Diskriminierung und Antidiskriminierung: Beiträge aus Wissenschaft und Praxis 9783839450819

Was liegt (Anti-)Diskriminierung zu Grunde, in welchen Räumen findet sie statt und welche Dimensionen nimmt sie an? Die

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German Pages 282 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung
1. Grundlagen der (Anti-)Diskriminierung
Antidiskriminierung im Zusammenspiel von Beratung und Empowerment
Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik
Sieben Eckpunkte zu unserem Verständnis von Diskriminierung
2. Räume der (Anti-)Diskriminierung
Wissen schafft: Zur feministischen Praxis im universitären Kontext
Diskriminierungsschutz aktiv gestalten: Herausforderungen und Möglichkeiten für Hochschulen
Politische Hochschuldidaktik, Queer Theory und Antidiskriminierungspraxis: Eingreifende Bemerkungen
Diskriminierung durch Algorithmen vermeiden: Analysen und Instrumente für eine demokratische digitale Gesellschaft
Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?
Diskriminierung als Identität? Phänomene von Un/doing Gender in der Katholischen Kirche
Keine Trauung für alle: Die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Ehepaare in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg
3. Dimensionen der (Anti-)Diskriminierung
Konkurrenz vs. Solidarität: Überlegungen zu den Chancen und Herausforderungen jüdischmuslimischer Allianzen
»Das Transsexuellengesetz ist eine massive Menschenrechtsverletzung«: Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung
Diskriminierung aufgrund von Behinderungen
Rassismus als traumatisches Erlebnis: Implikationen für die Soziale Arbeit
Ist Armut Diskriminierung? Ein Diskussionsbeitrag für die Soziale Arbeit
Autor*innen
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Diskriminierung und Antidiskriminierung: Beiträge aus Wissenschaft und Praxis
 9783839450819

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Gero Bauer, Maria Kechaja, Sebastian Engelmann, Lean Haug (Hg.) Diskriminierung und Antidiskriminierung

Gesellschaft der Unterschiede  | Band 60

Gero Bauer (Dr. phil.) ist Literatur- und Kulturwissenschaftler und Geschäftsführer des Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen. Maria Kechaja (M.A.) ist empirische Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin. Sie arbeitet bei adis e.V. in den Bereichen Empowerment und Jugendkulturarbeit. Sebastian Engelmann (Dr. phil.) ist Postdoc am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen. Lean Haug (M.A.) ist Antidiskriminierungsberater*in bei adis e.V. mit dem Schwerpunkt LSBTIQ* und Empowerment von trans Personen.

Gero Bauer, Maria Kechaja, Sebastian Engelmann, Lean Haug (Hg.)

Diskriminierung und Antidiskriminierung Beiträge aus Wissenschaft und Praxis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5081-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5081-9 https://doi.org/10.14361/9783839450819 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung Gero Bauer/Maria Kechaja/Sebastian Engelmann/Lean Haug................................ 7

1. Grundlagen der (Anti-)Diskriminierung Antidiskriminierung im Zusammenspiel von Beratung und Empowerment Lean Haug/Borghild Strähle/Maria Kechaja ................................................ 23

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik Albert Scherr............................................................................. 43

Sieben Eckpunkte zu unserem Verständnis von Diskriminierung Maria Kechaja/Andreas Foitzik............................................................ 59

2. Räume der (Anti-)Diskriminierung Wissen schafft: Zur feministischen Praxis im universitären Kontext Rebecca Hahn/Anya Heise-von der Lippe/Nicole Hirschfelder .............................. 79

Diskriminierungsschutz aktiv gestalten: Herausforderungen und Möglichkeiten für Hochschulen Nathalie Schlenzka im Gespräch mit Andreas Foitzik ...................................... 99

Politische Hochschuldidaktik, Queer Theory und Antidiskriminierungspraxis: Eingreifende Bemerkungen Sebastian Engelmann/Gero Bauer......................................................... 111

Diskriminierung durch Algorithmen vermeiden: Analysen und Instrumente für eine demokratische digitale Gesellschaft Jessica Heesen/Karoline Reinhardt/Laura Schelenz ...................................... 129

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness? Renate Baumgartner .................................................................... 149

Diskriminierung als Identität? Phänomene von Un/doing Gender in der Katholischen Kirche Michael Schüßler ........................................................................ 165

Keine Trauung für alle: Die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Ehepaare in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg Birgit Weyel ............................................................................. 183

3. Dimensionen der (Anti-)Diskriminierung Konkurrenz vs. Solidarität: Überlegungen zu den Chancen und Herausforderungen jüdisch-muslimischer Allianzen Ozan Zakariya Keskinkılıç/Armin Langer ................................................. 201

»Das Transsexuellengesetz ist eine massive Menschenrechtsverletzung«: Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung Mari Günther im Gespräch mit Barbara Stauber .......................................... 213

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen Petra Flieger/Volker Schönwiese......................................................... 229

Rassismus als traumatisches Erlebnis: Implikationen für die Soziale Arbeit Teresa Cersan im Gespräch mit Maria Kechaja ........................................... 243

Ist Armut Diskriminierung? Ein Diskussionsbeitrag für die Soziale Arbeit Lena Hezel .............................................................................. 257

Autor*innen ......................................................................... 275

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung Gero Bauer/Maria Kechaja/Sebastian Engelmann/Lean Haug

Aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten, vor allem auch in Deutschland, sind einerseits oft geprägt von Positionen, die gleiche Rechte und eine Vermeidung von (geschlechtlicher, religiöser, sexueller,…) Diskriminierung einfordern. Andererseits werden auch immer wieder Stimmen laut, die ein diversifiziertes Nachdenken und Diskutieren über systemische, sprachliche und institutionelle Alltagsdiskriminierungen als angeblich übertriebene ›Political Correctness‹ abtun und die Forderung nach einem bedachten, diskriminierungsfreien Umgang selbst als ›Diskriminierung‹ bezeichnen. Die Aktualität der polarisierenden Debatten um Definitionshoheit und gesellschaftliche Wirksamkeit von Diskriminierung sowie die Notwendigkeit theoretischer und praktischer Zugänge zu einem Verständnis von Antidiskriminierung ist Anlass und zugleich Stoßrichtung dieses Bandes. Dahinter steht die Einsicht, dass Diskriminierung und Antidiskriminierung weder ausschließlich als Probleme der Praxis noch ausschließlich als Probleme der Theorie behandelt werden können. Beides greift ineinander und eine gemeinsame Betrachtung, auch der Bewegungen gegen Diskriminierung, ist notwendig, um das Phänomen in Gänze verstehen und letztlich konsequent handeln zu können. Trotz aller Aktualität und gesellschaftlicher Dringlichkeit sind Diskriminierung und Antidiskriminierung in der deutschsprachigen Forschung bisher noch nicht umfassend diskutiert worden; als wissenschaftliche Kategorien sind sie nur unzureichend erschlossen. Allerdings existieren zahlreiche Publikationen zu konkreten sozialen Dynamiken von Diskriminierung, sei es anhand einzelner Personenkategorien und Zuschreibungen – Sexismus, Rassismus, Klassismus etc. – oder auch aus intersektionaler Perspektive. Thematisch anschlussfähige Arbeiten gibt es also in großer Anzahl. Außerdem wurden seit der Einrichtung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes – mit Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahr 2006 – im Kontext dieser Behörde zahlreiche Einzelstudien und umfassende Ratgeber veröffentlicht. Auch in der praktischen Antidiskriminierungsarbeit vieler Vereine und Organisationen wird vermehrt differenziertes und sich aus der Praxis speisendes Wissen nicht nur um Dynamiken der Diskriminierung, sondern auch um ein Verständnis der Wirksamkeit von Antidiskriminierung geschaf-

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fen, das viel zu selten die Diskussion in Hochschulen bereichert. Der Austausch zwischen verschiedenen Akteur*innen des Diskurses bleibt bis jetzt größtenteils schlicht aus. So werden aktivistische und beratende Antidiskriminierungsarbeit und eine wissenschaftlich fundierte Ausdifferenzierung von Begrifflichkeiten und Wirkungskontexten von Diskriminierung und Antidiskriminierung nur in den seltensten Fällen miteinander verbunden. Dieser Band bietet für genau diesen Dialog eine Plattform. Diskriminierung ist ein gesellschaftliches Phänomen – in allen Teilbereichen der Gesellschaft findet Diskriminierung statt. Sei es im Bildungs- und Erziehungssystem, der Wirtschaft oder auch im Privaten: Diskriminierung ist überall. Sobald sie einmal erkannt ist, kann niemand die Augen wieder völlig vor ihr verschließen oder unbeteiligt sein. Dabei ist Diskriminierung etymologisch zunächst lediglich Ausdruck dafür, Dinge zu unterscheiden. Unterscheidungen nehmen Menschen in ihrem Alltag ständig vor und bereits die Entscheidung, ob ich noch einen Kaffee trinke oder es lieber lasse, ist eine Unterscheidung. Alltagssprachlich hat sich die Verwendung des Wortes Diskriminierung aber gewandelt. ›Diskriminierung‹ als Begriff hat sich in unserem Alltagsvokabular und der täglichen Berichterstattung im Verlauf der letzten Jahre, spätestens aber im Kontext der #metoo-Bewegung, von Black Lives Matter und zuletzt konkret der berechtigten Proteste gegen Polizeigewalt und den gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA etabliert und wird dazu genutzt, »ein Unterscheiden, das Gruppen zu Gruppen macht, Hierarchien zwischen Gruppen herstellt und begründet und damit Menschen ausgrenzt und/oder benachteiligt,« (Foitzik 2018: 12) zu benennen. Erst wenn Unterscheidungen zu Herabsetzung, Herabwürdigung oder eben zum Ausschluss führen, wird in diesem Band von Diskriminierung gesprochen. Wir alle sind an den Mechanismen von Diskriminierung beteiligt. Wir diskriminieren unbewusst, oft genug auch bewusst. Diskriminierung kann somit nicht nur von ihrer Intention her verstanden, sondern muss von ihrer Wirkung her gedacht werden. So kann es dazu kommen, dass unabsichtlich oder auch unwissend diskriminiert wird, was insbesondere bei denen, die sich selbst als frei von jedweder Teilhabe an diskriminierenden Strukturen imaginieren, oft genug zu Abwehrreaktionen führt. (Vgl. Sow 2018) Fakt ist aber, dass wir Teil von Strukturen sind – als Lehrer*innen oder Sozialpädagogi*innen, als Anwält*innen, Ärzt*innen oder auch Kassierer*innen und Krankenpfleger*innen –, die eben nicht ausschließlich als Maschinen der Produktion von Gleichheit, sondern auch der Ungleichheit fungieren. Individuelle und institutionelle Ebene sind folglich immer miteinander verknüpft und aus dieser Verknüpfung kommen wir nicht heraus. Das bedeutet, dass nicht nur von Diskriminierung gesprochen werden kann, wenn Menschen bewusst oder unbewusst durch Handlungen diskriminieren, sondern dass auch Gesetzestexte, Übergangsregelungen in der Schule, Architektur oder Einstellungsvorausset-

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zungen potenziell als von struktureller Diskriminierung durchdrungen verstanden werden müssen. Die historische Diskriminierungsforschung kommt zu dem Schluss, dass das mit der Französischen Revolution in Europa massenwirksam proklamierte Prinzip der Gleichheit aller Menschen die Grundlage dafür bietet, den Diskriminierungsbegriff heute so zu verwenden, wie wir es tun. (Vgl. Hálfdanarson/Vilhelmsson 2017) Eben weil Gleichheit die Grundlage westlich-moderner Demokratien ist, ist ein Verstoß gegen diese Gleichheit zu ahnden. Eben weil die Menschenrechte zunächst einen universalen Anspruch darstellen, ermöglichen sie einen Kampf gegen die Missachtung der Gleichheit aller Menschen. Dafür muss dieser Verstoß aber zunächst als ein solcher ausgewiesen werden. Denn ausschließende Praktiken und Strukturen, die wir auch heute als diskriminierend begreifen, sind durch die Geschichte hinweg bekannt und am Werk. Ein soziologischer Diskriminierungsbegriff, der all die bisher beschriebenen Aspekte fassbar machen kann, abstrahiert zunächst von der konkreten Praxis. Albert Scherr (vgl. Beitrag in diesem Band) versteht Diskriminierung nicht ausschließlich als moralisch verwerfliche Handlung – deren Bewertung einen ethischen Rahmen voraussetzt –, sondern eben als strukturell bedingte Reproduktion von Ungleichheiten, die wiederum zum Ausschluss führen kann. Immer dann, wenn durch Differenzkonstruktionen wie die Zuschreibung von Geschlecht, Nationalität oder Religion Gruppen- oder Personenkategorien unterschieden und damit zeitgleich hergestellt werden, die mit wirksamen Vorstellungen über Merkmale und »Annahmen über Ähnlichkeit und Fremdheit, Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und NichtZugehörigkeit einhergehen,« (Scherr 2021: 48) kann von Diskriminierung gesprochen werden. Die entsprechenden Unterscheidungen werden dort wirksam und bedingen reale Lebensverhältnisse und Lebenschancen dort mit, wo sie wirkmächtige Vorstellungen darüber erzeugen, wie Subjekte in gesellschaftliche Strukturen einzuordnen sind, die nicht selten in normativen Zuweisungen und Zuschreibungen enden: ›Weil du so bist wie du bist, musst du an diesem Ort sein und dich so verhalten.‹ Diskriminierungskritik kann daher nicht bei der Verurteilung der Praxis stehen bleiben, sondern muss weiter verstehend voranschreiten, um sich mit Bedingungen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Antidiskriminierung zu befassen: Wie kommt es dazu, dass die Vorstellungen, die zu alltäglicher Differenzierungspraxis führen, so stark verankert sind? Wer profitiert? Wer profitiert nicht? Welche expliziten und impliziten Mechanismen der Diskriminierung wirken? Welche emanzipativen Politiken wurden bereits entwickelt, wo waren sie erfolgreich und warum sind sie gescheitert? Und wie sind wir selbst in diese Mechanismen eingebunden? Aufgrund der Einbettung individueller Erfahrung in den Gesamtzusammenhang reicht es nicht aus, lediglich die Strukturen von Systemen und diskriminierender Totalität in den Blick zu nehmen. Stattdessen muss auch die Lebenswelt

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der Akteur*innen Beachtung finden. (Vgl. Scherr/Breit 2019) Denn nicht immer ist eine diskriminierende Haltung aus allen Positionen heraus als eine solche zu verstehen; verschiedene Politiken der Antidiskriminierung können potenziell selbst Ausschlüsse erzeugen. (Vgl. Boger 2019a) Diskriminierung ist somit ein komplexes Phänomen; nicht weniger komplex muss auch der praktische Umgang mit ihr, beispielsweise in pädagogischen Settings, oder auch die wissenschaftliche Reflexion sein. Das bedeutet zunächst, Diskriminierungen aufgrund von beispielsweise zugeschriebenem Geschlecht, zugeschriebener Nationalität oder Klassenzugehörigkeit als historisch gewordene und verfestigte Strukturen zu begreifen. Diskriminierung ist keine ›natürliche‹ Sache; sie wird gewaltsam aufrechterhalten, wie es für die Zweigeschlechtlichkeit immer wieder ausgewiesen wurde. (Vgl. Bauer/AmmichtQuinn/Hotz-Davies 2018) Diskriminierende Strukturen haben ihre je eigene Geschichte; sie wiederholen sich nicht ohne die Subjekte, sind aber in einem gewissen Maß auch von ihnen losgelöst. Sie prägen die Kultur und werden zugleich von ihr hervorgebracht und verändert. Auf diese Art sind sie, oftmals normalisiert, zu einem kaum befragbaren Hintergrundrauschen der Gesellschaft geworden, das Menschen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, nur allzu gerne ausblenden, um ihre eigenen Privilegien nicht zu gefährden. Und hier stehen wir vor dem Problem jedweden Sprechens, Schreibens und Handelns über oder gar gegen Diskriminierung: Auf der einen Seite sind diskriminierende Strukturen tief in der Gesellschaftsstruktur und der Alltagspraxis verankert; auf der anderen Seite gilt spätestens seit der Aufklärung das Gebot, alle Menschen als Menschen gleich zu behandeln. Hieraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das an verschiedenen Stellen bereits diskutiert wurde. (Vgl. Scherr 2017) Die Gesellschaft verspricht Gleichheit, operiert aber weiterhin mit Unterscheidungen, die Positionen zuweisen. Forschung und Praxis sind dementsprechend dazu angehalten, »sich mit heterogenen Formen von Diskriminierung in einer komplexen Gesellschaft zu befassen, die zudem umstritten und veränderlich sind.« (Scherr 2017: 56) Wird die Komplexität des Phänomens Diskriminierung auf diese Art betont, wird schnell ersichtlich, dass jeder gesellschaftliche Teilbereich, jede Praxis und schließlich auch jede akademische Disziplin eine Perspektive auf Diskriminierung und die wertende Erzeugung von Differenz entwickeln kann. Einen diskriminierungsfreien Raum gibt es nicht – und es kann ihn auch nicht geben. Überall dort, wo Ressourcen knapp sind, Lebenschancen verteilt werden oder schlicht und ergreifend Menschen mit den ihnen anerzogenen oder ansozialisierten Vorstellungen agieren, ist Diskriminierung auffindbar und zu reflektieren – davon sind weder die empowernde sozialpädagogische Praxis noch die dekonstruktive wissenschaftliche Diskussion oder die auf Normalisierung abzielenden sozialen Bewegungen ausgenommen. Die Auseinandersetzung mit Diskriminierung ist dabei

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung

sowohl bereits lange Thema – wenn von der oben angesprochenen historischen Kontinuität ausgegangen wird – als auch ein Neuankömmling in der Diskussion, was auf die Bestrebungen sozialer Bewegungen, einen Wertewandel in der Gesellschaft und gravierende Änderungen im Recht zurückzuführen ist. Eine sozialpsychologische Perspektive auf das Thema erschließt so beispielsweise die individuellen und sozialen Grundlagen für die Differenzierung zwischen ›uns‹ und den ›anderen‹, das Aufkommen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, (vgl. Zick 2017) aber auch die Reaktionen auf Diskriminierungserfahrungen. Die Perspektive erziehungswissenschaftlicher Diskriminierungsforschung blickt darauf, wie das Bildungs- und Erziehungssystem diskriminiert und so das vermeintlich wirksame Prinzip der Leistungsgerechtigkeit unterläuft. (Vgl. Heinemann/Mecheril 2017; Hummrich 2017) Andere Perspektiven wiederum sprechen von ihrem spezifischen disziplinären Standpunkt aus über Diskriminierung und tragen so zur multiperspektivischen Betrachtung des komplexen Phänomens bei. In zahlreichen Fallstudien werden Diskriminierungen in einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen oder Institutionen beleuchtet, sei es nun in Polizeibehörden, (vgl. Behr 2017) in den Medien (vgl. Said 1981; Ruhrmann 2017) oder im Kontext von Ausschlüssen auf dem Wohnungsmarkt aufgrund von Differenzziehungen. Diskriminierung zu markieren und zu reflektieren ist aber im Verständnis der Beiträge dieses Bandes und eines Großteils der Diskriminierungsforschung nur die eine Seite der Medaille. Denn aus zahlreichen praktischen Projekten und von den Stimmen der sozialen Bewegungen hat mittlerweile auch die Wissenschaft gelernt. Durch Konzepte wie dem einer diskriminierungskritischen Schule, (vgl. Foitzik/Hezel 2018) die konkret Antidiskriminierung, Rechtsextremismusprävention und Inklusion zusammendenken, wird ersichtlich, dass beispielsweise das Denken über Inklusion immer als Streben hin zu einem gerechten Umgang mit Differenzziehungen zu verstehen ist. (Vgl. Boger 2019b) Kurz: Es hilft wenig, nur auf die eigene Verstrickung in die Verhältnisse hinzuweisen und dann ›wie immer‹ weiterzumachen – es geht um konkrete Veränderung. Diskriminierung ist so verstanden ein Phänomen, das sowohl lebenspraktische als auch theoretische Bedeutung hat. Es durchzieht auf vielfältige Art und Weise die Disziplinen und die Praxis, nicht zuletzt das konkrete und alltägliche Leben der Menschen. Als (un-)begründete Grenzziehung zur Unterscheidung ist Diskriminierung omnipräsent und muss als ein solches Phänomen betrachtet werden. Diese augenscheinliche Relevanz bei gleichzeitiger Vielzahl der Perspektiven ist Herausforderung und Chance für die Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Antidiskriminierung. Es ist erst der vielstimmige Diskurs, der es möglich macht, überhaupt ein angemessenes Verständnis von Diskriminierung zu erlangen. Das schließt auch die Privilegierung und das aktive Vorgehen gegen einzelne Diskriminierungsformen mit ein; trotz des Anspruchs eines allgemeinen Verständnisses von Diskriminierung sind einzelne Fälle nicht bloß die Explikation des Allgemei-

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nen, sondern je spezifische Verschränkungen von verschiedenen Differenzkategorien, die es im Sprechen, Schreiben und Handeln über und gegen Diskriminierung stets zu bedenken gilt, um dem Phänomen in seiner Komplexität gerecht zu werden. Die Idee zum vorliegenden Band entstand im Kontext einer vom Tübinger Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung gemeinsam mit dem Institut für Erziehungswissenschaft und adis e.V., einem Verein mit dem Schwerpunkt Antidiskriminierungsarbeit und -beratung, organisierte Ringvorlesung, die die Aktualität der Auseinandersetzungen um Definitionshoheiten der Diskriminierung und Antidiskriminierung zum Anlass nahm, den Begriff der ›Diskriminierung‹ und sein konzeptuelles beziehungsweise politisches Gegenstück der Antidiskriminierung aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Sowohl disziplinäre Zugänge zum Feld als auch Ansätze direkt aus den Feldern der praktischen Arbeit waren vertreten. Fragen nach Funktionsweisen von Diskriminierung in verschiedenen Bereichen der Alltagsinteraktion wurden ebenso gestellt wie solche nach den Möglichkeiten wissenschaftlich fundierter Antidiskriminierungsansätze. An breit gestreuten Fallbeispielen wurden die wirkmächtigen Mechanismen von Diskriminierung und der dazugehörigen Erfahrungen konkret greifbar gemacht und wissenschaftlich reflektiert. Als Kooperation zweier universitärer Institute und eines in der Praxis verorteten Vereins war die Reihe explizit an der Schnittstelle zwischen Forschung und praktischer Antidiskriminierungsarbeit angesiedelt und arbeitete sich in einem Dreischritt an konzeptuellen Grundlagen, Räumen und kategorienbezogenen Dimensionen der (Anti-)Diskriminierung ab. Insbesondere diese transdisziplinäre Kooperation erwies sich für das gemeinsame Nachdenken über Diskriminierung und Antidiskriminierung als besonders produktiv. Für die praktische Antidiskriminierungsarbeit in einer Stadt wie Tübingen ist die Universität ein wichtiges Gegenüber. Sie ist große Arbeitgeberin und Bildungsinstitution und in ihr erleben Mitarbeitende und Studierende in ihrem Alltag verschiedene Formen von Diskriminierung. Die Universität ist aber auch ein Raum, in dem zu Diskriminierung geforscht und gelehrt wird und sich Menschen organisieren, um gegen Diskriminierung vorzugehen. Seit mehreren Jahren gibt es Berührungspunkte zwischen adis und der Tübinger Universität, auch in Form von Bemühungen, praktische Antidiskriminierungsarbeit noch besser in den Strukturen der Universität zu verankern, beispielsweise in Form von Beratung, Qualifizierung oder Vernetzung. ›Traditionell‹ gibt es an der Universität Tübingen (wie an vielen anderen deutschen Universitäten) auf Grundlage verschiedener, im Verlauf der letzten Jahrzehnte entstandener Gesetze Beauftragte und Büros für verschiedene Betroffenengruppen (Gleichstellungsbüro und -beauftragte, Beauftragte für Chancengleichheit, Schwerbehindertenbeauftragte). Diese können, im Rahmen ihrer jeweiligen Funktion, bei Einstellungsverfahren und Antragstellungen mitreden und bieten individuelle Beratungs- und Förderformate an. Eine umfassende und

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung

intersektionale Auseinandersetzung mit (Anti-)Diskriminierung in den Strukturen der Universität kommt erst seit einigen Jahren, vor allem im Kontext der Umsetzung des 2006 verabschiedeten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetztes, in Gang und entsprechende Richtlinien und Strukturen sind langsam im Entstehen. Bei einem Treffen zwischen dem Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung und adis entstand die Idee, im Kontext dieser inner- und außerhalb der Universität immer stärker diskutierten Gemengelage eine gemeinsame Ringvorlesung zu organisieren. Ziel war es, Diskriminierung und Antidiskriminierung als interdisziplinäre Themen an der Universität sichtbar zu machen und aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Auch die konkrete Erfahrung der in den letzten Jahren verstärkt auftretenden Angriffen auf kritische Wissenschaft im Allgemeinen und die Gender und Queer Studies im Speziellen von Seiten einiger Teile des rechten und rechtskonservativen politischen Spektrums war Anlass, eine öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung mit Theorie und Praxis von (Anti-)Diskriminierung innerund außerhalb der Universität anzuregen. Die Universität ist ein Ort, an dem verschiedentlich Diskriminierung reproduziert wird, aber auch erforscht und gestört werden kann. Sie kann zu einem Raum werden, in dem über Diskriminierung gesprochen wird, in dem Wissensvermittlung zum Thema, aber auch Austausch und Vernetzung untereinander stattfindet. Es war uns als Herausgeber*innen ein Anliegen, (Anti-)Diskriminierung nicht nur als Problem von eventuell Betroffenen darzustellen, von denen manche zufällig auch an der Universität verortet sind, sondern die Universität als legitimen Schauplatz für den Kampf für gleiche Rechte zu markieren und Diskriminierung und Antidiskriminierung als Forschungs- und Arbeitsfeld ins Bewusstsein zu rücken. In der letzten Sitzung der Ringvorlesung, einer Gruppendiskussion mit adisMitarbeiter*innen zur Antidiskriminierungsarbeit in verschiedenen Praxisfeldern, wurde in der anschließenden Diskussion aus dem Publikum die Frage gestellt: Was tut ihr, um die Welt zu verändern? Unabhängig von unseren Antworten ist die Relevanz solcher Fragen ein Grund für unsere Kooperation, die Veranstaltung und das nun vorliegende Buch: Wir wollen, dass solche Fragen an einer Universität gestellt werden. Wir wollen, dass die Frage nach gesellschaftlicher Veränderung an der Universität Raum findet. An diesem Tag wurde sie denjenigen gestellt, die aus der Praxis berichteten. Es ist aber eine Frage, die auch innerhalb der Universität und in jeder Disziplin einen Platz haben sollte. Um Welt und Gesellschaft genuin anders praktizieren zu können braucht es viele verschiedene Perspektiven und Ansatzpunkte. Beratung, diskriminierungskritische Öffnung, Empowerment, politische Aktion und Qualifizierung sind hierbei genau so wichtig wie Alternativen zum Status quo überhaupt erst denken zu lernen. Im Zuge der Corona-Krise kursierte ein Satz, der in den letzten Protestbewegungen in Chile zum viel zitierten Slogan wurde: »Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, weil die Normalität das Problem war.« (@inesmorsantos

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2019) Es gibt immer schon Kontexte, in denen Alternativen zu etablierten Lebensformen gedacht und gelebt werden und in denen (individuelle, körperliche, soziale, politische,…) Selbstbestimmung Realität wird. Seien es Communities, die Mutual Aid praktizieren, die LSBTIQ/Regenbogen-Community, die Krüppelbewegung oder Migrantifa: In der gelebten Praxis solcher alternativer Lebensentwürfe wird Kollektivität und gesellschaftliche Veränderung sicht-, denk-, beschreibund lebbar. Es ist wichtig und für alle (in unterschiedlichem Maß) möglich, sich einzumischen, sich zu positionieren, eine Haltung einzuüben, in der Praxis der Empowerment- und Beratungsarbeit, in der Forschung, in der Lehre, als Studierende und in jedem Beruf. Gelegenheiten gibt es genug: im persönlichen und beruflichen Umfeld, in der lokalen Öffentlichkeit oder bei Interventionen im Diskurs. Soziale und politische Bewegungen sind darauf angewiesen, dass Wissen festgehalten wird und später nachvollzogen werden kann. Ein Buch wie das hier nun vorliegende ist eine Chance der Reflektion von Praxis, des Austauschs untereinander und der Vermittlung von Wissen, auch in Formaten abseits von klassischen akademischen Artikeln. Wir hoffen, dass dieser Band vielfältige Anknüpfungspunkte für die Debatte in verschiedenen Themenfeldern bietet. Wir haben als Herausgeber*innen unterschiedliche Zugänge zur Universität beziehungsweise zur Antidiskriminierungsarbeit und verschiedene fachliche Hintergründe. Von den Disziplinen gedacht bringen wir Erfahrungen mit aus Literaturwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Empirischer Kulturwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft. Wir sind Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen. Auch unsere individuelle Positionierung ist unterschiedlich: queer, weiß, migrantisch, trans, krank/gesund, von Klassismus betroffen. Wir haben uns bemüht, in der Ringvorlesung verschiedenen Perspektiven eine Bühne zu geben und mit dem Buch die Gelegenheit zu nutzen, diese entsprechend zu erweitern und zu ergänzen. Selbstverständlich fehlen dabei immer Perspektiven, Räume und Dimensionen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wer es sich leisten kann, in welcher Form Wissen, insbesondere zum Thema (Anti-)Diskriminierung, zu produzieren und wer dementsprechend auch nicht vertreten ist. Ganz konkret gab es zum Beispiel Personen, die aufgrund der COVID-19-Pandemie und wegfallender Kinderbetreuung im Frühjahr 2020 nicht die Gelegenheit hatten, einen angedachten Artikel zu realisieren. Wir hoffen, dass die abgebildeten Perspektiven und beteiligten Stimmen weniger vom Defizit fehlender Positionen her betrachtet werden, sondern in ihrer Vielfalt und Vielstimmigkeit beispielhaft für ein intersektionales, inter- und transdisziplinäres Nachdenken über Diskriminierung und Antidiskriminierung stehen können – Gegenreden und Mitdiskutieren ist hier notwendig. Der Band versammelt Zugänge aus Theorie und Praxis und bietet explizit Raum sowohl für wissenschaftliche Aufsätze als auch für sich aus der Praxis speisende Erfahrungs- und Praxisberichte. Durch diese bewusste Offenheit für verschiedene Text- und Wissensformen widmet die Sammlung sich unter Berücksichtigung

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung

verschiedener Ebenen des Erfahrens und Verstehens zentral zwei Fragenkomplexen: Was wird unter ›Diskriminierung‹ verstanden (und wer bestimmt dies), was sind ihre Ursachen und wie wirkt sie in Gesellschaft? Und wie können ein wissenschaftliches beziehungsweise theoretisches Verständnis sowie Formen praktischer Wirksamkeit von Antidiskriminierung aussehen? Letztlich geht es darum, ohne Anspruch auf abschließende Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit, ein breites Spektrum an Stimmen und Perspektiven zusammenzubringen, die theoretisch produktiv und praktisch informiert in einen Dialog über dieses spezifische Feld sozialer Prozesse treten. Der Band ist inter- und transdisziplinär ausgerichtet: Die Autor*innen stammen aus der Erziehungswissenschaft, der Ethik, der Kultur- und Sozialanthropologie, der Kultur-, Politik- und Rechtswissenschaft, der Soziologie und der Theologie sowie aus verschiedenen institutionellen Bereichen der praktischen Antidiskriminierungsarbeit. Die Beiträge reichen von allgemeinen definitorischen Reflexionen über empirische Studien bis hin zu konkreten Erfahrungs- und Praxisberichten. Durch die Kombination von wissenschaftlichen und praktischen Ansätzen sowie verschiedener Textsorten leistet der Band nicht nur einen Beitrag zur theoretischen Schärfung gesellschaftlich wirksamer Begrifflichkeiten, sondern spricht durch seine explizite Ansiedlung an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis sowohl eine wissenschaftliche als auch eine an der praktischen Antidiskriminierungsarbeit interessierte Leser*innenschaft an, die sich sowohl in den zahlreichen Tätigkeitsfeldern als auch in den Hörsälen und Seminarräumen von Hochschulen findet. Der Band ist in drei Teile untergliedert, die verschiedene Zugriffsschwerpunkte der Beiträge hervorheben sollen: Grundlagen, Räume und Dimensionen der (Anti-)Diskriminierung. Es ist selbstverständlich, dass jede Form der Diskriminierung und der Antidiskriminierungsbemühung sowohl aus einem Zusammenspiel verschiedener kategorialer Achsen besteht als auch in konkreten sozialen und physischen Räumen stattfindet. Da aber gerade der Alltagsdiskurs um Diskriminierung oftmals (legitimerweise) entweder einen Schwerpunkt auf bestimmte Personenkategorien legt oder die Dynamiken eines bestimmten Raumes beschreibt und auch die Beiträger*innen dieses Bandes größtenteils diese Schwerpunktsetzung vorgenommen haben, schien es uns angemessen, diese auch in der Gliederung des Bandes abzubilden. Das erste Teilkapitel zu Grundlagen der (Anti-)Diskriminierung versammelt drei Beiträge, die sich grundsätzlichen definitorischen Fragen und Arbeitshypothesen widmen. Lean Haug, Borghild Strähle und Maria Kechaja stellen die facettenreiche Arbeit der Beratungsstelle von adis vor. Sie berichten nicht nur von ganz konkreten Herausforderungen einer an Antidiskriminierung orientierten Beratungsarbeit, sondern auch vom breiten Spektrum empowernder Angebote, die in ihrem Kontext verantwortet und durchgeführt werden. Die konkrete, auf Antidiskriminierung ausgerichtete Arbeit offenbart sich auf diese Art als komplexes und aus-

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schließlich multiperspektivisch realisierbares Projekt, das sich stets in einem spannungshaften Verhältnis zum gesellschaftlichen Status Quo befindet. Albert Scherr schafft mit seiner grundlegenden theoretischen Reflexion zur gesellschaftlichen Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik ein soziologisch informiertes Fundament für die Analyse der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen einer Überwindung von Diskriminierung. Diese – das wird in diesem Beitrag deutlich – ist kein Relikt aus vermeintlich vergangenen Zeiten, sondern ein Element moderner Gesellschaftsformationen. Erst durch die Unterscheidung von für Gesellschaft konstitutiven Formen von Diskriminierung und solchen, die wiederum im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung selbst kritisierbar sind, kann Diskriminierungskritik als erfolgsversprechendes Projekt realisiert werden, das auch auf Situationen und Formationen hinweist, in denen Diskriminierung im Alltag stattfindet und oft genug übersehen wird. Maria Kechaja und Andreas Foitzik schließlich reflektieren, auch anhand ihrer eigenen Positionierung in der Gesellschaft, was Diskriminierung konkret bedeutet. Bewusst nehmen sie dabei eine subjektiv geprägte Position ein, anhand derer sie theoretische Erkenntnisse über Diskriminierung für die Praxis aktivieren. Sie zeigen auf, was Diskriminierung ausmacht und vor allem, was jede*r Einzelne tun kann – gerade auch als privilegierte Person. In sieben Unterkapiteln zeichnen sie ein Panorama diskriminierender Praxis und antidiskriminierendem Empowerment, das Verständnis- und Handlungsanleitung für potenziell Diskriminierte ebenso wie für potenziell Diskriminierende sein will. Der zweite Teil des Bandes widmet sich konkreten Räumen, in denen Diskriminierung strukturell wirksam wird und Antidiskriminierung für den jeweiligen Kontext gedacht und praktiziert werden muss. Beispielhaft widmen sich die hier vertretenen Beiträge den Räumen Universität, Künstliche Intelligenz und Kirche. Rebecca Hahn, Anya Heise-von der Lippe und Nicole Hirschfelder zeigen auf, wie das Wissenschaftssystem historisch und gegenwärtig Menschen(gruppen) marginalisiert. Ein besonderes Augenmerk legen die Autorinnen auf Missstände, die im Kontext der COVID-19-Pandemie wie unter einem Brennglas besonders offenbar geworden sind, namentlich, wie Wissenschaftlerinnen durch ihre Festschreibung auf Sorgearbeit nicht Zugriff auf dieselben Ressourcen haben wie ihre männlichen Kollegen, oder die Frage, wem zu welchen Themen ein Expert*innenstatus zugeschrieben wird – und wer nur zu bestimmten Themen sprechen kann und bei diesen dann als token fungiert. Gemeinsam beschreiben und entwickeln sie Handlungsstrategien und Forderungen, wie das Wissenschaftssystem zu einem diversitätsfördernden Ort werden kann. Im Gespräch mit Andreas Foitzik beschreibt Nathalie Schlenzka ihre Arbeit für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes und reflektiert, inwiefern diese als staatliche Akteurin aktiv dazu beitragen kann, die Institution Universität diskriminierungsfrei zu gestalten. Mit dieser praxisgeprägten Perspektive illustriert sie nicht nur, welche Belange für Studierende und Mitarbeitende besonders relevant sind, sondern insbesondere auch, in welchen Feldern Handlungsbedarf

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung

sowohl von Seiten der Universitäten als auch von Seiten des Gesetzgebers besteht. Anhand empirischer Daten und ihrer persönlichen Erfahrung zeigt sie auf, welch elementare Bedeutung strukturell verankerten Beratungs- und Beschwerdemöglichkeiten zukommt. Sebastian Engelmann und Gero Bauer nähern sich in ihrem Beitrag den Möglichkeiten und Grenzen hochschuldidakitscher Interventionen mit dem Ziel der Antidiskriminierung an. Sie weisen darauf hin, dass die hochschuldidaktische Forschung zwar mit Tropen von Heterogenität, Diversität und Inklusion operiert, konkrete Umsetzungen jedoch Mangelware sind. Unter Rückgriff auf theoretische Überlegungen zu den Fallstricken von Antidiskriminierung argumentieren sie für eine empowernde Hochschuldidaktik, die Stellung bezieht und sich ihrer eigenen Widersprüchlichkeit und Verstrickung in ein selbst diskriminierendes System bewusst ist. Auf diese Art ist der Beitrag sowohl Aufruf zur gemeinsamen Veränderung von Lehre an Hochschulen als auch notwendige Sensibilisierung für die Probleme, auf die Antidiskriminierung im Bereich Hochschule verweist. Jessica Heesen, Karoline Reinhardt und Laura Schelenz zeichnen in ihrem Aufsatz diskriminierende Strukturen nach, die der Künstlichen Intelligenz (KI) inhärenten sind. Ihre Analyse oszilliert im Spannungsfeld von notwendiger Unterscheidung und Fort- und Festschreibungen von diskriminierendem Bias. Die Autorinnen zeigen auf, dass auch die vermeintlich objektive KI anfällig für Fehler beziehungsweise strukturelle Ungleichbehandlungen ist. Sie reflektieren, wie KI vorurteilsfrei gestaltet werden kann und welche Rolle dabei dem Menschen zukommt, stellen in Schlaglichtern alle relevanten Aspekte von der Entwicklung bis zur rechtlichen Bewertung dar und zeichnen eine KI, die den Menschen ins Zentrum rückt. Renate Baumgartner wendet sich in ihrem Beitrag ebenfalls dem komplexen Verhältnis von KI und Diskriminierung zu. Sie arbeitet heraus, dass Diskriminierung durch KI bereits in zahlreichen Fällen offengelegt wurde. Mit Bezug auf die Verwendung Künstlicher Intelligenz in der Medizin weist sie darauf hin, dass aktuell noch Einfluss darauf genommen werden kann, wie sich diese im Bereich der Medizin entwickelt. Die Probleme seien der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion bekannt. Nun gelte es, konkrete Veränderungen kritisch zu reflektieren und politisch Einfluss zu nehmen, um Diskriminierung im Bereich der Medizin keinen Boden gewinnen zu lassen und dem Einsatz von KI zur Entfaltung der ihr durchaus innewohnenden Potenziale zu verhelfen. Michael Schüßler bearbeitet in seinem Betrag die Frage, inwieweit Diskriminierung, insbesondere die grundlegende Annahme einer Normativität der binären Vorstellung von Geschlecht, ein konstitutives Element der katholischen Kirche ist. Schüßler entwickelt seine Argumente anhand zahlreicher Beispiele sowie relevanter Bibelstellen und theologischer Reflexion um letztlich darauf hinzuweisen, dass auch die theologische Geschlechterforschung – die hier ihr progressives Potenzial offenbart und das Bild auf die institutionalisierte Theologie möglicherweise zu irritieren vermag – noch einen weiten Weg zu gehen hat, um Diskriminierungen in der Institution Kirche abzubauen. Birgit Weyel

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schließlich dekonstruiert in ihrem Text die Weigerung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, homosexuelle Paare zu trauen und zeigt auf, dass diese Weigerung weniger theologisch als viel mehr diskriminierend begründet ist. Sie belegt, dass die Behandlung homosexueller Paare zentrales Moment einer Differenzierungsstrategie ist, durch die konservative Kräfte in der Kirche ein exklusives Selbstbild konstruieren wollen und dafür in ›Erdrutschargumenten‹ unfundierte Gründe anbringen. Konzise weist sie nach, dass das Zusammenspiel von christlicher Lehre und antidiskriminierender Praxis kein Widerspruch, sondern schon vielfach gelebte Realität ist. Im dritten und letzten Teilkapitel zeigen die verschiedenen Beiträge, wiederum beispielhaft, die Vielfalt der kategorialen Dimensionen auf, in deren Kontext Diskriminierung stattfindet und an denen sich Antidiskriminierungsbemühungen orientieren können und müssen. Ozan Zakariya Keskinkılıç und Armin Langer nähern sich in ihrem Text der muslimisch-jüdischen Solidarität an. Im aktuellen gesellschaftlichen Klima in Bezug auf Islam und Judentum, antimuslimischen Rassismus und Antisemitismus werden unterschiedlichste Fronten aufgemacht, die für alle beteiligten Personen potenziell diskriminierend wirken. Anhand des Beispiels des Jüdischen Museums in Berlin entwickeln die Autoren ein sich um diesen Knotenpunkt entspannendes Narrativ der Vorwürfe, Angriffe und Abwertungen. Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus – so die Autoren – müssen konsequent zusammengedacht werden, um eine realitätsnahe Beschreibung und Änderung diskriminierender Strukturen des Sprechens im öffentlichen Diskurs zu ermöglichen. Nur multiple Allianzen, argumentieren sie, können die Antwort auf drängende Fragen der Gegenwart sein. Mari Günther ermöglicht den Leser*innen in einem von Barbara Stauber geführten Interview einen Einblick in ihre Arbeit als Beraterin für trans* Personen. Günther und Stauber behandeln im Gespräch nicht nur die diskriminierenden Effekte der deutschen Gesetzgebung, sondern sprechen auch über konkrete Arten des Umgangs mit Diskriminierung sowohl auf individueller als auch auf potenziell struktureller Ebene. So wird konkret über die Erfahrungen von trans* Personen informiert, die in der Öffentlichkeit noch immer marginalisiert werden und oft genug schlicht und ergreifend unsichtbar bleiben. Zugleich wird deutlich, dass es konkrete Ansatzpunkte zur Veränderung dieser Situation gibt, die jedoch nicht allein aufseiten der betroffenen Individuen verortet werden dürfen. Petra Flieger und Volker Schönwiese wenden sich in ihrem Beitrag der Diskriminierung aufgrund von Behinderung in ihren vielen Dimensionen zu. Augenscheinlich wurde dies selbst in der Vortragssituation, aus der dieser Beitrag entstanden ist: Die baulichen Gegebenheiten der Universität Tübingen ließen es nicht zu, dass Schönwiese ans Sprecher*innenpult kommen konnte; der entsprechende Hörsaal in Tübingen ist nicht für Vortragende im Rollstuhl eingerichtet. Solche Formen der Diskriminierung finden sich im Alltag viele, oftmals bleibt dieser Ableismus einer normalisierten Gesellschaftsstruktur aber unsichtbar. Barrie-

Diskriminierung und Antidiskriminierung: Eine Einleitung

ren aller Art werden von Flieger und Schönwiese markiert und letztlich ihr Abbau als notwendiger Schritt auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ausgewiesen. Im Gespräch mit Maria Kechaja reflektiert Teresa Ceran vor dem Hintergrund ihrer Arbeit in einem Jugendkulturprojekt die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis bei der Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen von Rassismuserfahrungen und plädiert für einen breiteren gesellschaftliche Diskurs zur Realität von Rassismen im Alltag und für ein besseres Verständnis und eine Anerkennung von Rassismuserfahrungen als Traumaursache, zum Beispiel auch konkret in den diagnostischen Klassifikationssystemen der deutschen Psychiatrie. Sie stellt einige zentrale Studien zu Rassismus als Traumaursache vor und differenziert zwischen den Effekten von Rassismus und anderer Gewalterfahrung wie sexueller oder häuslicher Gewalt. Abschließend nimmt sie die Soziale Arbeit in die Pflicht, Rassismus als Traumaursache immer mitzudenken. Lena Hezel beleuchtet abschließend, ebenfalls aus der Perspektive der Sozialen Arbeit, das Phänomen Armut und inwiefern es sich hierbei um eine Form von Diskriminierung handelt. Unmittelbar verknüpft ist diese Frage mit den Mechanismen der Marktwirtschaft und einer kapitalistischen Gesellschaftsform. Durch die diskriminierende Praxis der Klassenzugehörigkeit beziehungsweise der Unterteilung in Menschen mit und ohne Eigentum werde dieses System, so Hezels These, stabilisiert. Klassismus als im deutschsprachigen Raum erst relativ wenig besprochenes Phänomen bediene sich hierzu ähnlicher Zuschreibungen wie andere ›-ismen‹. Die strukturellen Barrieren und Diskriminierungen klassistischer Ausprägung werden von ihr ebenso benannt wie erforderliche Maßnahmen, die ein menschenwürdiges Leben für alle möglich machen. Der Dank der Herausgeber*innen gilt den vielen, teils in Koautor*innenschaft schreibenden Beiträger*innen dieses Bandes, die sich mit ihren vielfältigen Perspektiven und theoretischen und praktischen Expertisen in die Diskussion um Diskriminierung und Antidiskriminierung einbringen, Lukas Häberle und Manuela Schmidt für ihre Mitarbeit an der Redaktion sowie dem Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung der Universität Tübingen für die finanzielle Unterstützung dieses Projekts.

Literatur Bauer, Gero/Ammicht-Quinn, Regina/Hotz-Davies, Ingrid (Hg.) (2018): Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit. Bielefeld: transcript. Behr, Raffael (2017): »Diskriminierung durch Polizeibehörden«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 301-320.

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Boger, Mai-Ahn (2019a): Politiken der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdiskutieren, Münster: edition assemblage. Boger, Mai-Ahn (2019b): Theorien der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken, Münster: edition assemblage. Foitzik, Andreas (2018): »Einführung in theoretische Grundlagen. Diskriminierung und Diskriminierungskritik«, in: Andreas Foitzik/Lena Hezel (Hg.), Diskriminierungskritische Schule. Einführung in theoretische Grundlagen, Weinheim/Basel: Beltz, S. 56-63. Foitzik, Andreas/Hezel, Lena (Hg.) (2018): Diskrimierungskritische Schule. Einführung in theoretische Grundlagen, Weinheim/Basel: Beltz. Hálfdanarson, Guðmundur/Vilhelmssin, Vilhelm (2017): »Historische Diskriminierungsforschung«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 25-38. Heinemann, Alisha M. B./Mecheril, Paul (2017): »Erziehungswissenschaftliche Diskriminierungsforschung«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung. Wiesbaden: Springer VS, S. 117-132. Hummrich, Merle (2017): »Diskriminierung im Erziehungssystem«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 337-352. Ruhrmann, Georg (2017): »Diskriminierung in den Medien«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 367-386. Said, Edward (1981): Covering Islam. How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World, New York: Vintage Books. Scherr, Albert (2017): »Soziologische Diskriminierungsforschung«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 39-58. Scherr, Albert/Breit, Helen (2019): Diskriminierung, Anerkennung und der Sinn für die eigene soziale Position, Weinheim und München: Beltz Juventa. Sow, Noah (2018): deutschland schwarz weiss, Norderstedt: BoD. Zick, Andreas (2017): »Sozialpsychologische Diskriminierungsforschung«, in: Albert Scherr/Aladin El-Mafaalani/Gökcen Yüksel (Hg.), Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 59-80. @inesmorsantos (2019): »Chile. Mensagem poderosa«, in: Twitter vom 01.11.2019, 10:01, https://twitter.com/inesmorsantos/status/1190192093165211648.

