch eine Kompetenzsteigerung der Gerichte gegenüber der Verwaltung mit sich bringt. Während für rein innerstaatliches Recht das strenge Verständnis der Gewaltenteilung fortwirkt (oben Rn. 2), kann sich die Verwaltung mit Blick auf europarechtlich induzierte Regelungen nicht mehr dem Zugriff der Zivilgerichte entziehen.120 Auch in diesem Verhältnis bedeuten die europäischen Vorgaben mithin einen Machtzuwachs der Gerichte, der traditionelle Beschränkungen der richterlichen Gewalt aufhebt.

3. Die (notwendige) Koordination von Rechtsquellen nationalen und unionsrechtlichen Ursprungs 33 Die Auslegung in Übereinstimmung mit den Vorgaben des Unionsrechts erscheint in der fran-

zösischen Dogmatik als Teil der den nationalen Gerichten obliegenden Koordination unionsrechtlicher und nationaler Normen. Sie wird entsprechend dem Koordinationsgedanken als notwendige Folge des Systemzusammenhangs verstanden.121 Problematisiert wird in diesem Zusammenhang allenfalls die „Zerrissenheit des Richters zwischen einer doppelten Loyalitätsverpflichtung“ (déchirure par un double devoir de loyauté),122 die sich daraus ergeben soll, dass einerseits der Wille des nationalen Gesetzgebers, andererseits die Vorgaben des supranationalen Rechts zu beachten sind und in Einklang gebracht werden müssen. Zentrales Augenmerk liegt in Frankreich mithin auf dem (möglichen) Normenkonflikt zwischen französischem Gesetzesrecht und dem Unionsrecht,123 der durch die Auslegung überwunden wird. Dabei wird die Originalität des Konfliktes durchaus erkannt: Zum einen führt der Vorrang des Unionsrechts nicht zur Aufhebung der nationalen Norm, sondern nur zum Anwendungsverbot; zum anderen sind auch die Normen bei der Auslegung heranzuziehen, die nur programmatische oder indirekte Wirkung haben und gerade keine eigenständige Grundlage für die Begründung von Rechten und Pflichten Privater bilden.124 Diese Auslegungswirkung (effet d’interprétation, vgl. oben Rn. 29) des Unionsrechts beschränkt sich mithin auf eine objektive Normwirkung, d.h. auf eine Anwendung der nationalen Norm im Lichte des Unionsrechts (à la lumière du droit de l’union européenne). Die Rechtsfolgen dieser Auslegungswirkung werden mit Blick auf die Zivilgerichte von der Cour de cassation überwacht, d.h. sie sanktioniert die Untergerichte für die fehlende Berücksichtigung des Richtlinienrechts bei der Anwendung der nationalen Norm.125 Die richterliche Rechtsfortbildung aufgrund einer (nicht-umgesetzten) Richtlinie bereitet 34 den Gerichten keine besonderen methodologischen Schwierigkeiten, da die Richtlinie eine der nicht-gesetzlichen Rechtsquellen darstellt, die der Richter im Rahmen der zweistufigen Rechtsanwendung nach Art. 4 C.civ. bei Schweigen, Unvollständigkeit oder Mehrdeutigkeit des Gesetzes heranziehen kann und muss, um einen Rechtsstreit zu entscheiden (vgl. oben Rn. 7). Da die

_____ 120 Vgl. Ritleng, RTD eur. 2012, 135–150. 121 Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 107 mwN. Einzelheiten zur Koordinierung von Rechtsnormen bei Bergel, RRJ 1991, 999–1008. 122 Vgl. Nabli, L’exercice des fonctions d’État membre de la Communauté européenne, Rn. 438. 123 Ausführlich Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 112–118. 124 Einzelheiten mit Beispielen aus der Rechtsprechung des EuGH bei Dubos, Les juridictions nationales, juge communautaire, Rn. 108–110. 125 Beispiele aus der jüngeren Zeit: Cass. 1re civ. v. 22.1.2014, Darty: „Vu l’article 7 de la Directive 2005/29/CE du 11 mai 2005; (…) casse (…)“. Babusiaux

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Richtlinie grundsätzlich zwischen Privaten keine unmittelbare Anwendung findet (zu Ausnahmen vgl. oben Rn. 30), muss der Richter zusätzlich eine taugliche Norm des nationalen Rechts auswählen, die – wie bei der richtlinienkonformen Auslegung im engen Sinne – die von der Richtlinie verlangte Rechtsfolge trägt.126 Auch dies ist aber keine Besonderheit der unionsrechtlichen Rechtsanwendung, sondern findet seine Entsprechung in Vorschriften des nationalen Rechts, die sich entweder wie Auslegungsgesetze (lois interprétatives)127 auf die Ausdeutung einer bestehenden Vorschrift beschränken oder die wie innerdienstliche Anweisungen (circulaires) an sich keinen Regelungsgehalt haben, aber die Auslegung eines Gesetzes bestimmen können.128 Von daher überrascht es nicht, dass die richtliniengestützte Rechtsfortbildung als methodisches Problem kaum Beachtung findet. Große Aufmerksamkeit hat dagegen in Frankreich die Rechtsschöpfung der Cour de cassa- 35 tion auf Grundlage der Produkthaftungsrichtlinie129 erhalten. Dies beruhte nicht nur auf der rechtspolitischen Bedeutung dieser Rechtsprechung, sondern auch auf der weitgehenden Freiheit, die sich die Cour de cassation in methodischer Hinsicht zuerkannt hat. Hintergrund der von der Richtlinie inspirierten Rechtsprechung (jurisprudence inspirée par la directive) war die um fast zehn Jahre verspätete Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie durch den französischen Gesetzgeber. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist (30. Juli 1988) und bis zum Inkrafttreten der neu geschaffenen Art. 1386-1 bis 1386-18 C.civ. (Gesetz vom 19. Mai 1998) schloss die Cour de cassation die dadurch entstandene Lücke zwischen Richtlinie und Gesetz durch Rechtsfortbildung. Grundlegend war eine Entscheidung der ersten Zivilkammer vom 9. Juli 1996, die eine bis dato fehlende Haftung für fehlerhafte Produkte130 gestützt auf die Richtlinie statuiert:131 „In Anbetracht der Art. 1147 und 1384 Abs. 1 C.civ., ausgelegt im Lichte der [Produkthaftungs-]Richtlinie 85/374/EG vom 24. Juli 1985: Unter Berücksichtigung, dass jeder Hersteller für den Schaden haftet, den die Fehlerhaftigkeit seines Produktes verursacht hat, sowohl mit Blick auf die unmittelbar Geschädigten als auch die mittelbar Geschädigten, ohne dass danach zu unterscheiden ist, ob sie Vertragspartei oder Dritte sind“. Dadurch dass die Cour de cassation die Produkthaftung als Haftungsregime etablierte, das sowohl auf die Vertragshaftung (Art. 1147 C.civ.) als auch auf die Deliktshaftung (Art. 1384 Abs. 1 C.civ.) zurückgriff, brach das Gericht in eklatanter Weise mit dem bis dato geltenden Recht, das streng zwischen Vertrags- und Deliktshaftung unterschied.132 Sowohl aus rechtspolitischer als auch rechtsdogmatischer Sicht war freilich eine Überwindung

_____ 126 Diese Bedingung folgt auch aus dem Verbot des Art. 5 C.civ., allgemeine Regelungen zu schaffen. Vgl. bereits Gény, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif (2. Aufl. 1919), S. 147 f.; Libchaber, Les articles 4 et 5 du Code civil ou les devoirs contradictoires du juge civil, S. 141–158, bes. S. 155 f. 127 Zur in Frankreich weit verbreiteten Praxis der Auslegungsgesetze vgl. nur Bach, Lois et décrets, Rn. 267 f. und Rn. 324 mwN. 128 Zur Wirksamkeit derartiger Verwaltungsvorschriften vgl. nur Sonnenberger/Autexier, Einführung in das französische Recht (3. Aufl. 2000), Rn. 54. 129 Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 130 Vorläufer sind Cass. 1re civ. v. 11.6.1991, Bull. Nr. 201. Weitere Nachweise bei Calais-Auloy, Rec. Dalloz 2002 Chron., S. 2458, Fn. 1 sowie Rechtsprechungsübersicht bei Sargos, JCP 1998, II 10049, 599 f.; Viney, La réception du droit communautaire en droit français et la responsabilité délictuelle et contractuelle, in: Bergé/Niboyet (Hrsg.), La réception du droit communautaire en droit privé des États membres (2003), S. 100: „Cette notion de défaut de sécurité est donc une innovation incontestable apportée au droit français par la directive du 25 juillet 1985“. re 131 Cass. 1 civ. v. 9.7.1996, Bull. Nr. 304. Im zitierten Urteil lehnt die Cour de cassation eine richtlinienkonforme Auslegung noch ab, weil die Richtlinie dem nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der in Frage stehenden Entwicklungsfehler einen Entscheidungsspielraum belassen habe. re 132 Cass. 1 civ. v. 28.4.1998, JCP 1998, II 10088: „Vu les articles 1147 et 1384, alinéa premier, du Code civil, interprétés à la lumière de la Directive CEE n° 85/374 du 24 juillet 1985; Attendu que tout producteur est responsable des dommages causés par un défaut de son produit, tant à l’égard des victimes immédiates que des victimes par ricochet, sans qu’il y ait lieu de distinguer selon qu’elles ont la qualité de partie contractante ou de tiers“. Babusiaux

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dieses Gegensatzes im Anwendungsbereich der Richtlinie notwendig: Rechtspolitisch war die strenge Scheidung beider Haftungssysteme hinderlich, um Ansprüche der Angehörigen der durch den Blutprodukteskandal Geschädigten zu begründen. Rechtsdogmatisch, d.h. aus Sicht der Richtlinie, war die Unterscheidung auch hinfällig, denn die Produkthaftung bildet gerade einen Haftungsgrund, der die strenge Scheidung von Vertrag und Delikt überwindet und allein an die Sicherheit des Produktes anknüpft. Das Zitat einer nach nationalem Recht an sich unvereinbaren Kombination zweier Vorschriften belegt damit umso deutlicher, dass das nationale Recht hier nur die Hülle ist, um den Zweck der Richtlinie, die Produkthaftung, durchzusetzen: Nur die Rechtsfolgen stammen aus dem Vertrags- bzw. Deliktsrecht; die Voraussetzungen der Haftung bestimmt dagegen die Richtlinie.133 Angesichts der völligen Entleerung der von der nationalen Norm verlangten Voraussetzungen ist hier wohl trotz der formalen Anknüpfung an eine gesetzliche Vorschrift auch nach französischer Vorstellung die Grenze zur création du droit überschritten.134 Dass diese nicht auf die rechtspolitisch dringende Haftung für verseuchte Blutprodukte und Wachstumshormone135 beschränkt war, belegen die Anwendungen dieser Rechtsprechung auf Impfschäden136 und Nebenwirkungen von Medikamenten,137 aber auch für die Fehlerhaftigkeit eines an ein Krankenhaus gelieferten Stromaggregates.138 Gemeinsam ist den hier entschiedenen Fällen, dass das schadenstiftende Inverkehrbringen des Produktes in der Zeit zwischen dem Ablaufen der Umsetzungsfrist (30. Juli 1988) und dem Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes vom 19. Mai 1998 liegt. Alle nach diesem Zeitpunkt entstandenen Produktschäden unterliegen, wie die Cour de cassation klargestellt hat,139 dem neuen Gesetz. Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung war demnach nur eine Übergangslösung, um den in Art. 4 C.civ. wie auch vom Unionsrecht geforderten Rechtsschutz durchzusetzen. Nachdem der Gesetzgeber selbst tätig geworden war, beschränkte sich die richterliche Tätigkeit wieder auf die Gesetzesanwendung.

_____ re

133 Die Richtigkeit dieser Analyse zeigt die Entscheidung Cass. 1 civ. v. 24.1.2006, Bull. Nr. 33. Dort führt die Cour de cassation mit Blick auf das Verhältnis von Art. 1147 C.civ. und der Produkthaftungsrichtlinie aus: „Angesichts des Art. 1147 C.civ. wie er im Lichte des Art. 6 der RL 85/374 ausgelegt wird: Unter Berücksichtigung, dass nach dem Wortlaut des ersten der beiden oben genannten Texte, der Schuldner der Verpflichtung für die Nichterfüllung der Pflicht haftet, wenn er nicht beweist, dass die Nichterfüllung derselben auf einer fremden Ursache beruht; dass, nach der Interpretation dieses Textes, wie sie vom zweiten [sc. der Richtlinie] befohlen wird (…)“ („Vu l’article 1147 du Code civil, interprété à la lumière de l’article 6 de la directive n° 85–374 (…). Attendu qu’aux termes du premier des textes susvisés, dès lors qu’il ne justifie pas que l’inexécution provient d’une cause étrangère (…) le débiteur de l’obligation est responsable de l’inexécution de celle-ci, (…); que, selon l’interprétation de ce texte, commandée par le second (…)“). 134 Hierauf hat auch der Berichterstatter (conseiller) der Cour de cassation im fraglichen Verfahren, Sargos, in seinem rapport (JCP 1998, II 10088, 983) hingewiesen. Er spricht davon, die erste Zivilkammer habe die Möglichkeit, Art. 1147 C.civ. und Art. 1384 Abs. 1 C.civ. im Lichte der Richtlinie auszulegen, wobei er einräumt, man könne geneigt sein, den Ausdruck „mit neuem Inhalt füllen“ anstelle von „auslegen“ zu verwenden: „interpréter (on serait tenté d’employer l’expression ‚relire’) nos (…) articles 1147 et 1384, alinéa premier, du Code civil, à la lumière de la directive?“. re 135 Cass. 1 civ. v. 24.1.2006, Bull. Nr. 34. re re re 136 Cass. 1 civ. v. 24.1.2006, Bull. Nr. 33; Cass. 1 civ. v. 22.5.2008, Bull. Nr. 149; Cass. 1 civ. v. 19.3.2009, pourvoi re Nr. 08-10.143 (unveröff.). Zurückhaltend jetzt Cass. 1 civ. v. 25.11.2010, Bull. Nr. 245; Cass. 1re civ. v. 28.6.2012, Nr. 11-14287 (unveröff.); Cass. 1re civ. v. 29.5.2013, Nr. 12-20.903 (unveröff.), die gerade die Berufung auf die richtlinienkonforme Auslegung zur Beweiserleichterung ausschließen. re 137 Cass. 1 civ. v. 15.5.2007, Bull. Nr. 185. 138 Die Fehlerhaftigkeit eines Stromaggregates führt zu einem Brand im Krankenhaus: Cass. com. v. 24.6.2008, Bull. Nr. 128. Vorlagebeschluss an den EuGH mit der Frage, ob die Richtlinie einer Auslegung entgegensteht, bei der nicht nur private Schäden, sondern auch Schäden, die durch ein fehlerhaftes Produkt im Rahmen einer wirtschaftlichen oder beruflichen Nutzung entstehen, ersetzt werden. re 139 Vgl. nur Cass. 1 civ. v. 15.5.2007, Bull. Nr. 186. Babusiaux

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V. Die Befreiung des Richters und der jurisdiktionelle Dialog in Europa Fasst man die Ergebnisse der französischen Methodendiskussion zusammen, so bestätigt sich 36 die Behauptung eines grundlegenden Wandels der richterlichen Funktion durch das Gemeinschafts- und Unionsrecht (oben Rn. 8, Rn. 26 und Rn. 29): Während das traditionelle Verständnis die Gerichte auf die Gesetzesanwendung reduzierte (oben Rn. 16), versetzt das supranationale Unionsrecht die Gerichte in die Lage, die Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu prüfen und bei einem Verstoß unangewendet zu lassen (oben Rn. 13). Auch gegenüber der Verwaltung hat das Unionsrecht die Befugnisse der dritten Gewalt gestärkt (oben Rn. 32). Vor allem aber eröffnet die Pflicht, das Unionsrecht vorrangig anzuwenden und das nationale Recht nach Maßgabe des Unionsrechts auszulegen, dem Richter neue Entscheidungswege und Argumentationsmöglichkeiten, die auch das Verhältnis zu den Parteien grundlegend verändert haben. Der ehemalige Präsident der Cour de cassation, Guy Canivet, hat die Entwicklung daher zu Recht so bewertet: „Es scheint mir in der Tat der wichtigste Beitrag des Gemeinschaftsrechts zu sein, dass es den französischen Zivilrichter von einer vollständigen Unterwerfung unter sein nationales Gesetz befreit hat, und dass es dazu beigetragen hat, die Isolierung des Richters in der nationalen Rechtsordnung aufzubrechen, indem es ihm neue Instrumente, Aussichten und Ziele geliefert hat. Für den französischen Richter war das Gemeinschaftsrecht ein Befreier.“140 Aus einer deutschen Sicht auf den französischen Nachbarn wird man zudem sagen müssen, 37 dass die beim EuGH gepflegte Rechtskultur der französischen sehr viel näher zu liegen scheint als der deutschen. Dies gilt insbesondere für den jurisdiktionellen Dialog über verschiedene Kompetenzbereiche hinweg. Aus diesem Grund fallen auch die ultra-vires-Vorwürfe gegenüber dem EuGH in Frankreich weniger heftig aus als in Deutschland: Da man daran gewöhnt ist, verschiedene Gerichte mit verschiedener Kompetenz nebeneinander zu bedienen und die in Deutschland als Kollisionsfragen behandelten Probleme eher als Zuweisungsfragen behandelt, hat man im französischen Privatrecht kaum Schwierigkeiten, sich mit dem europäischen Gerichtshof zu arrangieren und dessen Vorherrschaft über das europäische und europäisch induzierte Recht anzuerkennen. Diese Bereitschaft kommt auch in der europafreundlichen Rechtsprechung des Conseil constitutionnel zum Ausdruck, die die vom EuGH immer wieder beschworene Kooperation der nationalen Gerichte und des europäischen Gerichts auch auf Ebene des Verfassungsrechts umsetzt (oben Rn. 21). Dennoch ist nicht zu übersehen, dass auch die französische Rechtsordnung und die französische Rechtskultur durch die europäische Rechtsangleichung starken Wandelungen unterworfen sind, die alle Stufen der Rechtsanwendung betreffen. Aus dieser Sicht erscheint die lange überfällige Einführung einer echten verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen – genauso wie es auch im Namen QPC angedeutet ist – als Versuch, diese Wandelungen wenigstens teilweise wieder an den Nationalstaat zurückzubinden.

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_____ 140 Vgl. v.a. Canivet, Le droit communautaire et le juge national, S. 82: „Il me semble, en effet, que l’apport majeur du droit communautaire a été de libérer le juge judiciaire français d’une totale subordination à sa propre loi, qu’il a contribué à rompre son isolement dans son ordre interne, en lui fournissant les outils, les horizons et des ambitions nouveaux : pour le juge français, le droit communautaire a été émancipateur“. Babusiaux

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3. Teil: Besonderer Teil

§ 25 Vereinigtes Königreich 3. Teil: Besonderer Teil

Michael Schillig § 25 Vereinigtes Königreich Schillig Literatur Stefan Arnold/Hannes Unberath, Die Umsetzung der Richtlinie über den Verbrauchsgüterkauf in England, ZEuP 2004, 366–385; John Hamilton Baker, An Introduction to English Legal History (4. Aufl. 2002); Zenon Bankowski/ D. Neil MacCormick, Statutory Interpretation in the United Kingdom, in: D. Neil MacCormick/Robert S. Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes: a comparative study (1991), S. 359–406; Hugh Collins, Social Rights, General Clauses and the Acquis Communautaire, in: Stefan Grundmann/Denis Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards in European Contract Law (2006), S. 111–140; Paul P. Craig, Britain in the European Union, in: Jeffrey Jowell/Dawn Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution (7. Aufl. 2011), S. 102–131; Paul P. Craig, Indirect Effect of Directives in the Application of National Legislation, in: Mads Andenas/Francis Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts (1998), S. 37–55; Paul Craig/Gráinne de Búrca, EU Law: Text, Cases and Materials (5. Aufl. 2011); Rupert Cross/John Bell/George Engle, Statutory Interpretation (3. Aufl. 1995); Rupert Cross/James W. Harris, Precedent in English Law (4. Aufl. 1991); Paul L. Davies/Sarah Worthington, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law (9. Aufl. 2012); Gráinne de Bùrca, Giving Effect to European Community Directives, MLR 55 (1992), 215–240; John Fairhurst, Law of the European Union (9. Aufl. 2012); Ewan McKendrick Goode on Commercial Law (4. Aufl. 2010); Trevor Hartley, The Foundations of European Community Law (7. Aufl. 2010); Ian McLeod, Legal Method (9. Aufl. 2013); Michael Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden im Europäischen Privatrecht (2009); ders., Directive 93/13 and the ‚Price Term Exemption‘: A Comparative Analysis in the Light of the ‚Market for Lemons‘ Rationale, ICLQ 60 (2011) 933–936; ders., Study on the Unfair Terms Directive across Europe, prepared for the Office of Fair Trading (August 2013); Hans Schulte-Nölke/Christian Twigg-Flesner/ Martin Ebers (Hrsg.), Consumer Law Compendium (2008); Robin White/Ian D. Willock/Hector MacQueen, The Scottish Legal System (5. Aufl. 2013); Michael Zander, The Law-Making Process (6. Aufl. 2004). Rechtsprechung Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004; H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A. [1974] Ch. 401; R. v Henn and Darby (1978) 2 CMLR 688; R. v Henn and Darby [1981] A.C. 850; Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938; Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751; Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618; Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66; Litster v. Forth Dry Dock & Engineering Co Ltd. [1990] 1 A.C. 546; Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie [1991] B.C.C. 200; R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 A.C. 85; R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 A.C. 603; Pepper v Hart [1993] 1 All E.R. 42; Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49; Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. (No 2) [1995] 1 W.L.R. 1454; Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349; Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481; Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151; R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37; OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116; [2009] UKSC 6; OFT v Foxtons [2009] EWHC 1681 (Ch); OFT v Ashbourne [2011] EWHC 1237 (Ch).

I. II.

Übersicht Einleitung | 1–2 Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem | 3–21 1. Fallrecht | 3–11 a) Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung | 4–5 b) Methodik des Fallrechts | 6–9 c) Rechtsschöpfung durch die Gerichte? | 10–11 2. Gesetzesrecht | 12–21 a) Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut | 13–16

Schillig

b)

III. IV.

Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck | 17–19 c) Auslegung und Präjudizienbindung | 20–21 Unionsrecht und nationales Recht | 22–23 Europäische Methodenlehre im nationalen Recht | 24–50 1. Sekundärrecht und nationale Gerichte | 24–31 a) Die Auslegung des Sekundärrechts | 25–27

§ 25 Vereinigtes Königreich

2.

b) Vorlagepraxis | 28–31 Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts | 32–53 a) Spezifisches Umsetzungsrecht | 35–40 b) Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie | 41–46

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Common Law | 47–49 Überschießende Umsetzung | 50–51 e) Vorwirkung | 52–53 Fazit | 54–55 c) d)

V.

I. Einleitung Das „Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland“ als Völkerrechtssubjekt beher- 1 bergt bekanntermaßen unter einem Dach drei Rechtsysteme mit je eigenständiger Gerichtsorganisation und teilweise eigenständigem materiellen Recht.1 Insoweit ist zwischen englischem, schottischem und nordirischem Recht zu unterscheiden. Soweit sich Gesetzgebung auf Großbritannien (England und Wales, Schottland) oder das gesamte Vereinigte Königreich erstreckt, kann man daneben von britischem Recht bzw. dem Recht des Vereinigten Königreichs sprechen.2 Im Bereich des privaten Handels- und Wirtschaftsrechts kommt dem englischen Recht eine dominierende Rolle zu. So orientieren sich bereits seit dem 19. Jahrhundert auch schottische und nordirische Juristen und Richter in großem Umfang an englischen Entscheidungen und literarischen Expositionen, die allein schon wegen ihrer größeren Anzahl oftmals leichter und schneller zugänglich waren, als schottische oder irische Texte.3 Die einheitliche privat- und wirtschaftsrechtliche Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts4 hat diese Tendenz noch verstärkt.5 Im Folgenden ist zunächst die Methodenlehre nach englischem Recht zu skizzieren (II.). Die 2 Beschränkung – insoweit – auf das englische Recht ist wegen des dominierenden Einflusses englischen Rechtsdenkens auf die übrigen Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs gerechtfertigt und aus Gründen der Präzision geboten.6 Zu unterscheiden ist dabei zwischen Fallrecht (II. 1.) und Gesetzesrecht (II. 2.). Die kontinentalen Methodenlehren, ebenso wie diejenige des Gerichtshofs, verzichten bislang weitgehend auf eine entwickelte Fallrechtsmethode. Hier könnte das englische Recht wichtige Anhaltspunkte für die Entwicklung einer pan-europäischen Methodenlehre liefern. Im Hinblick auf das Gesetzesrecht waren die hergebrachten Methoden im Lichte des Europarechts zu modifizieren. Die Grundlage hierfür bildet, vermittelt durch den Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität, der innerstaatliche Anwendungsbefehl (III.), mit dem die europäische Rechtsordnung in das nationale Recht überführt wird. Daraus ergeben sich die Anwendung der Methoden des Gerichtshofs durch nationale Gerichte bei der Auslegung Europäischen Privatrechts (IV. 1.) ebenso wie Umfang und Grenzen einer richtlinienkonformen Auslegung nationalen Rechts (IV. 2.).

_____ 1 Nicht zum Vereinigten Königreich gehören die Kanalinseln, einschließlich Jersey und Guernsey, und die Isle of Man. 2 White/Willock/MacQueen, The Scottish Legal System, S. 37, 38. 3 White/Willock/MacQueen, The Scottish Legal System, S. 32. 4 Vgl. etwa Companies Act 1865; Partnership Act 1890, Bills of Exchange Act 1882; Bankruptcy Act 1883; Sale of Goods Act 1893. 5 White/WillockMacQueen, The Scottish Legal System, S. 32, 33. 6 Freilich dürfte dabei meist Gleiches oder Ähnliches auch für die übrigen Rechtsordnungen gelten. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

II. Grundlagen: Das nationale Rechts- und Gerichtssystem 1. Fallrecht 3 Während die Entwicklung des Common Law7 von Anbeginn auf real entschiedenen Fällen basier-

te, ist die Präjudizienbindung im engeren Sinne (doctrine of binding precedent, stare decisis bzw. stare rationibus decidendis)8 nach der selbst fehlerhafte Entscheidungen durch nachfolgende Gerichte wiederholt werden müssen, ein Kind der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.9 Eine wesentliche Ursache war wohl die Einführung eines hierarchisch gegliederten Gerichtssystems,10 bestehend aus High Court of Justice, Court of Appeal und House of Lords in seiner judiziellen (nicht-parlamentarischen) Funktion als höchstes Rechtsmittelgericht. Mit Inkrafttreten des Constitutional Reform Act 2005 zum 1. Oktober 2009 wurde ein neuer Supreme Court of the United Kingdom geschaffen, der an die Stelle des House of Lords trat.

a) Vertikale und horizontale Dimension der Präjudizienbindung 4 Aus dieser hierarchischen Gliederung folgt die vertikale Dimension der Präjudizienbindung.

Danach sind die Gerichte niederer Stufe grundsätzlich an Entscheidungen der Gerichte höherer Stufe gebunden.11 Das Verhältnis zwischen House of Lords und Court of Appeal war dabei nicht immer unproblematisch.12 Nach Ansicht des House of Lords verlangt das hierarchisch strukturierte Gerichtssystem jedoch, dass die Gerichte der niederen Stufen, einschließlich des Court of Appeal, die Entscheidungen der höheren Stufen loyal akzeptieren.13 Logisch nicht zwingend aus der Gerichtshierarchie ableitbar ist die horizontale Dimension 5 der Präjudizienbindung, wonach Gerichte an eigene frühere Entscheidungen bzw. frühere Entscheidungen der Gerichte gleicher Stufe gebunden sind.14 Für das House of Lords wurde die Fra-

_____ 7 Der Begriff Common Law ist mehrdeutig und gewinnt seine Bedeutung im Zusammenhang mit dem jeweiligen Gegenbegriff, von dem er abzugrenzen ist. In seiner weitesten Bedeutung meint Common Law all diejenigen Rechtssysteme, die aus dem englischen Recht hervorgegangen sind und traditionell überwiegend auf Fallrecht beruhen. Der Begriff dient hier der Abgrenzung zu auf dem römischen Recht basierenden kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, die dem Kodifikationsgedanken verpflichtet sind (civil law). Innerhalb des englischen Rechtssystems lässt sich Common Law weiterhin vom statutory law unterscheiden. In diesem Zusammenhang meint Common Law das in Gerichtsentscheidungen enthaltene Fallrecht, im Gegensatz zu dem durch Gesetz und Verordnung gesetzten Recht. Und schließlich ist Common Law noch von equity abzugrenzen. Die Unterscheidung hat historische Gründe: das strenge, auf dem writ-System basierende Common Law entwickelte sich in den königlichen Gerichten, während die der Billigkeit verpflichtete equity durch den Lord Chancellor ausgeübt wurde. Hieraus entwickelten sich zwei unterschiedliche Rechtssysteme mit je eigenem Prozessrecht, eigener Gerichtsorganisation und eigenem materiellem Recht. Erst seit den Judicature Acts von 1873 und 1875 sind beide Gerichtszweige vereinigt. In materieller Hinsicht bleibt die Unterscheidung aber bedeutsam. Vgl. zum ganzen McLeod, Legal Method, S. 26–32. In diesem Abschnitt ist Common Law im zweiten Sinne, als Fallrecht, zu verstehen. 8 Zander, The Law-Making Process, S. 215. Die Präjudizienbindung ist zu unterscheiden von der res judicataDoktrin, die das funktionale Äquivalent zur formellen und materiellen Rechtskraft bildet und nur für die Parteien des Ausgangsrechtstreits von Bedeutung ist. Stare decisis dagegen wirkt nicht nur inter partes, sondern erga omnes. 9 Vgl. Bole v Horton (1673) Vaugh. 360, 383; Mirehouse v Rennell (1833) 1 Cl. & Fin. 520, 546. In beiden Entscheidungen wird betont, dass ein nachfolgendes Gericht nur insoweit durch eine frühere Entscheidung gebunden ist, als diese richtig und vernünftig ist. 10 Supreme Court of Judicature Acts 1873 and 1875. Vgl. Baker, An Introduction to English Legal History, S. 200. 11 Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich auf das Privatrecht; im Bereich des Strafrechts gelten zum Teil abweichende Grundsätze, vgl. Zander, The Law-Making Process, S. 245 ff. 12 Vgl. Broom v Cassell [1971] 2 Q.B. 354; Schorsch Meir GmbH v Hennin [1975] Q.B. 416. 13 Broome v Cassel (No. 1) [1972] A.C. 1027, 1054 per Lord Hailsham; Milingos v George Frank (Textiles) Ltd [1976] A.C. 443, 472 per Lord Simon of Glaisdale; 495 per Lord Cross. 14 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 200. Schillig

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ge geklärt15 durch London Tramways v London County Council16 aus dem Jahre 1898. Lord Halsbury begründete die Bindungswirkung von Prajudizien mit der desaströsen Rechts- und Planungsunsicherheit die resultieren würde, wenn bereits entschiedene Fragen immer wieder neu aufgerollt werden müssten, ohne dass es je eine endgültige Entscheidung gäbe.17 Allerdings befreite sich das House of Lords von diesen selbstauferlegten Fesseln im Jahre 1966. Nach dem Practice Statement (Judicial Precedent)18 behandelt das House of Lords seine früheren Entscheidungen als grundsätzlich verbindlich, sieht sich jedoch befugt, von einer früheren Entscheidung abzuweichen, soweit es dies für gerechtfertigt hält. Bisher wurde von dieser Befugnis nur sehr sparsam Gebrauch gemacht. Dass eine frühere Entscheidung als falsch bewertet wird, reicht in aller Regel nicht aus, um davon abzugehen.19 Der Court of Appeal entschied in Young v Bristol Aeroplane Co. Ltd.20 im Jahre 1944, dass seine früheren Entscheidungen Bindungswirkung entfalten. Hiervon wurden jedoch drei Ausnahmen anerkannt: (1) zwischen zwei einander widersprechenden früheren Entscheidungen hat der Court of Appeal das Recht und die Pflicht zur Wahl; (2) der Court of Appeal muss von seiner früheren Entscheidung abgehen, soweit diese nach seiner Überzeugung zu einer Entscheidung des House of Lords im Widerspruch steht; (3) die frühere Entscheidung erging per incuriam, d.h. unter Außerachtlassung des relevanten Fall- oder Gesetzesrechts. Ähnliches wie für den Court of Appeal gilt auch für den High Court of Justice, soweit dieser als Rechtsmittelgericht tätig wird (sogenannte Divisional Courts).21 Entscheidungen erstinstanzlicher Gerichte, einschließlich des High Court, sind für diese selbst und gleichstufige Gerichte jedoch nicht normativ verbindlich.22

b) Methodik des Fallrechts In einem ersten Schritt sind aus dem einschlägigen Fallmaterial diejenigen Fälle herauszufil- 6 tern, die entsprechend der obigen Grundsätze für das entscheidende Gericht verbindlich sind und daraus wiederum diejenigen, deren zugrundeliegende Sachverhalte mit dem hic et nunc zu entscheidenden Sachverhalt hinreichende Ähnlichkeit aufweisen.23 Auf der Grundlage der einschlägigen Präjudizien ist sodann deren ratio decidendi zu be- 7 stimmen.24 Ratio decidendi ist der einzige Teil eines Präjudizes, der normative Bindungswirkung entfalten kann.25 Alles was nicht der ratio decidendi angehört ist per Definition dictum oder obiter dictum, nimmt nicht an der normativen Bindungswirkung teil und kann allenfalls eine mehr oder weniger starke Überzeugungskraft entfalten.26 Die Feststellung der ratio decidendi wird im englischen Schrifttum als äußerst problematisch angesehen. Herrschend dürfte wohl die auf Goodhart zurückgehende Ansicht sein, wonach ratio decidendi bestimmt ist durch diejenigen

_____ 15 Vgl. jedoch bereits Beamish v Beamish (1861) H.L.C. 274. 16 [1898] A.C. 375. 17 London Tramways v London County Council [1898] A.C. 375, 380 per Lord Halsbury. 18 [1966] 1 W.L.R. 1234 per Lord Gardiner LC. 19 Vgl. Jones v Secretary of State for Social Services [1972] A.C. 944, 995 per Lord Wilberforce; 996 per Lord Pearce. 20 Young v Bristol Aeroplane Co. Ltd [1944] K.B. 718, 729 per Lord Greene MR. 21 Police Authority for Huddersfield v Watson [1947] K.B. 842. Die Situation ist etwas unklar, vgl. R. v Greater Manchaster Coroner, ex parte Tal [1984] 3 All E.R. 240, wonach ein Divisional Court von einer früheren Entscheidung abweichen kann, soweit er von deren Unrichtigkeit überzeugt ist. 22 Zander, The Law-Making Process, S. 251. 23 Vgl. etwa Hedley Byrne & Co. Ltd. v Heller & Partners Ltd. [1964] A.C. 465, 525 per Lord Devlin. 24 Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 192. 25 Zander, The Law-Making Process, S. 268. 26 Zander, The Law-Making Process, S. 268. Dictum meint dabei eine Äußerung, die obwohl nicht Teil der ratio decidendi, gleichwohl mit der zu entscheidenden Sachfrage in (engem) Zusammenhang steht, wohingegen obiter dicta sich in der weiteren Peripherie bewegen. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

Tatsachen, die der frühere Richter als maßgeblich angesehen hat und die daran anknüpfende rechtliche Schlussfolgerung.27 Ratio decidendi ist somit diejenige Rechtsregel, die aus der früheren Entscheidung bei Zugrundelegung der maßgeblichen Tatsachen folgt. Jedes nachfolgende Gericht, das der Bindung durch das Präjudiz unterliegt, muss zur gleichen Entscheidung gelangen, es sei denn, im hic et nunc zu entscheidenden Fall liegt eine zusätzliche Tatsache vor, die der jetzige Richter als maßgeblich bewertet, bzw. es fehlt am Vorliegen einer derjenigen Tatsachen, die der frühere Richter als maßgeblich angesehen hat.28 Entscheidend sind somit die Feststellung der maßgeblichen Tatsachen und das Abstraktionsniveau, auf dem diese formuliert werden. Je höher das Abstraktionsniveau, umso größer die Anzahl an möglichen Sachverhaltsgestaltungen, für die die jeweilige ratio decidendi Bindungswirkung entfalten kann. Bei der Herausarbeitung der ratio decidendi ist das einschlägige Präjudiz nicht isoliert, sondern im Kontext sämtlicher relevanter Entscheidungen zu sehen. In ihrer Gesamtheit setzen diese Entscheidungen dem gegenwärtigen Richter bei der Bestimmung des Abstraktionsniveaus und der Formulierung der ratio decidendi gewisse Grenzen, da sich das neue Präjudiz möglichst widerspruchsfrei in eine Kette von Entscheidungen einfügen muss.29 8 Im Anschluss daran muss das Gericht entscheiden, inwieweit der zu entscheidende Sachverhalt mit den der ratio decidendi zugrunde liegenden maßgeblichen Tatsachen übereinstimmt.30 Mit der Herausarbeitung der ratio decidendi und der Bestimmung des Abstraktionsniveaus der maßgeblichen Tatsachen ist oftmals die eigentliche Wertungsarbeit schon getan. Das Abstraktionsniveau wird in der Weise festgelegt, dass der jetzige Sachverhalt erfasst oder eben nicht erfasst wird. Soweit der Bestimmung der Abstraktionshöhe und der ratio decidendi durch eine etablierte Kette von Entscheidungen Grenzen gesetzt sind, kann gleichwohl im Lichte des vorliegenden Sachverhaltes die Ausdehnung der festgestellten ratio, unter Verzicht auf das Vorliegen bestimmter maßgeblicher Tatsachen, oder deren Einschränkung unter Hinzufügung als notwendig anzusehender weiterer Tatsachen geboten und gerechtfertigt erscheinen.31 Im Gegensatz dazu lässt das Verfahren des „distinguishing“ die ursprüngliche ratio unberührt. Das Gericht kommt lediglich zu dem Schluss, dass die maßgeblichen Tatsachen des Präjudizes und des hic et nunc zu entscheidenden Falles nicht vergleichbar sind.32 Sowohl im Rahmen der Formulierung der ratio decidendi selbst als auch bei deren Ausdeh9 nung oder Einschränkung und insbesondere bei der Möglichkeit des distinguishing hat das hic et nunc entscheidende Gericht einen mehr oder weniger großen Bewertungsspielraum. Bei dessen Ausfüllung in Anwendung des genannten Instrumentariums geht es letzten Endes um rechtspolitische Wertungsentscheidungen.33

c) Rechtsschöpfung durch die Gerichte? 10 Ein rechtstheoretischer Streit rankt sich um die Frage, ob die Gerichte bei der beschriebenen

Vorgehensweise (neues) Recht schaffen oder lediglich vorhandenes Recht offenbarend zu Tage fördern.34 Die Offenbarungstheorie war lange Zeit ganz herrschend. Das Common Law ist danach

_____ 27 Goodhart, Yale L. J. 40 (1930/31), 161, 169. 28 Vgl. Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 63; Zander, The Law-Making Process, S. 269. 29 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 f. per Lord Diplock. 30 Cross/Harris, Precedent in English Law, S. 192. Vgl. auch Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 f. per Lord Diplock. 31 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1059 per Lord Diplock. 32 McLeod, Legal Method, S. 150. 33 Vgl. Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 per Lord Diplock. 34 Zander, The Law-Making Process, S. 298. Schillig

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ein Korpus ewiger, unveränderlicher Ideen, weitgehend basierend auf gesundem Menschenverstand, der durch die Gerichte fortlaufend offenbart und verfeinert wird.35 Die Gerichte nehmen danach keine Rechtsschöpfungskompetenz in Anspruch,36 sondern wenden das existierende Recht auf immer neue Sachverhaltsgestaltungen an.37 Heute ist dagegen die rechtsschöpfende Funktion der Gerichte weithin anerkannt.38 Rechts- 11 schöpfung durch die Gerichte darf dabei freilich nicht in dem Sinne verstanden werden, dass jede neue Entscheidung bei Rechtskraft unmittelbar objektives Recht schafft. Dies liegt daran, dass erst nach einiger Zeit mit einigermaßen hinreichender Gewissheit gesagt werden kann, ob, und in welcher Form, die einer Entscheidung zu entnehmende ratio decidendi als Rechtsregel Anerkennung findet.39 Die Einzelentscheidung ist lediglich ein Glied in einem fortlaufenden Prozess steter Rechtsentwicklung.40 Es ist der prozesshafte Charakter des Common Law, bei dem die Gerichte im Zusammenwirken ständig das vorhandene Fallmaterial im Hinblick auf neu zu entscheidende Sachlagen durcharbeiten, analysieren und fortentwickeln, der letztendlich das objektive Recht hervorbringt.41

2. Gesetzesrecht Die Rolle der Gesetzgebung in England ist traditionell eine andere als auf dem Kontinent. Zwar 12 ergingen auch hier von Anbeginn an Gesetze, jedoch nicht mit dem Ziel, einen bestimmten Sachbereich einer umfassenden Regelung im Sinne einer Kodifikation zuzuführen, sondern lediglich um bestimmten, im Wege des Fallrechts entstandenen, jedoch als unpraktikabel oder schädlich empfundenen Regelungen abzuhelfen.42 Erst Ende des 19. Jahrhunderts ging man insbesondere im Bereich des privaten Wirtschaftsrechts dazu über, bestimmte Bereiche einer umfassenderen Regelung zu unterwerfen. Heute sind große Teile des Privatrechts gesetzlich geregelt.43 Kennzeichnend ist jedoch bis heute, dass diese Gesetze an das hergebrachte Fallrecht anknüpfen, die dort entwickelten Begrifflichkeiten und Konzepte voraussetzen, weiterführen und zur Füllung etwaiger Regelungslücken heranziehen.44 Die traditionelle Beschränkung der Gesetzgebung auf einen begrenzten Sachbereich ermöglichte es, sehr detaillierte Gesetze zu konstruieren und möglichst alle denkbaren Situation ausdrücklich zu erfassen; eine Tendenz, die bis heute anhält und selbst von Richtern mitunter kritisiert wird.45

_____ 35 Baker, An Introduction to English Legal History, S. 195. 36 Munster v Lamb [1883] 11 Q.B.D. 588, 600 per Brett MR. 37 Willis v Baddeley [1892] 2 Q.B. 324, 326 per Lord Esher. 38 Home Office v Dorset Yacht Co. [1970] A.C. 1004, 1058 per Lord Diplock; Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349, 377 per Lord Goff. 39 Zander, The Law-Making Process, S. 299. 40 Dworkin, Law’s Empire (1998), S. 228 ff., hat hierfür das anschauliche Bild des „Kettenromans“ (chain novel) eingeführt, wobei jeder neue Autor nach Interpretation der bisherigen Kapitel ein weiteres Kapitel hinzufügt. 41 Kleinwort Benson Ltd. v Lincoln City Council [1999] 2 A.C. 349, 377 per Lord Goff. 42 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197, 259. Als Beispiel kann das Statute of Uses 1535 dienen, das sicherstellte, dass feudale Lasten nicht mit Hilfe eines trust umgangen werden konnten, vgl. Hayton, The Law of Trusts (4. Aufl. 2003), S. 12. 43 Vgl. etwa Companies Act 2006; Insolvency Act 1986; Law of Property Act 1925; Sale of Goods Act 1979; Unfair Contract Terms Act 1977. 44 Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 197 f. 45 Vgl. Collins, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards, S. 117; Lando, ERPL 14 (2006), 475, 476; Kerr, L.Q.R. 96 (1980), 515, 527 ff. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

a) Die klassische Auslegung nach dem Wortlaut 13 Eine, wenn nicht die tragende Säule der ungeschriebenen Verfassung des Vereinigten König-

reichs ist das Prinzip der Parlamentssouveränität (doctrine of parliamentary souvereignty). Traditionell hatte danach das Parlament (in Westminster) die Kompetenz zum Erlass und zur Aufhebung jeden erdenklichen Gesetzes; daneben existierte im Vereinigten Königreich keine Institution, die ein Parlamentsgesetz abändern, aufheben oder außer Anwendung setzen konnte. Für die Auslegung von Gesetzen folgte aus diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben, dass die Gesetze durch die Gerichte so zur Anwendung zu bringen sind, wie sie vom Parlament erlassen wurden, ohne Abänderung, Hinzufügung oder Weglassung der im Gesetz ausdrücklich postulierten Regelungsgehalte. Mittel hierzu war eine äußerst restriktive Auslegung der Gesetze anhand des Wortlauts.46 Ausgangspunkt der klassischen Auslegungslehre ist folglich die sogenannte literal rule. Die14 se besagt, dass, soweit die im Gesetz verwendeten Begriffe in sich selbst präzise und eindeutig sind, allein deren natürliche und gewöhnliche Bedeutung für die Auslegung maßgeblich ist.47 Der Wortlaut in seiner natürlichen und gewöhnlichen Bedeutung bestimmt abschließend den Regelungsgehalt einer Vorschrift. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass sich zumindest für einige Gesetzesbegriffe eine eindeutige natürliche und gewöhnliche Bedeutung ermitteln lässt. Eine mehr oder minder weitgehende sprachliche Unbestimmtheit der in den Rechtssätzen verwendeten Begrifflichkeiten ist jedoch stets unvermeidbar.48 Auch kann eine einseitige Orientierung am gewöhnlichen Sprachgebrauch unter Außerachtlassung des Verwendungskontextes leicht zu absurden Ergebnissen führen. 15 Im Hinblick darauf versuchte man bereits im 19. Jahrhundert die Strenge der literal rule abzumildern. Hierzu diente die sogenannte golden rule. Den verwendeten Begriffen ist grundsätzliche ihre Bedeutung nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch beizulegen, es sei denn, dies führe zu einer Inkonsistenz, Absurdität oder Unannehmlichkeit von einem solchen Ausmaß, dass die gewöhnliche Bedeutung nicht gemeint sein kann und die Zugrundelegung einer abweichenden Bedeutung gerechtfertigt ist. Auch diese muss aber noch durch den Wortlaut gedeckt sein. Die Reichweite dieser golden rule war allerdings unklar. Zum einen waren die maßgeblichen Anwendungskriterien (Inkonsistenz, Absurdität, Unannehmlichkeit) selbst in hohem Maße unbestimmt und wertungsoffen. Zum anderen wurde die Existenz der golden rule von einigen Richtern schlicht geleugnet. Vorreiter der modernen, an Sinn und Zweck orientierten Auslegungslehre ist die auf das 16 16. Jahrhundert zurückgehende rule in Heydon’s Case49 oder mischief rule. Danach sind für die Interpretation eines Gesetzes stets die folgenden Überlegungen anzustellen: (i) Wie stellte sich die Rechtslage nach Common Law vor Erlass des Gesetzes dar?; (ii) Was war der Defekt oder die Unzulänglichkeit im Recht, für die das Common Law keine Lösung bot?; (iii) Welchen Rechtsbehelf hat das Parlament bereitgestellt, um diesem Defekt abzuhelfen?; (iv) Was ist der wahre Grund des Rechtsbehelfs? Aufgabe der Gerichte im Wege der Interpretation ist dann stets die Beseitigung des erkannten Defekts und die Förderung des Rechtsbehelfs im Einklang mit der wahren Intention des Gesetzgebers. Seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die mischief

_____ 46 Vgl. Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, S. 10 ff.; Bankowski/MacCormick, in: MacCormick/Summers (Hrsg.), Interpreting Statutes, S. 396. 47 Vgl. Sussex Peerage Case (1884) 8 E.R. 1034, 1058 per Lord Tindal CJ: „If the words of the statute are in themselves precise and unambiguous, then no more can be necessary than to expound those words in their natural and ordinary sense. The words themselves alone do, in such a case, best declare the intention of the lawgiver.“ 48 H.L.A. Hart, The Concept of Law (2. Aufl. 1994), S. 123 ff. 49 (1584) 76 E.R. 637. Schillig

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rule in die moderne, sich an Sinn und Zweck einer Regelung orientierende Auslegungslehre fortentwickelt.

b) Die moderne Auslegung nach Sinn und Zweck Die moderne Auslegungslehre stellt maßgeblich auf Sinn und Zweck einer Regelung ab (soge- 17 nannter purposive approach).50 Die Auswirkungen des traditionellen Denkens sind aber noch immer prominent.51 So ist Voraussetzung für eine Auslegung nach Sinn und Zweck stets, dass der Wortlaut einen bestimmten Bedeutungsspielraum lässt und das gefundene Auslegungsergebnis noch durch den allgemeinen Sprachgebrauch und den natürlichen Wortsinn gedeckt ist. Sinn und Zweck des Gesetzes ergeben sich aus der „Intention des Parlaments“. Dabei ist 18 heute jedoch allgemein anerkannt, dass es sich bei der „Intention des Parlaments“ um eine bloße Fiktion, eine bequeme sprachliche Vereinfachung eines argumentativen Abwägungsprozesses handelt.52 Bei der Auslegung geht es nicht darum, festzustellen, was das Parlament tatsächlich bezweckte, sondern um die Ermittlung der wahren Bedeutung dessen, was das Parlament niedergelegt hat.53 Nach dem Rechtsstaatsprinzip haben die Bürger das Recht, ihr Verhalten an dem auszurichten, was im Gesetz niedergelegt ist; nicht daran, was niedergelegt werden sollte oder was niedergelegt worden wäre, wenn der damalige Gesetzgeber die jetzige Situation in Betracht gezogen hätte.54 „Intention des Parlaments“ ist folglich diejenige Intention, die das Parlament nach Ansicht des Gerichts im Hinblick auf die verwendeten Begrifflichkeiten vernünftigerweise haben konnte. Nicht geht es um die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten, deren Zwecke oftmals voneinander abweichen mögen.55 Neben dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zu den Europäischen Gemeinschaften im 19 Jahre 1973 (dazu sogleich Rn. 22) hat auch das Inkrafttreten des Human Rights Acts 1998 (HRA) im Jahre 2000 die Verfassungslage wesentlich verändert. Nach sec. 3(1) HRA sind Gesetze und Verordnungen soweit wie möglich („so far as it is possible“) so zu interpretieren, dass sie mit den Rechten nach der Europäischen Menschenrechtskonvention im Sinne der Rechtsprechung des EGMR im Einklang stehen. Soweit eine solche Interpretation nicht in Betracht kommt, können High Court, Court of Appeal und Supreme Court untergesetzliche Vorschriften für ungültig erklären. Bezüglich formeller Gesetze kommt lediglich eine Inkompatibilitätserklärung (declaration of incompatability) in Betracht. Der Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention kann in diesem Fall nur durch das Parlament selbst beseitigt werden. Der HRA stellt hierzu ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren bereit. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Abgrenzung einer noch möglichen konventionskonformen Interpretation einerseits und einer unzulässigen, weil dem Parlament vorbehaltenen, Rechtssetzung durch die Gerichte andererseits.56 Von offensichtlichen Fällen abgesehen, dürften sich zuverlässig handhabbare Kriterien insoweit kaum benennen lassen.57

_____ 50 Vgl. Pepper v Hart [1993] 1 All E.R. 42, 50 per Lord Griffiths; vgl. auch Cross/Bell/Engle, Statutory Interpretation, S. 192–197. 51 Vgl. Lando, ERPL 14 (2006), 475, 476. 52 McLeod, Legal Method, S. 281. 53 Black-Clawson International Ltd. v Papierwerke Waldhof-Aschaffenburg AG [1975] A.C. 591, 613 per Lord Reid: „We are seeking not what Parliament meant but the true meaning of what they said.“ 54 Stock v Frank Jones (Tipton) Ltd [1978] 1 W.L.R. 231, 237 per Lord Simon. 55 R v Secretary of State for the Environment, Transport and the Regions ex pate Spath Holme Ltd [2001] 2 A.C. 349, 397 per Lord Nicholls. 56 McLeod, Legal Method, S. 302–304. 57 Vgl. etwa Ghaidan v Mendoza [2004] 3 All E.R. 411, zur Frage ob „spouse“ im Sinne des Rent Act 1977 dahingehend konventionskonform interpretiert werden kann, dass auch der überlebende homosexuelle Lebenspartner