1. Grundlagen der (Anti-)Diskriminierung

Antidiskriminierung im Zusammenspiel von Beratung und Empowerment Lean Haug/Borghild Strähle/Maria Kechaja

Dieser Beitrag geht auf zwei Felder der Antidiskriminierungsarbeit – Beratung und Empowerment – und ihre Verknüpfung ein. Wir geben Einblick in die Praxis der Antidiskriminierungsarbeit des Vereins adis e.V. – Antidiskriminierung · Empowerment · Praxisentwicklung in der Region Tübingen/Reutlingen in BadenWürttemberg. Antidiskriminierungsberatung und Empowerment als Arbeitsbereiche sind bei adis e.V. gleichermaßen fest verankert und an der Schnittstelle entstehen Austausch, Synergien und neue Formate. Wir Autor*innen sind Antidiskriminierungsberater*innen, Empowermenttrainer*innen, Aktivist*innen, Netzwerker*innen, machen Fortbildungs- und Sensibilisierungsangebote. Im Bereich der Praxisentwicklung geht es uns darum, Forschungsperspektiven mit den Lehren aus unserer Praxis anzureichern, aus der Forschung für die Weiterentwicklung unserer Praxis zu lernen und dieses Wissen Institutionen und Organisationen zur Verfügung zu stellen. Wir machen diese Arbeit aus unterschiedlichen Perspektiven, darunter beispielsweise trans, queer, im Rolli sitzend, von Klassismus betroffen, migrantisch, queerfeministisch, weiß, akademisiert. Diese Positionierungen spielen eine Rolle in vielen Aspekten der Arbeit. Eine theoriegeleitete Fundierung beziehungsweise das Verständnis von Diskriminierung/Antidiskriminierung sowie Empowerment und Powersharing, auf das wir Autor*innen uns in unserer Arbeit stützen, haben Maria Kechaja und Andreas Foitzik an anderer Stelle in diesem Band geleistet und ausgewiesen. Uns beschäftigen an dieser Stelle nun Fragen an die praktische Arbeit in drei Teilen: 1. Was kennzeichnet unsere Praxis in der Antidiskriminierungsberatung? 2. Wie sieht unsere (horizontale) Empowermentarbeit aus? 3. Was sind unsere bisherigen Erfahrungen und offenen Fragen bezüglich der Verbindung von Beratung und Empowerment?

Dabei gehen wir jeweils auch auf die Ebene der Praxis- und Organisationsentwicklung ein, wobei folgende Fragen in den einzelnen Abschnitten Berücksichtigung

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finden: Welche Rolle spielen Positionierung und Positioniertheit1 in unserer Praxis? Welche Auswirkungen haben Professionalisierung/Institutionalisierung? Welche Ideen von Wandel und Veränderung von Institution liegen unserer Praxis zu Grunde?

Beratung Antidiskriminierungsberatung ist in unserer Praxis hauptsächlich Einzelfallberatung, wenn Menschen Diskriminierung erfahren haben. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet in Deutschland Diskriminierung im Bereich von Arbeit und Massendienstleistungen und bietet Betroffenen die Möglichkeit, sich gegen Diskriminierung rechtlich zu wehren. Antidiskriminierungsberatung bietet Unterstützung an, um zu sondieren, ob Diskriminierung in einer Form vorliegt, gegen die Betroffene rechtlich vorgehen können und wollen, oder welche anderen Interventionen in Frage kommen. Wenn wir von Diskriminierung sprechen, geht es vor allem um die Wirkung und nicht um die Absicht. Handeln, das diskriminierende Wirkung hat, kann, muss aber nicht mit einer Gesinnung (im Sinne gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit) einhergehen. Rassismus, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit, Homo-, Bi-, Trans- und Interfeindlichkeit, Klassismus und so weiter zeigen sich nicht nur in vorsätzlicher Gewalt. Es gibt vielmehr eine Normalität von Diskriminierungsverhältnissen, die so alltäglich sind, dass sie den Beteiligten (auf beiden Seiten) nicht immer bewusst sind. Zum Beispiel wird trans Personen routinemäßig die Anrede mit dem korrekten Namen verweigert (im Schriftverkehr mit Institutionen, an der Universität, in der Schule, bei Ärzt*innen und so weiter) solange die Namens- und Personenstandsänderung nicht rechtskräftig ist, obwohl es dafür keine juristische Grundlage gibt. Dementsprechend sind Menschen, selbst wenn sie Antidiskriminierungsberatung in Anspruch nehmen, oft unsicher, ob das, was ihnen passiert ist, Diskriminierung ist. Antidiskriminierungsberatung funktioniert vom Grundsatz her nach dem horizontalen Ansatz. (Vgl. Antidiskriminierungsverband Deutschland 2015: 7) Das heißt, dass Antidiskriminierungsberatung unabhängig von einzelnen Diskriminierungsbezügen arbeitet. Es gibt Beratungsstellen, die sich auf einzelne Merkmale oder Zielgruppen spezialisiert haben, sei es auf rassistische Diskriminierung oder die Beratung von Kindern. Aber prinzipiell – und für unsere Beratungsstelle – gilt:

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Positioniertheit meint die persönliche Stellung im Hinblick auf gesellschaftliche Diskriminierungsverhältnisse wie Privilegien und gesellschaftliche Teilhabe. Positionierung meint die bewusst gewählte inhaltlich-politische Position, die eine Person oder Organisation in Bezug auf strukturelle/gesellschaftliche Verhältnisse einnimmt und diese reflektiert.

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Menschen können Antidiskriminierungsberatung in Anspruch nehmen, egal ob sie rassistisch, hetero-/cis-/sexistisch, behindertenfeindlich, wegen ihres jungen oder hohen Alters oder der Religion/Weltanschauung diskriminiert wurden. Dementsprechend suchen Menschen unsere Beratung aus unterschiedlichen Anlässen auf: Manche von ihnen wehren sich gegen ableistische oder rassistische Diskriminierung am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche, rassistische Personenkontrollen im Supermarkt oder auch trans diskriminierende Formulare sowie Bewerbungsverfahren, um nur einen kleinen Einblick in die verschiedenen Anlässe zu geben. Diskriminierung findet auf einem Spektrum von unbeabsichtigt bis absichtlich, unsichtbar bis offensichtlich, subtil bis grob statt. Dementsprechend sind auch die möglichen und gewünschten Interventionen sehr unterschiedlich. Die Ziele von Ratsuchenden unterscheiden sich ebenfalls sehr: Sie möchten Diskriminierung nicht so stehen lassen, rechtliche Schritte ergreifen, sich zur rechtlichen Lage erkundigen, das Geschehene dokumentiert haben, dass sich die erlebte Diskriminierung nicht für andere wiederholt, dass sich Diskriminierungsverantwortliche entschuldigen oder sie zur Rechenschaft gezogen werden, dass sich die Gesellschaft verändert, dass ihnen zugehört und Glauben geschenkt wird und viele weitere Dinge. Antidiskriminierungsberatung bedeutet, Betroffenen zuzuhören, ihre Erfahrungen ernst nehmen. Sie hilft dabei, Diskriminierungen einzuordnen und das strukturelle Element in den Blick zu nehmen. Denn bei Diskriminierung geht es immer auch um die strukturelle Ebene und nicht nur um einzelne Interaktionen. Oft sind Ratsuchende unsicher, ob das Geschehene sie als Einzelpersonen/Einzelfälle betrifft oder ob gesellschaftliche Machtverhältnisse und ihre (zugeschriebene) Zugehörigkeit zu marginalisierten Communities die entscheidende Rolle spielen. In der Beratung geht es nicht vorrangig darum, dass wir eine eindeutige Antwort auf diese Frage geben. Wichtig ist vielmehr, dass in der Beratung konsequent die Haltung präsent ist, dass strukturelle Ungleichheit grundsätzlich eine Rolle spielt und ihr Wirken nie von vornherein auszuschließen ist. Immer wieder wird in unserer Arbeit deutlich, wie wenig verbreitet dieses Bewusstsein und diese Haltung in anderen (beraterischen) Kontexten immer noch ist. Wenn Diskriminierung immer auch in Strukturen verankert ist, bedeutet das, dass Einzelfallberatung allein keine Veränderung der Verhältnisse bewirken kann. Wir verstehen unsere Antidiskriminierungsberatung auch als politische Arbeit. Es ist Teil des Auftrags, auf strukturelle Veränderungen hinzuarbeiten und die politische Ebene in den Blick zu nehmen.2 2

Hier müsste ein Diskurs zum Professionsverständnis anschließen, auf den in diesem Kontext nicht eingegangen werden kann. Für eine Auseinandersetzung zur Frage, ob Antidiskriminierungsarbeit sich als Teil Sozialer Arbeit sieht vgl. Foitzik/Kalpaka 2019.

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Wir orientieren uns in der Beratung an den Standards der Antidiskriminierungsberatung des Antidiskriminierungsverbands Deutschland (advd). (Vgl. Antidiskriminierungsverband Deutschland 2013) Einige Punkte, die in unserer Praxis wichtig sind, greifen wir hier auf. Zunächst ist uns das Prinzip der Parteilichkeit wichtig. Wir stellen uns als Antidiskriminierungsberater*innen an die Seite der Ratsuchenden. Es ist nicht unser primäres Ziel zu ergründen, was genau sich ereignet hat und wie es dazu kam. Es geht auch nicht darum, welche Absichten sich hinter dem jeweiligen Handeln verbergen. Gemäß dem Prinzip ›Nicht die Absicht, sondern die Wirkung ist entscheidend‹ haben wir primär das Erleben und Anliegen der Ratsuchenden im Blick, ihre Problemstellung, ihre Erklärungen, ihre Ziele. Anders als in Beratungskontexten, in denen Berater*innen und Ratsuchende (und eventuell Zugehörige) miteinander arbeiten, bezieht Antidiskriminierungsberatung die Diskriminierungsverantwortlichen häufig mit ein. Es gibt oft einen Auftrag zur Intervention Richtung Diskriminierungsverantwortlichen. Neben gerichtlichen Interventionen (nach AGG oder anderen diskriminierungsrelevanten Rechtsgebieten) sind verschiedene außergerichtliche Interventionen üblich, die weitaus häufiger in Frage kommen und umgesetzt werden. Dazu gehören Beschwerdebriefe, Stellungnahmen, Vermittlungsgespräche, Recherchen und Testings.3 Auch fallübergreifende Öffentlichkeits- oder Kampagnenarbeit gehören zum Aufgabenbereich, genau wie Sensibilisierungs- und Informationsveranstaltungen. Ein Aspekt, der diese Arbeit mit Diskriminierungsverantwortlichen begleitet, ist der der Entdramatisierung von Diskriminierung: Wir leben alle in Verhältnissen von Diskriminierung. Wir sind Teil der gesamtgesellschaftlichen Struktur sozialer Ungleichheit, wir sind darin sozialisiert und haben die entsprechenden Wissensbestände und Praktiken erlernt und verinnerlicht. Auch wir als Antidiskriminierungsberater*innen und Empowermenttrainer*innen sind nicht frei von diskriminierenden Verhaltensweisen. Antidiskriminierungsarbeit ist ein Prozess des Verlernens und Dazulernens, von Reflexion und Verantwortungsübernahme. Antidiskriminierungsberatung geht davon aus, dass marginalisierte Personen eine Expertise in eigener Sache mitbringen. Sie geht ebenfalls davon aus, dass die Positioniertheit und Positionierung der Beratenden eine Rolle für den Beratungsprozess spielen. Die Positioniertheit der Berater*innen – ob sie weiß/Schwarz/of

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Über Testing-Verfahren lassen sich Indizien für eine Diskriminierung gewinnen. Anhand von vergleichbaren Personen wird geprüft, ob eine ungleiche Behandlung auf ein im AGG geschütztes Merkmal zurückzuführen ist. Beispielsweise versuchen dann Personen mit vergleichbarem Alter, Auftreten, Kleidung in einen Club zu gehen. Wenn nur den Schwarzen jungen Männern der Zutritt verweigert wird, ist das ein Indiz für eine rassistische Türpolitik. (Vgl. Klose/Kühn 2010)

Antidiskriminierung im Zusammenspiel von Beratung und Empowerment

Color sind, cis/trans, lesbisch/schwul/bisexuell oder hetero, Frauen/Männer oder nicht-binär, behindert/nicht-behindert/chronisch krank und vieles mehr – spielt eine Rolle für die Perspektiven, Rollen, Erwartungen und Handlungsspielräume in der Beratung. Ratsuchende haben eigene Ideen, was in der Beratung gut für sie ist und wie sie zu ihrem Recht kommen. Für manche Personen bedeutet das, dass sie sich von Personen beraten und vertreten lassen möchten, die Erfahrungen von Diskriminierung teilen. Für andere Personen bedeutet es, dass sie Berater*innen vorziehen, denen aufgrund von Positioniertheit mehr Autorität zugeschrieben wird, um im Beratungsprozess – und dem Aushandlungsprozess mit Diskriminierungsverantwortlichen – dieses Gewicht in der Waagschale zu haben.4 Konkret kann das heißen: Ratsuchende kontaktieren die Beratungsstelle nur, weil das Pronomen eine*r Berater*in verrät, dass er*sie sich mit Fragen beschäftigt hat, die die ratsuchende Person auch umtreiben. In einer anderen Situation entsteht Unsicherheit hinsichtlich der Gesprächsdynamik, wenn der*die Berater*in schon von den Pronomen irritiert ist. Welche Rolle Positioniertheit spielt, ist nicht fix, sondern hängt immer von der jeweiligen Konstellation ab.

Repräsentation marginalisierter Perspektiven auf der Ebene des Trägers Positionierung ist nicht nur im Beratungsprozess eine relevante Kategorie, sondern auch auf der Ebene der ganzen Organisation, die Beratung anbietet. Zum Beispiel kommt es immer wieder zu Irritationen, wenn die ersten/einzigen bezahlten Stellen in der Antidiskriminierungsarbeit mit weißen, heterosexuellen, cisgeschlechtlichen, nicht-behinderten Personen besetzt werden. Dafür kann es gute Gründe geben, aber es ist auch rechtfertigungsbedürftig angesichts der inhaltlichen Ausrichtung und des politischen Anspruchs der Arbeit. Bei adis e.V. spielt die Frage der Kongruenz von Inhalten, Struktur und Akteur*innen laufend eine Rolle. Bei der Verteilung von Vereinsposten, Plätzen in der Weiterbildung zum*zur Antidiskriminierungsberater*in, der Vergabe der ersten Honoraraufträge und Stellen in der Antidiskriminierungsberatung wurden und werden die eigene Auseinandersetzung mit Diskriminierung und die Expertise in eigener Sache als wertvoll anerkannt. Das verstehen wir nicht primär als Bemühung um Repräsentation, sondern als Organisationsentwicklungsprozess, in dem sich Entscheidungen hinsichtlich des Personals, des thematischen Fokus, der strategischen Ausrichtung etc. immer auch an Fragen von Positionierung und Horizontalität messen lassen müssen.

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Den unterschiedlichen und gegenläufigen Bewegungen und Beweggründen von Menschen auf ihrem Weg zu Inklusion ist Mai-Anh Boger in ihrer Theorie zur trilemmatischen Inklusion nachgegangen. (Vgl. Boger 2019a, b, c) Eine empirische Auseinandersetzung anhand von Interviews findet sich im Band Subjekte der Inklusion. (Vgl. Boger 2019a)

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Im Beratungsteam haben wir uns dazu entschlossen, unsere Expertisen und Positionierungen teilweise sichtbar zu machen. Wir sind mit Namen, Foto und Schwerpunkten auf unserer Homepage öffentlich sichtbar. Die Idee ist, potenziell Ratsuchenden den Zugang zu erleichtern, indem sichtbar wird, dass zum Beispiel eine trans Person oder eine Schwarze Frau Beratung machen. Aus der Idee einer Expertise in eigener Sache und der Bedeutung von Positioniertheiten leiten wir keine generelle oder ausschließliche Empfehlung für PeerBeratung in der Antidiskriminierungsarbeit ab. Die Orientierung am horizontalen Ansatz bedeutet in der Praxis von Beratungsstellen, dass realistisch kein PeerBezug für jedes gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnis abgebildet werden kann, zumal nicht alle queeren, rassifizierten, behinderten, armen oder alten/jungen Menschen die gleichen Erfahrungen von Diskriminierung machen. Die Erfahrungen unterscheiden sich je nach Lebensumständen und verschränkten Achsen von gesellschaftlicher (De-)Privilegierung. Es ist auch keineswegs so, dass alle Ratsuchenden unbedingt von einer Person beraten werden wollen, die einen Peer-Bezug hat. Es geht darum, die Konstellation von Positioniertheiten im Beratungsprozess und darüber hinaus in der Antidiskriminierungsarbeit zu reflektieren und gegebenenfalls zu thematisieren. Die Möglichkeiten, zwischen Perspektiven zu wechseln – nicht so häufig direkt in der Konstellation zwischen Berater*in und Ratsuchendem, aber in kollegialen Fallbesprechungen, in Pausengesprächen im Beratungsteam, in Vermittlungsgesprächen mit Diskriminierungsverantwortlichen, in Verhandlungen mit Fördermittelgeber*innen und Verwaltungen –, ist eine wertvolle Ressource für unsere Beratungstätigkeit und notwendig für die Qualitätssicherung. In dieser Beschreibung wird deutlich, dass es in unserer Arbeit nicht um ein Abbilden (von Identitäten) geht (und gehen kann), sondern um eine Gratwanderung zwischen Sichtbarkeit, Anschlussfähigkeit, Repräsentation und Verkörperung. Damit stellen wir nicht Peer-Konzepte in anderen Beratungskontexten in Frage, die zum Beispiel auf die Lebensrealität und Beratung einer marginalisierten Gruppe fokussiert sind. Eine Transberatung ohne trans Berater*innen ist nichts, was uns zum jetzigen Zeitpunkt sinnvoll erscheint. Es geht uns nicht um einen Glaubenssatz, dass Peer-Bezug in jedem Fall besser ist, sondern darum, Zugänge zu ermöglichen, und zwar möglichst niedrigschwellig, beziehungsweise für die Ratsuchenden eine erhöhte Wahrscheinlichkeit zu erzielen, keine erneute Diskriminierung zu erfahren. Unser Vorgehen ist dabei eines von vielen möglichen. Natürlich gibt es andere Wege, Offenheit und den Bezug zur Community zu signalisieren, zumal auch bei uns im Team nicht alle vorhandenen Fachexpertisen/Diskriminierungsbezüge/Peer-Bezüge offengelegt werden. Während in unserer Beratungspraxis der Peer-Bezug, also die geteilten Diskriminierungserfahrungen, eine nicht zu unterschätzende, aber dennoch sekundäre Rolle spielt, ist das in der Empowermentarbeit anders. Im folgenden Abschnitt ge-

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ben wir einen Einblick in unser Empowermentverständnis und einige Beispiele für Empowermentangebote, mit denen wir Erfahrungen gesammelt haben.

Empowerment Empowerment ist für uns ein Prozess individueller und kollektiver Selbstbemächtigung von marginalisierten Menschen. Teile eines Empowermentprozesses können sein: ein Bewusstsein für strukturelle Machtverhältnisse und Diskriminierungsmechanismen, aber auch für Befreiungskämpfe zu erlangen; die Befreiung von Zuschreibungen und Abwertungen und ihrer Internalisierung zu ermöglichen; die Heilung von Erlebnissen von Marginalisierung und Entrechtung; und die Erfahrung von Community, von Gleichen und Gleichgesinnten, die Wissen, Freude und (Über-)Lebensstrategien teilen. Ausführlichere Gedanken zu unserem Verständnis von Empowerment finden sich im Text »Was ist Empowerment?« von Maria Kechaja (2019). Ein grundlegendes Element von Empowerment ist das Zusammenkommen in sichere(re)n Räumen, in die Menschen der jeweils dominanten Gruppe nicht eingeladen sind. In trans Empowerment-Räume sind eben nur Personen eingeladen, die selbst trans sind oder versuchen, das für sich herauszufinden. Diese Einladungspolitik führt häufig zu Zuschreibungen simplifizierender Identitäts- und Homogenitätsvorstellungen, die real existierende Empowermentgruppen durch die intern vorhandene Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Zugänge zu Identitäten stets unterlaufen. Um diese Unterschiedlichkeit und die Erfahrungen intersektionaler Zugehörigkeit in den Fokus zu rücken, haben wir Formate ausprobiert, in denen es um Empowerment über verschiedene Machtverhältnisse hinweg ging – Empowerment quer gedacht. Die Idee eines horizontalen Empowermentverständnisses ist ein Experiment, in dem wir in den letzten Jahren unterschiedliche Ideen, Konzepte und Formate ausprobiert haben. Seit Beginn der Antidiskriminierungsarbeit im adis-Kontext gibt es auch Empowerment-Zusammenschlüsse: das Jugendkulturprojekt TALK, die Empowermentgruppe KaffeeTrans*, den AK Empowerment, eine Gruppe für Menschen mit körperlicher Behinderung und weitere Empowermentzusammenhänge, denen wir eine Plattform bieten, die aber unabhängig sind.

Wozu Empowerment-Räume? Am Beispiel KaffeeTrans* wollen wir hier deutlich machen, welche Relevanz Empowermenträume haben. Trans Personen sind in vielen Lebensbereichen mit einer Gemengelage konfrontiert, die komplex und voller Hürden und Gatekeeper

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ist. Mari Günther und Barbara Stauber schildern das in diesem Band in Bezug auf die Beratungspraxis eindrücklich. Um in dieser unübersichtlichen Lage erfolgreich zu navigieren, brauchen trans Personen häufig viel Expert*innenwissen. In trans Kreisen kursiert immer wieder die bittere Erkenntnis, dass die meisten Personen im Zuge ihrer Transition quasi Studienabschlüsse in Medizin, Jura, Soziologie und Biologie erwerben müssen – und viele trans Personen gleichzeitig trans Aktivist*innen sind und sein müssen. Ein Grund dafür ist, dass es ein in westlichen Gesellschaften tief verankertes Alltagsverständnis von Geschlecht gibt, nach dem es zwei Geschlechter gibt, die von außen klar zugeordnet werden können. Dieses Verständnis ist institutionell verankert in der Politik, im Recht, im Gesundheitssystem und wird – bis auf punktuelle Durchbrechungen – weiter so aufrechterhalten. Bei trans, inter5 oder geschlechts-non-konformen Personen trifft das nicht zu. Die Akzeptanz ihres jeweiligen Geschlechtsausdrucks und ihr Selbstbestimmungsrecht müssen sich trans, inter und geschlechts-non-konforme Personen gegen Widerstände erkämpfen. Sie müssen die ›Wahrhaftigkeit‹ ihres Geschlechts plausibel machen, erklären und belegen – weitaus gründlicher als es einer cis Person jemals abverlangt würde. Dafür eignen sich trans Personen häufig Expert*innenwissen in verschiedenen Disziplinen an. Außerdem kämpfen sie für eine adäquate und nicht-diskriminierende Gesundheitsversorgung, die in vielen Gegenden Deutschlands nicht vorhanden ist, sowie für rechtliche Anerkennung. Die Rechtslage ändert sich immer wieder – dank der Anstrengung von trans Personen, die gegen diskriminierende Gesetzgebung klagen und ihre Anliegen immer wieder bis vor das Bundesverfassungsgericht bringen. Dennoch regelt das sogenannte ›Transsexuellengesetz‹ aus dem Jahr 1980 bis heute offiziell die Möglichkeiten der Namens- und Personenstandsänderung für trans Personen. Diese Sondergesetzgebung für trans Personen zwingt sie zu teuren psychiatrischen Gutachten und einem Gerichtsverfahren, nur um offiziell ihren Namen ändern zu dürfen. Noch unwürdigere Teile des Gesetzes, zum Beispiel der Sterilisationszwang, wurden durch erfolgreiche Klagen gestrichen, der Rest wird durch wissenschaftlich und gesellschaftlich überholte Argumente und die politische Überzeugung zusammengehalten, dass es so wenige trans Personen wie möglich geben sollte. Der Gesetzgeber verweigert sich dem Thema konsequent, obwohl über den Reformbedarf kein Zweifel besteht. Ein Reformentwurf, der 2019 eingebracht wurde, wurde binnen 48 Stunden von Selbstorganisationen und Berufsverbänden so scharf kritisiert,

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Intergeschlechtliche Personen trifft diese erzwungene Zweigeschlechtlichkeit als Gruppe am deutlichsten. Auch in deutschen Kliniken werden noch medizinisch nicht notwendige Operationen an Genitalien von nicht-einwilligungsfähigen Babys und Kindern durchgeführt, die lebenslange Folgen nach sich ziehen. Ein Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen wurde im Januar 2020 erstmals auf den Weg gebracht. (Vgl. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2020)

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dass er wieder in der Schublade verschwand. (Vgl. Loeffler 2019) Ein Gutachten des Deutschen Instituts für Menschenrechte, das in Begleitung einer interministeriellen Arbeitsgruppe von 2015 bis 2017 erarbeitet wurde und einen Entwurf für ein Mantelgesetz zur Selbstbestimmung von Geschlecht enthält, (vgl. Althoff/Schabram/Follmar-Otto 2017) wird seit Jahren ignoriert. Durch die Einführung des dritten positiven Geschlechtseintrags ›divers‹ im Jahr 2019 hat sich einiges verändert; im selben Zeitraum hat die Weltgesundheitsorganisation ›Transsexualität‹ als Diagnose aus dem ICD-11 gestrichen. In Zukunft ist von ›Geschlechtsinkongruenz‹ die Rede. Die Leitlinien, die auf dem aktuellen Stand der Forschung basierende Empfehlungen zur Beratung und Behandlung von trans Personen geben, wurden ebenfalls 2018 aktualisiert. (Vgl. Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung 2018) Das sind Schritte in die richtige Richtung. Sie werden aber bisher erst zaghaft umgesetzt. Viele Behandler*innen sehen nicht die Notwendigkeit hier up to date zu bleiben. Das hat zur Folge, dass trans Personen sich weder im rechtlichen noch im medizinischen Bereich auf Auskünfte von Behörden beziehungsweise Behandler*innen verlassen können. Bis trans Personen das bekommen, was sie brauchen, sind sie oft besser informiert als die Personen, deren Beruf es ist, zu informieren und zu unterstützen. Trans Personen sitzen mit Rechtsgutachten bei Ärzt*innen, um an Versorgung zu kommen, die ihnen zusteht und die ihnen das Gesetz überhaupt erst aufnötigt. Die qualifizierte Gesundheitsversorgung ist knapp, es gibt monatelange Wartezeiten für die verpflichtende Therapie und die Wartelisten für medizinische Maßnahmen sind so lang, dass die Wartezeiten oft mehrere Jahre betragen. Informationen über Versorgung, die qualifiziert und affirmativ ist, werden nach wie vor über Netzwerke der Community weitergegeben. Die Zahl der Peer-Beratungsstellen wächst zwar auch außerhalb von Großstädten wie Berlin, aber die Kapazitäten sind bei weitem noch nicht groß genug, um flächendeckend zu beraten. Hier haben Empowermentangebote und Treffpunkte, in denen Wissen geteilt wird, einen unschätzbaren Wert. Ein weiterer Aspekt ist das Bild von trans Personen, das gesellschaftlich und medial gezeichnet wird. Das Thema wird sichtbarer, dennoch erkennen sich trans Personen in der Gesellschaft kaum wieder, da es immer noch an positiver Repräsentation fehlt. Das mediale Bild ist geprägt von Erzählungen über Leid in Dauerschleife. Trans Personen werden verfolgt, geächtet, getötet, misshandelt oder verletzen sich selbst. Diese Erzählungen wirken nicht nur auf trans Personen selbst, sondern auch ihre An- und Zugehörigen. Es fehlen Erzählungen von glücklichen, erfolgreichen, vielfältigen trans Personen, die es in der Realität zur Genüge gibt. Gegen dieses negative Bild hilft, trans Personen kennen zu lernen, nicht nur für den differenzierten Blick auf die Schwierigkeiten, mit denen trans Personen konfrontiert werden. Der differenzierte Blick macht deutlich, dass nicht das Transsein das Problem ist, sondern die Diskriminierung, mit der trans Personen zu kämpfen haben. Zugleich ermöglicht er die Wahrnehmung positiver Bilder und sensibi-

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lisiert für vielfältige Umgangsstrategien, Stärken und kreative Lösungen. Darum drehen sich auch die meisten Empowermenttreffen: Der Austausch kreist nicht nur um Tipps zur verbalen Selbstverteidigung gegen transfeindliche Agitation (zum Beispiel in der Emma, der Zeit, dem Spiegel und so weiter), sondern auch um den Aufbau eigener Netzwerke, zum Beispiel was Gesundheitsversorgung angeht. Gemeinsame Aktionen, von Demo bis Grillen, Bandproben, Plakate Malen, Glitzern und was sonst Spaß macht, sind genauso Thema und unterstützen die Entwicklung eines differenzierteren Bildes einer immer komplexen Situation.

Empowerment im Kontext von Sozialer Arbeit/Professionalisierung Ein Spannungsfeld in unserer Empowermentarbeit ist die Tatsache, dass sie in unterschiedlichem Ausmaß in einem Kontext von Institutionalisierung und Professionalisierung stattfindet. Logiken von Aufträgen an Soziale Arbeit und deren Grenzen, Verwaltungsvorgaben und Outputorientierung unterscheiden sich erheblich von der Logik von Empowermentangeboten, bei denen wichtig ist, dass es keine Zielvorgaben von außen gibt und keinen Druck, nach außen aktiv zu sein. Eins denke nur an die Absurdität von Teilnehmendenlisten mit ankreuzbaren demografischen Merkmalen im Kontext eines Empowermenttreffens, wo (mangelnde) Sicherheit und die Verletzung der Privatsphäre schmerzliche alltägliche Diskriminierungserfahrungen sind. Diese Logiken sind nicht unvereinbar. Es ist gut, dass es Förderung für Empowermentangebote gibt und viele Empowermentgruppen möchten diese in Anspruch nehmen. Dafür braucht es allerdings paradoxe Annäherungsversuche und kreative Übersetzungsleistungen. Die Empowermentkontexte, die wir mitgestalten, sind sehr unterschiedlich. Teilweise sind es Empowermentgruppen im engeren Sinn. Teilweise sind es angeleitete Angebote, die wir als empowermentorientierte Angebote bezeichnen.6 Wir orientieren uns in unserer Empowermentarbeit an den realen Bedürfnissen der Menschen vor Ort und den Möglichkeiten, die in adis als Organisation stecken. Das Fundament ist das von uns erarbeitete Empowermentverständnis. Doch gibt es kein Dogma. Wo Gruppen sich Moderation wünschen, sich aber niemand aus der Gruppe in der Rolle wohlfühlt, kann Moderation von außen helfen. Wir loten gemeinsam mit den Gruppen aus, was sie brauchen oder sich wünschen und was wir anbieten können. 6

Empowermentgruppen sind in unserem Verständnis so organisiert, dass alle, auch die Organisierenden, die Zugehörigkeit zu einer marginalisierten Gruppe teilen. Ziel ist es, einen geschützt(er)en Raum zu schaffen, orientiert am Prinzip ›Each One Teach One‹. Empowermentorientierte Angebote sind zum Beispiel solche mit pädagogischer Leitung von außen oder auch Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen. (Vgl. Kechaja 2019)

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Wir bringen im Team eine professionelle und persönliche Perspektive mit, unser Peer-Sein ist Teil des Ansatzes und des Erfolgs. Wir sind als »professionelle Empowerment-Arbeiter*innen« (Kechaja/Foitzik in diesem Band) immer in einer Bewegung von Empowerment und Powersharing zugleich. Uns stehen Ressourcen zur Verfügung für Empowermentarbeit, die in aktivistischen Kontexten oft fehlen. Das eröffnet uns Handlungsspielräume. Wir sind aber auch in Systeme und Zwänge (von Geldgeber*innen und Fördermittelakquise) eingebunden, die für Empowermentkontexte nicht gelten, was auch dazu führt, dass sich Empowermentgruppen entscheiden, zwar mit adis zu kooperieren aber grundsätzlich autonom zu agieren.

Wie gehen wir mit der eigenen institutionellen Verstricktheit um? Wir haben in den letzten Jahren Erfahrung im Bereich der Fort- und Weiterbildung von Empowermenttrainer*innen sowie im Aufbau und in der Begleitung von lokalen Empowermentzusammenhängen gemacht. Das gewonnene Wissen stellen wir Personen und Gruppen in Form von Beratung, Supervision, aber auch in Form von konkreten Ressourcen wie Räumen, Finanzen oder Informationen zu Antragstellung zur Verfügung. Wir sind Lernende hinsichtlich der Solidarität verschiedener marginalisierter Gruppen, Community Care und nachhaltigem Aktivismus. Wir sind uns unserer verschiedenen Rollen bewusst, einerseits Aktivist*innen und Empowermenttrainer*innen und andererseits Erwerbstätige in der Sozialen Arbeit zu sein, die in unserem Fall eine befristet finanzierte Projektarbeit ist. Dieses Spannungsfeld müssen wir reflektieren und aushalten. Wir stärken die Verbindungen, die durch unsere Arbeit entstanden sind und setzen die Vernetzung mit Gruppen und Menschen fort, die sich mit Empowerment beschäftigen. Solidarisches Handeln wird ermöglicht durch die konkrete Verbundenheit zu Menschen und Gruppen und die Beziehungen, die daraus entstehen. Diskriminierungsverhältnisse sind komplex, Diskriminierungsmechanismen oft verdeckt, Stimmen aus den marginalisierten Communities verzerrt. Verbindungen zu Personen und Gruppen schaffen das Vertrauen, damit Verständigung über die Nuancen der jeweiligen Kämpfe möglich ist, damit Unterstützung angeboten und gesucht werden kann. Solidarität lässt sich nicht als Projektoutput herstellen, sondern bedeutet, gemeinsam in Beziehungen zu leben und zu handeln. Ejeris Dixon (2018) bringt es auf den Punkt: »Our relationships keep us alive.« Das bedeutet nicht, dass Beziehungen um jeden Preis erhalten werden und harmonisch gestaltet sein müssen. Es bedeutet gerade umgekehrt, dass Kritik, Auseinandersetzung, Streit und Konflikte ausgetragen werden können, ohne damit die Existenz und die Notwendigkeit von Bündnissen in Frage zu stellen, und wir die Kritik an den Folgen unserer Verstricktheit einladen und wertschätzen können.

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Uns interessieren kreative Ausdrucksformen und deren Rolle in Aktivismus und Empowerment. Wir gehen davon aus, dass dieser Aspekt für die Nachhaltigkeit von Aktivismus und Empowermentkontexten, für Selfcare und Community Care eine große Rolle spielt. Kreative Formen bringen Leichtigkeit und Skills ins Scheinwerferlicht in Kontexten, wo sich viel auch um Schmerz und Defizite dreht. Außerdem kann künstlerischer Ausdruck Sichtbarkeit schaffen, ohne dass sich die Performer*innen bestimmten Konventionen von Lesbarkeit unterordnen müssen. Über Kunst ist es möglich, einem breiteren Publikum eine Geschichte zu erzählen, ohne auf das Verstandenwerden angewiesen zu sein. Die Performance kommt an, auch wenn das Publikum verschiedene Aspekte versteht und Interpretationen hat. Kunst bringt zunächst etwas zum Ausdruck und kann sich einer bestimmten Form von Verwertbarkeit entziehen. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, unsere Ressourcen einzubringen, um zwischen Empowermentkontexten und den Institutionen der Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln und als Übersetzer*innen tätig zu sein. Dazu gehört es, mit Akteur*innen aus Kommunen etc. zu arbeiten, um dort einen Raum zu schaffen, in dem die Bedürfnisse und Forderungen von Aktivist*innen auf Resonanz stoßen, sowie Akteur*innen in Kommunen, Behörden etc. in den diskriminierungskritischen Öffnungsprozessen, die sie in ihren Institutionen anstoßen, zu unterstützen. Wir bemühen uns unter dem Motto ›Amplifying Voices‹, diskriminierte Stimmen zu verstärken. Dennoch wissen wir, dass Stimme zu finden und zu verstärken nicht die magische Lösung darstellen. Empowerment ist nicht das Allheilmittel. Empowerment wird in so vielen Kontexten benutzt, dass eine Beliebigkeit entsteht, und auch in der sozialen/politischen Arbeit wird Empowerment zum Teil überhöht. Teilweise scheint der Ruf nach mehr Empowerment den Ruf nach mehr Integration zu ersetzen, ohne dass die Kritik am Integrationsparadigma in ihrer ganzen Tragweite nachvollzogen wird. Die Hoffnung ist, Diskriminierung und Ungleichheit durch Empowerment zu besiegen. Das funktioniert nicht. Es müssen Strukturen verändert werden. Dazu braucht es neben Empowerment eben auch Solidarität, Allianzen, Powersharing, Verantwortungsübernahme der Diskriminierungsverantwortlichen, Strukturveränderung, Umverteilung von Ressourcen und diskursiven Wandel. Eine Gefahr der Überhöhung von Empowerment und der Idee, marginalisierten Menschen müsste ›eine Stimme gegeben werden‹, Stimmen von Marginalisierten müssten verstärkt, ihnen müsste eine Plattform gegeben werden, ist, dass eine Confidence Cult(ure) (vgl. Gill/Orgad 2017) entsteht. Das heißt, dass sich marginalisierte Personen und Gruppen unter Druck gesetzt fühlen, öffentlich aufzutreten, ihre Meinung zu vertreten, Forderungen zu erheben – und das in einem Umfeld, das nicht sicher für sie ist. Der Druck, selbstbewusst aufzutreten und für die eigene Gruppe einzustehen, wälzt die Bürde für gesellschaftliche Veränderung auf marginalisierte Personen ab. Letztendlich wird das Individuum

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verantwortlich gemacht, sich so zu äußern/zu präsentieren, dass es gehört wird. Das bewirkt unter Umständen, dass im Scheitern wieder die Einzelpersonen den Fehler bei sich selbst suchen oder in Gruppen Mitglieder sich gegenseitig vorwerfen, nicht ›richtig‹ repräsentiert zu haben. Ganz plastisch zeigt sich, dass ›Stimme Finden‹ nicht das Ziel ist, wenn es nicht um die Metapher, sondern die körperliche Stimme geht. Zum Beispiel bei trans Personen (und im besonderen Maße trans weiblichen Personen) ist die Stimme und das Sprechen ganz oft der Faktor, der Irritation auslöst und dazu führt, dass sie falsch gegendert werden. Menschen mit Behinderungen erleben oft, dass gar nicht mit ihnen selbst gesprochen wird, sondern mit Begleitpersonen. Wo körperliche Einschränkungen beim Sprechen bestehen, müssen Gegenüber teilweise ihre Hörgewohnheiten anpassen. Wer mit Akzent spricht, erlebt, wie Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft von Einheimischen abgesprochen wird und die Wortwahl zum Anlass für klassistische Diskriminierung wird. Es geht also nicht nur ums Stimme Finden und das Mikrofon Nehmen. Es ist auch nicht nur eine Frage von Lautstärke Hochdrehen. Denn auch, wer wie laut sein darf, ist schon vorher geregelt. Laute weiße Frauen sind hysterisch, laute Schwule sind schrill, laute Schwarze Frauen bedrohlich, laute trans Frauen zu männlich – diese Liste der diskriminierenden Zuschreibungen ließe sich fortsetzen. Die Botschaft der Mehrheitsgesellschaft ist paradox: Findet eure Stimme, werdet laut! Aber nicht so, wie ihr es macht, und nicht so, dass es uns stört. Tone policing7 ist ein stehender Begriff dafür, wie das, was marginalisierte Menschen und Communities sagen, angeblich nie im richtigen Ton gesagt wird. Nicht rational genug, nicht plastisch und nachfühlbar genug, zu fordernd, zu komplex, zu plakativ, zu emotional, zu laut – wenn es nur den richtigen Ton träfe, würde die Mehrheitsgesellschaft sich überzeugen lassen. Tone policing ist letztlich eine Taktik, Menschen (wieder) zum Schweigen zu bringen. All dies ist in unserer Arbeit Anlass dazu, dass wir Übersetzungsversuche unternehmen und versuchen, bei der Mehrheitsgesellschaft ein Verständnis zu schaffen und anzuregen, sich auf Stimmen von Marginalisierten einzulassen. Hier braucht es sehr buchstäblich eine Übersetzung von Empowerment in Begriffe und Formate, die einer Verwaltung zugänglich sind. Empowerment kann auch als Voraussetzung für Partizipation verstanden werden: eine politische Position finden, Bedürfnisse formulieren, Forderungen stellen an Institutionen und Repräsentant*innen der Mehrheitsgesellschaft, mitbestimmen wollen, partizipieren. Wenn sich kommunale Akteur*innen dieser Sichtweise öffnen und ihre Ressourcen zur Verfügung stellen, entstehen Möglichkeiten für Empowermenträume und Allianzen.

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Der Begriff tone policing hat 2015 mit einem Comic auf der Webseite Everyday Feminism, der das Phänomen anschaulich erklärt, eine größere Verbreitung erlangt. (Vgl. Hugs 2015)

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Das Zusammenspiel von Empowerment und Beratung Die Verbindung der Bereiche Empowerment und Beratung ist ein Feld, auf dem wir auch erst am Experimentieren sind. Es gibt gute Gründe, die dafür sprechen, Erfahrungen, die uns darin bestärken, aber auch noch viele offene Fragen. Ein Grund für das Zusammenbringen von Empowerment und Beratung ist, dass Angebote in beiden Bereichen Grenzen haben. Die Möglichkeiten in der Beratung sind begrenzt, da das Gesetz begrenzt ist. Es sieht beispielsweise kein Verbandsklagerecht vor, was bedeutet, dass immer Einzelpersonen klagen müssen. Die Liste an Merkmalen, die durch das AGG geschützt sind, ist begrenzt. Es fehlen beispielsweise Diskriminierungen aufgrund des sozialen Status, Armut, Gewichtsdiskriminierung und einige mehr. Es gibt Diskussionen darum, den Katalog an geschützten Merkmalen zu vergrößern oder ihn offen zu lassen. (Vgl. Berghahn/Klapp/Tischbirek et al. 2016; Liebscher 2017) Doch eine entsprechende Änderung ist nicht in Sicht. Das bedeutet, dass es Bemühungen von Seiten der Beratungsstellen braucht, Kontakt herzustellen in Communities, die sich gegen Diskriminierung wehren wollen, aber sich unsicher sind, ob die Antidiskriminierungsberatung dafür zuständig ist. Empowermentkontexte sind dafür wichtige Multiplikator*innen. Die Frist, innerhalb derer Menschen sich den Rechtsweg vorbehalten können, ist mit zwei Monaten sehr kurz. Das Rechtssystem allgemein baut Hürden auf – viele Ratsuchende haben keine Rechtsschutzversicherung und können sich keine Anwalts- und Prozesskosten leisten, Beratungsscheine und Prozesskostenhilfe haben Beschränkungen. Oft ziehen Menschen den Rechtsweg auch deshalb nicht in Betracht, weil sie Repressionen befürchten – zwar ist dies gesetzlich verboten, doch sitzen Arbeitnehmer*innen, Wohnungssuchende etc. strukturell am kürzeren Hebel. Allein deshalb braucht es andere Angebote. In der Beratung stehen außergerichtliche Interventionen zur Verfügung, aber auch die haben Grenzen. Oft ist eine zufriedenstellende Lösung des Konflikts so nicht zu erreichen. Die vorhandene Energie in den Austausch mit Gleichgesinnten zu investieren, kann eine Alternative sein. In der Antidiskriminierungsberatung spielen sich teilweise auch Empowermentprozesse ab. Ein Bewusstsein für die strukturellen Zusammenhänge der eigenen Erfahrung, die Befreiung von dem Gedanken, selbst schuld zu sein, Heilung in Form von Konfliktmediation oder Wiedergutmachung über Entschädigung etc. spielen auch in der Antidiskriminierungsberatung eine wichtige Rolle. Was fehlt ist Community und die Zeit, so einen Prozess zu begleiten. Das ist wiederum in Gruppen möglich.

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Unsere Erfahrungen in der Verbindung von Empowerment und Beratung Bei Diskriminierung geht es nicht um ›Empfindlichkeiten‹, sondern um die Wirkung gesellschaftlicher Ausschlussmechanismen und die Verletzbarkeit von (Gruppen von) Menschen. Diskriminierung ist oft eine Masse an alltäglichen Spitzen, an Mikroaggressionen, an Ausschlüssen, an Teilhabe, die erst erkämpft werden musste. Es geht in Beratung und Empowerment auch darum, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass es wertvoll sein kann, gegen die alltäglichen Spitzen und Abwertungen anzukämpfen, da auch diese Diskriminierungen sind und wir uns gemeinsam wehren können. Im Sich-empfindlich-Zeigen liegt Widerstandspotenzial. Ein Teil sowohl des Auftrags von Beratung als auch von Empowerment ist es, den alltäglichen Verletzungen Strategien entgegenzusetzen, wie Handlungsmacht wiedergewonnen werden kann. In beiden Settings versuchen wir uns in der Erprobung von Umgangsstrategien, Selbstbehauptung, Stärkung und Austausch. Wir sprechen untereinander viel in den Teams; teilweise überschneiden sich Beratungs- und Empowermentteams personell. So ergeben sich Möglichkeiten für neue Formate, zum Beispiel Gruppenberatungen oder Beratung für Gruppen, die sich mit erlebter Diskriminierung auseinandersetzen möchten, rechtliche Beratung oder auch Kontakte zu Anwält*innen brauchen. Wir machen immer wieder die Erfahrung, dass Menschen in Empowermentkontexten mit uns als Personen und mit uns als Antidiskriminierungsberater*innen in Kontakt treten und irgendwann anlässlich von Diskriminierungserlebnissen zur Beratung kommen. Oft sind wir in den Gruppenkontexten, die wir leiten oder mitgestalten, auch als Berater*innen tätig. In der Arbeit mit Jugendlichen im TALK Projekt8 oder den Empowermentgruppen werden bei den Treffen Diskriminierungserfahrungen angesprochen. Teilweise holen sich Teilnehmer*innen in den Gruppenangeboten kurz Rat zu Diskriminierungsfragen oder es finden kurze Beratungsgespräche zwischen Tür und Angel statt. Das ist für Menschen, die nicht selbstverständlich eine Beratungsstelle aufsuchen oder einen Beratungstermin vereinbaren würden, eine gute Möglichkeit sich zu informieren oder sich an ein Beratungssetting heranzutasten. Wir sind dabei diese Formate weiterzuentwickeln, um auch Jugendlichen den Zugang zu Beratung zu erleichtern. Diskriminierung wirkt in persönlichen Interaktionen, auf der Ebene von Institutionen, Strukturen und Diskursen und ist deshalb oft schwer veränderbar. Menschen, die in die Beratung kommen, sind nicht nur einmal von Diskriminierung

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TALK ist ein diskriminierungskritisches Jugendprojekt, das schuljahresbegleitend stattfindet und für Jugendliche konzipiert ist, die eine Form gesellschaftlicher Ausgrenzung erleben. In Workshops in den Bereichen Tanz und Rap werden die Jugendlichen unterstützt, ihre eigenen Songs und Choreografien zu erarbeiten.

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betroffen. Der konkrete Fall verbindet sich mit anderen Erfahrungen von Benachteiligungen, teilweise lange zurückliegenden oder auch immer wiederkehrenden Erfahrungen. Wir merken immer wieder: Ein nachhaltiges Wehren gegen Diskriminierung braucht Community. Das Zusammenspiel von Beratung und Empowerment funktioniert aber nicht als Verschiebebahnhof, sondern auch nur kontingent und über Verbindungen. Selten können wir Personen in eine Beratung oder Empowermentgruppe ›schicken‹ oder an solche verweisen. Nicht für alle Menschen ist Beratung oder Empowerment das, was im jeweiligen Moment das Richtige ist. Wenn Menschen gerade um Normalität und selbstverständliche Teilhabe kämpfen, sind Kontexte, die sich von diesen Normalitätsvorstellungen abgrenzen, unter Umständen wenig attraktiv. Der Weg führt nicht nur vom Empowerment zur Beratung oder umgekehrt. Es ist auch Teil unserer Antidiskriminierungsarbeit, Veranstaltungen, Diskussionen und Auftritte zu organisieren, bei denen marginalisierte Personen mit dem, was sie sagen/performen/fordern, sichtbar werden können. Beratung, Empowerment und Netzwerkarbeit bieten Personen, die etwas zu sagen haben, die Gelegenheit ein Publikum zu finden und sie ermöglichen uns Verbindungen, um ein ›Sprechen über‹ zu vermeiden.

Offene Fragen im Zusammenspiel von Beratung und Empowerment Wir haben noch viele offene Fragen beziehungsweise sehen Herausforderungen in der Verbindung von Beratung und Empowerment, die vor allem damit zu tun haben, wie Wandel in Institutionen oder Organisationen in Gang kommt. Eines unserer Projekte an der Schnittstelle von Beratung und Empowerment trägt den Titel »Nicht mehr Meckermotzmaschine sein.« Es nimmt arbeitsmarktbezogene Beratungsfälle zum Anlass, in den diskriminierungsverantwortlichen Organisationen Beratungs- beziehungsweise Organisationsentwicklungsprozesse anzustoßen, die auch Empowermentangebote vorsehen. Eine der offenen Fragen ist, ob Berater*innen, die Beschwerden führen, auch die Rolle übernehmen können, einen Organisationsentwicklungsprozess anzubahnen oder ob diese Rollen und Arbeitsbereiche klar getrennt sein müssen. Es kommt nicht selten vor, dass Ratsuchende uns beauftragen, sowohl Forderungen nach Verantwortungsübernahme, Entschuldigung oder Wiedergutmachung zu formulieren als auch Fortbildungsangebote von uns für die verantwortliche Organisation anzubieten. Auf Seite der Diskriminierungsverantwortlichen erleben wir aber bisher selten, dass auf beides – Forderung und Angebote – eingegangen wird. Eine weitere offene Frage ist, wie es möglich ist, in solchen Organisationen Räume für Empowerment der Mitarbeitenden zu schaffen. Eine Interventionsmöglichkeit an der Schnittstelle von Beratung und Empowerment sind Kampagnen und fallübergreifende Arbeit. Diese Formen der

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Intervention bieten sich an, wenn mehrere Personen aus einer Gruppe die gleiche Diskriminierung erleben – beispielsweise rassistische DNA-Kontrollen oder Platzverweise – oder auch durch strukturelle Gegebenheiten benachteiligt werden – wie im Fall fehlender All-Gender-Toiletten bei Stadtfesten oder an der Universität. Kampagnenarbeit erfordert in der Praxis allerdings häufig mehr Ressourcen als in der Beratung oder auch bei den betroffenen Gruppen vorhanden sind. Offene Fragen beschäftigen uns auch in der Verknüpfung von Antidiskriminierungsberatung und autonom organisierten Zusammenhängen, die Ansätze transformativer Gerechtigkeit9 praktizieren. Hier stehen wir am Beginn des Prozesses, mit verschiedenen lokalen Gruppen Möglichkeiten der Zusammenarbeit auszuloten. Ein möglicher Ansatzpunkt für transformative Prozesse in Organisationen könnte die gesetzliche Verpflichtung (vgl. AGG § 13)10 sein, Beschwerdestellen zu etablieren. Auch wenn es hier – 14 Jahre nach Veröffentlichung des Gesetzes – noch wenig evaluierte Erfahrung gibt, deutet vieles darauf hin, dass allein der Aufbau einer Beschwerdestelle nicht ausreicht, dass damit weder ein Schutz vor Diskriminierung einhergeht, noch die Beschwerdeverfahren als Teil eines institutionellen Veränderungsprozesses wahrgenommen werden. (Vgl. Foitzik/Holland-Cunz/Rieke 2019: 114ff.) Das Einreichen einer Beschwerde ist für die von Diskriminierung Betroffenen oft mit unabsehbaren Risiken verbunden. So muss beim Einreichen der Beschwerde die*der Diskriminierungsverantwortliche unmittelbar informiert werden. Vertraulichkeit ist daher nicht gewährleistet. Die Beschwerdeführer*innen können das Verfahren nicht mehr einfach stoppen, haben es also nicht mehr in der Hand. Auch im Verfahren muss eine Beschwerdestelle neutral bleiben, so dass es in der Vermittlung leicht zur Reproduktion von Diskriminierung kommen kann. Aus diesen Gründen wird dieses Instrument – auch wenn es vorhanden ist – oft wenig genutzt. Wenn ein wirksamer Diskriminierungsschutz aufgebaut werden soll, müssen dem Beschwerdeverfahren Möglichkeiten einer internen oder externen parteilichen Antidiskriminierungsberatung und des Empowerments voran- und an die Seite gestellt werden.