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3. Teil: Besonderer Teil

c) Auslegung und Präjudizienbindung 20 Bei der Frage, inwieweit eine Auslegungsentscheidung normative Bindungswirkung entfaltet, ist

zwischen Sachfragen (matters of fact) und Rechtsfragen (matters of law) zu unterscheiden.58 So ist die Feststellung, ob ein Rechtsbegriff nach seiner gewöhnlichen Bedeutung auf einen bestimmten Sachverhalt zutrifft, eine Sachfrage.59 Die Präjudizienbindung findet insoweit keine Anwendung. Beispielsweise führte Slade LJ in der Entscheidung Phillips Products v Hyland60 aus, dass die vom Gericht getroffene Entscheidung, ob eine bestimmte Vertragsklausel dem reasonableness-Test nach dem Unfair Contract Terms Act 1977 (UCTA) genügt, nicht als Präjudiz für Fälle herangezogen werden sollte, in denen zwar die selben Klauseln zu überprüfen, die zugrundeliegenden Sachverhalte jedoch andere sind.61 Dagegen ist die Auslegung eines Gesetzes, das heißt die Bestimmung der rechtlichen Fol21 gen, die sich aus der Bedeutung eines Rechtsbegriffes ergeben,62 eine Rechtsfrage,63 bezüglich derer die Präjudizienbindung grundsätzlich Anwendung finden kann. Da es bei der Auslegung allerdings darum geht, die rechtliche Bedeutung eines Rechtsbegriffs gerade für die Zwecke desjenigen Gesetzes zu ermitteln, in dem der Begriff Verwendung findet, kann die Präjudizienbindung grundsätzlich auch nur für Begriffe innerhalb desselben Gesetzes Anwendung finden. Bezüglich identischer Begriffe in einem anderen Gesetz kann einer Auslegungsentscheidung allenfalls eine mehr oder weniger große Überzeugungskraft (pursuasive authority) zukommen.64 Eine normative Bindungswirkung besteht grundsätzlich nicht. Eine Ausnahme hiervon, also normative Bindungswirkung einer Entscheidung zu Gesetz A für eine nachfolgende Entscheidung zu identischen Begriffen in Gesetz B, gilt dann, wenn beide Gesetze den gleichen Sachbereich betreffen, also in pari materia sind.65 Bezüglich des Verhältnisses von Entscheidungen zu identischen Formulierungen im Gesetzesrecht und im Fallrecht (Common Law) gelten die gleichen Grundsätze.66

III. Unionsrecht und nationales Recht 22 Das Vereinigte Königreich ist im Hinblick auf völkerrechtliche Verträge streng dualistisch.67 Die

innerstaatliche Wirksamkeit der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften, der nachfolgenden Verträge und des Sekundärrechts bedurften damit eines nationalen Anwendungsbefehls,68 der in Gestalt des European Communities Act 1972 (ECA), nunmehr in der Fas-

_____ eines verstorbenen Mieters erfasst wird: bejahend insoweit die Mehrheit des House of Lords; entgegengesetzt aber Lord Millet. 58 Dazu McLeod, Legal Method, S. 36 ff. 59 Brutus v Cozens [1973] A.C. 854, 860 per Lord Reid: „The meaning of an ordinary word of the English language is not a question of law.“ 60 Phillips Products v Hyland [1987] 1 W.L.R. 659. 61 Phillips Products Ltd v Hyland [1987] 1 W.L.R. 659, 669 per Slade LJ. Allgemein zum Problem der Behandlung des reasonableness-Tests als question of fact Whittaker, in: Grundmann/Mazeaud (Hrsg.), General Clauses and Standards (2006), S. 70 ff. 62 McLeod, Legal Method, S. 229. 63 Brutus v Cozens [1973] A.C. 854, 860 per Lord Reid: „The proper construction of a statute is a question of law.“ 64 Quiltotex Co Ltd v Minister of Housing and Local Government [1966] 1 Q.B. 704, 711 per Salmon LJ; Carter v Bradbeer [1975] 1 W.L.R. 1204, 1206 per Lord Diplock. 65 R v Palmer (1785) 168 E.R. 279: „If there are several Acts upon the same subject, they are to be taken together as forming one system and as interpreting and enforcing each other.“ 66 McLeod, Legal Method, S. 230. 67 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 278. 68 McWhirter v Attorney-General [1972] CMLR 882, 886 per Lord Denning. Schillig

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sung des European Union Act 2011,69 vorliegt. Dabei überführt sec. 2(1) ECA das Prinzip der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts/EU-Rechts70 in nationales Recht. Nach sec. 2(2) ECA erfolgt die Umsetzung europarechtlicher Vorgaben und Verpflichtungen regelmäßig im Verordnungswege (Statutory Instrument) unter Zustimmung von Ober- und Unterhaus.71 Sec. 3 ECA verleiht den Entscheidungen des Gerichtshofs zu Auslegung und Wirksamkeit von EURechtsakten Präjudizienwirkung im innerstaatlichen Recht.72 Probleme bereitet der Grundsatz vom Vorrang des Unionsrechts. Nach sec. 2(4) ECA soll je- 23 des Gesetz einschließlich künftiger Gesetze entsprechend der vorstehenden Bestimmungen der sec. 2 ECA ausgelegt und angewendet werden. Der Verweis auf sec. 2(1) ECA scheint zu bewirken, dass jedenfalls unmittelbar anwendbares Unionsrecht gegenüber nationalem Recht Vorrang genießt. Hinzu kommt die Präjudizienwirkung von EuGH-Entscheidungen nach sec. 3(1) ECA. Auch der in Costa ./. E.N.E.L. niedergelegte Vorrang des Unionsrechts73 wäre danach innerstaatlich normativ verbindlich festgeschrieben.74 Hier ist nun allerdings wiederum der Grundsatz der Parlamentssouveränität zu berücksichtigen. Danach sind der Gesetzgebungsmacht des Parlaments keine rechtlichen Grenzen gesetzt, allerdings mit der Ausnahme, dass das Parlament seine Gesetzgebungsbefugnisse nicht für die Zukunft beschränken kann.75 Soweit danach ein zeitlich späteres Gesetz von einem zeitlich früheren abweicht, setzt sich ersteres durch und gilt letzteres, soweit der Konflikt reicht, als implizit aufgehoben (doctrine of implied repeal). Der Vorrang des unmittelbar anwendbaren Unionsrechts nach sec.s 2(4) und 3(1) ECA ist damit unproblematisch für Gesetze, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ECA bereits erlassen waren. Nachfolgende Gesetze würden sich dagegen auch gegenüber abweichendem Unionsrecht durchsetzen, da die Vorrangregelungen des ECA insoweit stets als implizit aufgehoben anzusehen wären.76 Eine Lösung dieses Konundrums fand das House of Lords in einer „strengen Auslegungsregel“.77 Nach der Leitentscheidung Factortame hat sec. 2(4) ECA die Wirkung, dass jedes nachfolgende Gesetz so zu lesen ist, als enthielte es eine ausdrückliche Bestimmung, wonach das unmittelbar anwendbare Unionsrecht unberührt bleibt.78 Damit war der Vorrang des Unionsrecht im innerstaatlichen Recht angekommen;79 freilich nur mit der Einschränkung, dass es dem Parlament nach wie vor unbenommen ist, in einem Gesetz klar und ausdrücklich von anwendbarem Unionsrecht abzuweichen. In diesem Fall wären die nationalen Gerichte zur Anwendung des vom Unionsrecht abweichenden nationalen Rechts berufen.80 Zum gleichen Ergebnis führt die von Laws LJ in Thoburn eingeführte Unterscheidung von konstitutionellen Ge-

_____ 69 Nach diesem Gesetz bedürfen künftige Änderungen der Verträge für ihr Inkrafttreten im Vereinigten Königreich immer dann eines Referendums, wenn sie eine Erweiterung der Ziele und/oder Kompetenzen der EU zu Lasten der Mitgliedstaaten vorsehen; vgl im Einzelnen sec. 4(1) European Union Act 2011. Hiermit soll das Referendumserfordernis für die Zukunft dauerhaft festgeschrieben werden. Zu berücksichtigen ist freilich, dass die Regelung ihrerseits dem Prinzip der Parlamantssouveränität unterliegt, und daher jederzeit durch das Parlament und ohne Referendum wieder rückgängig gemacht werden kann. 70 Ausgenommen sind Rechtsakte im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Sinne des Art. 275 Abs. 1 AEUV, vgl. sec. 3 European Union Act 2009 der sec. 2(1) ECA insoweit abändert. 71 Vgl. ECA Schedule 2 para. 2(2). 72 Craig/de Búrca, EU Law: Text, Cases and Materials, S. 286. 73 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1253. 74 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 282. 75 Craig, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, S. 113. 76 Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151 para. 59 per Laws LJ. 77 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 282. 78 R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. [1990] 2 A.C. 85, 140 per Lord Bridge. 79 Vgl. R v Secretary of State for Transport, Ex parte Factortame Ltd. (No. 2) [1991] 1 A.C. 603, 658 per Lord Bridge; R v Secretary of State for Employment, ex parte Equal Opportunities Commission [1995] 1 A.C. 1, 58 per Lord Keith. 80 Macarthys Ltd. v Smith [1979] I.C.R. 785, 789 per Lord Denning. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

setzen, welche, wie der ECA, die verfassungsrechtlichen Grundprinzipien des Staates übergreifend regeln, und sonstigen Gesetzen.81 Konstitutionelle Gesetze können danach nur dadurch ganz oder teilweise aufgehoben werden, dass das nachfolgende Gesetz entweder eine ausdrückliche Aufhebungsregelung enthält oder so klar und eindeutig von dem früheren Gesetz abweicht, dass der Schluss auf einen entsprechenden Aufhebungswillen zwingend ist. Für sonstige Gesetze gilt dagegen die doctrine of implied repeal uneingeschränkt. Nach beiden Ansätzen bestimmt sich das Verhältnis von nationalem Recht und EU-Recht sowie dessen Wirk- und Durchsetzungskraft nach nationalem Recht.82 Dies hat Auswirkungen auf die Auslegung des Europäischen Privatrechts durch nationale Gerichte (sogleich Rn. 24–27) und die richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts (Rn. 32–53).

IV. Europäische Methodenlehre und nationales Recht 1. Sekundärrecht und nationale Gerichte 24 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind Begriffe des Unionsrechts entsprechend

ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs und der mit der Regelung verfolgten Ziele auszulegen.83 Eine Besonderheit besteht darin, dass Sekundärrechtsakte jeweils in allen Amtssprachen vorliegen und jeder Text gleichermaßen verbindlich ist.84 Die eigentlich maßgebliche Normfassung ergibt sich so erst durch einen Vergleich der verschiedenen sprachlichen Fassungen.85 Im Sinne einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts treffen entsprechende methodische Vorgaben nicht nur den Gerichtshof, sondern sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte, soweit diese Unionsrecht auslegen. Eine Hilfestellung bietet das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV, wonach mitgliedstaatliche Gerichte eine Frage zur Auslegung des Unionsrecht dem Gerichthof vorab zur Beantwortung vorlegen können bzw. vorlegen müssen.

a) Die Auslegung des Sekundärrechts 25 Nach sec. 3(1) ECA sind die englischen Gerichte per nationalem Gesetz dazu verpflichtet, zur

Auslegung von Texten des EU-Rechts die vom Gerichtshof hierfür entwickelten Methoden heranzuziehen.86 Dies wurde von Lord Denning in H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A.87 frühzeitig erkannt. Gleichwohl taten sich die englischen Gerichte noch einige Zeit schwer, sich von einer allzu en-

_____ 81 Thoburn v Sunderland City Council [2003] Q.B. 151 para. 62 f. 82 Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 284; Craig, in: Jowell/Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, S. 118. 83 So zusammenfassend EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 21. Vgl. auch EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18–20; EuGH v. 5.3.1963 – Rs. 26/62 Van Gend en Loos, Slg. 1963, 1 Rn. 8: „Geist“, „Systematik“, „Wortlaut“. Vorbildlich GA Trstenjak, SchlA v. 15.11.2007 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2695 Tz. 43–66. Zur Auslegung des Primärrechts eingehend Pechstein/Drechsler, in diesem Band, § 7; zur Auslegung des Sekundärrechts eingehend Riesenhuber, in diesem Band, § 10. 84 Vgl. Art. 1 VO Nr. 1 v. 15.4.1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG, ABl. 1958, 17/385; in der Fassung der VO (EU) Nr. 517/2013 v. 13.5.2013, ABl. 2013 L 158/1. 85 Vgl. EuGH v. 5.12.1967 – Rs. 19/67 van der Vecht, Slg. 1967, 462, 473; EuGH v. 12.7.1979 – Rs. 9/79 Koschniske, Slg. 1979, 2717 Rn. 6; EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415 Rn. 18; EuGH v. 10.3.2005 – Rs. C-336/03 easyCar, Slg. 2005, I-1947 Rn. 25; EuGH v. 3.4.2008 – Rs. C-306/06 01051 Telecom, Slg. 2008, I-1923 Rn. 24. 86 Slynn, Stat.L.R. 14 (1993), 12, 23. 87 H.P. Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A. [1974] Ch. 401, 425. Schillig

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gen wörtlichen Auslegung zu verabschieden. So hatte der Court of Appeal in R. v Henn and Darby, trotz Dassonville,88 erhebliche Zweifel daran, dass ein totales Einfuhrverbot eine „mengenmäßige Einfuhrbeschränkung“ im Sinne des Art. 34 AEUV/28 EG sein könne.89 In der Revision stellte das House of Lords hierzu fest, dass die Äußerung dieser Zweifel die Gefahren verdeutliche, die daraus resultierten, dass ein englisches Gericht englische Auslegungskriterien zur Auslegung von Texten des Europarechts heranzieht.90 Mittlerweile scheint aber die Anwendung der Auslegungsmethoden des Gerichthofs durch 26 englische Gerichte gut etabliert. Nahezu mustergültig ist die Entscheidung des Court of Appeal in R(Khatun) v Newham LBC.91 Es ging um die Frage, ob die Klauselrichtlinie92 (umgesetzt durch die Unfair Terms in Consumer Contracts Regulations 1994 bzw. nunmehr 1999 (UTCCR)) auch auf Verträge über Grundstücksrechte Anwendung findet. Dies war, vor der Entscheidung des Gerichtshofs in Freiburger Kommunalbauten,93 deswegen zweifelhaft, weil sich die Richtlinie in ihrer englischen Fassung in zahlreichen Begründungserwägungen und in Art. 4 Abs. 2 auf „goods and/or services“ bezieht. Nach englischem Verständnis können „goods“ aber nur bewegliche Sachen sein.94 Laws LJ, der das einstimmige Urteil des Court of Appeal formulierte, hob zunächst hervor, dass die UTCCR lediglich die Klauselrichtlinie in nationales Recht umsetzen, so dass es entscheidend auf die Auslegung der Richtlinie selbst ankomme. Ausgangspunkt sei die hinter der Richtlinie stehende dominierende Zielsetzung.95 Diese sei der Verbraucherschutz, was sich, neben Begründungserwägungen 8–10, insbesondere aus dem in Absatz 3 des als Rechtsgrundlage dienenden Art. 114 AEUV geforderten hohen Verbraucherschutzniveaus ergäbe. Vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Mieter (beim lease handelt es sich um ein Grundstücksrecht) besonders gefährdet seien und ein Grundstückskauf für viele Menschen ein seltenes und besonders bedeutsames Geschäft darstelle, gäbe es für einen Ausschluss der Grundstücksgeschäfte vom Anwendungsbereich der Richtlinie keinen vernünftigen Grund. Auf den scheinbar gegenteiligen Wortlaut der Richtlinie könne es nicht ankommen, denn die französische (biens), italienische (beni), spanische (bienes) und portugiesische (bens) Sprachfassung bezögen Grundstücksrechte jeweils mit ein.96 Zudem sei die europäische Rechtsordnung als ein einheitlicher Rechtskorpus anzusehen, der in allen Mitgliedstaaten verbindlich ist.97 Die strikte dogmatische Unterscheidung von Rechten an beweglichen Sachen und Grundstücksrechten im englischen Recht sei historisch begründet und habe auch noch einen gegenwärtigen Nutzen. Im Zusammenhang eines europaweiten Verbraucherschutzregimes sei sie aber allenfalls eine peinliche Marotte.98 Auch die travaux préparatoires sprächen für die Einbeziehung von Grundstücksrechten.99 Wäre ein Ausschluss von Grundstücksverträgen bezweckt gewesen, so wäre dies ausdrücklich angeordnet worden, wie etwa in der Haustürge-

_____ 88 EuGH v. 11.7.1974 – Rs. 8/74 Dassonville, Slg. 1974, 873. 89 R. v Henn and Darby [1978] 2 CMLR 688, 691. 90 R. v Henn and Darby [1981] A.C. 850, 904 per Lord Diplock. 91 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37. Vgl. auch OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116 para. 84 (reversed on appeal [2009] UKSC 6). 92 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 93 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403. Zum Zeitpunkt der Entscheidung lagen lediglich die Schlussanträge des Generalanwalts vor, vgl. R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 66. 94 Vgl. McKendrick, Goode on Commercial Law, S. 32. 95 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 67 f. 96 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 97 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 98 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68. 99 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 68 f. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

schäfterichtlinie und der Fernabsatz-Richtlinie100 geschehen.101 Laws LJ kam so zum Ergebnis, dass die Richlinie (und folglich UTCCR) auf Grundstücksverträge Anwendung findet.102

27 Diese Entscheidung führt sämtliche europarechtlichen Auslegungskriterien zusammen und ge-

wichtet sie entsprechend der Vorgaben des Gerichtshofs: Zur Bestimmung des Wortlauts erfolgt die Heranziehung mehrerer Sprachfassungen, die travaux préparatoires werden einbezogen, im Rahmen einer systematischen Auslegung werden Nachbarrechtsakte gewürdigt, und den Schwerpunkt bildet die teleologische Auslegung unter Hinweis auf Begründungserwägungen und Rechtsgrundlage. Nicht alle Entscheidungen spiegeln in diesem Umfang und in dieser Qualität die Anforderungen des Gerichtshofs wider. Manchmal findet sich nur ein ganz pauschaler Hinweis auf Sinn und Zweck der Richtlinie.103 Oftmals wird von Untergerichten vorhergehenden Auslegungsentscheidungen der nationalen Obergerichte ausschlaggebende Bedeutung beigemessen.104 Aber dass es um eine autonome, unionsweite Auslegung geht,105 bei der es maßgeblich auf die Teleologie der Vorschrift ankommt und der Wortlaut nur eine ganz durchlässige Eingrenzung darstellt, ist allgemein anerkannt.106 Allerdings wird bisweilen vorschnell ein bestimmtes Auslegungsergebnis als eindeutig angesehen, insbesondere dann, wenn andernfalls eine Vorlage nach Art. 267 AEUV angezeigt gewesen wäre.

b) Vorlagepraxis 28 Stellt sich einem mitgliedstaatlichen Gericht eine Frage zur Auslegung einer Vorschrift des

Unionsrechts und hält das Gericht eine Beantwortung dieser Auslegungsfrage zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es dem Gerichtshof die entsprechende Auslegungsfrage zur Vorabentscheidung vorlegen, Art. 267 Abs. 2 AEUV. Letztinstanzliche Gerichte sind unter den gleichen Voraussetzungen zur Vorlage verpflichtet, Art. 267 Abs. 3 AEUV. Der Gerichtshof scheint insoweit einer konkreten Betrachtungsweise zu zuneigen.107 Problematisch ist dabei die Stellung des Court of Appeal. Dessen Entscheidungen können nur dann angefochten werden, wenn ent-

_____ 100 Art. 3 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. 1985 L 372/31; bzw. Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 20.5.1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz, ABl. 1997 L 144/19; nunmehr Art 3 Abs. 3 lit. e) der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. 2011 L 304/64. 101 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 69. 102 R(Khatun) v Newham LBC [2005] Q.B. 37, 69. 103 Phonogram Ltd. v Lane [1982] Q.B. 938, 943 per Lord Denning. 104 So wird die Leitentscheidung zur Klauselkontrolle Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481 prinzipiell allen nachfolgenden Entscheidungen mehr oder weniger zu Grunde gelegt; vgl. nur OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6; OFT v Foxtons [2009] EWHC 1681 (Ch); OFT v Ashbourne [2011] EWHC 1237 (Ch). 105 Overy v Paypal (Europe) Ltd [2012] EWHC 2659 (QB) Rn. 169; Turner & Co (GB) Ltd v Abi [2010] EWHC 2078 (QB) Rn. 38. 106 Vgl. nur Director General of Fair Trading v First National Bank plc [2002] 1 A.C. 481, 494 per Lord Bingham; Litster v Forth Dry Dock & Enineering Co Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 562 per Lord Oliver; International Sales & Agencies Ltd. v Sidney Marcus [1982] 2 CMLR 46 Rn. 21; TCB Ltd. v Gray [1986] Ch. 621, 635; Smith v Henniker-Major & Co. [2003] Ch. 182, 195 per Robert Walker LJ; 215 per Schiemann LJ; OFT v Abbey National plc and others [2009] EWCA Civ 116 para. 84 (reversed on appeal [2009] UKSC 6). 107 Vgl. EuGH v. 4.6.2002 – Rs. C-99/00 Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839 Rn. 15. Vgl. auch EuGH v. 16.12.2008 – Rs. C-210/06 Cartesio, Slg. 2008, I-9641 Rn. 75–79. Schillig

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weder der Court of Appeal selbst oder der übergeordnete Supreme Court (früher House of Lords) im konkreten Fall ein Rechtsmittel zulassen. Soweit der Court of Appeal ein Rechtsmittel zulässt, ist er nicht letztinstanzliches Gericht. Lässt der Court of Appeal dagegen ein Rechtsmittel nicht zu, so muss er eine entscheidungserhebliche Auslegungsfrage vorlegen. Sieht der Court of Appeal von einer Vorlage dennoch ab, ist nunmehr der Supreme Court zur Zulassung eines Rechtsmittels verpflichtet.108 Hinsichtlich des „Für-erforderlich-haltens“ der Beantwortung der Auslegungsfrage und der 29 Ausübung des daran anknüpfenden Ermessens der unterinstanzlichen Gerichte hatte Lord Denning in H.P. Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A.109 anfänglich sehr strenge Kriterien aufgestellt. Mittlerweile hat sich die Einstellung der Gerichte etwas gewandelt und sie sind eher zu einer Vorlage bereit.110 Eine kursorische Betrachtung der Rechtsprechungsstatistik des Gerichtshofs ergibt,111 dass es vom Beitritt des Vereinigten Königreichs an fast 20 Jahre dauerte, bis die Anzahl der Vorlagen etwa derjenigen von Frankreich entsprach. Verglichen mit Italien, aber auch Belgien und der Niederlande ist die Zahl der von Gerichten des Vereinigten Königreichs jährlich neu eingereichten Verfahren deutlich geringer. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Gerichte relativ leicht zu dem Schluss gelangen, dass die Antwort auf eine Vorlagefrage eigentlich klar ist und keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt. In der sog. C.I.L.F.I.T.-Entscheidung112 hat der Gerichtshof bekanntlich eine entsprechende Einschränkung der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte anerkannt, wenn auch nur unter strengen Voraussetzungen. Das House of Lords hat hiervon in der Vergangenheit großzügig Gebrauch gemacht. Bezeichnend ist etwa die Entscheidung Director General of Fair Trading v First National Bank plc. Es ging um 30 die Frage der Missbräuchlichkeit einer Klausel in einem Standardkreditvertrag. Das House of Lords interpretierte „unfair term“ im Sinne von reg. 4(1) UTCCR richtlinienkonform unter Heranziehung von Art. 3 der Klauselrichtlinie sowie der Begründungserwägungen.113 Eine Vorlage an den Gerichtshof wurde nicht für erforderlich gehalten, da der von der Richtlinie vorgegebene Missbräuchlichkeitstest klar sei und vernünftigerweise keinen Anlass zu unterschiedlicher Auslegung biete.114 Die Entscheidung erging zu einer Zeit, als sich der Gerichtshof noch nicht ausdrücklich dazu geäußert hatte, ob er im konkreten Fall zur Missbräuchlichkeit einer Klausel Stellung nehmen würde.115 Die Vorlage der Frage nach der Konkretisierungskompetenz des Gerichtshofs, verbunden mit der inhaltlichen Frage zur Missbräuchlichkeit der entsprechenden Klausel hätte daher durchaus nahegelegen. Die Feststellung, dass der Missbräuchlichkeitstest der Richtlinie klar sei, überrascht; zum einen, weil innerhalb der Mitgliedstaaten kein einheitliches Konzept der Missbräuchlichkeit entgegen

_____ 108 Vgl. zum Ganzen Hartley, The Foundations of European Community Law, S. 302 f. 109 H.P.Bulmer Ltd v J.Bollinger S.A [1974] Ch. 401, 422. 110 R. v The Pharmaceutical Society of Great Britain [1987] 3 CMLR 951, 970 ff. per Kerr LJ; Regina v International Stock Exchange of the United Kingdom and the Republic of Ireland Ltd., Ex parte Else (1982) Ltd. [1993] Q.B. 534, 545 per Sir Thomas Bingham MR. 111 Rechtssprechungsstatistiken des Gerichtshofs (abrufbar unter http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/ application/pdf/2013-04/192685_2012_6020_cdj_ra_2012_de_proof_01.pdf), S. 116 f. 112 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415; bereits zuvor EuGH v. 27.3.1963 – verb. Rs. 28/62 bis 30/62 Da Costa, Slg. 1963, 63. 113 Director General of Fair Trading v First National Bank [2002] 1 A.C. 481, 489 per Lord Bingham; 498 per Lord Steyn. 114 Director General of Fair Trading v First National Bank [2002] 1 A.C. 481, 494 per Lord Bingham. 115 EuGH v. 1.4.2004 – Rs. C-237/02 Freiburger Kommunalbauten, Slg. 2004, I-3403; EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421; EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-243/08 Pannon GSM, Slg. 2009, I-4713; EuGH v. 9.11.2010 – Rs. C-137/08 Pénzügyi Lizing, Slg. 2010, I-5347; EuGH v. 15.3.2012 – Rs. C-453/10 Pereničová and Perenič; EuGH v. 19.7.2012 – Rs. C-415/11 Aziz; EuGH v. 26.4.2012 – Rs. C-472/10 Invitel; EuGH v. 21.2.2013 – Rs. C-472/11 Banif Plus Bank. Allgemein zur Rechtsprechung des EuGH zum Fairness-Maßstab der Klauselrichtlinie sowie aus rechtsvergleichender Sicht Schillig, Study on the Unfair Terms Directive across Europe, prepared for the Office of Fair Trading (August 2013) S. 106–118.

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3. Teil: Besonderer Teil

Treu und Glauben existiert, worauf Lord Bingham ausdrücklich hinwies; zum anderen, weil der erstinstanzliche Richter und der Court of Appeal hinsichtlich der Missbräuchlichkeit der fraglichen Klausel jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Letzteres Argument greift Lord Walker in der wichtigen Entscheidung des Supreme Court zum Anwendungsbereich der Klauselrichtlinie auf.116 Es ging um die Frage, ob die von den Banken erhobenen Überziehungsgebühren nach Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie (reg. 6(2) UTCCR) als Entgeltklauseln von der Kontrolle anhand des Missbräuchlichkeitsmaßstabs ausgenommen sind. High Court und Court of Appeal hatten dies jeweils verneint.117 Ein einstimmiger Supreme Court dagegen bejahte die Frage. Auch sorgfältig begründete Entscheidungen von erfahrenen Richtern der Untergerichte könnten aus Sicht des letztinstanzlichen Gerichts offensichtlich falsch und die richtige Entscheidung klar und eindeutig sein.118 Erstaunlich ist auch die weitere von Lord Walker und Lord Mance gegebene Rechtfertigung der unterbliebenen Vorlage: Selbst wenn man den Ansatz des Court of Appeal, wonach es auf den Charakter der fraglichen Klausel als Nebenabrede ankommt, als richtig unterstellte, so würde die Anwendung dieses Tests119 auf die fraglichen Klauseln doch ergeben, dass es sich nicht um Nebenabreden, sondern richtigerweise um Entgeltklauseln handelt. Eine Vorlage sei damit nicht entscheidungserheblich und unnötig.120 Dem liegt offenbar die Vorstellung zugrunde, dass der Gerichtshof nur entweder den Ansatz des Court of Appeal oder des Supreme Court bestätigen konnte, dessen jeweilige Anwendung dann in der Sache keinen Unterschied gemacht hätte. Völlig ausgeblendet wird die Möglichkeit der Entwicklung einer alternativen und eigenständigen Lösung durch den Gerichtshof, deren Umsetzung durch die nationalen Gerichte dann möglicherweise doch zu einem abweichenden Ergebnis hätte führen können. Durch solche Scheinbegründungen wird lediglich verdeckt, worum es dem Supreme Court tatsächlich ging: die Verhinderung der mit einer Vorlage verbundenen Verfahrensverzögerung.121

2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts 32 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs122 sind die mitgliedstaatlichen Gerichte „im

Rahmen ihrer Zuständigkeit“ verpflichtet, das gesamte innerstaatliche Recht „soweit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks“ der Richtlinie auszulegen123 und im Rechtsstreit zwischen Privaten „alles [zu] tun“ um die volle Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten.124 In Adeneler hat der EuGH dies etwas relativiert.125 Die Richtlinie dürfe „nicht als Grundlage für eine

_____ 116 OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6. 117 OFT v Abbey National plc and others [2008] EWHC 875 (Comm); [2009] EWCA Civ 116. 118 OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6 para. 49 per Lord Walker. Das Argument verliert schon dadurch erheblich an Gewicht, dass Lord Phillips und Lord Neuberger die zu entscheidende Frage nicht für acte clair hielten. 119 Die Anwendung sei eine Frage des nationalen Rechts und der Kompetenz des Gerichtshofs entzogen, OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6 para. 50 per Lord Walker; para. 116 per Lord Mance. 120 OFT v Abbey National plc and others [2009] UKSC 6 para. 50 per Lord Walker; para. 116 f. per Lord Mance; zustimmend auch die übrigen Lordschaften. 121 Deutlich insoweit Lord Walker (para. 50). Zum Ganzen Schillig, Directive 93/13 and the ‚Price Term Exemption‘: A Comparative Analysis in the Light of the ‚Market for Lemons‘ Rationale, ICLQ 60 (2011) 933, 961–963. 122 Beispielhaft EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 79/83 Harz, Slg. 1984, 1921 Rn. 26 und aus neuerer Zeit EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 110. 123 Vgl. EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891 Rn. 26; EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8; EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26; EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg. 2000, I-4947 Rn. 30. 124 EuGH v. 5.10.2004 – verb. Rs. C-397/01 bis C-403/01 Pfeiffer, Slg. 2004, I-8835 Rn. 115–118; vgl. auch EuGH v. 25.10.2005 – Rs. C-350/03 Schulte, Slg. 2005, I-9215 Rn. 71; sowie EuGH v. 15.4.2008 – Rs. C-268/06, Impact, Slg. 2008, I-2483 Rn. 101; EuGH v. 28.1.2010 – Rs. C-406/08 Uniplex (UK), Slg. 2010, I-817 Rn. 45–48. 125 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110 f. Vgl. auch EuGH v. 16.6.2005 – Rs. C-105/03 Pupino, Slg. 2005, I-5285 Rn. 47. Schillig

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Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen.“126 Umfang und Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung (und Rechtsfortbildung) sind damit aus Sicht des Gerichtshofs durch die nationalen Methodenlehren determiniert.127 Noch vor Von Colson128 begannen englische Gerichte damit, einen Konflikt zwischen natio- 33 nalem Recht und (unmittelbar anwendbarem) Europarecht durch eine europarechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts auszuräumen. Nach Garland v British Rail129 sind Gesetze des Vereinigten Königreichs, die nach Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrages zum gleichen Sachgebiet erlassen wurden, so auszulegen, dass sie der völkerrechtlichen Verpflichtung zum Durchbruch verhelfen; allerdings nur, soweit die verwendeten Begriffe vernünftigerweise eine solche Bedeutung haben können. Dieses Auslegungsprinzip gelte a fortiori für europarechtliche Verpflichtungen nach sec. 2 ECA.130 Es hat seine Grundlage im Prinzip der Parlamentssouveränität. Die Gerichte verhelfen lediglich dem Willen des Parlaments zur Umsetzung der internationalen Verpflichtung zum Durchbruch. Die Vermutung eines solchen Umsetzungswillen ist aber nur schlüssig, soweit das auszulegende Gesetz nicht eindeutig und unmissverständlich der völkerrechtlichen Verpflichtung zuwiderläuft.131 Hinsichtlich der europarechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs gelten 34 gleichwohl Besonderheiten. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen der Auslegung von speziell zur Umsetzung einer Richtlinie ergangenem nationalen Recht und sonstigem nationalen Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie.132 Für Letzteres gilt die hergebrachte völkerrechtliche Auslegungsregel; für ersteres wurde diese im Sinne größerer Flexibilität erheblich modifiziert.

a) Spezifisches Umsetzungsrecht Hinsichtlich spezifischen Umsetzungsrechts haben sich die englischen Gerichte grundsätzlich 35 bereit und in der Lage gezeigt, dem unionsrechtlichen Regelungsziel zum Durchbruch zu verhelfen. In Pickstone v Freemans133 ging es um die Auslegung von sec. 1(2)(c) des Equal Pay Act 1970 (EPA). Danach hat- 36 ten Frauen ursprünglich nur dann einen Anspruch auf gleichen Lohn, wenn ein (besser bezahlter) Mann entweder die gleiche Arbeit wie die Frau ausführte (sec. 1(2)(a) EPA), oder seine Arbeit aufgrund einer Jobevaluation als äquivalent eingestuft worden war (sec. 1(2)(b) EPA). Dies wurde vom Gerichtshof im Hinblick auf die Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie (Entgelt)134 beanstandet.135 Daraufhin wurde sec. 1(2)(c) eingefügt, wonach auch die Arbeit eines Mannes vergleichbar ist, die, „soweit section 1(2)(a) und (b) nicht anwendbar sind“, gegenüber der Arbeit der Frau von gleichem Wert ist. Hierauf gestützt machte die Klägerin geltend, dass ihre Arbeit von gleichem Wert sei, wie die eines besser bezahlten männlichen Kollegen. Ein anderer männlicher Kollege, der die gleiche Arbeit ausführte wie die Klägerin, erhielt hierfür jedoch den gleichen Lohn. Deshalb vertrat der Arbeitgeber, dass sec. 1(2)(a) EPA einschlägig sei (gleiche Arbeit) und mithin sec. 1(2)(c) EPA (gleicher Wert), wegen der dort enthaltenen Ausschlussklausel („soweit …“), nicht in Betracht komme.

_____ 126 EuGH v. 4.7.2006 – C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. 127 Dazu im Einzelnen W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band § 13 Rn. 31–37. 128 EuGH v. 10.4.1984 – Rs. 14/83 von Colson, Slg. 1984, 1891. 129 Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751. 130 Garland v British Rail Engineering Ltd. [1983] 2 A.C. 751, 771 per Lord Diplock. 131 Vgl. de Bùrca, MLR 55 (1992), 215, 219 f. 132 Craig, in: Andenas/Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 46; Fairhurst, Law of the European Union, S. 296 ff. 133 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66. 134 Richtlinie 75/117/EWG des Rates v. 10.2.1975 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen, ABl. 1975 L 45/19. 135 EuGH v. 6.7.1982 – Rs. 61/81 Kommission ./. Vereinigtes Königreich, Slg. 1982, 2601. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

Dies wurde von einem einstimmigen House of Lords zurückgewiesen. Obwohl nach dem Wortlaut an sich eindeutig und so zu verstehen wie vom Arbeitgeber gedacht,136 war die Ausschlussklausel doch so auszulegen, dass sec. 1(2)(c) nur insoweit keine Anwendung findet, als sec. 1(2)(a) oder (b) für denjenigen männlichen Arbeitnehmer vorliegen, den sich die Frau selbst als Vergleichsmaßstab ausgewählt hat. Dies sei in sec. 1(2)(c) EPA hineinzulesen.137 Die Neuregelung verfolge das Ziel, das Recht des Vereinigten Königreichs vollständig an das Unionsrecht und die Entscheidung des Gerichtshofs anzupassen. Dies sei durch die richtige Auslegung von sec. 1(2)(c) EPA erreichbar und entspreche dem Willen von Regierung und Parlament.138

37 Bei Pickstone v Freemans handelt es sich eigentlich um einen Fall der primärrechtskonformen

Auslegung des nationalen Rechts.139 Wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit des damaligen Art. 141 EG (Art. 157 AEUV) wäre es auf eine richtlinienkonforme Auslegung an sich gar nicht angekommen.140 Gleichwohl legte der Fall nach allgemeiner Ansicht den Grundstein für die richtlinienkonforme Auslegung, deren Grundsätze mit der nachfolgenden Entscheidung in Litster v Forth Dry Dock141 endgültig etabliert wurden. 38

Es ging um die Auslegung der Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 1981 (TUPE),142 durch die die Betriebsübergangsrichtlinie aus dem Jahr 1977143 in nationales Recht umgesetzt wurde. Nach reg. 5(3) bestanden die Arbeitsverträge solcher Personen mit dem Erwerber fort, die unmittelbar vor dem Übergang („immediately before the transfer“) beim Veräußerer beschäftigt waren. Die Richtlinie selbst stellt in Art. 3 Abs. 1 auf den „Zeitpunkt des Übergangs“ ab. Im Ausgangsfall kündigte der Veräußerer sämtlichen Arbeitnehmern fristlos um 15.30 Uhr. Der Betriebsübergang erfolgte am gleichen Tag um 16.30 Uhr. Ein Arbeitsvertrag endet bei fristloser Kündigung mit der Kündigung, unabhängig davon, ob diese Kündigung rechtmäßig ist oder nicht.144 Der Ausdruck „unmittelbar davor“ (immediately before) bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch, dass zwischen zwei Ereignissen keine Zeitspanne liegt, beide Ereignisse also im gleichen Moment zusammen treffen.145 Bei wörtlicher Auslegung von reg. 5(3) TUPE wären die Kläger daher nicht geschützt gewesen. Allerdings hatte der Gerichtshof bereits in der Entscheidung Bork146 ausgesprochen, dass Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse entgegen Art. 4 der Richtlinie (und reg. 8(1) TUPE) vor dem Betriebsübergang beendet wurden, so anzusehen sind, als wären sie im Zeitpunkt des Übergangs noch Beschäftigte des Veräußerers. Nach Lord Oliver sei ein Gesetz so auszulegen, dass es den europarechtlichen Verpflichtungen entspricht, soweit es vernünftigerweise so verstanden werden kann, selbst wenn dies dazu führt, dass von einer wörtlichen Anwendung der vom Gesetzgeber gewählten Begriffe abgegangen werden muss.147 Der Zweck der Richtlinie könne leicht vereitelt werden, wenn sich die Parteien der Arbeitnehmerschaft durch rechtswidrige Kündigun-

_____ 136 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 125 per Lord Oliver. 137 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 120 f. per Lord Templeman. 138 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 121 per Lord Templeman. 139 Dazu eingehend Leible/Domröse, in diesem Band, § 8. 140 Pickstone v Freemans Plc. [1989] 1 A.C. 66, 128 per Lord Keith, der umgekehrt argumentiert: Da sich das richtige Ergebnis über die Auslegung nationalen Rechts bewerkstelligen ließe, komme es auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 141 EG (nunmehr Art 157 AEUV) nicht an. 141 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546. 142 Nunmehr The Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 2006, SI 2006/246. 143 Richtlinie 77/187/EWG des Rates v. 14.2.1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen, ABl. 1977 L 61/26; nunmehr Richtlinie 2001/23/EG des Rates v. 12.3.2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen, ABl. 2001 L 82/16. 144 Im Falle einer rechtswidrigen Kündigung kann das Gericht die Fortsetzung des ursprünglichen Arbeitsvertrages, Wiedereinstellung oder Entschädigung anordnen. Dies ergibt sich nunmehr aus dem Employment Rights Act 1996, sec. 112–124. 145 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 567 per Lord Oliver. 146 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/88 Bork, Slg. 1988, 3057. 147 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 559 per Lord Oliver. Schillig

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gen kurz vor Übergang einfach entledigen könnten.148 Aus einer Zusammenschau der Entscheidungen Wendelboe,149 Danmols,150 Daddy’s Dance Hall151 und insbesondere Bork152 ergebe sich, dass eine Entlassung entgegen Art. 4 der Richtlinie für die Zwecke des Art. 3 der Richtlinie unwirksam sei. Damit war fraglich, ob die Regulations in diesem Sinne ausgelegt werden konnten.153 Bei einer wörtlichen Auslegung komme dies nicht in Betracht. Zu berücksichtigen sei jedoch der Schutzzweck der Richtlinie und die Verpflichtung, effektive Rechtsbehelfe zu dessen Durchsetzung bereitzustellen.154 Nach Pickstone v Freemans erlaube die größere Flexibilität, die ein Gericht bei der Auslegung von Umsetzungsrechtsakten habe, in ein Gesetz bestimmte Worte hineinzulesen, die dem Richtlinienzweck zum Durchbruch verhelfen.155 Im vorliegenden Fall sei reg. 5(3) TUPE so zu ergänzen, dass auch Arbeitnehmer erfasst werden, die unmittelbar vor dem Übergang beschäftigt gewesen wären, hätte man sie nicht entgegen reg. 8 TUPE vorher entlassen.156

Seit Litster v Forth Dry Dock ist klar, dass mittels einer richtlinienkonformen Auslegung dem Ziel 39 der Richtlinie selbst dann zum Durchbruch verholfen werden kann, wenn das nationale Umsetzungsrecht eindeutig und klar ist, also nach traditionellem Verständnis kein Auslegungsspielraum besteht. Hierzu werden in den Umsetzungsrechtsakt diejenigen Worte hineingelesen, die zur Zielerreichung erforderlich sind. Entscheidend hierfür ist der vermutete Umsetzungswille des Gesetzgebers. Über diesen lässt sich der Ansatz zur richtlinienkonformen Auslegung des Umsetzungsrechts mit der traditionellen, dem Grundsatz der Parlamentssouveränität verpflichteten Auslegungslehre in Einklang bringen. Hätte der Gesetzgeber bei der Umsetzung die Erfordernisse der Richtlinie richtig erkannt, so wäre eine Umsetzung unter Einschluss der nunmehr hinzuzufügenden Worte erfolgt.157 Über diese Argumentation wäre wohl auch eine teleologische Reduktion des Umsetzungs- 40 rechts möglich. Ob diese allerdings soweit gehen würde, wie die vom BGH in der Rechtssache Quelle vorgenommene erscheint zweifelhaft. In Quelle hat der BGH, einer Entscheidung des Gerichtshofs folgend,158 §§ 439 Abs. 4 BGB in Verbindung mit § 346 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BGB (Wertersatzanspruch des Verkäufers für die Nutzung der mangelhaften Sache bei Rückgabe und Nachlieferung einer mangelfreien Sache) dahingehend teleologisch reduziert, dass diese Vorschrift im Falle des Verbrauchsgüterkaufs keine Anwendung findet.159 Ein vergleichbares Problem stellt sich etwa im Hinblick auf sec. 48E Sale of Goods Act 1979 (SGA), die im Zuge der Umsetzung der Kaufgewährleistungsrichtlinie160 eingefügt wurde. Die Vorschrift räumt in ihren Absätzen (2), (3) und (4) dem Gericht die Befugnis ein, nach seinem Ermessen zu entscheiden, ob der vom Verkäufer gewählte Rechtsbehelf passend ist und so zu verfahren, als hätte der Verbraucher den vom Gericht als passend angesehenen Rechtsbehelf gewählt.161 Dem Wortlaut nach ist die Ermessensausübung unbeschränkt und nicht an die materiellen Voraussetzungen der Unverhältnismäßigkeit nach sec. 48B(3) und (4) SGA geknüpft. Die hierin liegende Verkürzung

_____ 148 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 562 per Lord Oliver. 149 EuGH v. 7.2.1985 – Rs. 19/83 Wendelboe, Slg. 1985, 457. 150 EuGH v. 11.7.1985 – Rs. 105/84 Danmols, Slg. 1985, 2639. 151 EuGH v. 10.2.1988 – Rs. 324/86 Daddy’s Dance Hall, Slg. 1988, 739. 152 EuGH v. 15.6.1988 – Rs. 101/88 Bork, Slg. 1988, 3057. 153 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 per Lord Oliver. 154 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 per Lord Oliver. 155 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 576 f. per Lord Oliver. 156 Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 577 per Lord Oliver. Dies entspricht nunmehr der Regelung in reg. 4(3) Transfer of Undertakings (Protection of Employment) Regulations 2006. 157 de Bùrca, MLR 55 (1992), 215, 222. 158 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685. 159 BGHZ 179, 27. 160 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 161 Vgl. Arnold/Unberath, ZEuP 2004, 366, 382. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

der Verbraucherrechte dürfte durch eine richtlinienkonforme Auslegung zu beheben sein, indem ein entsprechender Verweis auf die Voraussetzungen der sec. 48B(3) und (4) SGA in sec. 48E SGA hinein gelesen wird. Problematischer erscheint sec. 48E(6) SGA, wonach das Gericht eine Anordnung nach dieser Vorschrift mit Bedingungen bezüglich Schadensersatz, Kaufpreiszahlung und anderweitig versehen kann, so wie es ihm gerecht erscheint. Dieser weite Spielraum des Gerichts bedeutet erhebliche Rechtsunsicherheit für den Verbraucher, kann dieser doch, selbst bei feststehender Vertragswidrigkeit, nur schwer abschätzen, was das Gericht zusprechen wird. Die Vermutung der Richtlinienwidrigkeit liegt deshalb nahe.162 Insbesondere erscheint es unwahrscheinlich, dass die englischen Gerichte zu einer teleologischen Reduktion auf Null bereit sein werden, würde doch die Vorschrift hierdurch, entgegen dem offenbaren Willen des Gesetzgebers, jede Bedeutung verlieren.

b) Sonstiges Recht im Anwendungsbereich einer Richtlinie 41 Die Auslegung sonstigen Rechts im Anwendungsbereich einer Richtlinie orientiert sich viel en-

ger an der traditionellen Auslegungslehre.163 Dies lag ursprünglich daran, dass in diesen Fällen ein Umsetzungswille entweder fehlte oder jedenfalls schwieriger zu konstruieren war, selbst wenn der Gesetzgeber davon ausging, dass das hergebrachte Recht bereits den Anforderungen der Richtlinie genügte. 42

In Duke v GEC Reliance164 ging es um die Auslegung von sec. 6(4) des Sex Discrimination Act 1975 (SDA), die „Bestimmungen bezüglich des Todes oder der Pensionierung“ („provisions in relation to death or retirement“) vom Diskriminierungsverbot nach sec. 6(1) und (2) SDA ausnahm. Im Unternehmen des Beklagten bestand die Praxis, Arbeitnehmerinnen mit Erreichen des 60., Arbeitnehmer dagegen erst mit Erreichen des 65. Lebensjahres zwangsweise zu pensionieren. Lord Templeman kam nach einer Untersuchung der Gesetzgebungsgeschichte zu dem Ergebnis, dass der Gesetzgeber einerseits die Möglichkeit der Diskriminierung im Hinblick auf das Pensionierungsalter beibehalten wollte und anderseits davon ausging, dass dies mit dem Unionsrecht, insbesondere dem damaligen Art. 141 EG (nunmehr Art. 157 AEUV) und der Gleichbehandlungsrichtlinie (Entgelt), vereinbar sei.165 Als der SDA verabschiedet wurde, lag die Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen)166 lediglich als Entwurf vor. Hätten Regierung und Gesetzgeber die Abschaffung der weithin praktizierten Differenzierung hinsichtlich des Pensionierungsalters bezweckt, so wäre sec. 6(4) SDA anders formuliert worden, um deutlich zu machen, dass mit einer hergebrachten Praxis gebrochen werden soll.167 Die Regierung sei davon ausgegangen, dass auch die Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) eine Diskriminierung bezüglich des Pensionierungsalters nicht verbiete.168 In Marshall entschied der Gerichtshof allerdings entgegengesetzt.169 Zwar sei ein britisches Gericht stets gewillt und bemüht, zu einem Auslegungsergebnis zu gelangen, das mit dem Unionsrecht in Einklang steht. Die Auslegung eines britischen Gesetzes unterliege jedoch der Beurteilung durch die britischen Gerichte und knüpfe an den Wortlaut an, wie er im Lichte der Umstände

_____ 162 Arnold/Unberath, ZEuP 2004, 366, 383. 163 Vgl. Craig, in: Andenas/Jacobs (Hrsg.), European Community Law in the English Courts, S. 47 ff.; Fairhurst, Law of the European Union, S. 297. 164 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618. 165 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 629–634 per Lord Templeman. 166 Richtlinie 76/207/EWG des Rates v. 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 1976 L 39/40; inzwischen neugefasst als Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.7.2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl. 2006 L 204/ 23. 167 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 633 per Lord Templeman. 168 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 637 per Lord Templeman. 169 EuGH v. 26.2.1986 – Rs. 152/84 Marshall, Slg. 1986, 723. Schillig

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zur Zeit der Verabschiedung des Gesetzes zu verstehen sei. Der SDA erging nicht zur Umsetzung der Gleichbehandlungsrichtlinie und bezweckte die Beibehaltung von diskriminierenden Pensionierungsaltersgrenzen.170 Die in sec. 6(4) SGA verwendeten Begriffe könnten vernünftigerweise nicht anders verstanden werden. Sec. 2(4) ECA erlaube einem britischen Gericht nicht, die Gesetzesbegriffe zu verfälschen, um einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinie im Privatrechtsverhältnis zum Durchbruch zu verhelfen, sondern gelte nur für unmittelbar anwendbares Unionsrecht.171 Die Entscheidung des Gerichtshofs in von Colson biete keine Grundlage dafür, dass ein mitgliedstaatliches Gericht den Wortlaut eines nationalen Gesetzes verfälschen müsse, um dieses mit Unionsrecht in Einklang zu bringen, das nicht unmittelbar anwendbar ist.172 Auch wäre es unfair gegenüber dem Beklagten, wollte man den SDA im Lichte der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) und der Marshall-Entscheidung des Gerichtshofs auslegen. Die übrigen Law Lords stimmten dem zu.173

Mit der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Marleasing,174 wonach die Pflicht zu 43 richtlinienkonformer Auslegung das gesamte nationale Recht, auch das vor der Richtlinie ergangene, erfasst,175 erschien jedoch eine Modifikation dieser Grundsätze erforderlich. Webb v EMO Air Cargo176 betraf die Auslegung von sec. 1(1) und 5(3) SDA. Für den zum Nachweis einer rechts- 44 widrigen Diskriminierung erforderlichen Vergleich der Situation der Frau mit derjenigen eines Mannes verlangt sec. 5(3) SGA, dass die maßgeblichen Umstände (relevant circumstances) in beiden Fällen im Wesentlichen identisch sind. Die Klägerin war als Mutterschaftsvertretung für eine schwangere Arbeitnehmerin eingestellt worden. Der Arbeitsvertrag der Klägerin war unbefristet. Ca. drei Wochen nach Arbeitsbeginn stellte die Klägerin fest, dass sie selbst schwanger war und etwa zur gleichen Zeit, wie die Arbeitnehmerin, zu deren Vertretung sie eingestellt worden war, schwangerschaftsbedingt ausfallen würde. Nach Lord Keith war die Situation der Klägerin nicht mit irgendeinem Mann, sondern mit einem Mann, der für den maßgeblichen Zeitraum aus irgendwelchen Gründen ebenfalls nicht zur Verfügung steht, zu vergleichen; dies seien die „relevanten Umstände“ im Sinne der sec. 5(3) SDA. Der genaue Grund für die Abwesenheit sei unerheblich. Bei richtiger Auslegung liege daher keine Diskriminierung vor, da auch ein Mann bei Abwesenheit zum maßgeblichen Zeitraum entlassen worden wäre.177 Lord Keith hatte jedoch Zweifel daran, ob diese Auslegung mit der Gleichbehandlungsrichtlinie vereinbar sei. Ein nationales Gericht müsse das nationale Recht im Anwendungsbereich der Richtlinie so auslegen, dass das Ergebnis mit der Auslegung der Richtlinie durch den Gerichtshof übereinstimmt, jedoch nur, soweit dies möglich sei, ohne die Bedeutung der nationalen Vorschriften zu verzerren. Dies gelte, nach Marleasing, unabhängig davon, ob die nationale Norm nach oder, wie im zu entscheidenden Fall, vor der Richtlinie erging.178 In jedem Fall müsse aber die nationale Vorschrift für eine Auslegung im Sinne der Bedeutung der Richtlinie offen sein.179 Das House of Lords legte sodann dem Gerichthof im Wege der Vorabentscheidung die Frage vor, ob ein Sachverhalt, wie derjenige im Ausgangsverfahren, eine Diskriminierung im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) darstellt, was der Gerichtshof bejahte.180 Nach Lord Keith könne diese Entscheidung in den nationalen Regelungsrahmen dadurch eingefügt werden, dass man annimmt, für eine Frau mit unbefristetem Arbeitsvertrag, sei die Tatsache, dass sie wegen Schwan-

_____ 170 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 638 f. per Lord Templeman. 171 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 639 f. per Lord Templeman. 172 Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 641 per Lord Templeman. 173 Die Entscheidung Finnegan v Clowney Youth Training Programme Ltd. [1990] 2 A.C. 407, betraf einen identischen Sachverhalt. Allerdings war die zu interpretierende nationale Vorschrift für Nordirland nach Erlass der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) ergangen. Gleichwohl kam das House of Lords zu dem Ergebnis, dass eine Auslegung der mit sec. 6(4) SDA identischen Vorschrift im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie (Arbeitsbedingungen) nicht dem Willen des nationalen Gesetzgebers entsprach. 174 EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135. 175 Dazu ausführlich W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13 Rn. 15 f. 176 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49. 177 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 55 per Lord Keith. 178 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 59 per Lord Keith. 179 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. [1993] 1 W.L.R. 49, 59 per Lord Keith. 180 EuGH v. 14.7.1994 – Rs. C-32/93 Webb ./. EMO Air Cargo, Slg. 1994, I-3567. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

gerschaft vorübergehend zu einer Zeit arbeitsunfähig ist, zu der der Arbeitgeber auf ihre Arbeitskraft ganz besonders angewiesen ist, ein „relevanter Umstand“ im Sinne der sec. 5(3) SDA; ein Umstand also, der auf einen hypothetischen Mann als Vergleichsmaßstab nicht zutreffen würde.181

45 Dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Für Vorschriften im Anwendungsbereich einer Richt-

linie wird der Umsetzungswille des nationalen Gesetzgebers vermutet. Diese Vermutung gilt als widerlegt, soweit die gesetzliche Regelung eindeutig ist und nach ihrem Wortlaut nicht im Sinne der Richtlinienvorgaben verstanden werden kann. Eine richtlinienkonforme Auslegung kommt damit stets nur dann in Betracht, wenn die verwendeten Begriffe mehrdeutig sind und einen entsprechenden Auslegungsspielraum belassen. Selbst in diesem Fall kann die Vermutung des Umsetzungswillens aber widerlegt werden, nämlich dann, wenn nach der Gesetzgebungsgeschichte, wie im Falle Duke, oder aufgrund sonstiger Anhaltspunkte eine entgegengesetzte Intention des Gesetzgebers nahe liegt. Diese Rechtslage ist mit den Vorgaben des Gerichtshofs zur richtlinienkonformen Auslegung vereinbar. Denn danach sind die Grenzen der europarechtlichen Verpflichtung durch das nach der nationalen Methodenlehre Machbare definiert.182 Zudem ist der Grundsatz der Rechtssicherheit zu berücksichtigen.183 Damit erscheint es gerechtfertigt, Vorkehrungen dagegen zu treffen, dass der Bürger durch eine Auslegung überrascht wird, die dem Wortlaut des Gesetzes und/oder der erkennbaren Intention des nationalen Gesetzgebers zuwiderläuft. 46 Diese von der des spezifischen Umsetzungsrechts abweichende Behandlung erklärt sich durch die relative Stärke des vermuteten Umsetzungswillens. Im Bereich des spezifischen Umsetzungsrechts ist dieser so stark, dass er sich gegebenenfalls auch über den eindeutig entgegenstehenden Wortlaut hinwegsetzen kann. Aber auch hier ist die Vermutung widerleglich. Dies ergibt sich aus dem immer wieder betonten Erfordernis, dass das Umsetzungsgesetz vernünftigerweise so ausgelegt werden kann, dass es mit den Anforderungen der Richtlinie übereinstimmt.184 Wo insoweit die Grenzen zu ziehen sind, lässt sich ex ante kaum bestimmen.

c) Common Law 47 Mitunter hat eine Richtlinie auch Auswirkungen auf das Verständnis des Common Law, hier ver-

standen als das traditionelle, nicht kodifizierte Fallrecht. Ein wichtiges Beispiel ist die Umsetzung von Art. 7 der Publizitätsrichtlinie185 in sec. 51 Companies Act 2006 (CA). Die Vorschrift bestimmt, dass diejenigen, die im Namen einer in Gründung befindlichen Gesellschaft gehandelt haben, für die sich aus ihrem Handeln ergebenden Verpflichtungen unbeschränkt persönlich und gesamtschuldnerisch haften, soweit nichts anders vereinbart wurde und die Gesellschaft die Verpflichtungen nicht übernimmt. Im Anwendungsbereich von Art. 7 der Publizitätsrichtlinie bedeutete dies einen gewaltigen 48 Einschnitt in die hergebrachten Grundsätze des Common Law. Diese finden sich zusammenge-

_____ 181 Webb v EMO Air Cargo (UK) Ltd. (No 2) [1995] 1 W.L.R. 1454, 1459 per Lord Keith. 182 Vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 80 ff. 183 EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 110. 184 Vgl. etwa Litster v Forth Dry Dock & Engineering Co. Ltd. [1990] 1 A.C. 546, 559 per Lord Oliver. 185 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Art. 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8; nunmehr Art. 8 der Richtlinie 2009/101/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2 des Vertrags im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 2009 L 258/11.