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Transformative Gerechtigkeit beschreibt Konzepte, Gewalt mit kollektiver Verantwortungsübernahme zu begegnen und Sicherheit für Betroffene zu schaffen, ohne auf Verfolgung und Bestrafung durch Polizei und Gefängnisse zurückzugreifen. Die Ansätze wurden primär von Schwarzen Frauen, nicht-binären und trans Personen of Color in den USA entwickelt. (Vgl. Transformative Justice Kollektiv Berlin 2020) Ausführlicher diskutiert im Gespräch mit Nathalie Schlenzka in diesem Band.

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Zum Schluss: Identitätspolitik? Perspektivwechsel! Diskriminierung funktioniert, wie vielfach ausgeführt, über die Konstruktion eines ›Wir‹ und ›der Anderen‹. Beides sind soziale Konstruktionen, die nicht aus einem vermeintlich natürlichen Wesen der Menschen entspringen. Aber es sind real wirkmächtige Konstruktionen. Identitätspolitik ermöglicht (Wieder-)Aneignung, Umdeutung, Agency und Widerstand in der Auseinandersetzung mit diesen Identitätskonstruktionen. Empowerment findet immer in einem Spannungsfeld von Zuordnung zu einer marginalisierten Gruppe und der Überwindung der Reduktion auf die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe statt. Für die Verschränkung unserer Praxis von Empowerment und Beratung ist die Wahrnehmung der komplexen Situation von großer Relevanz: Machtverhältnisse zwischen Personen sind nicht immer gleich, wir begegnen uns auf unterschiedlichen Achsen von Privilegiertheit und Marginalisierung. Erlebe ich auf der Achse von Geschlechtsidentität Diskriminierung und bin als weiße, akademisierte, nicht-behinderte Person privilegiert, ergeben sich daraus für mich Bedürfnisse nach Empowerment und Möglichkeiten zum Powersharing. Letzteres ist wichtig, weil es Handlungsoptionen sichtbar macht und ermöglicht. Es gibt hier kein Verharren in Täter*innen-/Opfer-Kategorien sondern es geht um das Tun. Das lässt sich auch auf die Antidiskriminierungsarbeit insgesamt übertragen: Antidiskriminierungsarbeit ist ein spannungshaftes Verhältnis von Zuordnung zu einer marginalisierten und einer privilegierten Gruppe bei zeitgleicher Notwendigkeit der Überwindung der Reduktion auf die binäre Konstellation von Marginalisierten und Privilegierten, Betroffenen und Verantwortlichen. Dabei geht es uns nicht darum, die Zuordnung zu historisch gewordenen Gruppen aufzuweichen, sondern im Zusammenspiel von Antidiskriminierung und Beratung den Handlungsimpuls zu betonen und so an der prinzipiellen Möglichkeit zu arbeiten, aus der jeweiligen Position die Überwindung des Machtgefälles anzustreben. Zudem wollen wir die Komplexität und Beweglichkeit der Positionierung und die Gestaltungsmacht und -verantwortung von Personen ins Zentrum rücken. Es geht nicht darum Gegenpole festzuschreiben, sondern anhand von konkreten Diskriminierungsfällen, von Beratungs- und Organisationsentwicklungsprozessen Handlungsmöglichkeiten, Verantwortlichkeiten und Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Unsere Arbeit ist eine fortwährende Suchbewegung zwischen Zuschreibungen, Identitätsbildung, Aneignung, geschützte(re)n Räumen, Identitätspolitik, Alliiertsein, dem Bauen von Brücken und dem Anheben des Fundaments, solidarischem Handeln, Abwehr, Ärger, Self Care, Diskriminierung, Empowerment, Inner-Community Struggle, Community Care, Spaltung, Neuanfang, Ausdruck finden und ein Publikum heranziehen, sich zur

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Verfügung stellen und in Ruhe manches Mal loslassen. Transformation entsteht aus der gemeinsamen Suchbewegung, als die wir unsere Arbeit verstehen.

Literatur Althoff, Nina/Schabram, Greta/Follmar-Otto, Petra (2017): Geschlechtervielfalt im Recht. Status quo und Entwicklung von Regelungsmodellen zur Anerkennung und zum Schutz von Geschlechtervielfalt, Berlin: Institut für Menschenrechte e.V. Antidiskriminierungsverband Deutschland (2013): Antidiskriminierungsberatung in der Praxis. Die Standards des advd ausbuchstabiert, Berlin. Antidiskriminierungsverband Deutschland (2015): Standards für eine qualifizierte Antidiskriminierungsberatung. Eckpunktepapier des Antidiskriminierungsverbands Deutschland (advd), Berlin. Berghahn, Sabine/Klapp, Micha/Tischbirek, Alexander et al. (2016): Evaluation des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Berlin. Boger, Mai-Anh (2019a): Subjekte der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitfühlen, Münster: edition assemblage. Boger, Mai-Anh (2019b): Theorien der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken, Münster: edition assemblage. Boger, Mai-Anh (2019c): Politiken der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdiskutieren, Münster: edition assemblage. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (2020): »Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern vor geschlechtsverändernden operativen Eingriffen«, in: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz vom 19.02.2020, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/V erbot_OP_Geschlechtsaenderung_Kind.html. Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (2018): »Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit. S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung«, in: AWMF vom 22.02.2019, https://www.awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/138-001l_S3_Geschlechtsdysphorie-DiagnostikBeratung-Behandlung_2019-02.pdf. Dixon, Ejeris (2018): »Our relationships keep us alive«, in: Truthout vom 08.02.2018, https://truthout.org/articles/our-relationships-keep-us-alive-let-s -prioritize-them-in-2018/. Foitzik, Andreas/Kalpaka, Annita (2020): »Antidiskriminierungsberatung an der Schnittstelle zwischen Einzelfallhilfe und struktureller Veränderung«, in: Nivedita Prasad/Katrin Muckenfuss/Andreas Foitzik (Hg.), Recht vor Gnade. Be-

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Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik Albert Scherr

Einleitung Wenn von Diskriminierung, etwa von rassistischer, antisemitischer oder sexistischer Diskriminierung die Rede ist, wird gewöhnlich unterstellt, dass ein gesellschaftlicher Konsens darüber vorausgesetzt werden kann, dass Diskriminierung unzulässig und abzulehnen ist. Dementsprechend sind Diskriminierungsverbote als normative Grundsätze in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie im deutschen Grundgesetz verankert. Das europäische Anti-Diskriminierungsrecht sowie das Deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz sehen zudem rechtliche Sanktionsmöglichkeiten vor. Letzteres gilt jedoch nur für bestimmte Formen von Diskriminierung, keineswegs generell. Im Gegenteil gilt zum Beispiel, dass die diskriminierende Ungleichbehandlung von Staatsangehörigen und Ausländer*innen im deutschen Recht nicht nur zulässig, sondern auch ganz ausdrücklich vorgesehen ist. Darin zeigt sich exemplarisch: Die Annahme, dass moderne, demokratisch verfasste und den Menschenrechten verpflichtete Gesellschaften alle Formen von Diskriminierung konsequent ablehnen, ist unzutreffend. Damit stellt sich die Frage, welche Formen von Diskriminierung gesellschaftlich nach wie vor als akzeptabel gelten, obwohl es doch zu den normativen Grundsätzen moderner Gesellschaften gehört, dass sie beanspruchen, Gesellschaften freier und gleicher Individuen zu sein. Im Folgenden wird diesbezüglich aufgezeigt, dass Diskriminierung nicht zureichend als Effekt unzeitgemäßer Ideologien und irrationaler Vorurteile verstanden werden kann, sondern eng mit strukturell bedingten Ungleichheiten innerhalb der Weltgesellschaft und innerhalb von Nationalstaaten verknüpft ist, weshalb es nützlich und gegebenenfalls auch unverzichtbar ist, bestimmte Formen von Diskriminierung aufrechtzuerhalten. Folglich kann sich eine sozialwissenschaftlich aufgeklärte Diskriminierungskritik nicht auf eine generelle normative Ablehnung von Diskriminierung begrenzen, sondern ist darauf verwiesen, sich mit den Bedingungen, Möglichkeiten und auch mit den Grenzen der Überwindung von Diskriminierung zu befassen. Abschließend wird argumentiert, dass eine Aufspaltung in Diskri-

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minierungskritik einerseits und Ungleichheitskritik andererseits wissenschaftlich nicht tragfähig und politisch kontraproduktiv ist.1

Diskriminierung: Eine soziologische Klärung des Begriffs Um in den Kontexten Wissenschaft und Praxis sinnvoll über Diskriminierung und Perspektiven der Diskriminierungskritik sprechen zu können, ist eine Klärung des Diskriminierungsbegriffs unverzichtbar, eine Verständigung darüber, wovon wir sprechen, wenn es um Diskriminierung – im Unterschied etwa zu persönlichen Kränkungen und Beleidigungen, aber auch zu sozioökonomischen Ungleichheiten zwischen Klassen und Schichten – gehen soll. Bevor dazu einige begriffliche Bestimmungen erfolgen, soll die Unterscheidung von Diskriminierungen einerseits, persönlichen Beleidigung und sozioökonomischen Benachteiligungen andererseits zunächst exemplarisch verdeutlich werden: Im März 2020 wurde der prominente Mäzen eines Bundesligavereins von Fußballfans massiv öffentlich als ›Hurensohn‹ beschimpft, was vom Deutschen Fußballbund medienwirksam als Fall von Diskriminierung problematisiert wurde. (Vgl. Rüttenauer 2020; Wolf 2020) Zweifellos handelt es sich bei der Adressierung einer Person als ›Hurensohn‹ um eine sexistische Beleidigung, aber damit nicht zugleich um Diskriminierung im Sinne des sozialwissenschaftlich und rechtlich gängigen Diskriminierungsverständnisses. Denn der Betroffene wurde dadurch nicht als Angehöriger einer sozialen Gruppe herabsetzend adressiert, der er selbst angehört und die einer kollektiven gesellschaftlichen Benachteiligung unterliegt. Zwar kann die Bezeichnung ›Hurensohn‹ durchaus als diskriminierendes Vokabular verwendet werden – sprachwissenschaftlich betrachtet handelt es sich um herabsetzende »Nomination durch angebliche (Bluts-)Verwandtschaft.« (Reisigl 2017: 91) Dies verbindet sich im vorliegenden Fall aber nicht mit einer asymmetrischen, durch Machtverhältnisse und/oder sozioökonomische Ungleichheiten gekennzeichneten Beziehung zwischen sozialen Kollektiven (etwa: Etablierte und

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Bezüge auf relevante Theorien und Forschungsergebnisse sowie Literaturverweise werden im vorliegenden Text knapp gehalten, um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Weiterführende Hinweise dazu finden sich in den Beiträgen des Handbuchs Diskriminierung, (vgl. Scherr/El-Mafaalani/Yüksel 2017) zu der hier eingenommen soziologischen Perspektive insbesondere im Beitrag »Soziologische Diskriminierungsforschung.« (Vgl. Scherr 2017) Zu den Ergebnissen unserer empirischen Forschung zu Diskriminierung in der betrieblichen Personalauswahl, (vgl. Scherr/Janz/Müller 2015) zur Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen für Bildungsprozesse (vgl. Scherr/Sachs 2017) sowie zur Deutung und Bewältigung rassistischer Diskriminierungserfahrungen (vgl. Scherr/Breit 2019) liegen eigenständige Publikationen vor.

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

Außenseiter, politisch und/oder soziokulturell dominante Mehrheit und Minderheiten, privilegierte und benachteiligte soziale Klassen). In der gegebenen Konstellation erfolgte die Bezeichnung als ›Hurensohn‹ vielmehr in Bezug auf eine Person, die den ökonomischen Eliten zuzurechnen ist und die keine Merkmale aufweist, die sie von denjenigen unterscheidet, die als legitime Repräsentant*innen der Mehrheitsgesellschaft betrachtet werden. Diskriminierung kann aber auch nicht generell mit Ungleichheiten und Machtverhältnissen zwischen sozialen Klassen und damit einhergehenden Benachteiligungen gleichgesetzt werden. Denn erstens kann sich Diskriminierung – so im Fall bestimmter Ausprägungen des Antisemitismus – durchaus auch gegen Personen richten, von denen angenommen wird, dass sie einer gesellschaftlich privilegierten Gruppe angehören: Ein zentrales Element des Antisemitismus ist die Konstruktion von Juden als ein Kollektiv mit besonderen Eigenschaften und der Fähigkeit, sich durch unlautere Mittel Zugang zu privilegierten Positionen zu verschaffen. (Vgl. Holz 2001) Zweitens haben sozialwissenschaftliche Studien wiederkehrend nachgewiesen, dass sich die Herstellung und Aufrechterhaltung sozioökonomischer Ungleichheiten auch ohne diskriminierende Semantiken und aktiv diskriminierende Praktiken vollziehen kann. Eine bedeutsame Rolle kommt hierbei der Vererbung von Sach- und Geldvermögen sowie den Auswirkungen des sozioökonomischen Status, das heißt der beruflichen Position und des formalen Bildungsniveaus der Eltern auf die Bildungschancen ihrer Kinder, zu. Ungleichheiten der Bildungschancen und damit der beruflichen Perspektiven – und in vergleichbarer Weise auch die Vererbung von Vermögen – kommen jedoch nicht (beziehungsweise im Fall von Bildungschancen jedenfalls nicht primär) durch das zustande, was Diskriminierung typischerweise kennzeichnet: die folgenreiche Einteilung von Individuen in Kollektivkategorien (wie zum Beispiel ›Rassen‹, Ethnien, Religionen oder Geschlechter), für die angenommen wird, dass sie sich im Hinblick auf bestimmte positiv und negativ bewertete Merkmale unterscheiden, weshalb es als zulässig gilt, sie als Angehörige dieser Kollektivkategorien in anderer Weise zu behandeln als andere, oder weshalb es als normal und akzeptabel gilt, dass sie typischerweise benachteiligte Positionen im Bildungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt einnehmen, häufiger in den schlechteren Wohngebieten leben und so weiter.2 Auf der Grundlage der bislang skizzierten Überlegungen und in Übereinstimmung mit Ergebnissen der historischen, soziologischen, erziehungswissenschaftlichen und sozialpsychologischen Diskriminierungsforschung (vgl. Hormel/Scherr 2010; Scherr/El-Mafaalani/Yüksel 2017) lässt sich zunächst feststellen, dass unterschiedliche Formen von Diskriminierung eng mit sozioökonomischen Ungleich2

Damit ist darauf hingewiesen, dass Diskriminierung sich zu einem erheblichen Teil nicht durch aktiv diskriminierende Praktiken vollzieht, sondern auch durch die passive Akzeptanz von Benachteiligungen.

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heiten und Machtasymmetrien verschränkt waren und sind. Im Sinne einer groben Annäherung an ein sozialwissenschaftlich fundiertes Verständnis von Diskriminierung kann insofern festgestellt werden: Diskriminierung ist ein sozialer Mechanismus, der für die Herstellung, Aufrechterhaltung und Rechtfertigung von dauerhaften sozioökonomischen Ungleichheiten und Machtunterschieden bedeutsam war und ist. (Vgl. Tilly 1998) Eine weitere Gemeinsamkeit unterschiedlicher Ausprägungen von Diskriminierung besteht darin, dass Diskriminierung sich mittels der Unterscheidung von ungleichen und ungleichwertigen sozialen Gruppen und Personenkategorien vollzieht: Kennzeichnend für alle Formen von Diskriminierung ist eine Wahrnehmung von Individuen als Teil eines Kollektivs, für die angenommen wird, dass sie durch ihre Zugehörigkeit zu diesem Kollektiv (biologisch und/oder durch Kultur und Sozialisation) geprägt sind und sich deshalb im Hinblick auf typische Eigenschaften (etwa: intellektuelle Fähigkeiten, Leistungsbereitschaft, Triebkontrolle, Tendenz zur Kriminalität) von den Angehörigen anderer Kollektive in negativer Weise unterscheiden. Diskriminierung besteht so betrachtet darin, dass qualitative Unterschiede zwischen »Menschensorten« (Hirschauer 2014: 174) behauptet werden, die durch soziale Grenzziehungen (Eindeutigkeit der Zugehörigkeit, Vermeidung von Vermischungen) und gesellschaftliche (politische, ökonomische, kulturelle) Hierarchien aufrechterhalten oder hergestellt werden sollen. In soziologischen (genauer: sozialkonstruktivistischen) Beiträgen zu Diskriminierungsforschung (insbesondere zur Rassismus-, Ethnizitäts- und Genderforschung) ist diesbezüglich betont worden, dass es sich bei den Unterscheidungen und Kategorien, auf denen Diskriminierung basiert, gerade nicht um bloße Abbildungen tatsächlich gegebener Unterschiede handelt. Vielmehr handelt es sich um solche Gruppenkonstruktionen und damit verknüpfte Merkmalszuschreibungen, die außerhalb der jeweiligen Diskurse und Ideologien keinen Sinn ergeben. Am einfachsten lässt sich dies am Fall von Rassismus zeigen: ›Rassen‹ gibt es nicht schon dadurch, dass es Unterschiede der körperlichen Merkmale, der Physiognomie und der Hautfarbe von Menschen gibt. Dass es zahlreiche dieser Unterschiede gibt, ist zwar nicht sinnvoll zu bestreiten. Erst in der Logik des rassistischen Denkens werden diese aber a) zu vermeintlich klaren Grenzen zwischen Kollektiven und b) mit weitreichenden Annahmen über Intelligenz, Moralität und so weiter verknüpft. (Vgl. Levi-Strauss 1989) Folglich ist bereits die Behauptung der Existenz von ›Rassen‹ selbst Ausdruck eines rassistischen Denkens und davon nicht ablösbar.3 Zudem ist darauf hingewiesen worden, dass diskriminierende Unterschei-

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In vergleichbarer Weise haben die Ethnisierungs- und die Genderforschung aufgezeigt, dass Konstruktionen von ethnischen Gruppen und Geschlechtern ein ›Wissen‹ über vermeintlich gegebene Unterschiede hervorbringen, die keineswegs schlicht gegebene, naturbedingte oder kulturelle Wesensmerkmale abbilden. Es wäre jedoch allzu vereinfachend, die Kritik

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

dungen mit Annahmen über Zusammengehörigkeit, Loyalitäten und Identifikationen einhergehen (können), die dazu führen, dass kategorial unterschiedene Kollektive als soziale Gruppen vorgestellt (imaginiert) werden, die durch ein Wir-Gefühl und eine starke Binnensolidarität gekennzeichnet sind. In der Folge gelten dann etwa Angehörige eines Nationalstaates als Mitglieder der ›imaginären Gemeinschaft‹ Nation (vgl. Anderson 2006) und wird die Differenz zwischen Realgruppen, deren Mitglieder sich gegenseitig kennen und kategorial unterschiedenen Großkollektiven (wie Nationen, Religionen und Geschlechtern) nivelliert. Als Konsequenz werden dann Identifikationen und Bindungen zwischen Menschen unterstellt, die sich nicht kennen, einander fremd sind und die sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden.4 Bei auf Klärung des Diskriminierungsbegriffs gerichteten Überlegungen ist auch zu berücksichtigen, dass bei allen Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Formen von Diskriminierung, so etwa zwischen rassistischer, ethnisierender und geschlechtsbezogener Diskriminierung, ebenso wenig vernachlässigbar sind wie die Unterschiede zwischen unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Ausprägungen jeweiliger Formen, zum Beispiel von Rassismen. (Vgl. Fredrickson 2011; Scherr 2017b) Denn es ist für gegen Diskriminierung gerichtete Praktiken hoch relevant und selbstverständlich auch in der wissenschaftlichen Forschung nicht ignorierbar, welche Formen und Mechanismen von Diskriminierung im jeweiligen historischen und sozialen Kontext wirksam sind, warum und in welcher Weise dies der Fall ist sowie weshalb bestimmte Formen und Auswirkungen von Diskriminierung als akzeptabel oder als abzulehnen gelten. Von Diskriminierung zu reden heißt also auch, einen recht abstrakten Begriff zu verwenden, der auf bedeutsame Gemeinsamkeiten von Phänomenen verweist, deren unterschiedliche konkrete Ausformungen jedoch nicht sinnvoll ignoriert werden können. Vor dem Hintergrund der skizzierten Überlegungen kann der Diskriminierungsbegriff wie folgt gefasst werden: Diskriminierung besteht a) in der sozialen Konstruktion und Verwendung von Differenzkonstruktionen, mit denen b) Gruppenkategorien (zum Beispiel nationale, religiöse und ethnische ›Gruppen‹) und Personenkategorien (zum Beispiel Behinderte/Nicht-Behinderte; Bildungsferne/Ge-

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ethnischer Gruppenkonstruktionen gänzlich analog zur Kritik von Rassenkonstruktionen anzulegen. Denn die Existenz und Relevanz von Ethnien und Kulturen kann nicht in gleicher Weise bestritten werden, wie die Existenz von ›Rassen‹, und ethnische beziehungsweise kulturelle Unterscheidungen können auch legitime Formen der Selbstdefinition sozialer Gruppen sein. Die Kritik ethnisierender und kulturalisierender Sichtweisen kann deshalb nicht in gleicher Weise konturiert werden wie Rassismuskritik. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. (Vgl. Scherr 2000) Eine wichtige grundsätzliche Kritik der auch in den Sozialwissenschaften verbreiteten Gleichsetzung von Kategorien und Gruppen hat Brubaker (2007) vorgelegt.

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bildete; Kinder/Erwachsene) unterschieden werden, die c) mit gesellschaftlich folgenreichen Vorstellungen über vermeintlich typische Merkmale und d) mit Annahmen über Ähnlichkeit und Fremdheit, Nähe und Distanz, Zugehörigkeit und NichtZugehörigkeit einhergehen. Wirksam werden diese Differenzkonstruktionen als Kriterien der Zugehörigkeit als gleichberechtigtes Gesellschaftsmitglied sowie als Vorstellungen über angemessene Positionen im Gefüge der gesellschaftlichen Hierarchien (Machtverhältnisse, sozioökonomische Ungleichheiten, Prestigehierarchien).5 Das so konturierte Verständnis von Diskriminierung fordert dazu auf, vier Dimensionen der Analyse und Kritik von Diskriminierung zu unterscheiden: Erstens gilt es, die Konstruktionselemente und -prozesse der Gruppenkonstruktionen und der damit einhergehenden Eigenschaftszuschreibungen in den Blick zu nehmen, auf deren Grundlage Individuen in Angehörige ungleicher ›Gruppen‹ eingeteilt werden. Diskriminierungskritik richtet ihren Fokus diesbezüglich auf die Entstehung und die gesellschaftliche Funktion jeweiliger Gruppenkategorien sowie auf den Nachweis, dass jeweilige Eigenschaftszuschreibungen unzutreffend sind. Zweitens war und ist es eine Aufgabe von Diskriminierungskritik, die sozialen Mechanismen, mit denen sich Diskriminierung vollzieht – so die Verwendung diskriminierender Unterscheidungen durch Organisationen, in der politischen Kommunikation, den Medien, in Interaktionen, und nicht zuletzt auch ihre rechtliche Verankerung (siehe unten) – zu untersuchen und aufzuzeigen, warum und wie diese zu sozialen Benachteiligungen sowie zu Beschädigungen der Identität führen können. Dabei ist drittens zu berücksichtigen, dass Diskriminierung nicht nur deshalb zu kritisieren ist, weil sie zu faktischen Benachteiligungen führen kann; vielmehr ist die Einordnung von Individuen in eine Kategorie und die damit einhergehende Zuweisung einer Gruppenidentität schon deshalb problematisch, weil Individuen damit ein Identitätsmerkmal sozial zugewiesen wird und dadurch ihre Möglichkeiten beschränkt werden, selbstbestimmt über eigene Identifikationen und Distanzierungen, Zugehörigkeiten und Abgrenzungen zu entscheiden. Viertens ist zu berücksichtigen, dass Diskriminierung nicht einfach nur geschieht und von den Betroffen erlitten wird, sondern Kritik durch soziale Bewegungen provoziert sowie zu unterscheidbaren individuellen Bewältigungsstrategien führt. Es gilt also auch, kollektive Gegenstrategien und individuelle Praktiken im Umgang mit Diskriminierung, deren Voraussetzungen, Formen und Folgen in den Blick zu nehmen. Denn die Diskriminierungsrealität kann nicht angemessen verstanden werden, wenn unberücksichtigt bleibt, dass es auch Formen einer gesellschaftlich mehr oder weniger einflussreichen Kritik von Diskriminierung gibt sowie dass die

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Diese Definition ist in Anlehnung an eine Formulierung in Scherr 2017 gefasst; weiterführende Erläuterungen zu ihrer theoretischen Begründung sind dort zu finden.

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

Betroffenen nicht nur ohnmächtige Opfer von Diskriminierung, sondern potenziell auch eigensinnige und widerständige Akteur*innen sind. (Vgl. Scherr/Breit 2020)

Warum ist Diskriminierung gesellschaftlich erforderlich und nützlich? Wenn Diskriminierung politisch, medial, pädagogisch oder rechtlich zum Thema wird, dann geschieht dies gewöhnlich in der Annahme, dass alle Formen von Diskriminierung abzulehnen sind, dass es nicht zu rechtfertigen ist, Individuen aufgrund eines bestimmten Merkmals – ihres Geschlechts, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung und so weiter – zu benachteiligen. Hintergrund dessen ist das Selbstverständnis moderner Gesellschaften als Gesellschaften freier und gleicher Individuen, die einen Anspruch auf Achtung ihrer Würde haben. Insofern ist das Diskriminierungsverbot, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist, nicht nur eine Norm neben anderen, sondern hat darüber hinaus den Stellenwert eines Strukturprinzips […]. D.h.: Alle konkreten menschenrechtlichen Verbürgungen […] müssen nach dem Grundsatz der Nicht-Diskriminierung gewährleistet werden. Andernfalls wären diese Rechte keine Menschenrechte, sondern lediglich Privilegien. (Bielefeldt 2010: 23) Anders formuliert: Das Diskriminierungsverbot ist eine zwingende Konsequenz des Anspruchs moderner Gesellschaften, eine basale politische und rechtliche Gleichheit aller Individuen zu gewährleisten. In dieser Perspektive – die als implizite Hintergrundannahme in gegenwärtigen Diskursen über Diskriminierung einflussreich ist – stellen sich fortbestehende Formen von Diskriminierung entweder als zu überwindende und unüberwindbare historische Relikte dar, oder aber als Ausdruck reaktionärer Gegenbewegungen zum Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Geschichte moderner Gesellschaften kann dementsprechend als eine unabgeschlossene Fortschrittsgeschichte gedeutet werden, die durch das »Bemühen um die sukzessive Überwindung von Diskriminierung« im Interesse der »Humanisierung der Gesellschaft im Ganzen und um das ernst nehmen des Bekenntnisses zur unantastbaren Würde jedes Menschen« gekennzeichnet ist. (Ebd.: 33) Gegenüber einer solchen fortschrittsoptimistischen Sichtweise ist jedoch zunächst darauf hinzuweisen, dass in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zwar tatsächlich ein umfassendes Diskriminierungsverbot formuliert ist. Denn dort erfolgt keine Festlegung auf bestimmte Diskriminierungsmerkmale; vielmehr wird bewusst darauf verzichtet und spezifische Diskriminierungsmerkmale werden nur exemplarisch benannt:

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Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. (AEDM, Art. 2, Herv. A.S.) Im europäischen und im deutschen Recht (wie auch in außereuropäischen Nationalgesellschafen) werden demgegenüber jedoch nicht zufällige, sondern gesellschaftsstrukturell bedingte Einschränkungen vorgenommen. Dies gilt in offenkundiger Weise für diskriminierende Unterscheidungen nach Staatsangehörigkeit und Aufenthaltsstatus. Denn diese sind nicht nur implizit vom Diskriminierungsverbot ausgenommen, sondern im Gegenteil ausdrücklich in anderen Rechtsgebieten vorgesehen. Selbst bestimmte Grundrechte werden im deutschen Grundgesetz ausdrücklich nur deutschen Staatsangehörigen zugesprochen. Darin kommt zum Ausdruck, dass die politische und rechtliche Verfassung moderner Gesellschaften als Nationalgesellschaften (vgl. Schimank 2005) auf einer systematischen Privilegierung von Staatsangehörigen gegenüber Nicht-Staatsangehörigen beruht: Für die politische Ordnung demokratisch verfasster Nationalgesellschaften ist die Bindung des Wahlrechts an Staatsangehörigkeit (beziehungsweise einen legalen verfestigten Aufenthaltsstatus) konstitutiv; das Recht von Staaten, über Einwanderung und Aufenthalt auf ihrem Territorium zu entscheiden, gilt als ein konstitutives Moment nationaler Souveränität; wohlfahrtsstaatlich verfasste Gesellschaften sind – innerhalb einer durch gravierende Ungleichheiten gekennzeichneten Weltgesellschaft – auf eine Regulierung des Zugangs zu den nationalen Arbeitsmärkten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen verwiesen. (Vgl. Schimank 2005; Stichweh 2000) Dass keineswegs jede Form von Diskriminierung als unzulässig gilt, wird in den konstitutiven, für die Aufrechterhaltung nationalgesellschaftlicher Ordnungen im Kontext globaler Ungleichheiten funktionalen Benachteiligungen von Ausländer*innen und in den Auswirkungen der Flüchtlingspolitik unübersehbar. Die gravierenden – und im wörtlichen Sinn auch fatalen – Auswirkungen dieser Form von Diskriminierung werden in den Auswirkungen von rechtlich legalen Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge deutlich.6 Die nationalgesellschaftliche Relativierung des Diskriminierungsverbots ist zudem indirekt in einer Weise folgenreich, die über ihre unmittelbaren Effekte hinausreicht: Die Unterscheidung von Staatsangehörigen und Ausländer*innen etabliert erstens einen strukturellen Anknüpfungspunkt für Formen eines ideologischen Nationalismus, der Vorrechte des national definierten Volkes betont und dies mit rassistischen, ethnisierenden oder kulturalistischen Annahmen 6

Der Text wurde zu einem Zeitpunkt verfasst, zu dem die Europäische Union die massiven Abwehrmaßnahmen an der griechischen Außengrenze zur Türkei lobte und sich längst von einer starken Betonung des Leidens und der legitimen Hilfeansprüche verabschiedet hatte.

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

über die legitime Zugehörigkeit zur Nation verbindet. Varianten eines rechtspopulistischen, rechtsextremen und rassistischen Nationalismus können an die gesellschaftsstrukturell verankerte Privilegierung von Staatsangehörigen gegenüber Ausländer*innen anknüpfen und diese zu einer Ideologie exklusiver nationaler Interessen- und Solidargemeinschaften zuspitzen. Insofern haben die aufgeklärte Kritik des rechtspopulistischen und rechtsextremen Nationalismus und dieser selbst eine uneingestandene gemeinsame Grundlage in dem, was Pogge (2011: 150ff.) als »gewöhnlichen Nationalismus« kennzeichnet: die weitgehende Akzeptanz der gravierenden Ungleichheiten zwischen den Nationalgesellschaften der Weltgesellschaft in Verbindung mit der Erwartung an Politik, primär den Interessen der eigenen Staatsbevölkerung zu dienen. Zweitens ist festzustellen, dass die gesellschaftliche Verankerung der diskriminierenden Unterscheidung von Staatsbürger*innen und Nichtstaatsbürger*innen das Postulat der Zurückweisung aller Formen von Diskriminierung außer Kraft setzt: Wenn eine Form von Diskriminierung gesellschaftlich als unverzichtbar und zulässig gilt, dann ist damit einer prinzipiellen Kritik aller Formen von Diskriminierung die Grundlage entzogen. Es ist vielmehr ein diskursiver Rahmen etabliert, innerhalb dessen legitim darüber diskutiert werden kann, welche Formen von Diskriminierung gesellschaftlich erforderlich sind und/oder zulässig sein sollen und welche nicht. Die gesellschaftliche Funktionalität – das heißt hier: die Nützlichkeit für die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Strukturen – erweist sich auch innerhalb von Nationalgesellschaften: Ersichtlich sind diese durch folgenreiche Strukturen sozialer Ungleichheiten gekennzeichnet, durch Ungleichheiten der Vermögensund Einkommensverhältnisse, der Bildungschancen, der Arbeitsbedingungen und Wohnverhältnisse und im Zusammenhang damit unter anderem der gesundheitlichen Risiken, der Lebenserwartung, der Chancen politischer Beteiligung oder auch des Risikos der Kriminalisierung. Ihrem normativen Selbstverständnis als Gesellschaften freier und gleicher Individuen korrespondiert diesbezüglich das meritokratische Prinzip der individuellen Chancengleichheit: Der Zugang zu privilegierten oder benachteiligten Positionen im Gefüge der gesellschaftlichen Ungleichheiten soll allein von der individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft abhängen. Demgegenüber haben Theorien und empirische Studien der soziologischen Ungleichheitsforschung immer wieder darauf hingewiesen, dass die faktische Reichweite leistungsgerechter Positionszuweisungen tatsächlich sehr begrenzt ist. Zudem ist es ersichtlich kontrovers – wie etwa in der Diskussion über die zulässige Höhe von Managergehältern deutlich wurde –, welches Ausmaß an Ungleichheit durch Unterschiede der individuellen Leistungsfähigkeit legitimiert werden kann. Darauf bezogen stellt Diskriminierung eine Möglichkeit dar, sowohl Ungleichheiten der Lebensbedingungen und Lebenschancen zu rechtfertigen als auch die Zuweisung von Individuen auf Positionen innerhalb der Struktur sozialer Ungleichheiten in einer gesellschaftlich akzeptablen Weise zu

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bewerkstelligen. Dies ist erstens deshalb der Fall, weil diskriminierende Unterscheidungen mit Vorstellungen darüber verbunden sind, was der legitime Platz der Angehörigen einer jeweiligen Kategorie innerhalb der Gesellschaft ist und sein soll. Dass zum Beispiel Schüler*innen mit türkischem Migrationshintergrund im Durchschnitt schlechtere Bildungsabschlüsse erwerben als einheimische Deutsche gilt dann und solange als unproblematisch – also nicht als bildungspolitischer Skandal –, wie angenommen wird, dass dies eine Folge von Merkmalen ihrer Kultur, also nicht gesellschaftlich zu verantworten, sondern Folge sogenannter ethnischer Unterschiede sei. Am Fall kopftuchtragender Muslimas zeigt sich zweitens exemplarisch, dass die weitreichende Akzeptanz ihrer Diskriminierung ein Ausdruck davon ist, dass der Anspruch auf gleichberechtigte gesellschaftliche Zugehörigkeit durch Annahmen darüber relativiert wird, was kopftuchtragende Muslimas vermeintlich von denjenigen unterscheidet, die die Normen und Werte moderner Gesellschaften akzeptieren. Diskriminierung ist in diesen und anderen Fällen funktional, um die Akzeptanz von Ungleichheiten sicherzustellen. Diese stellen sich in der Logik eines diskriminierenden Denkens entweder als Effekt angenommener Eigenschaften der Angehörigen des diskriminierten Kollektivs oder aber als Ausdruck von Überzeugungen und Praktiken dar, mit denen Angehörigen diskriminierter Kollektive mit vermeintlich legitimen Gründen der Status des gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieds verweigert wird.

Entscheidungs- und Rechtfertigungsbedarf: Diskriminierung als Problemlösung in Organisationen Gesellschaftliche Positionszuweisungen werden zentral durch Organisationen (durch Schulen und Hochschulen im Bildungssystem, durch Betriebe in der beruflichen Bildung auf dem Arbeitsmarkt, durch Parteien im politischen System und so weiter) vorgenommen. Die einschlägige Forschung über institutionelle beziehungsweise organisationelle Diskriminierung (vgl. etwa Gomolla/Radtke 2009; Gomolla 2017; Imdorf 2017; Scherr/Janz/Müller 2015) hat diesbezüglich akzentuiert, dass Diskriminierung in Organisationen keineswegs zureichend als Ausdruck von Vorurteilen und/oder benachteiligenden Absichten einflussreicher Individuen verstanden werden kann. Denn die Verwendung diskriminierender Unterscheidungen kann sich für Organisationen als eine rationale Lösung eigener Probleme darstellen, die auch dann angemessen oder alternativlos zu sein scheint, wenn jeweilige Akteur*innen beanspruchen, nicht auf Grundlage von Vorurteilen zu handeln oder handeln zu wollen. Warum und wie dies der Fall ist, soll hier exemplarisch am Fall der Diskriminierung migrantischer Bewerber*innen in betrieblichen Auswahlentscheidungen bei der Lehrstellenvergabe verdeutlich werden, die für die beruflichen Perspektiven

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

Jugendlicher und junger Erwachsener folgenreich sind, deren schulische Voraussetzungen ihnen keinen Zugang zu einem Studium an Hochschulen ermöglichen. Grundlage dafür sind eigene Forschungsarbeiten zu betrieblichen Auswahlverfahren, deren Ergebnisse in hohem Maß mit denen der Studien übereinstimmen, die Imdorf zeitgleich in einem anderen regionalen Kontext durchgeführt hat. (Vgl. Imdorf/Scherr 2015) Deutlich wird dabei, dass Diskriminierung ein sozialer Prozess ist, in dem organisationinterne Entscheidungskalküle mit externen Erwartungen in komplexer Weise zusammenwirken. Um diesen Prozess verstehen zu können, ist es zunächst wichtig festzuhalten, dass Auswahlentscheidungen auf einer unsicheren Informationsgrundlage stattfinden (und dies gilt nicht nur für betriebliche Personalentscheidungen, sondern zum Beispiel auch bei der Wohnungsvergabe oder polizeilichen Personenkontrollen). Denn das mit vertretbarem Aufwand und/oder rechtlich zulässig erreichbare Wissen über Bewerber*innen ist begrenzt. Zudem sind die Entscheidungslogiken komplex: Es geht im Fall betrieblicher Personalentscheidungen nicht allein um die fachliche Eignung, sondern unter anderem auch um die berufsbezogene Motivation, die Anpassungsbereitschaft an betriebliche Normen, die Fähigkeit und Bereitschaft zur konfliktarmen Kooperation mit Kolleg*innen oder die Frage, ob künftig mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu rechnen ist. Eine Möglichkeit, diese prinzipielle Unsicherheit der Entscheidung einzuschränken, besteht im Rückgriff auf gesellschaftlich verbreitete Stereotype, also auf Annahmen über wahrscheinliche, vermeintlich typische Eigenschaften von Bewerber*innen, die einer bestimmten Gruppe zugerechnet werden. Zudem wird eine angenommene soziale und kulturelle Affinität zu den dominanten Gruppen im Betrieb und zur Betriebskultur als positives Merkmal wirksam; Annahmen über gravierende soziale und kulturelle Unterschiede können Bewerber*innen als Nachteil im Sinne erwartbarer Anpassungs- und Integrationsschwierigkeiten zugerechnet werden. Darüber hinaus stellen Personalentscheider*innen erwartbare Reaktionen von Kund*innen, der bestehenden Belegschaft und von Geschäftspartner*innen in Rechnung: Wird bei diesen eine fehlende Akzeptanz angenommen – etwa gegenüber einer kopftuchtragenden weiblichen Verkäuferin im Automobilhandel7 –, dann stellt es sich als betriebswirtschaftlich rational dar, eine*n weniger konfliktträchtige*n Bewerber*in einzustellen. Weiter gilt, dass Betriebe bei Personalentscheidungen auch mitbedenken, dass diese gegenüber Belegschaften und im weiteren sozialen Umfeld rechtfertigungsbedürftig sind. Bedeutsam können hier Rücksichtnahmen auf Interessen der Belegschaft im Sinn der Praxis sein, Bewerber*innen aus deren privatem sozialen Netzwerk zu bevorzugen. Hinzu kommen vor allem bei kleineren Betrieben auch Verpflichtungen im privaten sozialen Umfeld des*der Betriebsinhaber*in. Bewerber*innen ohne soziale Beziehungen zu vertrauenswürdigen Per7

Dies ist kein fiktives, sondern ein reales Beispiel aus eigener Forschung.

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sonen im Betrieb, aber auch zu als verlässlich geltenden Lehrer*innen oder Sozialarbeiter*innen, haben deshalb schlechtere Chancen, weil ihre Bewerbung nicht durch glaubwürdige Zusatzinformationen gestützt wird. Diese und andere Netzwerkeffekte tendieren zu einer Privilegierung von Einheimischen, wenn die Zusammensetzung der Belegschaft und der sozialen Umwelt des Betriebs durch eine mehrheitsgesellschaftliche Dominanz geprägt sind, insbesondere dann, wenn seitens des Betriebs dort fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen vermutet werden. Weiter gehen in Auswahlentscheidungen Annahmen zur soziokulturellen Passung zur Betriebskultur einher. Kopftuchtragende Muslimas können zum Beispiel auch deshalb abgelehnt werden, weil eine Betriebsleiterin der Überzeugung ist, dass diese nicht in einen Betrieb passen, der sich der Gleichberechtigung von Frauen verpflichtet sieht.8 Mit den skizzierten Befunden war zu verdeutlichen, dass Diskriminierung ein Resultat von im Rahmen der jeweiligen (hier: betriebswirtschaftlichen) Organisationsrationalität vorgenommenen Abwägungen sein kann, die dazu führen, dass es sich als zweckrational oder notwendig darstellt, auch dann diskriminierende Entscheidungen zu treffen, wenn keine diskriminierenden Absichten bestehen und keine vorurteilshaften Einstellungen wirksam werden. Zwar lassen sich auch Fälle nachweisen, in denen bewusst auch dann eine nicht-diskriminierende Entscheidung getroffen wird, wenn dadurch Nachteile für die Organisationen – etwa ein erhöhter Aufwand oder Konflikte – erwartet werden. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Möglichkeit von Organisationen und die Bereitschaft von Verantwortlichen begrenzt ist, die zweckrationale Ausrichtung von Entscheidungen an der eigenen (ökonomischen, pädagogischen und so weiter) Organisationsrationalität durch individuelle moralische Überzeugungen und/oder aufgrund diskriminierungsrechtlicher Sanktionsdrohungen einzuschränken.

Möglichkeiten und Grenzen der Diskriminierungskritik In den vorausgehenden Überlegungen wurde aufgezeigt, dass Diskriminierung zureichend weder als Relikt vormoderner Ideologien noch als Resultat des vorurteilsgeleiteten Handelns von Individuen verstanden werden kann. Demgegenüber wurde auf a) die gesellschaftsstrukturelle Verankerung der diskriminierenden Unterscheidung von Staatsbürger*innen und Ausländer*innen, b) die Funktionalität von Diskriminierung für Positionszuweisungen und ihre Rechtfertigung in Strukturen sozialer Ungleichheit sowie c) auf die Diskriminierungsanfälligkeit organisatorischer Entscheidungen hingewiesen. Abschließend sollen hier einige Konsequenzen dieser Analyse für Diskriminierungskritik skizziert werden. 8

Auch dies ist kein fiktives Beispiel, sondern der eigenen Forschung entnommen.

Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

Diesbezüglich ist zunächst festzustellen, dass es für Diskriminierungskritik hilfreich ist, im Hinblick auf ihre Erfolgsaussichten zwischen solchen Formen von Diskriminierung zu unterscheiden, die für moderne Gesellschaften von konstitutiver Bedeutung sind, und solchen, die im Rahmen ihrer politischen und rechtlichen Ordnung mit Aussicht auf Erfolg kritisierbar sind. Die Erfolgsaussichten einer theoretischen und praktischen Kritik von biologischem und kulturellem Rassismus sind zweifellos höher als der wenig erfolgversprechende Versuch, die Zulässigkeit der Ungleichbehandlung von Staatsbürger*innen und Nicht-Staatsbürger*innen generell in Frage zu stellen. Gleichwohl kann sich sozialwissenschaftliche Diskriminierungskritik keineswegs auf die Auseinandersetzung mit denjenigen Formen von Diskriminierung beschränken, die im gesellschaftlich vorherrschenden Antidiskriminierungsdiskurs sowie im Diskriminierungsrecht als problematische Formen von Diskriminierung gelten. Vielmehr ist die Beobachtung, dass bestimmte Formen von Diskriminierung gesellschaftlich als inakzeptabel gelten, andere dagegen als hinnehmbar oder erforderlich, ein zentraler Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Analyse und Kritik. Folglich war und ist es eine wichtige Aufgabe von wissenschaftlicher und politischer Diskriminierungskritik, auch die blinden Flecken der politischen, medialen, pädagogischen und rechtlichen Diskurse im Hinblick auf Formen und Mechanismen von Diskriminierung aufzuzeigen und eine Weiterentwicklung der antidiskriminierenden Praktiken sowie des Diskriminierungsrechts einzufordern. Zudem muss die Einsicht, dass Diskriminierung unter Bedingungen internationaler und nationalgesellschaftlicher Ungleichheiten funktional für die Herstellung und Rechtfertigung von Positionszuweisungen ist, dazu führen, dass die wissenschaftlich und politisch etablierten Aufspaltungen in Diskriminierungskritik und Ungleichheitskritik, in Antidiskriminierungspolitik einerseits, Arbeitsmarkt, Bildungs- und Sozialpolitik andererseits in Frage gestellt werden. Diskriminierungskritik entgeht dem Vorwurf, identitätspolitische Interessen relativ Privilegierter zu bedienen, aber zugleich die Interessen der sozioökonomisch Benachteiligten zu vernachlässigen, nur dann, wenn sie die Thematiken ›diskriminierungsfreie Anerkennung aller Individuen als Gleichwertige und Gleichberechtigte‹ sowie ›Abbau sozialer Ungleichheiten und sozial gerechte Gesellschaftsgestaltung‹ konsequent aufeinander bezieht und miteinander verknüpft. (Vgl. Fraser 2017) Diskriminierungskritik sollte sich in diesem Zusammenhang auch der Gefahr bewusst sein, zu einer Rechtfertigung von Ungleichheiten und zur Wiederbelebung eines illusionären Verständnisses von Chancengleichheit beizutragen: Gravierende soziale Ungleichheiten werden nicht schon dadurch unproblematisch, dass es bei der Zuweisung benachteiligter und privilegierter Positionen etwas fairer – stärker nach Kriterien individueller Leistungsfähigkeit als nach diskriminierenden Unterscheidungen – zugeht. Und wenn die Chancen auf gut bezahlte Arbeitsplätze, humane Arbeitsbedingungen, ausreichenden Wohnraum und so weiter allzu knapp sind, ist

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eine leistungsgerechte Zuweisung ohnehin nicht realisierbar. Deshalb gilt: Je höher das Ausmaß der gesellschaftlichen Ungleichheiten ist, desto größer ist der Bedarf nach Formen der Diskriminierung, mit denen die Akzeptanz dieser Ungleichheiten sichergestellt werden kann. Anders formuliert: Der Abbau sozioökonomischer Ungleichheiten und die Überwindung kollektiver Diskriminierung sind als zwei Seiten der gleichen Medaille zu begreifen, als notwendiger Beitrag zu dem, was Margalit (1998: 7) mit einer treffenden Formulierung eine »anständige Gesellschaft« genannt hat.