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fasst bei Lord Denning in Phonogram Ltd v Lane.186 Grundsätzlich gilt: Handelt jemand als Vertreter für eine nichtexistente Gesellschaft, so kommt der Vertrag mit dem Vertreter zustande und trifft ihn die vertragliche Haftung persönlich. Insoweit war jedoch danach zu differenzieren, wie die entsprechenden Vertragsdokumente unterzeichnet worden waren. Handelte jemand als „Vertreter für X Ltd.“ oder „im Namen von X Ltd.“ während die Gesellschaft (noch) nicht existierte, so haftete er als Vertreter persönlich aus dem Vertrag. Unterzeichnete er dagegen als „X Ltd. handelnd durch ihren Geschäftsführer“ so kam ein Vertrag nicht zustande, soweit die Gesellschaft als Vertragspartner nicht existent war. Der Handelnde haftete jedenfalls nicht aus Vertrag. Anders nunmehr im Anwendungsbereich von sec. 51 CA: Der Handelnde haftet stets persönlich und unabhängig davon, in welcher Form er auftritt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die persönliche Haftung ausdrücklich ausgeschlossen ist, wobei ein Auftreten als Vertreter allein nicht ausreicht.187 Außerhalb des Anwendungsbereichs von sec. 51 CA gelten die Grundsätze des Common Law 49 aber fort. Nach Davies hatte freilich die Umsetzungsvorschrift auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der hergebrachten Grundsätze durch die Gerichte.188 In Phonogram Ltd. v Lane war Lord Oliver der Ansicht, dass die obige formale Differenzierung nach Art und Weise der Vertragsunterzeichnung das Common Law nicht richtig wiedergebe. Es käme vielmehr auf die wahre Intention des Handelnden an, so, wie sie sich aus dem Vertrag als Ganzes ergibt. Solle danach der Vertrag direkt zwischen dem Vertretenen (principal) und der anderen Partei zustandekommen, so wäre bei Nichtexistenz des Vertretenen der Vertrag nichtig. Soll dagegen der Vertrag, im Interesse und für den Vertretenen, mit dem Vertreter selbst zustande kommen, so ist letzterer durch den Vertrag gebunden und haftet persönlich.189 Diese Auslegung des Common Law hat der Court of Appeal später in Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie190 übernommen. Damit sind sec. 51 CA und Common Law einander näher gerückt, wenn auch Unterschiede verbleiben.191 In jedem Falle wurde aber die Position des Vertragspartners auch nach Common Law gestärkt. Dies steht im Einklang mit dem Schutzzweck der Richtlinie und ist wohl auf deren Einfluss zurückzuführen.

_____ 186 Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938, 943 f. per Lord Denning, mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 187 Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938, 944 per Lord Denning. 188 Davies/Worthington, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, S. 122, 123. 189 Phonogram Ltd. v Lane [1982] 1 Q.B. 938, 945 per Lord Oliver. Dem englischen Recht ist die Unterscheidung von direkter und indirekter Stellvertretung fremd. Erfasst werden sowohl diejenigen Fälle, in denen der Vertreter ausdrücklich im Namen des Vertretenen handelt (disclosed agency) als auch Fälle, in denen die Vertretung nicht offengelegt wird, der Vertreter also im eigenen Namen handelt (undisclosed agency). Im ersteren Fall wird der Vertretene unmittelbar durch das vom Vertreter getätigte Geschäft berechtigt und verpflichtet; im letzteren Fall kommt das Geschäft zwar zunächst zwischen Vertreter und dem dritten Vertragspartner zustande, der Vertretene kann jedoch das Geschäft an sich ziehen, während der Vertragspartner sich wahlweise neben dem Vertreter auch an den Vertretenen halten kann; vgl. Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 432 f. 190 Cotronic (UK) Ltd. v Dezonie [1991] B.C.C. 200, 205 ff. per Dillon LJ. In diesem Fall wurde die Anwendbarkeit von sec. 51 Companies Act 2006 verneint. Im Zeitpunkt der maßgeblichen Handlung gingen die Parteien davon aus, dass die Gesellschaft existierte. Tatsächlich war sie im Register gelöscht worden. Nach Ansicht des Gerichts war der Vertrag nicht für die gleichnamige Gesellschaft geschlossen worden, die die Parteien gründeten, nachdem sie von der Löschung der ursprünglichen Gesellschaft erfuhren. Vgl. weiterhin Badgerhill Properties Ltd v Cottrell [1991] B.C.C. 463, 466 f. per Wolf LJ. 191 Davies/Worthington, Gower and Davies’ Principles of Modern Company Law, S. 123: Nach sec. 51 Companies Act 2006 ist der Vertragspartner grundsätzlich geschützt, es sei denn, dass er hierauf verzichtet. Nach Common Law kommt es dagegen entscheidend auf die Intention der Parteien an.

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3. Teil: Besonderer Teil

d) Überschießende Umsetzung 50 Eine überschießende Umsetzung192 ist im Vereinigten Königreich selten. In den meisten Fällen

orientiert sich die Umsetzungsregelung streng am Anwendungsbereich der Richtlinie. Ansonsten beschränkt sich eine überschießende Umsetzung meist auf eine marginale Erweiterung des Anwendungsbereichs.193 So können beispielsweise, über einen erweiterten Verbraucherbegriff, die im Zuge der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie eingeführten Rechtsbehelfe des Käufers auch juristischen Personen zustehen.194 Soweit ersichtlich, sind Auslegungsfragen des Rechts im überschießenden Bereich noch 51 nicht vor die Gerichte gelangt. Entscheidend dürfte wohl wiederum der Umsetzungswille des Gesetzgebers sein. Soweit keine gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, spricht wohl eine Vermutung dafür, dass auch das Recht im überschießenden Bereich außerhalb des Anwendungsbereichs der Richtlinie richtlinienkonform auszulegen ist, soweit dies nach den allgemeinen Grundsätzen in Betracht kommt. Will der Gesetzgeber dies nicht, so muss er es deutlich machen.

e) Vorwirkung 52 Nach Adeneler beginnt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erst mit Ablauf der Um-

setzungsfrist. Bereits ab dem Inkrafttreten der Richtlinie sind jedoch die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Erreichung des mit der Richtlinie verfolgten Ziels nach Ablauf der Umsetzungsfrist ernsthaft gefährden würde.195 Inwieweit die englischen Gerichte diesem Frustrationsverbot nachkommen können, dürfte vom Einzelfall abhängen. Soweit ersichtlich hat auch dieses Problem die Gerichte bisher noch nicht beschäftigt. Ist das betroffene Rechtsgebiet bisher noch nicht gesetzlich geregelt und unterliegt es damit 53 den Grundsätzen des Common Law, so dürfte eine Entscheidung, die dem Frustrationsverbot entspricht selbst dann möglich sein, wenn die Präjudizien in die entgegengesetzte Richtung weisen. Über sec. 2 ECA sind die Gerichte auch an das Frustrationsverbot gebunden. Mit Verabschiedung der Richtlinie hat sich damit die Rechtslage geändert, so dass die ratio decidendi der Präjudizien nicht mehr verbindlich ist. Bleibt der Gesetzgeber untätig, so dürfte ein entgegenstehender Wille kaum auszumachen sein. Andererseits dürfte im Falle einer eindeutigen, der Richtlinie zuwiderlaufenden nationalen Regelung und in Abwesenheit etwaiger Umsetzungsbemühungen eine Auslegung im Einklang mit dem Frustrationsverbot nicht in Betracht kommen.196 Besteht dagegen ein Auslegungsspielraum, so dürfte in dessen Rahmen das zum Common Law Gesagte entsprechend gelten.

V. Fazit 54 Über den ECA bestimmt der innerstaatliche Verfassungsgrundsatz der Parlamentssouveränität

den Umgang der Gerichte mit dem Europäischen Privatrecht und dem europarechtlich determinierten nationalen Recht. Gleichwohl haben sich die Gerichte des Vereinigten Königreichs als

_____ 192 Ausführlich Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14. 193 Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.), Consumer Law Compendium, S. 165. 194 Die für den SGA grundsätzlich maßgebliche Verbraucherdefinition ergibt sich dabei aus sec. 12 UCTA, vgl. Schulte-Nölke/Twigg-Flesner/Ebers (Hrsg.), Consumer Law Compendium, S. 659; Arnold/Unberath, ZEuP 2004, 366, 375 f. 195 Vgl. EuGH v. 4.7.2006 – Rs. C-212/04 Adeneler u.a., Slg. 2006, I-6057 Rn. 115, 117, 123. Es geht lediglich um ein Frustrationsverbot, vgl. Röthel, ZEuP 2009, 34, 47 ff. Ausführlich dazu Hofmann, in diesem Band, § 15. 196 Vgl. insoweit Duke v GEC Reliance Ltd. [1988] 1 A.C. 618, 634 per Lord Templeman. Schillig

§ 25 Vereinigtes Königreich

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hinreichend flexibel erwiesen, den Anforderungen des Gerichthofs zu genügen. Mit der Anbindung der richtlinienkonformen Auslegung an die nationalen Methodenlehren unter Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit hat der Gerichtshof hierfür selbst die Voraussetzungen geschaffen. Insgesamt erscheint aber doch die Vorgehensweise der Gerichte etwas zurückhaltend. Dies entspricht freilich dem Umgang mit dem Gesetzesrecht ganz allgemein. Ebenso wie dort dürfte die Ursache in einem ausgeprägten Konservatismus sowie in der Überzeugung wurzeln, dass jede Intervention des Gesetzgebers, des nationalen wie des europäischen, in die hergebrachten und organisch gewachsenen Strukturen des Common Law grundsätzlich mit Misstrauen zu betrachten ist. Zudem dient die Begrenzung des Anwendungsbereichs national wie europarechtlich determinierten Gesetzesrechts der Sicherung des eigenen Machtbereichs der Gerichte bei der Fortbildung des Common Law. Was bedeutet dies nun für die Rolle der Gerichte im Rahmen der Europäisierung des Privat- 55 rechts? Die Anwendung des vom Gerichtshof entwickelten formalen Methodenkanons bei der Auslegung Europäischen Privatrechts, insbesondere des Richtlinienrechts, scheint den Gerichten des Vereinigten Königreichs keine allzu großen Schwierigkeiten zu bereiten. Insoweit ist eine durch methodische Besonderheiten bedingte Aufsplitterung des Sekundärrechts kaum zu befürchten. Freilich darf eine Europäische Methodenlehre bei einer beschreibenden Darstellung der verwendeten Auslegungskriterien nicht stehen bleiben. Erforderlich ist vielmehr die Entwicklung einer normativen Auslegungs- und Konkretisierungslehre anhand der Wertentscheidungen und Prinzipien, die der europäischen Wirtschaftsverfassung und dem Sekundärrecht zugrundeliegen.197 Dagegen sind der Europäisierung des Privatrechts über eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts deutliche Grenzen gesetzt. Trotz einer gewissen Annäherung an die kontinentalen Rechtsordnungen weist die nationale Methodenlehre noch immer gewichtige Unterschiede auf, die auf das materielle Recht durchschlagen können. Diese Gefahr ist freilich dem Konzept der Rechtsangleichung sowie dem Institut der richtlinienkonformen Auslegung immanent und europarechtlich hinzunehmen. Letztlich kann dem nur durch Rechtsvereinheitlichung im Verordnungswege abgeholfen werden. Ob und in welchem Umfang dies künftig politisch gewollt und kompetenziell machbar sein wird, bleibt abzuwarten.

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_____ 197 Dazu Schillig, Konkretisierungskompetenz und Konkretisierungsmethoden, S. 277 ff. Schillig

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3. Teil: Besonderer Teil

§ 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien 3. Teil: Besonderer Teil

Remo Caponi/Andreas Piekenbrock § 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien Caponi/Piekenbrock Literatur Ruggiero Cafari Panico, Per un’interpretazione conforme, Dir. pubbl. comp. europeo 1999, 383–396; Remo Caponi, Democrazia, integrazione europea, circuito delle corti costituzionali (dopo il Lissabon-Urteil), Riv. ital. dir. pubbl. comunitario 2010, 387–405; ders., Salvaguardare l’Euro con ogni mezzo? Il primo rinvio pregiudiziale della Corte costituzionale tedesca alla Corte di giustizia, Giornale di diritto amministrativo 2014, 469–478; Marta Cartabia, Principi inviolabili e integrazione europea (1995); dies., Nuovi sviluppi delle „competenze comunitarie“ della Corte costituzionale, Giur. cost. I 1989, 1012–1023; Roberto Conti, L’effettività del diritto privato e il ruolo del giudice, EDP 2007, 479–520; Chiara Di Seri, Un ‘tentativo’ di applicazione dei „controlimiti“, Giur. cost. 2005, 3408–3419; Giorgio Gaja, Adelina Adinolfi, Introduzione al diritto dell’Unione europea (2010); Thomas Henninger, Europäisches Privatrecht und Methode (2009), S. 168–175; Hasso Hofmann, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, in: Ulrike Müßig (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt – Symposion für Dietmar Willoweit (2006), S. 269–285; Josef Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: Joachim Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern (1997), S. 1239–1268; Franz C. Mayer, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Armin v. Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2. Aufl. 2009), S. 559–607; Luigi Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica (1997); Giuseppe Morbidelli, Controlimiti o contro la pregiudiziale comunitaria, Giur. cost. 2005, 3404–3407; Riccardo Omodei-Salè, Italienische Rechtsprechung zum Gemeinschaftsprivatrecht, GPR 2003/04, 73, 175–176, 251–252; 2005, 115–117; 2006, 69–70; 2007, 112–113; 2008, 11–13; Fritz Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen (3. Aufl. 2007), S. 135–182; Alessandro Pizzorusso, Comparazione giuridica e sistema delle fonti del diritto (2005); Michele Ruvolo, Interpretazione conforme e situazioni giuridiche soggettive, EDP 2006, 1407–1464; Antonio Tizzano, La tutela dei privati nei confronti degli Stati membri dell’Unione europea, Foro it. 1995 IV, 13–32; Carl Schmitt, Politische Theologie, Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (2. Ausg. 1934/ 9. Aufl. 2009); Francesco Viola/Giuseppe Zaccaria, Diritto e interpretazione (1999); Armin v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung – Eine Neubestimmung der Rechtsetzung und des Regierungssystems unter dem Grundgesetz in der Perspektive gemeineuropäischer Dogmatik (2000).

I. II.

III.

IV.

Übersicht Einleitung | 1 Grundlagen: Die Akzeptanz der EU in Italien | 2–10 1. Die Teilnahme Italiens am Aufbau Europas | 3–4 2. Bedeutung der gubernativen Rechtsetzung in Italien | 5–6 3. Jedes Europa rettet Italien! | 7 4. Unionsrecht in Theorie und Praxis | 8–9 5. Informationslücken | 10 Unionsrecht und italienisches Recht | 11–26 1. Der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs | 12–18 2. Die Doktrin der „controlimiti“: Stand der Dinge | 19–22 3. Die Doktrin der „controlimiti“: Kritische Aspekte | 23–26 Die Umsetzung des Unionsrechts durch nationale Rechtsakte | 27–33

Caponi/Piekenbrock

1.

V.

„Gemeinschaftsrechtsgesetz“, europäisches Delegationsgesetz und Europagesetz | 29–30 2. Die Rolle der Regionen | 31–33 Auslegung von Rechtsnormen: Grundlagen und aktuelle Tendenzen | 34–62 1. Gesetzliche Auslegungsregeln | 35–38 2. Die Wissenschaft | 39–41 3. Die Rechtsprechung | 42–62 a) Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs | 43 aa) Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzung | 44–45 bb) Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Wachkomapatienten | 46–47 b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede | 48–49

§ 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien

c) d)

Der Kassationshof als ‚faktischer Verfassungsgerichtshof‘ | 50–55 Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde | 56–57

595

VI. Auslegung des Unionsrechts | 58–69 VII. Schluss | 70

I. Einleitung Dieser Länderbericht soll dem deutschen Leser einen ersten Eindruck von den Problemen bei der 1 Anwendung des Unionsrechts im Rahmen der italienischen Rechtsordnung geben.

II. Grundlagen: Die Akzeptanz der EU in Italien Die Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts ist im Wesentlichen den Mitgliedstaaten 2 anvertraut und damit dem Intellekt, der Kultur und dem Willen der EU-Bürger in ihren jeweiligen Heimatländern. Daher soll hier kurz auf die politische und soziale Akzeptanz der EU in Italien eingegangen werden.

1. Die Teilnahme Italiens am Aufbau Europas Italien hat von Anfang an am Aufbau Europas teilgenommen und die europäische Idee zumin- 3 dest in der politischen Öffentlichkeit immer unterstützt. Dies zeigen die Leistungen von Politikern wie Altiero Spinelli, dem Gründer des Movimento federalista europeo (1943), und Alcide De Gasperi, der als Chef der italienischen Regierung zu Beginn der fünfziger Jahre zusammen mit Robert Schumann und Konrad Adenauer die ersten Schritte zur europäischen Integration unternommen hat. Auch die Teilnahme Italiens an den weiteren Schritten bis hin zum Vertrag von Lissabon ist 4 in den politischen und staatlichen Institutionen nie ernsthaft in Frage gestellt worden. Da Volksabstimmungen über die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge nach Art. 75 Abs. 2 der italienischen Verfassung1 unzulässig sind, kann sich die Zustimmung wie in Deutschland nicht auf den unmittelbar zum Ausdruck gebrachten Volkswillen stützen.

2. Bedeutung der gubernativen Rechtsetzung in Italien Gemäßigter als in anderen Ländern ist auch die Diskussion über die ungenügende Teilnahme 5 der nationalen Parlamente an der politischen Entscheidungsfindung und über den begrenzten Gestaltungsspielraum, den das Unionsrecht dem nationalen Gesetzgeber belässt. Dabei spielt sicherlich eine gewisse Rolle, dass die gubernative Rechtssetzung nach Art. 76, 77 der Verfassung sowohl durch Eilmaßnahmen als auch durch Gesetzgebungsdelegation weit verbreitet ist2 und viel weiter reicht als etwa nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG.

_____ 1 Der Verfassungstext ist mit der deutschen Übersetzung für Trentino-Südtirol abrufbar unter www.regione.taa.it/ normativa/costituzione.pdf. 2 Vgl. v. Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 295 ff. Caponi/Piekenbrock

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6

3. Teil: Besonderer Teil

Dass das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit der Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse im Lissabon-Urteil3 als Inbegriff souveräner Staatlichkeit angesehen hat, ist aber auch in Italien aufmerksam registriert worden.4

3. Jedes Europa rettet Italien! 7 Darüber hinaus werden die Bindungen und Verpflichtungen durch die Teilnahme am europäi-

schen Integrationsprozess als Chance wahrgenommen, die eigenen gesellschaftlichen Probleme wie das Nord-Süd-Gefälle und die Ineffektivität der öffentlichen Verwaltung zu lösen. Die nationalen Anstrengungen zur Teilnahme an der Währungsunion und zur Überwindung der Staatsschuldenkrise sind dafür ein sichtbarer Beleg.

4. Unionsrecht in Theorie und Praxis 8 Italien ist jedoch ein Land, in dem der Unterschied zwischen Worten und Taten besonders groß

ist – und damit auch der Unterschied zwischen Absichtserklärungen auf der einen Seite und der tatsächlichen Bereitschaft und Fähigkeit, sie zu verwirklichen, auf der anderen. Darunter leiden auch die Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts – ebenso wie des Rechts im Allgemeinen. Als Paraphrase eines bekannten Gegensatzes kann man für die italienische Wirklichkeit daher sagen, dass das Unionsrecht in the books und in action zwei sehr unterschiedliche Paar Schuhe sind. Deshalb lässt sich vermuten, dass die unbedingte Teilnahme an der Europäischen Union 9 auch auf den Grenzen und besonderen Umständen beruht, auf die die Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts in der italienischen Wirklichkeit trifft. Oder plastischer ausgedrückt: Die Teilnahme am Integrationsprozess fällt leichter, wenn die sich daraus ergebenden Folgen nicht zu ernst genommen werden.

5. Informationslücken 10 Schließlich ist die Teilnahme am europäischen Projekt außerhalb der intellektuellen Elite als

schicksalhaft angesehen worden und niemals Gegenstand einer tiefgreifenden Debatte einer informierten Öffentlichkeit gewesen. Dies belegen selbst fehlende Grundkenntnisse, die beim Lesen italienischer Tageszeitungen zu Tage treten. So verwechseln nicht nur einfache Bürger, sondern auch namhafte Journalisten beispielsweise den EuGH und den Straßburger Gerichtshof für Menschenrechte.

III. Unionsrecht und italienisches Recht 11 Die italienische Rechtsordnung kennt wie die deutsche eine zentralisierte Prüfung der Verfas-

sungskonformität der Gesetze durch den Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale), auch wenn dieser nicht von den Bürgern mit einer (Rechtssatz- oder Urteils-)Verfassungsbeschwerde

_____ 3 BVerfGE 123, 267. 4 Vgl. statt aller Caponi, Riv. Ital. Dir. Pubbl. Comunitario 2010, 387 mwN. Caponi/Piekenbrock

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angerufen werden kann, sondern nur – vergleichbar mit der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) – in via principale auf Antrag der Regierung bzw. einer Region oder – vergleichbar mit der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) – in via incidentale durch Vorlage eines Gerichts. Da sich das Bundesverfassungsgericht intensiv mit dem Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen (Verfassungs-)Recht befasst hat,5 dürfte es den deutschen Leser besonders interessieren, wie sich der italienische Verfassungsgerichtshof zur unmittelbaren Geltung und zum Vorrang des Unionsrechts geäußert hat.

1. Der Standpunkt des Verfassungsgerichtshofs Der Verfassungsgerichtshof hat die Grundlage des Vorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht zunächst in Art. 11 der Verfassung gesehen. Dort steht seit der Gründung der Republik geschrieben: „Italien stimmt unter der Bedingung der Gleichstellung mit den übrigen Staaten den Beschränkungen der staatlichen Souveränität zu, sofern sie für eine Rechtsordnung nötig sind, die den Frieden und die Gerechtigkeit unter den Völkern gewährleistet; es fördert und begünstigt die auf diesen Zweck gerichteten überstaatlichen Zusammenschlüsse.“6 In seiner Grundsatzentscheidung vom 8. Juni 1984, Nr. 170,7 hat der Verfassungsgerichtshof dazu entschieden: „Konfligierende Bestimmungen des nationalen Rechts können der Anerkennung der Geltungskraft, die der Vertrag der Gemeinschaftsrechtsordnung verleiht, indem er es als produktiven Akt unmittelbar anwendbarer Regeln ausgestaltet, nicht entgegenstehen. Gegenüber der Sphäre dieses Aktes bleibt das staatliche Recht zwar in Kraft; es ist jedoch Teil einer Rechtsordnung, die sich in die Normsetzung der getrennten und autonomen Gemeinschaftsrechtsordnung nicht einmischen will, obgleich sie deren Beachtung auf dem Staatsgebiet garantiert.“ Ganz offensichtlich sollte dieses Urteil der Rechtsprechung des EuGH Rechnung tragen, die insbesondere in der Entscheidung der Rechtssache Simmenthal8 zum Ausdruck gekommen ist. Dabei erscheint bemerkenswert, dass diese Grundsatzentscheidung auf einer Vorlage eines italienischen Gerichts in einer abgabenrechtlichen Streitigkeit beruht und aus einer Zeit stammt, als der deutsche Bundesfinanzhof noch eisern am Vorrang des nationalen Steuerrechts gegenüber dem Sekundärrecht festhalten wollte.9 In den folgenden Jahren hat der Verfassungsgerichtshof die These vom Vorrang des Unionsrechts und der Nichtanwendung entgegenstehender nationaler Normen auf alle direkt anwend-

_____ 5 BVerfGE 37, 271, 277 ff. – Solange I; 73, 339, 374 ff. – Solange II; 89, 155, 188 – Maastricht-Vertrag; 102, 147, 161 ff. – Bananenmarktordnung; 113, 273, 296 – Europäischer Haftbefehl; 123, 267 Rn. 240 – Lissabon-Vertrag; 132, 195 – Eilentscheidung zum ESM-Vertrag; BVerfG, NJW 2014, 1505 – Hauptsacheentscheidung zum ESM-Vertrag. 6 Zur Textfassung vgl. oben Fn. 1. 7 Die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs sind abrufbar unter www.giurcost.org/decisioni/index.html (in zeitlicher Ordnung unter „Cronologica“). 8 EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 Rn. 21–24. Danach folgt aus der unmittelbaren Anwendbarkeit und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts, „dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet lässt […], ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.“ 9 Vgl. BFHE 143, 383, 388 f., wo der Vorabentscheidung EuGH v. 22.2.1984 – Rs. 70/83 Kloppenburg, Slg. 1984, 1075 Rn. 9 die Gefolgschaft verweigert worden war. Vgl. aber nachfolgend BVerfGE 75, 223, 233 ff.

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baren Unionsrechtsnormen ausgedehnt. Dies gilt namentlich für die Bestimmungen, die sich aus der Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH ergeben,10 und die Normen der direkt anwendbaren Richtlinien.11 Ist eine Unionsrechtsnorm dagegen nicht unmittelbar anwendbar, bleibt die möglicher16 weise entgegenstehende Norm des nationalen Rechts anwendbar. Der Konflikt kann aber durch die unionsrechtskonforme Auslegung in den Grenzen des methodisch Möglichen (siehe unten Rn. 34 ff.) oder über die Prüfung der Verfassungskonformität der nationalen Norm gelöst werden. Dazu kann neben Art. 11 auch auf die jüngere Regelung in Art. 117 Abs. 1 der Verfassung12 zurückgegriffen werden. Diese Kompetenznorm ist verletzt, wenn eine nationale Norm im Widerspruch zum Unions17 recht steht.13 Trifft dies für ein Regionalgesetz zu, fehlt der Region damit die Gesetzgebungskompetenz, was von der Regierung in einer Art „Staat-Regionen-Streit“ nach Art. 127 Abs. 1 der Verfassung14 geltend gemacht werden kann. Dagegen können die Regionen die Nichtigkeit eines staatlichen Gesetzes wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz nach Art. 127 Abs. 2 der Verfassung15 nur geltend machen, wenn der Staat damit ihre eigene Gesetzgebungskompetenz verletzt hat. Die genauen Auswirkungen dieser durch eine Verfassungsreform von 2001 geänderten Bestimmung auf das Unionsprivatrecht sind dagegen bis heute noch nicht endgültig geklärt. Äußerst bemerkenswert ist jedoch, dass der Verfassungsgerichtshof auf Vorlage eines Straf18 gerichts (Tribunale von Venedig) eine umweltrechtliche Norm, wonach Pyritasche von 2006 bis 2008 nicht als Abfall anzusehen war,16 wegen Verletzung der maßgeblichen Abfallrechtsrichtlinie17 und damit wegen Verletzung der Art. 11, 117 Abs. 1 der Verfassung für verfassungswidrig erklärt hat.18 Überträgt man diesen Gedankengang auf das Unionsprivatrecht und insbesondere auf den Quelle-Fall, wäre nach italienischem Verfassungsrecht leicht zu begründen, dass die Umsetzungsvorschrift des § 439 Abs. 4 BGB verfassungswidrig ist, soweit der Verkäufer, der ein vertragswidriges Verbrauchsgut geliefert hat, vom Verbraucher Wertersatz für die Nutzung des vertragswidrigen Verbrauchsguts bis zu dessen Austausch durch ein neues Verbrauchsgut ver-

_____ 10 Vgl. Corte cost. v. 23.4.1985, Nr. 113. 11 Vgl. Corte cost. v. 2.2.1990, Nr. 64. Vgl. zuletzt Corte cost. v. 30.4.2009, Nr. 125. 12 Diese durch das Verfassungsgesetz v. 18.10.2001, Nr. 3 eingeführte Bestimmung lautet: „Staat und Regionen üben unter Wahrung der Verfassung sowie der aus der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen die Gesetzgebungsbefugnis aus.“ 13 Vgl. Corte cost. v. 1.10.2003, Nr. 303. 14 Die Vorschrift lautet: „Überschreitet ein Regionalgesetz nach Ansicht der Regierung die Zuständigkeit der Region, so kann die Regierung innerhalb sechzig Tagen nach seiner Veröffentlichung die Frage der Verfassungsmäßigkeit vor dem Verfassungsgerichtshof aufwerfen.“ 15 Die Vorschrift lautet: „Verletzt ein Staatsgesetz oder Akt mit Gesetzeskraft des Staates oder einer anderen Region nach Ansicht einer Region deren Zuständigkeiten, so kann sie innerhalb sechzig Tagen nach Veröffentlichung des Gesetzes oder des Aktes mit Gesetzeskraft die Frage der Verfassungsmäßigkeit vor dem Verfassungsgerichtshof aufwerfen.“ 16 Art. 183 Abs. 1 lit. n) S. 4 des decreto legislativo v. 3.4.2006, Nr. 152 (Norme in materia di ambiente), geändert durch Art. 2 Abs. 20 des decreto legislativo v. 16.1.2008, Nr. 4. 17 Richtlinie 75/442/EWG des Rates v. 15.7.1975 über Abfälle, ABl. 1975 L 194/47 bzw. Richtlinie 2006/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.4.2006 über Abfälle, ABl. 2006 L 114/9, heute ersetzt durch die Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 5.4.2006 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien, ABl. 2008 L 312/3. 18 Vgl. Corte cost. v. 28.1.2010, Nr. 28. Dort wird ausdrücklich betont, dass die Richtlinie nicht unmittelbar anwendbar war, so dass das Fachgericht die nationale Norm nicht unangewendet lassen konnte, sondern die Frage der Verfassungswidrigkeit im Wege der Vorlage an den Verfassungsgerichtshof zu klären war.

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langen kann.19 Des „Umwegs“ einer „richtlinienkonformen Rechtsfortbildung durch teleologische Reduktion“20 bedarf es dann nicht mehr.

2. Die Doktrin der „controlimiti“: Stand der Dinge Parallel zur Vertiefung der Auswirkungen des Integrationsprozesses auf die italienische Verfassungsordnung entzieht der Verfassungsgerichtshof einige verfassungsrechtliche Garantien der Verfügung durch die Unionsorgane. Im Rahmen der so genannten Doktrin der „controlimiti“ genießen diese Garantien eine Sonderbehandlung und werden vom Verfassungsgerichtshof auch gegenüber dem Unionsrecht, das grundsätzlich auch das nationale Verfassungsrecht derogieren kann, geschützt.21 Diese Doktrin ist in den Urteilen vom 27. Dezember 1973, Nr. 183 und vom 8. Juni 1984, Nr. 170 entwickelt worden. Mit ihr schien sich die durch die Beachtung der Grundprinzipien der Verfassungsordnung gebotene Grenze des Vorrangs des Unionsrechts nur in dem unwahrscheinlichen Fall verwirklichen zu können, dass das Ausführungsgesetz zu den Römischen Verträgen für verfassungswidrig erklärt wird. Damit schien dieser Vorbehalt nur den Schulfall eines schweren Widerspruchs des Unionsrechts zu den Grundprinzipien und Grundrechten der italienischen Verfassungsordnung zu erfassen.22 Ein solcher Fall ist in der Wirklichkeit spätestens seit Inkrafttreten der Grundrechtecharta am 1. Dezember 2009 aber kaum noch denkbar. Mit Urteil vom 21. April 1989, Nr. 232 hat der Verfassungsgerichtshof seine Kontrollmöglichkeiten jedoch erweitert. Danach kann sich die Überprüfung der Verfassungskonformität zum Schutz der unverletzbaren Prinzipien auf jede Norm des Unionsrechts in Gestalt der Auslegung und Anwendung durch die Unionsorgane beziehen.23 Diese Linie der Rechtsprechung ist durch jüngere Entscheidungen bestätigt worden. Besonders bemerkenswert ist dabei die Wendung, dass der Verfassungsgerichtshof zur Ausübung dieser Kontrollfunktion befugt ist, wenn die Nichtanwendung des nationalen Rechts in einem nur von ihm selbst überprüfbaren Widerspruch zu den Grundprinzipien der Verfassungsordnung steht.24 Damit liegt die italienische Rechtsprechung auf derselben Linie wie das Bundesverfassungsgericht, das im Wege der ultra-vires-Kontrolle ausbrechende Rechtsakte überprüft.25

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3. Die Doktrin der „controlimiti“: Kritische Aspekte Trotz einer gewissen Offenheit gegenüber der Überprüfung der Nichtanwendung nationaler 23 Normen, die in Widerspruch zu den Grundprinzipien der Verfassungsordnung stehen könnten, ist die Doktrin der „controlimiti“ noch als abstrakter Machtanspruch gedacht, bei der europäischen Integration das letzte Wort zu haben – also im Sinne Carl Schmitts als Souveränitätsbestä-

_____ 19 EuGH v. 17.4.2008 – Rs. C-404/06 Quelle, Slg. 2008, I-2685 Rn. 43. 20 BGHZ 179, 27 Rn. 21. 21 Vgl. Cartabia, Principi inviolabili e integrazione europea, S. 6 f.; v. Bogdandy/Bast-Mayer, S. 580. 22 Vgl. Corte cost. v. 8.6.1984, Nr. 170. 23 Vgl. Corte cost. v. 21.4.1989, Nr. 232, Giur. cost. 1989 I, 1001 m. Anm. Cartabia (S. 1012 ff.). 24 Vgl. Corte cost. v. 28.12.2006, Nr. 454. 25 Vgl. BVerfGE 75, 223, 235, 242; 89, 155, 188 – Vertrag von Maastricht; 113, 273, 296; 123, 267 Rn. 240 – Vertrag von Lissabon; NJW 2014, 907 Rn. 21 – OMT-Beschluss der EZB.

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tigung für den Ausnahmezustand, nur theoretisch gefordert, aber gegenwärtig nicht gedacht, sich jemals konkret zu realisieren.26 Damit handelt es sich mit anderen Worten um die Forderung, in einem hypothetischen, aber 24 letztlich unlösbaren Konflikt mit dem EuGH das letzte Wort zu haben. Denn nach der Konzeption des EuGH sehen wir uns nicht einem integrierten Rechtssystem gegenüber, aber nach der Konzeption des italienischen Verfassungsgerichtshofs auch nicht zwei getrennten, miteinander kommunizierenden Rechtsordnungen. Vielmehr würde es sich um zwei Rechtsordnungen handeln, die sich schlicht widersprechen, wobei jede einen eigenen, autonom begründeten Geltungsanspruch hätte, so dass die Lösung des Konflikts letztlich eine Machtfrage wäre.27 Und diese Machtfrage müsste schon deshalb zugunsten der Mitgliedstaaten entschieden werden, weil die Unionsorgane, wie eingangs (Rn. 2) erwähnt, zur Durchsetzung des Unionsrechts zwingend auf die Mitwirkung der nationalen Staatsgewalten angewiesen sind. 25 Hält man sich dies vor Augen, verbleibt die Doktrin der „controlimiti“ beim Bau des europäischen Hauses ganz am Rande. Gleichwohl kann sie ungewollte Kollateralschäden verursachen wie die Entscheidung des italienischen Staatsrates (Consiglio di Stato), der eine Auslegungsfrage des Primärrechts dem EuGH nicht vorgelegt hat, weil ohnehin der vorherigen Auslegung des Verfassungsgerichtshofs zu folgen sei, die dieser hinsichtlich des Schutzes des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit vorgenommen hatte.28 Dieser Fall hat damit eine ganz andere Qualität als die Verweigerung der Vorlage im Bereich des Unionsprivatrechts mangels Umsetzungsspielraums.29 Auf der anderen Seite muss man den dialogischen Wert der Doktrin der „controlimiti“ be26 denken, wenn man deren Anwendungsbereich von der rein theoretischen Ebene der frontalen Machtkonfrontation auf die pragmatische Ebene einer echten fruchtbaren Zusammenarbeit der nationalen Verfassungsgerichte, des EuGH und des Straßburger Gerichtshofs hebt.30 In diese Richtung tendiert die erfreuliche Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, der – wie nunmehr auch das Bundesverfassungsgericht zum OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank31 – nun zum ersten Mal auch im konkreten Normenkontrollverfahren (giudizio di legittimità in via incidentale) ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV gestellt hat.32

IV. Die Umsetzung des Unionsrechts durch nationale Rechtsakte 27 Die Umsetzung europäischer Richtlinien geschah in Italien lange Zeit verspätet und mangelhaft.

Ein beredtes Beispiel dafür ist die mangelhafte Umsetzung der Insolvenzschutzrichtlinie,33 die

_____ 26 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 11: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. 27 Vgl. Isensee, FS Stern (1997), S. 1265. 28 Vgl. Cons. Stato v. 8.8.2005, Nr. 4207, Admenta Italia c. Federfarma, Giur. cost. 2005, S. 3391, mit Anm. Morbidelli (S. 3404 ff.) und Di Seri (S. 3408 ff.). 29 Vgl. dazu etwa BGH, WM 2003, 2184, 2186; WM 2003, 2186, 2187; NJW 2004, 839, 841; BAGE 105, 32, 48 ff.; 107, 318, 336. 30 In diese Richtung kann man die Ausführungen von H. Hofmann, in: Müßig (Hrsg.), Konstitutionalismus und Verfassungskonflikt, S. 283 f. verstehen. 31 BVerfG, NJW 2014, 907. Aus italienischer Sicht, vgl. R. Caponi, Giornale di diritto amministrativo 2014, 469. Dagegen hat BVerfGE 130, 151 bei der Vorratsdatenspeicherung die von den Beschwerdeführern erstrebte Vorlage (vgl. Rn. 106) abgelehnt. 32 Corte cost. v. 18.7.2013, Nr. 207. 33 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23, inzwischen aufgehoben durch Art. 16 der Richtlinie 2008/94/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2008 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitge-

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uns allen die „Francovich-Haftung“ beschert hat.34 Insoweit ist für das Verhältnis zum Unionsrecht jedoch bemerkenswert, dass es italienische Amtsrichter (pretori) waren, die auf die Idee gekommen sind und den Mut hatten, Fragen nach einer möglichen Staatshaftung in ungeheurem Umfang zu formulieren und dem EuGH vorzulegen. Damit ist aber auch in Italien eine Zeitenwende eingeläutet worden. Maßgeblichen Anteil 28 daran hatte die nach dem seinerzeitigen Justizminister benannte legge La Pergola,35 die zunächst von der legge Buttiglione36 und zuletzt durch das Gesetz zur Beteiligung Italiens an der Bildung und der Durchführung der Normen und Politiken der Europäischen Union37 abgelöst worden ist. Darin wird nunmehr u.a. – entsprechend dem EUZBLG38 und dem EUZBBG39 – ausführlich die Beteiligung des Parlaments sowie der Regionen und der autonomen Provinzen Bozen und Trient im Einzelnen bestimmt (Art. 3 ff.).

1. „Gemeinschaftsrechtsgesetz“, europäisches Delegationsgesetz und Europagesetz Das Herzstück dieser Gesetze sind die Regelungen über das bisher so genannte Gemeinschafts- 29 rechtsgesetz (legge comunitaria),40 das heute durch das „europäische Delegationsgesetz“ (legge di delegazione europea)41 und das „Europagesetz“ (legge europea)42 ersetzt worden ist. Das Gemeinschaftsgesetz enthielt regelmäßig einen Gesetzgebungsauftrag an die Regierung im Sinne von Art. 76 der Verfassung, zur Umsetzung der im Einzelnen genannten Richtlinien nach den im Delegationsgesetz bestimmten Leitprinzipien die erforderlichen gesetzesvertretenden Dekrete (decreti legislativi) zu erlassen, aber auch eigene gesetzliche Umsetzungsmaßnahmen.43 Dabei war schon bisher zu beobachten, dass die Leitprinzipien und -kriterien des Delegationsgesetzes in der Praxis im Gesetzesentwurf von der Regierung selbst bestimmt wurden, so dass das Parlament nur sehr schwer eine aktive Rolle in diesem Kontext ausüben konnte.44 Heute werden die Delegationsnormen und die parlamentarischen Umsetzungsakte hingegen in den beiden genannten Gesetzen getrennt.45 Dabei obliegt die Umsetzung von Richtlinien und Rahmenbeschlüssen

_____ bers, ABl. 2008 L 283/36. Zur Vertragsverletzung vgl. EuGH v. 2.2.1989 – Rs. 22/87 Kommission ./. Italien, Slg. 1989, 143 Rn. 10. 34 EuGH v. 19.11.1991 – Rs. C-6/90 Francovich, Slg. 1991, I-5357 Rn. 33 ff. 35 Gesetz v. 9.3.1989, Nr. 86 Norme generali sulla partecipazione dell’Italia al processo normativo comunitario e sulle procedure di esecuzione degli obblighi comunitari, G.U. Nr. 58 v. 10.3.1989. Die Gazzetta Ufficiale ist abrufbar unter www.gazzettaufficiale.it/homePostLogin. 36 Gesetz v. 4.2.2005, Nr. 11 Norme generali sulla partecipazione dell’Italia al processo normativo comunitario e sulle procedure di esecuzione degli obblighi comunitari, G.U. Nr. 37 v. 15.2.2005. Zur Aufhebung des Gesetzes Nr. 86/1989 vgl. Art. 22 Abs. 2. 37 Gesetz v. 24.12.2012, Nr. 234 Norme generali sulla partecipazione dell’Italia alla formazione e all’attuazione della normativa e delle politiche dell’Unione europea, G.U. Nr. 3 v. 4.1.2013. Zur Aufhebung des Gesetzes Nr. 11/2005 vgl. Art. 22 Abs. 2. 38 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 12.3.1993, BGBl. I, 313 idF von Art. 1 des Gesetzes v. 22.9.2009, BGBl. 2009 I, S. 3031. 39 Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union v. 4.7.2013, BGBl. 2013 I, S. 2170. 40 Vgl. Art. 2 ff. des Gesetzes Nr. 86/1989; Art. 8 ff. des Gesetzes Nr. 11/2005. 41 Vgl. Art. 29 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 234/2012. 42 Vgl. Art. 29 Abs. 5 des Gesetzes Nr. 234/2012. 43 Vgl. zuletzt die Legge comunitaria 2010 v. 15.12.2011, Nr. 217, G.U. Nr. 1 v. 2.1.2012. 44 Vgl. Gaja, Introduzione al diritto dell’Unione europea, S. 204 f. 45 Vgl. zuletzt die Legge di delegazione europea 2013 v. 6.8.2013, Nr. 96, G.U. v. 20.8.2013, Nr. 194 und die Legge europea 2013 v. 6.8.2013, Nr. 97, G.U. v. 20.8.2013, Nr. 194.

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grundsätzlich der gubernativen Rechtssetzung,46 während das Parlament die gesetzlichen Regelungen zur Beseitigung von Vertragsverletzungen erlässt.47 An der praktischen Dominanz der Regierung, die zur Vorlage des Delegationsgesetzentwurfs bis zum 28.2. eines jeden Jahres verpflichtet ist,48 hat sich freilich nichts geändert. Darüber hinaus darf die Regierung die zur Umsetzung der unionsrechtlichen Normen oder 30 Urteile erforderlichen (Eil-)Maßnahmen ergreifen, wenn die dafür maßgeblichen Fristen vor dem Inkrafttreten des nächsten europäischen Delegations- bzw. Europagesetzes ablaufen.49 Die Auswirkungen dieses neuen Umsetzungskonzepts lassen sich anhand der Statistik der Vertragsverletzungsverfahren nachvollziehen, die Italien lange Zeit angeführt hat. In den Jahren 2010 bis 2013 sind dagegen nur noch zwischen fünf und sieben Verfahren pro Jahr anhängig geworden.50

2. Die Rolle der Regionen 31 Bezüglich der Regionalgesetzgebung sieht Art. 117 Abs. 5 der Verfassung vor, dass „die Regionen

und die autonomen Provinzen Trient und Bozen für die in ihre Zuständigkeit fallenden Sachgebiete an den Entscheidungen im Rahmen des Rechtssetzungsprozesses der Europäischen Union teilnehmen und für die Anwendung und Durchführung von völkerrechtlichen Abkommen und Rechtsakten der Europäischen Union sorgen und dass dabei die Verfahrensbestimmungen zu beachten sind, die mit Staatsgesetz festgesetzt werden, durch das die Einzelheiten der Ausübung der Ersetzungsbefugnis in Fällen der Untätigkeit geregelt sind.“ Daraus folgt, dass die Regionen und autonomen Provinzen selbst für die Unionsrechtskonformität ihrer Gesetzgebung verantwortlich sind und ggf. die notwendigen Maßnahmen zu tragen haben.51 Aus deutscher Sicht bemerkenswert sind aber die Ersetzungsbefugnisse des Staates (poteri 32 sostitutivi dello Stato). So sieht der heutige Art. 120 Abs. 2 der Verfassung vor, „dass die Regierung – ohne Rücksicht auf die Gebietsgrenzen der lokalen Regierungen – befugt ist, bei Nichtbeachtung internationaler Bestimmungen und Abkommen oder der EU-Bestimmungen oder bei großer Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit für Organe der Regionen, der Großstädte mit besonderem Status, der Provinzen und der Gemeinden zu handeln, sowie wenn es für den Schutz der Rechts- oder Wirtschaftseinheit und insbesondere für den Schutz der wesentlichen Dienstleistungen betreffend die Bürger- und Sozialrechte erforderlich ist.“ Des Weiteren ist dort bestimmt, dass „das Gesetz die Verfahren zur Gewährleistung dafür festlegt, dass die Ersetzungsbefugnisse unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der loyalen Zusammenarbeit ausgeübt wird.“ Diese Regelung beruht auf dem Grundsatz, dass die unionsrechtlichen Pflichten aus den Verträgen stets die Mitgliedstaaten treffen, die sich nicht auf die interne Zuständigkeitsverteilung berufen können, wenn sie den unionsrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommen.52 Daher müssen sich die Mitgliedstaaten im Rahmen von Vertrags-

_____ 46 Vgl. Art. 30 Abs. 2 lit. a des Gesetzes Nr. 234/2012. 47 Vgl. Art. 30 Abs. 3 lit. b des Gesetzes Nr. 234/2012. 48 Vgl. Art. 29 Abs. 4 des Gesetzes Nr. 234/2012. 49 Vgl. Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 11/2005; Art. 37 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 234/2012. 50 Vgl. den Jahresbericht des EuGH, abrufbar unter http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7000. 51 Vgl. Art. 29 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 234/2012. Die Informationspflicht über die umsetzungsbedürftigen Rechtsakte tragen freilich auch insoweit der Präsident des Ministerrates oder der Minister für Europaangelegenheiten. Vgl. Art. 29 Abs. 2, 3 S. 1 des Gesetzes Nr. 234/2012. Die Regionen und autonomen Provinzen sind ihrerseits über den Stand ihrer Gesetzgebung gegenüber der Präsidentschaft des Ministerrates berichtspflichtig. Vgl. Art. 29 Abs. 3 S. 2 des Gesetzes Nr. 234/2012. 52 Vgl. EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 96/81 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 1791 Rn. 12; EuGH v. 25.5.1982 – Rs. 97/81 Kommission ./. Niederlande, Slg. 1982, 1819 Rn. 12; EuGH v. 14.1.1988 – verb. Rs. 227/85 bis 230/85 Kommission Caponi/Piekenbrock

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verletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV auch für die regionale Gesetzgebung und Verwaltungspraxis verantworten. In Deutschland finden sich dagegen nur Regelungen zur Prozessvertretung in Vertragsverletzungsverfahren, wenn Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind und der Bund kein Recht zur Gesetzgebung hat (§ 7 Abs. 3 EUZBLG). Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben hat der italienische Gesetzgeber in den Gesetzen 33 von 2005 und 2012 aufgenommen. Danach können staatliche Normen, die der Umsetzung von Unionsrecht dienen, auch auf Gebieten erlassen werden, die der Gesetzgebungskompetenz der Regionen und der autonomen Provinzen unterstellt sind, um der möglichen Untätigkeit dieser Gebietskörperschaften bei der Umsetzung des Unionsrechts entgegen zu wirken.53 In diesem Fall werden die staatlichen Normen ab dem Ablauf der Umsetzungsfrist in den Regionen und autonomen Provinzen angewandt, in denen noch kein Umsetzungsgesetz in Kraft ist. Sobald ein solches nachträglich in Kraft tritt, verlieren die staatlichen Ersatzbestimmungen ihre Wirkung. Sie enthalten daher den ausdrücklichen Hinweis auf die stellvertretende Ausübung der Gesetzgebungsgewalt und die Nachgiebigkeit der darin enthaltenden Normen gegenüber der Regionalbzw. Provinzgesetzgebung. Darüber hinaus unterliegen diese Gesetzgebungsakte der vorherigen Prüfung der ständigen Konferenz für die Beziehungen zwischen dem Staat, den Regionen und den autonomen Provinzen Trient und Bozen.

V. Auslegung von Rechtsnormen: Grundlagen und aktuelle Tendenzen Der Versuch, die Auslegung des Unionsrechts zu analysieren, muss bei der Beschreibung des 34 kulturellen Rahmens der Gesetzesauslegung ansetzen, der sich aus der Haltung der Legislative, der Judikative und der Wissenschaft ergibt. Dieser Rahmen ist überaus fragmentarisch und uneinheitlich.

1. Gesetzliche Auslegungsregeln So findet sich in Art. 12 der „Allgemeinen Bestimmungen über das Recht“, die dem Codice civile 35 vom 16. März 1942 vorangestellt worden sind, folgende gesetzliche Auslegungsregel: „(1) Bei der Anwendung von Gesetzen kann diesen nur der Sinn zukommen, der sich aus dem eigentlichen Wortsinn, aus dem wörtlichen Zusammenhang und aus der Absicht des Gesetzgebers ergibt. (2) Lässt sich ein Streitfall nicht auf Grund einer konkreten gesetzlichen Bestimmung entschieden werden, werden die Vorschriften, die ähnliche Fälle oder entsprechende verwandte Sachgebiete regeln, herangezogen; verbleiben noch Zweifel, ist nach den allgemeinen Grundsätzen der staatlichen Rechtsordnung zu entscheiden.“54

Diese Norm ist in vielerlei Hinsicht überholt und kann heute nicht mehr als Kern der Gesetzes- 36 auslegungslehre angesehen werden. Erstens spiegelt seine systematische Stellung die Vorstellung wider, die Rechtsquellentheorie sei im wesentlichen der Privatrechtspflege anvertraut. Dagegen ist man sich heute auch in Italien darüber einig, dass sie wegen der engen Verbindung

_____ ./. Belgien, Slg. 1988, 1 Rn. 9; EuGH v. 28.2.1991 – Rs. C-131/88 Kommission ./. Deutschland, Slg. 1991, I-825 Rn. 71; EuGH v. 13.9.2001 – Rs. C-417/99 Kommission ./. Spanien, Slg. 2001, I-6015 Rn. 37; EuGH v. 8.9.2010 – Rs. C-46/08 Carmen Media Group, Slg. 2010, I-8149 Rn. 69. 53 Vgl. Art. 11 Abs. 8 des Gesetzes Nr. 11/2005; Art. 41 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 234/2012. 54 Übersetzung nach der zweisprachigen Ausgabe von Patti (Hrsg.), Codice civile italiano (2007). Caponi/Piekenbrock

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3. Teil: Besonderer Teil

zwischen der Rechtsquellenlehre und der Staatsform Teil des öffentlichen Rechts ist.55 Zweitens stammt die Norm aus der Zeit vor dem Inkrafttreten der Verfassung von 1948 und der Errichtung des Verfassungsgerichtshofs und damit vor den größten Erschütterungen der italienischen Rechtsordnung in der Neuzeit. Und ganz selbstverständlich sind die Verfassung und die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs Quellen, die sich vom einfachen Gesetz radikal unterscheiden. „Denn die Verfassung verwirft die positivistische Reduktion von Legitimität (oder Gerechtigkeit) auf die Frage der Legalität. Vielmehr wandelt sich das Problem der ethischen Begründung der Legitimität in ein juristisches Problem und macht es damit zum Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens, indem moralische Werte als präjuristische Bezugspunkte durch das Aufstellen von Prinzipien, Strukturen und Generalklauseln (z.B. die ergänzenden Prinzipien der Gerechtigkeit oder der Solidarität) oder als subjektive Rechte (Grundrechte) in positivrechtlichen Normen institutionalisiert werden.“56 Drittens wird die Beschränkung auf die Grundprinzipien der „staatlichen“ Rechtsordnung 37 heute durch die wachsende Internationalisierung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen mehr und mehr in Frage gestellt. Denn die nationalen Rechtsordnungen können die transnationalen Beziehungen natürlicherweise nicht mehr effizient regeln und müssen die Rechtssetzung daher von der innerstaatlichen Gesetzgebung auf internationale und supranationale Instanzen verlagern, was zu einer fortschreitenden Einwirkung internationaler und supranationaler Normen auf reine Binnensachverhalte führt. Dementsprechend ist der Rückgriff auf den besagten Art. 12 Codice civile der „Allgemeinen 38 Bestimmungen über das Recht“ bei der Lösung von Auslegungsproblemen äußerst selten. Eine Recherche in der Datenbank „foro italiano on line“ hat für die Jahre 1981 bis (April) 2014 nur 23 Treffer zu Tage gefördert.

2. Die Wissenschaft 39 Die größeren Probleme stellen sich aber mit Blick auf die Wissenschaft, die eigentlich eine zent-

rale Rolle spielen sollte, um der Praxis der Gesetzesauslegung durch Richter und Anwälte die notwendige theoretische Grundlage zu geben. Doch leider ist die Untersuchung der Auslegungsprobleme im italienischen Wissenschaftsbetrieb Rechtstheoretikern und -philosophen anvertraut, die kein einziges dogmatisches Fach in Forschung und Lehre vertreten. Dagegen kümmern sich die dogmatisch orientierten Wissenschaftler in der Regel gar nicht um methodologische Fragen oder tun dies nur in naiver Weise. Als Folge davon fühlt man sich einem Dialog unter Tauben ausgesetzt: auf der einen Seite 40 äußerst scharfsinnige Analysen der Rechtsphilosophen ohne Anbindung an die praktische Wirklichkeit auf Seiten; auf der anderen Seite Auslegungspraktiken, die häufig nach der Methode vorgehen: „Ich weiß nicht wie.“ Freilich bestehen auch bemerkenswerte Ausnahme insbesondere unter den Zivil- und Han41 delsrechtslehrern, die mit großem Scharfsinn auch methodologische Fragen behandelt haben (statt aller drei Namen: Emilio Betti, Tullio Ascarelli, Luigi Mengoni) sowie gelungene Synthesen von Philosophie und Jurisprudenz, die den Übergang vom Rechtspositivismus zur analytischen Methode (in Italien eingeführt von Norberto Bobbio) illustrieren und zur modernen hermeneutischen Methode der Rechtswissenschaft gelangen.57

_____ 55 Vgl. Pizzorusso, Comparazione giuridica e sistema delle fonti del diritto, S. 3. 56 So Mengoni, Ermeneutica e dogmatica giuridica, S. 117 (Übersetzung der Verf.). 57 Vgl. Viola/Zaccaria, Diritto e interpretazione, passim. Caponi/Piekenbrock

§ 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien

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3. Die Rechtsprechung Umgekehrt ergibt die Analyse der Auslegungsmethoden der Rechtsprechung ein sehr dynami- 42 sches Bild. Dies gilt namentlich für die verfassungskonforme Auslegung durch den Kassationshof (Corte di cassazione) in den letzten Jahren.

a) Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs Die Rechtsprechung des italienischen Kassationshofs übt einen besonders starken Einfluss auf 43 die italienische Verfassungsordnung aus. Die verfassungsrechtliche Dimension dieser Rechtsprechung wird an der mutigen Rechtsfortbildung deutlich. Dies zeigen exemplarisch zwei Beispiele, die in ähnlicher Weise auch in Deutschland für Aufsehen gesorgt haben. aa) Schmerzensgeld bei Persönlichkeitsrechtsverletzung. Art. 2059 Codice civile be- 44 stimmt entsprechend § 847 BGB a.F. für das Deliktsrecht, dass Nichtvermögensschäden nur in den gesetzlich bestimmten Fällen ersatzfähig sind. Nach den Urteilen des Kassationshofs Nr. 8827 und 8828 vom 31. Mai 200358 sind Nichtvermögensschäden aber nicht nur in den gesetzlich ausdrücklich bestimmten Fällen ersatzfähig, sondern auch, wenn durch die unerlaubte Handlung ein verfassungsrechtlich geschütztes Interesse verletzt worden ist, das einer wirtschaftlichen Bewertung nicht unmittelbar zugänglich ist. Dieser Auffassung, die deutschen Lesern durchaus vertraut vorkommt,59 folgt auch das Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 11. Juli 2003, Nr. 233. Der Kassationshof versucht dabei häufig, die Akzeptanz seiner mutigsten Entscheidungen dadurch zu fördern, 45 dass er die eigentliche Brisanz verschleiert. Um Schadenersatz für einen Nichtvermögensschaden aus der Verletzung eines unabdingbaren Persönlichkeitsrechts zu gewähren, wird dazu wiederholt behauptet, dass sich in diesem Zusammenhang nur die vom Gesetz über die Wiedergutmachung von Nichtvermögensschaden spezifisch und auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene bestimmten Fälle konkretisieren. So heißt es im Urteil Nr. 26972 des Kassationshofs vom 11. November 2008: „Die Liste der auf diese Weise bestimmten Fälle ist kein numerus clausus.“60 Damit verstrickt sich der Kassationshof letztlich in einen Widerspruch. Denn wenn die Liste der gesetzlich bestimmten Fälle (casi determinati dalla legge) keine abschließende Aufzählung enthält, dann ist es eben keine Liste der gesetzlich bestimmten Fälle. Der Kassationshof verwendet mit Absicht das in Art. 2059 Codice civile eingesetzte Wort „bestimmte“, um den Eindruck einer verfassungskonformen Auslegung zu vermitteln. In Wirklichkeit verweist Art. 2059 Codice civile auf eine abgeschlossene Aufzählung von Regeln (der einfachen Gesetzgebung bzw. verfassungsrechtlicher Abstammung), die den Anspruch auf Ersatz des Nichtvermögensschadens an bestimmte Sachverhalte knüpfen. Der Kassationshof dagegen knüpft den Schadenersatzanspruch (auch) an die progressive Konkretisierung des Prinzips der Menschenwürde (Art. 2 der Verfassung).

bb) Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen bei Wachkomapatienten. In seinem 46 berühmten Urteil Nr. 21748 vom 16. Oktober 2007 über die Wachkomapatientin Eluana Englaro, die keine Patientenverfügung errichtet hatte,61 hat der Kassationshof entschieden: „Der Richter kann den Vormund eines Wachkomapatienten zur Einstellung der diese Person künstlich am Leben erhaltenden ärztlichen Behandlung ermächtigen:

_____ 58 Cass. v. 31.5.2009, Nr. 8827 und 8828, Foro it. 2003 I, 2273. 59 Vgl. BGHZ 128, 1, 15. 60 Cass. v. 11.11.2008, Nr. 26972, Resp.civ.e prev. 2009, 38. 61 Insoweit unterscheidet sich dieser Fall von BGHZ 154, 205. In BGHZ 163, 195 konnte der Vater als Betreuer aus dem Suizidversuch auf den Willen des Patienten schließen.

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3. Teil: Besonderer Teil

a) wenn das Wachkoma nach strenger klinischer Würdigung irreversibel ist und nach den international anerkannten wissenschaftlichen Standards keine ärztliche Grundlage vorliegt, die davon ausgehen lässt, dass die Person auch nur die geringste Möglichkeit hat, das Bewusstsein in irgendeiner – wenn auch schwachen – Form sowie die Wahrnehmung der Außenwelt wieder zu erlangen; und b) vorausgesetzt, dass dieser Antrag aufgrund eindeutiger, übereinstimmender und überzeugender Beweise wirklich Ausdruck des Willens des Mündels ist, der aus seiner Persönlichkeit, seinem Lebensstil und seinen Überzeugungen hergeleitet wurde und der Vorstellung entspricht, die er vor dem Verlust des Bewusstseins von der menschlichen Würde hatte.“62

47 Das Problem betraf den Beweis der beiden Voraussetzungen nach dem Beweismaß des Zivilpro-

zesses. Der Aufgabe wurde durch den Beschluss der Corte d’appello von Mailand vom 9. Juli 2008 im Detail und mit menschlicher Anteilnahme Rechnung getragen, indem die Einstellung der künstlichen Ernährung genehmigt wurde. Gegen diese Verfügung hat der Staatsanwalt Beschwerde zum Kassationshof eingelegt. Die Vereinigten Zivilsenate haben die Beschwerde jedoch mit Beschluss Nr. 27145 vom 13. November 2008 mangels Legitimation des Staatsanwalts als unzulässig verworfen.63 Der Beschluss wurde also rechtskräftig. Die Beschwerden, die einige Privatpersonen und Vereinigungen vor dem EGMR eingereicht hatten, wurden ebenfalls für unzulässig erklärt.64 In der Zwischenzeit hatte der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 8. Oktober 2008, Nr. 334 65 einen Organstreit gegenüber dem Kassationshof und der Corte d’appello von Mailand für unzulässig erklärt, der von der Abgeordnetenkammer mit der Behauptung angestrengt worden war, diese Gerichtshöfe hätten „Befugnisse der gesetzgebenden Gewalt ausgeübt“. In der Endphase hat die Regierung schließlich vergeblich versucht, die Unterbrechung der künstlichen Ernährung gesetzlich zu verhindern. Die junge Frau ist jedoch drei Tage nach der Einstellung der künstlichen Ernährung verstorben.66

b) Gemeinsamkeiten und Unterschiede In diesen beiden Fällen hat der Kassationshof neue Rechtsnormen geschaffen. Diese neuen Rechtsnormen sind materiell als solche anzusehen, auch wenn sie formell nur für die Prozessparteien verbindlich sind. 49 Die Bedingungen aber, unter denen der Kassationshof neue Rechtsnormen formuliert hat, sind unterschiedlich: – Im ersten Fall beruft er sich auf das verfassungsrechtliche Prinzip der Menschenwürde, um die verbindliche Regel auszuschließen, wonach der Nichtvermögensschaden nur in den gesetzlich bestimmten Fällen ersatzfähig ist. – Im zweiten Fall ergänzt er eine Wertungslücke betreffend die Regelung über die Einstellung der künstlichen Ernährung von Wachkomapatienten.

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c) Der Kassationshof als ‚faktischer Verfassungsgerichtshof‘ 50 Im Vergleich zur deutschen Rechtsordnung fällt auf, dass es sich in Italien beim ‚wahren‘ Ver-

fassungsgerichtshof – verstanden als Gerichtshof, der die Grundrechte in den konkreten Fällen

_____ 62 Cass. v. 16.10.2007, Nr. 21748, Foro it. 2008 I, 125 (Übersetzung von Luther, EuGRZ 2009, 198, 199). 63 Cass. v. 13.11.2008, Nr. 27145, Foro it. 2009 I, 35. 64 EGMR v. 16.12.2008 – Appl. 55185/08 u.a. Ada Rossi u.a. ./. Italien, in französischer Sprache abrufbar unter www.menschenrechte.ac.at/orig/09_1/Rossi.pdf. 65 In deutscher Übersetzung in EuGRZ 2009, 234. 66 Den Fall schildert detailliert auch Luther, EuGRZ 2009, 198–202. Caponi/Piekenbrock

§ 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien

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des Lebens schützt – derzeit um den Kassationshof handelt. Auf welche Ursachen ist diese Situation zurückzuführen? Die bereits in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts akut aufgetretenen Probleme in den Beziehungen zwischen dem Verfassungsgerichtshof und dem Kassationshof wurden zunächst nach folgenden Richtlinien gelöst: Ausschließlich der ordentliche Richter hatte die Aufgabe, das Gesetz auszulegen. Der Verfassungsgerichtshof prüfte die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in der Auslegung durch den ordentlichen Richter. Gegenstand seiner Prüfung war das durch die ständigen Auslegungen des Kassationshofs gefestigte ‚lebende Recht‘ (diritto vivente). In den Jahren 1988 bis 1989 gelang es dem Verfassungsgerichtshof jedoch vor allem dank der Bemühungen des Präsidenten Saja, die 5.000 bis 6.000 anhängigen Sachen aufzuarbeiten, indem nur die für wichtig gehaltenen Angelegenheiten behandelt und die anderen durch die Erklärung der eindeutigen Unbegründetheit oder der Unzulässigkeit gelöst wurden. Demzufolge ist es dem Verfassungsgerichtshof nun möglich, bereits einige Monate nach der Vorlage der jeweiligen Sache zu entscheiden. Zu jüngeren Gesetzen musste er manchmal bereits Stellung nehmen, bevor der Kassationshof Gelegenheit hatte, sie auszulegen. Deshalb hat der Verfassungsgerichtshof eine neue Aufgabenverteilung zwischen sich und den Fachgerichten für erforderlich gehalten, nicht zuletzt um zu vermeiden, dass sich die unteren Instanzen mit Verfassungsfragen an ihn wenden, für die es noch keine Anwendungspraxis beim Kassationshof gibt. Dazu muss man sich vor Augen halten, dass die Fachgerichte in Italien für eine konkrete Normenkontrolle nicht wie nach Art. 100 Abs. 1 GG von der Verfassungswidrigkeit des einfachen Gesetzes überzeugt sein müssen, sondern vielmehr schon dann vorlegen müssen, wenn die Zweifel nicht offensichtlich unbegründet sind. Angesichts dieses Ziels musste auch in der italienischen Rechtsordnung die Theorie der verfassungskonformen Auslegung übernommen werden, die namhafte Präzedenzfälle in der Rechtsprechung des US Supreme Courts und des deutschen Bundesverfassungsgerichts hat. Dabei müssen die Fachgerichte wie in Deutschland zunächst im Wege der Auslegung versuchen, ein verfassungskonformes Ergebnis zu erzielen, bevor sie die Frage dem Verfassungsgerichtshof vorlegen. Die Corte costitutionale hat diese Theorie besonders elegant zusammengefasst: „Grundsätzlich werden die Gesetze nicht für verfassungswidrig erklärt, weil sie verfassungswidrig ausgelegt werden können, sondern weil ihre verfassungskonforme Auslegung unmöglich ist.“67

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d) Notwendigkeit einer Verfassungsbeschwerde Mit einer zu nachhaltigen Theorie der verfassungskonformen Auslegung wirft sich der Verfas- 56 sungsgerichtshof aber tendenziell selbst aus der Bahn und mutet den Fachgerichten geradezu akrobatische Auslegungen zu, ohne die Möglichkeit einer Kontrolle ex post durch die Anfechtung der Endentscheidung zu haben. Eine am Vorrang der Verfassung orientierte Rechtsordnung, die die Kontrolle der Verfas- 57 sungsmäßigkeit einem Verfassungsgericht anvertraut hat, kann jedoch nicht darauf verzichten, die gegenläufigen Interessen auszugleichen: Einerseits das Interesse an einer definitiven Entscheidung und andererseits das Interesse, die Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Das geeignete Instrument dafür ist die Verfassungsbeschwerde gegen (auch rechtskräftige) Entscheidungen der Fachgerichte.

_____ 67 Vgl. Corte cost. v. 22.10.1996, Nr. 356. Caponi/Piekenbrock

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3. Teil: Besonderer Teil

VI. Auslegung des Unionsrechts 58 Diese Überlegungen zur Praxis der verfassungskonformen Auslegung erschließen die beste Per59

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spektive, um sich der Auslegung des Unionsrechts zuzuwenden. Während für die kritische Analyse der EuGH-Rechtsprechung auf die allgemeinen Beiträge in diesem Band verwiesen werden kann, soll hier das Echo der Wissenschaft und der Rechtsprechung in Italien analysiert werden. Im Vordergrund steht dabei das bekannte Problem, dass eine nicht unmittelbar anwendbare Norm des Unionsrechts in einem konkreten Fall einer Norm des nationalen Rechts widerspricht. Die Lösungswege des italienischen Rechts werden nachfolgend in progressiver Reihenfolge dargestellt. Die erste Lösung ist zweifellos, den Widerspruch durch eine unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Norm zu beseitigen.68 Damit stellt sich die Frage nach den Grenzen einer solchen „angleichenden Auslegung“ (interpretazione adeguatrice). Muss sie immer an der Wortlautgrenze enden? Die Antwort lautet: nein. Denn Wissenschaft und Rechtsprechung kennen traditionell innerhalb bestimmter Grenzen die berichtigende Auslegung des Gesetzeswortlauts. Außer den unbestrittenen Fällen von Schreibfehlern des Gesetzgebers kommt die Überalterung des Gesetzestextes in Betracht, wenn sich seit vielen Jahren geltende gesetzliche Bestimmungen kraft des wissenschaftlichen, technischen und sozialen Wandels als überholt erweisen, aber vom Gesetzgeber nicht angepasst worden sind. In diesen Fällen nimmt gelegentlich der Richter auf der Grundlage allgemein geteilter Maßstäbe die unaufschiebbaren Korrekturen vor.69 Innerhalb dieser Grenzen kann die Korrektur des Gesetzestextes auch durch eine „angleichende Auslegung“ erfolgen. Eine Korrektur des Gesetzestextes kommt auch durch die Beseitigung einer Wertungslücke vor. Bekannt sind dafür die Maximen lex minus dixit quam voluit und lex plus dixit quam voluit, die die Korrektur des Gesetzestextes mit Blick auf die ratio legis erfordern. Daher führt die Beseitigung einer Wertungslücke nach diesen Maßstäben nur dazu, die ratio legis vollständig zu verwirklichen. Innerhalb dieser Grenzen muss sich auch die verfassungs- oder unionsrechtskonforme Auslegung halten: Sie darf den Wortlaut des Gesetzes übersteigen, aber nicht der ratio legis widersprechen. Der EuGH hat von den nationalen Gerichten jedoch eine Auslegung jenseits dieser Grenzen gefordert: So hat er in einem Rechtsstreit zwischen Privatrechtssubjekten die Auslegung des nationalen (spanischen) Rechts (Art. 1261, 1275 Código civil) verboten, wenn dadurch „die Nichtigkeit einer Aktiengesellschaft aus anderen als den in Art. 11 [Publizitätsrichtlinie70] abschließend aufgezählten Gründen ausgesprochen werden kann.“71 Damit hat sich der EuGH der unmittelbaren horizontalen Direktwirkung ziemlich weit angenähert. Zur auch in Italien aufmerksam registrierten Mangold-Entscheidung, die faktisch den Anwendungsvorrang der Gleichbehandlungs-Rahmenrichtlinie72 gefordert hat,73 ist es dann nur noch ein kurzer Weg.

_____ 68 Vgl. Corte cost. v. 8.6.1984, Nr. 170. 69 Vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 162. 70 Erste Richtlinie 68/151/EWG des Rates v. 9.3.1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Abs. 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. 1968 L 65/8. 71 Vgl. EuGH v. 13.11.1990 – Rs. C-106/89 Marleasing, Slg. 1990, I-4135 Rn. 9. 72 Richtlinie des Rates 2000/78/EG v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303/16. 73 EuGH v. 22.11.2005 – Rs. C-144/04 Mangold, Slg. 2005, I-9981 Rn. 75 ff. Methodisch war dazu das Verbot der Altersdiskriminierung bekanntlich auf einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts mit Anwendungsvorrang zurückgeführt worden.

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§ 26 Die Anwendung des Unionsrechts in Italien

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Auf diesem Weg ist der italienische Kassationshof dem EuGH eifrig gefolgt. So bestätigt der 64 EuGH in seinem Urteil Centrosteel, dass die Handelsvertreterrichtlinie74 „einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Gültigkeit eines Handelsvertretervertrags von der Eintragung des Handelsvertreters in das dazu vorgesehene Register abhängig macht.“ Weiter heißt es, das nationale Gericht habe „bei der Anwendung der vor oder nach der Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsvorschriften diese soweit wie möglich unter Berücksichtigung des Wortlauts und Zweckes der Richtlinie auszulegen, so daß sie im Einklang mit den Zielen der Richtlinie angewandt werden können.“75 Auf dieser Grundlage hat der Kassationshof Art. 9 des Handelsvertretergesetzes,76 wonach 65 die Tätigkeit als Handelsvertreter oder -repräsentant nur bei Eintragung in das entsprechende Register zulässig und der Handelsvertretervertrag ansonsten wegen Verletzung zwingender Normen nach Art. 1418 Codice civile nichtig ist, nicht angewendet.77 Diese Nichtanwendung des nationalen Rechts hat der Kassationshof letztlich mit der unmit- 66 telbaren Wirkung der besagten Richtlinie begründet und dazu ausgeführt: „Obwohl es sich um einen Privatrechtsstreit handelt, muss unterschieden werden: Wenn die zwingende Norm, die der Richtlinie entgegensteht, ausschließlich die Privatautonomie zum Schutz von Privatinteressen beschränkt, kann diese Norm nicht unangewendet bleiben, bis die Richtlinie umgesetzt worden ist. Wenn die Norm die Privatautonomie dagegen auch im Interesse der öffentlichen Verwaltung beschränkt, betrifft der Rechtsstreit notwendigerweise auch öffentliche Interessen. In einem solchen Fall erlaubt das öffentliche Interesse, dem die richtlinienwidrige Vorschrift dient, die Nichtanwendung dieser Vorschrift, wenn die Richtlinie klar und hinreichend präzise ist.“

Das Prinzip der vertikalen Wirkung der Richtlinie soll dadurch nicht verletzt werden. Obwohl es sich im konkreten Ausgangsfall unzweifelhaft um ein „horizontales“ Verhältnis zwischen dem Handelsvertreter und dem Prinzipal gehandelt hat, müsse anerkannt werden, dass die für die Nichtigkeit des Vertrags ins Feld geführte zwingende Norm (Art. 9 des Handelsvertretergesetzes) nicht im privaten-, sondern auch im öffentlichen Interesse aufgestellt worden ist, also im Verhältnis des Staates auf der einen und den Handelsvertretern und Prinzipalen auf der anderen Seite. Daher habe die Richtlinie unmittelbare Wirkung, so dass die widersprechende nationale Norm unangewendet bleiben müsse.78 Die Analyse dieses beispielhaften Falles zeigt, dass die Richtung, die die EuGH-Recht- 67 sprechung eingeschlagen hat, in Italien insbesondere vom Kassationshof sehr positiv aufgenommen worden ist. Dabei spielt sicherlich eine wesentliche Rolle, dass sich der EuGH im Einklang mit den gewagten Auslegungstechniken findet, die der Kassationshof im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung vornimmt. Es ist sicherlich anerkennenswert, dass die Grenzen der angleichenden Auslegung nur 68 überwunden werden, um den nicht oder nicht korrekt umgesetzten Richtlinien jedenfalls teil-

_____ 74 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.11.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 75 Vgl. EuGH v. 13.7.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel, Slg. 2000, I-6007 Rn. 19. Zur Richtlinienwidrigkeit des Registereintrags als Wirksamkeitserfordernis vgl. schon EuGH v. 30.4.1998 – Rs. C-215/97 Bellone ./. Yokohama, Slg. 1998, I-2191 Rn. 18. 76 Gesetz v. 3.5.1985, Nr. 204 Disciplina dell’attività di agente e rappresentante di commercio, G.U. Nr. 119 vom 22.5.1985. 77 Vgl. Cass. v. 18.5.1999, Nr. 4817, Foro it. 1999 I, 2542, bereits erwähnt in den Schlussanträgen von GA Jacobs v. 16.3.2000 – Rs. C-456/98 Centrosteel, Slg. 2000, I-6007 Tz. 5, 36; Cass. v. 17.4.2002, Nr. 5505, Foro it. 2002 I, 2709. 78 Cass. v. 18.3.2002, Nr. 3914, Corr. giur. 2002, 1299. Caponi/Piekenbrock

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3. Teil: Besonderer Teil

weise horizontale Wirkung beizumessen.79 Auf diese Weise wird versucht, die Anwendungsfälle unionsrechtswidriger Normen zu reduzieren und damit auch die mögliche Francovich-Haftung.80 Die Auslegung des Unionsrechts durch die EuGH-Rechtsprechung hat eine gewisse Rolle bei 69 der hochbrisanten Frage des obligatorischen Mediationsversuchs gespielt, und zwar durch das Alassin-Urteil, wonach die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sowie der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes einer nationalen Regelung, die für Streitfällen zwischen Endnutzern und Dienstanbietern auf dem Gebiet der elektronischen Kommunikationsdienste die vorherige Durchführung eines außergerichtlichen Streitbeilegungsverfahrens vorschreibt, nicht entgegenstehen, wenn dieses Verfahren nicht zu einer die Parteien bindenden Entscheidung führt, keine wesentliche Verzögerung für die Erhebung einer Klage bewirkt, die Verjährung der betroffenen Ansprüche hemmt und für die Parteien keine oder nur geringe Kosten mit sich bringt.81

VII. Schluss 70 Dieser kurze Überblick über die Stellung des Unionsrechts im Rahmen der italienischen Rechts-

ordnung und die weitreichende Bereitschaft zur Durchsetzung von Richtlinienrecht im Wege der Auslegung und des Anwendungsvorrangs hat gezeigt, dass die Rechtsprechung südlich der Alpen durchaus auf der Höhe der Zeit ist. Dass damit im Interesse der Durchsetzung des Richtlinienrechts die Grenzen der klassischen Methodenlehre überschritten werden, wird nur noch als Kollateralschaden wahrgenommen. Insoweit ist die Situation in Italien nach Centrosteel durchaus vergleichbar mit der in Deutschland nach Quelle. Wenn der Verfassungsgerichtshof auf seinem Weg weiter voranschreitet und auch richtlinienwidrige Privatrechtsnormen in anhängigen Privatrechtsstreitigkeiten für verfassungswidrig erklärt, wäre Italien anderen Mitgliedstaaten dagegen mehr als nur eine Nasenlänge voraus.

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_____ 79 Vgl. Tizzano, Foro it. 1995 IV, 13, 21. 80 Vgl. Cafari Panico, Dir. pubbl. comp. europeo 1999, 383; Ruvolo, EDP 2006, 1407, 1416. 81 EuGH v. 18.3.2010 – verb. Rs. C-317/08 bis C-320/08 Alassini, Slg 2010, I-2213. Caponi/Piekenbrock

§ 27 Spanien

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§ 27 Spanien 3. Teil: Besonderer Teil

Klaus Jochen Albiez Dohrmann/Sixto Sánchez Lorenzo § 27 Spanien Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo Literatur Klaus Jochen Albiez Dohrmann (Hrsg.), Derecho privado europeo y modernización del Derecho contractual en España (2011); Ricardo Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario (2003); Paz Andrés Sáenz de Santa María/Javier González Vega/Bernardo Fernández Pérez, Introducción al Derecho de la Unión Europea (2. Aufl. 1999); Paz Andrés Sáenz de Santa María, En pos de la relevancia constitucional del Derecho comunitario (una visión desde la labor de un magistrado), Pacis Artes, Obra homenaje al Profesor Julio D. González Campos (2005), S. 863–895; Ma Dolores/Ambrona/Bardaji u.a., Derecho civil de la Unión Europea (5. Aufl. 2012); Esteve Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo (problemática, propuestas y perspectivas) (2009); Sergio Cámara Lapuente (Hrsg.), Derecho privado europeo (2003); María del Rosario Díaz Romero u.a. (Hrsg.), Derecho privado europeo: estado actual y perspectivas de futuro (2008); Araceli Mangas Martín, Veinticinco años de España en la Unión Europea, RDCE 2011, 7–15; Araceli Mangas Martín/Diego Javier Liñán Nogueras, Instituciones y Derecho de la Unión Europea (7. Aufl. 2012); Encarna Roca, El codi civil coma instrument de politica juridica, in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu (2003); Encarna Roca, Incidenza del diritto communitario sull diritto interno in Spagna, in: V. Rizzo (Hrsg.), Diritto privato communitario (1997), S. 99–120; Sixto Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo (2002); Sixto Sánchez Lorenzo (Hrsg.), Derecho contractual comparado. Una perspectiva europea y transnacional (4. Aufl. 2013); Héctor Simón Moreno, El proceso de armonización de los derechos reales en Europa (2013).

I. II. III.

IV.

Übersicht Einleitung | 1–3 Das spanische Rechts- und Gerichtssystem | 4–6 Unionsrecht und spanisches Recht | 7–13 1. Vorrang des Unionsrechts | 7–10 2. Der besondere Rechtspluralismus | 11–13 Europäische Methodenlehre im spanischen Recht | 14–38 1. Allgemeine Fragen | 14–20 a) Auslegung und Rechtsfortbildung des Unionsrechts | 14–17 b) Die Rolle der Lehre | 18 c) Soft law | 19–20

2.

3.

Primärrecht | 21–23 a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung | 21–22 b) Die primärrechtskonforme Auslegung | 23 Sekundärrecht | 24–38 a) Umsetzungstechniken | 24–33 b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist | 34–35 c) Die Vorwirkung von Richtlinien | 36 d) Die richtlinienkonforme Auslegung | 37–38

I. Einleitung Spanien ist seit dem 1. Januar 1986 Teil der Europäischen Union. Sein Beitritt ist die Folge eines 1 langwierigen Prozesses, für den nach dem Ende der langen Franco-Diktatur die Konsolidierung des demokratischen Systems durch die Verfassung von 1978 ausschlaggebend war. Die Verassung von 1978 etablierte die parlamentarische Monarchie als politische Staatsform und ein dezentralisiertes Staatsmodell, welches einem föderalistischen System sehr ähnelt. Den Staat bilden siebzehn Autonome Gemeinschaften (Comunidades Autónomas), zwei davon Inselgruppen (die Kanarischen Inseln, Region, für die aufgrund ihrer besondere Lage am äußersten Rand der EU gemäß Artikel 349 AEUV Sonderregeln gelten, sowie die Balearen), ferner zwei Städte (Ceuta und Melilla) an der nordafrikanischen Küste, die beide einen autonomen Status haben. Gleichzeitig ist Spanien ein multikultureller Staat. Mit der spanischen/kastilischen Sprache koeAlbiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

xistieren als Amtssprachen Katalanisch, Baskisch und Galizisch in den jeweiligen autonomen Gemeinschaften. Spaniens Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft wurde von einem intensiven Prozess der 2 Internationalisierung, insbesondere von der aktiven Einbeziehung Spaniens in internationalen Foren und Institutionen sowie von der Ratifizierung vieler internationaler Übereinkommen begleitet. In einer ersten Phase bis 1994 nahm Spanien eine eindeutig pro-europäische Position ein, unterstützte die deutsch-französische Achse und trat ganz offen für eine starke Integration und Vereiningung ein. Ab 1994, und vor allem nach 1996 unter der ersten konservativen Regierung, war Spaniens Haltung stärker nationalistisch geprägt, oftmals ganz ähnlich den Vorbehalten der Briten. Nach der Erweiterung von 2004 kühlte die bisher eindeutig positive Einstellung der spanischen Gesellschaft zu Europa ab, zur gleichen Zeit als Spanien politisches Gewicht in der Europäischen Union verlor. Infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 stieg die Skepsis in sozialer Hinsicht gegenüber Europa. Die Bürger Spaniens fühlten sich angesichts der eingeforderten harten Sparmaßnahmen in ihrer traditionellen Loyalität zu Europa enttäuscht. Insbesondere besteht eine weit verbreitete Skepsis gegenüber der Einheitswährung und der Währungspolitik. An den von den europäischen Institutionen beschlossenen harten Maßnahmen wird offen Kritik geübt, die von den Medien besonders an der Person der Bundeskanzlerin Merkel festgemacht wird. 3 Trotz der aktuellen Skepsis bleiben sowohl die Politik als auch die spanische Gesellschaft der europäischen Idee weiter treu, vielleicht weil Europa für Spanien seit dem 17. Jahrhundert die Utopie des Fortschritts verkörpert. Spanien ist das Problem und Europa die Lösung, sagte Anfang des 20. Jahrhunderts der spanische Philosoph Ortega y Gasset. Das Rechtsystem bildet da keine Ausnahme, und die Europäisierung des spanischen Rechtssystems ist offensichtlich, nicht nur auf der normativen Ebene, sondern auch in der Rechtslehre und in der eigenen Mentalität der Vertreter des Rechts. Infolgedessen ist die Methodik des europäischen Rechts Bestandteil des täglichen Lebens und Normalität der Rechtswirklichkeit in Spanien, sowie ein wesentlicher Teil der juristischen Universitätsausbildung.

II. Das spanische Rechts- und Gerichtssystem 4 Das spanische Rechtssystem wird meist der romanisch-germanischen Rechtsfamilie zugeordnet,

genauer den Rechtssystemen französischer Provenienz. Diese typisierende und etwas klischeehafte Einordnung in der Rechtsvergleichung beruht freilich auf einer zivilrechtlichen Perspektive, die auf die Verwurzelung des spanischen Código civil (Cc) von 1889 im napoleonischen Code civil zurückzuführen ist. Das ist zwar richtig, doch ist die Einordnung in die romanische Rechtsfamilie zugleich eine Quelle von Missverständnissen. Tatsächlich ist das spanische Rechtssystem eindeutig kontinental-europäisch geprägt (civil law). Seine Merkmale sind aber komplexer und oft spezifisch. Sicherlich ist das spanische Zivilrecht in erheblichem Maße vom französischen Zivilrecht inspiriert. Indes darf man den Código civil von 1889 nicht mit dem spanischen Zivilrecht gleichsetzen. Anders als der napoleonische Code, war der spanische Código civil im 19. Jahrhundert nicht in der Lage, den aus dem Mittelalter ererbten Rechtspluralismus von Foralund Sonderrechten, aufzuheben. So bleiben in einigen Bereichen die unterschiedlichen Zivilrechte von anhaltender Bedeutung. Die spanische Verfassung von 1978 (Constitución Española, CE) hat diese Vielfältigkeit noch verschärft. Seiner normativen Basis nach ist das spanische Rechtssystem deutlich kontinentaleuropä5 isch geprägt. Es handelt sich um ein kodifiziertes Recht, das auf den folgenden Grundsätzen beruht: Legalität, Normenhierarchie, Publizität der Normen und Rechtssicherheit. Gerichtsentscheidungen haben im spanischen Recht keinen Rechtsquellencharakter, obwohl natürlich die Rechtsprechung insbesondere des Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) (Art. 1.6 Cc) weAlbiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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sentlich zur Auslegung und Fortbildung des Rechts beiträgt. Ein Grundsatz des stare decisis ist im spanischen Rechts nicht anerkannt, und die Rechtsprechung entwickelt sich ausdrücklich von Fall zu Fall und nicht selten auch widersprüchlich. Die Möglichkeit einer richterlichen Rechtsfortbildung und die wichtige Funktion, die einer „kreativen Rechtssprechung“ gerade auch im Bereich des Privatrechts zukommt, sind damit freilich nicht geleugnet. Im Hinblick auf das geschriebene Recht hat der spanische Richter, anders als Richter in manchen anderen kontinental-europäischen Rechtsordnungen oder im Common Law, umfangreiche Auslegungs- und Rechtsfortbildungsbefugnisse. In diesem Punkt unterscheidet sich das spanische Rechtssystem nicht wesentlich vom deutschen. Hinzu kommt ein nicht zu unterschätzender Einfluss der Methodenlehre durch Karl Larenz auf die spanische Zivilrechtslehre.1 Sie hat der richterlichen Rechtsfortbildung sowie der ergänzenden Auslegung von Gesetzen und von Verträgen den Weg bereitet. Der Einfluss der deutschen Rechtswissenschaft macht sich ebenso in der spanischen Verfas- 6 sung sowie dem daraus abgeleiteten System der Rechtsquellen bemerkbar. Hier hat sich das deutsche Grundgesetz von 1949 als eine wichtige Inspirationsquelle für das spanische Verfassungssystem erwiesen. So begründet die spanische Verfassung die Zuständigkeit des Tribunal Constitucional, sowohl Gesetzgebungsakte (Normenkontrollverfahren) als auch Verwaltungshandeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Auch im Übrigen ist die spanische Verfassungsdoktrin innerlich der deutschen Lehre verbunden. Sie fußt wesentlich auf der Lehre des Rechtspositivismus von Hans Kelsen. Außer den genannten Einflüssen zeigen sich in vergleichender Analyse der spanischen Rechtsordnung außerdem Spuren anderer Rechtssysteme. Im Verwaltungsrecht, aber auch im Völkerrecht und im Privatrecht ist der Einfluss der französischen Lehre spürbar. Im Handelsrecht zeigen sich Spuren des italienischen Rechts. Deutsche Einflüsse gibt es wieder in den Gebieten des Scheck- und Wechsel- sowie des Verbraucherrechts. Punktuell gibt es im Vertragsrecht sogar eigenartige Ähnlichkeiten mit dem Common Law (privity of contract).

III. Unionsrecht und spanisches Recht 1. Vorrang des Unionsrechts Der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht, den der EuGH2 in seiner Rechtspre- 7 chung postuliert hat, wird in ständiger Rechtsprechung auch vom Tribunal Constitucional respektiert.3 Allerdings ist der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht verfassungsrechtlich verankert. Es ist die Aufgabe der ordentlichen Gerichte, den Anwendungsvorrang zu beachten und im Einzelfall zu entscheiden, ob eine nationale Rechtsnorm, gleich welchen Ranges, wegen Widerspruchs zum Unionsrecht unanwendbar bleibt. Mit Rücksicht darauf, dass nach spanischem Verfassungsrecht internationale Verträge Vorrang auch vor nachfolgenden internen Gesetzen haben (Art. 96 Abs. 1 CE), halten manche Autoren allerdings für zulässig, im Falle einer Diskrepanz zwischen nationalem Recht und Primärrecht die Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen.4 Dabei haben die ordentlichen Gerichte allerdings keine Normverwerfungskompetenz,

_____ 1 Spanische Übersetzung: Larenz, Metodología de la Ciencia del Derecho (1. Aufl. 1966; 2. Aufl. 1980–2001); und das Werk von Díez-Picazo y Ponce de León, Experiencias jurídicas y teoría del Derecho (3. Aufl. 1990). 2 EuGH v. 15.7.1964 – Rs. 6/64 Costa ./. E.N.E.L., Slg. 1964, 1251 ff.; EuGH v. 9.3.1978 – Rs. 106/77 Simmenthal, Slg. 1978, 629 ff. 3 RTC 1991/28; RTC 1991/64. Vgl. dazu Andrés Sáenz de Santa María, FS González Campos, S. 863 ff. 4 Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario, S. 41 ff. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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es geht lediglich darum, dem Unionsrecht durch seinen Anwendungsvorrang zur Geltung zu verhelfen. Die spanische Rechtsprechung5 folgt insoweit den Vorgaben des EuGH in der Entscheidung Ministero delle Finanze/IN.CO.GE.’90.6 Lediglich untergesetzliche materielle Rechtsnormen (man spricht auch von „internen Verordnungen“ im Unterschied zu Europäischen Verordnungen) können die ordentlichen Gerichte in eigener Zuständigkeit für unanwendbar erklären.7 8 Bei Nichtbeachtung des Vorrangs des Unionsrechts durch die (nationalen spanischen) Gerichte ist die Verfassungsbeschwerde eröffnet, soweit die dem europäischen Recht widersprechende Anwendung des nationalen Rechts zu einer nicht nachvollziehbaren und willkürlichen Auswahl der herangezogenen Vorschriften führt. Denn ein solches Vorgehen verletzt den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nach Artikel 24 der Verfassung. So gab etwa wegen des Prinzips des Vorrangs des Unionsrechts und der Vollstreckbarkeit der Entscheidungen des EuGH das Verfassungsgericht8 (Tribunal Constitucional) der Verfassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Entscheidung statt,9 weil diese die Rückwirkung (ex tunc) einer Entscheidung des EuGH von 200810 nicht berücksichtigt hatte. 9 Die Rechtsprechung des Tribunal Constitucional steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der des EuGH. Das spanische Verfassungsgericht lehnt einen „Überverfassungscharakter“ des europäischen Rechts ab, ähnlich wie auch die Verfassungsgerichte Italiens und Deutschlands oder das dänische Oberste Gericht.11 Zur Begründung hat es sich in seiner Erklärung 1/2004 auf den Unterschied zwischen dem Vorrang des Unionsrechts und der Vorherrschaft der staatlichen Verfassung berufen: „Diese Auslegung muss anerkennen, dass der Prozess der Übertragung nationaler Kompetenzen auf die Europäische Union und die darauf folgende Umsetzung von gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften in nationales Recht die eigenen souveränen Institutionen vor unumgängliche Schwierigkeiten stellt. Eine Umsetzung erfolgt nur dann, wenn anzunehmen ist, dass das europäische Recht mit den Grundprinzipien des demokratischen Rechts- und Sozialstaats, wie sie in der nationalen Verfassung festgelegt sind, vereinbar ist. Deshalb setzt Art. 93 der spanischen Verfassung, der die Übertragung von Zuständigkeiten und Kompetenzen grundsätzlich ermöglicht, einer solchen Übertragung von Zuständigkeiten doch zugleich inhaltliche Grenzen. Stehen diese inhaltlichen Grenzen auch nicht ausdrücklich in der Verfassung, so sind sie dem Zweck der Verfassung nach doch abzuleiten. Solche Grenzen ergeben sich insbesondere aus dem Respekt vor der Souveränität des Staates, aus grundlegenden Verfassungsstrukturen und aus dem System der Grundwerte und Grundprinzipien, wie sie in unserer Verfassung verankert sind und aus der die Grundrechte ihre eigene Individualität entnehmen (Art. 10.1 CE).“12

10 Auf der anderen Seite hatte der Tribunal Supremo das Verfassungsrecht und das europäische

Recht bei Ansprüchen auf Haftung des Staates wegen Verstoßes gegen diese Rechtsordnungen differenziert behandelt.13 Im Falle des europäischen Rechts wird die vorherige Ausschöpfung

_____ 5 TS v. 10.12.2002, RJ 2003/3005. 6 EuGH v. 22.10.1998 – verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97 Ministero delle Finanze ./. IN.CO.GE.’90, Slg. 1998, I-6307. 7 Z.B. TS v. 31.3.2003, RJ 2003/2877; TS v. 30.4.2004, RJ 2004/1678. Vgl. dazu Fajardo del Castillo, RDCE 2006, 135, 142 ff. 8 TC v. 2.7. 2012, RTC 2012/145. 9 TSJ Madrid v. 22.4.2010, RJCA, 2010/542. 10 EuGH v. 17.7.2008 – Rs. C-207/07 Kommission ./. Spanien, Slg. 2008, I-111. 11 Erklärung TC 132/1992, RTC 1992/132 ff. 12 Erklärung TC 1/2004, RTC 2004/256, Rn. 2. Die Erklärung bezieht sich auf die Übereinstimmung der spanischen Verfassung mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. 2004 C 310/1. 13 TS v. 29.1.2004, RJ 2004/1077; TS v. 24.5.2005, RJ 2005/5408. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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der internen Rechtsbehelfe verlangt. Diese Auslegung hat jedoch der EuGH erst vor kurzem als Verstoß gegen das unionsrechtliche Äquivalenzprinzip angesehen.14

2. Der besondere Rechtspluralismus Eine Besonderheit des spanischen Rechtssystems, die auch für die Methode des europäischen 11 Privatrechts von Bedeutung ist, ist der Rechtspluralismus, der in weiten Teilen des Verwaltungsund des Wirtschaftsrechts besteht und der insbesondere auch im gesamten Bereich des Privatrechts herrscht.15 Er findet seine Grundlage in Titel VIII der Verfassung. Wie in allen Rechtssystemen mit föderaler Struktur, entstehen auch hier öfter Kompetenzkonflikte zwischen dem Staat einerseits und den Autonomen Regionen andererseits. Sie können sich auf die Entwicklung des Unionsrechts auswirken.16 Der Rechtspluralismus hat insbesondere zur Folge, dass es auch im Hinblick auf die Gerichtszuständigkeiten Konkurrenzen gibt. Die Obersten Gerichtshöfe (Tribunales Superiores de Justicia) der Autonomen Regionen mit eigenem Zivilrecht verrichten in der Sache die gleiche Arbeit wie der Tribunal Supremo, wenn sie das autonome Zivilrecht anwenden. Ebenso sind die Parlamente der Autonomen Gemeinschaften mit ihren Gesetzgebungsbefugnissen an Umsetzung und Überwachung des Subsidiaritätsprinzips beteiligt. Die Beteiligung der autonomen Parlamente am Frühwarnsystem (procedimiento de alerta rapida) wurde durch das Gesetz 24/2009 vom 22. Dezember (2009) an den Lissabonner Vertrag angepasst, indem das Gesetz 8/1994 vom 19. Mai (1994) geändert wurde, welches den Gemeinsamen Ausschuss für die Europäische Union regelt. Die Kontrollmechanismen wurden auch bei der Verabschiedung der neuen Autonomiestatuten berücksichtigt.17 Im Bereich des Privatrechts hat die spanische Verfassung die Kulturvielfalt unterschiedli- 12 cher Zivil-, Foral- oder Sonderrechte beibehalten, Art. 149 Nr. 6–8 CE. Die Entwicklung des Zivilrechts ist in jeder Autonomen Region mit eigenem Zivilrecht sehr verschieden. Katalonien, zum Beispiel, ist eine der Autonomen Regionen mit eigenem entwickeltem Zivilrecht; Katalonien hat einige Richtlinien, wie z.B. die Pauschalreiserichtlinie,18 eigenständig umgesetzt. Die Inkorporierung der Klauselrichtlinie19 und der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie20 in ihr autonomes Zivilrecht hat zum Schluss doch nicht stattgefunden wie im Prinzip gedacht wurde. Seit dem 20. Juli 2010 hat Katalonien einen eigenen Verbraucherkodex (Código de consumo). Die europäische Einigung verlangt zweifellos auch Veränderungen solcher Partikularrechte. Besonders das Sekundärrecht, namentlich das Richtlinienrecht mit seinen Umsetzungspflichten, birgt die Gefahr, dass es in den Teilrechtsordnungen zeitlich und inhaltlich unterschiedliche Umsetzungen gibt.21 Wegen der dargestellten Kompetenzverteilung ist die Umsetzung und Anwendung des Sekundärrechts

_____ 14 EuGH v. 26.1.2010 – Rs. C-118/08 Transportes Urbanos, Slg. 2010, I-635. 15 Zu den Problemen vgl. K. Schurig, FS Großfeld (1999), S. 1097–1098. Sonnenberger, JZ 1998, 982, 983; De Groot, ZEuP 2001, 617, 623. Zur Autonomie des katalanischen Privatrechts, Padoa-Chioppa, ZEuP 1997, 706, 707. 16 TC v. 12.12.1991, RTC 1991/236; TC v. 28.5.1992, RTC 1992/79; TC. v. 22.4.1993, RTC 1993/14; TC v. 26.5.1994, RTC 1994/165; TS v. 24.6.2004, RJ, 2005/5530. Vgl. dazu Díaz-Ambrona, in: Derecho civil comunitario (2. Aufl. 2004), S. 61–63; Derecho civil de la Unión Europea, S. 67–71. 17 Miquel Palomares Amat, La participación del Parlamento de Cataluña en la aplicación y control del principio de subsidiariedad, RDCE 2011, S. 19 ff. 18 Richtlinie 90/314/EWG des Rates v. 13.6.1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 19 Richtlinie 93/13/EWG des Rates v. 5.4.1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. 1993 L 95/29. 20 Marco Molina, La Notaría (11/12) 2001, 15–50; dies., in: Badossa Coll y Arroyo i Amayuelas (Hrsg.), La armonización del Derecho de obligaciones en Europa (2006), S. 183–186. 21 Roca, in: V. Rizzo (Hrsg.), Diritto privato communitario (1997), S. 99–120. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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in vielen Bereichen Sache der Autonomen Regionen. Eine Grenze bildet im Vertragsrecht allerdings der Vorbehalt für die „Grundlagen“ des Vertragsrechts, die nur einheitlich der Gesamtstaat regeln kann; dazu rechnet man etwa die grundlegenden Elemente des Vertrags, der vertraglichen Haftung, der Vertragstypen und der AGB-Kontrolle.22 Ungeachtet dessen trägt aber der Staat unionsrechtlich die Verantwortung bei Nichterfüllung. Deswegen hat der „Bericht des Staatrats (Consejo de Estado) vom 14. Februar 2008 über die Einführung des europäischen Rechts in die spanische Rechtsordnung“ einen Mechanismus, wie ihn das italienische Recht mit der cedevolezza kennt, empfohlen. Demnach würden die staatlichen Umsetzungsvorschriften nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch in den Autonomen Regionen zur Geltung kommen, soweit und solange diese keine eigenen Umsetzungsvorschriften verabschiedet hätten.23 Auch darüber hinaus werfen die Umsetzungspflichten zahlreiche Fragen auf. Sie stellen sich vor allem in den Bereichen, in denen die Autonomen Regionen die ausschließliche Regelungszuständigkeit haben.24 Ungeachtet dieser Besonderheiten steht doch die Vielschichtigkeit des spanischen Rechts13 systems der Entwicklung eines einheitlichen Vermögens- und Handelsrechts nicht entgegen. Allerdings könnte eine Entwicklung hin zu einem kühnen Kodifikationsvorhaben wie einem einheitlichen Zivilgesetzbuch mit globalem Anspruch besondere Verfassungsprobleme hervorrufen.25 Zudem nimmt die Rechtsvielfalt im Privatrecht derzeit noch zu. Die Verfassungsrechtsprechung hat die Entwicklung verschiedener Zivilrechte eher vorangetrieben. Eine Zuständigkeit der Europäischen Union zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Zivilgesetzbuchs wird in der spanischen Rechtslehre jedenfalls überwiegend nicht anerkannt.26

IV. Europäische Methodenlehre im spanischen Recht 1. Allgemeine Fragen a) Auslegung und Rechtsfortbildung des Unionsrechts 14 Einige der wichtigsten Entscheidungen des EuGH zum Sekundärrecht gehen auf Vorlagen spani-

scher Gerichte zurück (Marleasing,27 Océano,28 El Corte Inglés,29 Caja Madrid ./. Ausbanc,30 Banco Español de Crédito,31 Aziz,32 …). Man könnte geneigt sein, darin Ausdruck für eine besondere Vorlagefreudigkeit spanischer Gerichte zu sehen. Statistisch erscheint diese Annahme indes nicht

_____ 22 TC v. 30.11.1982, RTC 1982/71; TC. v. 1.7.1988, RTC 1986/88; TC. v. 22.3.1991, RTC 1991/62; TC v. 29.9.1992, RTC 1992/124. 23 Alonso García, RDCE 2008, 7, 11–12. 24 Sánchez Barrilao, RDCE 2004, 241, 245. 25 Vgl. Goldstein, in: Vareilles-Sommières (Hrsg.), Le droit privé européen (1998), S. 175–178. S. auch Espiau Espiau, Derecho privado y Constitución (2000), S. 63, 75; vgl. auch Roca, in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu (2003), S. 36–42; Bosch Capdevila, in: Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo (2009), S. 25–26. 26 Vgl. Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 193–224; ders., in: Area de Dret civil Universitat de Girona (Hrsg.), El Dret civil català en el context europeu, S. 47 ff.; Martín y Pérez de Nanclares, in: Cámara Lapuente (Hrsg.), Derecho privado europeo, S. 129 ff.; Arroyo i Amayuelas/Vaquer Aloy, La Ley 2002 No. 5482, 1. 27 EuGH v. 13.12.1990 – Rs. C-106/89 Maerleasing, Slg. 1990, I-4144. 28 EuGH v. 27.6.2000 – verb. Rs. C-240/98 bis C-244/98 Océano, Slg, 2000, I-4941. 29 EuGH v. 7.3.1996 – Rs. C-192/94 El Corte Inglés, Slg. 1996, I-1281. 30 EuGH v. 3.6.2010 – Rs. C-484/08 Caja Madrid ./. Ausbanc, Slg. 2010, I-4785. 31 EuGH v. 14.6.2012 – Rs. C-618/10 Banco Español de Crédito. 32 EuGH v. 14.3.2013 – Rs. C-415/11 Aziz. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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begründet.33 Vielmehr deutet sich an, dass die spanischen Gerichte, einer Art acte clair-Doktrin folgend, in der Mehrzahl der Fälle selbst bemüht sind, das Unionsrecht auszulegen und anzuwenden.34 Seit dem Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1986 sind kaum mehr als 200 Vorlagen von den spanischen Gerichte eingereicht worden sind. Diese Zahl bleibt deutlich hinter den Vorlagen anderer Mitgliedstaaten zurück. Im Jahre 2005 legten spanische Gerichte dem EuGH nur in zehn Fällen Fragen zur Vorabentscheidung vor, 2006 waren es siebzehn. Darin zeichnet sich ein gewisser Anstieg im Vergleich zu den Vorjahren ab. Fast die Hälfte aller Vorlagefragen in diesem Zeitraum von 20 Jahren betrifft die Auslegung des Primärrechts, insbesondere Fragen der Grundfreiheiten und des Beihilferechts. Bei Vorlagen zum Sekundärrecht geht es meist um die Auslegung von Richtlinien auf den Gebieten des Arbeitsrechts, des gewerblichen Rechtsschutzes und des Urheberrechts. Nur zwei der Vorlagefragen sind dem Europäischen Privatrecht in einem engeren Sinne zuzuordnen. Eine bezog sich auf die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr,35 die andere, im Fall Mostaza Claro,36 auf die Klauselrichtlinie. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren gleich geblieben, wenn auch ein Anstieg der Vorlageverfahren im europäischen Privatrecht zu beobachten ist, insbesondere in Bezug auf missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. Man kann daraus schließen, dass die spanischen Gerichte Fragen der Auslegung und Fortbildung von Richtlinienrecht ohne Vorlage an den EuGH selbst beantworten. Sie wenden sich nur selten an den EuGH37 und beachten die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung38 nicht. Obwohl in der spanischen Lehre eine weitgehende Kompetenz des EuGH zur Konkretisierung von Generalklauseln anerkannt ist,39 gibt es auch in diesem Bereich nur wenige Vorlagen. Die große Zahl von Gerichtsentscheidungen zu AGB-Fällen steht immer noch in eklatantem Widerspruch zur Zahl von Vorlagen zur Klauselrichtlinie. Die nur schwach ausgeprägte Vorlegungsneigung verhindert indes eine einheitliche Auslegung der Richtlinie und wird dem Ziel eines Dialogs zwischen EuGH und nationalen Gerichten nicht gerecht.40 Dagegen hat der spanische Tribunal Supremo die Notwendigkeit einer unionsrechtskonfor- 15 men und auch rechtsvergleichenden Auslegung hervorgehoben, insbesondere die Fälle, in denen das nationale Gericht nach dem internationalen Privatecht verpflichtet ist, das Recht eines anderen Staates anzuwenden. Rechtsvergleichende Erwägungen haben naturgemäß besondere Bedeutung, wenn das nationale Gericht nach dem internationalen Privatrecht verpflichtet ist, das Recht eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden. Konkret hat der Tribunal Supremo in seinem Urteil vom 4. Juli 2006 über die Anwendung der deutschen Umsetzungsvorschriften zur Handelsvertreterrichtlinie darauf hingewiesen, dass dabei auch die entsprechenden spanischen Umsetzungsvorschriften vergleichend zu berücksichtigen seien, da beide Umsetzungsregelun-

_____ 33 Faramiñán Gilbert/Muñoz Rodríguez, RDCE 2009, 181–238. 34 Z.B. TS v. 24.6.2009, RJ 2009/4286; TS v. 22.6.2011, RJ 2012/6860. Auf Grund dieses Urteil wurde das Gesetz 1/2013 vom 14. Mai 2013 verabschiedet. Mit diesem Gesetz werden die Rechte der Hypothekarschuldner gestärkt. Es ermöglicht auch die Umstrukturierung der Schuld und reguliert die soziale Miete. 35 Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, ABl. 2000 L 178/1. 36 EuGH v. 26.10.2006 – Rs. C-168/05 Mostaza Claro, Slg. 2006, I-10421. 37 Das gilt selbst dann, wenn sie ausdrücklich auf eine wichtige Frage zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts stoßen; TS v. 13.11.1998, RJ 1998/8742 (im Hinblick auf die Beurteilung einer Unterwerfungsklausel nach der Klauselrichtlinie). Vgl. die allgemeine Kritik von Hinojosa Martínez/Segura Serrano, RDCE 2000, 565, 578–581. 38 EuGH v. 6.10.1982 – Rs. 283/81 C.I.L.F.I.T., Slg. 1982, 3415. 39 Vgl. Klauer, ERPL 8 (2000), 187–210; Niglia, ERPL 7 (2001), 575–599; Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 90–96, gegen die begrenzenden Thesen von W.-H. Roth, FS Drobnig (1998), S. 140. 40 Basedow, in: Schulte-Nölke (Hrsg.), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte (1999), S. 277– 290.