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Die gesellschaftliche Funktion von Diskriminierung und Diskriminierungskritik

Pogge, Thomas (2011): Weltarmut und Menschenrechte, Berlin und New York: de Gruyter. Reisigl, Martin (2017): »Sprachwissenschaftliche Diskriminierungsforschung«, in: Scherr/El-Mafaalani/Yüksel, Handbuch Diskriminierung, S. 81-100. Rüttenauer, Andreas (2020): »Die Folgen der Hassfolklore«, in: taz vom 01.03.2020, https://taz.de/Diskriminierung-von-Hoffenheims-Hopp/!5666640. Scherr Albert/Breit Helen (2020): »Erfolgreiche Bewältigung von Diskriminierung«, in: Petia Genkova/Andrea Riecken (Hg.), Handbuch Migration und Erfolg. Psychologische und sozialwissenschaftliche Aspeekte, Wiesbaden: Springer VS, S. 83-106. Scherr, Albert (2017a): »Soziologische Diskriminierungsforschung«, in: Scherr/ElMafaalani/Yüksel, Handbuch Diskriminierung, S. 39-58. Scherr, Albert (2017b): »Rassismus, Post-Rassismus und Nationalismus. Erfordernisse einer differenzieren Kritik«, in: Peripherie 146/147, S. 232-249. Scherr, Albert (2000): »Ethnisierung als Ressource und Praxis«, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 120, S. 399-414. Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, Gökcen (Hg.) (2017): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS. Scherr, Albert/Breit, Helen (2019): Diskriminierung, Anerkennung und der Sinn für die eigene soziale Position, Weinheim und München: Beltz Juventa. Scherr, Albert/Janz, Caroline/Müller, Stefan (2015): Diskriminierung in der beruflichen Bildung, Wiesbaden: Springer VS. Scherr, Albert/Sachs, Lena (2017): Bildungsbiografien von Sinti und Roma. Erfolgreiche Bildungsverläufe unter schwierigen Bedingungen, Weinheim und München: Beltz Juventa. Schimank, Uwe (2005): »Weltgesellschaft und Nationalgesellschaften«, in: Bettina Heintz/Richard Münch/Hartmann Tyrell (Hg.), Weltgesellschaft. Zeitschrift für Soziologie Sonderheft, Stuttgart: Lucius & Lucius, S. 394-414. Stichweh, Rudolf (2000): Die Weltgesellschaft, Frankfurt: Suhrkamp. Tilly, Charles (2005): Identities, Boundaries and Social Ties, Boulder und London: Paradigm Publishers. Wolf, Matthias (2020): »DFB-Mitarbeiter sorgen für Unverständnis im Sportausschuss«, in: ARD Sportschau vom 04.03.2020, https://www.sportschau.de/wei tere/allgemein/bundestag-rechtsextremismus-sport-100.html.

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Sieben Eckpunkte zu unserem Verständnis von Diskriminierung Maria Kechaja/Andreas Foitzik

Maria Kechaja: Wir schreiben diesen Beitrag zu zweit, nicht nur aus kollegialen Gründen, sondern weil es uns grundsätzlich wichtig ist, verschiedene Perspektiven sichtbar zu machen und aus diesen auf das Thema Diskriminierung zu schauen. Jede*r von uns kann nur aus seiner*ihrer Perspektive sprechen. Das bedeutet aber nicht, dass alle auch die gleichen Chancen haben, zu sprechen, gehört und verstanden zu werden. Ich spreche aus meiner Perspektive, die beeinflusst ist von meinem Leben, meinen Erfahrungen und meiner Position in dieser Gesellschaft. Ich spreche leider auch aus Erfahrung mit mehreren Diskriminierungen, die sich überlagern, verknüpft sind und zusammen meine Weltsicht mitbestimmen: Klassismus, Rassismus, Sexismus und Ableismus. Ich erwähne das nicht, um mich als Opfer darzustellen oder als Vertreterin aller Betroffenen. Bei einem Beitrag zum Thema ›Diskriminierung‹ ist es wesentlich, wer spricht. Wer spricht? Über wen? Mit welchem Hinter- oder Vordergrund? Es ist wesentlich, weil es mein Verständnis, meine Herangehensweise klarer macht.   Andreas Foitzik: Wenn ich mich als weiße Person mit dem Thema Rassismus auseinandersetze, stellt sich erst einmal die Frage: Wie lebe ich eigentlich mein Leben so ganz ›normal‹ in dieser Gesellschaft? Das heißt, meine Erfahrung in einer rassistisch strukturierten Gesellschaft ist die Erfahrung, mir keine Sorgen machen zu müssen, Opfer zu werden von grober, offener Gewalt. Ich kann Opfer von Gewalt werden, weil es mich zufällig erwischt, weil ich ausgeraubt werde, aus allen möglichen Gründen, aber zunächst nicht, weil ich zu einer bestimmten Gruppe gehöre. Ich werde in vielen Situationen – ohne dass ich mir groß Gedanken darüber machen muss – als kompetent und leistungsfähig angesehen. Man schreibt mir erst einmal zu, dass ich etwas kann, zum Beispiel diesen Beitrag schreiben und veröffentlichen. Ich kann mich auf Arbeitsplätze, Wohnungen oder verschiedenste Bildungsgänge bewerben, ohne befürchten zu müssen, dass ich weniger Chancen habe. Ich bewege mich selbstverständlich in öffentlichen Räumen oder im Kulturbetrieb und denke: Ja, die haben an Leute wie mich gedacht, als sie diese Häuser gebaut haben. Diese Gesellschaft ist für Menschen wie mich konstruiert und ge-

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schaffen. Ich kenne mich hier aus, ich nehme selbstverständlich meine Bürger*innenrechte in Anspruch, das heißt, wenn ich ungerecht behandelt werde, würde ich nicht davor zurückschrecken, mich dagegen zu wehren. Bei einer Beschwerde höre ich in der Regel nicht die Antwort ›Sei doch nicht so empfindlich, das war doch nicht so gemeint‹. Das sind meine Erfahrungen in einer Gesellschaft, die von Diskriminierungsverhältnissen geprägt ist.   Maria Kechaja: Unser Beitrag umfasst sieben Eckpunkte, anhand derer wir unseren Zugang zum Thema ›Diskriminierungsverhältnisse‹ zu fassen versuchen. Auch wenn wir hier den Schwerpunkt eher auf rassistische Diskriminierung legen, ist dieser Ansatz für uns analog für Diskriminierungen aufgrund von Sexismus und Heteronormativität, von Ableismus – also Behindertenfeindlichkeit –, von Klassismus – also Diskriminierung aufgrund von Armut – und von Transfeindlichkeit passend. Wir werden versuchen, zunächst in vier Schritten Diskriminierungsverhältnisse zu beschrieben. Dabei beschäftigen wir uns 1) mit dem Verhältnis von Absicht und Wirkung und 2) mit der Frage, wie es zu der Konstruktion eines ›Wir‹ und der ›Anderen‹ kommt, ein Prozess, der als ›Othering‹ bezeichnet wird. Anschließend geht es 3) um den Zusammenhang von Interaktion und Struktur und 4) um die Frage der Macht. In einem zweiten Teil gehen wir stärker von den Subjekten aus. Wie machen 5) solche Verhältnisse Menschen verletzbar? Wie wehren sich Menschen 6) dagegen, indem sie im Sinne des Empowerments eine eigene Kraft entwickeln? Wie können Menschen, die in dieser Gesellschaft eher privilegiert sind, 7) im Sinne eines Powersharings ihre Macht teilen?   Andreas Foitzik: Bei adis e.V., einem Träger professioneller Antidiskriminierungsarbeit in der Region Reutlingen/Tübingen, bemühen wir uns, den Spagat hinzubekommen, mit Ernsthaftigkeit zum Thema Diskriminierung zu arbeiten, die Schmerzen und die Dramatik, die damit verbunden sind, auch geschichtlich ernst zu nehmen und trotzdem zu versuchen, eine sachliche, entdramatisierte Diskussion darüber zu führen. Ein Bestandteil dieser Ernsthaftigkeit und Sachlichkeit ist der Versuch, unser grundlegendes Verständnis von Diskriminierung transparent zu machen und zur Diskussion zu stellen.1

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Ausführlicher zu dem hier skizzierten Diskriminierungsverständnis vgl. auch Foitzik/Holland-Cunz/Rieke 2019: 12ff.

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Absicht und Wirkung Wenn wir von Diskriminierung sprechen, geht es vor allem um die Wirkung und nicht um die Absicht.   Andreas Foitzik: Ein junges Schwarzes Mädchen erzählt in der Gruppe eines Jugendempowermentprojektes, dass sie die Haare in der Schule nie offen trägt, weil sie es nicht verhindern kann, dass ihr ständig irgendwelche Leute, bekannte und unbekannte Menschen, in die Haare greifen. Diese Erfahrungen werden auch von erwachsenen Schwarzen Frauen berichtet. Es ist ein typisches Beispiel für eine Grenzüberschreitung, die im Bewusstsein derer, die einer fremden Person in die Haare greifen, nicht unbedingt als diskriminierende oder absichtsvoll verletzende Handlung wahrgenommen wird. Auf die Person, die das erlebt, kann es aber genau diese Wirkung haben. Unser Punkt ist nun, dass es für die Frage, ob diese Grenzüberschreitung eine Diskriminierung ist, unerheblich ist, aus welchen Gründen, mit welchen Motiven, mit welchen Einstellungen dies geschieht. Es interessiert nur, was die davon betroffene Person aus guten Gründen in dieser Aktion erlebt und empfinden kann. Wenn wir über Diskriminierung sprechen, müssen wir wegkommen von einer Fixierung auf Einstellungen und Intentionen. Ein Handeln, das diskriminierende Wirkung hat, muss nicht zwingend mit einer diskriminierenden Absicht erfolgen. Es kann mit einer diskriminierenden Absicht erfolgen. Natürlich gibt es offene Ausgrenzungen, es gibt rechte Gewalt. Es gibt Menschen, die sich aus einem Gefühl von Überlegenheit berechtigt fühlen, andere offen zu unterdrücken. Was wir aber verstehen müssen, ist, dass Diskriminierungsverhältnisse viel mehr einschließen als offene Gewalt. Wenn wir über Diskriminierungsverhältnisse sprechen, sprechen wir eben nicht nur über offensichtlich grobe und absichtliche Handlungen und Strukturen, sondern über viel Unsichtbares, Subtiles und zum Teil auch Unbeabsichtigtes, über neutral formulierte Regelungen, Abläufe und Strukturen, die auch für die davon Betroffenen nicht immer sofort als diskriminierend erkennbar sind. Auch das Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz schützt gegen beides: offene, direkte Diskriminierung, aber auch mittelbare und indirekte Formen. Auch hier geht es um die Wirkung und nicht um die Absicht. Scheinbar neutrale Regelungen, die keine Gruppe unmittelbar benennen, aber ausgrenzende Wirkungen haben, gelten auch als strafbare Diskriminierung. Als wir vor etwa sieben Jahren begonnen haben, in Reutlingen eine Antidiskriminierungsberatung aufzubauen, stand in der Zeitung, wenn es so eine Beratungsstelle gebe, werde es danach mehr Diskriminierung geben als vorher. Gemeint war: Es gibt eine Alltäglichkeit der Erfahrung von Diskriminierung, von der viele denken, sie gehöre einfach dazu und müsse von den Betroffenen ausgehalten werden. Vielleicht wird diese Dynamik deutlicher, wenn wir einen Blick in die Geschich-

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te der Geschlechterverhältnisse werfen. Über Jahrhunderte fanden viele Menschen aus heutiger Sicht patriarchale Entrechtung und Unterdrückung völlig selbstverständlich. Verändert hat sich das nur, weil Frauen* das irgendwann nicht mehr selbstverständlich fanden und sich dagegen wehrten. Kommen wir noch einmal auf das Beispiel des Schwarzen Mädchens zurück, das seine Erfahrungen zwar als verletzend empfand, die Motive des Gegenübers zunächst jedoch nicht klar verorten konnte. In der Antidiskriminierungsarbeit geht es oft auch darum, überhaupt erkennen und formulieren zu können, dass das, was Menschen erleben, Würdeverletzungen sind, gegen die man sich wehren kann. Und gerade, wenn diese Erfahrungen nicht eindeutig feindselig sind, ist es noch schwieriger, sich dagegen zu wehren.

Wir und die ›Anderen‹: Othering Wenn wir von Diskriminierung sprechen, analysieren wir die gesellschaftliche Konstruktion von ›Wir‹ und ›die Anderen‹ und erklären diese eben nicht mit einem angeblich natürlichen Wesen des Menschen.   Maria Kechaja: Für mich war immer sehr wichtig zu begreifen, was Diskriminierung eigentlich ist. Begreifen bedeutete für mich auch, einen Versuch zu starten, etwas in den Griff zu bekommen, die Kontrolle zu erlangen über Dinge, die mir und anderen mir lieben Menschen passieren. Begreifen, Verstehen, Analysieren sind Coping-Strategien, also Strategien des Umgangs, die mir weitergeholfen haben. Deswegen beschäftige ich mich seit vielen Jahren auch mit der Funktionsweise von Diskriminierung. Zu verstehen, wie etwas funktioniert, wie es konstruiert ist, bietet immer auch die Chance, es zu dekonstruieren. Darum habe ich mich intensiv mit ›Othering‹ auseinandergesetzt. (Vgl. dazu Spivak 1985, 1988; Said 1978; Fanon 2015; Foroutan/Ikiz 2016; Castro Varela/Mecheril 2016) Für mich ist ein Verständnis zentral: ›Othering‹ ist die grundlegende Funktionsweise aller Diskriminierungsformen – ob Rassismus, Klassismus, Cis-/Heterosexismus oder Ableismus. Es ist die Grundlage für Diskriminierung, dafür, dass Gruppen erzeugt werden, dass Gruppen konstruiert und abgewertet werden, wobei die Gruppe als homogene Einheit dargestellt wird und nichts mit einer komplexen Realität zu tun hat. Mit ›Othering‹ ist diese Konstruktion des Anderen gemeint. ›Othering‹ kann übersetzt werden mit ›verandern‹. ›Othering‹ ist also ein Prozess, das Machen von Menschen (Menschengruppen) zu Anderen. Wie werde ich zur*zum Anderen? Wie mache ich jemanden zum*zur Anderen? Es sind drei Vorgänge, ein Dreischritt, der hier abläuft. Erstens: Das sind die Anderen – ich markiere Menschen und benenne sie als Gruppe. Ich lege fest: Die sind irgendwie anders. Und es kommt dann, zweitens, zu einer Zuschreibung: wie

Sieben Eckpunkte zu unserem Verständnis von Diskriminierung

die anderen sind. Sie sind also nicht nur das Andere, sondern man schreibt ihnen auch auch bestimmte negative Eigenschaften zu. Und daraus entsteht ein Bild von den Anderen und gleichzeitig im Gegenzug (drittens) so etwas wie ein Selbstbild. In der Abgrenzung zu den Anderen entsteht ein eingrenzbares ›Wir‹ – also auch eine Gruppenkonstruktion. In der Abwertung der Anderen liegt die gleichzeitige Aufwertung des Eigenen. Den Anderen, die nur negative Eigenschaften haben, werden positive Eigenschaften im ›Wir‹ entgegengestellt. Ohne dass man das immer benennen muss, gewissermaßen im Umkehrschluss, ergeben sich positive Eigenschaften für das eigene Wir-Bild, das Selbstbild. Diese Prozesse funktionieren durch eindeutige Gegensatzpaare: faul und fleißig, hässlich und schön, unzivilisiert und zivilisiert, Frau und Mann, aggressiv und friedvoll, emotional und rational, dumm und intelligent, unnormal und normal und so weiter. Diese und ähnliche Dichotomien, die wir überall beobachten können, sind sehr wirkmächtig in den Prozessen der Diskriminierung. Wenn ich nun Diskriminierung beobachte und studiere, treffe ich immer auf historisch gewachsene Bilder, die aus diesen Gegensatzpaaren entstanden sind und weiterleben, also ständig neu gemalt werden. Arjun Appadurai (1996) beschreibt ›Othering‹ mit drei Begriffen, die ich hier auch kurz skizzieren will: Essentialisierung, Totalisierung und Exotisierung. Essentialisierung ist eine Reduktion, eine Festschreibung der Anderen auf ihre ›Andersartigkeit‹, auf etwas Vorgestelltes als ursprüngliche Wesenheit: So ist der*die eben, unveränderbar; das ist sein*ihr Wesen, die Essenz. Die Totalisierung beschreibt, wie dies dann fast zwangsläufig auf eine Gruppe übertragen wird: So sind die, also nicht nur er*sie, sondern immer im Plural, die, wobei innere Differenzen eben nicht mehr wahrnehmbar werden. Das heißt, es gibt nun diese Essenz, auf die die gesamte konstruierte Gruppe reduziert wird: Die sind so. Der dritte, darauffolgende Mechanismus ist die Exotisierung: Die Anderen sind dann immer irgendwie fremd. ›Fremd‹ ist dabei auch im Sinne von exotisch, anders, unnormal gemeint. Jegliche Zugehörigkeit wird den somit ›veranderten‹ Individuen und Gruppen damit abgesprochen. An vielen, nicht nur historischen Beispielen lassen sich diese Mechanismen leider sehr häufig beobachten. Den ›Anderen‹, die da konstruiert werden, wird nicht nur die Zugehörigkeit zum ›Wir‹ abgesprochen, sondern sogar das Menschsein an sich. Sie werden zum Objekt gemacht, das behandelt, regiert, kontrolliert, eingesperrt, getötet werden muss oder kann. Die Legitimation für Gewalt ist somit gegeben. Das ist der Grund, warum ich die Auseinandersetzung mit diesen Mechanismen und Funktionsweisen der Diskriminierungen für so wichtig halte: Wir können uns im Klaren darüber werden, wie Argumentationen und Erklärungen der Ungleichheit und der Ungerechtigkeit konstruiert werden, während gleichzeitig ein Selbstbild erschaffen wird, das angeblich auf Menschenrechten basiert und Werte wie Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit – also Solidarität – proklamiert.

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Das ›Wir‹ ist immer die gesetzte Norm, alle Abweichungen davon sind unnormal, werden abgewertet. Gerade dann, wenn die Prämisse ›Alle Menschen sind gleich‹ postuliert wird, werden diese Konstruktionen benötigt, um die vorherrschende Diskriminierung zu legitimieren – prominentes historisches Beispiel ist die Gleichzeitigkeit von Kolonialismus und Aufklärung. ›Othering‹ ist ein System von wirkmächtigen Bedeutungs- und Wissenskonstruktionen. Es erschafft eine Differenz und behauptet dann die Unvereinbarkeit der hergestellten Gegensätze. Das sehen wir zum Beispiel an Diskussionen wie der um die rassistische Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört. Diese Bilder, diese Dichotomien werden immer dann herangezogen, aus dem allgegenwärtigen Hut gezaubert, wenn Ungleichheit begründet werden soll: Wenn alle Menschen gleich sind, warum dürfen dann nicht alle da leben, wo sie wollen? Wie kann es dann Abschiebegefängnisse geben? Wie kann es dann sein, dass Frauen kaum in Führungspositionen sind? Da treten dann Argumentationslinien hervor, die behaupten, dass Frauen von Natur aus zu emotional, zu sozial, zu devot oder passiv seien. Sie könnten sich halt im Gegensatz zu Männern nicht durchsetzen. Die Norm ist der Mann. Die Norm ist weiß. Das sind nicht nur Begriffsanalysen und linguistische Spielereien, daran hängen ganz konkret Rechte, Menschenrechte und auch Menschenleben. Es ist wichtig zu verstehen, dass gewissermaßen ein dominantes gesellschaftliches Wissen entsteht, das gar nicht mehr hinterfragt werden muss. Der Schwarze kritische Rassismusforscher Stuart Hall sagt dazu: Dieses System der Spaltung der Welt in ihre binären Gegensätze ist das fundamentale Charakteristikum des Rassismus, wo immer man ihn findet. Das meine ich, wenn ich von der Konstruktion der Differenz durch die rassistischen Diskurse spreche. […] Diese [Konstruktion des Anderen] teilt die Welt in jene, die dazugehören, und jene, die nicht dazugehören. Das ist keine simple Beschreibung von natürlichen Tatbeständen, sondern hier geht es um die Produktion von Wissen selbst. (Hall 2000: 14) Mit diesem Wissen wird eine Vorstellung davon produziert, was normal ist und was Abweichung, was zugehörig ist und was nicht. Und der gewaltvolle, der verheerende Aspekt ist: Damit wird festgelegt, was legitim und plausibel ist. Formen der Ausgrenzung, der Entrechtung, der Schlechterbehandlung von Menschen werden legitimiert und als allgemein gültiges Wissen etabliert.

Über Interaktion und Struktur Wenn wir von Diskriminierung sprechen, geht es immer auch um die strukturelle Ebene und nicht nur um die einzelne Interaktion.

Sieben Eckpunkte zu unserem Verständnis von Diskriminierung

  Andreas Foitzik: Ich möchte versuchen, den Zusammenhang von struktureller und individueller Ebene am Beispiel Arbeitsmarkt zu verdeutlichen. Wir haben in unserer Arbeit mit Menschen zu tun, die aufgrund der oft auch nur zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer Gruppe schlechtere Chancen haben, wenn sie sich auf eine Stelle bewerben. Die Universität Konstanz hat, um diese Effekte zu erforschen, 1500 Bewerbungen von BWL-Studierenden für Praktika an Unternehmen verschickt. Dazu verwendete sie inhaltlich gleichwertige Bewerbungsunterlagen, denen per Zufall ein Name eindeutig deutscher oder türkischer Herkunft zugeordnet wurde. Die fiktiven Bewerber*innen hatten nicht nur vergleichbare Qualifikationen und Fähigkeiten, sondern waren zudem ausnahmslos deutsche Staatsbürger*innen und Muttersprachler*innen. Das Ergebnis: Bewerber*innen mit türkischen Namen erhielten insgesamt 14 Prozent, bei kleineren Betrieben sogar 24 Prozent weniger positive Antworten. (Vgl. Kaas/Manger 2010) Bei einer vergleichbaren Studie des Instituts zur Zukunft der Arbeit unterschieden sich Namen und Fotos. Während Sandra Bauer bei 18,8 Prozent der Bewerbungen eine Einladung bekam, erhielten Meyrem Öztürk nur noch bei 13,5 Prozent und Meyrem Öztürk mit einem Kopftuch nur bei 4,2 Prozent eine positive Antwort. (Vgl. Weichselbaumer 2016) Menschen mit einer Behinderung machen vergleichbare Erfahrungen. Dies sind Beispiele für strukturelle Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Woran liegt das? Sitzen in der Personalabteilung Menschen, die etwas gegen diese anderen Menschen haben? Diese im Falle der ›türkischen Namen‹ offen rassistische Diskriminierung gibt es sicher im Einzelfall auch, das erklärt aber nicht den Effekt insgesamt. Hier kommen andere Gründe dazu. Zum einen wirken hier Bilder über Andere, die Gruppen bestimmte Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Fleiß etc. zuschreiben oder eben nicht. Dann gibt es die Sorge, dass bestimmte Personenmerkmale von Kund*innen nicht akzeptiert werden. Ein anderer, mehr oder wenig bewusster Grund für Diskriminierung bei der Personalauswahl ist die Idee, dass, je homogener das Team ist, es weniger Ärger gibt, meist zum Nachteil von im Betrieb weniger vertreten Gruppen. Wir sehen hier das Zusammenspiel von individuellen Einstellungen und Bildern mit ganz anderen, scheinbar rationalen Gründen, die im Effekt zu einer institutionellen Diskriminierung führen. Und diese Erfahrung ist die Folie, vor der nun andere, auf den ersten Blick vielleicht harmlos wirkende Interaktionen wiederum eine ganz andere Wirkung entfalten. Das würde ich gerne an einem anderen, viel diskutierten Beispiel verdeutlichen. Wenn mir bei einem Englandurlaub jemand die Frage stellt ›Woher kommst du?‹, kann ich darauf antworten, ohne dass ich aus der Frage noch mehr heraushören müsste. Ich bin Tourist, von daher ist die Frage durchaus angemessen. Ich fühle mich durch die Frage nicht genervt oder ausgrenzt. Wenn dagegen Menschen, die hier in Deutschland seit vielen Jahren oder auch schon seit Generationen leben,

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aufgrund ihres Aussehens, aufgrund ihres Namens, aufgrund ihres Akzentes diese Frage, ›Woher kommst du?‹, immer wieder hören und dabei genau wissen, dass es nicht um ihren Wohnort geht, sondern darum, wo sie oder ihre Familie ›ursprünglich herkommen‹, wird damit immer auch kommuniziert, dass die Adressat*innen der Frage als potenziell nicht selbstverständlich zugehörig erkannt werden. Selbst wenn hinter der Frage ›nur‹ die Absicht steht, ein Gespräch anzufangen, wiederholt sich in der Frage eben genau diese Erfahrung, als ›anders‹ markiert und erkannt zu werden, was – wie beschrieben – bei der Personalauswahl reell diskriminierende Effekte hat.

Über Machtverhältnisse Wenn wir von Diskriminierung sprechen, meinen wir nur Ausgrenzungen und Abwertungen aus einer machtvollen Position heraus und nicht jede Ausgrenzung einer Person oder Gruppe.   Andreas Foitzik: Nehmen wir eine Schulklasse, in der nicht-migrantische Kinder in der Minderheit sind und es vorkommt, dass diese von den ›Migrantenkids‹ gemobbt werden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es finde hier so etwas wie ›Othering‹ statt: Es wird eine Gruppe konstruiert, sie wird abgewertet und womöglich auch konkret ausgegrenzt. Diese Situation im Klassenraum ist für die betroffenen Kinder zweifellos schmerzlich und für die Lehrkräfte eine pädagogische Herausforderung. Sie haben selbstverständlich den Auftrag, gegen dieses Mobbing vorzugehen und die Kinder zu schützen. Aber ist dieses Mobbing eine rassistische Diskriminierung? Rassismus hat immer mit gesamtgesellschaftlichen Machtstrukturen zu tun. Wenn die hier betroffenen Kinder den Klassenraum verlassen, kommen sie nicht in einen gesellschaftlichen Raum, in dem sie nicht als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder anerkannt und strukturell benachteiligt werden, in dem sie immer und überall damit rechnen müssen, dass sich die Erfahrung aus dem Klassenzimmer wiederholt. Warum ist uns wichtig, Mobbing und Diskriminierung zu unterscheiden? Es geht nicht um eine Hierarchisierung von Schmerz. Es geht nicht darum, Rassismus gewissermaßen als Skandalisierungsformel zu nutzen. Wie verletzbar Menschen sind, hat mit vielen, auch individuellen Faktoren zu tun. Es geht darum, die doch sehr unterschiedlichen Prozesse beider Funktionsweisen zu verstehen. Mobbing ist dann Diskriminierung, wenn es mit einer hierarchisierten Ungleichbehandlung zusammenkommt, die diese Gruppe, zu der ich gezählt werde, nicht nur in einer einzelnen Situation, sondern immer wieder, historisch lange und dau-

Sieben Eckpunkte zu unserem Verständnis von Diskriminierung

erhaft in einer gesamten Gesellschaft erlebt und für die es in der Gesellschaft eine von vielen geteilte Legitimation gibt. Albert Scherr hat dazu geschrieben: »Die trickreiche Logik des Vorurteils besteht darin, Folgen sozialer Benachteiligung als Eigenschaften von Benachteiligten und diese Eigenschaften als Ursache ihrer Position zu behaupten.« (Scherr 2015: 13) Ein Beispiel hierfür sind sogenannte ›bildungsferne Familien‹, (vgl. Hormel 2012; Hormel/Riegel 2020) eine rhetorische Figur, die im schulischen Kontext eine große Rolle spielt. Die behauptete ›Bildungsferne‹ der Familien ist gewissermaßen eine Beschreibung, die erklären soll, warum die Kinder schlechtere Leistungen erbringen. Dabei wissen wir inzwischen, dass das deutsche Bildungssystem es nicht schafft, soziale Ungleichheit auszugleichen. (Vgl. Hormel/Riegel 2020: 152) Unser Bildungssystem verstärkt soziale Ungleichheit oft noch. Eine Aufgabe von Bildungsinstitutionen ist es, die sozialen Ungleichheiten, mit denen Kinder in die Schule kommen, auszugleichen. Das Gegenteil ist der Fall. Genau genommen müssten wir eher von ›bildungsentfernten Familien‹ sprechen. Indem aber von ›bildungsfernen Familien‹ gesprochen wird, werden Bilder aufgerufen, die ein offenbar von vielen geteiltes Wissen ansprechen. Es wird ein Bild von einer Familie geschaffen, durch deren vermeintlichen Mangel an eigener Bildung und eigenem Interesse an Bildung im Vorhinein klar ist, dass die Kinder in der Schule schlecht sein werden. Zugleich wird impliziert, dass die Schule selbst hierfür nichts kann, sondern das Scheitern der entsprechenden Schüler*innen darin begründet liegt, dass das familiäre Umfeld Bildung nicht fördert. Die Folgen sozialer Benachteiligung durch die institutionelle Diskriminierung des Schulsystems werden zur Eigenschaft der Familie. (Vgl. Gomolla/Radtke 2009) Weil ›die‹ so sind, wie sie sind, sind sie am Ende in einer gesellschaftlich schlechteren Position und nicht, weil sie benachteiligt werden. Und diese Umkehrung ist genau das, was Diskriminierung ausmacht. Man könnte das für andere Gruppen auch so beschreiben. Die Gruppe der sogenannten ›bildungsfernen Familien‹ ist insofern eine besonders perfide Figur, als man sich schlecht vorstellen kann, dass sich ›bildungsferne Familien‹ unter diesem Label organisieren und gegen Diskriminierung zur Wehr setzen würden. Diese Ansprache wird auch nicht unmittelbar als Diskriminierung wahrgenommen. Da ist im Vergleich bei Begriffen wie ›ausländische Familien‹ oder ›Unterschichtsfamilien‹ eine andere Aufmerksamkeit da. Trotzdem werden bei der Rede von ›bildungsferne Familien‹ beide Bilder – die der ›Ausländer‹ und der ›Unterschicht‹ – immer mit aufgerufen, ohne sie direkt zu benennen. Hier wird noch einmal deutlich, dass es eben nicht nur um eine individuelle Erfahrung geht, sondern dass hier auch historische Erfahrungen der so mit aufgerufenen Gruppen eine große Rolle spielen. Das, was einer Frau im Patriarchat, einer Schwarzen Person in einer rassistischen Gesellschaft, einem Kind mit einer körperlichen Beeinträchtigung in einer exklusiven Schule passiert, ist bereits

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unzähligen anderen Individuen mit ähnlichen Eigenschaften und Zuschreibungen wiederfahren. Diskriminierung ist eben nicht nur eine individuelle, sondern auch eine kollektive Erfahrung: Es passiert nicht nur mir, es passiert auch anderen, die der gleichen Gruppe zugeschrieben werden, und alle müssen immer auch damit rechnen, dass sich ihre Erfahrungen wiederholen.

Das Konzept der Verletzbarkeit/Vulnerabilität Wenn wir von Diskriminierung sprechen, geht es nicht um ›Empfindlichkeiten‹, sondern um die Wirkung gesellschaftlicher Ausschlussmechanismen und die Vulnerabilität (Verletzbarkeit) von Menschen.   Maria Kechaja: Das Konzept der Vulnerabilität, also der Verletzbarkeit (oder Verwundbarkeit), in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heißt nicht, dass ich alle betroffenen Menschen nur als verletzt ansehe oder selbst in die Falle der Zuschreibung tappe und sie als schwach oder nur als Opfer beschreibe. Ich nehme aber wahr, dass manche Menschen aufgrund einer gesellschaftlichen Positionierung in einer verletzbareren Position sind als andere. Dies erfordert auch Konsequenzen, zum Beispiel in Form von unterstützenden oder solidarischen Angeboten oder in der Einrichtung von notwendigen geschützten Räumen. In diesem Sinn sollte allen bewusst sein, dass Diskriminierungsverhältnisse vielfältige Wirkungen auf Individuen haben: Alle Diskriminierungsformen machen Menschen beispielsweise zu Vertreter*innen einer zugeschriebenen Kategorie und rauben ihnen oft die Ausdrucksmöglichkeit als Individuum. Diskriminierung ist wie ein Käfig, in den man gesteckt wird: Egal, was du tust, du bist gefangen in diesen engen Grenzen. Und egal, was du tust, du bestätigst immer das Klischee. Das erschwert die Möglichkeit, so etwas wie eine eigene Identität zu definieren, weil gewissermaßen permanent das Abgrenzen gegen zugeschriebene Bilder notwendig wird. Und das erfordert wahnsinnig viel Energie. Die besondere Vulnerabilität von Menschen in dieser Gesellschaft muss anerkannt werden, um konkrete Schritte gegen Marginalisierung und Ausbeutung einzuleiten. Wie im Kontext von ›Othering‹ bereits beschrieben, kommt es in Diskriminierungsprozessen wiederholt zu Versuchen der Entmenschlichung und Zuweisungen eines Objektstatus. Aber was bedeutet dieser zugewiesene Objektstatus für einen Menschen, für ein Subjekt? Diskriminierungserfahrungen lösen wirkmächtige Gefühle von Ohnmacht, Rechtlosigkeit, Ausgrenzung und Wertlosigkeit aus. Sie geben Menschen immer wieder das Gefühl, keine Stimme, keine Selbstbestimmung, keinen Handlungsspielraum und keine Möglichkeit der Partizipation zu haben. Das kann verzweifelt und einsam machen. Das eigene Leben ist geprägt von sich ständig wiederholenden gewaltvollen Situationen, die das Selbstwertgefühl und

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die Würde angreifen. Gleichzeitig befindet man sich oft in der Lage, dass der Staat durch Gesetze, wie beispielsweise dem Aufenthalts- und generell dem Ausländergesetz, die eigenen Rechte entzieht, beschränkt oder mir die Entscheidungsgewalt über wichtige Fragen meines Lebens nimmt. Empowerment ist quasi der Wunsch nach Befreiung aus diesem zugewiesenen Objektstatus und aus den verinnerlichten Abwertungen und der Versuch, mit all dem einen Umgang zu finden.

Empowerment Wenn wir vom Umgang mit Diskriminierung sprechen, sehen wir vor allem auch die Möglichkeit der Selbstermächtigung und des Widerstands und nicht nur Schmerz und Wunden.   Maria Kechaja: Es geht uns in unserer eigenen Praxis, vor allem als Menschen mit eigener Diskriminierungserfahrung, darum, uns selbst und andere Menschen nicht nur als Opfer zu sehen. Im Sprechen über Rassismus, wie auch im Sprechen über Sexismus, Ableismus, Klassismus und Cis-/Heteronormativität, besteht immer die Gefahr, die Idee von stark und schwach, eine Schablone vom Opfer-Sein zu reproduzieren. Unser Ansatz ist hier, neben dem Schmerz und der erlebten Gewalt Möglichkeiten des Widerstands und der Selbstbemächtigung zu sehen und zu entwickeln. Empowerment gehört für uns immer zur Antidiskriminierungsarbeit; das eine geht nicht ohne das andere. (Vgl. Kechaja et al. 2020) Der Begriff wird in den letzten Jahren aber extrem inflationär gebraucht. Das geht so weit, dass es Führungskräftetrainings gibt, deren Ziel ist, dass das mittlere Management die Führung des Unternehmens noch besser umsetzen kann und darum angeblich ›empowert‹ wird. Das heißt, dass Empowerment gleichgesetzt wird mit Verbesserung, Selbstoptimierung oder Leistungssteigerung im kapitalistischen Sinne – der eigentliche Kern, der eigentliche Inhalt wird verdreht. Das lehnen wir ab. Es ist uns sehr wichtig, darauf zu verweisen, woher der Begriff kommt. Unser Empowermentverständnis basiert auf einer Geschichte und Tradition von Kämpfen von marginalisierten Gruppen um Selbstermächtigung, politische Rechte und Gerechtigkeit und die Umverteilung von Ressourcen. Wir beziehen uns auf Theorien und Kämpfe aus Schwarzen Bewegungen, aus feministischen Bewegungen, aus Unabhängigkeitsbewegungen, aus der Selbstorganisation von unterdrückten Gruppen wie der Krüppelbewegung, aus antikolonialen Kämpfen oder auch queeren und trans* Communities. Das sind alles Bezüge, auf denen der Begriff ›Empowerment‹ basiert und die wir betonen, weil wir die dringende Notwendigkeit sehen, uns von einem entpolitisierten Verständnis von Empowerment

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abzugrenzen. (Vgl. Kechaja 2019) Halil Can beschreibt die auch von uns vertretene Idee von Empowerment in Bezug auf Rassismuserfahrungen folgendermaßen: Die Geschichte lehrt uns […], dass tiefgreifende politische und gesellschaftliche Veränderungen durch das Wohlwollen und den Gerechtigkeitssinn der Mehrheitsgesellschaft allein nicht zu erwarten sind. Diese Veränderungen müssen vielmehr von rassistisch Diskriminierten […] selbst erkämpft werden […]. In diesem Sinne wird es erforderlich sein, aus der Opferrolle […] herauszutreten und die Position der selbstbewussten, handelnden und fordernden AkteurIn einzunehmen. In anderen Worten: Es ist erforderlich, politisch zu werden. (Can 2011: 245) Empowerment bedeutet auch, Räume zu schaffen, in denen etwas Anderes erfahrbar wird als man von außen, von der Gesellschaft im Alltag erfährt, Räume, in denen die eigene Identität eben nicht in Frage gestellt wird, in denen Diskriminierungserfahrungen, Schmerz und Wut ausgetauscht werden können und Anerkennung möglich wird, in denen man sich der eigenen Fähigkeiten bewusst werden kann, indem man Solidarität erlebt und sozusagen auch Raum findet, für sich einen eigenen Umgang mit der Diskriminierung zu finden, die einen unausweichlich draußen wieder erwartet. Es ist der Versuch, safe spaces zu ermöglichen. Empowermentangebote schaffen Räume, in denen sich Menschen treffen, die eine ähnliche Erfahrung teilen, weil nur so ein geschützterer, sicherer Raum entstehen kann, in dem es überhaupt möglich ist, zu sprechen, ohne sich rechtfertigen und erklären zu müssen. Empowerment heißt, Diskriminierung nicht mehr nur als individuelles Problem oder gar Versagen zu sehen, sondern als strukturelles Problem, das auch verändert werden kann. Es geht um eine Stärkung des Bewusstseins über herrschende Machtverhältnisse. Es geht also auch um Wissen. Es geht um ein anderes Wissen, darum, dem rassistischen Wissen ein eigenes, ein widerständiges Wissen entgegenzusetzen und sich mit anderen zu vernetzen und zu organisieren. Im Idealfall werden in Empowermentangeboten Prozesse angestoßen, eine Bewegung von Fremdbestimmung zu Selbstbestimmung, so dass Handlungsfähigkeit und Mut gewonnen werden im Gegensatz zu Ohnmachtserfahrungen, Vertrauen gewonnen wird im Gegensatz zu Misstrauen. Es geht darum, Sprache zu finden anstatt der erlebten Sprachlosigkeit, Zugehörigkeit und Solidarität in einer Realität zu erfahren, die sonst oft geprägt ist von Isolation und Einsamkeit. In diesen Prozessen versuchen wir, eigene Grenzen zu setzen statt vorgegebene Grenzen zu akzeptieren, so etwas wie Anerkennung zu erfahren statt Schmerz und Trauma nur auszuhalten und ein positives Selbstbild zu entwickeln. Wesentlich am Empowerment ist es, Räume zu finden oder erst zu kreieren, die eine Community, ein Zusammensein ermöglichen. Es ist der Versuch eines kollektiven Prozesses, der Erfahrung von Verbundensein. Empowermentangebote bieten Begegnung und Aus-

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tausch, kreatives gemeinsames Gestalten, gemeinsames künstlerisches Schaffen, durch das neue Formen von Beziehungen und gemeinsam achtsames Sprechen erlernt werden können sowie die Fähigkeit, alle im Blick haben, alle zu sehen. Dabei geht es oft darum, die gemeinsame Geschichte, die oft verdrängt, ausgeblendet oder ausgelöscht wurde, zu entdecken und eigene Geschichte und Geschichten zu schreiben und zu erzählen, voneinander zu lernen und eine geduldige und solidarische Praxis zu leben. Das heißt für uns, auch in geschützten Räumen widerständige Strategien zu entwickeln und einzuüben und diese Kraft der Veränderung gemeinsam in die Communities zu tragen.

Powersharing Wenn wir von Empowerment als Antwort auf Diskriminierung sprechen, müssen wir auch von Powersharing sprechen. Auch diejenigen, die durch Diskriminierungsverhältnisse mehr oder weniger privilegiert sind, können ihre Position nutzen, um zu handeln und die Verhältnisse zu verändern.   Andreas Foitzik: In diesem abschließenden Punkt geht es um die Entwicklung individueller und kollektiver Handlungsstrategien im Umgang mit Diskriminierung und Privilegierung. Gabriele Rosenstreich beschreibt Powersharing wie folgt: Diejenigen, die die Macht haben, bereits über Ressourcen verfügen und sogar über den Zugang zu Ressourcen bestimmen können, können sich ansatzweise entscheiden, nicht selber direkt zu diskriminieren sowie Unterdrückungsstrukturen nicht mitzutragen, sie können gegen Diskriminierung eintreten. Und sie können einen direkten solidarischen Beitrag zu Empowerment leisten, aus der Position der relativ Privilegierten heraus, indem sie ihre Macht mit minorisierten Gruppen teilen. (Rosenstreich 2018) Wenn Rosenstreich Powersharing wörtlich als Teilen der eigenen Macht beschreibt, wird Macht hier nicht im Sinn von Herrschaft über andere verstanden, sondern als die Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten. Teilen von Macht meint dann, eben diese eigenen Gestaltungsmöglichkeiten so einzusetzen, dass auch die Gestaltungsmöglichkeiten der anderen größer werden. Und wie groß diese Gestaltungsmöglichkeiten sind, hat etwas mit der individuellen Position in der Gesellschaft zu tun. Diese Position wiederum ist eben auch stark durch die beschriebenen Diskriminierungsverhältnisse bedingt. Diese Verhältnisse setzen den Rahmen für die Verfügung über die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten. Die einen werden in ihren Möglichkeiten benachteiligt, eingeschränkt und behindert, die anderen bevorteilt, gefördert und privilegiert. In diesem Sinne beschreiben wir Privilegierung als die andere Seite der Diskriminierung.

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Ich möchte diese Idee des Privilegiert-Seins an einer Übung deutlich machen, die in vielen Workshops zum Thema durchgeführt wird. Die Teilnehmenden erhalten eine Rolle, die ihre Positionen in der Gesellschaft beschreibt, von der Lehrerin bis zu einem Geflüchteten, von der Schülerin jüdischen Glaubens bis hin zu einer trans* Person. Und dann stellen wir Fragen: ›Können Sie fünf Jahre im Voraus planen?‹ Jede*r, die*der die Frage mit ›ja‹ beantworten kann, darf einen Schritt nach vorne machen. ›Bemühen sich alle Leute, die Sie kennen, Ihren Namen richtig auszusprechen?‹ Oder: ›Wenn Sie zur Polizei gehen und einen Diebstahl anzeigen, haben Sie dann das Gefühl, Sie werden ernst genommen und Ihnen wird geholfen?‹ ›Können Sie sorglos durch den Park laufen?‹ ›Wird das, was Sie können, anerkannt?‹ Am Ende sind manche weit vorangekommen, andere mehr oder weniger stehengeblieben. Für viele ist dieses Bild, das dann entsteht, das normale Bild einer Gesellschaft, in der eben nicht alle gleich sind. Manche, die in der Mitte stehen, sind zufrieden, angesichts ihrer Rolle immerhin so oder so weit gekommen zu sein. Dabei haben wir keine Fragen nach Reichtum und Luxus gestellt. Wenn die Würde des Menschen, wie sie durch die Menschenrechte geschützt ist, tatsächlich nicht verletzt werden würde, wären alle Spieler*innen bei allen Fragen vorangekommen. Es ist eben nicht selbstverständlich, dass es in jeder Gesellschaft normal ist, dass es Leute gibt, die oben sind, und andere, die unten sind. Es sind nicht alle gleich in einer Gesellschaft, aber alle haben das gleiche Recht auf ein Leben in Würde. Bin ich nun privilegiert, wenn ich alle Fragen mit ja beantworten kann? Bin ich privilegiert, weil ich selbstverständlich all diese Dinge in Anspruch nehme, die diese Gesellschaft verspricht? Ja, das bin ich/sind wir. Aber was bedeutet das? Dass ich mich dafür schämen muss, in meiner Würde nicht dauernd verletzt zu werden? Sicher nicht. Im Konkreten kann ich aber auch nicht so tun, als hätten meine gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten nichts mit den Ausschlüssen von anderen zu tun. Wenn ich mich in Tübingen auf eine Wohnung bewerbe, freue ich mich, wenn ich eingeladen werde, und beschwere mich auch nicht, wenn ich die Wohnung bekomme. Dabei weiß ich, dass ich sie womöglich auch deswegen bekommen habe, weil die Vermieterin einen weißen, einigermaßen gutverdienenden Menschen einer alleinerziehenden Mutter, einer Frau mit Kopftuch oder einem schwulen Paar vorzieht. Sie hat die Wahl, und ich kann nichts dafür, dass sie sich so entscheidet. Aber ich profitiere von der Diskriminierung anderer. Und wenn wir von Powersharing sprechen, geht es darum, sich mit diesen Privilegien auseinanderzusetzen, meine Ressourcen und Spielräume klar zu erkennen und nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu teilen. Diese Auseinandersetzung findet auch im Team von adis e.V. statt, zwischen Kolleg*innen, die wie ich in einer privilegierten Position leben, und Kolleg*innen, die aus unterschiedlichen Gründen in einer weniger privilegierten Position leben.

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Für mich kann ich sagen, dass ich in diesem Prozess am Anfang stehe, aber sehr viel davon profitiere, diesen Rahmen zu haben, die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten zu reflektieren, sie anzuerkennen und auch nicht kleinzureden, sondern sie aktiv einzusetzen. Kleinreden ist eine gute Strategie, um den eigenen inneren Schweinehund nicht so stark spüren zu müssen. Beim Powersharing geht es darum, Verantwortung zu übernehmen für Ausschlüsse, an denen man unwillentlich beteiligt ist oder von denen man ungewollt profitiert, zuhören zu lernen und sich zurücknehmen zu können und Sicherheiten und Gewissheiten aufzugeben – auch Sicherheiten und Gewissheiten, wie sie Maria oben als rassistisches Alltagswissen beschrieben hat. Es geht darum, dieses Wissen zu ent-lernen, um überhaupt ein anderes Wissen zulassen zu können. Im ganz Konkreten heißt das, selbstverständlich Aufgaben abzugeben, um so anderen die Möglichkeit der Repräsentanz zu geben und auch Lernen und Entwicklung zu ermöglichen. Es heißt auch, wenn man Aufgaben abgibt, anzuerkennen, dass andere sie anders, in ihrer (Eigen-)Art, angehen als man es selbst tun würde. Es heißt, in fachlichen Auseinandersetzungen die Wirkungen der eigenen Kritik mitzudenken und nicht zu denken, alle Beteiligten interagierten auf Augenhöhe: So, wie du mich kritisierst, kann ich dich auch kritisieren. Gerade wenn man aus einer Position spricht, die gesellschaftlich höher bewertet ist, kann auch eine Kritik aus dieser Position für die*den andere*n erst recht verletzende Wirkungen haben. Es geht darum, eigene Kompetenzen, eigene Möglichkeiten anderen zur Verfügung zu stellen, also Macht in diesem Sinne zu teilen. (Vgl. Foitzik/Yupanqui Werner 2020) Vor allem bedeutet Powersharing auch, Sicherheiten aufzugeben. Wir wissen nicht immer, wie es funktioniert und welche Effekte es haben wird, aber wir haben die Aufgabe, uns damit auseinanderzusetzen.

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2. Räume der (Anti-)Diskriminierung

Wissen schafft: Zur feministischen Praxis im universitären Kontext Rebecca Hahn/Anya Heise-von der Lippe/Nicole Hirschfelder schaffen: starkes und schwaches Verb. Bedeutungen: 1.) (durch schöpferische Arbeit, schöpferisches Gestalten) neu entstehen lassen; hervorbringen; 2.) entstehen, zustande kommen lassen; zustande bringen; 3.) sich an etwas zu schaffen machen (irgendeine [manuelle] Tätigkeit ausführen); 4.a) erfolgreich zum Abschluss bringen, bewerkstelligen; bewältigen; 4.b) sehr anstrengen, mitnehmen, erschöpfen; 4.c) großen Einsatz zeigen, sich verausgaben; 5.) bringen, tragen, transportieren, befördern; 6.) arbeiten (lassen); 7.) sich in einem Prozess der Veränderung befinden. (Duden 2020)

Frauen1 und Angehörige anderer diskriminierter Gruppen müssen sich in der Wissenschaft häufig mit Meinungen auseinandersetzen, die wenig mit Wissenschaft und mehr mit der Wahrnehmung ihrer Person zu tun haben. Diesem Umstand liegt eine komplexe Gemengelage von Vorurteilen und Zuschreibungen zugrunde. Frauen werden in der Wissenschaft weiterhin stärker aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes wahrgenommen (vgl. @aubreyhirsch 2020) und, im schlimmsten Fall, auch beruflich schlechter bewertet als ihre Kollegen. (Vgl. Steenbuck 2017) Vor allem in der Wahrnehmung von Wissenschaftler*innen wird die grundlegende Frage

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Die Kursivierung des Begriffs ›Frauen‹ (sowie ›Männer‹ etc.) im Folgenden soll zum Ausdruck bringen, dass die Autorinnen dieses Aufsatzes ›Frau‹ nicht als essentialistische Gegebenheit, sondern als inklusives Konzept verstehen. Es geht uns nicht darum, biologistische Debatten zu befeuern, sondern vielmehr darum, Diskriminierung im Rahmen gesellschaftlicher Zuschreibungen und Erwartungen an Menschen, die als Frau gelesen werden, aufzuzeigen.