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gen einheitlich und in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Richtlinie auszulegen sind.41 Auf diese Weise ist es in Bereichen des angeglichenen Rechts leichter eine Revision vor dem Tribunal Supremo zu begründen, als im Bereich des autonomen spanischen Rechts:42 „In diesem Fall erfolgte der Beweis des ausländischen Rechts – durch beide Parteien – unter Bezug auf die sachverständigen Aussagen verschiedener Rechtsgelehrter sowie Verweise auf das anwendbare Recht, wodurch das deutsche Recht ausreichend nachgewiesen wurde. Allerdings nimmt das Urteil, das mit der Berufung angegriffen wurde, in einer Begründung auch auf das spanische Gesetz Bezug, das den Handelsvertretervertrag regelt. Das hindert indes nicht zu bestätigen, dass das deutsche Recht auf die in Streit stehende Rechtsbeziehung angewandt wird, da beide Rechtssysteme den Handelsvertretervertrag gemäß den Vorgaben der Richtlinie 86/653/EG regeln. Die einheitliche Behandlung der Rechtsbeziehung kommt nicht von ungefähr, da die europäischen Richtlinien eine Rechtsangleichung bezwecken.“43

16 Besondere Schwierigkeiten hat wiederholt die Verwendung von Generalklauseln im Primärrecht

und im Sekundärrecht aufgeworfen.44 Im Primärrecht sind Generalklauseln allerdings bereits durch eine umfangreiche Rechtsprechung des EuGH näher konkretisiert. So liegen die Dinge etwa im Hinblick auf den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ in Art. 52 AEUV.45 Im Sekundärrecht ist es oft schwieriger. Auch hier trägt die Rechtsprechung des EuGH freilich in vielen Fällen bereits zur Konturierung der Generalklauseln bei.46 In der spanischen Rechtslehre war der Begriff der Generalklauseln bis vor kurzem nicht gebräuchlich;47 man hat die entsprechenden Fälle den „unbestimmten Rechtsbegriffen“ zugeordnet. Im Unionsrecht werfen Generalklauseln die gleichen Probleme einheitlicher Anwendung auf, wie wir sie bereits im Hinblick auf die Auslegung erörtert haben. Ein Beispiel für eine gelungene Rechtsentwicklung ist das Urteil vom 28. März 2005,48 in dem es um einen markenrechtlichen unbestimmten Rechtsbegriff geht, die „aktuelle und effektive Verwendung eines Warenzeichen“. Zur Auslegung gab es in der spanischen Lehre zwei widerstreitende Ansätze. Das spanische Gericht betont, dass der Begriff des spanischen Umsetzungsgesetzes nicht exakt dem weniger konturierten unionsrechtlichen Begriff der „effektiven Verwendung“49 entspricht. Zum Verständnis des Begriffs trägt eine vergleichende Analyse der verwendeten Wortzeichen sowie auch anderer Umsetzungsregeln bei. Der Vorzug gebührt der Auslegung, die am besten mit dem europarechtlichen Gebot einer einheitlichen Auslegung vereinbar ist. Letztlich klärt freilich erst die Rechtsprechung des EuGH den Begriff verbindlich.50 Die spanische Rechtsprechung ist aber darüber hinausgegangen. Sie zieht die Auslegung 17 unionsrechtlicher unbestimmter Rechtsbegriffe durch den EuGH auch heran, um entsprechende Begriffe des autonomen nationalen Rechts zu konkretisieren. Auf diese Weise hat der Tribunal

_____ 41 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 42 Fernández Rozas/Sánchez Lorenzo, Derecho internacional privado (7. Aufl. 2013), S. 178–179. 43 TS v. 4.7.2006, RJ 2006/6080, Rn. 3. 44 Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo, S. 90–98, 174–176. 45 TSJ Andalucía v. 29.9.2003, RJCA 2003/992, Rn. 4. Derselben Linie folgt TSJ Andalucía v. 24.10.2003, RJCA 2003/996, Rn. 1 und v. 24.10.2003, JUR 2004/66220, Rn. 4. 46 TS v. 26.10.2005, RJ 2005/8294, Rn. 2. 47 Vgl. Miquel González, Anuario de la Facultad de Derecho de la Universidad Autónoma de Madrid (1997), S. 297 ff. 48 RJ 2005/1697, Rn. 6. 49 Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke, ABl. 1994 L 11/1. 50 Hier EuGH v. 11.3.2003 – Rs. C-40/01 Ansul ./. Ajax, Slg. 2003, I-2439. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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Supremo etwa den Begriff der fuerza mayor (force majeure, höhere Gewalt) des Art. 1.105 Cc mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des EuGH ausgelegt.51

b) Die Rolle der Lehre Die Methode des europäischen Rechts war in Spanien zunächst vor allem aus der Perspektive 18 des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts erörtert worden. Mit einer zunehmenden Harmonisierung auch von privatrechtlichen Gegenständen kam sie vermehrt auch in den Blick von Privatrechtlern.52 Ein Kennzeichen der spanischen Lehre ist dabei ihre Offenheit für die Rechtsvergleichung. Wissenschaftliche Arbeiten, besonders auch Doktorarbeiten, erörtern Fragen des europäischen Rechts regelmäßig im Vergleich zu anderen mitgliedstaatlichen Rechtssystemen, vor allem im Vergleich zum deutschen, französischen oder italienischen Recht, zudem auch, wenngleich seltener, im Vergleich zum Common Law. Diese rechtsvergleichende Perspektive des Europarechts hat die Öffnung für eine genuin europäische Methode erleichtert. Für das Verständnis des europäischen Rechts ist ein vergleichender Ausgangspunkt oft unentbehrlich. Über die Lehre hat diese europäische und rechtsvergleichende Perspektive auch Eingang in die Rechtsprechung gefunden, wenngleich die Lehre in Spanien keine Rechtsquelle ist. Das spanische System der Richterlaufbahn ermöglicht indes akademischen Lehrern den Wechsel in die Justiz. So ist mit Dr. Encarna Roca Trías eine hochqualifizierte Spezialistin des europäischen Privatrechts an den Tribunal Supremo berufen worden; ihre Tätigkeit hat sicherlich dazu beigetragen, dass der Tribunal Supremo in vielen Bereichen Aspekte des europäischen Vertragsrechts berücksichtigt hat. Es zeichnet sich in vielen Bereichen des Vertragsrechts geradezu eine neue Rechtsprechungslinie ab.53

c) Soft Law Die Auswirkung von soft law-Texten zur Vereinheitlichung des europäischen Privatrechts auf 19 das spanische Recht ist nicht nur eine Frage akademischen Interesses. Besonders im Bereich des Vertragsrechts haben solche Texte in den vergangenen Jahren Bedeutung erlangt, zu nennen sind insbesondere die Grundregeln des Europäischen Vertragsrecht (Principles of European Contract Law, PECL), der Entwurf eines Europäischen Vertragsgesetzbuchs der Pavia-Gruppe, der Gemeinsame Referenzrahmen für ein Europäisches Vertragsrecht (Draft Common Frame of Reference, DCFR) und der Text der European Group on Tort Law. Ein Einfluss dieser Texte zeigt sich sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Auslegung des nationalen Rechts durch die Rechtsprechung. Namentlich die PECL haben, wie schon öfter hervorgehoben wurde,54 als „narrative Normen“ einen Einfluss auf die Auslegung des spanischen Vertragsrechts entfaltet. So hat die Rechtsprechung einige traditionelle Rechtsinstitute des Vertragsrechts nach dem Modell der PECL und des CISG fortgebildet. Zum Beispiel kann man das Modell der Vertragsauflösung wegen Nichterfüllung nehmen, das sich von einem richterlichen Gestaltungsakt (Artikel 1.124 Cc)

_____ 51 TS v. 25.3.2003, RJ 2003/3793, Rn. 2. 52 Vgl. auch zur Eurohypothek, Muñiz Espada/Nasarre Aznar/Sánchez Jordán, Un modelo para una Eurohipoteca. Desde el Informe Segré hasta hoy (2008). Allgemein über die Harmonisierung des Sachenrechts, Héctor Simón Moreno, El proceso de armonización de los derechos reales en Europa (2013). 53 S. z.B. das Urteil des Tribunal Supremo vom 20. Januar 2014 über einen SWAP-Vertrag TOL 4.103.965. 54 Perales Viscasillas, La Ley 2007, D-128 1750 ff.; dies., in: Díaz Romero u.a. (Hrsg.), Derecho privado europeo: estado actual y perspectivas de futuro, S. 453 ff.; Vendrell Cervantes, ZEuP 2008, 534 ff.; Roca Trías/Fernández Gregoraci, ERCL 5 (2009), 45–59. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

zu einem Modell der Vertragsauflösung durch Parteierklärung gewandelt hat.55 Artikel 8:103 und 9:301 PECL haben dazu beigetragen, die Auslegung des Begriffs der „wesentlichen Nichterfüllung“ zu ändern,56 Art. 7:301 Abs. 1 PECL hat die Auslegung der Wirkungen einer vorzeitigen Erfüllung beeinflusst.57 Auch in anderen Bereichen sind die Lösungen der PECL für eine Auslegung des spanischen Rechts berücksichtigt worden, so hinsichtlich der Nachfrist (Art. 8:106 Abs. 3 PECL),58 der Verjährung des Anspruchs auf Naturalerfüllung (Art. 9:102 Abs. 3 PECL) sowie der Aufrechnung,59 des Systems der Wahlschulden (Art. 10:102)60 oder des Schadenersatzes (Art. 13:102).61 Auch als Mustergesetz spielt das europäische soft law, spielen aber auch ausländische Pri20 vatrechtsordnungen, in Spanien eine Rolle. Die PECL und der DCFR ebenso wie die Reformen anderer Rechtssysteme, namentlich die deutsche Schuldrechtsmodernisierung, beeinflussen Reformüberlegungen im spanischen Zivilrecht und werden bei der Reform der Gesetzbücher berücksichtigt. So ist etwa, wie seine Einleitung ausweist, der Vorentwurf für die Modernisierung des Schuld- und Vertragsrechts, den die Allgemeine Kommission für Kodifikation62 vorgelegt hat, deutlich von den PECL und dem „künftigen europäischen Vertragsrecht“ inspiriert. 63 Auch die voranschreitende Fortentwicklung des katalonischen Gesetzbuches ist eng an die Entwicklung des europäischen Privatrechts angelehnt. So hat man die europäische Entwicklung schon beim Verjährungssystem berücksichtigt; gegenwärtig kann man ihren Einfluss auf die Abfassung des VI. Buches über das Schuldrecht beobachten.64 Am 20. Juni 2013 wurde der Vorentwurf des neuen Handelsgesetzbuch von dem Justizminister vorgelegt. Das neue Gesetzbuch soll den alten Código de Comercio von 1885 ersetzen. Eine erste Lektüre zeigt, dass die Redakteure sich kaum auf das europäische Vertragsrecht beziehen. In der Begründung des Vorentwurfs werden nur die PECL neben dem UN-Kaufrecht und den Unidroit-Principles genannt. Auch hier wird für eine Modernisierung der allgemeinen Handelsvertragsregel plädiert. Außerdem werden die wichtigsten Handelsverträge überarbeitet und neu reguliert. Im Jahre 2015 soll das neue Handelsgesetzbuch (Código Mercantil) in Kraft treten.65

2. Primärrecht a) Nicht-legislatorische und präventive Harmonisierung 21 Anders als in anderen Mitgliedstaaten – insbesondere in Frankreich und in Deutschland – wird

das Problem der „umgekehrten Diskriminierung“ in Spanien nur wenig erörtert. Vorlagen dazu von spanischen Gerichten gibt es nicht. Allgemein kann man sagen, dass Entscheidungen des EuGH in diesem Bereich tiefer in das mitgliedstaatliche Recht eingreifen als sekundärrechtliche

_____ 55 TS v. 28.3.1996, RJ 1996/2198; TS v. 10.7.2003, RJ 2003/4339. 56 TS v. 10.10.2005, RJ 2005/8567; TS v. 5.4.2006, RJ 2006/1921; TS v. 20.7.2006, RJ 2006/7305; TS v. 31.10.2006, RJ 2006/8405. 57 TS v. 27.9.2006, RJ 2006/8631. 58 TS v. 23.7.2007, RJ 2007/4702. 59 TSJ Navarra v. 6.10.2003, RJ 2003/8687. 60 TS v. 31.10.2005, RJ 2005/7351; TS v. 11.7.2006, RJ 2006/4977. 61 TS v. 5.1.2007, RJ 2007/321. 62 B.I.M.J., LXIII, enero 2009. 63 Das Justizministerium hat aber bis heute den Vorentwurf noch nicht der Regierung vorgelegt. Vgl. Albiez Dohrmann (Hrsg.), Derecho privado europeo y modernización del Derecho contractual en España (2011). 64 Arnau Raventós, in: Bosch Capdevila (Hrsg.), Derecho contractual europeo, S. 549 ff.; Martín Casals, La Notaría (11/12) 2001, 51–61. 65 Verfügbar unter www.nuevocodigomercantil.es. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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Vorgaben, da sie interne und unionsrechtlich geregelte Sachverhalte gleichermaßen abdecken. Dieser Befund erklärt sich teilweise daraus, dass das spanische Rechtssystem zu einer einseitigen oder indirekten Harmonisierung neigt, die auch legislativ und vorbeugend verfolgt wird. Der Gesetzgeber setzt die unionsrechtlichen Vorgaben regelmäßig erweiternd um und erstreckt ihre Anwendung auch auf nationale oder unionsrechtlich offengelassene Fälle (überschießende Umsetzung; s. allgemein § 14 in diesem Band). Zum Beispiel hat das spanische Ausländerrecht unionsrechtlich begründete Vorteile auch drittstaatenangehörigen Ehegatten und Verwandten von Spaniern zukommen lassen. Ein Fall wie der in der Rechtssache Mary Carpenter66 könnte daher im spanischen Recht von vorneherein nicht auftreten. In ähnlicher Weise hat der spanische Gesetzgeber auch auf Entscheidungen wie Hubbard67 oder Mund & Fester68 reagiert und benachteiligende Rechtsinstitute des spanischen Zivilverfahrensrechts wie das cautio iuidicatum solvi oder die besonderen Regeln über die vorläufige Beschlagnahme für Ausländer (Art. 534 und 1400 Ley de Enjuiciamiento civil, LEC [spanische Zivilprozessordnung]) in der neuen Zivilprozessordnung von 2000 mit Wirkung nicht nur für Unionsbürger, sondern für alle Ausländer aufgehoben. Solche „präventive Harmonisierung“ ist manchmal auf die Betrachtung des europäischen 22 Rechts als ratio scripta zurückzuführen. Vom Blickwinkel einer judiziellen oder nicht-legislativen Harmonisierung kann man darin eine Anwendung des Unionsrechts ultra vires sehen, bei der das Europarecht als ein Element der Auslegung und Fortbildung des autonom-nationalen Rechts auch für solche Fragen herangezogen wird, die vom Unionsrecht nicht erfasst sind; die Dinge liegen hier ähnlich wie bei dem oben (Rn. 19 f.) erörterten soft law. Zum Beispiel hat die Audiencia Territorial (Oberlandesgericht) von Palma de Mallorca in ihrem Urteil vom 13. Oktober 198869 das Brüsseler Übereinkommen von 27. September 196870 herangezogen, um das autonomspanische Gerichtsverfassungsgesetz (Ley Orgánica del Poder Judicial, LOPJ) auszulegen, ungeachtet der Tatsache, dass Spanien dem Übereinkommen zu diesem Zeitpunkt noch nicht beigetreten war. Dieser Einfluss ist im legislativen Bereich ebenso nachweisbar. So hat man auch schon vor Beitritt Spaniens zur EG versucht, die dem Brüsseler Übereinkommen zugrunde liegenden Kriterien zu verallgemeinern und bei der Anwendung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit in der LOPJ zu berücksichtigen. Das ist einer der Gründe, warum Spanien in der – nicht eben kurzen – Liste der (vorbehaltenen) besonderen innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften in Anhang I zur aktuellen Gerichtsstands- und Vollstreckungsverordnung (EuGVVO)71 keinen Eintrag hat.

b) Die primärrechtskonforme Auslegung Das Gebot einer primärrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts, insbesondere einer 23 Auslegung in Übereinstimmung mit den Grundfreiheiten, gilt selbstverständlich auch im spanischen Recht und wird nicht nur bei der gerichtlichen Rechtsanwendung berücksichtigt, sondern gleichsam präventiv bei der Gesetzesbegründung verwendet. Ein anschauliches Beispiel für die

_____ 66 EuGH v. 11.7.2002 – Rs. C-60/00 Mary Carpenter, Slg. 2002, I-6279. 67 EuGH v. 1.7.1993 – Rs. C-20/92 Hubbard ./. Hamburger, Slg. 1993, I-3777. 68 EuGH v. 10.2.1994 – Rs. C-398/92 Mund & Fester ./. Hartrex, Slg. 1994, I-467. 69 RGD 1989, 745. 70 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (1978), ABl. 1978 Nr. L 304/1. 71 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates v. 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12/1.

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primärrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts bietet der Fall García Avello,72 der zunächst dem EuGH zur Entscheidung vorlag. Dort ging es um das spanische Namensrecht für Doppelstaatsangehörige, die die spanische Staatsangehörigkeit und die eines anderen Mitgliedstaats haben. Hier kann das spanische Recht – wie es sich aus nationalen Gesetzen ebenso wie aus internationalen Abkommen ergibt – in zahlreichen Fällen zu einer Vervielfältigung oder Umkehrung der Nachnamen führen, so auch in dem zu entscheidenden Fall, in dem es um spanisch-portugiesische Nachnamen ging. Die Dirección General de los Registros y del Notariado73 (DGRN) schloss im konkreten Fall die Anwendung des nationalen Gesetzes aus und eröffnete den Betroffenen, die die Staatsangehörigkeit mehrerer Mitgliedstaaten besaßen, die Möglichkeit, das anwendbare Recht zu wählen.74 Um die einheitliche Anwendung dieser Entscheidungsgrundsätze durch die zuständigen Richter (Jueces Encargados del Registro Civil)75 zu gewährleisten, veröffentlichte die DGRN die „Verwaltungsanweisung vom 23. Mai 2007 über Nachnamen von Ausländern mit spanischer Staatsangehörigkeit und deren Hinterlegung im spanischen Standesamt“ (Instrucción de 23 de mayo de 2007 sobre apellidos de los extranjeros nacionalizados españoles y su consignación en el Registro Civil español), mit der das Recht von Unionsbürgern mit Mehrstaatsangehörigkeit bestätigt wird, unter den konkurrierenden nationalen Rechten das anwendbare Recht frei zu bestimmen.

3. Sekundärrecht a) Umsetzungstechniken 24 Wegen der außerordentlichen Vielzahl unionsrechtlicher Richtlinien und Verordnungen ist es

schwierig, die Umsetzung des Sekundärrechts in das spanische Recht zusammenzufassen. Es scheint beinahe unmöglich, auch nur einen Überblick über die Entwicklung des Umsetzungsrechts in Spanien seit dem Beitritt zur EG im Jahre 1986 zu geben. Zum Beispiel hat die Europäische Gemeinschaft nach den im Amtsblatt veröffentlichten Angaben in der Zeit von Januar 1997 bis Januar 2008 allein im Nahrungsmittelsektor mehr als 1.400 Regelungen verabschiedet. Das Beispiel verdeutlicht, dass eine wissenschaftliche Untersuchung zur Umsetzung von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten nur zum Ergebnis haben kann, dass bestenfalls eine weitgehende Annäherung erreicht wurde. Im Folgenden können daher nicht alle Einzelheiten des Sekundärrechts erörtert werden. Stattdessen werden Aspekte der Umsetzung von Unionsrecht in das spanische Recht speziell mit Blick auf Rechtsakte des Privatrechts erörtert. 25 So wie auch in anderen Rechtsordnungen üblich, werden Richtlinien und Verordnungen durch Spezialgesetze ins nationale Recht implementiert. Der Consejo de Estado (Staatsrat) hat in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben, dass die Umsetzungsregelungen einer Richtlinie denselben Normenrang haben muss, wie die bereits geregelte Materie im nationalen Recht hatte; das bisherige nationale Recht ist an die Richtlinienvorgaben anzupassen.76 Wenn allerdings die Umsetzung dringlich ist, und auch aus Gründen des Gesetzesvorbehalts, erfolgt eine

_____ 72 EuGH v. 2.10.2003 – Rs. C-148/02 García Avello, Slg. 2003, I-11613. 73 Die Dirección General de los Registros y del Notariado ist eine Abteilung des Justizministeriums; sie erlässt Erläuterungen für die mit standesamtlichen Fragen betrauten Richter sowie für die Notare und entscheidet zudem über Beschwerden gegen Entscheidungen jener Gerichte und Notare. 74 DGRN v. 30.5.2006, RJ 2007/3394. 75 Bei den Jueces Encargados del Registro Civil (etwa: „Standesamt-Richter“) handelt es sich um Richter mit administrativen Aufgaben und ohne Rechtsprechungsgewalt. 76 Vgl. Gutachten 997/1988 v. 12.3.1998, 3527/2000 v. 14.12.2000 und 1957/2002 v. 25.6.2002. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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Richtlinienumsetzung nicht selten durch Rechtsverordnung; so wird insbesondere verfahren, wenn die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen ist. Besonders im Verbraucherrecht wurden viele unionsrechtliche Vorgaben durch Spezialgesetze umgesetzt. Dabei blieb der Código civil nahezu unverändert. Eine Ausnahme stellt lediglich Art. 1262 Cc über den Abschluss von Verträgen dar, der im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr geändert wurde.77 Durch dasselbe Gesetz wurde auch Art. 54 Código de Comercio (CCom) über den Vertragsschluss im Handelsverkehr an die Vorgaben der Richtlinie angepasst. Die Umsetzung von Richtlinienvorgaben macht nicht selten eine Abstimmung mit bereits vorbestehenden autonomen nationalen Regelungen erforderlich. Im Bereich des Verbraucherschutzes existierten solche insbesondere schon mit dem Gesetz über den Verbraucher- und Verwenderschutz (Ley para Defensa de los Consumidores y Usarios, LGDCU).78 Dieses enthielt bereits ein Haftungssystem sowie Regelungen über missbräuchliche Vertragsklauseln. Für den spanischen Gesetzgeber stellte sich daher die Frage, ob die Produkthaftungsrichtlinie79 und die Klauselrichtlinie weiteren Umsetzungsbedarf hervorriefen. Die Produkthaftungsrichtlinie setze der spanische Gesetzgeber durch ein weiteres Spezialgesetz um.80 Im Hinblick auf die Umsetzung der Klauselrichtlinie wählte er hingegen ein doppelgleisiges Verfahren und inkorporierte ihre Vorgaben zum einen in das LGDCU, verabschiedete aber gleichzeitig ein spezielles AGB-Gesetz 7/1998.81 In der Rechtspraxis führte dieses Nebeneinander von Gesetzen zu einer Vielzahl von Problemen und Widersprüchen. Ähnliche Probleme traten bei der Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie auf.82 Zu diesem Zeitpunkt galt bereits das Gesetz über die Ordnung des Kleinhandels,83 das verschiedene Arten von Kaufverträgen regelt. So war es einerseits erforderlich, dieses Gesetz entsprechend den Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie zu ändern.84 Darüber hinaus erließ der Gesetzgeber aber noch das Gesetz 23/2003 vom 10. Juli 2003 über die Gewährleistung beim Verbrauchsgüterkauf.85 Auch hier hat die Literatur Reibungspunkte und Widersprüche der beiden Gesetze kritisiert. Bei der Umsetzung einer Richtlinie sind so häufig mehrere Gesetze betroffen – vorhandene Gesetze werden geändert, neue Gesetze erlassen. Ein neues letztes Beispiel ist die Umsetzung der Richtlinie 2011/7/EU zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr durch das RDL 4/2013, vom 22. Februar, de Medidas de apoyo al emprendedor y de estímulo de crecimiento y de creación de empleo. Die genannten Beispiele zeigen die inhaltliche Verflechtung mehrerer Gesetze bei der Umsetzung einer Richtlinie. Die Folge ist eine umfangreiche horizontale Ausweitung der Unionsnormen in einem bestimmten Bereich des Marktes. Das kann sowohl positive als auch negative Effekte haben. Denn nicht immer kann der Rechtsanwender deutlich unterscheiden, wann eine Norm unionsrechtskonform auszulegen ist und wann nicht.

_____ 77 Ley 34/2002 v. 11.7.2002 de servicios de la sociedad de la información y de comercio electrónico. 78 Ley 26/1984 v. 19.7.1984 para defensa de los consumidores y usarios. 79 Richtlinie 85/374/EWG des Rates v. 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte, ABl. 1985 L 210/29. 80 Ley 22/1994 v. 6.7.1994 de Responsabilidad civil por los daños causados por productos defectuosos. 81 Ley 7/1998 v. 13.4.1998 de las Condiciones Generales de la Contratación. 82 Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171/12. 83 Ley 7/1996 v. 15.1.1996 de Ordenación del Comercio Minorista. 84 Durch das Gesetz 47/2002 v. 19.12.2002 de reforma de la Ley/1996, de 15 de enero, de Ordenación del Comercio Minorista, para la transposición de la la Directiva 97/7/CE en materia de contratos a distancia, y para la adapatación de la Ley a diversas Directivas. 85 Ley 23/2003 v. 10.7.2003 de Garantías en la Venta de Bienes de Consumo. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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Die zunehmende Bereitschaft des spanischen Gesetzgebers zu legislativem Handeln kann sich sowohl positiv als auch negativ auf die Angleichung des spanischen Rechts an das Unionsrecht auswirken. Zum Beispiel wurde der königliche Erlass 1/2007 vom 16. Dezember 2007 verabschiedet, durch den das LGDCU neu verkündet wird. Die Neufassung des LGDCU (Texto refundido de la Ley General para la Defensa de los Consumidores y Usuarios y otras Leyes complementarias, TRLGDCU) führt mehrere Sondergesetze zusammen, die wiederum der Umsetzung verschiedener Richtlinien dienen. Der königliche Erlass beschränkt sich allerdings nicht auf die Konsolidierung des vorbestehenden Rechts, sondern enthält darüber hinaus inhaltliche Änderungen. Das wiederum stellt die Wirksamkeit der vom Unionsrecht intendierten Rechtsangleichung in Frage. Ein anderes Beispiel ist das Gesetz über Maßnahmen für die Förderung der Informationsgesellschaft.86 Dieses Gesetz modifiziert nicht nur das ältere Gesetz über Dienste der Informationsgesellschaft und elektronischen Geschäftsverkehr,87 das seinerseits die Vorgaben der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr umsetzt, sondern auch das Gesetz über elektronische Signaturen und den zugehörigen königlichen Erlass über elektronische Signaturen.88 Schon dieser Erlass berücksichtigte den Entwurf einer Richtlinie über elektronische Signaturen, der erst später verabschiedet wurde.89 – Durch die wiederholte Änderung nationaler Umsetzungsvorschriften wird der Rechtsrahmen von Mal zu Mal undurchsichtiger und weniger nachvollziehbar. Erschwert wird auch festzustellen, ob das mitgliedstaatliche Umsetzungsrecht den unionsrechtlichen Vorgaben noch genügt oder sich von diesen entfernt hat. Diese zunehmende Intransparenz macht es nicht zuletzt den Unionsorganen schwer, etwaige Verstöße gegen das Unionsrecht zu kontrollieren; sie sind dabei stets auf nationale Berichte und Klagen Einzelner angewiesen, die solche Umsetzungsdefizite hervorheben. Spanien – wie einige andere Mitgliedstaaten auch – hat die Umsetzung von Richtlinien in 31 nationales Recht nicht stets mir vollem Eifer und Erfolg betrieben, sei es, dass die Umsetzungsfrist überschritten wurde, sei es, dass inhaltliche Vorgaben nicht vollständig oder richtig umgesetzt wurden.90 Die von den Unionsorganen vorgegebenen Umsetzungsfristen fügen sich oft nicht bruchlos in den politischen und legislativen Kalender der Mitgliedstaaten. Mitunter erschweren besondere Umstände die fristgerechte Umsetzung. Beispiele dafür liefert auch die spanische Umsetzungspraxis.

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So konnte das Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der Produkthaftungsrichtlinie erst nach sechsjähriger Dauer und damit mit dreijähriger Verspätung mit Verabschiedung des Gesetzes über die Haftung für fehlerhafte Produkte91 abgeschlossen werden. In der Zwischenzeit machte man das allgemeine Haftungssystem der Art. 25–28 LGDCU für die Zwecke der Umsetzung fruchtbar. Schon im Jahr 1995 lag bereits ein erster Entwurf zur Umsetzung der Richtlinie und – damit verbunden – Änderung des LGDCU vor, doch fand dieser kein Echo. Erst 1997 wurde ein im Auftrag des Ministerrats verfasster neuer Entwurf vorgelegt. Dieser basierte auf früheren Regelungsvorschlägen, die, inhaltlich an das Modell des deutschen AGBG angelehnt, teils schon vor Verabschiedung der Klauselrichtlinie 93/13/EWG ausgearbeitet worden waren. Von da an ging es ganz schnell, die Regierung übertrug die Federführung für das Gesetzesvorhaben der Kommission für Justiz und Inneres und das Gesetz wurde schließlich am 13. April 1998 verabschiedet. Zügig erfolgte hingegen die Umsetzung der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, die nach weniger als zwei Jahren durch das Gesetz über Gewährleistungsrechte

_____ 86 Ley 56/2007 v. 28.12.2007 de Medidas de Impulso de la Sociedad de la Información. 87 Fn. 77. 88 Real Decreto Ley 14/1999 v. 17.9.1999 sobre firma electrónica. 89 Richtlinie 1999/93/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.1999 über gemeinschaftliche Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen, ABl. 2000 L 13/12. 90 Der Statistik ist freilich zu entnehmen, dass Spanien insoweit nicht säumiger ist als andere Mitgliedstaaten; Bellido Barrionuevo, La directiva comunitaria (2003), S. 145. 91 Fn. 80. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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beim Verbrauchsgüterkauf92 erfolgte. Bis dahin war in der Lehre umstritten, ob die Umsetzung der Richtlinie durch ein Sondergesetz oder durch Änderung des LGDCU vorzugswürdig sei. Schließlich erwog man auch, ob die Richtlinienvorgaben nicht überschießend durch eine breitere Regelung umgesetzt werden sollten, die auch eine Änderung des Código civil und des Handelsgesetzbuchs umfasst. Seit 2007 sind die Sachfragen jetzt übrigens im TRLGDCU geregelt.93

Spanien hatte sich wiederholt in Vertragsverletzungsverfahren wegen fehlerhafter Umsetzung 32 von Richtlinien zu verteidigen, und wiederholt mussten nationale Umsetzungsvorschriften nachgebessert werden.94 Ein Beispiel aus dem hier erörterten Bereich des Europäischen Privatrechts ist das Urteil des EuGH vom 9. September 2004, in dem es um die Umsetzung der Klauselrichtlinie in Spanien ging.95 Nach Auffassung des Gerichtshofs war die Vorschrift von Art. 5 S. 3 Klauselrichtlinie nicht richtig umgesetzt, nach der die contra proferentem-Regel im Verbandsklageverfahren nicht anzuwenden ist.96 Das war zwar in der Tat im Wortlaut der spanischen Umsetzungsvorschriften nicht eigens hervorgehoben, doch begründete die Lehre das richtlinienkonforme Ergebnis im Wege der Auslegung. Das Urteil des EuGH führte schließlich dazu, dass die Umsetzungsvorschrift klarstellend angepasst wurde.97 In derselben Entscheidung stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen die Vorgaben von Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie fest.98 Dabei hätte der EuGH durchaus zu einem anderen Ergebnis kommen können, wenn er seiner Entscheidung eine Interpretation zugrunde gelegt hätte, welche die maßgeblichen Vorschriften des LCGC und des LGDCU im Zusammenhang sieht. Richtig verstanden verstießen sie nicht gegen Art. 6 Abs. 2 Klauselrichtlinie. Der spanische Gesetzgeber hat Richtlinienvorgaben auf unterschiedliche Weise umgesetzt 33 und sich dabei teils eng an den Richtlinienwortlaut gehalten, diesen teils freier umgesetzt; nicht selten ist er auch über die Vorgaben hinausgegangen. Im Rahmen der Kaufgewährleistungsrechte des Verbrauchers regelt Art. 124 LGCDU idF von 2007 die Klage des Verbrauchers gegen den Hersteller, wenn auch nur subsidiär, für den Fall, dass er seine Rechte nicht gegen den Verkäufer durchsetzen kann. Das ist ein Fall von überschießender Umsetzung. Auch die Vorgaben der Klauselrichtlinie hat der spanische Gesetzgeber in einigen Punkten übererfüllt. Das betrifft zum Beispiel die Kontrolltechniken des Richters über missbräuchliche Klauseln. Die Gerichte sind befugt, eine wegen treuwidriger Benachteiligung nichtige Klausel aufrecht zu erhalten und zu modifizieren, Art. 83.2 LGDCU idF von 2007. In anderen Fällen werden aber auch Umsetzungsdefizite gerügt. So hat der spanische Gesetzgeber beispielsweise Art. 4 Abs. 2 der Klauselrichtlinie über die Kontrollfreiheit von Hauptgegenstand und Preis nicht ausdrücklich umgesetzt. Im Privatrecht hat man manchmal den Eindruck, dass der spanische Gesetzgeber in einigen Bereichen das Vertragsrecht modernisieren will, vor allem wenn es um den Verbraucherschutz geht. Die Umsetzung ins Privatrecht geht dabei nicht selten weiter als es das Unionsrecht verlangt und oft werden gleichzeitig mehrere Gesetze geändert. Diese Umsetzungstechnik macht es in einigen Fällen schwer zu erkennen, ob die Regelung die Richtlinienvorgaben überschießend umsetzen.

_____ 92 Fn. 82. 93 Statt aller Carrasco Perera/Cordero Lobato/Martínez Espín, Estudios sobre Consumo (2000), S. 125. 94 S. z.B. EuGH v. 25.2.2010 – Rs. C-295/09 Kommission ./. Spanien, Slg. 2010, I-24; EuGH v. 11.2.1010 – Rs. C-523/08 Kommission ./. Spanien, Slg. 2010, I-19. Allgemein Bellido Barrionuevo, La directiva comunitaria (2003), S. 145. 95 EuGH v. 9.9.2003 – Rs. C-70/03 Kommission ./. Spanien, Slg. 2004, I-7999. 96 S. nur Infante Ruiz, Revista de Derecho Privado 2005, 159 ff.; ders., Revista de la Facultad de Derecho de la Universidad de Granada (2006), S. 469. 97 Ley 44/2006 v. 29.12.2006 de mejora de la protección de los consumideres y usuarios. 98 Vgl. nur Esteban de la Rosa, La Ley 2005, D-101 1932. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

Das ist zum Beispiel bei dem LGDCU idF von 2007 der Fall. Hier hat der Gesetzgeber nicht nur die bestehenden Vorschriften neu geordnet und Sondergesetze integriert, sondern gleichzeitig auch inhaltliche Veränderungen vorgenommen, die teilweise über das hinausgehen, was mit dem Mittel einer gesetzesvertretenden Verordnung (Real Decreto Legislativo)99 geregelt werden kann. Dem Gesetzgeber ist dabei zu Gute zu halten, dass er das Anliegen verfolgte, das Unionsrecht effektiv umzusetzen. Mit der revidierten Fassung des Textes wollte er die richtliniendeterminierten Vorschriften verdeutlichen und näher erläutern.100 Zum Beispiel hat die Reform von 2007 die vorher spezialgesetzlich geregelte AGB-Kontrolle präzisiert.101 Auch die Umsetzungsvorschriften zur Verbrauchsgüterkaufrichtlinie wurden klarer gefasst, teils auch gegenüber dem Richtlinientext verbessert.102 Ebenso hat der Gesetzgeber die Vorschriften über die Produkthaftung teilweise sprachlich überarbeitet, teils inhaltlich erweitert, so wenn die Haftung auf fehlerhafte Dienstleistungen erstreckt wird. Auf diese Weise wird zwar einerseits das Umsetzungsgesetz verbessert, wird aber andererseits die Kontrolle durch die Europäische Kommission erschwert. Mit der Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie103 wird zudem der TRLGDCU geändert. Die Reform ist am 27. März 2014 versabschiedet worden (veröffentlicht im Bundesgesetzblatt am 28. März). Der spanische Gesetzgeber hat wieder einmal die Umsetzungsfrist nicht eingehalten.

b) Wirkungen nach der Umsetzungsfrist 34 Die unmittelbare Anwendbarkeit des Sekundärrechts ist selbstverständlich auch in der spani-

schen Rechtsprechung anerkannt.104 Allerdings hat die Rechtsprechung die unmittelbare Anwendbarkeit bei fehlerhafter oder verspäteter Umsetzung der Richtlinie zu streng auf das Vertikalverhältnis Staat–Bürger beschränkt. So lehnte der Tribunal Supremo105 in einer Entscheidung aus dem Jahre 1991 die Anwendung der Insolvenzschutzrichtlinie106 im Rechtsstreit zwischen einer Privatperson und dem Lohngarantiefonds – einer Einrichtung des Ministeriums für Arbeit und Soziales – zu Unrecht ab.107 Insgesamt ist die Rechtsprechung in Bezug auf die Richtlinienwirkungen uneinheitlich. 35 Während einige Entscheidungen des Tribunal Supremo weder die Faccini Dori-Vorgaben108 beachten, noch eine unionsrechtkonforme Auslegung, noch eine unionsrechtliche Staatshaftung in Betracht ziehen,109 beachten andere Entscheidungen die Vorgaben des EuGH zutreffend und legen das nationale Recht unionsrechtskonform aus.110 In einigen Entscheidungen wird sogar über die europarechtlichen Vorgaben hinausgehend eine unmittelbare horizontale Wirkung anerkannt, so etwa in Bezug auf die Vorschriften der Klauselrichtlinie. In einem Fall hat der Tri-

_____ 99 Die spanische Verfassung kennt verschiedene Formen der Legislativakte, nämlich das (parlamentarische) Gesetz (Ley), die Verordnung (Reglamento), gesetzesvertretende Verordnung (Decreto Legislativo, Art. 85 CE) sowie die in Eilfällen zugängliche Gesetzesverordnung (Decreto Ley, Art. 86 CE). 100 Vgl. Grunderklärung 1/2007 über gesetzesvertretende Verordnungen v. 16.11.2007, die die revidierte Fassung der LGDCU bestätigt. 101 Vgl. Art. 125 mit dem Art. 11 des Gesetzes 23/2003 v. 10.7.2003. 102 Vgl. Art. 119.2–2 oder Art. 123.4, S. 2, 126 S. 2. 103 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, ABl. 2011 L 304/64. 104 Z.B. TS v. 17.4.1989, RJ 1989/4524; TS v. 10.2.1997, RJ 1997/2141; TS v. 16.2.2000, RJ 2000/1889. 105 TS v. 13.7.1991, RJ 1991/5985. 106 Richtlinie 80/987/EWG des Rates v. 20.10.1980 über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers, ABl. 1980 L 283/23. 107 González-Orús, RDCE 1999, 465 ff. 108 EuGH 14.7.1994 – Rs. C- 91/92 Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325. 109 TS v. 31.1.1998, RJ 1998/121. 110 TS v. 20.11.1996, RJ 1996/8371; TS v. 15.3.1995, RJ 1995/1964. Kürzlich auch TS v. 24.7.2000, RJ 2000/6473; TS v. 15.3.2001, RJ 2001/5980; TS v. 30.4.2004, RJ 2004/2678; TS v. 28.3.2005, RJ 2005/1697; TS v. 23.6.2005, RJ 2005/4930; TS v. 19.12.2008, RJ 1009/24; TS v. 17.3.2009, JUR 2009/169539, Rn. 1; TS v. 27.3.2009, RJ 2009/3288; AP Madrid v. 15.2.2010, AC 2010/509.

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§ 27 Spanien

627

bunal Supremo die Vorgaben sogar angewandt, obwohl die Richtlinie nicht umgesetzt worden war oder der Vertragsschluss weit vor Ablauf der Umsetzungsfrist lag.111 In einigen Fällen stützt sich die Anerkennung der horizontalen unmittelbaren Wirkung der Richtlinie auf ein umfassendes Konzept „des verpflichteten Staats“, der die Richter einschließt, die dafür verantwortlich wären, dass das von der Richtlinie bezweckte Ziel erreicht wird, indem sie diejenigen nationalen Normen nicht anwenden könnten, die dagegen verstoßen, selbst wenn sich die Parteien nicht auf die betreffende Richtlinie berufen sollten.112 Im Schrifttum werden diese Entscheidungen überwiegend kritisiert,113 doch gibt es auch Stimmen, die sich für eine „weitreichende unmittelbare horizontale Anwendbarkeit“ von Richtlinien aussprechen.114

c) Die Vorwirkung von Richtlinien Eine unmittelbare Anwendung von Richtlinien kommt nur in Betracht, wenn die Vorgaben der 36 Richtlinie nicht oder fehlerhaft umgesetzt wurden. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist ist eine solche horizontale Wirkung nicht anerkannt. Nach der Rechtsprechung des Tribunal Supremo115 kommt der Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine „latent verpflichtende Wirkung“ zu (s. allgemein § 15 in diesem Band). Die Rechtsprechung ist diesbezüglich ein wenig undeutlich. Der Tribunal Supremo116 hat die Anwendung der Vorschriften der Klauselrichtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist gebilligt, sogar vor Inkrafttreten der Richtlinie. Hierbei handelt es sich nicht um eine richtlinienkonforme Auslegung des damals geltenden spanischen Rechts, sondern um eine Vermischung von Auslegung nationalen und des Unionsrechts.

d) Die richtlinienkonforme Auslegung Nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine richtlinienkonforme Auslegung erst ab Ablauf der 37 Umsetzungsfrist geboten. Bis dahin gilt lediglich, dass die Mitgliedstaaten keine Regelungen erlassen oder beibehalten dürfen, die einer erfolgreichen Umsetzung der Richtlinien entgegenstehen (Vereitelungsverbot).117 Auch der Tribunal Supremo hat zunächst vor Ablauf der Umsetzungsfrist keine Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung angenommen.118 In der Lehre wird hingegen teilweise eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist befürwortet.119 Dem scheint der Tribunal Supremo in jüngeren Entscheidungen zu folgen:120

_____ 111 TS v. 5.7.1997, RJ 1997/6151; TS v. 28.11.1997, RJ 1997/8435; TS v. 20.2.1998, RJ 1998/604; TS v. 31.1.1999, RJ, 1999/121. 112 AP Girona v. 20.3.2102, JUR 2012/49134. 113 TS v. 12.7.1996, RJ 1996/5580; TS v. 23.9.1996, RJ 1996/6721; TS v. 8.11.1996, RJ 1996/7954; TS v. 30.11.1996, RJ 1996/8457. Vgl. Alonso García, El juez español y el Derecho comunitario (2003), S. 145; Del Valle Gálvez/T. Fajardo del Castillo, RDCE 1999, 122; López Escudero/F. Cuesta Rico, RDCE 1999, 412–414; Blanco Pérez Rubio, Estudios sobre Consumo (1997), S. 37 ff. 114 Brú Purón, in: García Collantes (Hrsg.), La unificación jurídica europea (1999), S. 61. 115 TS v. 18.3.1995, RJ 1995/1964. 116 TS v. 5.7.1997, RJ 1997/6151. 117 TS v. 28.3.2005, RJ 2005/1697. 118 Sánchez Lorenzo, Derecho privado europeo (2002), S. 82. 119 Andrés Sáenz de Santa María/González Vega/Fernández Pérez, Introducción al Derecho de la Unión Europea (2. Aufl. 1999), S. 436. 120 EuGH v. 8.10.1987 – Rs. 80/86 Kolpinghuis Nijmegen, Slg. 1987, 3969. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

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3. Teil: Besonderer Teil

„Die Normen der nationalen Rechtsordnung müssen von allen Gerichten gemeinschaftsrechtskonform ausgelegt werden, unabhängig von der Tatsache, dass die Norm vor oder nach der Richtlinie verabschiedet wurde oder die Richtlinie bereits in nationales Recht umgesetzt wurde oder nicht“.121

38 Die spanischen Gerichte haben in vielen Fällen das Prinzip der unionsrechtskonformen Ausle-

gung bis an die Grenzen des Möglichen angewendet, auch wenn diese Auslegung eine Nichtbeachtung des nationalen Rechts impliziert, das eindeutig der europäischen Norm widerspricht.122 Über Reichweite und Grenzen der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung gibt es unterschiedliche Ansichten. Im Hinblick auf die Klauselrichtlinie haben einige Gerichte eine richtlinienkonforme Auslegung für unmöglich gehalten, da das spanische Umsetzungsgesetz höhere Anforderungen an den Verbraucher stellt.123 Andere Entscheidungen haben indes eine Auslegung in Übereinstimmung mit Art. 3 Klauselrichtlinie für möglich gehalten.124 In einigen Fällen ist die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung als eine Ergebnispflicht verstanden worden, die auch dann besteht, wenn die gebotene Auslegung nur contra legem erreicht werden könnte,125 nicht nur als eine Verhaltenspflicht. Beispielhaft zeigt sich dieses weite Verständnis zur Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung in Entscheidungen über die Nichtigkeit von Gesellschaften infolge der Marleasing-Entscheidung des EuGH.126

neue Seite

_____ 121 TS v. 16.4.2007, RJ 2007/3780, Rn. 3; wiederholt in TS v. 10.7.2008, RJ 2008/4371, Rn. 3; TS v. 10.7.2008, RJ 2008/4372, Rn. 3. 122 TS v. 24.6.2009, RJ 2009/4286; TSJ Castilla y León v. 24.2.2010, AS 2010/1442. 123 TS v. 21.1.1988, RJ 1988/121; TS v. 20.11.1996 RJ 1996/8371. 124 TS v. 23.7.1993, RJ 1993/6467; TS v. 20.7.1994, RJ 1994/6518. 125 TS v. 30.4.2004, RJ 2004/1678 (in Bezug auf die Handelsvertreterrichtlinie). 126 TS v. 26.3.2009, RJ 2009/2388, Rn. 2. Albiez Dohrmann/Sánchez Lorenzo

§ 28 Polen

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§ 28 Polen 3. Teil: Besonderer Teil

Ulrich Ernst § 28 Polen Ernst Literatur Antonów Dobrosława, Wykładnia prawa podatkowego po wstąpieniu Polski do Unii Europejskiej (2009); Stanisław Biernat/Piotr Wróbel, Stosowanie prawa wspólnoty europejskiej w polskim sądownictwie administracyjnym, Studia Prawno-Europejskie, Bd. 9 (2007), 7–48; Monika Domańska (Hrsg.), Pytanie prejudycjalne do Trybunału Wspólnot Europejskich (2007); Mirosław Granat (Hrsg.), Stosowanie prawa międzynarodowego i wspólnotowego w wewnętrznym porządku prawnym Francji i Polski (2007); Anna Kalisz, Wykładnia i stosowanie prawa wspólnotowego (2007); Ewa Łętowska, KPP 1/2002, 27–64; Cezary Mik, Wykładnia prawa Unii Europejskiej (2008); Zbigniew Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, Tom 1 – Prawo cywilne – część ogólna (2007); Piotr Winczorek, Teoria i praktyka wykładni praw (2005); Krzysztof Wojtyczek, Przekazywanie kompetencji państwa organizacjom międzynarodowym (2007); Slawomira Wronkowska, Polska kultura prawna (2005); Maciej Zieliński, Wykładnia prawa (6. Aufl. 2012).