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danach, wer landläufig als Experte (nicht als Expert*in) gelten kann, das heißt, welche Zuschreibungen im kollektiven Bewusstsein mit wissenschaftlicher Expertise verknüpft sind, weiterhin vor allem mit der Vorstellung vorwiegend älterer weißer 2 Männer assoziiert. Es sind solche oft unausgesprochenen, aber tief in universitären und gesellschaftlichen Strukturen verankerten Assoziationen, die es Frauen und vor allem Angehörigen von sogenannten Minderheiten immer noch schwer machen, sich gegen Diskriminierung und etablierte Systemstrukturen durchzusetzen. Wo Wissenschaft als rational, distanziert und objektiv verstanden wird, Frauen dagegen als emotional und subjektiv gelten, werden Frauen eher betreuende Aufgaben auf Mittelbau- und Verwaltungsebene zugetraut (wo zudem administrative Arbeit ›weggeschafft‹ werden muss) als die Arbeit als Lehrstuhlinhaberin oder die Leitung von Forschungsprojekten. (Vgl. Hunt 2015: 7) Wie Shelley Tremain aus der Perspektive einer Feminist Philosophy of Disability argumentiert, bleiben marginalisierende Denkmuster bezüglich der Neutralität der eigenen Disziplin in den Grundvorstellungen der philosophischen Wissenschaftstheorie verankert. (Vgl. Tremain 2019) Mehr noch, die eigene wissenschaftliche Position wird häufig als distanziert und nicht involviert verstanden und im Umkehrschluss jede persönliche Involvierung in den Forschungsgegenstand als unprofessionelles Verlassen der wissenschaftlichen Neutralität belächelt oder gar abgestraft. Eine besonders unrühmliche Praxis besteht darin, Frauen oder BIPoC ausschließlich als Expert*innen für ihre eigene Identität heranzuziehen – ihre Expertise damit also gleich einzuschränken und von der neutralen (männlich besetzten) Wissenschaftsposition abzugrenzen. In der pandemiebedingten Krisensituation seit März 2020 zeigen sich diese altbekannten Muster sehr deutlich: Aus der neutralen wissenschaftlichen Distanz lässt sich trefflich darüber spekulieren, wie zum Beispiel »die Pandemie jene Bruchlinien vertiefen wird, an denen sich die politisch-gesellschaftlichen Konflikte der vergangenen Jahre entzündet haben« (Koschorke 2020) – ganz so, als wäre der*die Wissenschaftler*in nicht selbst Teil der beschriebenen Gesellschaft. Dabei offenbart die vermeintliche oder empfundene Distanz zum eigenen Forschungsgegenstand weniger eine tatsächliche wissenschaftliche Neutralität als vielmehr ein Verständnis der eigenen Forscher*innenposition und steht dabei häufig – und oft unsichtbar und systemimmanent – in direktem Verhältnis zu Privilegierungsmustern und universitären Machtverhältnissen. Wenn wir hier von Diskriminierung im universitären Bereich sprechen, dann sind solche systemimmanenten Machtstrukturen gemeint, die sowohl die Vorstellung von Wissenschaft als auch die Vorstellung davon, wer diese betreiben kann und auch wie, betreffen. Dabei geht es uns in den beiden folgenden Teilen vor allem darum, solche Struktursysteme sichtbar zu machen und mögliche Ansätze 2

Diese Kursivierung verweist darauf, dass mit dem Attribut ›weiß‹ innerhalb patriarchal organisierter, strukturell rassistischer Gesellschaften Privilegien einhergehen.

Wissen schafft: Zur feministischen Praxis im universitären Kontext

für notwendige Veränderungen aufzuzeigen. Im letzten Teil dieses Beitrags wollen wir gezielt feministische Praktiken in den Blick nehmen, die zwar innerhalb universitärer Strukturen operieren, jedoch auch versuchen, eine Basis für gesellschaftspolitische Veränderungen zu schaffen.

Schaffen wir das? Corona und andere Krisen für Wissenschaftlerinnen Wie tief traditionelle Vorstellungen von Wissenschaft und Expertentum im kollektiven gesellschaftlichen Unterbewusstsein verankert sind, kommt gerade in Krisensituationen besonders deutlich zum Vorschein. So zeigt die COVID-19-Pandemie zum Beispiel im Hinblick auf das universitäre Feld schonungslos auf, dass Wissenschaftlerinnen seit Beginn der Krise in zahlreichen Ländern weniger forschen und publizieren als ihre Kollegen. (Vgl. Bueche 2020) Ein Grund dafür könnte sein, dass sich Frauen sowohl im Privaten als auch im Beruflichen, das heißt in Sphären, die in der Krise für Wissenschaftler*innen verschmelzen, entweder zumindest mit der Erwartungshaltung oder der Tatsache, dass sie mehr Sorgearbeit verrichten müssen, konfrontiert sehen – ein Umstand, welchen die Krise durchaus mit der sogenannten Normalität gemeinsam hat. (Vgl. Althaber/Hess/Pfahl 2011) Während Diskriminierung von Ungleichheit geprägte Strukturen ›ordnet‹, das heißt praktisch umsetzt und dabei auch gleichzeitig perpetuiert, besitzt die Krise eigentlich das Potenzial, gesellschaftliche, unter Umständen von Ungleichheit geprägte Strukturen ins Wanken oder sogar zu Fall zu bringen. (Vgl. Scheidel 2018) Allerdings zeigt Corona vor allem, wie beständig lange gewachsene Strukturen sind, deren konstante Bekämpfung von manchen bereits vor der Krise als obsolet kritisiert worden war, und dass es viel mehr die mühsam erkämpften Erfolge von struktureller Anti-Diskriminierungsarbeit sind, die als erste der Krise, welche alle bestehenden Gegebenheiten intensiviert, nicht standhalten können. Dies ist jedoch wenig überraschend, denn der Ruf nach Experten wird besonders in der Krise laut, wenn nach kompetenten, effizienten, pragmatischen und schnellen Handlungsanweisungen gesucht wird. Die Berücksichtigung von Geschlecht scheint aufgrund der Dringlichkeit der Lage schlicht ›irrelevant‹, was jedoch den Schluss zulässt, dass Diskriminierung nur in der ›Normalität‹ als Normalität und nicht in der ›Krise‹ als Krise bekämpft werden soll. Diskriminierung von Frauen im Hochschulkontext äußert sich innerhalb dieser Normalität zum Beispiel als genderspezifische Erwartungshaltung. So wird für Frauen besonders häufig vorausgesetzt, dass sie emotional labor, das heißt all jene affekt- und gefühlsbezogenen Aufgaben, die gemeinhin unbezahlt, aber dennoch für ein gelingendes Zusammenleben oder -arbeiten unabdingbar sind, (vgl. Karakayali 2010) in vorauseilendem Gehorsam oder spätestens bei der Forderung danach anstandslos und bereitwillig erbringen. (Vgl. Bellas 1999) Diese emotiona-

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le Arbeit wirkt, wie jede andere Tätigkeit auch, nach einer Weile ermüdend – sie ›schafft‹ die Betroffenen – und bindet somit Energie, die von anderen, welche von jener emotional labor meist qua Geschlechterrolle entbunden sind, für die ›eigentlichen‹ oder im Hinblick auf Anerkennung und Entlohnung lukrativeren Tätigkeiten genutzt werden kann. (Vgl. Tunguz 2016: 8-9) Der (wenn vorhandene) Dank fällt personengebunden und ideell aus: Sorgearbeit wird, da sie von ›guten Frauen natürlich gerne erbracht‹ wird, nicht bezahlt oder als ernstzunehmende Kompetenz verbucht, sondern höchstens mit Gefälligkeiten, die stets kleiner sind als die Summe der geleisteten Gefallen, und vielleicht noch einem ›guten Ruf‹, von dem sich Frauen zwar auch nichts kaufen können, der aber dennoch wichtig ist, weil eine schlechte Reputation ihnen nach wie vor empfindlich schaden kann, honoriert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Fragen, wer Wissen schafft und wen die Wissenschaft schafft, eng mit unterschiedlichen Geschlechterrollen und strukturell bedingten Erwartungen und Erfahrungen verflochten sind und daher nur zusammen in dieser Kombination und eben nicht bloß auf individuelle Einzelfälle bezogen beantwortet werden können. Oftmals geschieht dies jedoch nicht und die strukturelle Ebene verschwindet im anforderungsreichen und kompetitiven wissenschaftlichen Feld hinter der gelebten Erfahrung von Frauen und kann im beruflichen Alltag nur mühsam (oder nicht mehr) wieder ins Bewusstsein zurückgeholt werden. Dies hat wiederum negative Konsequenzen für die individuellen Erlebnisse von Frauen in der Wissenschaft: Erfüllen Frauen die Erwartungshaltung an das Erbringen von Sorgearbeit und Emotional Labor nämlich nicht, wird dieses Verhalten moralisch bewertet und unter Umständen als negative Bias in anderen, späteren Situationen gegen sie verwendet, was jedoch meist nur für die Betroffenen spürbar und daher (schon gar für Außenstehende) kaum belegbar ist. Die oft auf diese Feststellung direkt folgenden Ratschläge aus der dominanten Perspektive, ›man dürfe das nicht ernst und schon gar nicht persönlich nehmen‹ und solle ›solche Vermutungen einfach ignorieren und sich stattdessen doch lieber einfach auf das persönliche Vorwärtskommen konzentrieren‹, offenbaren sehr deutlich, worin zumindest ein Teil der Diskriminierungserfahrung von Frauen an Hochschulen begründet ist und weshalb es für Frauen, selbst mit viel theoretischem Wissen um die Problematik, so schwierig ist, dieser ›adäquat‹ entgegenzutreten: Während nämlich viele Image-Broschüren, DFG-Gleichstellungsstandards (vgl. Heidler 2017) oder die Existenz von Gleichstellungsbeauftragten an Universitäten ein (für manche fast schon zu) progressives Bild von Frauenförderung und Gleichberechtigung an der Universität vermitteln, bleibt der Bewertungsstandard von Fakten, Personen und Strukturen, Emotionen, Schwierigkeiten, (Ir-)Rationalität, Karriere, Erfolg, Kommunikation und eben auch von Adäquatheit traditionell und impliziert damit meist stillschweigend, dass Frauen entweder sehr viel später oder gar nicht Teil dieser institutionellen Tradition waren. Werden diese Gegebenheiten und tief verwurzelten Strukturen, die sich alltäglich (sogar) in wohlgemein-

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ten Ratschlägen äußern, jedoch nicht offengelegt, reflektiert und in der Praxis auf eine Weise neu verhandelt, die dominantes Wissen und Fühlen kritisch im Hinblick auf Gleichberechtigung hinterfragt, bleiben all die oben genannten ›Reformmaßnahmen‹ für die Gleichbehandlung der Geschlechter auf einer zu oberflächlichen Ebene, um Privilegien als solche anzuerkennen und Räume für Veränderungen zu schaffen, die nicht bereits wieder fest im Rahmen der bereits etablierten Standards eingefasst sind. Corona als Brennglas zeigt auch noch ein weiteres Problem auf, welches jedoch ebenfalls eine Entsprechung in der sogenannten ›Normalität‹ hat: Bis auf sehr wenige und meist auch mit deutlich weniger Ehrfurcht betrachtete Ausnahmen ist das wissenschaftliche Gesicht in den Medien überwiegend männlich: Neutrale, objektive und rationale fachliche Auskunft wird in der Krise in der Tat meist von Wissenschaftlern erteilt. (Vgl. Knöfel/Voigt 2020) Dass dieser Umstand in der Krise keineswegs den Ausnahmefall, sondern eher die Repräsentation der oder gar die Ordnung darstellt, wird vor allem daran deutlich, dass nur wenige Stimmen die offenkundige Absenz von Frauen als Expert*innen kritisch kommentieren, (vgl. Ghassim 2020) jene, die es tun, aber oftmals heftigen Widerspruch für diese Äußerungen ernten. (Vgl. Akyün 2020) Hinzu kommt, dass die im Hinblick auf das berufliche Feld der Wissenschaft scheinbar zu vernachlässigende Hyper-Sichtbarkeit von Expert*innen außerhalb der Universität, im Internet, in Talkshows, Printmedien oder in Radio-Interviews durchaus Einfluss auf Aspekte der Gleichberechtigung im akademischen Kontext nimmt. (Vgl. Fuhrin 2013) Dies findet sowohl in Form von ökonomischem als auch symbolischem Kapital Ausdruck. So wird zum Beispiel der öffentliche Dienst gemeinhin als positives, das heißt besonders gerechtes Beispiel angeführt, wenn es um die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern geht, was suggeriert, dass diese nicht oder nur kaum existiere. Der sogenannte ›Gender Pay Gap‹, welcher oftmals als Indikator für fehlende Gleichberechtigung gilt, bahnt sich jedoch gerade in der Wissenschaft wieder seinen Weg durch die Hintertür. (Vgl. Richter 2015: 21-22) Denn selbst wenn in Berufungsverfahren mittlerweile in manchen Fällen ›gleichberechtigter‹ verhandelt wird oder zumindest verhandelt werden soll, werden Expertinnen für lukrative Fernsehauftritte oder andere medienwirksame Veranstaltungen deutlich seltener gesucht, angefragt und gebucht als ihre Kollegen. (Vgl. Dambeck/Knöfel/Voigt 2020) Der Sexismus ist auch hier strukturell, das heißt selbst einzelne Ausnahmebeispiele, die in diesem Kontext oftmals direkt als Replik angeführt werden, bedeuten nicht, dass sich diese nennenswert auf das Gesamtproblem auswirken würden: Frauen und ihre Kompetenz werden im Vergleich zu ihren Kollegen oft übersehen. Auch ein Blick in die Karteien der bekanntesten Redner*innenagenturen zeigt, dass Frauen, wenn sie nicht gerade ihre eigenen Netzwerke

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gründen,3 nach wie vor eine sprichwörtliche Ausnahmeerscheinung sind und oft nur als token,4 das heißt als einzige Vertreterin ihrer Geschlechterrolle (vgl. @rootkovska 2020) eingeladen werden, während die sogenannte ›Normalität‹ davon nach wie vor unberührt bleibt.5 Zu beobachten ist ebenfalls, dass (vermeintlich überwundene) Diskriminierungsmuster gegen die akute Krise ausgespielt werden. Das bedeutet, dass schnell konstatiert wird, Anti-Diskriminierungsarbeit müsse zurückstecken, weil es viel ›Wichtigeres‹, ja Existenzielles zu tun gäbe. (Vgl. Schmidt 2020) Sollten wir nicht lieber in die Forschung nach einem Impfstoff investieren, als über genderbezogene Diskriminierung zu reden? Jenseits der politischen Untertöne solcher Einwände stellt sich auch die Frage nach ihrer Aussagekraft, selbst für den Fall begrenzter oder vorübergehender Krisen. Was, wenn die Wissenschaftlerin, die wesentlich an der Entwicklung eines lebensrettenden Impfstoffs beteiligt hätte sein können, aufgrund diskriminierender Stipendienvergabeprozesse nicht die nötige Finanzierung bekommt? Diskriminierung ist eben gerade kein oberflächliches Kommunikationsproblem, das sich lediglich auf symbolischer Ebene abspielt oder durch mehr politische Korrektheit übertünchen ließe, sondern Diskriminierung ist immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten und damit ein Indikator für tieferliegende Probleme, die in Krisenzeiten lediglich besonders deutlich zutage treten. Im Folgenden wollen wir daher Strukturen ins Blickfeld nehmen, welche Sexismus und Mehrfachdiskriminierungen im universitären Kontext zugrunde liegen.

(Nicht) geschaffen für die Wissenschaft: Struktureller Sexismus an der Universität An der Universität beziehungsweise in der Wissenschaft gibt es zahlreiche Beispiele für strukturellen Sexismus. Dieser ist oftmals so offensichtlich, dass ihn die meisten Menschen nicht (mehr) auf eine Weise wahrnehmen, die sie unmittelbar zum Protest gegen diese Diskriminierung veranlassen würde. Zu sehr gehört struktureller Sexismus6 für viele zur Normalität und zu oft ist es im Alltag zu riskant, mühselig oder nicht lohnenswert genug, sich anti-sexistisch zu äußern oder zu verhalten, um diese langjährig gewachsenen Strukturen zu benennen und bekämpfen 3 4 5

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Zum Beispiel https://women-speaker-foundation.jimdo.com. Ein Umstand, der ebenso auf Menschen mit Behinderung, BIPoC, Menschen aus der LGBTIQ+ Community und anderen marginalisierten Gruppen zutrifft. Um zwei Beispiele zu nennen: https://agentur-fuer-helden.de (hier ist der Name Programm) und https://www.speakers-excellence.de/referenten-themen.html. Auch hier ist das Gros der sogenannten ›Speaker‹ männlich. Wie auch struktureller Rassismus und behindertenfeindliche Strukturen.

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zu können. Der klare Verweis auf die tatsächlichen und symbolischen Strukturen verdeutlicht jedoch, wie tiefgreifend und umfassend das Problem ist. Ein Blick auf die wohl gröbste und – im wahrsten Sinne des Wortes – ›feststehendste‹ Struktur, die Universitätsgebäude selbst, mag hier als erstes Beispiel dienen: Während das Gros der Hochschulen männliche Namen trägt, ist keine einzige Universität in Deutschland nach einer Frau benannt. (Vgl. Scholz 2020) Dieses Muster setzt sich zudem bei der Namensgebung der einzelnen Lehrbauten und teilweise der Hörsäle fort. Im Universitätsalltag selbst wird Frauen besonders durch eingeschliffene Kommunikationsmuster bewusst gemacht, dass ihre Kollegen Diskurse und damit auch das wissenschaftliche Feld dominieren (was auch dann passiert, wenn es nicht intendiert ist). Die Tatsachen, dass Wissenschaftlerinnen oftmals ungefragt Dinge erklärt bekommen, die sie selbst längst wissen und die oft gar zu ihrer Expertise zählen (mansplaining), dass sie häufig und ohne Entschuldigung von Kollegen unterbrochen werden (manterrupting), dass kluge Dinge, die sie gesagt haben, erst durch die Wiederholung eines Kollegen validiert werden (male echo) oder dass dieser ihre Leistung nicht anerkennt und ihren Punkt schlicht als seine Idee ausgibt (bropriating), gehören für viele Frauen in den patriarchal strukturierten Räumen der Universität zum Alltag. Oftmals werden geschichtliche ›Gegebenheiten‹ als Gründe für die oben genannten Beispiele des Status quo angeführt. In der Tat blicken Frauen an der Universität nicht nur auf eine kurze, sondern vor allem auch auf eine von Diskriminierung geprägte Tradition zurück: Die erste Studentin Deutschlands, Johanna Kappes (1873-1933) zum Beispiel musste sich im Jahr 19007 ihr Recht auf ein Medizinstudium an der Universität Freiburg zusammen mit vier weiteren Kommilitoninnen erstreiten, da sie eigentlich nur als Gasthörerinnen geduldet waren. Zu groß war die Befürchtung der Professoren, dass der Eintritt von Frauen in das wissenschaftliche Feld zu dessen Prestigeverlust führen würde. Interessanterweise ist heute festzustellen, dass sich diese Befürchtung tatsächlich bewahrheitet hat. (Vgl. Zimmer/Krimmer/Stallmann 2007: 82) Dies hat allerdings weniger mit der Präsenz von Frauen, als vielmehr mit dem patriarchalen System zu tun, in welchem sie nach wie vor operieren und in dessen Überlegenheitslogik Feminisierung ohne bewusstes, anti-sexistisches Gegensteuern stets mit Abwertung verbunden wird. Historisch galten selbstständige Karrieren von Frauen im Lehrberuf oder in der Wissenschaft als nicht mit traditionellen Familienstrukturen vereinbar.8 Jene, 7 8

Rückwirkend wurde ihnen vom Ministerium der Justiz, des Kultus und des Unterrichts in Karlsruhe die Immatrikulation ab dem Wintersemester 1899 ermöglicht. Der Lehrerinnenzölibat schrieb beispielsweise in der Zeit von 1880 bis 1950 deutschlandweit vor, dass verbeamtete Lehrerinnen unmittelbar nach ihrer Eheschließung entlassen werden mussten, um sich vollständig ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu widmen – ein Gesetz,

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die heute das Wagnis ›wissenschaftliche Karriere‹ dennoch eingehen, (vgl. Genske/Wegmann/Schuhmann 2020) zahlen häufig einen hohen Preis in der Währung ihrer persönlichen Lebensplanung, wie zum Beispiel Kinderlosigkeit, Fernbeziehungen oder jahrelange unsichere, niedrig entlohnte Anstellungsverhältnisse.9 Da diese Missstände bekannt sind, versucht die Universität als Arbeitgeberin seit geraumer Zeit Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Bei allen ersten Erfolgen ist es interessant festzustellen, wie sehr dabei dennoch an den altbekannten Denkmustern festgehalten wird. So erlauben zum Beispiel manche Förderprogramme für exzellente Wissenschaftlerinnen es durchaus, von den Mitteln Putzkräfte für die Unterstützung im privaten Haushalt zu bezahlen, während diese Ausgabe in Programmen, die sich nicht explizit in der Frauenförderung verorten, kaum möglich wäre.10 Was zunächst als pragmatische Maßnahme erscheinen mag, um Wissenschaftler*innen den Alltag zu erleichtern, hält jedoch wieder altbekannte Erwartungshaltungen aufrecht, nach denen Frauen sich nur dann wissenschaftlich und beruflich verwirklichen können sollten, solange zu Hause ›ihre‹ andere Arbeit nicht liegen bleibt, während dieser Anspruch an ihre Kollegen nicht gestellt wird. Durch diese scheinbare strukturelle Unterstützung wird allerdings weiterhin kommuniziert, dass Frauen keineswegs von ihren Aufgaben zu Hause entbunden sind, sondern diese lediglich auf andere übertragen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei wieder um Frauen, die für ihre Arbeit niedrig entlohnt werden und die zudem auf globaler Ebene überproportional oft Vertreter*innen der BIPoC-Community sind, während diese in den besser dotierten Jobs an der Universität nach wie vor die Ausnahme darstellen. (Vgl. Penny 2011) Unter dem Gesichtspunkt von Diversität ist es daher als zynisch zu betrachten, dass Geringverdiener*innen durch ihre harte Arbeit schlussendlich ein von struktureller Diskriminierung geprägtes System aufrechterhalten, welches zudem BIPoC-Wissenschaftler*innen aufgrund der besonderen Wucht, die intersektionale Diskriminierung in ihrem Fall entwickelt, ausschließt.11 Darüber hinaus wird auf

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welches gesellschaftliche Vorstellungen von ›guten‹ Ehefrauen und Müttern entscheidend geprägt hat und sich unter Umständen bis heute in der Tatsache auswirkt, dass Lehrerinnen nach der Familiengründung oft in Teilzeit arbeiten. Obgleich die letzten beiden Punkte durchaus auf alle Wissenschaftler*innen zutreffen, entfalten diese Aspekte im Zusammenhang mit der strukturellen Diskriminierung von Frauen eine besondere Wucht. In diesem Zusammenhang möchten wir auf den Mangel an Fördermöglichkeiten für nichtbinäre Menschen und Transfrauen hinweisen, die von Frauenförderprogrammen weiterhin ausgeschlossen sind. Der für die feministische Theorie bedeutende Begriff der ›Intersektionalität‹ wurde von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw (1989) geprägt, um das Zusammenwirken verschiedener Formen gesellschaftlicher Ungleichheit sichtbar zu machen. Crenshaws Ansatz geht davon aus, dass es nicht genügt, jeweils nur eine Form der Diskriminierung (zum Beispiel Geschlecht, Ethnizität oder Behinderung) anzugehen, sondern dass durch Ver-

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diese Weise vielen weißen Wissenschaftler*innen beruflich und privat Emanzipation vorgegaukelt, wo jedoch keine ist, da privilegierte Akademiker*innen nicht vor ihrer eigenen Tür kehren – sondern kehren lassen – und Schwarze12 Frauen, BIPoC und Frauen mit Behinderung zurecht darauf verweisen, dass eine reine Frauenförderungspolitik intersektionale Unterdrückungsmuster häufig noch verstärkt. Verschränkte Unterdrückungsverhältnisse sind zwar immer systemisch bedingt, sie lassen sich jedoch häufig nur schlecht durch systematische Strukturveränderungsprozesse angehen, beziehungsweise sie erfordern ein auf individuelle Bedürfnisse ausgerichtetes Umdenken, das innerhalb etablierter Institutionen nur schwer zu leisten ist. Während seit der Änderung des Hochschulrahmengesetztes Mitte der 1980er Jahre die Beseitigung der Nachteile für Frauen an Hochschulen gesetzlich geregelt ist und mit den Gleichberechtigungsgesetzen der 1990er Jahre vielerorts Frauenbeauftragte und Gleichstellungsbüros ihre Arbeit aufnahmen, ist die allgemeine Gleichbehandlung von Menschen und die Beseitigung von »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität« erst seit 2006 in § 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) festgeschrieben.13 Viele Universitäten haben zudem erst in den letzten Jahren mit dem Aufbau von Diversitätsbüros begonnen, um der komplexen Situation verschiedenster gelebter Realitäten und Formen von Diskriminierung auch von institutioneller Seite zu begegnen. Dies erweist sich jedoch in der Praxis häufig als schwierig. Zum einen ist das Gesetz vor allem auf systemische Benachteiligungen von offizieller Seite (also zum Beispiel durch Firmen und Bildungsinstitutionen) ausgerichtet und deckt eher grundlegende Zugangshemmnisse als individuelle Diskriminierungserfahrungen ab. Zum anderen lassen sich persönliche Erfahrungen mit Diskriminierung häufig nicht (oder zumindest nicht allein) auf die im Gesetz beschriebenen Kategorien herunterbrechen – wodurch gezielte Antidiskriminierungsarbeit erschwert wird. Auch hier ist ein intersektionaler Ansatz besonders wichtig.

Wen Wissen schafft: Wer aus welchen Gründen die Universität verlässt Die »21. Sozialerhebung zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der Studierenden in Deutschland« (2016) zeigt, dass die soziale Herkunft aus einem Haushalt mit

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schränkungen und Überschneidungen verschiedener Unterdrückungssysteme für die Betroffenen besondere Benachteiligungen entstehen können. Schwarz wird in diesem Artikel großgeschrieben und »beschreibt weder die reelle Hautfarbe noch biologische Eigenschaften einer Person, sondern steht für eine positiv konnotierte politische und kollektive Selbstbezeichnung.« (Mokas 2019) Der im Gesetz festgelegte Begriff ›Rasse‹ ist politisch umstritten.

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gehobenem (30 %) oder hohem (28 %) Bildungsstand und die damit häufig einhergehende finanzielle Unterstützung der Eltern (über 80 %) wichtige Faktoren für den Hochschulzugang und den Studienerfolg darstellen. (Vgl. Middendorf et al. 2016) Dieses Muster wird im Laufe der akademischen Karriere umso deutlicher: Schaffen es von 100 Kindern aus Akademikerfamilien immerhin noch 45 zum Master und zehn bis zur Promotion, sind es im Vergleich dazu nur acht von 100 Kindern aus Nichtakademikerfamilien, die es bis zum Master schaffen, und gerade einmal eines zur Promotion. Das Geschlecht spielt spätestens an dieser Stelle auch wieder eine Rolle als Ausschlussfaktor. Liegen Frauen bei den Studienanfänger*innen und Absolvent*innen an Universitäten inzwischen zahlenmäßig vorn, schwindet dieser Vorsprung mit zunehmendem Bildungsgrad,14 und der Anteil der Frauen bei Professuren an Universitäten stagnierte im Jahr 2018 bei 24 Prozent.15 Einige Diversitätskriterien, wie zum Beispiel Behinderungen und chronische Krankheiten, wurden zwar in der Sozialumfrage berücksichtigt (hier lag der Anteil in der Studierendenschaft in ganz Deutschland bei elf Prozent) werden aber aus datenschutzrechtlichen Gründen von Universitäten nicht erfasst, was allgemeine Aussagen darüber erschwert, wie diese Gruppen auf den weiteren Stufen des Universitätsbetriebs vertreten sind. Im Hinblick auf die Frage, wen Wissenschaft schafft, zeichnet die Sozialumfrage dennoch ein sehr deutliches Bild des bewussten oder unbewussten ›Aussiebens‹ nach Diversitätskriterien wie Geschlecht, soziale Herkunft oder Migrationshintergrund. Um diese Umstände zu wissen und sich dem damit verbundenen Druck tagtäglich ausgesetzt zu sehen, wirkt nicht nur ermüdend, gelegentlich entlädt sich der aufgestaute Druck auch in einer Art und Weise, die von außen gern als wütend oder überdramatisch empfunden wird, innerhalb der beschriebenen Strukturen aber durchaus erklärbar ist. Sara Ahmed beschreibt diese Entladung als feminist snap: der Moment, in dem Frauen sich mit scharfer, gereizter Stimme äußern, der Moment, in dem sie deutlich machen, dass sie mit dem Gesagten, Getanen, Geschriebenen, Suggerierten nicht einverstanden sind, der Moment, in dem sie zurückschnappen. (Vgl. Ahmed 2016b: 188-200) Oftmals, so Ahmed, führt dieser feminist snap zu einem Bruch, beispielsweise mit Kolleg*innen oder der Familie oder, wie in ihrem Fall, mit einer Institution. Ahmed, zum Zeitpunkt ihres feminist snap Professorin und Direktorin des Centre for Feminist Research am Goldsmiths College der University of London, trat öffentlich von ihrem Posten zurück, um deutlich zu machen, dass sie die Art und Weise, wie Goldsmiths Fälle sexueller Belästigung handhabt, für zutiefst verachtungswürdig hält. (Vgl. Ahmed 2016a) Im selben Zuge prangert Ahmed an, dass sexuelle Belästigung innerhalb des Wissenschaftsbetriebs als normal gilt, gar normalisiert und als Teil der Wissenschaftskultur hingenommen wird. In 14 15

Tabelle 2.5.20; Tabelle 2.5.46. Etwas mehr Professorinnen an den Hochschulen.

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ihrem Blog findet sie dafür deutliche Worte: »This [sexual harassment] was an issue of institutional culture, which had become built around (or to enable) abuse and harassment.« (Ebd.) Ahmeds Worte verdeutlichen, wie sehr der Glaube, Universitäten seien Orte, an denen sich Menschen – Lehrende, Forschende, Studierende, Verwaltende – ausschließlich hehren, geschlechtergerechten, nichtdiskriminierenden Idealen verschreiben und auch nach diesen handeln, fehlgeleitet ist. Zudem weisen sie darauf hin, dass diejenigen Mechanismen, die die kulturellen Normen der Gesellschaft formen, auch vor der Universität, dem vermeintlichen Elfenbeinturm – oder, um mit Sylvia Burrow zu sprechen, dem »phallic tower« (Burrow 2012: 339) – nicht haltmachen. Ahmed setzt sich seit Jahren für die Etablierung institutioneller Maßnahmen ein, um der strukturellen Diskriminierung an Hochschulen entgegenzuwirken. (Vgl. Ahmed 2012: 4) Sie beschreibt ihre Arbeit in nüchternen Worten: »You come up against what others do not see; and (this is even harder) you come up against what others are often invested in not seeing.« (Ahmed 2016b: 138) Zahllose Beispiele aus verschiedenen universitären Kontexten bestätigen Ahmeds Erfahrung; zu finden sind sie unter anderem auf der Seite des Everyday Sexism Project unter dem Stichwort ›Academia‹ oder auf Twitter unter #MeToo_Academia. So schreibt beispielsweise eine Frau unter dem Pseudonym CC auf Everyday Sexism: After telling my boss about a string of several sexist, boderline [sic.] racist and innapropriate [sic.] ›casual consversations‹ [sic.] with an older male professor that shares my office twice a month, she shrugged it off by saying ›oh he will never change his ways, better to avoid him‹. (CC 2020) Verschlagwortet ist der Beitrag mit ›Academia‹, ›Culture‹, ›Japan‹, ›Sexism‹, ›University‹ und ›Workplace‹. Obwohl der Beitrag nur wenige Rückschlüsse über die Hintergründe zulässt, offenbart er vertraute Machtstrukturen mit hohem Normierungspotenzial. Statt auf die Beschwerde der Mitarbeiterin einzugehen, entledigt sich die Vorgesetzte ihrer mit einer lapidaren Erklärung à la ›Boys will be Boys‹, die das Verhalten des Professors bagatellisiert und ihn zugleich von jeglicher Verantwortung freispricht. Zudem hebt sie hervor, wie sehr die Vorgesetzte Sexismus und Rassismus internalisiert hat und damit zur Erhaltung des Status quo beiträgt. Clementine Ford erstaunt diese Erklärung für toxisch-maskulines Gebaren nicht. Sie schreibt: »Boys can and will be many things, but what the boys in our world are currently conditioned to be as a rule is entitled, domineering, sexist, privileged and, in all too many cases, violent.« (Ford 2019: 10) ›Currently‹ kann in diesem Fall gestrichen werden, da diese Form der Erziehung kein gegenwärtiges Phänomen darstellt, sondern Gesellschaften, mehr oder minder subtil, seit Jahrhunderten prägt. Diese Praxis erlaubt es auch, das vermeintliche Recht des Professors, Menschen wie CC zu diskriminieren, höher zu stellen als CCs Wohlergehen und Würde.

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Schafft Wissen! Feministische Praktiken an Universitäten Laura Bates, die Gründerin der Plattform Everday Sexism, und auch Tarana Burke, die den Slogan ›Me Too‹ prägte, der 2017 unter #metoo um die Welt ging, eröffneten Frauen die Möglichkeit, ihre Diskriminierungs- beziehungsweise Mehrfachdiskriminierungserfahrungen öffentlich zu machen, was wiederum dazu führte, dass für kurze Momente die Wucht der strukturellen Diskriminierung, die mit Sexismus, Rassismus, Ableismus,16 Klassismus (um nur einige Formen zu nennen) einhergeht, in den Vordergrund rückte. Während manche in diesen digitalen Bewegungen lediglich weitere Ausuferungen von slacktivism17 sehen, erkennen Kaitlynn Mendes und Jessica Ringrose in #metoo das Potenzial, nachhaltige Netzwerke basierend auf feministischer Solidarität, Unterstützung und Identität aufzubauen. (Vgl. Mendes/Ringrose 2019: 40) Dementsprechend nennen sie diese Orte des digitalen feministischen Aktivismus vernetzte feministische Gegenöffentlichkeiten (»networked feminist counter-publics«), die Frauen die Möglichkeit geben, im Alltag oder eben im Moment des feminist snap aktiv zu werden – und das über lokale oder regionale Grenzen hinaus. (Vgl. ebd.) Das Präfix ›gegen‹ verweist jedoch darauf, wie eng diese Formen des Widerstands an die Strukturen diskriminierender Machtausübung gebunden sind und wie schwierig es ist, diese Seite, die antifeministische ›Öffentlichkeit‹, nicht ex negativo zum Erstarken zu bringen. Die Erfahrung zeigt, dass der geschlechterpolitische Rückschlag nicht lange auf sich warten lässt. Feminist snaps nehmen im Wissenschaftsbetrieb verschiedene Formen an und führen zu verschiedenen feministischen Praktiken. Selina Todd, Geschichtsprofessorin an der Universität Oxford, hatte 2015 einen feminist snap auf einer geschichtswissenschaftlichen Konferenz, auf der Männer das Geschehen dominierten: Ihr Redeanteil war deutlich höher und die Expertise der anwesenden Frauen wurde in Frage gestellt. Die Erkenntnis, dass Frauen hier systematisch unterdrückt wurden, führte dazu, dass Todd und andere anwesende Wissenschaftlerinnen sich solidarisierten und im Anschluss an die Konferenz das Forschungsprogramm »Women in the Humanities« gründeten, mit dem Vorsatz, Feminismus in der Universität Oxford zu verankern und die Marginalisierung von Frauen als Gegenstand der Wissenschaft und als Wissenschaftlerinnen zu bekämpfen. (Vgl. Todd 2015) Wie Todd jedoch bemerkt, befinden sie und ihre Mitstreiterinnen sich in privilegierten Positionen, nicht nur, weil sie an einer der prestigeträchtigsten Universitäten der Welt

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Ableismus bezeichnet die diskriminierende Praxis, Menschen aufgrund einer Behinderung abzuwerten. Slacktivism bezeichnet die Praxis, politische oder soziale Ziele mit wenig persönlichem Einsatz zum Beispiel durch Zustimmung in den sozialen Medien zu unterstützen.

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arbeiten, sondern auch, weil sie im Besitz von hard cash sind – das Zentrum ist durch eine großzügige Spende finanziell abgesichert. (Vgl. ebd.) Auch die Res-Sisters, ein Kollektiv von neun britischen Nachwuchssoziologinnen, haben sich den Widerstand gegen die sexistischen und neoliberalen Strukturen der britischen Universitäten auf die Fahnen geschrieben. Bewusst treffen sie die Entscheidung, im Kollektiv zu arbeiten und zu publizieren,18 um der wettbewerbsfördernden Hyperindividualisierung des wissenschaftlichen Betriebs eine andere Form von Wissenserabeitung entgegenzusetzen. (Vgl. Res-Sisters 2019: 307) In ihrem Manifest erklären sie, welche Gründe sie motivieren und welche Schwerpunkte sie für ihre feministische Arbeit an der Universität setzen. Unter Punkt 1, »Embrace Collectivity and Nurture Allies,« plädieren sie dafür, dass Wissenschaftler*innen, statt in der Rolle des wissenschaftlichen Stars aufzugehen, sich als Teil einer zusammenhängenden Forschungsgemeinschaft verstehen sollten, die nur gemeinsam die Ungerechtigkeiten in und außerhalb der Universität bekämpfen kann. (Vgl. ebd.) Der Fokus liegt hierbei auf einem Ethos der Kollektivität (»ethos of collectivity«), einer Gesinnung, die vom Glauben an die Wirksamkeit kollektiven Handelns geprägt ist. (Vgl. ebd.: 309) Wie auch die Gruppe um Selina Todd reflektieren die Res-Sisters ihre Privilegien, allen voran das Privileg, weiß zu sein, doch auch solche, die sich aus ihren Klassenzugehörigkeiten beziehungsweise ihren akademischen Anstellungen ergeben. Unter Punkt 4 des Manifests, »Recognising our Power and Privilege,« zeigen die Res-Sisters, dass feministische Arbeit an der Universität nur von Bedeutung sein kann, wenn die eigenen Privilegien dazu genutzt werden, die Türen der Universität auch historisch marginalisierten Gruppen zu öffnen. Ein Beispiel dafür könnte sein, Angehörigen dieser Gruppen Plattformen zu bieten, von denen aus diese gehört werden können – und sich selbst dabei in den Hintergrund zu stellen. Im gleichen Zuge ist es jedoch zentral, diesen Personen nicht die Verantwortung für mögliche Konflikte, beispielsweise im Zusammenhang einer öffentlichen Diskussion, aufzubürden. (Vgl. ebd.: 315) Auch Ahmed setzt sich dafür ein, Frauen und historisch marginalisierten Gruppen Sichtbarkeit zu verschaffen. Ein Punkt (von vielen), an dem sie ansetzt, ist die Praxis des Zitierens in wissenschaftlichen Arbeiten, vor allem die Unterstützung von Wissenssystemen und Strukturen durch wiederholtes Zitieren. Durch die Sichtbarmachung in Bibliografien, Literaturverweisen und Fußnoten können Wissenschaftler*innen aktiv dazu beitragen, die Expertise

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Die Verfasserinnen dieses Artikels sehen sich ebenfalls in dieser Tradition und machen darüber hinaus gemeinsam, als drei weiße Frauen mit und ohne Behinderung, auf die Absenz all jener Kolleg*innen aufmerksam, die, aus verschiedenen, jedoch meist strukturellen Gründen, nach der Promotion nicht mehr für ihre Arbeit an der Institution Universität bezahlt werden.

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nicht hauptsächlich bei älteren weißen Männern zu verorten. Ahmed betont: »Citation is feminist memory.« (Ahmed 2019b: 15) Indem Wissenschaftler*innen bewusst Frauen zitieren, solidarisieren sie sich mit denjenigen, die vor ihnen schrieben. Anfang der Nullerjahre bildete sich in den USA ein weiteres wissenschaftlichaktivistisches Kollektiv, das Crunk Feminist Collective (CFC). Während die ResSisters den Fokus ihres Aktivismus auf die Institution Universität legen, stellen sich die Mitglieder dieses zweiten Kollektivs breiter auf. In ihrer Selbstbeschreibung postulieren sie: We unapologetically refer to ourselves as feminist because we believe that gender, and its construction through a White, patriarchal, capitalist power structure, fundamentally shapes our lives and possibilities as women of color across a range of sexual identities. (Cooper/Morris/Boylorn 2016: XIX) Aus dieser Position analysieren die Mitglieder des Kollektivs Alltagsituationen, politische Missstände und persönliche Begebenheiten stets mit Blick auf Rassismus und Genderdiskriminierung. Mit ihrem Aktivismus schaffen sie eine Solidaritätsgemeinschaft, die über die Grenzen der Universität reicht. Ihre Veröffentlichungen zielen dabei darauf ab, Rassismus, Sexismus, Ableismus und Klassismus sichtbar zu machen und BIPoC zu stärken – im Wissenschaftsbetrieb wie auch im Alltag. Diese Form der Stärkung beziehungsweise der Ermächtigung kann auch an Universitäten feministische Praktiken befördern, welche die patriarchalen Strukturen einer Gesellschaft wie auch einer Einrichtung herausfordern, indem sie Möglichkeiten schaffen, diese Strukturen zu erkennen, zu benennen, Gegenstrategien zu entwickeln, sich zu vernetzen und Kraft zu tanken. Im Folgenden möchten wir auf eine solche Möglichkeit, feministische Praktiken an Universitäten weiter zu etablieren, eingehen. Im Wintersemester 2018 starteten die Autorinnen dieses Artikels gemeinsam eine Veranstaltungsreihe am Englischen Seminar der Universität Tübingen, die sich zwischen Lunch&Learn-Sitzungen, Empowerment und feministischem Consciousness-Raising verortete: den, wie er sich zunächst nannte, »Issues Lunch Club.« Der Veranstaltung lag die Idee zugrunde, einen informellen (und während Corona virtuellen) Ort zu schaffen, an dem Studierende und Lehrende gemeinsam ihren anti-diskriminierenden Blick auf ihre Umwelt schärfen würden, indem sie Empfindungen artikulieren und im Hinblick auf Machtstrukturen analysieren würden. Im Fokus stand primär, mit- und voneinander zu lernen und verschiedene Themenfelder, beispielsweise diverse Geschlechtsidentitäten, Ableismus, sexistische Diskriminierung in der Medizin oder den Medien, gemeinsam zu bearbeiten. Erklärtes Ziel der Initiatorinnen war und ist es, hierarchische Gefälle zwischen Lehrenden und Studierenden abzubauen, sich respektvoll auf Augenhöhe zu begegnen und feministische Bildung stets mit Blick auf Intersektionalität

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zu vermitteln und zu praktizieren. Von der ersten Sitzung an stand fest, dass die Reihe ein Experiment mit unklarem Ausgang sein würde, da es zumindest in der jüngsten Geschichte des Englischen Seminars der Universität Tübingen keine Veranstaltung mit ähnlichem Format gegeben hatte. Die Organisation erfolgt bis heute ehrenamtlich19 und die Veranstaltung steht allen Interessierten offen. Die Umbenennung des Lunch Clubs in »Issues Network« verdeutlicht die Entwicklung dieses Projekts, das sich zunehmender Popularität erfreut und durch die aktive Gestaltung der Studierenden dynamisch und dezentral organisiert bleibt. Wir möchten an dieser Stelle mit einigen Gedanken und Vorstellungen zu einer intersektional-feministisch organisierten Universität enden, die wir zum Teil in einer anonymen Umfrage unter einigen Teilnehmer*innen des Issues Networks gesammelt haben. Diese positiven Visionen einer universitären Zukunft, die frei oder zumindest freier von Diskriminierung ist, sind jedoch nicht als Utopien, sondern als Richtschnur zu verstehen, die für viele Teilnehmer*innen bereits jetzt ihr Denken und Handeln im universitären Alltag leitet.

Wie könnte eine Universität nach intersektional-feministischen Prinzipien aussehen und funktionieren? • •





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Die Universität und ihre Räume wären nach diversen Denker*innen, Aktivist*innen, Forscher*innen und Persönlichkeiten benannt. Diversität wäre nicht nur auf dem strukturell vorgegebenen Mindestmaß toleriert, um bereits bei der Anstellung auf die Anpassung an streng gehütete Wissensstrukturen und eine rigides Bild des Wissenschaftlers zu pochen, sondern Diversität würde auf allen Ebenen als Chance gesehen, die Pluralität von Wissensstrukturen und Systemen der Wissensvermittlung abzubilden und Lehrenden und Lernenden die Möglichkeit zur Weiterentwicklung im Rahmen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse zu geben. Sorgearbeit wäre kein notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung defizitärer Strukturen, sondern Teil einer nicht-hierarchischen epistemologischen Praxis, die Lehrende und Lernende verbindet und kollektive Erkenntnisgewinne ermöglicht. Dabei würde die proaktive und effektive Unterstützung einer diversen Population von Studierenden und Lehrenden als wichtige Kompetenz verstanden und adäquat honoriert und anerkannt.

Damit reiht sie sich in die vielen Beispiele von Frauen unvergütet verrichteter emotional labor ein, was von den Initiatorinnen zwar kritisch gesehen, aber – wie ebenfalls so oft – ›für die Sache‹ dennoch pragmatisch gehandhabt wird.

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Es gäbe eine weiter gefasste Vorstellung von ›Produktivität‹, die unterschiedliche Arbeitsansätze berücksichtigt und begrüßt. Hierzu bedarf es eines dynamischeren Begriffs von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit. Angehörige der Universität würden ihre eigene Rolle noch stärker reflektieren und sich aktiver dafür einsetzen, historisch marginalisierten Gruppen Sichtbarkeit und Gehör im universitären und außeruniversitären Kontext zu verschaffen. Dies würde bedeuten, die eigene Sichtbarkeit und die eigene Stimme teilweise bewusst für das Ideal eines kollektiveren Wissenschaftsbegriffs zurückzunehmen. Die Universität würde kontinuierlich ihre Geschichte, ihr Fundament und ihre internen Vorgänge im Hinblick auf gesellschaftliche Entwicklungen kritisch und ergebnisoffen diskutieren.

Dieser Aufsatz sieht sich als Beitrag, den oben genannten Visionen ein Stück näher zu kommen.

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Diskriminierungsschutz aktiv gestalten: Herausforderungen und Möglichkeiten für Hochschulen Nathalie Schlenzka im Gespräch mit Andreas Foitzik

Andreas Foitzik (AF): Nathalie, Du arbeitest bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes als Referentin für Forschung und hast Dich in den letzten Jahren auch sehr viel mit dem Thema Antidiskriminierung an Hochschulen und Universitäten beschäftigt. Die Forschungslage zum Thema Diskriminierung an Hochschulen ist übersichtlich: Es gibt einige Studien, aber so richtig repräsentativ ist das alles nicht. Aber wenn man sich trotzdem einmal die vorhandenen Studien anschaut, wie relevant ist das Thema für Hochschulen?   Nathalie Schlenzka (NSch): Du hast das Hauptproblem ja schon angesprochen. Was wir schon lange bemängeln, ist, dass es keine systematischen Daten zu Diskriminierung im Hochschulbereich gibt. Es gibt zum Beispiel keine Umfrage, die Daten zu Diskriminierungserfahrungen an allen deutschen Hochschulen erhebt. Deswegen können wir nur auf eigene Daten schauen. Wir haben mehr als 600 Fälle zu Diskriminierungserfahrungen an Hochschulen aus der Betroffenenumfrage, die 2015 vom Berliner Institut für Integrations- und Migrationsforschung (BIM) in unserem Auftrag gemacht wurde, (vgl. Beigang et al. 2017: 147ff.) angeschaut. Da kann man eigentlich ganz klar erkennen – und das deckt sich im Übrigen auch mit anderer Forschung in diesem Feld (vgl. Klein/Rebitzer 2012: 118ff.; Müller et al. 2011) –, dass es um zwei Problembereiche geht. Das eine ist die Leistungsbewertung. Studierende melden immer wieder, dass ihre Leistungen ungleich bewertet werden in Bezug auf das Geschlecht – also eine weibliche Studierende im Vergleich zu einem männlichen Studierenden – oder in Bezug auf die ethnische Herkunft – also nicht-deutsche oder nicht-weiße Studierende im Vergleich zu einer*m deutschen oder weißen Studierenden. Und das zweite große Thema ist die Belästigung. Studierende berichten, dass sie abwertende Bemerkungen hören, gemobbt oder beleidigt werden. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Diskriminierung nicht nur von Kommiliton*innen, sondern häufig auch, in der Lehre, von Dozent*innen und Professor*innen ausgeht. Ein großes Problem dabei ist – und das zieht sich eigentlich

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auch quer durch die Studien, die wir kennen –, dass das Thema zwar bekannt ist, aber an den Unis nicht wirklich wahrgenommen oder ernst genommen wird, weil sich die Studierenden häufig gar nicht beschweren können; entweder, weil es gar keine Anlaufstellen gibt, sie also nicht wissen, wo sie sich beschweren sollen, oder, weil sie aufgrund der Machtverhältnisse an den Hochschulen befürchten, dass es negative Auswirkungen für sie haben könnte, wenn sie sich beschweren. Wir können hier also festhalten: Ja, es gibt Diskriminierung an den Hochschulen, aber sie wird kaum öffentlich thematisiert, weil es sehr schwer ist, sich zu beschweren beziehungsweise dagegen vorzugehen.   AF: Zu der Frage, inwieweit Hochschulen der Verpflichtung aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nachkommen und zumindest für die Beschäftigten eine Beschwerdestruktur aufgebaut haben, hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eine Umfrage gemacht. Was kam dabei heraus? Wie viele Hochschulen beschäftigen sich denn mit dem Thema und mit welchen Schwerpunkten?   NSch: Da muss man ganz klar unterscheiden. Wenn man sich die Verpflichtung nach dem AGG ansieht, also eben die Verpflichtung, zum Beispiel eine Beschwerdestelle für Beschäftigte einzurichten, kann man sagen: Ja, es ist mindestens ein gutes Mittelmaß erreicht. Ungefähr die Hälfte der Hochschulen, die wir damals erreicht haben, haben bestätigt, dass sie eine Beschwerdestelle gemäß § 13 AGG eingerichtet haben. (Vgl. ADS 2020: 39) Das ist erstmal schon ganz okay. Nicht alle dieser Beschwerdestellen sind aber auch geöffnet für die Studierenden, und das ist ja das große Problem: Gibt es eine Stelle, bei der sich Studierende im Fall von Diskriminierung an der Hochschule beschweren können? Haben die Studierenden auch Zugang zur AGG-Beschwerdestelle und wie ist dies geregelt? Und: Funktionieren die Beschwerdestellen, die es gibt, denn auch? Wenn man sich das im Detail anschaut, sieht man: Sie werden von den Betroffenen meist kaum genutzt, es gibt sehr wenige Beschwerden, die bei den Beschwerdestellen ankommen. Und das liegt eben daran, dass sie häufig bei Studierenden und anderen Hochschulangehörigen nicht bekannt sind. Es kann aber auch daran liegen, dass nur rund ein Drittel der Hochschulen, die eine Beschwerdestellen gemäß § 13 AGG haben, auch ein konkretes Beschwerdeverfahren festgelegt und veröffentlicht haben. (Vgl. ebd.: 42) Und so ein Verfahren ist wichtig, damit sich betroffene Studierende oder Beschäftigte das auch vorher anschauen können und wissen: Was kommt da auf mich zu, wie funktioniert das? Und mein Eindruck ist, dass es zum Teil auch wenig Vertrauen in diese Beschwerdestellen gibt, was auch daran liegen mag, dass sie häufig im Justitiariat oder bei der Personalabteilung angesiedelt sind. (Vgl. ebd.: 43) Und da stellen sich dann Fragen wie: Wie geschützt bin ich da, und nützt mir das Ganze, und soll ich mich da wirklich hinwenden? Wir sehen also: Auch wenn es eine Beschwerdestelle gibt, könnte die konkrete praktische Umsetzung noch deutlich verbessert werden.

Diskriminierungsschutz aktiv gestalten: Herausforderungen und Möglichkeiten für Hochschulen

AF:  Wir können an dieser Stelle schon einmal festhalten: Es gibt auf der einen Seite nach der Studienlage ein erhebliches Maß an Diskriminierung, und es gibt auf der anderen Seite kaum Beschwerdemöglichkeiten. Wenn ich es richtig gelesen habe, habt ihr bei eurer Umfrage nur von der Hälfte der Hochschulen eine Rückmeldung auf eure Umfrage bekommen, nur etwa die Hälfte davon hat überhaupt eine Beschwerdestelle eingerichtet und davon wieder ein großer Teil eher nur auf dem Papier. Man kann auch sagen, dass nach 14 Jahren, in denen die gesetzliche Verpflichtung besteht, eine Beschwerdestelle einzurichten, der Anteil der Hochschulen, die das überhaupt nicht gemacht haben, erschreckend groß ist. Da sind Hochschulen vermutlich vergleichbar mit anderen Behörden und Unternehmen. Trotzdem kann man hier einmal festhalten, dass vermutlich weit über die Hälfte der Hochschulen ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht nachkommen und auch die, die das AGG schon umsetzen, die Struktur nicht so aufstellen, dass sie wirklich wirksam wird.   NSch: Ja, das könnte man so interpretieren, wobei ja in unserer Umfrage nicht alle Hochschulen geantwortet haben und daher umfassende, verlässliche Zahlen fehlen. Auch ist die Umfrage schon eine Weile her, so dass es hoffentlich in der Zwischenzeit positive Entwicklungen gab.   AF: Du hast ja schon angesprochen, dass die gesetzliche Lage noch einmal zwischen den Beschäftigten und den Studierenden unterscheidet. Vielleicht kannst Du uns zu den für die Hochschulen relevanten gesetzlichen Grundlagen einen kurzen Überblick geben?   NSch: Das AGG formuliert neben dem Antidiskriminierungsschutz durch die Beschwerdestellen (vgl. § 13 AGG) noch weitere Schutzpflichten. Die Beschäftigten müssen über ihren Diskriminierungsschutz informiert werden, es gibt präventive Maßnahmen, wie zum Beispiel Schulungen zum Thema Diskriminierungsschutz, (vgl. § 12 AGG) sowie die sogenannten positiven Maßnahmen, die auch Hochschulen als Arbeitgeberinnen ermöglichen, unterrepräsentierte Gruppen zu unterstützen und eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. (Vgl. § 5 AGG) Dies gilt nach dem AGG allerdings zunächst nur für die Beschäftigten, nicht für die Studierenden. Gleichzeitig sind Hochschulen als staatliche Einrichtungen – und das wird oft vergessen – natürlich auch an das Grundgesetz, konkret hier Art. 3 Abs. 3, gebunden. Insofern gibt es auch einen Diskriminierungsschutz für Studierende, überhaupt für alle anderen Menschen an der Hochschule. Damit dieser besser wirksam wird, sollte er auch konkret in den Hochschulgesetzen umgesetzt werden. Und da ist es schon sehr bedauernswert, dass nur einige wenige Bundesländer wie Schleswig-Holstein, Hamburg oder Baden-Württemberg so einen umfassen-

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den Schutz in den Hochschulgesetzen verankert haben. Eine solche Verankerung macht den Hochschulen natürlich viel expliziter klar: Hier gibt es ein Diskriminierungsverbot, es gibt einen Diskriminierungsschutz, der eben alle Menschen an der Hochschule umfasst. Die Alternative wäre das Modell Berlin, das im Juni 2020 ein Landesantidiskriminierungsgesetz erlassen hat, das auch den Bildungsbereich komplett umfasst und durch das auch Studierende Schutz genießen. Es braucht auf jeden Fall auch auf Landesebene eine Regelung, damit eben die Hochschulen, die nicht von sich aus aktiv werden, ein klares Signal bekommen, dass auch ein Diskriminierungsschutz für Studierende und Promovierende, also für alle, die nicht in einem Arbeitsverhältnis zur Hochschule stehen, notwendig ist. Positiv zu erwähnen ist, dass das Bundesland Hessen die Hochschulen im Land dazu aufgefordert hat, Richtlinien zum Diskriminierungsschutz zu erlassen, die alle Hochschulangehörige umfassen, und den Hochschulen dafür eine Musterrichtlinie zur Verfügung gestellt hat.   AF: Vielleicht können wir hier nochmal kurz etwas ausholen: Wie kam es denn, dass bei der Formulierung des AGG der ja doch zentrale Bildungsbereich, also Schulen und Hochschulen, nicht erfasst wurde?   NSch: § 2 AGG benennt zwar Bildung auch als Anwendungsbereich, aber da Bildung in Deutschland Ländersache ist, sah die Bundesregierung hier keine gesetzgeberischen Möglichkeiten, den Bildungsbereich umfassend im AGG zu regeln. Aber es gab meines Wissens auch keine Initiativen um zumindest zu verdeutlichen, dass hier in Deutschland eine Schutzlücke für den Hochschulbereich in Bezug auf die Umsetzung der EU-Anti-Rassismus-Richtlinie entstehen könnte, die sich explizit auch auf den Bildungsbereich erstreckt. (Vgl. GEW 2016: 11ff.) In anderen Ländern, in denen Bildung auf der Bundesebene geregelt ist, wie zum Beispiel in Schweden, umfasst das Antidiskriminierungsgesetz natürlich auch den Bildungsbereich.   AF: Lass uns nun einmal diejenigen Hochschulen etwas näher anschauen, die das Thema trotz der etwas unklaren Gesetzeslage bereits angegangen sind. Welche Modelle siehst Du da?   NSch: Da kann man verschiedene Modelle unterscheiden. Auf der einen Seite gibt es Hochschulen – das sind eher die großen Hochschulen mit entsprechenden Ressourcen –, die in den letzten Jahren Diversity-Prorektorate oder DiversityBeauftragte installiert haben und dann irgendwann gemerkt haben, dass zu Diversity auch Antidiskriminierung gehört. Das hat meistens ein bisschen gedauert. Eine unterstützende Rolle hat hier das Diversity-Audit »Vielfalt Gestalten« des

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Stifterverbandes gespielt, an dem seit 2013 rund 50 Hochschulen teilgenommen haben. Das Audit hat zum Teil geholfen zu verdeutlichen: Ja, Antidiskriminierung ist ein Bereich, in dem sich Hochschulen im Kontext Diversity engagieren sollten. Dies war für einige Hochschulen ein Impuls anzufangen, im Bereich Antidiskriminierung zu arbeiten, und sie sehen das nun auch ganz klar als Teil ihres Portfolios im Bereich Diversity. Diese Hochschulen sind dann in dieser Hinsicht meistens auch besser aufgestellt, weil es Stellen gibt, die für Antidiskriminierung zuständig sind. Dann gibt es das genau gegenteilige Modell, bei dem eher bottom-up viel Kraft von Studierendenvertretungen, den Asten, ausging. Die haben konkrete Beschwerden von Studierenden vorliegen und sagen: So ist die Situation nicht mehr haltbar. Sie beginnen damit, Beratungsstellen aufzubauen, und versuchen, sich zu dem Thema in der Hochschule zu vernetzen. Die Studierendenvertretungen sind zwar häufig sehr aktiv, aber gleichzeitig viel schwächer als die meisten anderen Hochschulorgane, weil meist gar keine Finanzierung da ist und weil sie oft auch auf Widerstände von Seiten der Hochschulleitung stoßen. Dazwischen kann man einen Ansatz beobachten, der eher klassisch von der Gleichstellungsarbeit ausgeht. Die Gleichstellungsbeauftragten sind mit Anfragen aus allen Bereichen der Diskriminierung konfrontiert. Die Leute schlagen da auf, weil es eben keine Anlaufstellen für Studierende oder Beschäftigte gibt, die in Bezug auf ihre sexuelle Identität oder die rassistische Diskriminierung erleben. Manche Gleichstellungsbeauftragte haben angefangen, sich mit den Studierenden, mit der Verwaltung, mit Behindertenbeauftragten zu vernetzen, Runde Tische aufzubauen, andere Akteur*innen an den Tisch zu bringen. Sie sind als Gleichstellungsbeauftragte zwar nicht originär zuständig, haben diesen Dialog aber angestoßen. Und auf Grundlage dieser Runden Tische und dieser Arbeitsgruppen wurden dann Aktivitäten entwickelt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, die sehr früh so einen Runden Tisch gegründet hat. Andere Unis nennen das zum Bespiel auch ›Antidiskriminierungsrat‹ oder einfach ›Arbeitsgruppe Antidiskriminierung‹. Es gibt einige Hochschulen, auch kleinere, die anfangen, solche AGs zu gründen, die sich dann aber vielleicht auch nur ein- oder zweimal im Jahr oder einmal pro Semester treffen, um Aktivitäten zu besprechen.   AF: Und dann gibt es eben die Hochschulen, die einfach nur eine Stelle als Rucksackaufgabe vergeben – also keine Stellenanteile oder spezifischen Ressourcen für die Aufgabe vorsehen – und formell ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen, ohne diesen Bereich dann auch entsprechend auszustatten oder präventive Aktivitäten zu entwickeln.    

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NSch: So ist es. Das wäre für mich allerdings kein ›Modell‹, wenn ich sage: Ich ernenne einfach nur jemanden aus dem Personalreferat als AGG-Beschwerdestelle. Das hat ja keinerlei Durchschlagskraft.   AF: Inwieweit gibt denn das Gesetz vor, was über die reine Verpflichtung der Benennung einer Person als Beschwerdestelle hinaus getan werden muss?   NSch: Es ist relativ klar, dass, wenn jemand eine Beschwerde hat, diese Person die Möglichkeit haben muss, sich über Beschwerderegularien zu informieren; es muss möglich sein, die Beschwerde vorzutragen, und der Sachverhalt der Beschwerde muss ermittelt werden, indem geklärt wird, ob eine Diskriminierung vorliegt. Ermittelt werden heißt dann eben auch, dass Zeug*innen und der*die Verursachende befragt werden. Die Stelle muss dann eine Sachverhaltseinschätzung machen, zu einem Ergebnis kommen und sagen: Ja, hier hat eine Diskriminierung vorgelegen. Wenn dies so ist, muss die Stelle entsprechend einen Sanktionsvorschlag machen oder auf irgendeine Art und Weise einen Weg aufzeigen, wie Abhilfe zu schaffen ist. Diese Empfehlung kann dann vom Arbeitgeber, also in diesem Fall der Hochschule, umgesetzt werden. Das alles findet immer in Rückgriff auf die betroffene Person statt, diese muss mit einbezogen werden. Der ganze Prozess – und das ist ein schwieriger Punkt – soll so vertraulich wie möglich gehandhabt werden. Das Verfahren ist also relativ klar; trotzdem wird das nicht immer hundertprozentig so umgesetzt. Was eben nicht klar ist – und das ist der schwierigere Punkt –, ist, wer denn dieses Verfahren durchführen soll beziehungsweise wo die Beschwerdestelle angesiedelt ist.   AF: Was wäre denn Deine ganz persönliche Empfehlung für die Hochschulen? Wo sollte eine Beschwerdestelle angesiedelt sein?   NSch: Die Struktur, die aus meiner Perspektive sinnvoll sein könnte, ist eine Art ›Beschwerdekommission‹. Diese gibt es im Moment nur an sehr wenigen Hochschulen. Im Konkreten unterscheidet sich die Ansiedlung der Beschwerdestelle auch immer je nach Rahmenbedingungen und Größe der Hochschule. Aber es könnte zielführend sein, eine Beschwerdekommission einzurichten, die mit verschiedenen Personen mit verschiedenen Kenntnissen besetzt ist: wo ich vielleicht eine juristische Person habe, vielleicht aus dem Justitiariat, wo ich jemanden habe, die*der vielleicht schon lange Vertrauensarbeit an der Hochschule macht und deswegen eine gute Ansprechperson ist, wo ich vielleicht auch jemanden aus dem Gleichstellungsbereich habe und so weiter. Ziel wäre zum einen, dass Betroffene von Diskriminierung verschiedene Ansprechpersonen haben, an die sie sich wenden können, und zu andern, dass ich so eine Kommission habe, die dann aus verschiedenen Blickwinkeln und mit verschiedenen Kenntnissen den Sachverhalt er-

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örtern kann. Das heißt, ich habe dann die Vertrauensperson, die sagt: Ich bin relativ sicher, dass das eine rassistische Diskriminierung ist. Dann kommt aber noch die*der Jurist*in dazu und prüft die Situation von der Seite des Beamtenrechts. Ich glaube, es braucht Kenntnisse und Kompetenzen aus verschiedenen Bereichen. Man braucht Wissen zum AGG, man braucht allgemeines Wissen über Diskriminierung, man braucht Empathie, und das kann oft nur eine Gruppe von Personen leisten. Es gibt ein paar Hochschulen, die das so aufstellen. Die Hochschule Heilbronn oder die Universität Lübeck zum Beispiel.   AF: Was kann denn eine Hochschule tun, um bei Betroffenen die Bereitschaft zu erhöhen, sich zu beschweren? Im Grunde müsste eine Hochschule ja sagen: Gut, wir haben dieses Jahr nicht nur zehn, sondern zwanzig Beschwerden gehabt. Weil sie dann erst sehen könnte, ob das System funktioniert. Du hast schon angedeutet, dass es ein Grund sein kann, von seinem Beschwerderecht keinen Gebrauch zu machen, dass jede Beschwerde auch mit persönlichen Risiken verbunden ist. Die Angst ist da, dass man am Ende selber Schaden nimmt bei einer Beschwerde, vor allem wenn sie in Abhängigkeitsverhältnissen vorgebracht wird. Dies betrifft Angestellte und umso mehr Studierende. Wie müsste denn so eine Beschwerdestruktur aufgestellt sein, um das Risiko für die Personen, die sich beschweren wollen, abschätzbar zu machen?   NSch: Es ist auch nach meiner Sichtung und Beobachtung ganz klar, dass Beschwerdestellen an Hochschulen ohne Beratung überhaupt nicht funktionieren. Wenn eine Hochschule eine professionelle Antidiskriminierungsberatung oder wenigstens eine sehr gut geschulte Erstberatung anbietet, wird sie auch mehr Beschwerden haben. Also bevor es Beschwerdestellen braucht, braucht es Beratung, niedrigschwellige Beratung an den verschiedensten Punkten, und am besten wäre auch eine spezialisierte Antidiskriminierungsberatung, die es derzeit aber erst an einer Handvoll Hochschulen gibt. Nur wenn ich eine spezialisierte Antidiskriminierungsberatung habe, kann ich meinen Fall gut besprechen, kann ich einschätzen, welche Risiken mit einer Beschwerde verbunden sind, kann vielleicht auch entscheiden, von einer Beschwerde Abstand zu nehmen, weil es doch schwierig wird mit den Nachweisen der Diskriminierung, wenn zum Beispiel keine Zeug*innen anwesend waren und die Gefahr besteht, dass im Beschwerdeverfahren Aussage gegen Aussage steht und daher bei der Beschwerde nicht viel rauskommen würde. Ich kann in der Beratung aber auch überlegen, ob ich vielleicht niedrigschwelligere Mechanismen haben will, also zum Beispiel ein Gespräch mit der verursachenden Person in Begleitung der Beratungsstelle mit dem Ziel, eine Entschuldigung zu erhalten oder die Situation einfach nur zu klären. Und der große Vorteil ist: Wenn ich mich beraten lasse und meinen Fall vorbringe, wird er ja trotzdem

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dokumentiert, auch wenn ich dann keine formelle Beschwerde einlege. Jede Beratungseinrichtung an der Hochschule oder speziell die Antidiskriminierungsberatung kann dann trotzdem sagen: Wir hatten so und so viele Vorfälle und diese waren der und der Natur. Aber ich muss hier nicht meinen Namen angeben, muss mich auch nicht mit der verursachenden Person auseinandersetzen, wenn ich das nicht will. Es braucht an der Hochschule unbedingt eine Antidiskriminierungsberatung oder alternativ eine Kooperation mit einer externen Organisation, die klar geregelt ist. Dann könnte zum Beispiel die Studienberatung oder die psychologische Beratung, wenn dort ein Fall aufschlägt, sofort an eine externe Beratungsstelle verweisen und sagen: Hier, das sind die Fachleute für euch, da wendet ihr euch hin, bevor ihr ein Beschwerdeverfahren einleitet. Und die Antidiskriminierungsberatung kann die Betroffenen dann auch im Beschwerdeverfahren begleiten und sie stärken. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt. An den Hochschulen, an denen es eine Antidiskriminierungsberatung oder eine Kooperation mit einer externen Beratungsstelle gibt, wird man sehen, dass das Bewusstsein für die Thematik zunimmt und auch mehr Fälle zur Beratung kommen, die damit auch dokumentiert werden, und dass auch mehr Fälle im Beschwerdeverfahren landen.   AF: Der Unterschied zwischen Beratung und Beschwerde wäre ja zum einen, dass eine Beratung empathischer und parteilicher ist als es eine Beschwerdestelle sein kann, die ja neutral sein muss. Die Beratung gibt der ratsuchenden Person viel mehr Raum und muss nicht gleich in Vermittlungskategorien denken. Ein weiterer Unterschied ist, dass bei Beschwerdestrukturen angenommen wird, dass ich, habe ich erst einmal eine Beschwerde eingereicht, diese nicht wieder zurückziehen kann. Das ist dann gewissermaßen ein Automatismus, weil die Hochschule als Arbeitgeberin auch in gewissem Maße eine Fürsorgepflicht anderen gegenüber hat. Und wenn die Hochschule über eine Beschwerde den Hinweis bekommt, dass es einen Professor gibt, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, dann muss die Hochschule, selbst wenn die Beschwerde zurückgenommen wurde, gegen ihn vorgehen, und der konkrete Fall lässt sich dann vielleicht nicht mehr anonymisieren. Im Unterschied dazu kann ich in der Beratung selbst jeden Schritt entscheiden, den ich gehen will.   NSch: Der große Unterschied ist auf jeden Fall die Vertraulichkeit. Auf der Ebene der Beratung bleibt mein Fall immer vertraulich, solange ich das will. Es sei denn, ich sage der*dem Berater*in, dass ich eine Entschuldigung will und ein Gespräch mit der*dem Diskriminierungsverantwortlichen wünsche, weil ich glaube, wir können so eine Entschuldigung erreichen. Dann natürlich ist auch die Beratungssituation nicht mehr voll vertraulich, weil sich dann die betroffene Person mit der*dem Verursachenden an einen Tisch setzt.

Diskriminierungsschutz aktiv gestalten: Herausforderungen und Möglichkeiten für Hochschulen

Bei einer Beschwerdestelle hingegen ist der Vorgang eben von Anfang an nicht vollkommen vertraulich, weil auch die*der Verursachende ein Recht darauf hat zu erfahren, wer die Anklage erhebt. Ich muss als Verursacher*in die Möglichkeit haben mich zu wehren, wenn es sich um eine Fehlbeschuldigung handelt. Das ist das eine Problem. Aus diesem Grund ist es aus meiner Sicht wichtig, dass Betroffene zu einer Beratung gehen, bevor sie sich an die Beschwerdestelle wenden. Außerdem sollten Hochschulen Richtlinien zum Umgang mit Diskriminierung und sexueller Belästigung verabschieden, die klar festlegen, wer vor Diskriminierung geschützt ist und welche Formen von Diskriminierung verboten sind, welche Beratungsstellen unterstützen können, wie das Beschwerdeverfahren der AGG-Beschwerdestelle abläuft und welche Sanktionen im Falle von Diskriminierung greifen können. In diesem Bereich tut sich gerade einiges, und immer mehr Hochschulen verabschieden Richtlinien zum Diskriminierungsschutz, die auch Studierende umfassen. (ADS 2020: 26ff.) Im Normalfall gehe ich zur Beschwerdestelle hin, die Beschwerdestelle erklärt mir das Beschwerdeverfahren, und ich sage dann: Mir ist das und das passiert. Wenn ich dann merke, ich will doch nicht, ich will meine Beschwerde lieber zurückziehen, sollte die betroffene Person immer die Möglichkeit haben, die Beschwerde zurückzuziehen. Dies sollte bei einer Beleidigung genauso gelten wie bei gravierenden Diskriminierungen. Es sollte zumindest solange gelten, wie die Beschwerdestelle noch nicht ermittelnd tätig geworden ist. Wurde die Gegenseite, also zum Beispiel die*der verursachende Dozent*in, hingegen angehört oder Zeug*innen vernommen, kann sich der*die Beschwerdegegner*in auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen und verlangen, dass der Sachverhalt zu Ende ermittelt wird. Zu berücksichtigen ist auch, dass alles, was der Beschwerdestelle mitgeteilt wird, auch der*dem Arbeitgeber*in als Wissen zugerechnet werden kann. Das heißt, die Hochschule kann dann nicht mehr sagen, sie hätte nichts von der Situation gewusst. Erfährt die Hochschule als Arbeitgeberin von diesen gravierenden Diskriminierungen, aber die*der Betroffene möchte sich nicht mehr beschweren, kann die Hochschule als Arbeitgeberin zu vorbeugenden Schutzmaßnahen gemäß § 12 Abs. 2 AGG greifen. Die Hochschule kann zum Beispiel Schulungen für Beschäftigte anbieten. Es kann aber auch im Einzelfall die Pflicht bestehen, im Sinne von § 12 Abs. 1, 3 und 4 AGG die geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung, wie zum Beispiel eine Abmahnung oder Versetzung, zu ergreifen, um den Schutz der Betroffenen beziehungsweise zukünftiger Betroffener zu gewährleisten. Dies ist aber nur der Fall, wenn aufgrund der Schilderungen gegenüber der Beschwerdestelle mit großer Sicherheit davon auszugehen ist, dass Beschäftigte gegen das Benachteiligungsverbot verstoßen haben. Dabei muss die*der Arbeitgeber*in aber immer prüfen, welche Maßnahmen geeignet und angemessen sind und gleichzeitig dem Schutzbedürfnis der betroffenen Person am besten entsprechen.

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AF: Was kann eine Hochschule neben diesem zweistufigen Verfahren über Beratung und Beschwerde noch tun, um dazu beizutragen, dass dort, wo es Fälle von Diskriminierung gibt, diese tatsächlich auch gemeldet werden? Oder allgemeiner formuliert: Was können die Hochschulen dazu beitragen, dass die Diskriminierung, die es gibt, auch sichtbar und bearbeitbar wird?   Viele Hochschulen glauben nach wie vor nicht, dass es rassistische oder anNSch: dere Diskriminierung an ihren Einrichtungen gibt. Eine Möglichkeit, diese Annahme zu widerlegen und Diskriminierungserfahrungen sichtbar zu machen, sind Umfragen. Was ich aber genauso wichtig fände, wäre der Blick auf institutionelle Diskriminierungsrisiken. Wenn man schon ein paar Akteur*innen hat, die sich mit dem Thema beschäftigen wollen, kann man sich unterschiedliche Mechanismen an der Hochschule anschauen: Wie werden Noten vergeben? Wie ist der Zugang an der Hochschule gestaltet? Und so weiter. Dann könnte jeweils geprüft werden, was dieser Mechanismus für unterschiedliche Gruppen an dieser Hochschule bedeutet: Was bedeutet er für Studierende mit Behinderung, was für trans* Studierende? So können institutionelle Diskriminierungsrisiken identifiziert werden. Der Blick der Hochschule reduziert sich oft auf eine*n einzelne*n Dozent*in, die*der zum Beispiel jemanden beleidigt hat. Was tue ich dann? Ich verpflichte die Person, eine Schulung zu besuchen. Aber das ist nicht die Lösung. Um langfristig etwas zu ändern, müssen Hochschulen anfangen, sich ihre Mechanismen im Detail anzuschauen und zu erkennen, wo sich Strukturen negativ auswirken und benachteiligen können. Schulungen oder Fortbildungen schaden nicht und können auch für die Thematik sensibilisieren, sind aber meiner Meinung nach für sich allein nicht das richtige Instrument, weil Schulungen meistens eben nicht verpflichtend sind und nicht die richtigen Leute erreichen. Insofern ist es wirklich wichtig, diskriminierende Prozesse im Konkreten zu identifizieren und abzuändern. Ein anderer Punkt wäre, dass es top-down ein Signal von der Hochschulleitung geben muss, das klar macht: Diskriminierung ist verboten. Das betrifft euch alle, das betrifft auch die Hochschullehrkräfte. Diskriminierung kommt an Hochschulen vor. Das muss immer wieder in Reden oder in anderen Verlautbarungen gesagt und in Leitlinien und in Aushängen veröffentlicht werden. Und ich habe selten erlebt, dass das so klar an einer Hochschule formuliert wird. Aber es ist gerade an Hochschulen wichtig, dies immer wieder zu betonen: Nur weil ihr Wissenschaftler*innen seid und meint, sehr viel zu wissen, heißt das nicht, dass ihr nicht auch diskriminieren könnt und nicht Teil dieser Gesellschaft seid. Diese Grundhaltung ›Wir sind Exzellenz und der Wissenschaftsort ist neutral‹ steht einer Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Weg. Schließlich sind auch Aktivitäten zum Empowerment von Betroffen von Diskriminierung an Hochschulen wichtig, um diese zu stärken und zu unterstützen. Das

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können beispielsweise Empowerment-Workshops für Schwarze Studierende/Studierende of Color oder LSBTTIQ* Personen sein, welche diesen ermöglichen, sich über eigene Diskriminierungserfahrungen auszutauschen, Umgangsstrategien zu erarbeiten und sich zu vernetzten.   AF: Meine letzte Frage bekommt jetzt in Zeiten von Corona noch einmal eine besondere Bedeutung: Wenn eine Hochschule solche institutionellen Diskriminierungsmechanismen identifiziert hat, hat sie die Möglichkeit und nach dem AGG auch die Verpflichtung, positive Maßnahmen zu ergreifen, um strukturelle Diskriminierung abzubauen. Das heißt, die Idee, Gerechtigkeit bestehe dann, wenn möglichst alle gleich behandelt werden, ist eigentlich nicht die Idee des AGG. Mit anderen Worten: Eine ungleiche Behandlung in Form einer positiven Maßnahme kann notwendig sein, um Benachteiligungen von bestimmten Personengruppen auszugleichen. Sehe ich das richtig? NSch: Genau, das ist so, betrifft aber auch, wie ich bereits am Anfang gesagt habe, in erster Linie erstmal die Beschäftigten. Im Grunde müsste die Hochschule, nachdem sie Diskriminierungsrisiken identifiziert hat, angemessene Vorkehrungen schaffen, die Nachteile ausgleichen. Und ich glaube, es gäbe da neben dem AGG auch eine ganze Menge rechtlicher Optionen, wie zum Beispiel die UN-Behindertenrechtskonvention, auf die sich Hochschulen beziehen könnten. Die Frage, wo Ungleichbehandlung stattfindet und wo darauf mit angemessenen Vorkehrungen reagiert werden kann, wird an Hochschulen leider viel zu wenig diskutiert. Wäre dies anders, würden wir vielleicht in dem Bereich ein ganzes Stück vorwärtskommen.

Literatur ADS Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2020): Bausteine für einen systematischen Diskriminierungsschutz. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Bausteine_f_e_sys tematischen_Diskrimschutz_an_Hochschulen.pdf?__blob=publicationFile &v=2. Beigang, Steffen/Fetz, Karolina/Kalkum, Dorina/Otto, Magdalena (2017): Diskriminierungserfahrungen in Deutschland. Ergebnisse einer Repräsentativund einer Betroffenenbefragung. Hg. von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS). Baden-Baden: Nomos. www.antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Expertisen/Expertise_Diskriminie rungserfahrungen_in_Deutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=4.

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GEW Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (2016): Rechtlicher Rahmen für eine unabhängige Beschwerdestelle zum Schutz gegen Diskriminierung in Berliner Schulen. Rechtsgutachten im Auftrag der GEW BERLIN von Maryam Haschemi Yekani und Carsten Ilius. https://www.gew-berlin.de/public/ media/GEW %20BERLIN_Rechtsgutachten %20Schutz %20gegen %20Diskriminierung %20in %20Berliner %20Schulen.pdf. Klein, Uta/Rebitzer, Fabian A. (2012): »Diskriminierungserfahrungen von Studierenden. Ergebnisse einer Erhebung«, in: Daniela Heitzmann/Uta Klein (Hg.), Diversity konkret gemacht. Wege zur Gestaltung von Vielfalt an Hochschulen, Weinheim und Basel: Beltz, S. 118-136. Müller, Ursula/Kellmer, Ariana (2011): Diskriminierungserfahrungen von Studierenden. Ergebnisse der großen UDE-Studierendenbefragung. Zentrum für Hochschul- und Qualitätsentwicklung Universität Duisburg-Essen. http s://www.uni-due.de/imperia/md/content/zfh/studierendenbefragung/udestudierendenbefragung_diskriminierung_20122011_f.pdf.

Politische Hochschuldidaktik, Queer Theory und Antidiskriminierungspraxis: Eingreifende Bemerkungen Sebastian Engelmann/Gero Bauer

›Queer‹ – als kritische Perspektive auf die epistemologischen und ontologischen Bedingtheiten von einerseits Geschlecht und Sexualität und andererseits, von hier aus verallgemeinert, normativer gesellschaftlicher Strukturen generell – ist erst seit kurzer Zeit ein Thema in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft. (Vgl. Hartmann/Messerschmidt/Thon 2017; Kenklies/Waldmann 2016) Aktuelle Publikationen verweisen aber auf das zunehmende Bewusstsein für dieses Thema, das sich logisch konsistent nur durch eine Parteinahme bearbeiten lässt, die den Raum der Wissenschaft für das Politische bewusst öffnet und dieses reflexiv mitthematisiert, statt es abzutrennen oder zu negieren. (Vgl. Waldmann 2019) Auch die zunehmende Verwendung und Bearbeitung des Begriffs ›Queer‹ selbst ist allerdings wieder zu problematisieren – was oftmals ausbleibt –, da sie oft Gefahr läuft, die Wortbedeutung von ›Queer‹ als »Selbstbezeichnung von und für Menschen, die nicht heteronormativ leben« (Sow 2018: 331) in Verallgemeinerungen und Abstrahierungen aufzulösen. Anders gelagert als im deutschsprachigen Raum ist die Situation im Umfeld der englischsprachigen Education Sciences, in denen Queer schon lange insbesondere in qualitativen, auf die Erfahrungen von marginalisierten Studierenden und Lehrenden abhebenden Studien regelmäßig thematisiert (vgl. Rofes 2004; Rasmussen 2006; Renn 2010; DePalma 2013) und auch weiterführend und ambitioniert theoretisiert wird. (Vgl. Bryson/De Castell 1993; Britzmann 1995) Für Deutschland gilt aber nach wie vor: Queer als kritische Wissenskategorie ist in der Erziehungswissenschaft, gar mit einem hochschuldidaktischen Fokus, kaum Thema, obwohl sie als Lebensrealität und empowernde Selbstbezeichnung das Leben vieler Menschen bestimmt. Von daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die sich aktuell immer stärker als eigenständig forschende Disziplin herauskristallisierende Hochschulbildungsforschung, (vgl. Jener/Reinmann/Schmohl 2018) die in einem sonderbaren Verhältnis von Zu- und Abneigung zur Erziehungswissenschaft steht, von Verschiebungen in der erziehungswissenschaftlichen Theorielandschaft bis jetzt nur eingeschränkt

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Kenntnis genommen hat. Abgesehen von verstreuten Beiträgen einzelner Erziehungswissenschaftler*innen und einer bereits lang zurückliegenden Ausgabe der Zeitschrift für Pädagogik ist für die Erziehungswissenschaft die Hochschuldidaktik kaum Thema; (vgl. Reiber/Huber 2017) und ebenso ist die Erziehungswissenschaft für die Hochschuldidaktik selten der privilegierte Referenzpunkt. Dieser Beitrag sieht sich in der hier nur kurz skizzierten Gemengelage mit mehreren Herausforderungen konfrontiert. Zum einen ist Queer im deutschsprachigen Raum weiterhin kein klarer und normalisierter Bezugspunkt pädagogischer Theorieentwicklung. Zum anderen sind erziehungswissenschaftliche Interpretationen von Queer noch nicht in die hochschuldidaktische Forschung eingegangen. Stattdessen werden grundsätzlich kategorisierende, exkludierende und oftmals exotisierende Konzepte wie ›Diversität‹ oder ›Heterogenität‹ propagiert, die – wie hier zu zeigen ist – queere Positionen nicht oder zumindest nicht uneingeschränkt abbilden können. Unser Beitrag unternimmt den Versuch, Bausteine einer queeren Hochschuldidaktik zu liefern, die insbesondere die Dimension des Empowerments betont, um aufzuzeigen, wie eine queere Perspektive die Hochschuldidaktik um notwendige Aspekte der Antidiskriminierungspraxis ergänzen kann und welche Probleme sich dadurch ergeben. Dabei wird deutlich, dass Queer auf produktive Art und Weise sowohl konkret nicht-heterosexuelle beziehungsweise nicht-normative Geschlechter und Sexualitäten fokussiert als auch Zugänge zu einer generelleren Hinterfragung von Machtverhältnissen, gerade im Hochschulkontext, liefern kann. Diese beiden Stoßrichtungen einer queeren Didaktik beziehungsweise Pädagogik sind nicht ohne Weiteres miteinander vereinbar. Während Queer im (hochschul-)didaktischen Kontext einerseits auf eine im emanzipatorischen Sinn inklusivere Vermehrung von Wissen über Sexualitäten und Identitäten abzielen kann und soll, ist das Ziel der Queer Theory auch immer, »to conceptualise strategies that confound – through the very refusal of subjects to properly normalize themselves – the logic of institutional laws and the social practices that sustain these laws as normal and natural.« (Britzmann 1995: 151) Daher stellt sich für einen queeren Zugriff auf Didaktik immer auch die Frage, wie diese das Spannungsverhältnis zwischen praktisch-emanzipatorischen und theoretischen Fragen und Ansprüchen navigieren kann, ohne die Relevanz der Gleichzeitigkeit beider Perspektiven aus dem Blick zu verlieren. Um diese Bausteine mit Blick auf die Praxis zu skizzieren, nimmt unser Beitrag seinen Ausgangspunkt in der Theorie. In einem ersten Schritt werden wir das konzeptuelle Problem, das jeglichem Sprechen über Heterogenität, Inklusion und Diversität in pädagogischen Kontexten zugrunde liegt, hervortreten lassen: Jedwede Entscheidung für eine Parteinahme zugunsten der Wahrnehmung von Heterogenität, der Wertschätzung von Diversität oder auch des Sprechens über Inklusion ist immer eine Vereinfachung und zieht Ausschlüsse nach sich. Ebenfalls werden wir

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in diesem ersten Schritt Einblicke in den Forschungsstand der Hochschuldidaktik geben. In einem zweiten Schritt werden wir diese Überlegungen an Theorien der Inklusion rückbinden (vgl. Boger 2019a; Boger 2019b) und mit unserem Verständnis von Queer als zugleich dekonstruktiv und rekonstruktiv kombinieren. In einem dritten Schritt werden wir schließlich, im Wissen um die Probleme einer auf Empowerment fokussierenden hochschuldidaktischen Position, ebendiese in all ihrer Fragilität nachzeichnen. Den Beitrag verstehen wir dabei sowohl als wissenschaftlichen als auch als emanzipatorisch-politischen Text, denn schließlich geht es um die Veränderung der Lehr-, Lern- und Lebenswelten an Hochschulen auch im Angesicht von Widerständen.

Pädagogische Probleme: Fundierungen Die Hochschule ist kein machtfreier Ort; zugleich ist sie ein Ort der Freiwilligkeit. Obwohl Universitäten heute weitaus offener gestaltet sind als noch im frühen 20. Jahrhundert – beispielsweise im Hinblick auf den Zugang zum Studium oder auch den sich immer weiter ausdifferenzierenden Fächerkanon –, sind sie weiterhin auch Orte der Selektion und Exklusion, gehen sie doch historisch-systematisch auf die Vorstellung der ›Universitas‹ und ganz konkret räumlich auf einen Ort zurück, nämlich die Akademie Platons. Die Schule des Philosophen lag neben dem Hain des Akademos und war unweigerlich mit der Geschichte des Stadtstaates Athen und der Philosophie Platons verknüpft. (Vgl. Piper 1964) Ihrem Entstehungszusammenhang entsprechend ist die Universität stets mit gesellschaftlicher Differenzierung verbunden: Die Vorstellung einer Allgemeinheit mag zwar idealtypisch gegolten haben, empirisch war sie aber nicht der Fall – schon allein, weil sowohl die Akademie Platons als auch lange Zeit die moderne Universität rein männlich-homosoziale Räume waren. Als Teil eines formalisierten Ausbildungssystems beteuern Universitäten in ihren Leitbildern auch heute immer wieder ihren Willen zum Abbau gesellschaftlicher Unterschiede, obwohl sie gravierende, zum Teil notwendigerweise diskkriminierende Eingriffe in das individuelle Leben des Menschen im Namen des Akademischen vornehmen, das immer auch in seiner historischen Dimension zu reflektieren ist. So bleiben historischer Ort und akademische Praxis untrennbar miteinander verbunden. Eine erste Asymmetrie wird sichtbar, denn auch die Akademie Platons war zunächst eine selektierende, von einer Außenwelt getrennt existierende Institution, die klar zwischen denen unterschied, die sich einbringen durften, und denen, die nicht in die Philosophenschule aufgenommen wurden. Diese Asymmetrie gleicht systematisch, in aktualisierter Form, den Hürden, die auch heute noch zu überwinden sind, um die in Deutschland propagierte Bildungskarriere zu realisieren, von frühen Selektionen beim Übergang von der Primar- zur Sekundarbildung bis hin zu Hürden beim Zugang zu Hochschulen im

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Allgemeinen oder Studienfächern wie Medizin oder Pharmazie im Speziellen. Das Bildungssystem ist nicht ausschließlich die Lösung, sondern immer auch Teil des Problems. (Vgl. Al-Mafaalani 2020) Eine weitere Asymmetrie ergibt sich durch den Bezug auf das theoretische Verständnis der ›Universitas‹, welches auch die heutige Universität implizit leitet. Die Idee der ›Universitas‹ meint, dass eine Gemeinschaft aller Lehrenden und Studierenden besteht. Geeint sind die verschiedenen natürlichen Personen – gemeint ist der Rechtsbegriff, der ganz konkrete Menschen als ›natürliche Personen‹ bezeichnet – durch das Interesse an der Wissenschaft. Sie verfolgen letztlich ein gemeinsames Anliegen: den Wissenserwerb. Das ist die angenommene Normalität, die auch heute oft ausgerufen wird. Während dieses Ideal im frühen Stadium der Universitätsgeschichte vielleicht noch erreichbar schien – die Gemeinschaft wurde tatsächlich noch zwischen natürlichen, das heißt realen, physischen Personen hergestellt –, rückten im Verlauf der Zeit die natürliche Person und die korporative Akteurin Universität weiter auseinander. (Vgl. Coleman 1973: 88) Studierende an der modernen Universität treffen auf die Universitätsbürokratie als Barriere und werden stark durch Prüfungs- und Modulordnungen in ihren Entscheidungen gelenkt. Lehrende sind durch Regelwerke zugleich ermächtigt und gebunden; sie sind zwar abgesichert, aber auch unter Druck gesetzt, der ihnen zugewiesenen Funktion entsprechend zu handeln. In diesem Zustand befindet sich das Universitätssystem heute: Studierende interagieren nur in den seltensten Fällen mit Lehrenden als natürliche Personen im Sinne eines vollumfänglichen Mensch-Seins, also als komplexe individuelle Personen mit allen dazugehörigen Rechten, Pflichten, Bedürfnissen und Erwartungen. Begegnungen auf Augenhöhe zwischen Lehrenden und Studierenden außerhalb von Funktionsbeziehungen sind die absolute Ausnahme, was durch das vorstrukturierte Verhältnis innerhalb der Institution bedingt ist. Die Organisation Universität, welche Lehrende durch ihre Positionierung als Lehrende zuallererst in die Lage versetzt, in Bezug auf Studierende als Studierende zu handeln, bedingt eine asymmetrische Interaktion. (Vgl. Coleman 1982) Das bedeutet, dass trotz einer Vorstellung von Gemeinschaft Verhältnisse von Lehrenden und Studierenden in Universitäten immer in den Kontext eines Machtgefälles eingebunden sind. Auch wenn ein Ausgleich angestrebt wird, zeichnet sich die Relation primär durch diese Hierarchie aus. Trotz dieser Asymmetrie ist die Universität in ihrem Selbstverständnis kein Ort des Zwangs: Die Entscheidung zum Hochschulstudium selbst, für ein bestimmtes Fach sowie den Studienort ist zwar durch viele Faktoren entscheidend mitbestimmt (zum Beispiel durch den individuellen sozioökonomischen Hintergrund, einen Numerus clausus, unterschiedliche Berufsaussichten oder die Hoffnung auf sozialen Aufstieg), aber auch stark und explizit von den eigenen, individuellen Interessen geleitet. Und gerade diese Situation macht es im Vergleich zum Kontext Schule schwierig, eine klare, normative Position einzunehmen. Weil niemand zum

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Besuch der Hochschule verpflichtet wurde, wird davon ausgegangen, dass die Regeln der Hochschule von allen Beteiligten stillschweigend akzeptiert werden. Diese stillen Regeln des Feldes (vgl. Bourdieu 1996) besagen im Normalfall, dass die Universität als altehrwürde Institution Wissen zu vermitteln, die Persönlichkeit zu bilden und möglicherweise sogar eine Elite heranzuziehen habe: Die Exzelleninitiative beziehungsweise -strategie in Deutschland macht dieses letzte Ziel explizit und wirkt an der Reproduktion von sozialer Ungleichheit mit. (Vgl. Krüger/Schanze/Winter 2019; Hartmann 2015) Wissenschaftsverständnisse wie diese finden sich zuhauf in Leitbildern von Universitäten, sie werden disziplinspezifisch unterschiedlich stark aufrechterhalten und gehen mit Ausschlüssen und Diskriminierungen auf unterschiedlichen Achsen einher. Klar ist, dass sie eben nicht immer das erzeugen, was sie proklamieren. Auch die schönste Rede von der heterogenitätssensiblen Universität kann selbst verletzen und diskriminieren. Auf die Gefahr hin, ebenjene Diskriminierungen und Ausschließungen zu reproduzieren, seien nur zwei Beispiele genannt. Noch immer wird an Universitäten eine ›scharfe‹ und ›klare‹, letztlich ›rationale‹ Argumentationskultur gepflegt, die nicht nur diejenigen ausschließt, die ebenjener Kultur nicht entsprechen können oder wollen, sondern auch potenziell sexistisch ist, da Frauen in vielen weiterhin von Männern dominierten Bereichen strukturell ausgeschlossen werden. Dies liegt nun aber gerade nicht daran, dass Frauen zu den geforderten Handlungsoder Argumentationsweisen nicht fähig sind und sie somit nicht bedienen können, sondern daran, dass Rationalität vornehmlich der männlich-dominanten Rede zugeschrieben wird. Das sogenannte ›chilly climate‹, das sich als Gefühl des Ausschlusses und des Nicht-Gesehen-Werdens äußert, erleben insbesondere weibliche Mitarbeiterinnen, aber auch Studierende sind davon nicht ausgenommen. (Vgl. Prentice 2000) Und auch wenn die Diversität der Studierenden immer wieder als ›wertvolle Ressource‹ angerufen wird, kommt es nicht selten vor, dass ihnen an der Universität mit so wenig Wertschätzung begegnet wird, dass genau diese ›wertvollen Ressourcen‹ aufgrund von Panikattacken, Konfrontationen mit wenig empathischem Personal oder schlicht und ergreifend aufgrund einer impliziten Abwertung ihres eigenen Selbstbildes aufgelöst und desillusioniert in Sprechstunden sitzen oder sich aufgrund von psychischen Problemen in den stationären Klinikaufenthalt statt zu ihrer Bachelorabschlussfeier begeben. Dass die Vorstellung einer normalisierten Universität aktuell auf eine andere, weitaus diversere Realität trifft und dies zu Reibungen führt, ist immer wieder Grund zu teilweise polemischen Publikationen, die rückwärtsgewandt vermeintlich klassische Bildungsideale vertreten. (Vgl. Florin 2014) Aber die Ausgangslage des heutigen Studiums lässt sich nicht mehr ohne Weiteres mit diesen Bildungsidealen in Einklang bringen:

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Vermochten es die Universitäten in der Vergangenheit, als sie noch hochexklusive Bildungseinrichtungen waren, nur einen sehr geringen Prozentsatz eines Jahrgangs zuließen und der Status der Studenten infolgedessen mit hohen Privilegien verknüpft war, diese auf ihre eigene, distinkte Logik zu verpflichten, so gelingt dies heute nicht mehr in demselben Maße. Die Ansprüche der Universität, die über Jahrhunderte gewachsen sind, lassen sich immer seltener bruchlos mit den Lebensrealitäten der Studierenden vermitteln. Historisch neu ist nun, dass die Studierenden in diesen Auseinandersetzungen nicht von vorneherein als unterlegen gelten; sie können deshalb mit Aussicht auf Erfolg in diese Aushandlungsprozesse gehen, weil machtvolle Diskurse zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse geführt haben. (Rieger-Ladich 2019: 72) Markus Rieger-Ladich zufolge ist diese Entwicklung ein zweischneidiges Schwert, geht sie für ihn doch mit der zunehmenden Ökonomisierung der Hochschule einher. Die Rolle von Studierenden wird dann so konzeptualisiert, dass sie als Kund*innen das bestmögliche Angebot bekommen sollten, was nicht selten zu einer Infantilisierung führe: Werden Studierende in erster Linie als sensible Kunden, die es nicht zu verprellen gilt, und als verletzbare Subjekte, die es vor Zumutungen aller Art zu schützen gilt, adressiert, geraten sie eben nicht als Mitglieder wissenschaftlicher Diskurse in den Blick. (Rieger-Ladich 2019: 84) Die notwendigen Voraussetzungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung seien durch ein solches Vorgehen ausgehebelt. Dass diese Voraussetzungen freilich selbst eine Setzung und damit eine pädagogische Beeinflussung durch die Regeln des Lehr-Lern-Arrangements im System Universität sind, bleibt unausgesprochen. (Vgl. Engelmann 2018) Wenn sie explizit werden – wie beispielsweise bei bewusst auf das Scheitern ausgerichteten Lehr-Lern-Arrangements –, fehlt die explizite Reflexion der didaktischen Beeinflussung unter Bezug auf eine pädagogische Ethik: Dürfen Lehrende Studierende in Situationen des Scheiterns schicken? Wenn ja, wie wird dies begründet? Gelöst wird das Problem dann durch hochschuldidaktische Sensibilität, die Situation des Scheiterns zu interpretieren […] und unterschiedliche Interpretationen anzunehmen/zuzulassen. Um die Erfahrung des Scheiterns als Bildungsmoment anzuerkennen, ist es notwendig, Scheitern zum Gegenstand von Gesprächen und Reflexion zu machen und das Bildungsmoment der Krise zu erfahren. (Schiefner-Rohs 2019: 72) Dies verweist auf die Problematik jedweden pädagogischen Handelns: Irgendjemand oder irgendetwas differenziert. Wo aber keine Differenzierung nach Leistung, Position im Raum, Gruppenzugehörigkeit oder einer anderen Kategorie [stattfindet], ist keine Bewertung möglich, die letztlich