I. II.

III.

Übersicht Polen – junger Mitgliedstaat und Transformationsland | 1 Grundlagen | 2–11 1. Rechts- und Gerichtssystem | 2–3 2. Organisation von Forschung und Lehre | 4–5 3. Abstrakter Ansatz der überkommenen Rechtstheorie | 6–9 4. Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre | 10–11 Unionsrecht und nationales Recht | 12–20 1. Verfassungsrechtliche Sicht: Europarecht als Untersystem des polnischen Rechts | 12–15

2.

IV.

V.

Beitritt: Vorwirkung des EU-Rechts? | 16–17 3. Beitritt: Wirkung noch nicht in der Landessprache veröffentlichten EU-Rechts? | 18–20 Europäische Methodenlehre im nationalen Recht | 21–37 1. Europarechtskonforme Auslegung | 21–25 2. Vorlage nach Art. 267 AEUV | 26–32 3. Europarechtskonforme Rechtsanwendung auf dem Gebiet des Privatrechts | 33–37 Fazit | 38–39

I. Polen – junger Mitgliedstaat und Transformationsland Polen verdient Beachtung als Beispiel für den Beitritt zur Union, die Transformation von zent- 1 ralwirtschaftlicher kommunistischer Diktatur hin zum freiheitlichen Rechtsstaat mit funktionierender Marktwirtschaft, wie auch aus sich heraus.1 Beigetreten ist das Land im Jahre 2004 im Rahmen der größten Erweiterungsrunde. Die Transformationsrichtung glich derjenigen von elf der 2004, 2007 und 2013 aufgenommenen Staaten. Überlegungen zu beitrittsverbundenen Geltungsfragen und Sprachproblemen scheinen ohne Weiteres verallgemeinerbar. Im Übrigen gilt: Jedes ostmitteleuropäische Land hatte vor dem Zweiten Weltkrieg sein eigenes Rechtssystem, in jedem wurde anschließend die kommunistische Ideologie auf unterschiedliche Weise umgesetzt

_____ 1 Der Bevölkerungszahl nach ist es das sechstgrößte Mitgliedsland der Union, seine Wirtschaftskraft steht an siebter Stelle (2012): http://epp.eurostat.ec.europa.eu/tgm/table.do?tab=table&init=1&plugin=1&language=de&pcode= tec00001.

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3. Teil: Besonderer Teil

und jedes wählte nach Überwindung der sowjetischen Vorherrschaft seinen eigenen Weg für den Umbau von Gesellschaft, Recht und staatlichen Institutionen.

II. Grundlagen 1. Rechts- und Gerichtssystem 2 Das Recht, welches sich der 1918 wieder entstandene Staat schuf, ist der kontinentalen roma-

nisch-germanischen Rechtsfamilie zuzuordnen. 2 Der Abschluss der Rechtsvereinheitlichung gleich nach dem Zweiten Weltkrieg und der anschließende Umbau nach den Vorgaben der marxistisch-leninistischen Ideologie änderten weniger Stil und Struktur der Gesetze als ihr ideologisches und gesellschaftliches Umfeld. Abgelehnt wurde nun die „in bürgerlichen Rechtssystemen“ vorgenommene Unterscheidung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht unter Verweis auf die Überwindung der Interessenunterschiede von Einzelnem und staatlicher Gemeinschaft.3 Nach der Wende von 1989 wurde zwar in der Lehre die Bedeutung der hergebrachten Unterscheidung betont;4 normativen Niederschlag hat dies aber nicht gefunden.5 3 Neben dem Verfassungsgerichtshof bestehen ordentliche Gerichte (sądy powszechne) und Verwaltungsgerichte (sądy administracyjne).6 Zivil- und Strafprozessrecht sehen als Rechtsmittel die Appellation (apelacja) vor, gegen zweitinstanzliche Entscheidungen die Kassationsbeschwerde (skarga kasacyjna) bzw. Kassation zum Obersten Gericht (Sąd Najwyższy, OG). Die zweistufige Verwaltungsgerichtsbarkeit kennt die Kassationsbeschwerde vor dem Hauptverwaltungsgericht (Naczelny Sąd Administracyjny, HVerwG). Ordentliche Gerichte, welche als Rechtsmittelinstanz entscheiden, können bei Anwendungszweifeln in einem konkreten Fall dem OG sog. Rechtsfragen vorlegen.7 Dessen Entscheidung ist verbindlich für alle in dieser Sache zur Entscheidung berufenen Instanzen. Abgeschafft wurde seine in kommunistischen Zeiten bestehende Kompetenz zur Formulierung abstrakter „Richtlinien der Justiz und Gerichtspraxis“, die, ähnlich gesetzlichen Vorschriften, für die Gerichte verbindlich waren.8 Der Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny, VerfGH) ist u.a. zuständig für (abstrakte und konkrete) Normenkontrollen9 sowie für Verfassungsbeschwerden.10

_____ 2 Ernst, in: Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts (2009), Stichwort „Polnisches Zivilgesetzbuch“ mwN. 3 Radwański/Olejniczak, Prawo cywilne – część ogólna (12. Aufl. 2013), Rn. 1 ff. Eine Ausnahme bildete nur die Bezeichnung des Gesetzes „Internationales Privatrecht“ von 1965. Gebräuchlich blieben Begriffe wie Zivilrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht. 4 Ausführlich Safjan, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 2. Insbesondere wird hier der Unterschied der öffentlichen gegenüber der privatrechtlichen Regelungsmethode hervorgehoben. Kennzeichen letzterer seien die Gleichberechtigung der Beteiligten und die Freiheit in der Gestaltung der Rechtsverhältnisse. S. auch Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 51 ff. 5 So spricht das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht, wie in Deutschland, von einer Zuständigkeit für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten, sondern für die „öffentliche Verwaltung“. 6 Innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit gibt es Abteilungen für Familien- und Vormundschaftssachen sowie für Arbeits- und Sozialversicherungssachen. Den Verwaltungsgerichten obliegen auch Steuerangelegenheiten sowie Fragen des Sozialversicherungsrechts. Weiterhin bestehen ein Staatsgerichtshof für die Sanktionierung von Rechtsverstößen von Inhabern oberster Staatsämter sowie die Militärgerichte. 7 Art. 390 Zivilverfahrensgesetzbuch; Art. 441 Strafverfahrensgesetzbuch. 8 Safjan, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 16 Rn. 77. 9 Verfassung – internationale Verträge – Gesetze – Verordnungen/Akte des Ortsrechts. 10 Vgl. Art. 79, 188, 191 und 193 polnische Verfassung (plnVerf) von 1997. Ernst

§ 28 Polen

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2. Organisation von Forschung und Lehre Die Hochschulen sind bei der Gestaltung ihres Unterrichts inhaltlich und organisatorisch verhältnismäßig au- 4 tonom, zumal das Studium nicht mit einem Staats-, sondern einem Universitätsexamen endet. Die in Deutschland praktizierte strikte Zuordnung eines jeden Lehrstuhls zum Privat-, Straf- oder (sonstigen) Öffentlichen Recht ist nicht anzutreffen. Da es keine so starke Betonung weniger Hauptfächer gibt, geht der Blick eher auf die Lehre des jeweiligen Einzelgebiets. Die Spezialisierung strahlt auch in die Forschung aus, was nach 1989 ein zügiges Aufarbeiten westlicher Rechtsentwicklungen ermöglicht hat.11 Andererseits fehlt damit ein Anstoß, Probleme in einen übergreifenden Zusammenhang zu stellen. Auch die Rechtstheorie ist Unterrichts- und Forschungsgegenstand gesonderter Lehrstühle. Diese können sich – frei von der Rücksichtnahme auf einzelne Zweige – der Gesamtrechtsordnung widmen.12 Die Prüfungen in den praktischen Fächern stellen nach wie vor stark auf die Kenntnis der Vorschriften ab, in 5 geringerem Maße wird den Kandidaten der Nachweis ihrer Fähigkeit zur Rechtsanwendung abverlangt. Dementsprechend geht der Unterricht nicht allzu stark auf die Demonstration von Auslegungstechniken und Wertungsfragen in Bezug auf die einzelnen Rechtsinstitute ein.13 Häufige juristische Prüfungsform sind Mehrfachauswahltests; in den Examina des Vorbereitungsdienstes für Richter und Staatsanwälte wird seit jeher aber auch die Anfertigung von Entscheidungen auf Aktengrundlage gefordert.14

3. Abstrakter Ansatz der überkommenen Rechtstheorie In der Trennung von Lehre und praktischer Rechtsanwendung kann ein Grund für den hohen 6 Abstraktionsgrad rechtstheoretischer Äußerungen gesehen werden. Der zweite Grund dürfte mit dem Versuch zusammenhängen, in den Zeiten der kommunistischen Diktatur, welche dem Recht völlig neue Inhalte zuschrieb und generell seine Bedeutung infrage stellte, eine ideologisch neutrale Theorie zu pflegen. Nur solche Ansätze konnten die Systemwechsel der vierziger sowie der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts überstehen. Bezeichnend ist es, wenn eine verbreitete Schrift zur Auslegung ein fein differenziertes Begriffsinstrumentarium zur Analyse auffächert, dieses aber nur auf logische und semantische Überlegungen stützt, dagegen politische, soziale und interessengeleitete Wertungsfragen auslässt.15 Kurzgefasst stellt sich das terminologische Gebäude wie folgt dar:16 Gegenstand der Ausle- 7 gung (wykładnia)17 im Sinne interpretatorischer Tätigkeit sind „Vorschriften“ (also sog. redaktionelle Einheiten von Rechtstexten) und Aufgabe der Auslegung ist es, die begrifflich von den Vorschriften zu unterscheidenden, sich aus ihnen ergebenden „Normen“ zu rekonstruieren.18 Bei diesem Prozess können zwei Abschnitte unterschieden werden: Der erste umfasst das Auf-

_____ 11 Herleitbar aus der Bestandsaufnahme von Barcz, Państwo i Prawo 6/2013, 3, 9 u. 12. 12 Vgl. den indirekten Appell von Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 33 Rn. 1 f., wonach „zum Glück heute“ die Distanz zwischen Vertretern der Rechtstheorie und der Praxis überwunden sei, wo sich „für die Rechtspraxis und seine Lehre verantwortliche Personen“ träfen. 13 Kritisch zur Juristenausbildung Łętowska, in: Winczorek (Hrsg.), Teoria, S. 250 ff. Zu den Wechselbezügen von „positivistischer Juristenausbildung“ und relativ geringer Bedeutung rechtlicher Instrumente für individuelle Handlungsweisen Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 108 ff. 14 Łętowska, KPP 1/2002, 27, 31 ff. 15 Zieliński, Wykładnia. Weiteres Beispiel ist der deutlich weniger abstrakte, neue internationale Überlegungen referierende, aber sich selbst des Eintauchens in Wertungsfragen enthaltende Aufsatz von Morawski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 31 ff. Statt von philosophischen Problemen bzw. der internationalen Diskussion von der Beobachtung der polnischen Praxis deduzierend dagegen Łętowska, KPP 1/2002, 27–64. 16 Ausführlich Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 52 ff., §§ 37–44. Zusammenfassung bei Antonów, Wykładnia, S. 13 ff. 17 Von „wy-“ = „aus“ und „kładać“ = „legen“. 18 Diese Unterscheidung wird zurückgeführt auf die Arbeit von Ziembiński, RPEiS 1/1960, 105. Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

finden der maßgeblichen Vorschriften, der zweite die Herleitung der sich aus ihnen ergebenden Norm. Für diese „eigentliche Auslegung“ bestehen verschiedene Arten von Regeln, die man z.B. in solche sprachlicher, systematischer und funktionaler Natur einteilen kann. Zudem lassen sich Auslegungsdirektiven zweiten Grades formulieren, deren Inhalt das Verhältnis der genannten Arten von Regeln zueinander ist. Die Auslegungsregeln zweiten Grades sollen die jeweils herrschende „Auslegungsideologie“ vorgeben, die nach Gesellschaftssystem, aber auch nach Rechtsgebiet voneinander abweichen können. Zu unterscheiden seien insofern statische von dynamischen Ansätzen. Erstere legen das größere Gewicht auf sprachliche Überlegungen, letztere eher auf funktionale.19 Diese begriffliche Einordnung wird nicht nur zur Beschreibung der Arbeit mit polnischem Recht verwendet, sondern auch für die Analyse europarechtlicher Methoden herangezogen.20 Analogiebildung wird nicht mehr als Rekonstruktion von Normen aus Vorschriften begrif8 fen, sondern als Schluss von solchen Normen auf andere Normen. Es soll sich damit nicht mehr um Auslegung im engeren Sinne handeln, angemessen soll vielmehr der in der Logik verwandte Begriff der Inferenz sein.21 Die Gesetzesanalogie, verstanden als die Anwendung von Vorschriften auf einen ihrem Anwendungsbereich ähnlich gelagerten Sachverhalt, wird – jedenfalls im Zivilrecht – in der Gerichtspraxis als Begründungsmuster eingesetzt. Auch die Rechtstheorie hält sie für zulässig, empfiehlt insoweit aber eine besondere Umsicht.22 Noch größere Zurückhaltung soll hinsichtlich der ebenfalls verwendeten Figur der Rechtsanalogie geübt werden, die wie folgt beschrieben wird: „Auf Grundlage vieler ausdrücklich hinsichtlich eines Bereiches von Handlungen aufgestellter Normen bestimmt man ihre vermutete axiologische Begründung in Gestalt der jeweiligen grundlegenden Wertungen und erkennt auf dieser Grundlage eine weitere, nicht ausdrücklich gesetzte Norm – eine Norm, welche ihre axiologische Begründung in eben diesen grundlegenden Wertungen findet.“23 Zwar findet sich die Erwägung, dass eine Gesetzesanwendung nicht im Widerspruch zum möglichen Wortsinn stehen darf, doch ist sie keineswegs allgemein anerkannt.24 Mit dem in Polen nach Stalins Tod einsetzenden politisch-gesellschaftlichen Tauwetter 9 wurde im rechtstheoretischen Schrifttum ab Mitte der 1950er Jahre öfter die Auffassung vertreten, Vorschriften mit klarem Wortlaut bedürften keiner Auslegung.25 Dabei befürwortete man zunächst kategorisch den Grundsatz, clara non sunt interpretanda; späterhin hieß es, wenn der Sinn einer Vorschrift nach der Wortauslegung klar ist, bedürfe es keiner weiteren Auslegung (interpretio cessat in claris). In heutiger Rückschau wird dies mit – im Zuge der beschränkten Liberalisierung möglich gewordenen Abwehrbestrebungen der Justiz gegenüber Aufrufen von

_____ 19 Funktionale Auslegungsmethoden werden als „dynamischer Ansatz“ bezeichnet und den scheinbar den Willen des historischen Gesetzgebers stärker berücksichtigenden sprachlichen gegenübergestellt – so Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 67 ff. Dies setzt voraus, dass der ursprüngliche Gesetzgeber einer funktionalen Auslegung ablehnend gegenüberstand und sich andererseits der Wortsinn nicht zu ändern vermag. Zur Klassifizierung auch Antonów, Wykładnia, S. 155. 20 Beispiele: die Werke von Antonów, Wykładnia und Kalisz, Wykładnia, wie auch Aufsätze z.B. von Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357 und 367; Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 274. Den Nachweis, dass sich „der EuGH im Grunde aller der polnischen Jurisprudenz bekannten Auslegungsmethoden bedient“, führen Niesiołowski/Mikołajczyk, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 205–221. 21 Zieliński, Wykładnia, S. 50. 22 Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 37 Rn. 84 ff. In seiner Fassung ab 1990 enthält zum Beispiel das Zivilgesetzbuch keine Direktiven für die Rechtsanwendung mehr. 23 Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 37 Rn. 86. 24 Nach Antonów, Wykładnia, S. 152, Fn. 476, handelt es sich bei der Betonung der Wortlautgrenze um eine „besonders in der deutschsprachigen Literatur populäre Lehre“. 25 Prägend dazu Wróblewski, Zagadnienie teorii wykładni prawa ludowego (1959), über die „Theorie der Auslegung des Volksrechts“.

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§ 28 Polen

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Politik und Lehre – erklärt, die größtenteils noch aus bürgerlichen Zeiten stammenden Vorschriften im Geiste der kommunistischen Ideologie auszulegen.26 In der Rechtslehre überwog bald die Kritik gegenüber einem Beharren auf dem Wortlaut – mit der einsetzenden Mäßigung des Regimes einerseits und der fortschreitenden Schaffung neuer Gesetze in der Zeit der Volksrepublik entfielen auch die Gründe dafür. Heute gehört es zum theoretischen Grundwissen des ersten Studienjahres, die innere Widersprüchlichkeit des clara non sunt interpretanda aufzuzeigen.27

4. Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre Kritischen Äußerungen des Schrifttums zufolge,28 hat die Praxis der Untergerichte den „unpoliti- 10 schen“ 29 wortlautorientierten, systematische und funktionale Erwägungen zurückstellenden Ansatz bis heute verinnerlicht.30 Das dürfte auch an der geschilderten Struktur des Rechtsunterrichts liegen.31 Weder bildeten sich zu zivilrechtlichen Generalklauseln in größerem Umfang differenzierte Fallgruppen heraus,32 noch entstand eine verallgemeinerbare Linie hinsichtlich der Methode und Grenzen der Analogiebildung.33 Der Positivismus, welcher die Rechtsprechung von allzu starker politischer Einflussnahme in kommunistischen Zeiten freihielt, dürfte die Rückkehr zu bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit erleichtert haben. Im Hinblick auf eine Öffnung für die Vorgaben des Europarechts gilt er dagegen als hinderlich.34

_____ 26 Dazu und zum Folgenden mit weiteren Nachweisen: Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 36 Rn. 104 ff. 27 Chauvin/Stawecki/Winczorek, Wstęp do prawoznawstwa (8. Aufl. 2013), § 73. S. auch Zieliński, Państwo i Prawo, 6/2009, 6. Zum Weiterleben der Figur in der Urteilspraxis Łętowska, KPP 1/2002, 27, 54 f. 28 Antonów, Wykładnia, S. 54: „[Die Vorschriften des polnischen Steuerrechts wurden vor dem EU-Beitritt] eher auf unbewusste Weise und unter Rückgriff auf intuitive Handlungen, denn auf erworbenes theoretisches Wissen interpretiert“. S. auch Kalisz, Wykładnia, S. 218. 29 Vgl. die Zitierung eines „erfahrenen Richters“ bei Łętowska, in: Winczorek (Hrsg.), Teoria, S. 252 Fn. 19. 30 Zu Schwierigkeiten mit europarechtlichen Methoden Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 97 ff., 113 ff. 31 So Łętowska, in: Winczorek (Hrsg.), Teoria, S. 245 ff. 32 Vgl. im Kontext der Anwendungsprobleme des harmonisierten Verbraucherschutzrechts: Jagielska/Lis/ Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 22. 33 Eine funktionale Gesichtspunkte berücksichtigende Urteilspraxis gilt als „kreativ“, Safjan, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 16 Rn. 75. Als Orientierungsbeispiel hin zu einer freieren Rechtsfindung wird mitunter die Praxis der Gerichte im Common-Law-System angeführt: Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357, 371. Aus anderer Sicht ist positivistische Gesetzesanwendung gerade Kennzeichen englischer Gerichtspraxis, für welche die allgemein gehaltenen europäischen Rechtsakte einen Methodenwechsel erforderten, Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 97 f. 34 Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 108 f.: „Unter Juristen dominiert die auf den juristischen Positivismus rekurrierende Konzeption, in welcher das Recht als ein völlig gegenüber dem Juristen äußerliches Objekt angesehen wird, für dessen Inhalt er keine Verantwortung trägt. In Polen spielte der juristische Positivismus aus dieser Perspektive die Rolle einer Doktrin, welche nach dem Krieg die polnische Juristenausbildung vor übermäßiger Ideologisierung geschützt hat (…) vor der Überzeugung, dass das Recht allein ein Ausfluss ökonomisch-politischer Phänomene ist. Der Positivismus bildete damit, zumindest in der methodologischen Dimension, das Muster eines Juristen heraus, welches sich ohne Schwierigkeit auch in der Konzeption des Rechtstaats verwenden lässt.“ Łętowska, EPS 12/2011, 4 und 1/2012, 4. Koncewicz, Tageszeitung „Rzeczcpospolita“, 8.11.2013 sowie in der Tageszeitung „gazeta wyborcza“, 7.9.2012. Ähnlich generell für die neuen postkommunistischen Mitgliedstaaten Bobek, CYELP 2 (2006), 265, 297. Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

Ein anderes Bild35 ergibt die Betrachtung der 1986 einsetzenden Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs, die nach 1989 immer stärkere Bedeutung gewann.36 Dieser war zunächst genötigt, aus der Verfassung von 1952 rechtsstaatliche Grundregeln herzuleiten und darauf gestützt Vorschriften zu kassieren oder jedenfalls an die Justiz zu appellieren, diese verfassungskonform auszulegen.37 Die Verfassung von 1952 wurde zwar 1989 von kommunistischen Elementen weitgehend gereinigt, aber nur um wenige allgemeine Feststellungen zur neuen Staatsform ergänzt. Wichtige Impulse geben publizistische Äußerungen der Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs, die häufig Universitätsprofessoren sind oder vor ihrem Amtsantritt rechtspolitisch tätig waren.38 Eine ähnlich schöpferische Leistung bewältigten nach 1989 die Verwaltungsgerichte – insbesondere in völlig neuen Rechtsgebieten wie dem Steuerrecht. Ebenso trugen Schulungen des Justizministeriums und generell die Literatur im Zusammenhang mit dem Inkraftsetzen des Europarechts mit dem EU-Beitritt zur Sensibilisierung der Richterschaft bei.39

III. Unionsrecht und nationales Recht 1. Verfassungsrechtliche Sicht: Europarecht als Untersystem des polnischen Rechts 12 Die Einordnung des Europarechts in das in Polen geltende Rechtssystem folgt den Vorgaben der

Verfassung von 1997. Im Kapitel über die „Rechtsquellen“ regelt Art. 90 plnVerf das Verfahren des Abschlusses eines „internationalen Vertrages“, auf Grundlage dessen Polen „einer internationalen Organisation oder einem internationalen Organ Kompetenzen der Organe der Staatsgewalt in einigen Angelegenheiten übertragen“ kann.40 „Wenn dies aus einem von der Republik Polen ratifizierten Vertrag folgt, der eine internationale Organisation konstituiert, so wird das von ihr gesetzte Recht unmittelbar angewandt und hat dabei im Falle einer Kollision mit Gesetzen Vorrang“ (Art. 91 Abs. 3 plnVerf). Schon im ersten Kapitel ordnet Art. 9 plnVerf die Einhaltung des für die Republik verbindlichen internationalen Rechts an – zugleich bezeichnet freilich Art. 8 Abs. 1 plnVerf die Verfassung als „oberstes Recht der Republik Polen“. Nach dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs über den Beitrittsvertrag41 ist 13 „rechtliche Konsequenz von Art. 9 plnVerf die Verfassungsprämisse, dass auf dem Gebiet der Republik Polen neben den vom nationalen Gesetzgeber erlassenen Normen (Vorschriften) Regelungen (Vorschriften) gelten, die außerhalb des Systems der nationalen (polnischen) Rechtsetzungsorgane geschaffen werden. Der Verfassungsgeber ermöglichte also bewusst, dass das auf dem Gebiet der Republik geltende Rechtssystem einen mehrteiligen Charakter haben werde (…) Das Gemeinschaftsrecht ist dabei kein vollständig externes Recht im

_____ 35 Eine sich abzeichnende Kluft zwischen den Obergerichten und den „zum Diskurs unfähigen“ unteren Instanzen sieht Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 93, 110. 36 Zu dessen Auslegungsmethode Bator/Kozak, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 42–43. 37 Zirk-Sadowski, in: Wronkowska (Hrsg.), Polska kultura, S. 93, 104 f. Aus zivilrechtlicher Perspektive Safjan, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 14 Rn. 31 (mit Beispielen für die relevante Rechtsprechung des VerfGH in § 16). 38 Z.B. insbes. Łętowska, PiP 4/2005, 3–10 und anschließende Diskussion, S. 108 ff. 39 Auch durch die Analysen der Europarechtsabteilung des Hauptverwaltungsgerichts: . 40 Grundlegend dazu: Wojtyczek, Przekazywanie. 41 VerfGH v. 11.5.2005, K 18/04, OTK-A 5/2005, 49 sub III. 2.22 – auszugsweise deutsche Übersetzung in: EuR 2006, 236 ff. Dazu Bainczyk/Ernst, EuR 2006, 247–265. Ebenfalls zum Verhältnis der polnischen Verfassung zum Europarecht auf Deutsch: Biernat, in: v. Bogdandy/Cruz Villalón/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europeaum (2008), § 21. An das Urteil von 2005 zur Verfassungsmäßigkeit des Beitrittsvertrags knüpft das Urteil zum Vertrag von Lissabon an: VerfGH v. 24.11.2010, K 32/09, OTK-A 9/2010, 108.

Ernst

§ 28 Polen

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Verhältnis zum polnischen Staat (…) In Polen gelten mithin Untersysteme von Rechtsregelungen gemeinsam, welche aus verschiedenen Rechtssetzungszentren herrühren. Sie sollten gemäß dem Grundsatz der beiderseitig freundlichen Auslegung und einer kooperativen gemeinsamen Anwendbarkeit koexistieren. Dieser Umstand lässt in anderer Perspektive eine potenzielle Normenkollision und den Vorrang eines der beschriebenen Untersysteme erkennen.“

Dies bedeutet auch einen möglichen Konflikt zwischen VerfGH und EuGH.42 Nach seiner derzeitigen Beurteilung kann der VerfGH grundsätzlich nicht die Übereinstimmung europäischer Sekundärrechtsakte mit der polnischen Verfassung prüfen.43 Insofern fragt sich aber, wie andere Gerichte zu verfahren haben, wenn sie einen Widerspruch zwischen Unionsrecht und polnischer Verfassung feststellen.44 Für zulässig hält der VerfGH nunmehr darauf gestützte Verfassungsbeschwerden, dass gegen einen Betroffenen ein verfassungswidriger Sekundärrechtsakt angewandt wurde, betont aber in diesem Zusammenhang die besonders hohen Begründungserfordernisse.45 Für den Fall der Feststellung eines Verstoßes sieht er, nach Ablauf einer Übergangsfrist, die Nichtanwendbarkeit des Unionsaktes durch die polnischen Behörden vor.46 Den Widerspruch zwischen einem Umsetzungsgesetz und der Verfassung hat der VerfGH in 14 einem Urteil von 2005 erörtert.47 Die dort untersuchten Vorschriften des Strafverfahrensgesetzbuches dienten zwar nicht der Umsetzung einer Richtlinie, sondern des EU-Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl;48 die Vorgehensweise lässt sich aber verallgemeinern.49 Der Verfassungsgerichtshof sah die Neuregelung im Strafverfahrensgesetzbuch als mit dem damals geltenden Verfassungsverbot der Auslieferung polnischer Bürger an und erklärte sie für nichtig. Zugleich setzte er im Hinblick auf die europäischen Verpflichtungen die Urteilswirkung für 18 Monate aus, um der Politik Zeit zur Beseitigung der Kollision zu geben.50 Charakteristisch für den Duktus des VerfGH wie des Schrifttums ist es, wenn dazu aufgerufen 15 wird, im „polyzentrischen System“51 Grundsatzpositionen zu Hierarchiefragen hintanzustellen52

_____ 42 Kritisch Piontek, PiP 5/2009, 19, 31. 43 Vgl. VerfGH v. 11.5.2005, K 18/04, o. Fn. 39, sub 18.6 u. VerfGH v. 16.11.2011, SK 45/09, OTK-A 9/2011, 97 sub III.1. Zur Wirkung von EU-Verordnungen aus polnischer Sicht: Jaroszyński, Rozporządzenie Unii Europejskiej jak składnik systemu prawa obowiązującego w Polsce, 2011. 44 Als Frage formuliert im Diskussionsbeitrag von Garlicki, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 103 (Mitschrift der weiteren Diskussion durch polnische und französische Verfassungsrechtler, S. 151 ff.). Vom „Anwendungsvorrang“ der Verfassung spricht in ihrer Urteilsanmerkung Dubicka, PiP 6/2007, 35, 44 ff. 45 VerfGH v. 16.11.2011, SK 45/09, OTK-A 9/2011, 97 sub III.1.; Anm. von Bogdanowicz/Marcisz, EPS 9/2012, 47 ff., die auf die unterschiedliche Sichtweise zwischen nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit und EuGH hinweisen, sie für diese „eher theoretischen“ Kollisionsfragen aber de lege lata für unvermeidlich halten, sub. 4; sowie Jaroszyński, PiP 9/2012, 130 ff., der die vom VerfGH aufgezeigte Vorgehensweise für wenig praktikabel hält. Vor dem zitierten Urteil so schon Wojtyczek, Przekazywanie, 327. 46 Ebd., sub. III. 2.7. 47 VerfGH v. 27.4.2005, P 1/05, auszugsweise deutsche Übersetzung in EuR 2005, 494 ff. Dazu Bainczyk/Ernst, EuR 2006, 247–265. 48 Rahmenbeschluss des Rates v. 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584/JI), ABl. 2002 L 190/1. 49 Wobei allerdings hinsichtlich Richtlinien zuvor eine gerichtliche Vorlage an den EuGH angezeigt sein dürfte. 50 Der Verfassungsgeber nutzte diesen Zeitraum zur Streichung des Auslieferungsverbotes. Nach späterer Äußerung des Berichterstatters könne das Urteil nicht als „Messerstich in den Rücken“ der Integration angesehen werden, sondern eher als gegen das – im internationalen Kontext überholte – ursprüngliche Auslieferungsverbot in der Verfassung gerichtet, vgl. Wyrzykowski, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 183 f. 51 Łętowska, EPS 12/2008, 4, 7. 52 Die Verfassungsrichterin Łętowska, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 5, unterstreicht in einem Diskussionsbeitrag: „Kelsen ist schon ziemlich lange tot.“ und zieht als Sprachbild für die Aufteilung des polnischen Rechtsraums zwischen nationalem und europäischem Recht die Absprachen unter Miteigentümern „quoad usum“ heran; letzteErnst

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3. Teil: Besonderer Teil

und Konflikten auf konstruktive Weise durch Konzilianz und Offenheit für das Gegenüber vorzubeugen.53 Adressaten dieses Appells – zur gegenseitig freundlichen Auslegung – sind sowohl die polnischen Gerichte wie auch der EuGH, der um Sensibilität gegenüber den neuen, postkommunistischen Mitgliedsstaaten gebeten wird.54 Weiterhin wird die Übereinstimmung der Grundwerte von unionalem und polnischem Recht unterstrichen, was Zahl und Schärfe von Konflikten gering halten sollte.55

2. Beitritt: Vorwirkung des EU-Rechts? 16 In Art. 2 der Beitrittsakte56 heißt es: „Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge

und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten (…).“ Richtlinien gelten gemäß Art. 53 der Beitrittsakte vom Beitrittstag an „als an die neuen Mitgliedstaaten gerichtet“. Damit hatten diese Staaten gemäß Art. 54 Beitrittsakte in der Regel die erforderlichen Maßnahmen in Kraft zu setzen, um den Richtlinien vom 1.5.2004 an nachzukommen. Vor diesem Datum wurde eine entsprechende Verpflichtung aus dem 1991 zwischen Polen, der EG und ihren Mitgliedstaaten abgeschlossenen Assoziierungsabkommen hergeleitet.57 Dieses hatte zwar nicht den Beitritt zum Gegenstand, sondern benannte ihn nur in der Präambel als Ziel. Unabhängig davon ging das Land darin die Verpflichtung ein, „sich nach Kräften darum [zu] bemühen, dass die künftigen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.“.58 Frühzeitig hielt sich deshalb der VerfGH für beauftragt, Gesetze möglichst gemeinschaftskonform auszulegen.59 Das sollte allerdings nur dann gelten, wenn das polnische Recht keine „deutlich andere Problemfassung (Lösungsstrategie)“ aufzeige.60 Von einer Anwendung des Gemeinschaftsrechts als solches konnte insofern keine Rede sein.61 Umstritten war, inwieweit eine Vorlage an den EuGH auch im Hinblick auf „vorauseilend“ 17 in das nationale Recht umgesetzte Gemeinschaftsvorgaben zulässig ist. In der Rechtssache Ynos Kft hatten einige Mitgliedstaaten die Zulässigkeit der Vorlage auch im Hinblick auf vor dem Bei-

_____ res auch schon dies., PiP 4/2005, 3–10. Antonów, Wykładnia, S. 65, spricht gar von „fehlender Hierarchie im polyzentrischen System“. Dagegen die Bedeutung von Hierarchieklarheit betonend: Lang, PiP 7/2005, 95–99. 53 S. insbes. die Aufsätze von Łętowska, PiP 4/2005, 3–10; dies., EPS 12/2008, 4–9; sowie Safjan, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 53; Kalisz, Wykładnia, S. 108 f., die zugleich das Urteil des VerfGH zum Beitrittsvertrag als „Rückschritt“ im Vergleich zum Urteil zum Europäischen Haftbefehl ansieht. 54 So Łętowska, EPS 12/2008, 4, 6; Popławska, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 159. 55 VerfGH v. 11.5.2005, OTK-A 5/2005, 49 = LEX Nr. 155502, sub III. 6.2; VerfGH SK 45/09, aaO, sub 2.6.; Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357. 56 Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, ABl. 2003 L 236/33. 57 Europa-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Polen andererseits v. 16.12.1991, ABl. 1993 L 348/1 (auf Polnisch veröffentlicht im Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] 1994, Nr. 11 Pos. 38). 58 Art. 68 u. 69 der Beitrittsakte. 59 VerfGH v. 29.9.1997, K 15/97, OTK ZU 3–4/1997, 330, sub IV. 4.; VerfGH v. 28.1.2003, K 2/02, OTK-A 1/2003, 4 = LEX Nr. 74917, sub III. 4.2 ff. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass es sich bei der Auslegung „im Geiste des Gemeinschaftsrechts (…) um das billigste und schnellste Instrument zur Realisierung der Harmonisierungsverpflichtung handele“, ebd. sub III. 4.4. 60 VerfGH v. 28.1.2003, K 2/02, OTK-A 1/2003, 4 = LEX Nr. 74917, sub III. 4.7. Diese Vorgehensweise benannte der VerfGH erneut in seinem Urteil v. 21.4.2004, K 33/03, OTK-A 4/2004, 31, sub III. 9 ff. 61 Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 10. Ernst

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tritt liegende Sachverhalte befürwortet, weil auch insoweit schon die Angleichungsverpflichtung nach dem Assoziierungsabkommen bestand.62 Nach anderer Ansicht war der später beitretende Mitgliedstaat zwar vorher nicht zur Herstellung des sich aus der fraglichen Richtlinie ergebenden Rechtszustandes verpflichtet. Eine Vorlage sei gleichwohl nach den vom Gerichtshof im Hinblick auf die überschießende Umsetzung entwickelten Grundsätzen zulässig.63 Der Generalanwalt lehnte die erste Auffassung als zu weitgehend ab und sprach sich auch dagegen aus, die Rechtsprechung zu überschießenden Umsetzungen um weitere Fallgruppen zu erweitern. Der Gerichtshof wies die Vorlage als unzulässig zurück,64 ebenso wie in einem früheren Fall anlässlich des Beitritts Schwedens.65 In jenem Fall hatte der Generalanwalt66 zwar die Ähnlichkeit mit der überschießenden Umsetzung eingeräumt, aber die Grundthesen der Dzodzi-Rechtsprechung67 skeptisch beurteilt. Auch eine spätere polnische Vorlage wies der EuGH mit entsprechender Begründung durch Beschluss zurück.68 Rechtspolitisch kann man diese Rechtsprechung bedauern, da so die Reichweite der Umsetzungsverpflichtungen für Beitrittskandidaten nicht geklärt wird. Rechtsdogmatisch mag man zweifeln, ob die Abgrenzung zur überschießenden Umsetzung überzeugend ist.

3. Beitritt: Wirkung noch nicht in der Landessprache veröffentlichten EU-Rechts? Art. 58 der Beitrittsakte von 2003 ordnet an:

18

„Die vor dem Beitritt erlassenen und vom Rat, der Kommission oder der Europäischen Zentralbank in tschechischer, estnischer, ungarischer, lettischer, litauischer, maltesischer, polnischer, slowakischer und slowenischer Sprache abgefassten Rechtsakte der Organe (…) sind vom Tag des Beitritts an unter den gleichen Bedingungen wie die Wortlaute in den elf derzeitigen Sprachen verbindlich. Sie werden im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht (…)“

Damit verdoppelte sich die Zahl der Amtssprachen nahezu.69 Zu diesem Zeitpunkt waren längst noch nicht alle Rechtsakte auch nur inoffiziell übersetzt, zu schweigen von der Sonderausgabe

_____ 62 In der Wiedergabe des Generalanwalts Tizzano gemäß der Folgerung: „Ungarn habe gerade, um dieser Verpflichtung nachzukommen, die innerstaatlichen Rechtsvorschriften über die missbräuchlichen Klauseln erlassen, zu deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht das nationale Gericht nun eine Frage stelle.“; vgl. GA Tizzano, SchlA v. 22.9.2005 – Rs. C-302/04 Ynos Kft, Slg. 2006, I-371, Tz. 35 ff. Anmerkung aus polnischer Sicht mit differenzierter Darstellung der intertemporalen Beitrittsprobleme in der EuGH-Rechtsprechung: Kaleda, EPS 7/2006, 47–53. 63 Unter Hinweis auf EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763. S. dazu Habersack/Mayer, in diesem Band, § 14 Rn. 55 ff. 64 EuGH v. 10.1.2006 – Rs. C-302/04 Ynos Kft, Slg. 2006, I-371. 65 EuGH v. 15.6.1999 – Rs. C-321/97 Andersson, Slg. 1999, I-3551 Rn. 30 ff. 66 Vgl. GA Cosmas, SchlA v. 19.1.1999 – Rs. C-321/99 Andersson, S1g. 1999, I-3551 Tz. 12 ff. 67 Nach EuGH v. 18.10.1990 – verb. Rs. C-297/88 und C-197/89 Dzodzi, Slg. 1990, I-3763. Dazu aus polnischer Sicht Knade-Plaskacz, EPS 1/2006, 29–36. 68 EuGH v. 6.3.2007 – Rs. C-168/06 Ceramika Paradyż, Slg. 2007, I-29. Eine differenzierte Sicht auf die intertemporalen Erstreckungsfragen des Europarechts in Polen nach dem Beitritt zeigt Łętowska, OSP 5/2005, 297–300. 69 Das Polnische ist wie sechs weitere neue Amtssprachen von 2004–2013 eine slawische Sprache. Bei diesen handelt es sich, wie beim Litauischen, Lettischen und Ungarischen um Idiome ohne unmittelbare Verwandte in der bisherigen Union. Herkömmlich, also jedenfalls bis 1939, können Deutsch und Französisch als die Rechtssprachen mit der größten Bedeutung in Polen gelten, zudem hatte Russisch spätestens seit 1945 für den politischen und fachlichen Austausch Bedeutung erlangt. Die Verwendung des Englischen als Verhandlungssprache der EU mit den Beitrittskandidaten hatte großen Einfluss auf den Wandel der Sprachpräferenzen der Funktionseliten und – in geringerem Maße – auf die Rechtswissenschaft, die sich den Zugang zu den Gemeinschaftsrechtsakten nach eigenen linguistischen Vorlieben suchen konnte. Zu sprachlichen Auslegungsfragen Antonów, Wykładnia, S. 160 ff. Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

des Amtsblatts in den neuen Sprachen.70 Für den vorhandenen Besitzstand war folgendes Verfahren vorgesehen worden: Die Gründungsverträge wurden im unmittelbaren Vorfeld des Beitritts durch Gemeinschaftsdienste übersetzt. Sie entstanden zwar unter großem Zeitdruck und oft ohne Berücksichtigung vorheriger in den einzelnen Ländern verbreiteter Übersetzungen, aber grundsätzlich gemäß den einheitlichen Standards des Sprachendienstes. In eigener Regie hatten die beitretenden Staaten dagegen zunächst Übersetzungen des geltenden Gemeinschaftssekundärrechts anzufertigen und sie der Gemeinschaft zu übermitteln.71 Diese sollten als Grundlage für die in der Sonderausgabe des Amtsblatts abzudruckenden Fassungen dienen. Ab dem Tage der Mitgliedschaft erschienen die laufenden Ausgaben des Amtsblatts in den neuen Sprachen zeitgleich mit denen in den bisherigen.72 Die Qualität dieser Übersetzungen hing damit in großem Maße von den Regierungen der 19 beitretenden Länder ab.73 In Polen wird das Ergebnis als deutlich unter den Möglichkeiten und Erfordernissen eingeschätzt.74 Hinsichtlich Richtlinien hatten Übersetzungsdefizite keine unmittelbaren negativen Konsequenzen. Die Umsetzungsvorschriften im polnischen Recht waren regelmäßig schon entworfen worden, als die gemäß den Beitrittsverpflichtungen angefertigte Übersetzung noch nicht vorlag.75 Bei der Rechtsanwendung durch die Gerichte kommt es insofern zunächst einmal auf die Formulierung der polnischen Umsetzungsbestimmungen an. Hier wurde aber im Nachhinein von polnischer Seite kritisch auf das Vorgehen der Kommission im Rahmen der Beitrittsverhandlungen verwiesen, welche zur Feststellung der Erreichung des Harmonisierungsziels regelmäßig die englischen Übersetzungen der polnischen Umsetzungsvorschriften mit den englischsprachigen Fassungen der Richtlinien verglich, Abweichungen rügte und damit eine terminologisch nicht ins polnische System passende Umsetzung provozierte.76 Ähnliche Beobachtungen ließen sich auch sieben Jahre später für Kroatiens Beitritt anstellen.77 Für die Zeit nach dem Beitritt, als EG-Verordnungen noch nicht in den Fassungen der neuen 20 Amtssprachen veröffentlicht waren, stellte sich die Frage, ob dennoch schon Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen auf deren Grundlage ergehen konnten.78 2005 entschied dazu das Woiwodschaftsverwaltungsgericht (WVerwG) Bromberg79 und 2007 ähnlich der EuGH in Sachen

_____ 70 Deren 217 Bände wurden nach und nach herausgegeben, ohne dass jeweils ein einfach feststellbares Publikationsdatum verzeichnet worden wäre. Dazu Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 12 ff. 71 Kritische Würdigung des entsprechenden Verfahrens für das 2013 beigetretene Kroatien: Šarčević/Čikara, in: Šarčević (Hrsg.), Legal Language in Action (2009), S. 197, 199 f. 72 Offenbar wollte die Gemeinschaft unmittelbar vor dem Beitritt noch möglichst viele Rechtsakte veröffentlichen, ohne auf das Anlaufen der neu geschaffenen Abteilungen des Sprachendienstes zu warten. Am 30.4.2004 wurden allein 35 Amtsblätter L herausgegeben. Die dort enthaltenen Akte waren besonders lange nicht in den neuen Sprachen zugänglich. 73 Mit weiteren vergleichenden Nachweisen: Šarčević/Čikara, in: Šarčević (Hrsg.), Legal Language in Action (2009), S. 197, 199 f. 74 Die Regierung hatte private Übersetzungsfirmen beauftragt, ohne die Einhaltung von Standards ausreichend überprüfen zu können. Vorgeworfen wurde, dass infolgedessen die Rechtstexte von Nichtjuristen und zudem regelmäßig aus dem Englischen übersetzt wurden – unter Nichtbeachtung der Sprachen des kontinentalen Rechts – wenn nicht gar durch Übersetzungsprogramme. Einige der zunächst auf Internetseiten der Regierung veröffentlichten Fassungen wurden mitunter noch überarbeitet, wo es besonders heftige Kritik an ihnen gab; vgl. Popławska, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 163 f.; Porzycki, Rzeczpospolita v. 26.3.2004, S. C3; Żuławska, FS Rudnicki (2005), S. 357, 368. 75 Für Kroatien Šarčević/Čikara, in: Šarčević (Hrsg.), Legal Language in Action (2009), S. 197, 200 f. 76 Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 20. 77 Šarčević/Čikara, in: Šarčević (Hrsg.), Legal Language in Action (2009), S. 197 ff. 78 Bobek, European University Institute Working Papers Law 2007/06. 79 WVerwG Bydgoszcz v. 20.7.2005, SA/Bd 275/05, LEX Nr. 173889 mit teilweise kritischer Besprechung von Wróbel, EPS 1/2006, 48–53. Ernst

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Skoma-Lux aufgrund einer tschechischen Vorlage,80 dass die bloße Veröffentlichung einer Übersetzung im Internet in der Amtssprache eines neuen Mitgliedstaates nicht dazu ausreiche, dass dessen Behörden den Einzelnen belastende Entscheidungen treffen könnten – selbst wenn diese grenzüberschreitend tätige Unternehmer seien. Erforderlich sei die Veröffentlichung im Amtsblatt in der Sprache des neuen Mitgliedstaates. Die Nichtanwendung der Verordnungen wurde beide Male festgestellt, ohne deren Gültigkeit zu negieren. Das WVerwG wäre dazu nicht befugt gewesen;81 der Gerichtshof sah die Entscheidung über die Unanwendbarkeit der Bestimmungen der Verordnung nicht als Frage ihrer Gültigkeit, sondern der Auslegung an.82 Hat jedoch ein Staat vor der Veröffentlichung der Verordnung in seiner Amtssprache Bestimmungen aus EUVerordnungen in sein nationales Recht „übernommen“, so können Verpflichtungen Einzelner bis zur Veröffentlichung der Verordnung in der neuen Amtssprache auf die nationalen Vorschriften gestützt werden.83

IV. Europäische Methodenlehre im nationalen Recht 1. Europarechtskonforme Auslegung Schon vor dem Beitritt zeigte der VerfGH unter Geltung des Assoziierungsabkommens auf, dass 21 die gemeinschaftsfreundliche Auslegung des nationalen Rechts auch die Begriffe der Verfassung betreffe,84 welche gleichlautend mit denen des europäischen Rechts sind. Bei der Rekonstruktion85 der jeweils maßgeblichen Verfassungsnorm solle nicht allein der Verfassungstext heranzuziehen sein, sondern, „sofern dieser Text Termini, Begriffe und Grundsätze verwendet, die dem Europarecht bekannt sind, – eben diese Bedeutungen.“86 Als unzulässige Einschränkung der verfassungsmäßigen „Freiheit wirtschaftlicher Betätigung“ wurde ein Gesetz verworfen, welches die Beimischung von Pflanzenöl – sog. Biokomponenten – zu Fahrzeugtreibstoffen anordnete.87 Dies wurde damit begründet, dass dies das primäre Gemeinschaftsrecht hinsichtlich eingeführter Treibstoffe nicht zulasse, andererseits eine Inländerdiskriminierung durch Erstreckung nur auf polnische Anbieter ebenfalls verfassungswidrig sei. Wurden bis zum Beitritt die auf diese Weise ermittelten europarechtlichen Vorgaben nicht 22 durchgesetzt, falls nationale Vorschriften deutlich davon abweichende Lösungsstrategien enthielten (s.o. Rn. 16), so ist die polnische Rechtsanwendung seither grundsätzlich uneinge-

_____ 80 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841. Dazu aus polnischer Sicht Wierczyński, EPS 3/2008, 45–56. Unter Berücksichtigung der Vorgaben dieses EuGH-Urteils und dem Veröffentlichungserfordernis für Rechtsakte der plnVerf HVerwG v. 27.9.2011, I GSK 482/10, ONSAiWSA 6/2012, 118; besprochen v. Wróbel, EPS 8/2013, 46 ff. S.a. EuGH v. 12.7.2012 – Rs. C-146/11 Pimix, Rn. 27 ff. Zulässig ist es aber, wenn sich die Begründung einer Verwaltungsentscheidung gegen Einzelne auf bloße Leitlinien der Kommission bezieht, die vor dem Beitritt im Amtsblatt und auch später nicht in der neuen Amtssprache veröffentlicht wurden: EuGH v. 12.5.2011 – Rs. C-410/09 Polska Telefonia Cyfrowa, Slg. 2011, I-3853. In einer früheren Rechtssache ging es nicht um die fehlende Veröffentlichung, sondern um die Zugänglichkeit des Amtsblatts unmittelbar nach einem Beitritt: EuGH v. 15.5.1986 – Rs. 161/84 Oryzomyli Kavallas, Slg. 1986, 1633 Rn. 17 ff. 81 GA Kokott, SchlA v. 18.9.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Tz. 32. 82 EuGH v. 11.12.2007 – Rs. C-161/06 Skoma-Lux, Slg. 2007, I-10841 Rn. 52 ff. 83 Vgl. EuGH v. 4.6.2009 – Rs. C-560/07 Balbiino, Slg. 2009, I-4447 Rn. 27 ff. 84 Dazu Działocha, PiP 11/2004, 28–33. 85 Gemäß dem oben (Rn. 6 f.) geschilderten Verständnis. 86 VerfGH v. 28.1.2003, K 2/02 III. 4.5., OTK-A 1/2003, 4 = LEX Nr. 74917. 87 VerfGH v. 21.4.2004, K 33/03, OTK ZU 4/A/2004, Pos. 31, III. 7. ff. insbes. 10. Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

schränkt zur Konformität mit dem Europarecht verpflichtet.88 Die Auslegung des nationalen Rechts gemäß den europäischen Vorgaben wird häufig als „progemeinschaftliche/-unionale“ (prowspólnotowa/-unijna) bzw. als Auslegung „in Übereinstimmung mit“ dem EU-Recht bezeichnet.89 Der Verfassungsgerichtshof spricht dagegen90 eher von der Verpflichtung zu „freundlicher Auslegung“ des nationalen Rechts im Hinblick auf das EU-Recht, aber auch umgekehrt. Für die Entscheidungspraxis der Gerichte91 verbindet sich damit, dass sie europäische Vorschriften in den Begründungen aufführen und durch eigene Auslegungsbemühungen, insbesondere aber durch die Auseinandersetzung mit der EuGH-Rechtsprechung feststellen, welche normativen Vorgaben sich daraus ergeben – ohne selbst die Entscheidungen des EuGH zu hinterfragen.92 Von der Lehre wird die europäische Perspektive zwar umfänglich aufgearbeitet.93 Sofern be23 stimmte Fragen aber noch nicht in Verfahren vor polnischen Gerichten Zweifel aufwarfen, fehlt es an einer spezifischen polnischen Sichtweise.94 Diskutiert wird, ob die proeuropäische Auslegung des nationalen Rechts eher als systematische oder als teleologische (und damit funktionale) in den Methodenkanon einzuordnen ist. Für erstere Auffassung wird angeführt, dass es bei ihr um eine Auslegung gehe, welche nicht anderen Vorschriften widerspreche,95 für die zweite, dass es vor allem um die Verwirklichung der Ziele der europäischen Rechtsakte gehe.96 Vertreten wird aber auch, dass funktionale und systematische Elemente miteinander verknüpft seien.97 Gemäß der rechtstheoretischen Betrachtungsweise ist die Pflicht zur Beachtung des Anwendungsvorrangs des Europarechts als Auslegungsregel zweiten Grades aufzufassen. Als unzulässig wird eine richtliniengemäße Rechtsanwendung contra legem bezeichnet, also eine solche, die nicht vom möglichen Wortsinn einer Vorschrift umfasst ist und auch keine zulässige Analogie darstellt.98 Als praktisches Problem hat sich für die Kassationsbeschwerde zum OG bzw. zum HVerwG 24 erwiesen, ob diese Entscheidungen der Vorinstanzen von Amts wegen aufzuheben haben, die auf einer vom Beschwerdeführer nicht gerügten Verkennung des Unionsrechts beruhen. Nach den polnischen Prozessordnungen werden in den Kassationsverfahren von den letztinstanzlichen Gerichten nur solche Rechtsfehler überprüft, die vom Beschwerdeführer hinreichend konkretisiert wurden. Das OG stellte dazu fest, dass es über den heutigen Art. 267 AEUV hinaus „grundsätzlich nicht verpflichtet ist, einen eventuellen Verstoß gegen [unions]rechtliche Vor-

_____ 88 Beispiel für Nichtanwendung richtlinienwidrigen polnischen Steuerrechts: WVerwG Wrocław v. 20.3.2007, I SA/Wr 1625/06, Monitor Podatkowy 7/2007, 31 = LEX Nr. 276086. 89 So Radwański/Zieliński, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 43 Rn. 185. Zur Unterscheidung Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 319 f. Auflistung auch bei Kalisz, Wykładnia, S. 201 f. S. eingehend zur primärrechtskonformen Auslegung Leible/Domröse, in diesem Band, § 8 und zur richtlinienkonformen Auslegung W.-H. Roth/Jopen, in diesem Band, § 13. 90 S.o. Rn. 14–16. 91 Übersichten über die Praxis in der Zeit des Beitritts für die Verwaltungsgerichte bei Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7 f. 92 So finden sich bei OG v. 20.2.2008, III SK 23/07, LEX Nr. 452461, wo untersucht wird, welches Gericht zur Vorlage nach Art. 267 AEUV/234 EG verpflichtet sei, differenzierte Überlegungen zur Übertragbarkeit von Einstufungen des EuGH zu Gerichtssystemen anderer Staaten auf das polnische, hingegen wird nicht teleologisch argumentiert. 93 Barcz, Państwo i Prawo 6/2013, 3 ff. 94 Umfangreichste polnische Gesamtdarstellung zum Europarecht ist das Werk von Barcz (Hrsg.), Prawo Unii Europejskiej, Bd. 1 (2006). S.a. die Darstellungen zur Richtlinienwirkung von Szpunar, PiP 9/2004, 56–69 und ders., EPS 2/2005, 4–17. 95 Vgl. auch Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 319–347. 96 Antonów, Wykładnia, S. 189 f.; Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 339 f. 97 Hierzu und zum Folgenden Antonów, Wykładnia, S. 90, 102, 192, 237. 98 Beispiel bei Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 342 f. Eine solche soll im Steuerrecht zulasten des Einzelnen grundsätzlich ausgeschlossen sein.

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schriften zu prüfen, wenn von Parteiseite ein solcher Verstoß nicht als Beschwerdegrund bezeichnet war … Ein solches Bedürfnis besteht jedoch, wenn offensichtlich ist, dass die Vorschriften des [Unions]rechts denselben Gegenstand regeln, wie das nationale Recht, und eine Möglichkeit ihrer unmittelbaren Anwendung oder Notwendigkeit ihrer Auslegung in Übereinstimmung mit dem [Unions]recht besteht.“99 Anders urteilte das HVerwG, als eine Entscheidung der nationalen Regelungsbehörde gegen einen Telekommunikationsdiensteanbieter erfolglos mit einer Klage angefochten worden war. In seiner anschließenden Kassationsbeschwerde hatte sich der Kläger darauf berufen, dass die polnischen Vorschriften, auf denen die ihn belastende Verwaltungsentscheidung beruhte, dem EU-Telekommunikationsrecht widersprechen. Auf Vorlagefrage des HVerwG an den EuGH stellte dieser aber keinen Verstoß der nationalen Vorschriften gegen das europäische Telekommunikationsrecht fest, wohl aber gegen die EU-Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken.100 Daraufhin wies das HVerwG die Kassationsbeschwerde als unbegründet zurück.101 Im Schrifttum analysiert man die Problematik als eine Kollision der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie mit dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes einerseits und Vorrangs des EU-Rechts andererseits. Überwiegend hält man die Auffassung des OG für vorzugswürdig. Gleichzeitig wird eine Änderung des polnischen Verfahrensrechts befürwortet, die es den obersten Gerichten ermöglichen würde, Unionsrechtsverstöße von Amts wegen zu prüfen.102 Den Haftungsanspruch gegenüber Trägern polnischer öffentlicher Gewalt im Falle legislati- 25 ven oder judikativen Unrechts (durch Tun oder Unterlassen) regeln die im Jahre 2004103 neu gefassten Bestimmungen des Art. 417 § 1 ZGB. Dieser ist auch Grundlage für Schadensersatzansprüche wegen Verletzung europarechtlicher Pflichten.104

2. Vorlage nach Art. 267 AEUV Das erste vom EuGH entschiedene polnische Vorabentscheidungsersuchen105 stand im Kontext 26 innerstaatlicher Verfahren, die dem VerfGH Gelegenheit zur Standortbestimmung boten.106 Nach dem EU-Beitritt wandten sich Käufer von Gebrauchtwagen in anderen Mitgliedstaaten gegen eine bei der Einfuhr nach Polen erhobene Gebühr (Akzise). Einige Verwaltungsgerichte kassierten solche Akzisebescheide, andere ließen sie in Kraft.107 Das WVerwG Warschau legte dem EuGH im August 2005 die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht vor.108 In einer entsprechenden Angelegenheit beantragte das WVerwG Allenstein im November 2006 beim VerfGH eine ähnliche Prüfung.109 Der VerfGH wies diese Vorlage noch im gleichen Jahr als

_____ 99 OG v. 18.12.2007, II PK 17/06, OSNP 1–2/2008, 8 = LEX Nr. 350385 unter Verweis auf EuGH v. 14.12.1995 – Rs. C-430/93 u. 431/93 van Schijndel; s. auch OG v. 20.9.2011, I UK 59/11, OSNP 19–20/2012, 247; anders OG v. 12.10.2006, I CNP 41/06, OSNC 7–8/2007, 115 = LEX Nr. 282026. 100 EuGH v. 11.3.2010 – Rs. C-522/08 Telekomunikacja Polska, Slg. 2010, I-2079. 101 HVerwG v. 27.5.2010, II GSK 355/10, . 102 P. Brzeżiński, EPS 9/2011, 37, 44. 103 Durch Gesetz v. 17.6.2004, Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 162, Pos. 1692. 104 Dazu Wójtowicz, in: Granat (Hrsg.), Stosowanie, S. 63 ff. Zur europarechtlichen Staatshaftung aus polnischer Perspektive s. die Nachweise bei Pajor, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 20 Rn. 33. 105 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzeziński, Slg. 2007, I-513. 106 Überblick bei Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 22 ff. 107 Darstellung bei VerfGH v. 19.12.2006, P 37/05, OTK-A 11/2006, 177 = LEX Nr. 220769, sub II.; sowie Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 273–302. 108 WVerwG Warszawa v. 22.8.2005, III SA/Wa 679/05, LEX Nr. 171352. 109 WVerwG Olsztyn v. 16.11.2005, I SA/Ol 374/05, PiP 7/2006, 45 = LEX Nr. 182982. Krit. Bespr. von Taborowski, EPS 5/2006, 35–46. Abl. ebenfalls Wyrozumska, EPS 3/2007, 39–43. Ernst

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unzulässig zurück (s. sogleich Rn. 27 f.).110 Im Januar 2007 erklärte der EuGH die Akzise in der praktizierten Form für gemeinschaftsrechtswidrig.111 Daraufhin hob das WVerwG Warschau den angefochtenen Bescheid auf.112 Nach Auffassung des VerfGH war die Vorlage durch das WVerwG Allenstein für die Ent27 scheidung des Rechtsstreits unerheblich, da das WVerwG gemäß Art. 91 Abs. 2 i.V.m. Abs. 3 plnVerf bei einer Kollision zwischen innerstaatlichen Gesetzen und Gemeinschaftsrecht letzteres anzuwenden habe – bei Zweifeln über dessen Auslegung nach Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH. Für die Nichtanwendung des innerstaatlichen Gesetzes bedürfe es nicht seiner Aufhebung durch den VerfGH. Vielmehr müsse dessen Tätigwerden im Sinne der europaweit einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts vermieden werden. Der VerfGH sei „zu einem solchen Verständnis seiner Position verpflichtet, dass er in grund28 legenden Angelegenheiten konstitutionellen Ausmaßes die Stellung eines ‚Gerichts des letzten Wortes‘ behalte. EuGH und VerfGH können einander nicht als konkurrierende Gerichte gegenübergestellt werden. Es geht nicht nur um die Eliminierung des Phänomens der Dopplung beider Gerichtshöfe und von zweigleisiger Entscheidung über die gleichen rechtlichen Probleme, sondern auch von Dysfunktionalität in den Beziehungen zwischen gemeinschaftlicher und innerstaatlicher Rechtsordnung.“ Unberührt bleibe die Möglichkeit der Aufhebung gemeinschaftsrechtswidriger nationaler Vorschriften, wenn der VerfGH deren Verfassungsverstoß auf Vorlage eines Gerichts feststelle. Das Vorabentscheidungsverfahren sei ein „Mechanismus, welcher auf einer subtilen Teilung zwischen Rechtsauslegung und -anwendung beruht, [es] erkennt dem Gemeinschaftsgericht die Möglichkeit zur Auslegung des Rechts zu, dem nationalen die seiner Anwendung (…) [Der VerfGH] hat vielfach unterstrichen, dass es um ‚rechtliche Zusammenarbeit‘ geht, durch welche das nationale Gericht und der EuGH gemäß ihren jeweiligen Befugnissen, unmittelbar und gegenseitig an der Erarbeitung einer bestimmten Entscheidung mitwirken.“ In der Literatur wurde der Entscheidungstenor begrüßt, aber beanstandet, dass die Entscheidung primär mit Erwägungen des polnischen Verfassungsrechts begründet wurde, nicht mit den gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen.113 In einer abstrakten Normenkontrolle hatte der VerfGH über die Verfassungsmäßigkeit des 29 Gesetzes zu richten, welches den Staatspräsidenten ermächtigte, für Polen die Anerkennung der Zuständigkeit des EuGH für Vorabentscheidungen nach Art. 35 Abs. 2 EU zu erklären.114 Der Präsident hatte gerügt, dass ein starker Anstieg der Verfahrensdauer in Strafsachen drohe. Dies sei angesichts der Praxis im Rahmen der Ersten Säule zu befürchten, dass im Falle einer Vorlage auch andere mit der Anwendung der fraglichen Vorschrift befasste polnische Gerichte die Verfahren bis zum Erlass der EuGH-Entscheidung aussetzten. In seinen Gründen verwies der VerfGH auf die im nationalen Recht geregelte Vorlage von Auslegungsfragen durch Untergerichte an das OG und den VerfGH – auch in diesem Rahmen seien Prozessverlängerungen unvermeidlich aber aus

_____ 110 VerfGH v. 19.12.2006, P 37/05, OTK-A 11/2006, 117. 111 EuGH v. 18.1.2007 – Rs. C-313/05 Brzeziński, Slg. 2007, I-513. Bereits im November 2006 war durch Ministerialverordnung die bisherige Unterscheidung für Neufälle aufgehoben worden (Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 210, Pos. 1551). 112 WVerwG Warszawa v. 6.3.2007, III SA/Wa 254/07, LEX Nr. 220445. 113 Wyrozumska, EPS 3/2007, 39, 40 ff. In dieser Richtung auch Koziel, EPS 5/2009, 42, 44 f. 114 VerfGH v. 18.2.2009, Kp 3/08, OTK-A 2009/2/9 = M.P. 2009/13/170 = LEX Nr. 479671. S. auch die Ausführungen im erwähnten Urteil zum Beitrittsvertrag, VerfGH v. 11.5.2005, OTK-A 2005/5/49 = LEX Nr. 155502, sub III. 10. u. 11. In einer Entscheidung über eine Vorlage zum Europäischen Haftbefehl an den VerfGH bedauerte das OG, dass polnische Gerichte wegen der damals fehlenden Erklärung und gemäß Art. 35 Abs. 2 EU erforderlichen Erklärung in Angelegenheiten der Dritten Säule keine Möglichkeit zur Vorlage hätten, und deshalb „eigenständig“ einen Standpunkt einnehmen müssten, vgl. OG v. 20.7.2006, I KZP 21/06, OSP 6/2007 = LEX Nr. 188843.

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Gründen des Individualschutzes in Kauf zu nehmen.115 Das Fehlen mitgliedstaatlicher Vorschriften für die Vorlage zum EuGH würde nicht zu einer Verzögerung führen, da Bestimmungen zu den erwähnten nationalen Verfahren analog herangezogen werden könnten. Eine verbreitete Praxis polnischer Gerichte zur Aussetzung von Parallelverfahren sei nicht erkennbar. Zudem sei jedes Gericht nach allgemeinem Strafverfahrensrecht dazu verpflichtet, eigenständig die in der Sache maßgeblichen Vorschriften auszulegen und bei Zweifeln selbst den EuGH zu befragen. Ein Beispiel für einen wenig verständnisvollen Rechtsdialog zwischen verschiedenen polni- 30 schen Instanzen untereinander und mit dem EuGH bieten mehrere Verfahren im Zusammenhang mit der Notifizierungspflicht gegenüber der Kommission für „technische Vorschriften“ im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der RL 98/34.116 Eine Vorlagefrage des WVerwG Danzig zu Bestimmungen des Gesetzes über Glücksspiele und ihre Beantwortung durch den EuGH bezogen sich nur darauf, dass eine solche Notifizierungsverpflichtung Polens bestanden hatte, der das Land nicht nachgekommen war. 117 In nationalen Folgeverfahren vermochte das OG daraus nicht den Schluss zu ziehen, dass aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts die Nichtanwendbarkeit der nicht bei ihrem Erlass notifizierten polnischer Vorschriften auch ohne deren Aufhebung durch den VerfGH folge,118 bzw. im Zweifelsfall die Pflicht, dem EuGH auch diese Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen.119 In den ersten neun Jahren der Zugehörigkeit Polens zur Union war die Vorlagefreudigkeit 31 seiner Gerichte recht gering.120 Als größtes unter den „Neuen“ lag das Land mit 48 Vorlagen hinter dem viermal kleineren Ungarn mit 62. Die absolute Mehrheit der Fälle waren Steuersachen. Im Übrigen ging es vielfach um Sozial-, Arbeits- und Telekommunikationsrecht. Zudem betraf eine Reihe von Ersuchen die Verordnungen zur zivilgerichtlichen Zusammenarbeit. Ging es bei den darunter fallenden Insolvenzsachen eher um die Auswirkungen ausländischer als polnischer Vorschriften,121 so hat das Urteil in der Rechtssache Alder unmittelbare Auswirkung auf die Anwendung der nationalen Zustellungsregeln Polens, aber wohl auch anderer Mitgliedstaaten. Es erklärte nämlich die Zustellungsmöglichkeiten nach der VO 1393/2007122 im innergemeinschaftlichen grenzüberschreitenden Rechtsverkehr für abschließend, sodass kein Raum mehr für fiktive Ersatzzustellungen im Inland an im Ausland beheimatete Parteien besteht.123 Dagegen zeigen die Rechtssachen Weryński124 zur BeweisVO 1206/2001125 und insbesondere Szy-

_____ 115 Dazu und zum Folgenden VerfGH v. 18.2.2009, Kp 3/08, OTK-A 2009/2/9 = M.P. 2009/13/170 = LEX Nr. 479671, sub III. 4.1 ff. In der Begründung schließen sich Ausführungen zum Eilvorlageverfahren in Sachen aus dem Bereich der polizeilichen und gerichtlichen Zusammenarbeit an. 116 Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften, Abl. L 204. 117 EuGH v. 19.7.2012 – verb. Rs. C-213/11, C-214/11 und C-217/11 Fortuna, Grand und Forta. 118 OG v. 8.1.2014, IV KK 183/13, LEX Nr. 1409532; OG v. 28.11.2013, I KZP 15/13. Ablehnend zur Begründung die Anmerkung von Górski, Lex/el. 2013. 119 Sofern man die Ausführungen des EuGH v. 26.9.2000 – Rs. C-443/98 Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535 nicht für übertragbar hält. 120 Vorabentscheidungsersuchen, eingegangen vom 1.5.2004 bis 1.5.2013; dagegen für das ältere und der Größe nach mit Polen vergleichbare Mitgliedsland Spanien: 124. Vgl. die Regionaldarstellung von Bobek, CMLR 45 (2008), 1611–1643. 121 EuGH v. 21.1.2010 – Rs. C-444/07 MG Probud Gdynia, Slg. 2010, I-417; EuGH v. 22.11.2012 – Rs. C-116/11 Bank Handlowy und Adamiak. 122 Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. November 2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. L 324. 123 EuGH v. 19.12.2012 – Rs. C-325/11 Alder, Rn. 28 ff. S. dazu Ernst, FS Martiny (2014), S. 687–711. 124 EuGH v. 17.2.2011 – Rs. C-283/09 Weryński, Slg. 2011, I-601. 125 Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen. ABl. L 174.

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rocka126 zum Mahnverfahren nach der VO 1896/2006,127 welchem Klärungsbedarf zu Detailfragen sich der EuGH gegenübersieht, wenn formalistische EU-Regelungen zur Prozessrechtsvereinheitlichung mit der im Vertrag von Lissabon durch Aufhebung von Art. 68 Abs. 1 EG geschaffenen Vorlagemöglichkeit für Untergerichte mit einer gewissen Neigung polnischer Gerichte zusammentreffen, Fragen aufzuwerfen, ohne selbst Vorschläge zu ihrer Lösung zu formulieren. Trotz der geringen Zahlen spielt die Vorlage nach Luxemburg auch in Zivilverfahren eine 32 Rolle.128 Das Vorabentscheidungsverfahren ist Gegenstand eingehender Untersuchung und Erörterung in Rechtsprechung und Lehre.129 Im Schrifttum wird eine Ähnlichkeit der Vorlage an den EuGH mit der aus kommunistischen Zeiten bekannten Institution der verbindlichen Legalauslegung durch das OG ausgemacht – in Hinsicht auf Aufgabenteilung zwischen Gesetzesauslegung und Subsumtion.130 Diese war anlässlich des Systemwandels Anfang der neunziger Jahre abgeschafft worden, um auf nationaler Ebene strenger zwischen Rechtsanwendung und -setzung zu trennen.131

3. Europarechtskonforme Rechtsanwendung auf dem Gebiet des Privatrechts 33 Auf einzelne Gebiete europarechtlicher Regelungswirkungen kann hier nur beispielhaft einge-

gangen werden.132 Die Anwendung des Unionsrechts beginnt nicht selten mit der Anpassung des nationalen Rechts an die europarechtlichen Vorgaben. Insoweit wies die Kommission Einfügungen von Umsetzungsvorschriften in das bestehende Rechtssystem in den Beitrittsverhandlungen häufig zurück und verlangte solche, welche die einzelnen Vorschriften der Richtlinien nahezu wörtlich übernehmen.133 Wichtiger Akt im Verbraucherrecht war ein Gesetz aus dem Jahre 2000,134

_____ 126 EuGH v. 13.12.2012 – Rs. C-215/11 Szyrocka. 127 Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. L 399. 128 Als Ausnahme kann eine Entscheidung des OG v. 27.11.2008, IV CSK 73/08, LEX Nr. 491388, gelten, das in einem Verfahren über die Urteilsanerkennung die Frage, wer Beweis über eine Zustellung zu erbringen habe (Art. 34 Abs. 2 Brüssel-I VO), als in der Lehre hochgradig umstritten bezeichnete, dann aber die Möglichkeit einer Vorlage nicht einmal erwog. 129 So dazu, welche Gerichte die Verpflichtung nach Art. 267 Abs. 3 AEUV/234 Abs. 3 EG trifft (s. Beschlüsse v. 20.2.2008, III SK 23/07, LEX Nr. 452461 und v. 10.4.2008, III SK 29/07, LEX Nr. 469181). Skeptisch Kastelik-Smaza, EPS 2/2007, 24, 27; Zielony, in: Domańska (Hrsg.), Pytanie, S. 128 ff. Zur Frage, ob bei Vorlage eines polnischen Gerichts die mit ähnlichen Fällen beschäftigten übrigen ihre Verfahren aussetzen sollten: Antonów, Wykładnia, S. 118; Koziel, EPS 5/2009, 42, 47 f.; Zenc, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 294); bzw. zum Verwaltungsprozess Biernat/ Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7, 36 ff. Generell zur Unbeachtlichkeit nationalen Verfahrensrechts, das gerichtliche Befugnisse aus dem Unionsprimärrecht vereiteln würde: HVerwG v. 12.6.2013, I FSK 146/13, LEX Nr. 1376068. Unbegründetheit der Kassationsbeschwerde gegen Urteil, das zum EU-Recht ohne Vorlage an den EuGH ergangen ist, wenn Auslegung des Europarechtsakts „offensichtlich ist … (acte clair)“, OG v. 30.9.2011, III 3SK 22/11, OSNP 19-20/2012, 254. Unzulässigkeit der Rechtsfrage an das OG durch Untergericht über Auslegung von EURecht, wenn fragendes Gericht dem EuGH vorlegen kann, OG v. 28.4.2010, III CZP 3/10, OSNC 11/2010, 155 = LEX Nr. 584035. 130 Kalisz, Wykładnia, S. 182 ff.; dazu schon oben Rn. 3. 131 Dazu Safjan, in: Radwański (Hrsg.), System Prawa Prywatnego, § 16 Rn. 77 f. 132 Vgl. Übersichten wie die allgemeine zur Rechtsprechung des OG unmittelbar nach dem Beitritt von Maniewska, EPS 10/2005, 49–57 und neuer Miâsik, EPS 1/2014, 66 ff.; zum Gesellschaftsrecht Gawrysiak-Zabłocka, in: Mik (Hrsg.), Wykładnia, S. 319 ff. Zum Verwaltungsrecht Biernat/Wróbel, Studia Prawno-Europejskie, Tom 9 (2007), 7 ff.; Wilk/Wróbel, EPS 11/2005, 49–57. 133 So Jagielska/Lis/Żętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 20. Zur Fixierung auf das Englische s. bereits oben Rn. 20. 134 Gesetz über den Schutz einiger Verbraucherrechte und über die Haftung für von einem gefährlichen Produkt zugefügten Schaden v. 27.7.2002, Dziennik Ustaw [Gesetzblatt] Nr. 22, Pos. 271.

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welches Haustürwiderrufs- und Fernabsatzrecht eigenständig regelte, hingegen Vorschriften zur Klauselkontrolle und zur Produkthaftung in das Zivilgesetzbuch aufnahm. Auch die Bestimmungen der Handelsvertreterrichtlinie wurden in das ZGB eingefügt.135 Einzelgesetze ergingen zum Verbraucherkredit und zum Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr wie zum Verbrauchsgüterkauf.136 Die Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie137 wurde 2014 auch zum Anlass genommen, das Verbraucherkaufrecht nun in das ZGB einzubetten und mit den allgemeinen kauf- und schuldrechtlichen Vorschriften abzustimmen, während die Widerrufsrechte weiterhin außerhalb der Kodifikation bleiben.138 Auch noch zehn Jahre nach dem Beitritt wurden in der Literatur neue „Umsetzungssünden gegen den effet utile“ ausgemacht: so in Gestalt von Gesetzen, die Richtlinien im Wesentlichen abschreiben und damit gerade keine Einpassung in den nationalen Kontext darstellen und insbesondere keine funktionstüchtigen Sanktionen anordnen (so z.B. beim zivilrechtlichen Gleichbehandlungsgesetz) oder bei der kontroversen Abstimmung zwischen EUTierschutzrecht und nationalen Ausnahmen für rituelle Schlachtung.139 Zu den verbraucherschützenden Widerrufsrechten fehlte es lange Zeit fast völlig an veröf- 34 fentlichter Rechtsprechung, kaum anders verhielt es sich mit dem Verbrauchsgüterkaufrecht. Die Literatur verzeichnet ein fehlendes „Verbraucherrechtsbewusstsein“ auch der Juristen.140 Mitursächlich dafür dürfte sein, dass professioneller Rechtsrat noch lange über das Jahr 2000 hinaus wegen der relativ geringen Zahl ausgebildeter Juristen und der berufsständischen Zulassungsbeschränkungen verhältnismäßig teuer war. Ein weiterer Grund für die fehlende Bekanntheit von Verbraucherrechtsentscheidungen mag in der Nutzung außergerichtlicher Formen der Konfliktlösung liegen. Mitursächlich dürfte jedoch auch gewesen sein, dass Angelegenheiten geringen Streitwerts nicht vor die Obergerichte kommen und Entscheidungen von Untergerichten kaum veröffentlicht wurden. Die Lage verändert sich aber, seitdem ab 2013 alle Gerichtsurteile systematisch im Internet veröffentlicht werden, sodass nun auch Verbraucherrechtsentscheidungen auftauchen.141 In ähnlicher Weise sind Entscheidungen zur inzidenten Klauselkontrolle für die Zeit vor 2013 kaum auffindbar. Von Anfang an dokumentiert wird die umfangreiche Judikatur der in der Hauptstadt konzentrierten Verbrauchergerichtsbarkeit zu Unterlassungsklagen gegen von einzelnen Unternehmern verwendete Klauseln – hauptsächlich auf Antrag öffentlicher Verbraucherschutzbehörden. Umstritten war, inwieweit die Veröffentlichung einer gerichtlich für unerlaubt erklärten Vertragsklausel das zentrale Verbraucherschutzamt berechtigt, die Verwendung abweichend formulierter Klauseln ähnlichen Inhalts als verbraucherschädigende Handlung einzustufen. Das OG erklärte dies für zulässig und berief sich auf den gemeinschaftsrechtlichen Auftrag zur Herstellung möglichst größter Richtlinienwirksamkeit, selbst wo die Richtlinie keine Sanktion enthalte.142 Auch ein VerfGH-Verfahren zum Verbraucherschutz wurde von einer staatlichen Behörde, 35 dem Bürgerrechtsbeauftragten, eingeleitet, nämlich zur Überprüfung des Transportrechts, wel-

_____ 135 Richtlinie 86/653/EWG des Rates v. 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbständigen Handelsvertreter, ABl. 1986 L 382/17. 136 Kritisch Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 21. 137 Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 304. 138 Gesetz über die Verbraucherrechte v. 30.5.2014, Dziennik Ustow (Gesetzblatt) Pos. 827. 139 Łętowska, EPS 1/2014, 53 ff. 140 Jagielska/Lis/Łętowska/Mikłaszewicz/Wiewiórska-Domagalska, EPS 12/2006, 12, 22 f. 141 Datenbanken der Justiz: 1. ordentliche Gerichte , 2. Verwaltungsgerichte . 142 OG v. 13.7.2009, III SZP 3/06, OSNP 1-2/2007, 35 = LEX Nr. 197804, Rn. 3. Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

ches die Haftung der Eisenbahn für Verspätungen auf Fälle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit reduzierte. Der VerfGH hob die Vorschrift im Dezember 2008 wegen eines Verstoßes gegen die Vermögens- und Verbraucherschutzgebote in der Verfassung auf.143 Um die Höhe des angemessenen Schutzniveaus zu ermitteln, berief es sich auf die seinerzeit noch nicht in Kraft getretene EG-Passagierrechte-Verordnung144 und verwies zudem darauf, dass nach den Vorschriften des ZGB eine AGB-Vereinbarung der Haftungsbeschränkung als missbräuchlich anzusehen wäre, sodass es inkonsequent wäre, wenn der Gesetzgeber Gleiches für Adhäsionsverträge wie die mit einem Eisenbahnunternehmen anordnen würde. Das OG stellte im Jahre 2010 klar, dass gemäß der Vorgabe aus Art. 5 der Pauschalreise36 Richtlinie145 auch nach polnischem Recht ein Ersatzanspruch für nichtmateriellen Schaden in Gestalt eines vertanen Urlaubs besteht.146 Das war zweifelhaft, da das ZGB immateriellen Schaden nur bei der Verletzung bestimmter persönlicher Güter, insbesondere aufgrund einer unerlaubten Handlung gewährt, nicht aber nach den Bestimmungen über Schadensersatz bei einer Vertragspflichtverletzung. Das OG stützte seine Begründung nicht auf ein Umdeuten der Vorschriften im Gesetzbuch und auch nicht auf die Annahme, dass Reiseveranstalter stillschweigend die Haftung für nichtmaterielle Schäden übernehmen würden. Stattdessen verwies er darauf, dass die Pauschalreise-RL in einem Sondergesetz umgesetzt sei, dessen Begriff der Schadenshaftung im Licht der Richtlinie autonom auszulegen sei. 37 In einem anderen Fall beriefen sich ehemalige Versicherungsvertreter auf das schon vor dem Beitritt harmonisierte Recht über den Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters bei Vertragsauflösung.147 Das OG umriss 2005 die Berechnung und orientierte sich dabei am deutschen Recht und der deutschen Entscheidungspraxis, welche nach seiner Darlegung Vorbilder für die den polnischen ZGB-Vorschriften zugrundeliegende Handelsvertreterrichtlinie148 gewesen seien.149 Der VerfGH sah in den zwingenden Bestimmungen zum Vertragsrecht keine unzulässige Einschränkung von verfassungsmäßig geschützter wirtschaftlicher und Vertragsfreiheit. Ihm zufolge sollten diese Begriffe möglichst im Einklang mit dem acquis communautaire ausgelegt werden.150 Eine umfängliche Rechtsprechung erging von Anfang an zum Europäischen Arbeitsrecht, das weithin im polnischen Arbeitsgesetzbuch umgesetzt ist.151

_____ 143 VerfGH v. 2.12.2008, K 37/07, OTK-A 10/2008, 172 = LEX Nr. 465366, sub III. 4.4 ff. 144 Verordnung (EG) Nr. 1371/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl. 2007 L 315/14. 145 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13. Juni 1990 über Pauschalreisen, ABl. 1990 L 158/59. 146 OG v. 19.11.2010, III CZP 79/10, OSNC 4/2011, 41 = LEX Nr. 612168. Hinsichtlich der Begründung kritisch: Łolik, EPS 9/2011, 45 f. 147 Vertiefend zum Folgenden Ernst, GPR 2007, 239–243. 148 Nach Art. 1 Abs. 2 bezieht sie sich die Richtlinie, anders als die überschießende polnische Umsetzung, nicht auf Versicherungsvertreter. 149 OG v. 8.11.2005, I CK 207/05, OSNC 9/2006, 150. 150 VerfGH v. 17.7.2007, P 16/06, OTK-A 7/2007, 79 = LEX Nr. 299997. 151 Übersicht bei Maniewska, EPS 1/2005, 49–57. Zu Anwendungsproblemen (insbesondere des kollektiven) Arbeitsrechts aus polnischer Perspektive Hajn, EPS 8/2006, 4–12. Beispiele: Insolvenzausfallgeld (OG v. 18.12.2006, II PK 17/06, OSNP 1–2/2008, 8 = LEX Nr. 350385; dazu Kowalik-Bańczyk, EPS 4/2009, 43–48), Informationspflichten des Arbeitgebers (OG v. 17.2.2004, I PK 386/03, OSNP 1/2005, 6 = LEX Nr. 137275), Gleichbehandlungsgeboten (OG v. 12.8.2004, III PK 40/04, OSNP 6/2005, 76 = LEX Nr. 141293; OG v. 9.6.2006, III PK 30/06, OSNP 11–12/2007, 160 = LEX Nr. 271245; OG v. 22.2.2007, I PK 242/06, OSNP 7–8/2008, 98 = LEX Nr. 272249; OG v. 4.1.2008, I UK 182/07, OSNP 3–4/2009, 49 = LEX Nr. 478535; OG v. 21.1.2009, II PZP 13/08, LEX Nr. 475297), Betriebsübergang (OG v. 19.8.2004, I PK 489/03, OSNP 6/2005,78 = LEX Nr. 144438; OG v. 10.9.2004, I PK 449/03, OSNP 9/2005, 127 = LEX Nr. 148106; OG v. 7.2.2007, I PK 269/06, OSNP 5–6/2008, 68 = LEX Nr. 366124; OG v. 11.4.2012, I PK 145/11, LEX Nr. 1168867; OG v. 14.6.2012, I PK 235/11, LEX Nr. 1250558), Arbeitszeiten von Ärzten (OG v. 6.6.2006, I PK 263/05, LEX Nr. 192074; OG v. 13.5.2008, III PZP 3/07, OSNP 23–24/2008, 341 = LEX Nr. 375571; OG v. 3.6.2008, I PZP 10/07, OSNP 23–24/2008, 342 = LEX Nr. 379845; dazu auch Majkowska-Szulc/Tomaszewska, EPS 12/2007, 46–60), MitteiErnst

§ 28 Polen

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V. Fazit Polens erstes Jahrzehnt der Mitgliedschaft in der Union hat die Richtigkeit der Entscheidung des 38 Beitritts im Jahre 2004 bestätigt. Technische Defizite bei der Richtlinienimplementierung und der Übersetzung der Gemeinschaftsrechtsakte sind zum Teil den polnischen Behörden anzulasten, wohl noch stärker jedoch der Kommission. Sie hätten bei Nutzung von Erfahrungen aus früheren Erweiterungsrunden verringert werden können, wiederholten sich aber auch noch beim Beitritt Kroatiens 2013. Insgesamt kann das hinsichtlich der Rechtsangleichung enorme bürokratisch-technische Unterfangen aber als gelungen angesehen werden. Der vor 1989 eingeübte positivistische Ansatz in Ausbildung und Gerichtspraxis hat für die 39 Einführung des Europarechts kein unüberwindbares Hindernis dargestellt, muss aber zu dessen effektiver Geltung weiter zurückgedrängt werden. Als charakteristisch für den polnischen Prozess der Integration lässt sich die wichtige Rolle des Verfassungsgerichtshofs ansehen, der recht häufig die Gelegenheit erhielt, Anwendungsfragen des Europäischen Rechts zu klären.

_____ lungsersuchen eines Arbeitgebers an eine Gewerkschaftsbetriebsorganisation über deren Mitglieder im Lichte der Datenschutz-RL 95/46/EG (OG v. 21.11.2012, III PZP 6/12, OSNP 13–14/2013, 146).

Ernst

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3. Teil: Besonderer Teil

Ende Kommentar

Ernst

Stichwortregister

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Stichwortregister Stichwortregister Stichwortregister Fette Zahlen bezeichnen Paragraphen, magere Zahlen Randnummern. Academia dei Giusprivatisti Europei 4, 36 acquis communautaire 3, 4; 12, 8 Acquis Group 4, 37 acte clair 7, 47; 10, 15, 51; 16, 15; 19, 47; 22, 52 f.; 23, 26 ff.; 25, 29; 27, 14; 28, 9; s.a. C.I.L.F.I.T.-Urteil Adeneler-Urteil 13, 29, 37; 15, 23, 26, 30 ff., 38, 54, 57, 62; 25, 32, 52 Âkerberg-Fransson-Urteil 22, 42, 58 Aktionsplan zum Europäischen Vertragsrecht 4, 12, 39 Aktionspläne 4, 12, 39; 6, 64, 66; s.a. Kommission Akzo-Nobel-Chemicals-Urteil 22, 27 Alemo-Herron-Urteil 18, 60 allgemeine Rechtsgrundsätze 4, 8; 7, 26 f., 37, 54, 61; 12, 34; 18, 69; 22, 20f., 23 ff. Altersdiskriminierung 18, 66 f. AM & S Europe-Urteil 22, 27 Analogie 8, 58; 12, 32, 39; 17, 35, 45 f.; 18, 43; 19, 55, 63; 28, 8, 10, 23 – Analogieverbote 12, 17, 40 f. – im 19. Jahrhundert 3, 4, 72 ff., 80 ff., 88 – in der Topik des 16. und 17. Jahrhunderts 3, 67 – im polnischen Recht 28, 8 – Transparenzmechanismus 3, 18 f. – und Begründungserwägungen 6, 51 f. – und Grundrechte 12, 40 – und Rechtssetzungsmonopol 3, 17 – Wortsinngrenze 12, 40; s.a. Rechtsfortbildung analogische Auslegung; s. Analogie im 19. Jahrhundert Angonese-Urteil 6, 30; 17, 8 Anhörungsrüge analog § 321a ZPO 23, 32 Anlegerschutz 20, 5 Anwendungsvorrang; s. supranationales Unionsrecht – Anwendungsvorrang Arbeitnehmer; s. Europäisches Arbeitsrecht Arbeitnehmerentsendung 18, 55 Arbeitssprache; s. Europäischer Gerichtshof Arbeitszeit; s. Europäisches Arbeitsrecht Arbeitszeitrichtlinie 18, 38 f. argumentum a fortiori 12, 32 argumentum a maiore ad minus 18, 43 argumentum a similii 3, 33 arumentum e contrario 10, 34; 17, 34, 49, 54 Assoziierungsabkommen 28, 21 ATRAL-Urteil 14, 7, 59 Audiolux-Urteil 12, 34; 22, 24 ausfüllungsbedürftige Normen 23, 76 Auslandsgesellschaft 19, 49, 57 Auslegung – ausdehnende 3, 74 – autonome; s. autonome Auslegung

– contra legem 6, 37; 8, 36 f.; 12, 26; 13, 29, 37 f.; 22, 38 ff.; 25, 32; 27, 37; 28, 23 – deklarative 3, 68 – deklaratorische Natur 18, 2 – dynamische 7, 11; 19, 20 f., 38; 21, 13 – Eindimensionalität 18, 20 – einheitliche; s. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – enge Auslegung von Ausnahmen 7, 27 – europarechtsfreundliche 19, 44; s.a. – Sekundärrecht, intergrationsfreundliche – europarechtsorientierte 21, 34 ff. – extensive 3, 67 – funktional 28, 7 – gespaltene; s. gespaltene Auslegung – grammatikalische 3, 20, 66; 4, 25; 7, 17 ff., 48 ff.; 18, 24 ff.; 22, 12; 23, 87; 28, 7 – – mehrere Sprachfassungen 3, 19 f.; 4, 25; 7, 18 ff., 48; 10, 14; 12, 4, 17; 18, 25; 22, 12; 23, 87; 25, 24 – historische 3, 65; 7, 33 f., 53; 18, 34 f.; 22, 13; 23, 89 – – Vorbildrecht 10, 39 – intergouvernementales Unionsrecht; s.a. supranationales Unionsrecht; Auslegung völkerrechtlicher Verträge – – grammatikalische 7, 47 – – historische 7, 52 – – rechtsvergleichende 7, 53 f. – – systematische 7, 49 – – teleologische 7, 49 f. – italienischen Recht 26, 34 ff. – Kanon 3, 48, 63 f.; 22, 11 ff. – Kollisionsregeln 10, 29 ff. – Kompetenz der obersten Gerichtshöfe 23, 48 ff. – Methoden der obersten Gerichtshöfe 23, 86 ff. – Monopol des EuGH 23, 8 ff.; 24, 9, 31 – nationales Recht 22, 32 ff. – objektiv-teleologische 2, 13, 15; 3, 89; 10, 10 – offenkundige; s. acte clair – Parteierklärungen 17, 14 – polnischen Rechts 28, 7 – primärrechtskonforme; s. primärrechtskonforme Auslegung – Rang der Auslegungsmethoden 3, 64; 7, 40; 28, 7 – rechtsvergleichende 4, 24 ff.; 7, 41, 54 f.; 18, 47 f.; 22, 7 f., 23 ff. – restriktive 3, 68 f. – richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Auslegung

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Stichwortregister

– Sekundärrecht – – authentische 6, 65; 10, 28, 33 – – autonome 10, 4 – – historische 4, 27; 10, 32 ff.; 18, 34 f.; 20, 24 – – grammatikalische 10, 13 ff. – – integrationsfreundliche 10, 44 – – primärrechtskonforme 8, 7 ff. – – systematische 10, 21; 18, 28 ff. – – teleologische 6, 51 f.; 10, 41 ff.; 18, 36 ff. – subjektiv-historische 2, 13; 3, 65 – supranationalen Unionsrechts 18, 50 ff.; s.a. intergourvernementales Unionsrecht – – grammatikalische 7, 17 ff. – – grundrechtskonforme 23, 88 – – historische 7, 13, 33 f., 41 – – systematische 7, 22 ff. – – teleologische 7, 27 ff. – systematische 4, 28; 7, 22 ff., 48; 10, 22 ff.; 18, 18 ff.; 28 ff.; 21, 17; 22, 14; 23, 88; 28, 7, 23 – – Berücksichtigung von Regelungsentwürfen 10, 27 f. – – äußeres System 10, 24 – – inneres System 10, 25 – teleologische 4, 29; 7, 27 ff., 50 f.; 22, 15 ff.; 18, 36 ff.; 23, 90; 24, 9; 28, 23; s.a. teleologische Extension, teleologische Reduktion – – effet utile 10, 45 – – kompetenzkonforme 10, 41 – und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 31 ff.; s.a. dort – Unionsrecht – unionsrechtskonforme; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts – Unterscheidung von Rechtsfortbildung 18, 2 – Vereinigtes Königreich; s. dort – Verhältnis der Auslegungskriterien 3, 64; 7, 41, 56 – Vertrag 17, 18 – völkerrechtlicher Verträge 7, 43 ff. – völkerrechtskonforme 22, 22 – Wortlaut; s. Auslegung – grammatikalische – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze; s. Rechtsfortbildung – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze – Ziel 10, 8; 12, 18 – – objektive Theorie 10, 10 – – subjektive Theorie 10, 9; 12, 26, 44 – – Vereinigungstheorie 10, 11 Auslegungsgesetz 24, 34 Auslegungsmonopol des EuGH; s. Auslegung Auslegungsregeln; s.a. Zweifelsregel – contra proferentem 17, 22 – in dubio pro consumente/in dubio pro consumatore 10, 57 ff.; 11, 43; 17, 22 – in favor laborem 18, 19 f. Auslegungsmethoden; s. Auslegung

Ausnahmevorschriften; s. singularia non sunt extendenda Ausschlussregeln 3, 64 Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden (Commitee of European Securities Regulators, CESR) – Rolle bei Normsetzung und -auslegung 20, 28 – – Consultation Papers 20, 23 – – Feedback Statements 20, 24 – – Technical Advices 20, 22 autonome Auslegung 11, 12; 12, 4; 18, 13; 19, 37, 64; 21, 5, 15 ff.; 22, 19 – Primärrecht 7, 20, 36 – Sekundärrecht 10, 4 ff. – Vermutungsregel 10, 6 Basisrechtsakt 20, 7 Begriffsjurisprudenz 28, 6 Begründung – Element der 18, 5 Begründungserwägungen 3, 104; 6, 48 ff.; 10, 38; 18, 34; 22, 17; 23, 90; 25, 27 – Bedeutung für die Auslegung 6, 48 ff. – ~skonforme Auslegung 6, 51 – Rechtsnatur 10, 38 Begründungslehre 18, 5 Beitritt zur Europäischen Union 28, 11, 16 ff. – nicht in Landessprache veröffentlichtes Recht 28, 18 – Vorwirkung des Unionsrechts 28, 16 f. Bereicherungsausgleich 22, 26 bessere Rechtsetzung 22, 4 Betriebsübergangsrichtlinie 5, 18; 8, 8; 18, 8, 13, 20, 25, 40, 45, 59 f. Bilanzrichtlinien 14, 47 Binnenmarkt 5, 20, 30; 10, 44; 16, 51 – Binnenmarktintegration 5, 20, 50 – Binnenmarktkompetenz 5, 20, 23, 52; 9, 15 – Binnenmarktziel 5, 1 Bosman-Urteil 6, 30; 16, 34; 18, 59 bounded rationality; s. eingeschränkte Rationalität Brzeziński-Urteil 28, 26 C.I.L.F.I.T.-Urteil 16, 15; 22, 52 f.; 25, 29; 27, 14; s.a. acte clair Charta der Europäischen Grundrechte 18, 21, 58; 22, 21, 23, 28, 35, 42, 58; s.a. Unionsgrundrechte Chatzi-Urteil 22, 31 Code Civil 3, 12, 98 Codes of Best Practice 6, 67 ff. Commitee of European Securities Regulators (CESR); s. Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden Commission on European Contract Law 4, 37 Common Core of European Private Law 4, 37

Stichwortregister

Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen comply or explain-Prinzip 20, 14 contra legem 6, 37; 8, 36 f.; 12, 3, 26, 42, 45; 13, 29, 37 f.; 22, 38 ff.; 25, 32; 27, 37; 28, 23; s.a. Auslegung; Rechtsfortbildung Corporate Governance 4, 12; 9, 52, 55; 19, 17, 22 Dassonville-Entscheidung 6, 25; 19, 57; 22, 50; 25, 25 De-Larosière-Gruppe 20, 5 Delegationsnormen 11, 4 Delimitis-Urteil 21, 25 Demokratieprinzip 12, 4, 18 déni de justice 17, 46 Derogation von Normen 8, 59; 12, 16, 42; 13, 65; 17, 29 Dialog der Gerichte 24, 20 f., 37; 28, 15, 28, 30 Dienstleistungsfreiheit 18, 54 f. Diskriminierungsverbot 12, 32; 18, 63 ff. dispositives Recht 17, 15 – Analogie 17, 35 – Anwendung klassischer Auslegungsregeln 17, 24 ff. – argumentum e contrario 17, 34 – Aufgabe 17, 15 – Inhaltskontrolle 17, 44 – Leitbildfunktion bei Inhaltskontrolle 17, 44 – Nachrangigkeit 17, 15 – Rechtsanwendungs- und -durchsetzungspflicht 17, 38 – Rechtsquelle 17, 36 – Selbstbeschränkung des Unionsgesetzgebers 17, 30 – ständige Rechtsprechung 17, 37 – systematische Paradoxon 17, 32 Draft Common Frame of Reference; s. Gemeinsamer Referenzrahmen Drittwirkung des Unionsrechts; s. Unionsrecht Duomo-Urteil 19, 43 Durchführung des Unionsrechts 22, 42 Durchführungsrechtsakt 20, 9 Durchführungsrichtlinie 20, 17, 28 dynamische Auslegung; s. Auslegung – dynamische dynamische Verweisung auf Unionsrecht 21, 39 Dzodzi-Urteil 14, 29, 58; 21, 37; 28, 17 Eckpunktemodell 9, 13 école de la libre recherche scientifique 3, 99 economic analysis of law; s. Ökonomische Analyse des Rechts ECTIL; s. European Centre of Tort and Insurance Law effet utile 3, 20; 6, 18, 38, 44 f., 55, 59, 70; 7, 26, 30, 38, 51, 57; 10, 45; 18, 19, 44 ff.; 19, 66 Effizienz 5; s.a. more economic approach – als Interpretationsleitlinie 20, 37 einheitliche Auslegung im Überschussbereich 14, 4; s.a. gespaltene Auslegung – Pflicht aus europäischen Recht 14, 25 ff.

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– Pflicht aus nationalem Recht 14, 35 f. – überschießende Umsetzung von Richtlinien; s. überschießende Umsetzung – Vermutung für 14, 41 Einheitsrecht; s. internationales Einheitsrecht Einzelfallanwendung 23, 11 Einzelrichter 23, 19 EMRK 7, 38, 60 EM.TV-Urteil 19, 30, 35 Entscheidungserheblichkeit; s. Vorabentscheidungsverfahren Entstehungsgeschichte 3, 65; 18, 34 f. ergänzende Vertragsauslegung 17, 15 Erwägungsgründe; s. Begründungserwägungen estoppel-Prinzip 6, 18; s.a. Rechtsmissbrauchsverbot EuGH; s. Europäischer Gerichtshof EuGVÜ; s. Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen Euro-Marketing 5, 50 Europäische Bankenaufsichtsbehörde 20, 5 Europäische Methodenlehre passim – Aufgaben 18, 3 – Bedeutung des EuGH 3, 104 – Begriff 1, 1, 10; 12, 1 – Unionsverfassungsrecht als Metaordnung 3, 103 Europäische Privatgesellschaft 19, 10, 15 Europäische Sozialcharta 18, 32 Europäische Versicherungsaufsichtsbehörde 20, 5 Europäische Vertragsgrundregeln 4, 39 Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde 20, 5, 22 ff. Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung (EWIV) 9, 17 Europäischer Gerichtshof (EuGH) – Aufgaben 22, 4 f., 43 ff. – Auslegungszuständigkeit 7, 14 f.; 23, 8 ff. – Begründungsaufwand 18, 5 – Berichterstatter 18, 10 – Dialog mit nationalen Gerichten 24, 20; 28, 15, 28, 30 – Ermessenskontrolle 21, 28 – Funktionsteilung mit nationalen Gerichten 22, 43 ff. – Geschäftsverteilung 18, 10 – Gleichbehandlung der Fälle 12, 10 – Gleichberechtigung aller Amtssprachen 3, 18 – konkret-individuelle Entscheidungsfindung 12, 9 – Konkretisierung von Generalklauseln 11, 7 ff., 17 ff.; s.a. dort – obiter dictum 12, 10 – offensichtliche Unzuständigkeit 22, 44 – Präjudizien; s. dort – Qualität der Rechtsprechung 22, 4 ff. – Rechtskultur 3, 104; 24, 37 – Rechtsquelle 12, 10; 18, 7 – Richterrecht 12, 8

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Stichwortregister

– stare decisis-Doktrin 12, 10; s.a. Präjudizien – Verfahrensordnung 22, 44, 58 – Vorabentscheidungsverfahren; s. dort – Zusammensetzung 22, 3 ff. Europäischer Haftbefehl 24, 21 f.; 28, 14 Europäisches Arbeitsrecht – Arbeitnehmer, Begriff 18, 12, 14 – Arbeitszeit, Begriff 18, 19, 37 f. – Diskriminierungsverbote 18, 63 ff. – Entgelt 18, 22, 50, 52, 65 – grammatikalische Auslegung 18, 24 ff. – Harmonisierungsgrad 18, 12 ff., 45 – historische Auslegung 18, 34 f. – inneres System 18, 34 ff. – systematische Auslegung 18, 18 ff., 28 ff. – teleologische Auslegung 18, 36 ff. – Umsetzung in Polen 28, 37 – und Grundfreiheiten 18, 53 ff.; s.a. dort – und Unionsgrundrechte 18, 57 ff.; s.a. dort – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 18, 69 – Vertrauensschutz 18, 70 Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ) 4, 10, 13; 21, 37 Europäisches Gesellschaftsrecht 10, 24 – Aktionärsschutzmodell 9, 55 – aktuelle Entwicklungen 19, 15 ff. – Aufsichtsrat 19, 18, 62 ff. – Auslandsgesellschaft 19, 49, 57 – Außenverhältnis 9, 45, 60 – dynamische Auslegung 19, 20 f., 38 – Europäische Privatgesellschaft; s. dort – Generalisierbarkeit 9, 61 – Gesellschaftsstatut 19, 15, 19, 48 ff. – Gründungstheorie 19, 51, 56 – Hauptversammlungskompetenz 19, 34, 61 – Informationsmodell 9, 65; 19, 13, 19, 45, 68 – Kapitalverkehrsfreiheit 19, 3, 9, 13 – Kollisionsrecht 19, 1, 3, 48 ff. – Kompatibilität der Formen 9, 58 – Niederlassungsfreiheit 19, 6, 9, 13, 42 ff., 48 ff. – Quotenveränderung 9, 54 – Rechnungslegung 9, 46 – Scheinauslandsgesellschaft 19, 49 – Sitztheorie 19, 50 f., 56 ff. – Societas Europea (SE); s. dort – Umstrukturierung 9, 59 – Wettbewerb der Rechtsordnungen 9, 56; 19, 7, 16, 23, 68 f. Europäisches Kapitalmarktrecht – als Schutzgesetz 20, 44 – Ausschuss der EU-Wertpapierregulierungsbehörden; s. dort – bindende technische Standards 20, 11 ff. – Charakteristika 20, 1 – Consultation Papers 20, 22 f.