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die Allokation von Positionen in der Gesellschaft qua formalisiertem Bildungsabschluss ermöglicht. (Engelmann/Kenklies 2020: 32) Noch weiterführender gilt, dass ohne Differenzierung keine Pädagogik möglich ist. Stets werden – nicht nur im schulischen Bereich – Differenzierungspraktiken vollzogen, die Ungleichheiten konstituieren. (Vgl. Mehrl 2019) Auch die Universität ist ein Differenzierungsapparat, schließlich vergibt auch sie Leistungsnachweise, Noten, Berufs- und Lebenschancen. Die Institution Universität wirkt dabei immer diskriminierend im Sinne der durch ihre Voraussetzungen, Regeln und Abläufe zustande kommenden Ausschlüsse und Differenzierungen, wobei Schule und Universität sich insbesondere dann strukturell wenig unterscheiden, wenn Studierende in einem zunehmend verschulten Universitätssystem wie Schüler*innen behandelt werden. (Vgl. Gomolla/Radtke 2002) Letztlich können die individuellen Bewertungsmuster nicht aus der Praxis entfernt – Leistungsdifferenzierung bleibt Teil des universitären Auftrags –, wohl aber per Arrangement (größtmöglich) minimiert werden, wie es mit Bezug auf die Hochschulorganisation, die unter dem Stichwort der ›inklusionssensiblen Hochschule‹ geführt wird, ersichtlich wird. (Vgl. Dannenbeck et al. 2016) Vor dem Hintergrund der komplexen Ausgangslage und der kaum steuerbaren Entwicklung und Durchführung von Lehre ist nicht verwunderlich, dass die Publikationen zu Formaten forschenden Lernens – ganz im Sinne des ursprünglichen Bildungsideals der Humboldt’schen Reformuniversität – aktuell zunehmen. Solche Formate versprechen ein erhöhtes Maß an Freiheit bei gleichzeitiger individueller Verantwortungsübernahme der Studierenden. Sie eröffnen potenziell Raum für Lehrexperimente, unerwartete Lernerfolge und Selbstwirksamkeitserfahrungen. (Vgl. Reinmann/Lübcke/Heudorfer 2019) Zugleich geben sie auch die Verantwortung der Lehrenden für die zunehmend komplexe Interaktion mit den Studierenden an diese zurück. Wenn Scheitern als ›gut‹ markiert ist und Erfolg ebenfalls eine ›gute‹ Sache ist, dann ist das Ergebnis letztlich egal. Selbiges gilt auch für die immer weiter verbreitete Peer Instruction, (vgl. Mazur 2016) die Anleitung von Studierenden durch andere Studierende. Dass aber sowohl forschendes Lernen als auch Peer Instruction immer einen Rahmen vorgeben, der letztlich intentionale Steuerung und damit Eingriff in den persönlichen Forschungsprozess der Studierenden bedeutet, wird dann teilweise ausgeblendet. Da auch das forschende Lernen und die Peer Instruction in den asymmetrischen Kontext Universität eingebunden sind, unterliegen sie ebenfalls den Richtlinien der Universität und ermöglichen im gleichen Maße, wie sie einschränken. Freilich soll dies nicht bedeuten, dass solche didaktischen Zugänge nicht gewählt werden sollten. Die Anwendung eines didaktischen Konzepts zeitigt aber, aufgrund des oft genug markierten Technologiedefizits der Pädagogik, nicht automatisch die Lösung eines pädagogischen Problems. (Vgl. Luhmann/Schorr 1982; Böhm 2016) Menschen

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sind keine Computer. Sie sind keine trivialen Maschinen und reagieren nicht immer gleich. Lernen können Lehrende nicht durch Technik bewirken; sie können es nur anregen. Die Antwort auf die unausgesprochene Frage des Umgangs mit Studierenden und ihren Ansprüchen, Anfragen und Bedürfnissen in differenzierten und komplexen Gesellschaften beschäftigt die Hochschuldidaktik und die Hochschulforschung seit mehreren Jahren. (Vgl. Reinmann/Ebner/Schön 2013) Die Grundlage jedweder Didaktik liegt schließlich darin begründet, wie Menschen etwas gelehrt werden kann. Unter den Stichworten ›Inklusion‹, ›Heterogenität‹ und ›Diversität‹ werden Diskussionen geführt, die sich nur schwer zusammenfassen lassen und nur selten konsequent durchdacht werden. Als vermeintliche Lösung legitimiert sich didaktisches Handeln dann durch den Bezug auf pädagogisch-psychologische Ergebnisse und leitet aus diesen differenzierten Analysen normalisierte Kriterien von guter Lehre ab. (Vgl. Ulrich 2016) Oft reproduziert eine solche Didaktik dadurch aber auch die aktuelle Tendenz, dass ein »großer Teil der hochschuldidaktischen Forschung […] in einer psychologischen Lernforschung fundiert [ist], die sich oftmals der Modelle aus den vorangehenden Stufen des Bildungssystems bedient.« (Tremp/Eugster 2019: 43) Dies ist nicht prinzipiell zu beanstanden, verengt aber die Perspektive. Jüngere hochschuldidaktische Publikationen reflektieren nun auch stärker ihre epistemologischen und normativen Grundlagen, (vgl. Heidkamp/Kergel 2019) halten aber zugleich fest, dass Begriffe wie ›Diversität‹ auch im nationalen Diskurs als Buzzwords wirken: So emphatisch sie gebraucht werden, so unterbestimmt sind sie auch. Dies gilt auch für andere Versuche, Heterogenität wahrzunehmen und als Ressource produktiv zu machen. Solche Versuche lösen das strukturelle Problem nicht, wie kritisch-systemtheoretisch inspirierte Arbeiten ausgewiesen haben. (Vgl. Emmerich/Hormel 2012) Nur weil ich Diversität wahrnehme, werden nicht plötzliche alle Menschen besser behandelt oder das Problem der Chancengleichheit gelöst. Es werden lediglich neue Kategorien hergestellt. Die Kategorien, die in pädagogischen Kontexten zur Differenzierung herangezogen werden, werden aber oft genug nicht als in der Praxis hervorgebracht, sondern als externe Faktoren angenommen, die nicht selten naturalisiert und reifiziert daherkommen. Armut ist so beispielsweise nicht etwas, das auch in Unterricht und Seminarraum hergestellt wird, sondern sie kann höchstens pädagogisch bearbeitet werden. Das pädagogische Handeln wird hier reaktiv und wäscht seine Hände in Unschuld. Diese Problemlage ist nicht etwa auf die Pädagog*innen selbst zurückzuführen, sondern auf ein grundlegendes Problem pädagogischen Handelns, das nicht gelöst, sondern nur immer wieder neu angegangen werden kann, nämlich den Umgang mit Verschiedenheit bei angestrebter Gleichheit, kurz: die Logik der Heterogenität. Formal ist diese Logik und die ihr inhärente Widersprüchlichkeit schnell skizziert:

Politische Hochschuldidaktik, Queer Theory und Antidiskriminierungspraxis

Dass ›wir‹ alle ›verschieden‹ sind, ist eine Annahme, die auf einer metaphysischen Grundbedingung basiert, welche widersprüchlich ist. Denn wenn ›wir‹ alle fundamental ›verschieden‹ wären, könnten ›wir‹ weder ein ›wir‹ noch ein ›alle‹ konstituieren, insofern ›wir‹ als Teil von ›alle‹ identisch wären. Worin ›wir‹ jeweils identisch und worin different sind, wird immer wieder neu ausgehandelt, konstruiert, hergestellt und performativ bestätigt. (Engelmann/Kenklies 2020: 33) Auch diejenigen Praktiken, die auf eine Angleichung oder die Herstellung von gleichen Chancen abzielen, sind epistemisch nicht neutral. Diese Möglichkeit besteht formallogisch nicht. Selbiges gilt auch für alle Praktiken, in denen nicht Homogenität, sondern Heterogenität angestrebt wird. Pädagogisches Handeln – auch im Namen der Heterogenität – verfehlt also immer einzelne Elemente des angestrebten Ziels. Wieso aber ist das so? Und was hat das mit Queer Theory zu tun?

Inklusion, Antidiskriminierung und Queer: Aktualisierungen Theorien der Inklusion sind auch im Bereich der Hochschuldidaktik ein notwendiger Bezugspunkt, wenn Heterogenität, Diversität und Antidiskriminierung differenziert diskutiert werden sollen.1 Abseits von Rhetoriken der Heterogenität braucht es aber ein Verständnis der vorliegenden Problematik, um Heterogenität als Konzept und Phänomen nicht unterkomplex zu begreifen. Mai-Anh Boger zufolge lassen sich unterschiedlich Typen von Theorien des Umgangs mit Differenz – explizit und sicherlich in der Hochschullehre oftmals implizit – ausmachen. Es gibt »Theorien der Befähigung«, Theorien darüber, »wie in den pädagogischen Praktiken selbst Differenz hervorgebracht und bearbeitet wird«, »Theorien, die in Anerkennung der besonderen* Vulnerabilität einer Anderen*Gruppe spezialisierte Konzepte der Förderung für diese ausarbeiten und dabei auf eine Emanzipation« abzielen sowie »pädagogische Theorien, die keinen dieser macht- und herrschaftskritischen Impulse verfolgen,« da sie das Problem der Andersheit nicht wahrnehmen. (Boger 2019a: 9) Diese Typologie verweist zum einen darauf, dass es auch in der Hochschuldidaktik verschiedene Zugänge zum Thema Inklusion und Antidiskriminierung geben muss. Weiter noch macht der Blick auf Bogers analytische Unterscheidung darauf aufmerksam, dass es »keinen Satz zu Inklusion [gibt,] der in allen Fällen gilt.« (Boger 2019b: 55) Stattdessen verfangen sich notwendigerweise alle Pädagogiken im zwischen den Kotenpunkten der Inklusion – Empowerment (E), Normalisierung (N) und Dekonstruktion (D) – 1

Die hier sehr verkürzt dargestellten Überlegungen zur Theorie der trilemmatischen Inklusion können in ausführlicher Form in Boger 2015a nachvollzuogen werden. Überlegungen zur Kategorie der Diskriminierung von Arbeiter*innenkinder in der Hochschule finden sich in Boger 2015b.

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gespannten Netz. Theoretisieren ist damit immer dissonant: »Für die Theoriebildung bedeutet dies, dass sie diese Begehrensformationen [der Subjekte] in ihrer Dissonanz nachzeichnen muss, ohne die Widersprüche darin zu tilgen.« (Boger 2019a: 8) Denn Widersprüche finden sich in jeder Theorie. Theorien der Inklusion und der Diskriminierung sind dabei bereits auf ontologischer Ebene inkonsistent: Sie pendeln zwischen einer realistischen Ontologie, die es ermöglicht, Menschen als unterdrückte Subjekte und somit als Andere anzuerkennen (E), einer Übernahme der normalisierten Ordnungskategorien, die ihre Anschlussfähigkeit an diese Regime erlauben (N) und verschiedene Variationen nominalistischer (zum Beispiel radikalkonstruktivistischer) Ontologien, die es wiederum ermöglichen, das Bild von Andersheit zu verschieben (D). (Boger 2019a: 9) Wie lässt sich unser Verständnis von Queer in diesem Raster verorten? Eine Definition von Queer, wie sie für den didaktischen und pädagogischen Kontext produktiv wird, kann und soll hier nicht abschließend geleistet werden. Wir machen hier ein Angebot des Verständnisses, das in sich selbst eine Sackgasse darstellt; eine Sackgasse deshalb – wie wir später ausweisen werden –, da auch eine so konzipierte Hochschuldidaktik ihre Ansprüche verfehlt, ja verfehlen muss. Und diese Verfehlung nimmt ihren Ausgangspunkt in der Diskussion von Queer in der Hochschuldidaktik. Im englischsprachigen Raum finden sich Arbeiten, die neben der für Queer immer relevanten Frage nach den ontologischen und epistemologischen Voraussetzungen von Geschlechtern und Sexualitäten insbesondere auf die Dekonstruktion von Wissensordnungen und auf den Schutz von klar benannten Gruppen von Personen in pädagogischen Kontexten abzielen. (Vgl. Bryson/de Castell 1993; Britzmann 1995; Hawthorne 2018) Somit sind zwei der von Boger ausgemachten Theorieangebote vertreten: Dekonstruktion und Empowerment. Mit Normalisierung – auch im Sinne einer zunächst positiv besetzen emanzipatorischen Curriculumspolitik – hat Queer wenig zu tun. Queer so aber auf den Punkt zu bringen und damit festzuschreiben, erscheint dem Begriff nicht angemessen. Erste Versuche einer differenzierten Diskussion der Begriffsgeschichte und der theoretischen Fluchtlinien kommen zu dem Ergebnis, dass queeres Denken, neben einer andauernden Hinterfragung von normativem und von Macht durchdrungenem Wissen um Begehren und Identität, zu allererst zu zeigen versucht, »welche Vorannahmen unserem Denken zugrundeliegen.« (Förster 2017: 52) Während ein solch weit gefasstes Verständnis von Queer als generalisierte Macht- und Wissenskritik immer Gefahr läuft, die fundamentale Verortung des Begriffs in Epistemologien und Ontologien von Geschlecht und Sexualität und den dazugehörigen Lebensrealitäten aus dem Blick zu verlieren, liegt gerade in der Rückbindung von Machtkritik an ein grundlegendes Hinterfragen von geschlechtlichen und sexuellen Normen das Potenzial des Begriffs für den pädagogischen

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und didaktischen Kontext. Gerade im Feld der Bildung und Erziehung finden Normalisierungen und Machtverschiebungen über die Ordnung und Sanktionierung von vergeschlechtlichten Körpern, dem Verhandeln von Begehren und dem damit verbundenen Wissen und Unwissen statt. (Vgl. Bauer/Engelmann 2020) Pädagogisches und didaktisches Denken und Handeln zu ›queeren‹ bedeutet so betrachtet eine Bewegung hin zu einer Praxis, die die Normalisierung von Körpern und Subjekten im Prozess hinterfragen und Handlungsspielräume eröffnen kann. Für Franziska Förster zeichnet sich diese Bewegung durch ein strategisches Fragen und die Vermeidung von klaren, einfachen und zufriedenstellenden Aussagen aus. Queer erscheint hier als bewegliches Denken, ist aber selbst axiomatisch begründet und damit keineswegs nur die ungehemmte Anpassung an die gegebenen Verhältnisse. Obwohl auch Queer als grundlagenkritisches Denken von bestimmten Grundlegungen aus[geht], […] werden diese als kontingente Grenzziehungen verstanden und entsprechend für Reflexion, Korrektur oder gar Revidierung offen gehalten. (Förster 2017: 52) Zunächst werden Grenzen, Kategorien und Annahmen über die Welt also ›befragbar‹ gemacht. So verstanden wird ›Queer‹ als dynamischer Begriff im Spannungsfeld zwischen Identitätspolitik und Normenkritik, zwischen Rekonstruktion und Dekonstruktion produktiv für eine ambitionierte Theoretisierung von didaktischen und pädagogischen Prozessen. Aus einer Identitätskategorie – für die der Begriff trotzdem noch verwendet wird und die weiter zentraler Bestandteil emanzipatorischer Politiken bleibt –, die auf eine mehr oder weniger stabile (personale) Substanz mit Ambitionen und Rechtsansprüchen auf gesellschaftliche und politische Sichtbarkeit verweist und sich nach Aneignung eines ursprünglich beleidigend konnotierten Begriffs als Selbstbeschreibung nicht-heteronormativer sexueller Identitäten etabliert hat, wurde zugleich eine Bezeichnung für ein in gewisser Weise geartetes Tun: Aus dem Adjektiv ›queer‹ wurde das Verb ›queeren‹. Karsten Kenklies und Sebastian Engelmann (2020) schlagen vor, diese Bewegung des Queerens als Zugang zu einem Verständnis von Queer als weiter gefasste Erkenntniskategorie zu wählen. Die Verwendung von to queer im Englischen legt nahe, dass es darum geht, »to centralize the constant need for critical attention to the processes of subjectification, whereby particular meanings of identity come to form potentially limiting understandings of identities, practices, and communities.« (Mayo 2017: 80) Zuallererst auf die Dekonstruktion – und damit einhergehend erst nachgeordnet auf Empowerment – abzielend versucht diese Bewegung die Machtfrage neu zu stellen, Brüche und Fragilitäten in altbekannten Ordnungen aufzuzeigen und so pädagogische Arrangements nachzujustieren. Und selbstverständlich lassen sich diese Überlegungen in Politiken übertragen, die auch im universitären Kontext am Werk sind, da an und in einer Institution gehandelt wird.

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Eine rein ›kosmetische‹ Integration von Queer in Curricula und Lehrbetrieb greift aber für das hier dargestellte kritische Anliegen zu kurz, denn »queer theory disrupts the normalcy of education, maintains the difficulty of education, and because it is meant to provoke, cannot be easily integrated into education as usual.« (Mayo 2017: 81) In erster Linie ermöglicht die durch dieses Verständnis von Queer als fundamentale Normalitäts- und Machtkritik bereitgestellte Perspektive zweierlei. Zum einen macht sie es möglich, die auch im universitären Raum wirkenden Prozesse der Macht ins Licht zu rücken und auf Diskriminierungen hinzuweisen. Eine queere Hochschuldidaktik ist somit sensibel für das institutionelle Arrangement, in das sie unweigerlich eingebettet ist. Zugleich wendet sie sich gegen die verschiedenen Differenzziehungen in curricularen Anforderungen, macht auf implizite Diskriminierungen aufmerksam und markiert diese. In diesem Modus der Dekonstruktion ist sie aber wenig didaktisch im Sinne einer direktionalen Einflussnahme auf den Lernprozess, denn sie unterstützt nur indirekt das Lernen der Subjekte und vermittelt wenig. Didaktik in ihrer Gänze ist aber immer auch die Reflexion auf Lernen und Vermittlung; ein instruktives Element ist ihr inhärent, auch wenn sie sich der bewussten Einflussnahme zu entziehen versucht. Um dieses Defizit auszugleichen und sich nicht in der reinen Willkür zu verlieren, wirkt eine queere Hochschuldidaktik auch auf ein Empowerment der beteiligten Subjekte hin und zielt auf die Umwertung der normalisierten Werte der institutionell fest verankerten und etablierten Logiken der universitären Lehre ab. Aus der ansonsten in der Dekonstruktion und Kritik verharrenden Haltung, die oft im (scheinbaren) Widerspruch zu affirmierenden Politiken von Identität und Subjektivität steht, kann sie so heraustreten und positioniert sich dabei selbst. Das bedeutet nicht nur, dass sie Studierende dabei unterstützt, ihre eigene subjektive Positionierung im Machtkomplex Hochschule zu erkennen, sondern ihnen auch Möglichkeiten zu Emanzipation bietet und ihnen hilft, eine eigene Stimme zu finden. Sie betreibt damit im besten Sinne auch queere Wissenschaftspolitik, da sie zunächst einfach nur selbstreflexiv ›anders‹ lehrt und sich dabei der Verstrickung von beispielsweise Referenztexten in heterosexistischen und rassistischen Diskursen bewusst ist. Eine solche queere Hochschuldidaktik arbeitet subjektbezogen und richtet sich an den Subjekten aus – und an dieser Stelle wird es schwierig. Dekonstruktion und Empowerment sind für eine immer schon politische queere Hochschuldidaktik vertretbare Pole. Dies führt aber wiederum zu problematischen Konstellationen, denn auf »der Verbindungslinie von Dekonstruktion und Empowerment richtet sich die dekonstruktive Bewegung an das eigene Selbst und versucht dieses Selbstbild von der normalisierten Repräsentation der Anderen* zu entkoppeln.« (Boger 2019b: 132) Begriffe werden neu besetzt, kreativ gewendet und entnormalisiert. So entsteht ein alternativer Raum, der nicht zwingend den Regeln des universitären Diskurses entspricht, wie Rieger-Ladich (2019) aufzeigt.

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Dennoch ist dies keinesfalls der König*innenweg. Auch die Etablierung von nichtnormalen Räumen führt in eine Sackgasse, da der Kontakt zur dominanten universitären Logik möglicherweise abgebrochen wird. Wenn in einem neuen Raum eine andere Logik etabliert wird, ist die Anknüpfung an die bestimmenden Regeln der Universität nicht mehr passgenau möglich. Zudem ist fraglich, ob ein didaktisches Arrangement überhaupt einen solchen Raum erzeugen kann, wenn es doch einen sehr großen Unterschied macht, wie dieser Raum zustande gekommen ist, »je nachdem ob man freiwillig auf die Normalisierung verzichtet oder aber niemals die Chance darauf hatte oder aber aktiven Widerstand gegen eine aufgenötigte Normalisierung leistet.« (Boger 2019b: 133) Zugleich werden diese Räume – egal wie sie nun konstituiert sind – immer wieder mit Anfragen der ›Normalität‹ konfrontiert, deren Standards sie aufgrund ihrer dekonstruktiven Ausrichtung nicht erreichen oder auch nur anstreben können. Dennoch liegen in ebensolchen Räumen – die auch in der Universität politische Räume sind – Potenziale für Entwicklungen, die durch das Arrangement nicht intendiert waren. Zum einen kann zwar eine Dynamik entstehen, in der nicht existenziell bedrohte Personen sich als »marginalisierter […] inszenieren als sie sind;« (Boger 2019b: 165) die Abgrenzung von der Normalität erfolgt hier eher als Reflex auf die Übersättigung ebendieser. Zum anderen besteht aber auch die Möglichkeit, dass tatsächlich durch gesellschaftliche Marginalisierung traumatisierte Subjekte hier Halt finden. Ob das aber Aufgabe einer Hochschuldidaktik ist, bleibt fraglich.

Rückblicke, Vergegenwärtigungen, Ausblicke: Ein Fazit Eine queere Hochschuldidaktik ist als instruktive Unternehmung ein logisch und praktisch (un-)mögliches Unterfangen. Sie ist möglich, da sie immer schon umgesetzt wird: Personen empowern sich, Identitäten werden dekonstruiert, Teilhabe wird ermöglicht. Zugleich ist sie unmöglich: Empowerment setzt eine Benennung und damit Stillstellung voraus, Dekonstruktion steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zur affirmierenden Benennung des eigenen Begehrens, und eine Teilhabe an der Normalität ist immer mit dem Verlust der eigenen Andersheit verbunden. Erst eine schließende Definition von Queer – die das von Bogner skizzierte Trilemma der Inklusion nicht auflöst, sondern noch genauer hervortreten lässt – und die damit verbundene Ableitung von Zielen, für die es sich einzutreten lohnt, macht auch eine queere Didaktik möglich. Dann ist sie eine Perspektive, die zum Widerstand anregt. Der didaktische Widerstand ist aber dann schon Teil einer Normalität, wenn er sich, wie hier, als konzeptioneller Entwurf im Kontext der Hochschuldidaktik Bahn bricht. Ohne die Normalisierungslinie anzupeilen, die im oben geschilderten Zugang nur verfehlt werden kann, kann diese Art des Denkens

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nicht etabliert werden. Wenn sie sich dennoch etabliert, wird sie selbst normal und verfehlt die Dimension der Dekonstruktion. Dennoch löst sich der Vorschlag zu einer queeren Hochschuldidaktik mit dem ausgewiesenen Ziel des Empowerments nicht etwa in Wohlgefallen auf. Hier stellt sich keine Frage des ›Was‹, sondern eine Frage des ›Wie‹. Das Was ist schnell erneut aufgerufen: Eine queere Perspektive, wie sie hier skizziert wurde, macht es möglich, einen Raum zu schaffen, in dem Empowerment und Dekonstruktion in einem immer spannungsreichen Wechselspiel möglich sind. Sie entzieht sich dem Sprechen über Heterogenität und Diversität, die Vielfalt als ein letztlich im Namen der Produktivität zu vereinnahmendes Gut betrachten. Stattdessen geht es um Antidiskriminierung als ausgewiesenes politisches Ziel. Damit hat queere Hochschuldidaktik eine klare Orientierung bekommen: Heteronormativität gilt es zu kritisieren, alternative Entwürfe von Geschlecht, Sexualität und Miteinander sind zu affirmieren, und gegenkulturelle Praktiken sind zu unterstützen. Auf diese Art steuert auch ein so verstandenes Vorgehen direkt und bewusst in die notwendige Sackgasse der trilemmatischen Inklusion. Ein Einwand gegen unsere Überlegungen könnte vonseiten einer ausschließlich auf Normalisierung abzielenden Politik dementsprechend der Vorwurf eines gewissen Maßes an Irrelevanz sein, denn es geht nicht primär um eine Veränderung der Normalität. Stattdessen geht es zunächst um Dekonstruktion und Empowerment, was auch die Ablehnung einer gemeinsam geteilten Normalität zur Folge haben kann. Zu ›Normalität‹ gehört oft genug auch, dass Menschen alle Menschen als gleich – nicht nur gleich an Rechten, sondern auch gleich an Voraussetzungen – betrachten, was eine zu verteidigende Andersheit erschwert oder gar delegitimiert. Anderssein ist jedoch – wie auch der Wunsch, ›normal‹ zu sein – ein nachvollziehbares Begehren, dass verteidigt werden kann. Als politisches Projekt ist eine queere Hochschuldidaktik, wie sie hier umrissen wurde, immer mit der Widersprüchlichkeit ihrer Ansprüche konfrontiert. Statt diese Widersprüche zu verkennen, sollte sie sich lustvoll in ihnen verheddern und zugleich die logische Struktur des pädagogischen Problems wahrnehmen, das ihr zugrunde liegt. Aussichtslos ist die Situation nicht, wir sind nur als Lehrende an Universitäten nie davon entbunden, didaktische Entscheidungen zu treffen. Und diese Entscheidungen sind epistemisch nie neutral. Somit steuern wir jederzeit in das Trilemma. Die Verantwortung zur punktuellen Auflösung des Trilemmas liegt bei uns. Scheitern wir also immer schöner und stellen wir uns immer schärfer infrage.

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Diskriminierung durch Algorithmen vermeiden: Analysen und Instrumente für eine demokratische digitale Gesellschaft Jessica Heesen/Karoline Reinhardt/Laura Schelenz

Einführung Gerechtigkeit und Gleichheit sind Leitwerte einer demokratisch und inklusiv gestalteten digitalen Transformation. Das Prinzip der Gleichheit umfasst die Gleichheit vor dem Gesetz, die Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie Diskriminierungsfreiheit und Chancengerechtigkeit, was bereits in Art. 1f., 7 der UN-Menschenrechtscharta festgehalten ist. Im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken und spezifisch für das Feld der Algorithmen und Künstlichen Intelligenz (KI) stehen in Bezug auf Gerechtigkeit Fragen der Diskriminierungsfreiheit, des offenen Zugangs zu Nutzen und Gewinnen aus digitalen Anwendungen und die ökologische Nachhaltigkeit im Vordergrund. In der Informatik werden Aspekte der Gerechtigkeit im Umgang mit KI und Algorithmen zumeist unter dem Begriff ›Fairness‹ diskutiert.1 Während ein Computersystem oder ein technisches Produkt gut und im Interesse einer Personengruppe funktionieren und ihr Selbstverwirklichungspotenzial gar steigern mag, schadet dasselbe System womöglich anderen Personengruppen. Häufig sind Frauen und minorisierte oder marginalisierte Gruppen von diesen Formen der Diskriminierung betroffen. Der Begriff Diskriminierung bedeutet in seiner lateinischen Herkunft, aber auch teils im Englischen und in fachsprachlichen Kontexten ethisch indifferent ›unterscheiden, absondern, trennen‹. Zentral für die Auseinandersetzung in der Ethik ist, ob Unterscheidungen gerechtfertigt sind oder nicht. Diskriminierung im negativen Sinn liegt vor, wenn Unterscheidungen und Klassifizierungen auf zum Beispiel stereotypisierenden oder herabwürdigenden Zuschreibungen beruhen oder schlicht, wenn die Resultate algorithmischer Systeme an Persönlichkeits1

Siehe beispielsweise die Conference on Fairness, Accountability, and Transparency (FAccT) der Association for Computing Machinery (ACM), die seit 2018 jährlich stattfindet. (Vgl. http s://facctconference.org/)

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merkmalen orientiert werden, welche in keinem relevanten Zusammenhang mit bestimmten Entscheidungen stehen sollten. Merkmale, die aus normativer Perspektive nicht entscheidungsrelevant sein sollten, beziehen sich häufig auf Kategorien wie Geschlecht, Alter, ethnische oder nationale Zugehörigkeit, Aussehen, Behinderung, Schwangerschaft (vgl. Hagendorff 2019: 55) oder soziale Herkunft. Eine negative, moralisch fragwürdige Diskriminierung liegt ebenfalls vor bei einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Gleichem oder einer ungerechtfertigten gleichen Behandlung von Ungleichem. Ursachen der Diskriminierung durch KI-Algorithmen liegen zumeist in der Reproduktion bestehender Diskriminierungsmuster im Rahmen der automatischen Mustererkennung oder durch die (implizite) Voreingenommenheit von Programmierer*innen. (Vgl. Friedman/Nissenbaum 1996) Andere Gründe haben mit mangelnder Sorgfalt und Umsicht im Entwicklungsprozess und der Unvollständigkeit von Daten zu tun, also einem Bias in der Datenverfügbarkeit und -auswahl. (Vgl. Malik 2018) Solche Mängel in der Konfiguration von Software führen auf der Anwendungsebene dazu, dass bestimmte Gruppen in ungerechtfertigter Weise anders behandelt werden. Darüber hinaus entstehen aus dem Zusammenspiel der ohnehin häufig schon intransparenten Funktionsweisen von Deep Learning und Maschinellem Lernen einerseits und der – teils fehlerhaften – Anwendung der jeweiligen Resultate andererseits neue, schwer identifizierbare Formen der Diskriminierung, die teils unter dem Begriff »emergente« Diskriminierung beschrieben werden. (Beck et al. 2019: 9) Die Daten und Rechenprozesse, mit denen algorithmische Systeme trainiert werden, basieren auf dem Zusammenspiel verschiedener Elemente, deren isolierte Betrachtung zumeist nicht zielführend ist. (Vgl. Ananny/Crawford 2018) Solche Prozesse sind ex ante häufig nicht umfassend festlegbar und ex post nicht immer nachvollziehbar. (Vgl. Pasquale 2015) Diskriminierungen, die mit den Resultaten solcher Systeme sichtbar werden, können oftmals in der Ursache nicht detailliert nachvollzogen werden (Black Box-Problematik).

Was sind Algorithmen und warum muss ein Algorithmus immer diskriminieren? In einer engen Definition beschreibt ein Algorithmus eine Regel oder eine mathematische Formel, die auf die Lösung einer Aufgabe abzielt. Es handelt sich um ein sich wiederholendes Schema von Arbeitsschritten. Dieses Schema muss nicht zwangsläufig computerisiert sein. Um ein Beispiel zu nennen: Das European Resucitation Council hat in Algorithmen niedergelegt, in welcher Reihenfolge und unter welchen Umständen welche Maßnahmen zur Reanimation von Erwachsenen und Kindern zu unternehmen sind. Die zu lösende Aufgabe besteht hier in

Diskriminierung durch Algorithmen vermeiden

der Beendung des Atem- und Kreislaufstillstandes. Der jeweilige Algorithmus beschreibt die notwendigen Maßnahmen wie etwa Beatmung, Herzdruckmassagen und Defibrillation sowie deren Reihenfolge und ermöglicht so eine standardisierte und einheitliche Durchführung. Abseits von diesem grundlegenden Verständnis werden Algorithmen zunehmend als komplexe Formeln genutzt, die menschliche und nicht-menschliche Subjekte klassifizieren und hierarchisieren oder Beziehungen zwischen verschiedenen Variablen bestimmen oder vorhersagen. In der gängigen Verwendung wird unter dem Begriff ›Algorithmus‹ häufig mehr als ein bloßer Rechenvorgang verstanden. Hier impliziert man die Umsetzung eines Rechenmodells in ein technologisches Artefakt und schließt gleichzeitig die Konfiguration für die Benutzung durch die Endanwender*innen mit ein. (Vgl. Mittelstadt et al. 2016: 2) In einer solchen breiten Definition des Begriffs ›Algorithmus‹ reden wir von Mensch-Technik-Ensembles, (vgl. Latour 2001) also einem Wechselverhältnis menschlicher und nichtmenschlicher Aspekte. In einem solchen Verständnis ist es teilweise unmöglich, menschliche und nicht-menschliche Elemente voneinander zu trennen. (Vgl. Kitchin 2017: 16, 25) In Anbetracht der Komplexität von menschlichem und nicht-menschlichem Zusammenwirken wird daher auch der Ausdruck »algorithmische Systeme« anstelle von Algorithmen gebraucht. (Seaver 2019: 419) Zunehmend wird auch von ›algorithmischen Kulturen‹ gesprochen. Dieser Begriff betont die performative Wirkung von Computermodellen, wenn sie mit menschlichen sozialen Praktiken interagieren. (Vgl. Roberge/Seyfert 2017: 9, 25) Wie bereits angesprochen, handelt es sich beim Begriff ›Diskriminierung‹ zunächst um eine in gewisser Hinsicht neutrale Bedeutungsebene (trennen, absondern, unterscheiden), die durchaus auch im heutigen Sprachgebrauch noch vorhanden ist (zum Beispiel im in der Volkswirtschaftslehre üblichen Begriff der ›Preisdiskriminierung‹). In diesem Sinne können Algorithmen überhaupt gar nicht nicht diskriminieren, denn überall dort, wo Begriffe gebildet werden, kommt es zu Unterscheidungen: Ein Begriff sondert eine Sache von einer anderen ab. (Vgl. Adorno 1992 [1966]: 21ff.) Algorithmen verlangen nach der Bestimmung von eindeutigen Klassifizierungen und Zielvariablen. Darüber hinaus beinhalten sie Anweisungen dazu, welcher Schritt worauf zu folgen hat. Hierfür muss man Dinge voneinander trennen beziehungsweise absondern, um unter klar bestimmten Anwendungsbedingungen zu den vorgesehenen Ergebnissen zu gelangen. Ein Algorithmus, der in diesem Sinne nicht diskriminiert, ist kein guter Algorithmus – genau genommen ist er sogar gar kein Algorithmus, weil er seine Bestimmung verfehlt, nämlich ein klar umrissenes Ergebnis zu einer klar umrissenen Aufgabe zu liefern. In dieser Hinsicht gehört Diskriminierung definitorisch zum Algorithmus dazu.

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Ungerechte Diskriminierung durch Algorithmen Die eben angeführte epistemische Bedeutung von Diskriminierung wird in der gesellschaftlichen Debatte über Algorithmen jedoch zumeist durch andere Bedeutungen überlagert, die dem Begriff eine negative Konnotation geben. Gemeinhin wird Diskriminierung als ein ungerechtfertigtes Unterscheiden verstanden, als ein Zurücksetzen, Benachteiligen, als Herabsetzung und Herabwürdigung. In der normativen und politischen Ethik bezeichnet Diskriminierung dementsprechend »die rechtliche Benachteiligung, politische Unterdrückung u. feindselige Behandlung von Gruppen oder Individuen durch andere.« (Vossenkuhl 2008: 51) Wie können wir uns nun Diskriminierung durch Algorithmen vorstellen? Bleibt man bei der obigen Definition, dass es sich bei Diskriminierung um eine bestimmte Behandlung ›durch andere‹ handelt, das heißt vielleicht nicht notwendigerweise durch andere Menschen, zumindest aber durch andere Akteur*innen, beispielsweise nicht-natürliche wie etwa juristische Personen, dann stellt sich die Frage danach, ob Algorithmen diskriminieren können, folgendermaßen: Sind Algorithmen ›andere‹ im einschlägigen Sinne, also Akteure? Man könnte einwenden, dass ihnen die notwendige Intentionalität fehlt, um Handelnde zu sein, weil sich Handlungen gemeinhin eben genau durch diese auszeichnen. Dennoch, auch wenn Algorithmen nicht unmittelbar als Akteure zu begreifen sind, kann trotzdem Diskriminierung durch Algorithmen stattfinden. Algorithmen sind häufig das Instrument der Diskriminierung: entweder weil sie die vorhandenen gesellschaftlichen Diskriminierungsmuster abbilden oder weil sie womöglich sogar zum Zwecke der Diskriminierung eingesetzt werden. (Vgl. Zuiderveen Borgesius 2018: 13-14) In der Literatur werden verschiedene Arten der Diskriminierung unterschieden. So spricht man etwa von direkter und indirekter, von struktureller beziehungsweise institutioneller Diskriminierung oder auch – für den hier verfolgten Zusammenhang besonders wichtig – von statistischer Diskriminierung. (Vgl. Lippert-Rasmussen 2014) Statistische Diskriminierung liegt unter anderem dann vor, wenn Personen statistische Gruppenmerkmale zugeordnet werden, die für sie als Individuum aber nicht zutreffen (Fallacy of Division). Das ist zum Beispiel der Fall, wenn einer Person ein Kredit verweigert wird, weil sie in einer Gegend wohnt, in der häufiger Rechnungen nicht bezahlt werden und diese Wohnortinformation in einen Algorithmus zur Berechnung der Kreditwürdigkeit einfließt. Direkte Diskriminierung bezeichnet die explizite ungerechtfertigte Diskriminierung einer Person oder Gruppe. Diese kann dabei absichtsvoll erfolgen oder auch nicht, beispielsweise aufgrund einer generellen Nachlässigkeit oder Unachtsamkeit, die die Belange einer bestimmten Personengruppe systematisch nicht in Betracht zieht und dadurch Angehörigen dieser Gruppe ungerechtfertigterweise Nachteile aufbürdet. (Vgl. Lippert-Rasmussen 2014: 59-60) Indirekte Diskriminie-

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rung ist dagegen ein schwerer zu fassendes Konzept. (Vgl. ebd. 75) Es geht davon aus, dass es Diskriminierungen geben kann, die eine bestimmte Personengruppe in einem relevanten Sinne schlechter stellen, aber sich nicht explizit gegen diese Gruppe richten, sondern aufgrund einer Hintergrundungerechtigkeit, das heißt aufgrund ungerechter Strukturen einer Gesellschaft, zustande kommen. Bestimmte Unterscheidungskriterien beziehungsweise Klassifizierungen können dann in einer spezifischen Situation zu Benachteiligungen einer bestimmten Personengruppe führen, wenn diese aufgrund der vorhandenen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten jene Kriterien nicht oder nur deutlich erschwert erfüllen kann (zum Beispiel die Kriterien zur Erfüllung der Aufnahmebedingungen für eine Universität, die mit bestimmten Interpretationen von Bildungserwartungen verbunden sind, die unterprivilegierte Gruppen aufgrund ihrer Lebensumstände nicht erfüllen können). Algorithmische Systeme haben ein hohes Potenzial für indirekte Diskriminierungen, da sie mit der Erhebung von Gruppenmerkmalen, wie Konsumverhalten, Wohnort, Automarke und so weiter, deren Verwendung durch Antidiskriminierungsgesetze nicht verboten ist, oder mit zufälligen Mustern aus Korrelationen arbeiten, die dann letztlich in eine ungerechte und gegebenenfalls auch verbotene Diskriminierung münden. (Vgl. Datenethikkommission 2019: 194) Die Grenzen zu einer direkten Diskriminierung aus Nachlässigkeit sind hier häufig schwer auszumachen. Beispielhaft für eine auf Absicht beziehungsweise Nachlässigkeit beruhende Inkaufnahme der indirekten Reproduktion diskriminierender Strukturen ist das von US-amerikanischen Justizbehörden verwendete Programm COMPAS zur Ermittlung der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftäter*innen und zur Unterstützung von Entscheidungen über eine frühzeitige Entlassung. Schwarze Personen und People of Color erhielten durch dieses Programm systematisch und fälschlicherweise nachteilige Prognosen im Vergleich zu Personen mit weißer 2 Hautfarbe. Bei der Entwicklung der Software für COMPAS war der Hautton der Straftäter*innen jedoch kein explizites Klassifizierungsmerkmal. Stattdessen kam die Auswertung von Kategorien wie Arbeitslosigkeit, Einkommen, Wohnsituation, Beziehungsstatus der Eltern, Straftaten von Freund*innen und Verwandten zum Tragen. Die Risikoberechnung für eine erneute Straftat wurde anschließend unter

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Die Schreibweisen von weiß und Schwarz entsprechen hier nicht den empfohlenen Schreibweisen des Duden. Das liegt daran, dass diskriminierungssensible Sprache, wie beispielsweise aus dem Glossar der Neuen Deutschen Medienmacher*innen, verwendet wird. Weiß wird an dieser Stelle kursiv geschrieben, da es sich nicht um eine biologische Kategorie, sondern um eine sozio-politische Zugehörigkeit und Machtposition handelt. Schwarz wird großgeschrieben, da es sich nicht um eine biologische oder ethnische Kategorie handelt, sondern als Selbstbezeichnung die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausdrückt, die von Rassismus betroffen ist.

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anderem anhand dieser Faktoren ermittelt, die jedoch generell negativ mit der benachteiligten gesellschaftlichen Situation von Afroamerikaner*innen oder Latinx verbunden sind. Strukturelle Diskriminierungen setzen sich auf diesem Wege fort und werden durch einen Algorithmus vermeintlich objektiviert. (Vgl. Hagendorff 2019: 58)

Mustererkennung als Faktor für Diskriminierung Algorithmische Systeme arbeiten auf der Grundlage von vorliegenden Datensätzen, aus denen sich Verhaltensmuster und Korrelationen ablesen lassen. Anhand solcher Muster, die auf Ereignissen und Handlungen in der Vergangenheit beruhen, entwerfen sie Auswertungen, Interpretationen und letztlich Prognosen zu Wahrscheinlichkeiten für das Wiedereintreten dieser Muster in der Zukunft. Bei der Verwendung von KI für diese Berechnungsprozesse gehen lernende Systeme über schematische Mustererkennung hinaus und schreiben ihre Rechenwege in Reaktion auf zahlreiche divergierende Daten dynamisch fort. (Vgl. Kitchin 2014: 16) Charakteristisch für die Resultate der Mustererkennung durch lernende Systeme ist, dass sie auf einer Logik der Quantität beruhen, dass sie auf Daten aus der Vergangenheit aufbauen und dass die Systeme häufig keine hinreichend nachvollziehbaren Erklärungen über ihre Rechenwege abgeben können. (Vgl. Burrell 2016) Systementwickler*innen können zwar zu einem gewissen Grad die Muster beziehungsweise die Gewichtungen der einzelnen Aspekte zur Erstellung der Muster transparent machen, das betrifft jedoch nur einfachere statistische Berechnungsprozesse. Diese Nachvollziehbarkeit hört auf, sobald Verfahren des unsupervised machine learning hinzugezogen werden. Für die Nutzer*innen solcher Systeme erscheinen deren Funktionsweisen häufig als Black Box, in die Informationen eingegeben werden und bestimmte Ergebnisse rauskommen – die Parameter und Gewichtungen für die Entscheidungsfindungsprozesse bleiben jedoch weitgehend verborgen. Ein zumindest prinzipielles Verständnis vom Zustandekommen der Resultate ist aber eine Voraussetzung für das kompetente Urteil eines menschlichen Letztentscheiders, um Fehlinterpretationen des Systems zu erkennen und auszuschließen. In algorithmische Systeme können also etablierte Vorurteilsstrukturen einprogrammiert sein, die Diskriminierungen oder den Ausschluss von Personen oder ganzer Personengruppen mit sich bringen. (Vgl. Heesen 2020: 289) Aufgrund der starken Orientierung von lernenden Systemen an vorhandenen Beispielen und Daten manifestiert sich hier eine neue digitale Form der »Normativität des Faktischen.« (Jellinek 1976: 338) Ein konkretes Beispiel hierfür sind Softwaredienste für Bewerbungsprozesse, wie sie etwa beim Unternehmen Amazon verwendet werden. (Vgl. Reuters 2018) Die Personalverantwortlichen sortieren mithilfe eines Algorith-

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mus die eingegangenen Bewerbungen vor. Bewerbungen von Frauen bewertet der Algorithmus jedoch systematisch schlechter als jene von Männern, denn die Datenbasis, mit der der Algorithmus trainiert wurde, beinhaltet Daten der in den letzten Jahren erfolgreich eingestellten Beschäftigten. Da diese überwiegend männlich waren, hat der Algorithmus gelernt, diese Eigenschaft als positiv zu bewerten.

Individuelle Voreingenommenheit Gleichzeitig sind auch die Softwareentwickler*innen selbst nicht frei von persönlichen oder gesellschaftlichen Einstellungen, die bewusst oder unbewusst in das Design ihrer Systeme einfließen und Auswirkungen auf den Mustererkennungsprozess haben. Implizit sind in diesen Vorstellungen oft Ansichten über Geschlechterrollen sowie ethnische oder soziale Gruppen enthalten, die sich im Laufe der Geschichte einer Gesellschaft entwickelt haben und mitunter von früher Kindheit an sozialisiert und internalisiert worden sind. Diese Annahmen und Weltanschauungen fließen mit in die Gestaltung von Technik ein. (Vgl. Capurro 2019: 26) Problematisch werden diese Einschränkungen und Rahmungen vor allem dann, wenn Technik ausschließlich für vermeintlich ›normale‹ Nutzer*innen konzipiert ist und durch Abweichungen von der Norm Nachteile durch Technik entstehen. An dieser Stelle sei die Diskriminierung von trans* Personen bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen genannt. Der weit verbreitete Körperscanner basiert auf einem binären Modell von Geschlecht, sodass Sicherheitspersonal beim Scannen nur zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ unterscheiden kann. Die Daten der zu kontrollierenden Person werden dann gegen einen Datensatz des vermeintlich gleichen Geschlechts abgeglichen. Bei Abweichungen schlägt das System Alarm. Dies führt dazu, dass die betroffenen Personen einer weiteren Kontrolle durch Abtasten der markierten Bereiche unterzogen werden. (Vgl. Costanza-Chock 2020, 1ff.)

Diskriminierung durch Datenverzerrung Für die Identifizierung und Vermeidung von Diskriminierung im Zusammenhang der algorithmischen Mustererkennung sind insbesondere Fragen der Trainingsdatenqualität von Bedeutung. Unfaire Diskriminierung durch Algorithmen kann ihren Ursprung in verzerrten Datensätzen haben, denn Daten bilden die Grundlage von Rechenmodellen und letztlich algorithmischen Entscheidungen. Die Inputsteuerung in ein algorithmisches System ist eine notwendige Bedingung für ›gute‹ Ergebnisse, insofern sind Datenauswahl und Datenintegrität eine bedeutende Voraussetzung für die Fairness einer Anwendung. Informationen und Wissen

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von und über Minderheiten sind in der Regel seltener in Datensätzen vertreten, (vgl. Malik 2018) sodass Daten über manche gesellschaftlichen Gruppen verfügbar sind, über andere jedoch nicht. Für Forschende zum Beispiel sind einige Gruppen aufgrund sprachlicher, sozioökonomischer und biografischer Aspekte leichter zugänglich. Es ist in diesem Fall insbesondere beliebt, mit Studierenden zu forschen, weil hier tendenziell der Zugang einfacher ist als zu anderen Gruppen wie etwa obdachlosen Menschen, Menschen auf der Flucht oder Menschen ohne Zugang zu digitalen Geräten. Die Rolle von Daten im algorithmischen Ökosystem ist nicht zu unterschätzen: »Diskriminierung kann ein Artefakt des Data-Mining-Prozesses selbst sein und nicht ein Ergebnis davon, dass Programmierer*innen bestimmten Faktoren ein unangemessenes Gewicht beigemessen haben.« (Barocas/Selbst 2016: 674, eigene Übersetzung) Die Verzerrungen, die während der Datensammlung, auswahl, und -verarbeitung entstehen, übertragen sich leicht in Computermodelle, die auf Grundlage der Daten trainiert werden. Infolgedessen funktionieren die entsprechenden algorithmischen Systeme am besten für solche Gruppen, welche durch die Daten repräsentiert werden. Ein Beispiel ist der Dienst PULSE, mit dessen Hilfe verpixelte Bilder wiederhergestellt beziehungsweise hochaufgelöst dargestellt werden können. Die Software vervollständigt auf der Grundlage von Mustern aus Trainingsdaten das jeweilige Bild. Die Ergebnisse sorgten jedoch für Aufmerksamkeit, weil verpixelte Bilder von Schwarzen Menschen im unverpixelten Resultat weiß aussahen. Dazu kam es, weil die Trainingsdaten aus mehr als 50.000 Bildern zumeist Abbildungen weißer Menschen waren und auf dieser Grundlage die Fotos Schwarzer Menschen angeglichen wurden. (Vgl. Vincent 2020) Was bei der Diskussion dieses und ähnlich gelagerter Fälle oft übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Überrepräsentation von weißen Menschen in den Datensätzen auch mit der Marktsituation für Archivfotos zu tun hat: Ein Grund dafür, dass sich mehr Bilder von weißen Menschen in den Datenbanken finden, ist, dass der Markt für diese unter anderem aufgrund ungleicher Kaufkraftverteilung größer ist. (Vgl. York 2016) Damit spiegeln Ergebnisse wie diese nicht allein Repräsentation und Unterrepräsentation wider, sondern auch die ungleiche Verteilung von Ressourcen und verweisen auf gesellschaftliche Hintergrundungerechtigkeiten.