– Durchführungsrichtlinie 20, 17, 28 – Effizienz als Interpretationsleitlinie 20, 37 – Entwicklung 20, 2 ff. – EU-Wertpapierausschuss; s. dort – Feedback Statements 20, 22, 24 – Querschnittsmaterie 20, 1, 38 – Rahmenrichtlinie 20, 17 – Technical Advices 20, 25 – Wertpapierprospekt 20, 26 – Wohlverhaltensregeln 20, 39 ff. Europäisches Kartellrecht – autonome Anpassung der nationalen Wettbewerbsregeln 21, 33 – Bekanntmachungen 21, 10 – Beurteilungsspielraum der Kommission 21, 28 – dezentralisierte Anwendung 21, 7 – Leitlinien 21, 10 – ökonomische Analyse 21, 13, 18 – Quellen 21, 3 – Selbstbindung der Kommission 21, 10 – und AGB-Kontrolle 21, 17 – unmittelbare Geltung unter Privaten 6, 33 f. Europäisches Privatrecht – Dynamik 10, 46; s.a. Auslegung – dynamische – Grundfreiheiten 4, 7 – Kompetenzen 4, 7 – Ziel der Rechtsangleichung 10, 6; 14, 2 Europäisches Schuldvertragsübereinkommen (EVÜ) 4, 10, 13 Europäisches Sozialmodell 18, 21 Europäisches Urheberrecht 10, 24 Europäisches Vertragsgesetzbuch 6, 58, 65; s.a. Europäisches Vertragsrecht Europäisches Vertragsrecht 9, 26 ff.; 17, 1 ff.; s.a. Vertrag – Aktionsplan der Kommission 4, 12, 39 – (Draft) Common Frame of Referenz ([D]CFR); s. Gemeinsamer Referenzrahmen – Gemeinsamer Referenzrahmen; s. dort – Informationsmodell 9, 41 – Umsetzung in Polen 28, 33 f. – Wettbewerb der Rechtsordnungen 9, 37 Europarechtsfreundlichkeit 19, 44; 24, 21 – des französisches Rechts 24, 21 Europarechtskonformität nationalen Rechts 24, 4 europarechtsorientierte Auslegung; s. Auslegung European Centre of Tort and Insurance Law (ECTIL) 4, 37 European Civil Code 6, 20, 59; s.a. Gemeinsamer Referenzrahmen European Law Institute 4, 20, 37 European Principles of the Law of Torts 17, 7 EVÜ; s. Europäisches Schuldvertragsübereinkommen Expertenrecht 6, 67 ff.; s.a. Lamfalussy-Prozess; Codes of Best Practice

Stichwortregister

favor laboris 18, 19 f.; s.a. Zweifelsregeln Fernabsatzmarkt 5, 55 FKVO; s. Fusionskontrollverordnung Francovich-Urteil 6, 59; 7, 62; 17, 10; 18, 50; 22, 15; 26, 27 Frankreich; s.a. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – europäisches Recht als Inspirationsquelle der Rechtsfortbildung 24, 35 – Funktion des Richters als Methodenproblem 24, 16 ff. Französische Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert – Aubry 3, 98 – école de l’exégèse 3, 98 – école de la libre recherche scientifique 3, 99 – François Gény 3, 99 – interprétation par analogie 3, 100 – Rau 3, 98 – Wortlautgrenze 3, 98 – Zachariä von Lingenthal 3, 31, 41, 98 Freiburger Kommunalbauten-Urteil 11, 19, 20, 25, 41; 22, 51; 23, 11 Freiburger Schule 21, 22 Freiheitsentziehung 23, 3 Freirechtsschule 3, 42 Frustrationsverbot; s. Vorwirkung von Richtlinien Funktion des Richters 24, 26 funktionale Auslegung; s. Auslegung funktionaler Unternehmensbegriff 21, 16 Fusionskontrollverordnung (FKVO) 21, 9 Galatea-Urteil 11, 26 GASP; s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GEK; s. Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Gemeines Recht – Auslegung aus dem „ähnlichen“ Grund 3, 29 – extensive Auslegung 3, 29 – grammatische Auslegung 3, 29 – logische Auslegung 3, 29 Gemeineuropäische Rechtsprinzipien 6, 59 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 7, 42 Gemeinsamer Referenzrahmen 4, 18 ff., 28, 38 ff.; 6, 58; 9, 36; 17, 7, 47, 49 – Auslegungsgesichtspunkte 4, 28; 17, 51 ff. – Inhalt – – culpa in contrahendo 17, 7 – – einseitig verpflichtende Rechtsgeschäfte 17, 7 – – System der Rechtsbehelfe 17, 7 – lex academica 11, 45 – optionales Instrument 4, 20; 5, 31; s.a. Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex – Systembildung 17, 49 – Toolbox 17, 48

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Gemeinsames Europäisches Kaufrecht; s. Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Gemeinschaftscharta über die sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer 18, 32, 36 Gemeinschaftsgrundrechte; s. Unionsgrundrechte gemeinschaftskonforme Auslegung nationalen Rechts; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Gemeinschaftsmarke 22, 34 Gemeinschaftsrecht; s. Unionsrecht gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch; s. unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung; s. unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts Generalklauseln 11, 1 ff.; 17, 33; 20, 9; 23, 75 – Konkretisierung; s. Konkretisierung von Generalklauseln – Richtlinienumsetzung durch Generalklausel 23, 75 Gesamtanalogie 3, 74; s.a. Analogie Gesamtkanon der Auslegungsmethoden Savignys 3, 64 Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht 4, 37 Gesellschaftsrecht; s. Europäisches Gesellschaftsrecht Gesellschaftsstatut 19, 15, 19, 48 ff.; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gesetzesanalogie 28, 8 Gesetzesmaterialien 12, 18; 20, 25, 27; 22, 4, 13 Gesetzesumgehung 12, 35 Gesetzgebungskommission; s. refere legislatif 3, 2 f., 21 gespaltene Auslegung 14, 4; 23, 73; s.a. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – überschießende Umsetzung von Richtlinien; s. überschießende Umsetzung – Gründe 14, 42 ff. – im Kapitalmarktrecht 20, 45 Gewaltenteilungsprinzip 12, 14, 44, 46; 16, 2, 7; 21, 25; 24, 27; s.a. institutionelles Gleichgewicht Gleichheit der Staaten 7, 10, 54; 10, 6 Gleichheitssatz, allgemeiner 2, 4; 12, 32 f. gleißendes Licht der Analogieprüfung 3, 18 Google Spain-Urteil 22, 28 gouvernement des juges 24, 27 Granulat-Urteil 14, 23 Größenschluss; s. pragmatische Schlüsse Grundfreiheiten – Anwendung unter Privaten 6, 30 ff.; 17, 8 – Beschränkungsverbot 6, 25 f.; 7, 60 – Größenvorteile 5, 50 – Ökonomische Analyse 5, 47 – Rechtsfortbildung 7, 56 f. – Rechtsquellen 6, 24 – und Europäisches Arbeitsrecht 18, 53 ff.; s.a. dort

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Stichwortregister

grundfreiheitenkonforme Auslegung; s.a. primärrechtskonforme Auslegung – von abgeleitetem Unionsrecht 8, 7 ff. – – Begriff 8, 9 ff. – – bei Totalharmonisierung 8, 12 ff. – – und grundrechtskonforme Auslegung 8, 14 – – und Mindestharmonisierung 8, 11 – von nationalem Recht 8, 38 f. Grundrechte; s. Unionsgrundrechte Grundrechtecharta; s. Charta der Europäischen Grundrechte grundrechtskonforme Auslegung 12, 37; 22, 20 f., 42; 23, 88; s.a. primärrechtskonforme Auslegung – von abgeleitetem Unionsrecht 8, 7 ff. – – Begriff 8, 9 ff. – – und grundfreiheitenkonforme Auslegung 8, 14 – von nationalem Recht 8, 38 f. Gründungstheorie 19, 51, 56; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Gruppenfreistellungsverordnungen 21, 8 Gültigkeitsvermutung 16, 46 Hanse Law School 4, 41 Harmonisierungskonzept 10, 24; s.a. Mindestharmonisierung bzw. Vollharmonisierung Harmonisierungsziel 4, 3, 26 Handelsvertreterrichtlinie 28, 37 Hauptversammlungskompetenz 19, 34, 61; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Hayek 5, 7 ff. Heininger-Urteil 10, 62; 13, 46, 55; 14, 24, 36, 40, 49; 22, 45; 23, 18 Hermeneutik der Aufklärung 3, 31 Hierarchie des Primärrechts; s. Primärrecht Hirmann-Urteil 19, 28 ff., 40 historische Auslegung; s. Auslegung – historische Höchstnorm 19, 27, 40 f., 42 f. Horizontalwirkung von Richtlinien; s. Richtlinie IAS/IFRS-Verordnung 4, 15; 8, 30; 20, 30 ff.; s.a. International Accounting Standards ICC; s. International Chamber of Commerce ICI-Urteil 14, 21 f. im Zweifel für den Arbeitnehmer 18, 19 f.; s.a. Zweifelsregeln Immobiliarkreditrichlinie 6, 41, 68 implication in fact 17, 15 implied powers 7, 26 in claris non fit interpretatio 7, 47; 28, 9; s.a. acte clair in dubio pro consumente / in dubio pro comsumatore; s. Zweifelsregeln Individualrechtsschutz 16, 2 Informationsasymmetrie 5, 39, 54; 20, 5

Informationsmodell 5, 42; 9, 41, 65 ff.; 19, 13, 19, 45, 68 inhaltliche Übererfüllung 14, 11 f., 15 ff.; s.a. überschießende Umsetzung von Richtlinien Inhaltskontrolle; s. Vertrag Insolvenzschutzrichtlinie 18, 13 Inspire Art-Urteil 19, 19, 44, 49, 57 institutionelle Ordnung 11, 8 ff.; s.a. institutionelles Gleichgewicht institutionelles Gleichgewicht 12, 14, 18, 38; s.a. institutionelle Ordnung Inter-Environnement Wallonie-Urteil 12, 20; 15, 8 ff., 30, 32, 37, 54, 62 f. intergouvernementales Unionsrecht – Auslegung 7, 43 ff., s.a. Auslegung – GASP; s. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) – PJZS; s. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) – Rechtsnatur 7, 7 ff. International Accounting Standards (IAS) 4, 15; 8, 30; 20, 30 ff. International Chamber of Commerce (ICC) 4, 12 internationale Rechnungslegungsstandards 20, 30 ff. internationales Einheitsrecht 4, 4, 14, 16, 32; s.a. UNKaufrecht interprétation par analogie 3, 42 interpretatorische Gesamtabwägung 14, 37 interpretatorische Vorrangregel 8, 27; 13, 26, 42 ff., 47; 14, 37 Italien; s.a. Italienische Rechtswissenschaft – Akzeptanz der EU 26, 2 ff. – Anwendungsvorrang europäischen Rechts und die Doktrin der „controlimiti“ 26, 11 ff. – Auslegung italienischen Rechts 26, 34 ff. – Europagesetz 26, 29 – Umsetzung von Richtlinien 26, 27 ff. – Vertragsverletzungsverfahren 26, 30 Jahresabschluss-Richtlinien 4, 15; 9, 46 Joint Network on European Private Law (CoPECL) 4, 19, 38 judikative Rechtsfortbildung; s. Rechtsfortbildung judizieller Dialog; s. Dialog der Gerichte Junk-Urteil 18, 25, 41; 23, 24 Kaldor-Hicks-Kriterium 5, 3 f., 43 Kanon 3, 64; s.a. Auslegung Kant 3, 34 Kapitalaufbringung 19, 12, 22, 25 ff. Kapitalerhaltung 19, 12, 22, 26 f., 28 ff. Kapitalverkehrsfreiheit 19, 3, 9, 13 Kartellrecht 5, 2; 21, 1 ff.; s.a. Europäisches Kartellrecht Kattner Stahlbau-Urteil 23, 11

Stichwortregister

Kaufrecht; s. UN-Kaufrecht, Verbrauchsgüterkaufrichtlinie, Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht Keck-Urteil 5, 47, 50, 59; 6, 25 f.; 22, 50 Klarheitenregel 7, 47; 28, 9; s.a. acte clair Klauselrichtlinie 4, 16; 9, 42; 11, 16, 20, 31 ff., 41; 22, 51; 25, 26, 30 f.; 28, 34 Kleinwort Benson-Urteil 14, 58; 21, 37; s.a. DzodziUrteil Kodifikationsbewegung um 1800 3, 12 Kodifikationsvoraussetzungen 3, 69 Kodifizierte Unionsrechtsakte 10, 23 Kohärenz 10, 24; 18, 63; 22, 26, 29, 55 – der nationalen Rechtsordnungen 18, 14 – durch Rechtsvergleichung 22, 26 Kohärenzgebot 7, 7; 21, 23 ff. Kollektive Maßnahmen 18, 53, 55 f., 61 Kollektivverträge 18, 22, 37 Kollisionsrecht 14, 53; s.a. Europäisches Gesellschaftsrecht Kollisionsregeln 10, 29 ff. Komitologieverfahren 6, 70; 19, 11; 20, 6 Kommission – Aktionspläne 4, 12, 39; 6, 64, 66; s.a. soft law – Beurteilungsspielraum 21, 28 – Mitteilungen 6, 64; s.a. soft law – Selbstbindung 21, 10 Kompetenz-Kompetenz 12, 15 kompetenzkonforme Auslegung; s. Auslegung – teleologische; primärrechtskonforme Auslegung Konformität – nationalen Rechts mit Unionsrecht; s. Europarechtskonformität nationalen Rechts konkret-individuelle Entscheidungsfindung 12, 9 f., 15 Konkretisierung von Generalklauseln 11, 1 ff. – als Prozess 11, 45 f. – Beispiel: Klauselrichtlinie 11, 31 ff. – durch den EuGH 11, 17 ff. – Konkretisierungsmethode 11, 28 ff. – Leitbilder 11, 44 – Prinzipien 11, 43 – „Recht im Werden“ 11, 48 – Referenzmaßstäbe – – principles, gemeineuropäische 11, 39 – – gemeinschaftsautonome 11, 37 ff. – – Gemeinsamer Referenzrahmen 11, 45 f. – – sekundärrechtliche Referenzordnung 11, 41 f. – Spanien 27, 14, 16 f. – und Vollharmonisierung 11, 23 ff. Konsensprinzip 7, 4, 7, 44 Konzept des „informierten“ Verbrauchers 9, 22; s.a. Verbraucherleitbild; in dubio pro consumatore

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Lamfalussy-Prozess 6, 41; 20, 6 Laval-Urteil 18, 55 f. Law and Economics 5, 1 Legalausnahme 21, 7 Leitbilder 10, 47 ff.; 11, 42, 44; s.a. Verbraucherleitbild Leitlinien der Kommission 20, 14 Leur-Bloem-Urteil 14, 28 ff. lex contractus 17, 36 lex fori 13, 3 ff. lex posterior 7, 5; 10, 30; 13, 63; 19, 32; 24, 12 lex specialis 7, 31; 10, 31; 19, 32 lex scripta 6, 60 lex superior 6, 27; 10, 29; 12, 36; 19, 32 Lissabon-Urteil des BVerfG 6, 8, 11; 22, 41; 26, 6, 22 local hill phenomenon 19, 22, 34, 45 f., 64, 69 Lücke 12, 3, 27 ff., 39, 41, 44; 13, 51 ff.; 19, 21, 55, 61, 63, 66; s.a. Auslegung; Rechtsfortbildung Maastricht-Urteil des BVerfG 7, 57 Mahnverfahren 4, 13 Mangold-Urteil 8, 41; 15, 11 f., 20 ff., 54, 62; 18, 67; 23, 71; 26, 63 Marktmissbrauchsrichtlinie 5, 53; 19, 17; 20, 16 ff., 37, 44 Marktwirtschaft 5, 6, 17 ff., 19 Marktzutritt 5, 48 f. Massenentlassungsrichtlinie 10, 4 f.; 18, 13, 25, 41 Masterfoods-Urteil 21, 25 materielle Freiheit 9, 19 Mehrebenensystem 5, 28; 6, 10; 9, 2 f.; 16, 37 Mehrheitsprinzip 7, 4, 7 Mehrsprachigkeit des Unionsrechts 12, 6, 17; s.a. Auslegung – Sprachfassungen mehrstufige Regelungstechnik 20, 1 Methodenlehre – Funktion 3, 2 f., 103 f. Methodenwahl 3, 64; 6, 51, 63; 12, 46 Mindestharmonisierung 6, 36, 40 ff.; 14, 17; 18, 12 ff.; s.a. Vollharmonisierung Mindestvorschriften 19, 3, 7, 13, 27, 40 ff. Mitbestimmung der Arbeitnehmer; s. Arbeitnehmermitbestimmung mitgliedstaatliche Grundsätze – Demokratie 12, 4 – Rechtsstaatlichkeit 12, 4, 43; 18, 4 Mitteilungen der Kommission 6, 64; s.a. soft law Mono Car-Urteil 13, 33, 60 more economic approach 21, 8, 22 Nachweisrichtlinie 18, 41 nationales Recht – Europarechtskonformität; s. Europarechtskonformität nationalen Rechts

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Stichwortregister

Neue Institutionenökonomik 5, 9 ff.; s.a. Ökonomische Analyse des Rechts Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke 22, 34 Nichtigkeitsklage 12, 38 – Feststellung der Nichtigkeit 12, 43 f. – Rückwirkung 16, 13 – Verwerfungsmonopol des EuGH 24, 9, 31 Niederlassungsfreiheit 9, 57; 19, 6 Normanwendungsbefehl 16, 7 Normhierarchie 24, 10 Normenkollision 16, 71; 24, 33 nulla poena sine lege 12, 40 obiter dictum 12, 10 Obligationenrecht 17, 2 Océano-Urteil 11, 18, 25; 22, 51; 23, 11 öffentliches Recht 23, 1 ff., 54 ff. Ökonomik 5, 1 ökonomische Analyse des Rechts 5, 47; 21, 13, 18 ff. OMT-Beschluss 26, 26 Optionaler Europäischer Vertragsrechtskodex 9, 9 Pandektenwissenschaft 3, 12 – (Gesetzes)-Analogie 3, 93 – ändernde Auslegung 3, 121 – Arndts 3, 83 – Baron 3, 83 – Brinz 3, 83 – deklarative Auslegung 3, 79 – Dernburg 3, 83 – extensive Auslegung 3, 79 – Freirechtsschule 3, 96 – Gesetzeslücke 3, 93 – Hufeland 3, 80 – Kohler 3, 88 – Kontrolle des Richters 3, 80 – korrigierende Auslegung 3, 83 – Mühlenbruch 3, 83 – Puchta 3, 86 – restriktive Auslegung 3, 79 – Richterbindung 3, 82 – Vangerow 3, 83 – Verbot der Rechtsverweigerung 3, 82 – Windscheid 3, 90 ff. – Wortlautgrenze 3, 79, 81 Parallelverfahren 23, 47 Pareto-Kriterium 5, 4 parol evidence rule 17, 21 Parteierklärungen 17, 14; s.a. Auslegung Passagierrechte-Verordnung 28, 35 Pauschalreiserichtlinie 28, 36 persuasive authority 4, 34 Pfeiffer-Urteil 13, 9 f., 12, 15, 27 f., 32 f., 60; 22, 36, 39 PJZS; s. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen

Polen – Analogie 28, 8 – Auslegung nationalen Rechts 28, 7 – Beitritt zur EU 28, 1 – europakonforme Rechtsanwendung 28, 22 ff. – Gerichtssystem 28, 3 – Hochschulsystem 28, 4 f. – Rechtssystem 28, 2 – Schadensersatz wegen Verletzung europarechtlicher Pflichten 28, 25 – überkommene Rechtstheorie 28, 6 f. – Unterschied zwischen Vorschriften und Normen 28, 7 – Verbraucherrecht 28, 34 – Verhältnis von Rechtsprechung und Lehre 28, 10 f. – Vorlage durch nationale Gerichte 28, 31 f. – Vorlagepraxis 28, 26 ff. – Zuständigkeit des EuGH bei Fragen zu vor dem Beitritt eines Mitgliedstaates liegenden Sachverhalten 28, 16 f. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 7, 3 Positivismus 3, 44; 28, 10 Präjudizien – EuGH 12, 10, 22 f., 24; 16, 14 f., 18; 18, 7; 22, 54 ff.; 25, 22 – Vereinigtes Königreich 25, 4 f., 22 pragmatische Schlüsse 10, 34; 17, 34, 49, 54; 18, 32, 43 – a fortiori 12, 32 – a maiore ad minus 18, 43 – a simili 3, 33 – e contrario 10, 34; 17, 34, 49, 54 praktische Wirksamkeit; s. effet utile Primärrecht 6, 8, 10, 24; s.a. Auslegung – allgemeine Rechtsgrundsätze; s. dort; s.a. Unionsgrundrechte – Bedeutung der Rechtsvergleichung 4,7 ff. – Hierarchie 7, 13 – im Rahmen verfassungskonformer Auslegung 8, 43 – Rechtsfortbildung 7, 57 ff. primärrechtskonforme Auslegung 7, 13; 8, 3, 7, 38, 44; 12, 36; 18, 68; 22, 20 f.; s.a. primärrechtskonforme Rechtsfortbildung – als interpretatorische Vorrangregel 8, 27 – Begriff 8, 4 – des abgeleiteten Unionsrechts/Sekundärrechts 8, 7 ff.; 10, 52 – Funktion 8, 3, 25 – Geltungsgrund 8, 20 ff., 44 ff. – grundfreiheitenkonforme Auslegung 8, 9 ff., 42; s.a. dort – grundrechtskonforme Auslegung 8, 9 ff.; 42; s.a. dort – kompetenzkonforme Auslegung 10, 41; 18, 68 – methodologische Grenze 8, 31 ff.

Stichwortregister

– mögliche Bezugspunkte 8, 8, 39 – nationalen Recht 6, 62 f.; 8, 38 f. – Reichweite 8, 29 ff. – Stellung im System der juristischen Methodenlehre 8, 28 – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 8, 27 primärrechtskonforme Rechtsfortbildung 8, 32 ff., 35, 57 ff.; 12, 36; s.a. primärrechtskonforme Auslegung – Analogieschluss 8, 35 – Grundrechte 12, 37 – methodologische Grenzen 8, 57 ff. – Mittel der 8, 35 – teleologische Reduktion 8, 35 – Verbot des contra-legem-Judizieres 8, 36; 12, 3 primärrechtsorientierte Auslegung 8, 43 principles, gemeineuropäische 11, 39 Principles of European Contract Law (PECL) 4, 28, 32; 11, 46; 17, 50, 53; 27, 19 f. Principles of European Insurance Contract Law (PEICL) 5, 31 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 4, 13; 6, 39; 8, 25; 10, 45; 11, 7; 12, 6, 13, 15, 29; 14, 2, 26; 19, 3, 7 Prinzip der Verfassungsorgantreue 12, 20 Privatautonomie 17, 15, 35; 18, 28 Privatrecht, s.a. Vertragsrecht – dispositives 6, 29 – klassisches 6, 19 – regulatorisches 6, 19, 21, 23, 47 – regulierendes 6, 29 – zwingendes 6, 29 Prospekthaftung 19, 28 ff. Pupino-Urteil 13, 3, 33; 23, 63 Qualität der Rechtsprechung 22, 4 ff. Quelle-Urteil 13, 53, 55, 57; 14, 22, 36, 40; 17, 9; 23, 71; 25, 40; 26, 18, 70 question prioritaire de constitutionnalité 24, 4, 16 ff., 37 QPC; s. question prioritaire de constitutionnalité Rahmenbeschluss 13, 3, 33; 23, 63; 24, 21 rahmenbeschlusskonforme Auslegung 13, 3 Rahmenrichtlinie 20, 7 Rangfolge der Auslegungsregeln 3, 64; 7, 40; 28, 7 Rangverhältnis der Rechtsquellen 7, 31 Ratingagenturen 6, 55 ratio legis 3, 48 Rechnungslegung 9, 46 Recht auf Vergessenwerden 22, 28 Rechtsakte – kodifizierte 10, 23 – Rahmenbeschluss; s. Rahmenbeschluss Rechtsanalogie 28, 8 Rechtsangleichung 4, 13 ff.; 6, 53; 10, 6; 14, 2

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Rechtsfortbildung 3, 78; 6, 60; 7, 38, 57, 65, 68; 8, 32, 57; 13, 17 ff., 48 ff.; 18, 49; 22, 15, 37 ff.; 24, 34; s.a. Analogie, teleologische Reduktion – Analogieschluss 8, 58 – beschränkte Regelungszuständigkeit 12, 13 – contra legem 6, 63; 8, 59; 22, 38 ff.; s.a. dort – Grenze 12, 2 – Grundfreiheiten 7, 59 – Grundrechte 7, 60 – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 49 – im Primärrecht 7, 56 ff. – Lücke 12, 3, 27 ff., 39, 41, 44; 13, 51 ff.; 19, 21, 55; 61, 63, 66 – Mittel der 8, 58 – primärrechtskonforme 8, 32 ff., 57 ff.; s.a. dort – Rückwirkung 16, 9 – richtlinienkonforme; s. richtlinienkonforme Rechtsfortbildung (nationalen) Rechts – teleologische Reduktion 8, 58 – Transparenzgebot 12, 27 – überlieferte Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EU 12, 8 – und teleologische Auslegung 7, 57 – Unterscheidung von Auslegung 18, 2 – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze 3, 79, 81; 10, 19; 12, 1 f., 16 f., 26, 38, 40; 13, 46; 23, 71; 28, 8 – Zulässigkeit 8, 33 f. Rechtsgrundsätze – allgemeine; s. dort – effet utile; s. dort – implied powers; s. dort – völkerrechtliche 7, 54 Rechtskultur des EuGH; s. Europäischer Gerichtshof (EuGH) Rechtsmissbrauchsverbot 9, 3; s.a. estoppel-Prinzip Rechtsnatur – des Unionsrechts 7, 4 ff. – des intergouvernementalen Unionsrechts 7, 7 f. – von Begründungserwägungen; s. dort Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union 7, 3 Rechtsprechungsänderung 18, 8; 22, 56 f. – Rückwirkung 16, 10 – guter Glaube 16, 30 Rechtsquellen 6, 1 ff.; 12, 10; 17, 36; 18, 7; 24, 8 – Entscheidungen des EuGH 12, 10; 18, 7 – gemeineuropäische Rechtsprinzipien 6, 59 – Primärrecht 6, 30 ff. – Rangverhältnis 7, 31 – Richtlinien 6, 35 ff. – soft law 6, 64 ff.; s.a. soft law – Verordnungen 6, 53 f. Rechtsquellenlehre 6, 1 ff. – angelsächsische 6, 7 – europäische 6, 1, 7 – französische 6, 7 Rechtssicherheit 7, 35; 12, 10, 20 f.; 13, 59; 16, 3

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Rechtsstaatsprinzip 12, 4, 43; 18, 4 Rechtsunterricht 4, 40 Rechtsvereinheitlichung 4, 4; 6, 53, 58; 10, 44 Rechtsvergleichung 4, 1 ff.; 7, 41, 54 f.; 18, 47 f.; 22, 7 f., 23 ff. – Bedeutung bei der Rechtssetzung 4, 6 ff. – Bedeutung bei der Rechtsanwendung 4, 22 ff.; 7, 35 ff., 53 f. – Einsatz in Forschung und Lehre 4, 36 ff. – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 47 f. – principles, gemeineuropäische und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 39; s.a. dort référé législatif 3, 21, 26, 77 Regelsetzung – dezentrale 9, 6 – zentrale 9, 6, 15 Relativität der Rechtsbegriffe 10, 20 Richterrecht 12, 8; s.a. Präjudizien Richtlinie 6, 35 ff., 45 ff., 52 f.; 13, 1 ff. – Belastungsverbot 6, 45 – grundrechtskonforme Auslegung 8, 41 – Horizontalwirkung/Direktwirkung 6, 16, 45 f.; 8, 41; 13, 12 ff.; 15, 20 ff.; 24, 30 – inhaltliche Übererfüllung; s. dort – mediatisierte Rechtssetzung 6, 36 – Optimierungsgebot 17, 9 – opt-out 14, 13 – richtlinienkonforme Auslegung; s. dort – Sanktionen 6, 40, 44; 18, 35, 46; 28, 33 – Transparenzgebot 13, 54; 14, 33, 35 – überschießende Umsetzung; s. dort – Umsetzung durch Rechtsprechung 15, 44 ff.; 23, 84 f. – Umsetzungstechniken in Spanien 27, 24 ff. – Umsetzungsverpflichtung 15, 3; 17, 9; 23, 64 ff.; 24, 3, 24 – Umsetzungsfrist 13, 11; 15, 3 f. – unmittelbare Anwendbarkeit 6, 45 ff.; 13, 12 ff.; 15, 5, 20 ff.; 18, 51; 23, 61, 65; 27, 34 f. – unmittelbare Wirkungen 6, 45 ff.; 17, 10 f. – Vorwirkung; s. Vorwirkung von Richtlinien – Wirkungen bei privatrechtlich ausgestalteten Verträgen 17, 10 – mißbräuchliche Klauseln; s. Klauselrichtlinie Richtlinien und Lücken 12, 30 richtlinienkonforme Auslegung 6, 45, 51, 51 f.; 13, 1 ff.; 17, 9; 23, 69 ff. – Adressat; s. Verpflichtete – Begriff 13, 9, 17, 24 – bei quasi wörtlicher Umsetzung 13, 34 – Gegenstand – – nationales Recht der lex fori 13, 3 ff. – – Recht anderer Mitgliedstaaten 13, 6 ff. – Grundlagen – – im Unionsrecht 13, 3 ff., 10 f. – – im nationalen Recht 13, 39 f.

– interpretatorische Vorrangregel 13, 26, 42 ff., 47; 14, 37 – im Vereinigten Königreich 25, 32 ff.; s.a. Vereinigtes Königreich – (methodische) Vorgaben aus dem Unionsrecht 13, 25 ff. – – contra legem 6, 37; 8, 36 f.; 12, 26; 13, 29, 37 f.; 22, 38 ff.; 25, 32; 27, 37; 28, 23 – – Gleichbehandlung 13, 31 f. – – Normenkollision 13, 32 f. – – Vermutung richtlinienkonformer Umsetzung 13, 27 ff. – – interpretatorische Vorrangregel 13, 26; 14, 37 – Schranken 13, 35 ff., 46 f. – – Italien 26, 60 ff. – Strafrecht 13, 36; 22, 36 – Subsidiarität 13, 14 – Umsetzung im nationalen Recht – – Auslegungsmethoden 13, 41 – – interpretatorische Vorrangregel 13, 26, 42 ff., 47; 14, 37 – – Normenkollision 13, 60 ff. – – Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 13, 39 f.; s.a. überschießende Umsetzung von Richtlinien – – Rechtsfortbildung; s. richtinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Recht – – Wille des Gesetzgebers 13, 40 f., 47 – – Zeitpunkt 13, 11, 40; 15, 27 f., 39 ff. – Umsetzungsfrist 13, 11, 40; 15, 3 f. – – bei Umsetzung vor Ablauf der Umsetzungsfrist 13, 40; 15, 27 f. – – im Rahmen der Vorwirkung von Richtlinien 15, 39 ff. – und grundrechtskonforme Auslegung 8, 40 f. – und Rechtsfindung 6, 37 f.; 13, 17 ff. – Verhältnis zur unionskonformen Auslegung 13, 9 f. – Verhältnis zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinienbestimmung 13, 12 ff., 62 – Verpflichtete 13, 4 f. – Verpflichtungsumfang 13, 5, 24, 26 – zeitliche Wirkung 13, 59 – Zeitpunkt 13, 11, 40 richtlinienkonforme Rechtsfindung; s. richtlinienkonforme Auslegung, richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nationalen Rechts 13, 48 ff. – Grenzen 13, 55 ff.; 26, 60 ff. – Grundlage 13, 49 f. – Instrumente 13, 54 – Lücke als Voraussetzung 13, 51 ff. – Umgang mit Normenkollisionen 13, 60 ff. Roaming 6, 54

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Römisches Recht – actiones – – actio directa 2, 32 – – actio de dolo 2, 34 – – actio empti 2, 11 – – actio in factum 2, 34 – – actio utilis 2, 32, 34 – – actio venditi 2, 11 – argumentum a simili 3, 34 – außerrechtliche Wertungen 2, 5 – bona fides 2, 11, 21, 27 – Celsus 2, 3, 5, 8 f., 11 f. – condictio 2, 12 – – datio sine causa 2, 12 – – iniusta causa 2, 12 – Deduktion 2, 5, 9 ff., 35 – Edikt 3, 22 – Gleichheitssatz, allgemeiner 2, 4 – Julian 2, 27 – Justinian 2, 34 – Kauf 2, 8, 11 – – periculum emptoris 2, 8, 11 – lex Aquilia 2, 15 ff. – mens legis 3, 23 – Prokulianer 2, 9 – Sabinianer 2, 9 – sententia legis 3, 23 – stipulatio 2, 21 ff. – – stipulatio habere licere 2, 23 – Tausch 2, 11 – verba 3, 23 – Vertrauensschutz 16, 74 – voluntas 3, 23 – Zwölftafelgesetz 2, 14 f., 21 Rückwirkung von Rechtsprechung 12, 21, 25; 13, 59; 16, 1 ff.; 18, 70 – Auslegung 16, 8 – bei richtlinienkonformer Auslegung 13, 59; 16, 74 – Beschränkung; s. Rückwirkungsbeschränkung – Inzidenztrüge 16, 13 – Nichtigkeit 16, 13 – und Präjudizien des EuGH 16, 14 f. – Rechtsprechungsänderung 16, 10 – tatsächlicher Vergangenheitsbezug 16, 4 – Ungültigkeit 16, 13 – Unwirksamkeit 16, 12 f. Rückwirkungsbeschränkung – Antrag 16, 68 – Ausnahme für Rechtsbehelfsführer 16, 64 f. – Binnenmarkt 16, 51 – Dogmatik 16, 55 – geschützte Rechtsposition 16, 47 – guter Glaube 16, 25 ff. – Irrtum 16, 27 f.

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– Kompetenz 16, 16 ff. – Konnexität; s. Rückwirkungsbeschränkung – Präklusion – und mitgliedstaatliches Recht 16, 71 ff. – Nachholung 16, 60 – öffentliche Interessen 16, 60 – Präklusion 16, 22 ff., 35, 61 – räumliche Reichweite 16, 66 – Regelungslücke 16, 49 ff. – und richtlinienkonforme Auslegung 16, 74 – schwerwiegende wirtschaftliche Auswirkungen 16, 40 ff. – Selbstbindung der Union 16, 29 – und Staatshaftung 16, 75 – Trittbrettfahrer 16, 39 – Übergangsfrist 16, 61 ff. – Vertragsverletzungsverfahren 16, 19, 31 – Vertrauenschutz 16, 46 – völkerrechtliche Verträge 16, 50, 52 – Voraussetzungen 16, 20 ff. – Zeitpunkt des guten Glaubens 16, 38 Rügeverkümmerungs-Beschluss des BVerfG 13, 51, 56 f. Sachentscheidung des Gesetzgebers 14, 38 ff., 44, 52 Satzungsautonomie 19, 62 ff. Satzungsstrenge 19, 62 ff. Savigny 3, 30-78 Scheinauslandsgesellschaft 19, 49 SE; s. Societas Europea SECOLA; s. Gesellschaft für Europäisches Vertragsrecht Sekundärrecht 4, 10; 6, 10, 35 ff.; 7, 13 – allgemeine Rechtsgrundsätze 12, 34 – Gültigkeitskontrolle 7, 8 – historische Auslegung 20, 24 – Materialien 10, 35 ff.; 12, 18 – Regelungsentwürfe 10, 27 f. – Relativität der Rechtsbegriffe 10, 20 – Rückwirkung 12, 21 – Sperrwirkung 12, 20 Selbstbestimmung 9, 43 Selbstverständnis des Richters 24, 26 sens clair 3, 38, 41; s.a. acte clair SEPA 6, 69 SIEC-Test 21, 9 Signigicant impediment of effective competition; s. SIEC-Test single rulebook für die Finanzmärkte 20, 5 singularia non sunt extendenda 7, 27; 8, 23; 10, 62 ff.; 12, 32; 18, 28 Sitztheorie; s. Europäisches Gesellschaftsrecht Skoma-Lux-Urteil 28, 20 Smart Regulation 22, 4 smart sanctions 16, 51

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Societas Europea (SE) 6, 57; 9, 17; 19, 60, 76, 79, 81, 88 – Satzungsautonomie 19, 62 ff. – Satzungsstrenge 19, 62 ff. – Wettbewerb der Rechtsordnungen 19, 68 f. soft law 6, 64 ff., 70 – Aktionspläne 4, 12, 39; 6, 64, 66 – Empfehlungen 6, 65 – Mitteilungen 6, 64 Sozialpartner; s. Europäisches Arbeitsrecht Spaak-Bericht 5, 20 Spanien – Anwendungsvorrang des Unionsrechts 27, 7 f. – Beitritt zur EG 27, 2 – Konkretisierung von Generalklauseln 27, 14, 16 f. – Rechtspluralismus 27, 11 ff. – spanisches Privatrechtssystem 27, 4 ff. – Subsidiaritätsprinzip 27, 11 – Umsetzungstechniken 27, 24 ff. – unionsrechtlicher Haftungsanspruch 27, 10 – Verbraucherrechterichtlinie 27, 33 – Vorwirkung von Richtlinie 27, 36 f. – Wirtschafts- und Finanzkrise 27, 2 Spedition Welter-Urteil 13, 34 Sperrwirkung 12, 20; 15, 17 f.; s.a. Frustrationsverbot Spezialitätsgrundsatz 10, 31 Sprachfassungen; s. Auslegung Sprachrisiken 17, 23 Staatensouveränität 7, 10, 45, 50 Staatshaftungsanspruch; s. unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch stare decisis-Doktrin 12, 10; 22, 56; 25, 3 ff. Stichting-Urteil 15, 14 Strafrecht 23, 5 ff. Strukturentscheidung des Gesetzgebers 14, 38 ff., 52 Study Group on a European Civil Code 4, 37 Sturgeon-Urteil 12, 32 subjektive Theorie; s. Auslegung – Ziel Subsidiarität; s. Subsidiaritätsprinzip Subsidiaritätsprinzip 9, 20; 12, 15, 29, 33; 14, 2; 19, 7, 19, 41; 27, 11 supranationales Unionsrecht – Adressaten 6, 14 ff.; 17, 38 – – Mehrdirektionalität 6, 12 – Anwendbarkeit unter Privaten 6, 30 ff., 33 f.; 17, 8, 10 – Anwendungsvorrang 6, 11, 15; 7, 5, 8, 15; 10, 29; 16, 73; 21, 32; 24, 8, 25, 32; 25, 23; 26, 11 ff.; 27, 7 ff.; 28, 12 ff., 23, 27 – Auslegung ; s. Auslegung – begrenzte Regelungskompetenz 12, 6; s.a. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – dynamische Entwicklung 7, 11, 45; 18, 30 – Kompetenzen 24, 37; 26, 22 – Mehrstufigkeit 6, 10 f.

– Rechtsnatur 7, 4 ff. – Rechtsordnung 7, 9 – Vorrang vor nationalem Recht; s. Unterpunkt Anwendungsvorrang Synergieeffekte 5, 50 System der Europäischen Finanzmarktaufsicht 20, 5 systematische Auslegung; s. Auslegung – systematische Systembildung 3, 10, 69; 18, 18 ff. Tabakwerberichtlinie 5, 24 Tarifautonomie 8, 54; 18, 22, 47 f., 59; s.a. Unionsgrundrechte teleologische Auslegung; s. Auslegung – teleologische teleologische Extension 6, 51; 13, 31, 54 teleologische Reduktion 6, 51; 8, 35, 58; 12, 33; 13, 31, 54; 19, 65; 22, 37; 23, 71; 25, 40; 26, 18 Textgleichheit von Normen bei Richtlinienumsetzung 14, 14 theorie de la loi-écran 24, 12, 16 Thibaut 3, 31 f. Treu und Glauben 6, 59; 11, 39 Trade-Relates Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS); s. Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum Transparenz 3, 17; 12, 27; 14, 33, 35; 22, 13 Travaux préparatoires 22, 13; s.a. Gesetzesmaterialien überschießende Umsetzung von Richtlinien 14, 1 ff.; 21, 34; 23, 72 ff. – Abgrenzung 28, 17 – – falkutive Umsetzung 14, 13 – – inhaltliche Übererfüllung 14, 11 f.; s.a. dort – – opt out 14, 13 – – textgleiche Normen 14, 14 – Auslegung als interpretatorische Gesamtabwägung 14, 37 – Beispiel: Fristsetzungserfordernis nach § 323 Abs. 1 BGB 14, 20, 38 f. – einheitliche Auslegung im Überschussbereich; s. dort, s.a. gespaltene Auslegung – europarechtliche Zulässigkeit 14, 15 ff. – Fallgruppen 14, 5 ff. – gespaltene Auslegung; s. dort, s.a. einheitliche Auslegung im Überschussbereich – und IPR 14, 53 – und Vollharmonisierung 14, 18 – Vereinigtes Königreich 25, 50 f. – Zuständigkeit des EuGH 14, 54 ff. – – Vorlagemöglichkeit 14, 57 f. Übersetzung von Unionsrecht 28, 18 f. UGP-Richtlinie 11, 1, 26, 41 Ultra-vires-Grenze 24, 37; 26, 22 Umgehungsverbot 12, 35 Umkehrschluss 10, 34; 17, 34, 49, 54

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Umsetzung von Richtlinien; s. Richtlinie Umsetzungsgesetz 24, 24 Umwelthaftungsrichtlinie 4, 13 UN-Kaufrecht 4, 18, 33; 10, 39 Unanwendbarkeit von Unionsrecht 28, 20 ungerechtfertigte Bereicherung 22, 26 UNIDROIT 4, 12, 37 unionsfreundliche Auslegung 28, 21 f. Unionsgrundrechte 7, 60; 12, 4, 40; 18, 57 ff.; 22, 21, 23, 28, 35, 42, 58; 24, 21 – Analogieverbot 12, 40 – Grundrechtecharta 7, 60; 12, 4 – im Europäischen Arbeitsrecht 18, 57 ff.; s.a. dort – Rechtsfortbildung 7, 61 Unionsrecht; s.a. supranationales Unionsrecht, intergouvernementales Unionsrecht – Adressaten 6, 14 ff.; 17, 38 – – Mehrdirektionalität 6, 12 – Anwendbarkeit unter Privaten 6, 14, 18, 30 ff., 33 f.; 17, 8 – Anwendungsvorrang 6, 11; 7, 5, 8, 15; 10, 29; 16, 73; 21, 32; 24, 8, 25, 32; 25, 23; 26, 11 ff.; 27, 7 ff.; 28, 12 ff., 23, 27 – Auslegung; s. dort – Auslegungswirkung 24, 29 – begrenzte Regelungskompetenz 12, 6; s.a. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung – Durchführung 22, 42 – dynamische Entwicklung 7, 11, 45; 18, 23, 30 – Entschädigungswirkung 24, 29 – Ersetzungswirkung 24, 30 – intergouvernementales; s. dort – Mehrstufigkeit 6, 10 f. – Rangverhältnis 7, 31 – Rechtsnatur 7, 4 ff. – Rechtsordnung 7, 9 – Stellung 24, 9 – supranationales; s. dort – Übersetzung 28, 18 f. – Unanwendbarkeit 28, 20 – und französisches Verfassungsrecht 24, 15 – und Völkerrecht 24, 10 – unmittelbare Anwendbarkeit 24, 29 – unmittelbare Geltung 24, 29 – Verdrängungswirkung 24, 29 – Vorrang vor nationalem Recht; siehe Anwendungsvorrang unionsrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts 3, 19; 6, 62; 8, 44 ff.; 22, 35 ff.; 23, 70; 28, 16, 21 f. – Grundlagen im Unionsrecht 13, 10 – interpretatorische Vorrangregel 8, 52; s.a. richtlinienkonforme Auslegung – nationales Recht anderer EG-Mitgliedstaaten 8, 54 f. – nationales Recht des forum 8, 54 – Reichweite 8, 54 ff.

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– Stellung im System der juristischen Methodenlehre 8, 52 – Verhältnis zur richtlinienkonformen Auslegung 13, 9 f. – Verhältnis zu den übrigen Auslegungskriterien 8, 52 unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch 7, 38, 61; 16, 75; 17, 10; 23, 77; 26, 27; 27, 10 unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien; s. Richtlinie – unmittelbare Anwendbarkeit unmittelbare Wirkung von Richtlinien; s. Richtlinie – unmittelbare Wirkung Unternehmensaußenrecht 9, 43 Unternehmensbegriff 21, 16 Unterscheidung von öffentlichem und Privatrecht 28, 2 Utilitarismus 5, 3 ff. Verbandsautonomie 19, 64 Verbot des contra-legem-Judizierens 8, 36; 12, 3; s.a. contra legem, primärrechtskonforme Rechtsfortbildung Verbraucherleitbild 5, 45; 10, 47 f. Verbraucherrecht 6, 41; 9, 32; 10, 59; 20, 5; 21, 22; 28, 34; s.a. Verbraucherrechterichtlinie Verbraucherkreditrichtlinie 6, 41, 45, 52; 10, 30 Verbraucherrechterichtlinie 5, 56 ff.; 9, 42; 10, 30; 11, 23, 27; 27, 33; 28, 33 Verbraucherwohlfahrt 21, 22 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie 4, 13; 6, 43; 9, 26; 10, 4, 39, 65; 11, 15; 14, 1, 7, 20 ff.; 17, 15 verdeckte Sacheinlage 19, 45 Vereinigtes Königreich – Auslegung europäischen Rechts 25, 25 ff. – Auslegung des Rechts des Vereinigtes Königreichs – – Wortlaut 25, 13 ff. – – literal rule 25, 14 f. – – Sinn und Zweck 25, 17 ff. – doctrine of binding precedent 25, 3 ff. – doctrine of implied repeal 25, 23 – doctrine of parliamentary souvereignty 25, 13 – Gerichtssystem 25, 3 – Methodik des Fallrechts 25, 6 ff. – Präjudizienbindung 25, 4 f. – – und Auslegung 25, 20 f. – ratio decendi 25, 7 ff., 11 – richtlinienkonforme Auslegung 25, 32 ff. – – Auswirkungen auf das Verständnis des Common Law 25, 47 ff. – – des zur Umsetzung erlassenen Rechts 25, 36 ff. – – sonstigen Rechts im Anwendungsbereich der Richtlinie 25, 41 ff. – Rechtsschöpfung durch Gerichte 25, 10 f. – Rechtssysteme 25, 1 – überschießende Umsetzung von Richtlinien 23, 72; 25, 50 f.

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Stichwortregister

– Vorlagepraxis 25, 28 ff. – Vorrang des europäischen Rechts 25, 23; s.a. Unionsrecht – Anwendungsvorrang – Vorwirkung von Richtlinien 25, 52 f. Vereinigungsfreiheit; s. Unionsgrundrechte Vereinigungstheorie; s. Auslegung, Ziel Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten 16, 72; 28, 24 Verfahrensordnung des EuGH 22, 44 Verfassungsidentität 24, 24 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 7, 55, 61 Verhaltenskodex über vorvertragliche Informationen für wohnungswirtschaftliche Kredite 6, 58 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 12, 20, 37; 18, 69 verspätete Umsetzung, Haftung bei 23, 82 ff. Vertrag von Lissabon 1, 11 ff.; 7, 3, 7, 14 Vertrag 17, 5 ff. – Anwendungsbereich 17, 6 – Auslegung 17, 18 – Begriff 17, 5 – Francovich-Haftung 17, 10 – Inhaltskontrolle 17, 44 – Konsens 17, 13 – Parteierklärung 17, 14 – Rechtsbehelfsseite 17, 6 – Selbstbindung 17, 6 – Sprachrisiken 17, 23 – Vertragsfreiheit 17, 14 Vertragsauslegung 17, 18 – Auslegung contra proferentem 17, 22; s.a. Zweifelsregeln – Auslegungsmaterial 17, 21 – falsa demonstratio non nocet 17, 19 – Parteiwille 17, 19 – Risiken 17, 22 Vertragsfreiheit 17, 41 Vertragsrecht 17, 2 ff. – dispositives 17, 15, 24 ff.; s.a. dipositives Recht – zwingendes 17, 16 f., 40 ff. – Aufgabe 17, 13 – Instrumentarium 17, 14 – Topos 17, 2 Vertrauensschutz 6, 59; 11, 43; 12, 17, 21, 24, 46; 13, 59; 16, 1 ff.; 18, 70 Verweisung auf das nationale Recht 10, 4, 6 f. Verwerfungsmonopol des EuGH 24, 9, 31 VG Wort-Urteil 15, 35 VO 1/2003 21, 7 Völkerrecht – Monismus 24, 10 – Ratifizierung 24, 10 – und französisches Recht 24, 10 – und Unionsrecht 24, 10 – völkerrechtlicher Vertrag 24, 12

völkerrechtliche Verträge 22, 22; 24, 9 völkerrechtskonforme Auslegung 22, 22 Vollharmonisierung 6, 41 ff.; 11, 23, 27; 13, 34; 14, 17; s.a. Mindestharmonisierung – und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 23 ff.; s.a. dort – und überschießende Umsetzung von Richltinien 14, 17; s.a. dort Vorabentscheidungsverfahren 7, 15; 24, 18; 28, 17, 26, 28 – Abwehr von Vorabentscheidungsersuchen 23, 51 – bei europarechtsorientierter Auslegung 21, 37 f. – bei überschießender Umsetzung von Richtlinien 14, 54 ff. – bei Fragen zu vor dem Beitritt eines Mitgliedstaates liegenden Sachverhalten 28, 16 f. – Entscheidungserheblichkeit 23, 14 – grundsätzliche Bedeutung 23, 20 – Funktionsteilung EuGH/nationale Gerichte 22, 43 ff.; 23, 49 – Kammervorlage 23, 20 – Kosten 23, 46 – mündliche Verhandlung beim EuGH 23, 44 – Parallelverfahren 23, 37 – Rückwirkung 12, 25; 16, 1 ff. – schriftliche Vorverfahren bei EuGH 23, 42 – Verfahren vor den obesten Gerichtshöfen 23, 33 ff. – Verfahren vor dem EuGH 23, 42 ff. – und Konkretisierung von Generalklauseln 11, 10 – Verfahrensakten 23, 41 – Vorlageberechtigung 23, 14 ff., 19 f. – Vorlagebeschluss 23, 35 ff. – Vorlageermessen 23, 21 – Vorlagepflicht 12, 10; 23, 22 – – Ausnahmen 23, 23 ff. – – Court of Appeal als letztinstanzliches Gericht 25, 28 – – Folgen einer Verletzung 23, 31 ff. – Vorlagepraxis in Polen 28, 17 ff. – Vorlagepraxis im Vereinigten Königreich 25, 28 ff. – Vorlagerecht 23, 14 f. – Vorlagezeitpunkt 23, 16 ff. Vorrang vor nationalem Recht; s. supranationales Unionsrecht – Anwendungsvorrang Vorratsdatenspeicherung 22, 21 Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht 4, 20; 5, 31; 6, 23, 58; 9, 36, 40; 11, 14, 39, 47; 17, 7, 47 ff. Vorwirkung von Richtlinien 13, 11; 14, 5; 15, 1 ff. – auf Verwaltungshandeln 15, 59 ff. – bei Beitritt 28, 16 f. – Bindungswirkung von Richtlinienvorschlägen 15, 6

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– Frustrationsverbot 15, 7 ff., 18 ff. – Rechtsfortbildung 12, 20 – richtlinienkonforme Auslegung 13, 11; 15, 27 f., 39 ff. – Spanien 27, 36 f. – Vereinigtes Königreich 25, 52 f. – Wirkungen unter Privaten 15, 20 ff. Walt Wilhelm-Urteil 21, 32 Weber/Putz-Urteil 13, 46, 57; 14, 23; 23, 71 Wertungsjurisprudenz 28, 6 Wettbewerb der Rechtsordnungen 9, 5 – Europäisches Gesellschaftsrecht 9, 56; 19, 7, 16, 23, 68 f. – Europäisches Vertragsrecht 9, 37 Wettbewerb der Regelungsgeber; s. Wettbewerb der Rechtsordnungen Widerrufsrecht(e) 5, 43, 54 ff.; 9, 42 f.; 10, 42 ff.; 14, 24, 49 ff.; 28, 33 Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) 7, 44, 52, 56, 64; 12, 6, 20; 15, 9 Willenserklärung – Gesetz als 3, 95 Wirtschaftsordnung 5, 17 Wirtschaftsverfassung 5, 18 Wohlverhaltensregeln; s. Europäisches Kapitalmarktrecht Wortlautauslegung; s. Auslegung – grammatikalische Wortlautgrenze; s. Rechtsfortbildung – Wortlautgrenze/ Wortsinngrenze

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Wortsinngrenze; s. Rechtsfortbildung – Wortlautgrenze/Wortsinngrenze WVK; s. Wiener Vertragsrechtskonvention Ynos Kft-Urteil 28, 17 Zahlungsdiensterichtlinie 6, 39, 41, 44 Zahlungsverzugsrichtlinie 17, 10 Zivilrechtskodifikationen 4, 43 Zollkodex 14, 27 Zusammenarbeit in Justizsachen 24, 21; s.a. Dialog der Gerichte Zusammensetzung des EuGH; s. Europäischer Gerichtshof Zweck; s. Auslegung – teleologische Zweiebenensystem 9, 2; s.a. Mehrebenensystem Zweifelsregeln 10, 57; 17, 22; 18, 19 f. – zugunsten Arbeitnehmer 18, 19 f. – zugunsten Verbraucher 10, 57 ff.; 11, 43; 17, 22 zwingende Gründe des Allgemeininteresses 18, 53; s.a. Grundfreiheiten zwingendes Vertragsrecht 17, 14 ff. – Abhängigkeit von dispositivem Recht 17, 15 – Analogie 17, 45 – Anwendung des etablierten Kanons 17, 42 – Kontrahierungszwang 17, 16 – Methodik 17, 40 – Schadensersatzhaftung 17, 16 – System 17, 43 – Vertragsfreiheit 17, 41

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