Widerspruch und Kontrolle: Verfahren und Instrumente zur Vermeidung von Diskriminierung durch Algorithmen Für die Vermeidung von ungerechtfertigten Diskriminierungen durch algorithmische Entscheidungssysteme können verschiedene Instrumente genannt werden. Sie haben die Umsetzung einer wertorientierten Technikgestaltung zum Ziel und reichen von Verfahren, die auf die Konfiguration der Algorithmen unmittelbaren

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Einfluss haben und unter anderem durch emanzipative Bewegungen vorangetrieben werden, über Standardisierungsverfahren und rechtliche Vorgaben bis hin zu Fragen der Berufs- und Unternehmensethik. Sie betreffen damit Fragen der Selbstregulierung, der öffentlichen Regulierung und des zivilgesellschaftlichen Engagements. Generell ist die Verankerung ethischer Reflexion im Informatikstudium sowie in Aus- und Weiterbildung eine häufige Forderung. (Vgl. AI HLEG 2019) Auch sind die verschiedenen Antidiskriminierungsstellen von staatlicher Seite, der Behörden und Institutionen aufgefordert, sich für die Anforderungen durch algorithmische Entscheidungssysteme neu aufzustellen. (Vgl. Datenethikkommission 2019: 28-29) Diese beiden Aspekte werden im Folgenden nicht weiter ausgeführt. Stattdessen stehen die Themen Technikgestaltung, Diversität in Entwicklungsabteilungen, Standards, Recht, Zivilgesellschaft und Unternehmen im Vordergrund. Zuletzt wird grundsätzlich die Bedeutung von kommunikativen gegenüber algorithmischen Entscheidungsprozessen für die Durchsetzung von Diskriminierungsfreiheit und Fairness diskutiert.

Diversitätssensible Technikgestaltung Forschung und Entwicklung im Bereich algorithmische Entscheidungssysteme und entsprechend insgesamt im Bereich KI und Maschinelles Lernen beschäftigen sich zunehmend mit den Themen Fairness und Diskriminierungsfreiheit. Zu nennen sind hier zum Beispiel die Initiativen der verschiedenen Fachgesellschaften wie etwa der Ethik-Kodex der Association for Computing Machinery (ACM), der Prinzipien, wie zum Beispiel den Nichtschädigungsgrundsatz, Fairness und Nicht-Diskriminierung sowie Schutz der Privatheit aufstellt. Anzuführen sind auch neu entstandene Fachkonferenzen und Forschungszusammenhänge wie Fairness, Accountability and Transparency in Machine Learning (FAccTML) oder Discrimination-Aware Data Mining (DADM), deren Ergebnisse in die Entwicklungsarbeit ausstrahlen sollen. Solche Formen der diversitätssensiblen Forschung nehmen sich Herausforderungen wie Datenverzerrung und Stereotypisierungen an, um zu einer praxisorientierten Realisierung von Fairnessansprüchen und Inklusion in algorithmischen Systemen zu kommen. Einige dieser Ansätze rücken in diesem Zusammenhang explizit die Anliegen marginalisierter Gruppen ins Zentrum, wie zum Beispiel das Design Justice Network. (Vgl. Costanza-Chock 2020) Im Zusammenhang der diversitätssensiblen Technikentwicklung werden spezifische Fragen gestellt: Für wen wird die Technik entworfen? Welche Vorstellungen haben die Entwickler*innen von den anvisierten Nutzer*innen und Konsument*innen? Wer profitiert effektiv von der Technik und wer wird womöglich aufgrund des Designs oder der Implementierung geschädigt, marginalisiert

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oder gar aus epistemischer Sicht ›ausgelöscht‹? Welche Funktionen fehlen, um die Bedürfnisse und Präferenzen von diversen Nutzer*innen zu erfüllen (zum Beispiel Barrierefreiheit oder nicht-binäre Geschlechterkategorien in Online-Profilen)? Dabei spielt unter anderem das Konzept der Intersektionalität eine wichtige Rolle. (Vgl. Cooper 2016: 385-386) Das Konzept macht die besondere Erfahrung von verschränkter Mehrfach-Benachteiligung sichtbar und eignet sich aufgrund eines ausdifferenzierten Modells von direkten, indirekten und unbewussten Diskriminierungsformen in besonderer Weise für eine Anwendung in Bezug auf die komplexen Effekte algorithmischer Systeme. Insgesamt ist bei berufsethischen und entwicklungsorientierten Ansätzen jedoch wichtig, dass Informatiker*innen mit der hohen Verantwortung nicht allein gelassen werden, sondern durch Richtlinien und andere Instrumente bei der Umsetzung dieser Prinzipien Unterstützung finden. Dazu gehören Entwicklungsstandards und Zertifizierungen, Unternehmenskodizes und Selbstverpflichtungen zur Orientierung der Entwicklungsarbeit, aber auch der Schutz von Whistleblower*innen.

Diversität in Entwicklungsabteilungen Die Zusammensetzung eines Design-Teams kann eine große Rolle für die Widerspiegelung der Bedürfnisse und Anforderungen unterschiedlicher Nutzungsgruppen spielen. In vielen Technikentwicklungsprojekten sind zum Beispiel weniger Frauen als Männer und insbesondere weniger Frauen of Color oder Menschen aus dem globalen Süden vertreten. (Vgl. Leavy 2018) Diese Unausgeglichenheit der Repräsentanz von verschiedenen Gruppen hat Implikationen für die Inklusivität der Technik. Designer*innen arbeiten mit sogenannten ›Personae‹, also Konzepten beziehungsweise Stereotypen von möglichen Nutzer*innen und Konsument*innen des Technikprodukts. Hier kann es sein, dass ein Team aufgrund der eigenen Voreingenommenheit nicht an die Interessen und Bedürfnisse bestimmter Gruppen von Nutzer*innen denkt. Zum Beispiel kann es rein männlich besetzten Entwicklungsteams schwerfallen, die Anforderungen von Frauen an einen Dienst zu antizipieren. (Vgl. Wachter-Boettcher 2017: 27ff.) Auch aus Perspektive der epistemischen Gerechtigkeit (vgl. Fricker 2009) sollte die Pluralität der Gesellschaft durch eine Vielfalt der Stimmen und Positionen im Entwicklungsprozess repräsentiert und vermittelt werden. In Frickers Konzept geht es um die mangelnde Zuschreibung von Geltungsmacht im öffentlichen Diskurs und die daraus folgende Marginalisierung bestimmter Gruppen. Dieses ›Silencing‹ führt zu manifesten sozialen Benachteiligungen, aber auch zu einer epistemischen Ungerechtigkeit, da Erfahrungen und Wissen dieser Gruppen als öffentlich anerkanntes Wissen nicht vorkommen.

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Doch die bloße Erhöhung der Vielfalt in den technischen Entwicklungsteams ist keine Garantie für die Berücksichtigung des ganzen Spektrums von Bedürfnissen und Anforderungen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen. Weder können die Vertreter*innen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen in die Rolle einer Interessenvertretung gedrängt werden, noch sind alleine die Entwicklungsteams in der Verantwortung für die Fairness ihres Produkts, sondern ebenso die Unternehmen, die Plattformbetreiber, der Markt, oder es spielt auch schlicht die pragmatische Frage nach der Verfügbarkeit von Daten eine Rolle. Insofern ist eine Erhöhung der Diversitätssensibilität aller Teammitglieder sowie eine Ausrichtung der gesamten Unternehmenspraxis auf Fragen der Diskriminierungsfreiheit notwendig.

Standards und Zertifizierungen Diskriminierungsfreiheit ist ein wichtiger Bestandteil der Qualitätssicherung in Hinblick auf die Vollständigkeit von Datensätzen und ein bedeutendes Thema der Standardisierung und Zertifizierung von algorithmischen Entscheidungssystemen beziehungsweise von KI-Anwendungen. (Vgl. Europäische Kommission 2020; Heesen et al. 2020) Zertifizierungen und/oder die Vorgabe von Herstellungsstandards setzen Rahmenbedingungen für den Markt, die für alle Anbieter*innen gelten und so Anreiz für eine Ausrichtung des Angebots an den entsprechenden Kriterien sind. Je nach Ausprägung sind mit solchen Formen der Regulierung Transparenzanforderungen verbunden, die zum Beispiel über Audits eingelöst werden können. Ähnliche Verfahren der öffentlichen Kontrolle sind bereits für Anwendungen bekannt, in denen die Produktsicherheit, die Gefährdung von Gesundheit und Leben oder eine Allgemeinwohlgefährdung gegeben sind wie zum Beispiel bei Algorithmen im Hochfrequenzhandel oder in Bezug auf (autonom fahrende) Kraftfahrzeuge.

Recht Abgesehen von den allgemeinen rechtlichen Regelungen zum Verbot von Diskriminierungen (im EU-Kontext etwa die Antirassismusrichtlinie (2000/43/EG) oder die ›Gender-Richtlinie‹ (2002/73/EG), die in Deutschland im Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) umgesetzt wurden), sind einige Bestimmungen insbesondere aus der Europäischen Datenschutzgrundverordnung für die Abwehr von Diskriminierungen durch Algorithmen einschlägig. Zu nennen ist hier beispielhaft das Prinzip der menschlichen Letztentscheidung: »Die betroffene Person hat das Recht, nicht einer ausschließlich auf einer automatisierten Verarbeitung […]

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beruhenden Entscheidung unterworfen zu werden, die ihr gegenüber rechtliche Wirkung entfaltet oder sie in ähnlicher Weise erheblich beeinträchtigt.« (Art. 22 Abs. 1 DSGVO) Das heißt, algorithmische Entscheidungen, die ein besonders hohes Potenzial für Diskriminierungen haben, zum Beispiel im Bereich der Personalauswahl oder der Studienplatzvergabe, müssen, bevor sie wirksam werden, durch einen Menschen fachlich beurteilt werden. Problematisch ist hier, dass technische Systeme wie Algorithmen eine »Aura der Rationalität oder Unfehlbarkeit« (Zuiderveen Borgesius 2018: 8, eigene Übersetzung) umgibt. Algorithmen wird aufgrund des Glaubens an ihre technische ›Überlegenheit‹ in Bezug auf Neutralität, Objektivität, Zuverlässigkeit und Exaktheit gemeinhin vertraut. Dies versetzt menschliche Letztentscheider*innen in eine problematische Situation: Sie haben in den allermeisten Fällen ein Informationsdefizit und keine Kenntnis darüber, wie das System zu seinen Ergebnissen kommt. In vielen Arbeitskontexten besteht zudem ein hoher Zeitdruck, was zu einer pragmatisch-zustimmenden Haltung zu Handlungsempfehlungen anregt. Kommt es zu einer Diskriminierung durch eine algorithmisch unterstützte Entscheidung, dann besteht ein Recht zur Anfechtung und »auf Erwirkung des Eingreifens einer Person seitens des Verantwortlichen.« (Art. 22 Abs. 3 DSGVO) Um Anfechtungen und Haftungsfragen gerichtsfest zu machen, ist eine Dokumentation der algorithmischen Entscheidungsprozesse Mindestvoraussetzung. Für die Nutzer*innen sind die sie betreffenden Resultate algorithmischer Systeme außerdem nachvollziehbar darzustellen. Auch hier sind noch viele Fragen dazu offen, wie und in welchem Umfang eine solche Dokumentation insbesondere im Bereich des Maschinellen Lernens umgesetzt werden kann und dazu, was Nachvollziehbarkeit für unterschiedliche Nutzungsgruppen (zum Beispiel Kinder und Jugendliche) bedeutet. Wie dieses Beispiel zeigt, mangelt es noch häufig an einer Etablierung von rechtlichen Ansprüchen in der Praxis. Selbst wenn Recht im Falle diskriminierender Algorithmen anwendbar ist, ist eine effektive Rechtsdurchsetzung schwierig. Weitere Faktoren neben Nachvollziehbarkeit von Ursachen von und Verantwortung für Diskriminierung sind die Fähigkeit von Nutzer*innen, Diskriminierung überhaupt zu erkennen. Häufig haben Nutzer*innen nicht die Möglichkeit, die sie betreffenden algorithmischen Resultate mit denen anderer Nutzer*innen zu vergleichen. Man ist sich also nicht sicher, ob eine Diskriminierung vorliegt. Die gerichtsfeste Arbeit mit Beweisen macht es Nutzer*innen somit schwer, eine Diskriminierung rechtlich zu verfolgen.

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Zivilgesellschaft und Nutzer*innen Für Nutzer*innen ergeben sich in ihren Rollen als Bürger*innen und als Konsument*innen oder Nutznießer*innen von algorithmischen Systemen eine Reihe von Interventions- und Aktionsmöglichkeiten. Einzelpersonen oder Organisationen können kollaborative Online-Plattformen aufstellen und über experimentelle Datenverarbeitungsprozesse selbst Techniken des fairen Maschinenlernens entwickeln. (Vgl. Veale/Binns 2017; Hagendorff 2019: 55) Zur Umsetzung eines bürgerschaftlichen und menschenrechtsorientierten Community Policings können zudem zivilgesellschaftliche Watchdog-Einrichtungen gebildet und unterstützt werden. Auch Austauschforen (zum Beispiel über Apps) können hilfreich sein, um systematische Diskriminierungen durch algorithmische Entscheidungssysteme zu identifizieren und ihnen zu begegnen. In diesen Fällen können Diskriminierungen bekannt gemacht werden, aber ebenso durch Kommunikation im Rahmen des Bürger*innenjournalismus, Blogging oder den professionellen (Daten)journalismus.

Anbieter*innen und Geschäftsbereich Geschäftliche Anbieter*innen von Diensten, die auf algorithmischen Systemen beruhen, können einen ›Beipackzettel‹ für ihre Produkte liefern. Dazu gehören Anforderungen wie die Auskunft über grundlegende Parameter wie Vorannahmen, Zweckbestimmung und mögliche ›Nebenwirkungen‹ der Anwendung. Des Weiteren kann den Adressat*innen von entsprechenden Diensten transparent gemacht werden, welche Daten ausdrücklich nicht in die Berechnungen einfließen, um Verunsicherungen zu vermeiden und das Ergebnis besser einschätzen zu können. In diesem Zusammenhang können den Betroffenen auch Kriterien angegeben werden, die mindestens erfüllt sein müssen, um andere, für sie bessere Resultate zu erzielen – zum Beispiel können sie darüber informiert werden, dass Sprachkenntnisse für die algorithmische Bewertung einer beruflichen Qualifikation besonders stark gewichtet werden und in diesem Punkt nachbessern. (Vgl. Wachter/Mittelstadt/Russell 2018) Bei all diesen Angaben ist die Allgemeinverständlichkeit der Ausführungen sicherzustellen. Um Diskriminierungen durch Algorithmen zu verhindern, aber auch um den Umgang mit Beschwerden und Fehlern zu verbessern, sollten zudem Schulungen für Beschäftigte, die algorithmische Systeme nutzen, angeboten werden. (Vgl. Datenethikkommission 2019: 168; Heesen et al. 2020)

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Verständigung statt Berechnung: Numerische und diskursive Entscheidungsfindung Zuletzt soll auf einen Punkt eingegangen werden, der ganz grundsätzlich die Arbeitsweise algorithmischer Systeme im Vergleich zu kommunikativ verfassten Formen der Entscheidungsfindung in den Blick nimmt. Hier soll deutlich werden, dass Diskriminierungsprobleme auf grundsätzlicher Ebene nicht durch Technik behoben werden – auch wenn Techniken dabei unterstützen können, Ungerechtigkeit und Benachteiligungen nicht weiter manifest werden zu lassen. Algorithmische Systeme arbeiten in der Regel mit Daten, die den alltäglichen Handlungsroutinen von Menschen beziehungsweise Datenbanken aus Wissenschaft, Industrie und Verwaltung entstammen. Die Nutzung dieser Daten baut auf den zahlreichen direkten und indirekten Spuren des individuellen Handelns auf, die durch die Durchdringung der Alltagswelt mit Informationstechniken zu erfassen sind. Quellen für die massenhafte Datenerhebung sind somit sowohl die bewusste und unbewusste Interaktion mit informationstechnischen Systemen in Beruf und Alltag als auch die Interaktion von Mensch zu Mensch über die natürliche Sprache in Sozialen Medien, Fernsehen, Presse oder E-Mail. Die Nutzung dieser Daten für die politische Entscheidungsfindung scheint attraktiv. Kennzeichnend hierfür sind zum Beispiel die Auseinandersetzungen mit den Chancen und Risiken von Datenauswertungen für die gesellschaftliche Regulierung, wie dies etwa die US-amerikanische Regierung, die europäische Union und auf lokaler Ebene mehr und mehr Städte und Kommunen unterschiedlichster Größe praktizieren. (Vgl. The White House 2015) Die Steuerung über Daten wird real in Prozessen für ein ›intelligentes‹ Management in Politik und Unternehmen oder im Ruf nach einer Evidence-Based-Policy, in der daten- und softwaregetriebenen Analysen gegenüber politischen, öffentlichen beziehungsweise gemeinschaftlichen Verständigungsprozessen der Vorzug gegeben wird (was letztlich selbst wieder eine politische Entscheidung ist). (Vgl. Heesen 2020) Mit den Erhebungen über gesellschaftliche Lebens-, Arbeits- und Umgebungssituationen treten Prozesse in den Vordergrund, die theoretische Konzepte zur demokratischen Bedeutung von öffentlichen Diskursen relativieren und schwächen können. (Vgl. Richter 2015: 45; Boyd et al. 2012: 662) Für den in der politischen Theorie dominierenden Begriff von Öffentlichkeit steht ein normatives Konzept im Vordergrund, (vgl. Habermas 1996) das sich auf die Bedeutung von Öffentlichkeit für die gesellschaftliche Selbstorganisation wie auch die Kritik und Kontrolle staatlicher Einrichtungen konzentriert. Nach dieser normativen Bestimmung dient Öffentlichkeit der Ermöglichung innergesellschaftlicher Verständigung als Bedingung zur Reproduktion einer funktionsfähigen Demokratie. Entsprechend dient Öffentlichkeit auch zur institutionellen Absicherung einer gemeinschaftli-

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chen Handlungsfolgenkontrolle in gesellschaftlicher Verantwortung. (Vgl. Dewey 1996, 112) In dem demokratietheoretisch grundlegenden Konzept von Öffentlichkeit bestimmt nur die Kommunikation zwischen ›natürlichen‹ Personen oder Personengruppen (mittels Medien) über den politischen Diskurs und Vorstellungen zum Allgemeinwohl. Zum Zustandekommen solcher kommunikativer Öffentlichkeitsformen gehört insbesondere, sich der Teilhabe an einer öffentlichen Kommunikationssituation bewusst zu sein. Die individuelle Entscheidung, an Öffentlichkeit teilzuhaben, geht somit einher mit der kognitiven Einstellung der Kommunikationspartner*innen zu ihrer Kommunikation als öffentliche. Sie drückt sich aus im Verhalten der Kommunikationspartner*innen und der Wahl des Kommunikationsgegenstands. Sie zeigt sich entsprechend zum Beispiel als überindividuelle Themenwahl, die in der Regel mit politischer Relevanz verbunden ist. Aus der Kommunikationssituation gehen außerdem bestimmte Reziprozitätsannahmen hervor. Die Kommunizierenden haben insofern gegenseitige Erwartungen aneinander, die konzeptionell vor allem in der Diskursethik offengelegt und formuliert werden. Sie betreffen die Wahrheit, die Wahrhaftigkeit, die Verständlichkeit und die normative Richtigkeit von verständigungsorientierter Kommunikation. (Vgl. Habermas 1996: 588) Öffentliche Kommunikation unterliegt daher dem Anspruch, in besonderer Weise ›wertvolle‹ Kommunikation in Hinblick auf Verständigung, Perspektivenübernahme und das Bemühen um gültige und durchdachte Diskursformen zu sein. Zu den Charakteristika normativer Vorstellungen von öffentlicher Kommunikation gehören also die Annahmen, in einem gewissen Maß vernunftgeleitet zu sein, auf gegenseitige Erwartungshaltungen zu rekurrieren und sich auf bestimmte Themen zu fokussieren. Bei Datenerhebungen und Mustererkennung steht nicht der Diskurs mit seinen Eigenheiten, sondern Erhebungen zum Verhalten einer abstrakten Allgemeinheit im Vordergrund. Es handelt sich um eine Allgemeinheit, die bei einer letztlich maschinellen Modellierung dessen, was (vermeintlich) ›der Fall ist‹, verharrt. Ihre Verfahren und Resultate sind jedoch nicht selbstreflexiv in dem Sinne, dass sie ihre eigene Funktionsweise und Wirkung kognitiv als »vereinigter Wille aller« (Kant 1956: 432) oder als volonté générale (Rousseau 2010) einbeziehen würde. Dieser Einbezug aber hat Auswirkungen auf die Art der Kommunikation in Form und Inhalt sowie letztlich auf das Ergebnis der individuellen Meinungs- wie der allgemeinen Willensbildung. Deshalb, weil jede*r Beteiligte an dieser kollektiven Art der Willensbildung aufgrund des Verfahrens mitbedenkt, was die jeweils individuelle Position für die Allgemeinheit bedeutet, kommen (dem Ideal nach) auch nur solche Positionen zum Ausdruck, die nicht zum Schaden der Allgemeinheit oder des demokratischen Systems als Ganzem sind. Diese Funktionsweise wird bei datengetriebenen Verhaltensanalysen ausgesetzt. Das wird besonders deutlich, wenn man sich den häufig beobachteten Wi-

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derspruch von Einstellung und Handeln vor Augen führt, bekannt zum Beispiel unter Begriffen wie Attitude-Behavior Gap oder Value-Action Gap. (Vgl. Landry et al. 2018) Demnach handeln Menschen häufig anders als es ihren Überzeugungen entspricht. Sie sind zum Beispiel für Bildungsgerechtigkeit, schicken ihre Kinder aber lieber auf eine Schule mit wenigen Kindern aus sozioökonomisch schwächeren Familien; sie haben nichts gegen Migrant*innen oder People of Color, wollen aber nicht neben ihnen wohnen. (Antidiskriminierungsstelle 2014: 76; Bonilla-Silva 2017: 120ff.) Genau dieses Verhalten wird jedoch in Datenauswertungen abgebildet und fließt teils sogar automatisiert in Steuerungssysteme ein (zum Beispiel durch personalisierte Werbung, Wohnwertberechnungen oder die ›intelligente‹ Regulierung von Verkehrsflüssen). Im Unterschied zu diskursiven Öffentlichkeiten ist bei einer Entscheidungsfindung über Datenerhebungen und algorithmische Mustererkennung nur von einer numerischen Allgemeinheit zu sprechen, und damit einer Allgemeinheit, die sich selbst nicht als intersubjektiv oder selbstreflexiv versteht, aber dennoch eine Wirkung in Hinblick auf politische und wirtschaftliche Entscheidungsprozesse entfaltet. Auf diesem Wege werden individuelle und private Handlungen durch ihre technische Agglomeration und Auswertung zu überindividuellen und öffentlichen Strukturbedingungen. Dabei arbeitet die (›intelligente‹) Auswertung von Massendaten mit der Identifizierung von Korrelationen. Es geht hier nicht um das Auffinden von Begründungen und die Priorisierung von Bedeutungen, sondern um das Erkennen von Mustern in Datenagglomerationen. Eine konsequente Nutzung von algorithmischen Systemen für das politische Handeln impliziert insofern, die Analyse von kontrafaktischen und gegebenenfalls auch moralischen Motiven und Begründungszusammenhängen aus der politischen Reflexion auszuschließen. Statt einer bewussten (innovativen oder kritischen) Steuerung der Themen im öffentlichen Diskurs schreiben algorithmische Systeme gesellschaftliche Analysen auf das empirisch Vorhandene fest. Insofern reproduzieren Datenanalysen bislang immer nur das ohnehin Vorhandene und reduzieren die Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine affirmative Perspektive. (Vgl. Heesen 2020) Um Diskriminierung zu überwinden, sind insofern gemeinsame Aushandlungsprozesse, Streit und Veränderungen der Strukturbedingungen notwendig – nicht aber das Zusammenzählen und Verrechnen individueller Verhaltensweisen oder Meinungsäußerungen.

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Diskriminierung durch Algorithmen vermeiden

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Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness? Renate Baumgartner

Künstliche Intelligenz (KI) wird seit einigen Jahren in den Medien sowie diversen wissenschaftlichen Disziplinen kontrovers diskutiert. (Baecker 2018; Gillespie 2014; Topol 2019; Zuboff 2018) Optimistische Stimmen sehen in KI eine Möglichkeit unser Leben zum Besseren zu verändern, Durchbrüche in Technik und Wissenschaft zu erreichen und zeitgenössische Herausforderungen in der Medizin zu meistern. (Vgl. Anderson 2008; Hütte 2019; Topol 2019) Hütte (2019) spricht in der Süddeutschen Zeitung davon, wie KI die Medizin zu einer »gerechteren, menschlicheren, kurzum: zu einer besseren Medizin weltweit« entwickeln werde und somit »die große Zukunft« der Medizin sei. Kritische Stimmen wiederum warnen vor überzogenen Vorstellungen, setzen sich differenziert mit der Technik auseinander und antizipieren, welche Nachteile (manchen) Menschen durch KI entstehen können. In seinem Kommentar zu Hüttes Text merkt Bartens (2019) an, dass »KI in der Medizin [ist] ein großer Bluff« wäre, »veruntreute Daten und enttäuschte Patientenhoffnungen werden nicht lange auf sich warten lassen.« Dieser mediale Schlagabtausch zeigt, dass KI in der Medizin ein Thema mit großer Aktualität ist, und nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch medial kontrovers verhandelt wird. Dieser Beitrag wird zwar auf beide Seiten eingehen, aber vor allem aufzeigen, welche Herausforderungen KI im Gesundheitsbereich in puncto Diskriminierung mit sich bringen kann. Im Speziellen werde ich herausarbeiten, wie KI und konkret maschinelles Lernen (ML) als Technik, trotz des Anspruches objektiv zu sein, diskriminieren kann. Ich werde außerdem darauf eingehen, welche Probleme sich ergeben, wenn eine Technik, der Objektivität zugeschrieben wird, diskriminiert. Zuletzt werde ich diskutieren, welche Konsequenzen dies für gesundheitliche Chancengleichheit nach sich ziehen kann.

Was ist KI? Aber was versteht man unter KI überhaupt? Welche Rolle spielt sie in unserem Leben und welche könnte sie innerhalb des Gesundheitsbereichs spielen? KI ist ein

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Überbegriff für Maschinen, deren Verhalten als ›intelligent‹1 bezeichnet werden kann. (Vgl. Fry 2019) Der Teilbereich von KI, der sich am schnellsten entwickelt, ist das ML und, innerhalb davon, die Technik des Deep Learnings. Durchbrüche im Deep Learning sind der Grund dafür, dass KI seit 2012 wieder einen regelrechten Boom erfährt, vielleicht sogar stärker als es zuletzt in den 1950er Jahren der Fall war. (Vgl. ebd.) Auch innerhalb der Anwendungen in der Medizin sind ML und Deep Learning die am stärksten verbreiteten Techniken. (Vgl. Topol 2019) Allgemein wird mit ML ein technischer Vorgang aus der Informatik beschrieben, der eine Weiterentwicklung von klassischen Algorithmen und einfacher Statistik darstellt. (Vgl. Gillespie 2014) Algorithmen sind Befehlsausführungen innerhalb eines Computerprogramms, die auf mathematischen Formeln beruhen und Dateneingaben nach einem Schema in Ausgaben oder Ergebnisse umwandeln. (Vgl. ebd.) Sie können zur Mustererkennung, für Vorhersagen, Empfehlungen und so weiter verwendet werden. (Vgl. Kitchin 2017) Im Unterschied zu klassischen Algorithmen, bei denen Eingabedaten nach dem immer gleichen, vorhersehbaren Schema in Ausgabedaten umgewandelt werden, kann sich im ML der Algorithmus durch die Daten, auf die er angewandt wird, weiterentwickeln. Je mehr Freiraum das System bekommt, Aufgaben selbsttätig optimiert zu lösen, desto schwieriger ist es jedoch zu verstehen, wie und warum das System zu genau dieser Lösung gekommen ist. Dies ist insbesondere im Deep Learning der Fall, wo es teilweise unmöglich ist nachzuvollziehen, was im Inneren des Systems abläuft. (Vgl. Pasquale 2015; Fry 2019) Dieses Phänomen des Nichtwissens, was innerhalb eines technischen Systems passiert, wird auch als ›Black Box‹ bezeichnet: Man weiß, welche Daten eingegeben wurden und welche erhalten werden, es ist jedoch unklar, wie der Prozess dazwischen verlief und warum man zu den erhaltenen Ergebnissen kommt. (Vgl. Pasquale 2015) KI findet mittlerweile in vielen Bereichen Verwendung. Beispiele des alltäglichen Lebens sind sogenannte Recommender Systeme bei Amazon, Netflix oder in sozialen Medien, die Vorschläge machen, und der PageRank-Algorithmus von Google, der Suchanfragen beantwortet. (Vgl. Gillespie 2014) Vielfach wurde schon problematisiert, was es bedeutet, unser Kauf- und Medienkonsumverhalten oder die Art, wie wir zu Informationen kommen, von KI beeinflussen zu lassen. Weitere Bereiche, in die KI schon Einzug gehalten hat, sind Programme zur Vorsortierung von Bewerbungen und zum Errechnen der Kreditwürdigkeit von Personen. (Vgl. Prietl 2019) Anhand dieser Beispiele wurde bisher schon wissenschaftlich aufgezeigt, wie die Welt bereits jetzt durch KI (und die Menschen und Firmen dahinter) geformt wird. Sie wählt Informationen aus, die unser Denken und Handeln prägen und beeinflusst folgenschwere Entscheidungen, wie Job- oder Kreditvergabe.

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Vereinfacht gesagt das Übernehmen von Aufgaben, die üblicherweise ›intelligenten‹ Wesen zugeschrieben werden.

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?

Welche Konsequenzen hat es, wenn auch sensible Bereiche wie die Medizin von KI durchzogen werden?

KI in der Medizin KI wird auch in der Medizin eine große Zukunft prognostiziert. (Vgl. Ferryman/Winn 2018; Hütte 2019; Topol 2019) Dafür gibt es verschiedene Gründe. Durch die Alterung der Bevölkerung befürchtet man in vielen Ländern (vor allem des globalen Nordens) eine Zunahme an Menschen, die medizinische Dienstleistungen in Anspruch nehmen und eine Abnahme an Menschen, die Gesundheitsberufe ausführen können. (Vgl. Evans/Hielscher/Voss 2018; Topol 2019) Zusätzlich erhofft man sich durch die Auslagerung von Routinetätigkeiten an digitale Anwendungen Zeitersparnis und damit auch mehr Zeit des Gesundheitspersonals für Patient*innen. (Vgl. Hütte 2019; Willyard 2019) Darüber hinaus kann KI bei der Diagnose und Behandlung von Krankheiten assistieren. Anwendungsmöglichkeiten innerhalb der Medizin sind vielfältig. ML ist zum Beispiel gut darin, Muster innerhalb großer Datenmengen zu erkennen. Dies ermöglicht entscheidende Weiterentwicklungen innerhalb der personalisierten Medizin, die darauf basiert, mittels großer Datenmengen die jeweils passende Therapie für Gruppen von Patient*innen zu errechnen. (Vgl. Fröhlich et al. 2018) Beispiele wären der Einsatz bei der Therapiewahl HIV-positiver Menschen (vgl. Kumari/Chouhan/Suryawanshi 2017) und Anwendungen in der Identifizierung der passenden Krebstherapie. (Vgl. Fröhlich et al. 2018) Die vorhin erwähnte Mustererkennung prädestiniert ML zur Anwendung bei Routineaufgaben in der Pathologie, wie beim Auszählen von histologischen Befunden, oder in der Radiologie, beim Erkennen von Krebs auf digitalen Bildern. Beispiele hierfür sind das in Deutschland entwickelte Hautkrebserkennungstool Mole Analyzer und Anwendungen zum Erkennen von Lungenkrebs oder von Brustkrebs. (Vgl. del Rosario et al. 2018; Topol 2019) Algorithmische Ergebnisse sind, wie in der Statistik üblich, meist Angaben über Wahrscheinlichkeiten. Der Einsatz für Prognosen und Risikoeinschätzungen ist daher eine weitere naheliegende Anwendung. Darunter fallen zum Beispiel Programme zum Errechnen der Wahrscheinlichkeit einer Sepsis, von Demenz oder der Sterblichkeit nach einer Krebstherapie. (Vgl. Topol 2019) Weitere medizinische Anwendungen, losgelöst von der Behandlung einzelner Patient*innen, gibt es innerhalb der Medikamentenentwicklung und -testung. Unter anderem wird an Anwendungen gearbeitet, welche die Wirkung eines chemischen Moleküls digital prognostizieren oder den Ausgang klinischer Studien simulieren. (Vgl. Freedman 2019; Woo 2019) Krankenkassen könnten KI außerdem dazu verwenden, um Betrug von Ärzt*innen aufzudecken. (Vgl. Bauder/Khoshgoftaar 2018)

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass KI in Bereichen eingesetzt wird, in denen die Annahme besteht, dass sie entweder etwas besser kann als Menschen oder ihnen Routineaufgaben abnehmen kann. In manchen Fällen sollen Berechnungen ausgelagert werden, die menschliche Kompetenzen übersteigen, wie das Miteinbeziehen vieler Daten (siehe das Beispiel der personalisierten Medizin, die teilweise dadurch erst möglich wird) oder es soll eine Tätigkeit ausgelagert werden, bei der Menschen eine hohe Fehleranfälligkeit aufweisen. (Vgl. SideyGibbons/Sidey-Gibbons 2019; Topol 2019) Mammografie zur Brustkrebsvorsorge war lange Zeit ein Negativbeispiel für ein hohes Maß an falsch positiven und falsch negativen Beurteilungen durch Ärzt*innen. Studien aus 2019 warten mit dem Ergebnis auf, dass ein Deep Learning-Tool hier passendere Diagnosen stellt als sechs Expert*innen. (Vgl. McKinney et al. 2020) In anderen Fällen soll eine Tätigkeit durchgeführt werden, für die Expert*innen als überqualifiziert gelten beziehungsweise bei der man annimmt, die Zeit der Expert*innen wäre sinnvoller für anderer Tätigkeiten eingesetzt, wie bei Routinediagnosen in der Pathologie. (Vgl. Topol 2019) Wieder andere Tools wollen Informationen und Orientierungshilfe bereitstellen, damit Patient*innen das Gesundheitswesen gezielter in Anspruch nehmen. Apps wie ADA wären hierfür ein Beispiel. Von ihren Entwickler*innen als »die Zukunft des Gesundheitswesens« bezeichnet, verfügt sie unter anderem über eine »medizinische Bibliothek« für Anweder*innen und bietet ihnen eine Symptomanalyse zur Ursachenerkennung. (Ada Health GmbH 2020)

Exkurs I: Begrifflichkeiten (Diskriminierung vs. gesundheitliche Ungleichheit) Die Einsatzmöglichkeiten von KI sind also vielseitig. Fraglich ist jedoch, welche Rolle hierbei Diskriminierung beziehungsweise Fairness spielen. Bevor ich mich der Diskussion dieser Fragen zuwende, ist eine Begriffsklärung angebracht. Wie so oft, wenn verschiedene Disziplinen sich einem Thema widmen, werden unterschiedliche Begriffe verwendet um manchmal ähnliche, manchmal unterschiedliche Aspekte einer Problemstellung zu bezeichnen. Dies ist auch in den Diskursen zu KI in der Medizin so. Einerseits bringen sich technische Disziplinen in Diskurse ein, andererseits medizinische Disziplinen. Im technischen Diskurs überwiegen Begriffe wie ›Diskriminierung‹ und ›Fairness‹, die Auswirkungen von Technik bezeichnen, (vgl. Hagendorff 2019) während medizinische Disziplinen mit Diskriminierung vor allem auf Erfahrung zwischen Personen im Gesundheitssystem rekurrieren. Technische Disziplinen verstehen unter algorithmischer Diskriminierung einerseits eine Sortierung oder Differenzierung zwischen Eigenschaften, Mustern etc., die zunächst wertfrei ist. Diese wird erst dann zu einer ungerechten sozialen Diskriminierung, wenn sie als ungerecht bewertet wird und Ergebnisse mit

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?

Personenkategorien verbunden sind, ohne dass dafür ein relevanter Zusammenhang besteht. ›Fairness‹ wird in diesem Zusammenhang meist als Gegenspieler von Diskriminierung verwendet und bezeichnet die Praxis, dass die KI verschiedenen Personengruppen unabhängig von ihren persönlichen Merkmalen ein gleiches Ergebnis zuspricht. (Vgl. Hagendorff 2019) Innerhalb medizinischer Disziplinen wird ›Diskriminierung‹ verwendet, um über Diskriminierung von Gesundheitspersonal innerhalb des Gesundheitswesens zu sprechen oder über speziell diskriminierendes Verhalten vom Gesundheitspersonal gegenüber Patient*innen, weniger aber um darüber hinausreichende diskriminierende Praxen zu benennen. Im letzteren Zusammenhang findet eher das Begriffspaar ›gesundheitliche Ungleichheit‹ (Englisch health care disparity oder health inequality) (vgl. Gianfrancesco et al. 2018; Rajkomar/Dean/Kohane 2019) und als Gegensatz dazu ›gesundheitliche Chancengleichheit‹ (Englisch health equity) Verwendung. Von gesundheitlicher Ungleichheit spricht man, wenn es einen Unterschied in der Gesundheit oder den wichtigen Einflussfaktoren auf Gesundheit gibt, der systematisch sozial benachteiligte Gruppen trifft. Gesundheitliche Chancengleichheit wiederum heißt gleiche Chancen zu haben gesund zu sein und zu bleiben. (Vgl. Braveman 2006) Diese Begriffe werden vermehrt im Zusammenhang von Medizin und KI verwendet. (Vgl. Ferryman/Winn 2018) Sie scheinen auch aus (sozial-)medizinischer Perspektive besser geeignet, um weitreichende gesundheitliche Auswirkungen einer Technik zu beschreiben, die langfristig zu einer schlechteren Gesundheit führen kann, wie mangelnder Zugang zu medizinischen Behandlungen, wenn die Technik nicht auf eine Personengruppe angewendet werden kann oder eine fehlerhafte Diagnose stellt, da gewisser Personengruppen beim Trainieren eines ML-Algorithmus nicht bedacht wurden. Im folgenden Text werde ich der Einfachheit halber bei ›Diskriminierung‹ und ›Fairness‹ bleiben, wenn es um die technische Seite der Causa geht und ›gesundheitliche Ungleichheit‹ oder ›gesundheitliche Chancengleichheit‹ verwenden, wenn ich gesundheitliche Auswirkungen benenne.

Fairere Medizin durch KI? Viele Akteur*innen im Feld argumentieren, dass KI zu einer objektiven Medizin und zu einer gleichberechtigten Gesundheitsversorgung beitragen könnte. (Vgl. Anderson 2008; Hütte 2019; Topol 2019) Menschen hätten Vorurteile, ein Algorithmus jedoch nicht. KI wäre daher in der Lage, eher zu unvoreingenommenen und damit objektiven Ergebnissen zu kommen als Menschen. Auch könnten Ungleichheiten durch KI erst aufgedeckt werden. Eine der vorherrschenden Meinungen ist daher, dass die Medizin mit KI gesundheitliche Chancengleichheit vorantreiben könnte, also allen Menschen eine gleich gute medizinische Behandlung zukommen lassen könnte, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sozioökonomischen Posi-

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tion, Ethnizität, race, Alter, Gesundheitszustand etc. (Vgl. Ferryman/Winn 2018; Nordling 2019) Hinter dieser Hypothese liegen bestimmte Vorstellungen Menschen und Maschinen betreffend, die vor allem von naturwissenschafts- und techniknahen Berufsgruppen vertreten werden. Menschen werden darin als ungenau, voreingenommen und daher eher als Risikofaktor oder Daten-verunreinigend gesehen. Technik wird als objektiv, unabhängig von menschlichem Einfluss, und damit unabhängig von Subjektivität, verstanden. (Vgl. Gillespie 2014) Um diese Annahmen genauer in den Blick zu nehmen, lohnt die Perspektive der Wissenschafts- und Techniksoziologie. Sie beschäftigt sich unter anderem damit, wie Technik und Wissen entstehen. (Vgl. Rammert 2016) Dabei untersucht sie die Beteiligung verschiedener Akteur*innen im Feld. Manche Theorien wie die Akteur-Netzwerk-Theorie würden dabei auch technische Anwendungen als Akteur*innen oder »Aktanten« (Latour 2007: 81) im Netz begreifen. Im Prozess des ML könnte man sehr vereinfacht davon ausgehen, dass es 1. Daten gibt, die in der Vergangenheit aufgezeichnet wurden; 2. Personen gibt, die Daten aufgezeichnet haben und sie teilweise auch selbst bezeichnet haben (zum Beispiel Ärzt*innen, die eine Krankheit diagnostiziert haben); 3. Medizin-, Bioinformatiker*innen oder Programmierer*innen gibt, die die Technik entwickeln und teilweise (mit)entscheiden, welche Daten das System beim Training zu sehen bekommt; 4. den Algorithmus selbst gibt; 5. die Anwender*innen des Systems gibt, die das ML-Tool als Entscheidungshilfe benutzen und 6. die Patient*innen gibt. KI, ihre Entwicklung und Verwendung stellt sich somit, wie viele andere Techniken, bei theoretisch differenzierter Betrachtung als erstaunlich komplex dar. Es gibt verschiedene Möglichkeiten KI zu entwickeln. Ein gängiges Verfahren ist das ›supervised‹ Learning. Es beruht darauf, dass im Entwicklungsprozess in das ML-Tool Trainingsdaten eingespeist werden, anhand derer die Anwendung lernen soll, wie sie eine Kategorisierungs- oder Regressionsaufgabe möglichst gut löst. (Vgl. Sidey-Gibbons/Sidey-Gibbons 2019) Das System wird mit einem anderen Datensatz evaluiert und erst dann angewandt. Im weiteren Verlauf werden der Prozess und einige der Akteur*innen beleuchtet und diskutiert, inwiefern sie zu einem ML-Tool beitragen könnten, welches diskriminierend oder fair(er) wäre beziehungweise gesundheitliche Chancengleichheit fördern würde. Zuvor wird ein grober Abriss darüber gegeben, welche Rolle Diskriminierung in der Medizin im Allgemeinen spielt und welche Disziplinen innerhalb der Medizin sich generell damit beschäftigen.

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?

Exkurs II: Diskriminierung und gesundheitliche Ungleichheit innerhalb der Medizin Was kann mit Diskriminierung in der Medizin bezeichnet werden und ist dies überhaupt der passendste Begriff? Um dieses weite Feld zu ordnen, finde ich folgende Unterscheidung sinnvoll: Zum einen kann von Diskriminierungserfahrungen gesprochen werden, die Patient*innen im Gesundheitswesen widerfahren. Sie erleben diese durch ihre körperliche, psychische Verfasstheit oder soziale Position, weil sie nicht klar einem Geschlecht zuzuordnen sind, chronische Erkrankungen haben, mit Behinderungen leben, dick sind etc. (Vgl. Beigang et al. 2017) Zum anderen gibt es Teilbereiche der Medizin, die sich damit beschäftigen, inwiefern Personenkategorien wie Geschlecht, sozioökonomische Position, Ethnizität, race etc. einen Einfluss auf unsere Gesundheit haben beziehungsweise darauf, welche medizinische Behandlungen uns zukommen. Gendermedizin und Sozialmedizin wären nur einige Disziplinen, die sich mit der Gesundheit spezieller Personengruppen im Zusammenhang mit ihrer kategorialen Zuschreibung befassen und damit Informationen zur Verfügung stellen, inwiefern diese besondere Behandlungen erhalten sollten oder diskriminiert werden. Die Sozialmedizin interessiert sich unter anderem dafür, welchen Einfluss die sozioökonomische Position auf die Gesundheit von Personen hat. Dabei zeigt sich durchgängig, dass ein niedrigeres Einkommen oder ein geringer formaler Bildungsabschluss zu einer schlechteren Gesundheit2 und einer geringeren Lebenserwartung führt. Diabetes oder kardiovaskuläre Erkrankungen korrelieren zum Beispiel stärker mit niedrigen als mit höheren Bildungsabschlüssen. (Vgl. Lampert et al. 2018) Gendermedizin oder Geschlechtsbasierte Medizin (Englisch sexand-gender-based medicine) befasst sich damit, inwiefern Geschlecht bei Erkrankungen und Behandlungszugängen eine Rolle spielt. (Vgl. Kautkzy-Willer 2012) Also einerseits, ob es einen Unterschied zwischen Geschlechtern bei Gesundheit und Erkrankungen gibt und andererseits, ob verschiedene Geschlechter auch unterschiedliche Behandlungsangebote bekommen. So ist zum Beispiel bekannt, dass Frauen andere Symptome bei einem Herzinfarkt haben als Männer. (Vgl. RegitzZagrosek 2018) Selbst nach der Diagnose eines Herzinfarkts sind die Behandlungen, die Frauen zuteilwerden, weniger invasiv, weniger wirksam und mit einer schlechteren Prognose verbunden als die der Männer. (Vgl. ebd.) Was hat dies nun mit KI zu tun? Im Folgenden möchte ich die Fäden zwischen Diskriminierung oder gesundheitlicher Ungleichheit in der Medizin und KI zusammenführen und erläutern, warum KI-Tools in der Medizin und ihr Einfluss auf 2

Die Vorstellung von Gesundheit versus Krankheit und was diese jeweils konstituiert ist natürlich für sich schon normativ. Zusätzlich wurde und wird auch im Namen der Gesundheit diskriminiert und selektiert.

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Diskriminierung/Fairness einer kritischen Betrachtung unterzogen werden sollten. Dabei werde ich auf einige der vorher erwähnten menschlichen und nichtmenschlichen Aktanten zurückkommen und anhand der Entwicklung von KI und der Produktion der dafür notwendigen Daten nachzeichnen, wo Diskriminierung – ganz im Gegensatz des Postulats der Objektivität – in Technik Eingang finden kann.

Daten, Daten, Daten Beim ML handelt es sich um statistische Verfahren, bei denen üblicherweise große Datenmengen verwendet werden, um eine Anwendung funktionstüchtig zu machen. Der Algorithmus lernt aus den präsentierten Daten und leitet daraus Wahrscheinlichkeiten ab. (Vgl. Gillespie 2014; Topol 2019) Ihre Verfügbarkeit, ihre Qualität und die Diversität des Datensatzes beeinflusst in essentieller Weise die Qualität der Ergebnisse. Dieser Abschnitt behandelt daher Themen rund um Daten und Datensatz. Der erste Punkt betrifft das prinzipielle Vorhandensein von Daten, denn es ist unklar, ob überhaupt von allen Personengruppen genügend Daten vorhanden sind. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018) Welche Auswirkungen können KI-Anwendungen daher auf Personengruppen haben, die einer sehr kleinen statistischen Gruppe angehören oder aus sonstigen Gründen kaum in Datensätzen vertreten sind? Manche diskriminierten Gruppen sind klein, wie zum Beispiel Transgender- oder Intersexpersonen. Sie machen nur ca. 0,5-4,6 % der Bevölkerung aus. (Vgl. Fausto-Sterling 2000; FRA 2014) Andere Gruppen begeben sich sehr selten oder besonders häufig unter ärztliche Kontrolle, das heißt es gibt signifikant wenige oder viele Daten von ihnen in einem Datensatz; (vgl. Gianfrancesco et al. 2018) man denke an sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen, die seltener zum Arzt gehen, oder Menschen, die nicht krankenversichert sind. (Vgl. Lampert et al. 2016) Es ist unklar, welche Daten über Personengruppen eingegeben werden. Viele vielleicht relevante Informationen über Patient*innen, wie Einkommen, Ethnizität und so weiter liegen meist nicht vor. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018) Abgesehen davon haben viele Gruppen vielleicht keinen Anreiz oder lehnen es auch ab persönliche Daten zur Verfügung zu stellen. Eine Möglichkeit, diversere Datensätze zu erhalten, ist Daten von gewissen Personengruppen zuzukaufen. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Daten von Personengruppen, von denen es prinzipiell wenige Daten gibt, immer fehlen werden. (Ebd.)

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?

Eine Grundherausforderung, nicht nur in der Medizin, aber da besonders3 , stellt sich bezüglich der Qualität der Daten. Da alle Berechnungen und die Ergebnisse auf den eingegebenen Daten beruhen, ist die Qualität der Daten ein Schlüssel zu qualitativ hochwertigen Ergebnissen. (Vgl. Bartens 2019; Rajkomar/Dean/Kohane 2019) Hier kann es zu verschiedenen Problemen kommen. Ein gesundheitlicher Zustand von medizinischen Expert*innen kann falsch diagnostiziert oder interpretiert werden (Englisch misclassification und misinterpretation), eine Messung fehlerhaft sein oder ein Datum fehlerhaft eingetragen werden. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018; Hagendorff 2019) Missklassifikationen können bei marginalisierten Gruppen durch Vorurteile von medizinischem Personal eher vorkommen als bei Personen, die der Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018) Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Frauen unter anderem weniger invasive Behandlungen beim Herzinfarkt angeboten bekommen oder weniger oft Lipidsenker verschrieben werden als Männer. (Ebd.) Sollten solche falschen Informationen nicht korrigiert werden und sich im Datensatz befinden, würden sie das Ergebnis entsprechend beeinflussen. Das heißt wenn Ärzt*innen sich auf Vorschläge des Algorithmus verlassen würden, die dieser auf Basis fehlerhafter Daten getroffen hat, würden weibliche Patientinnen auch weiterhin weniger invasive Behandlungen erhalten. Des Weiteren handelt es sich bei den Daten zum Training um historische Daten, die in der Vergangenheit aufgenommen wurden. (Vgl. Rajkomar/Dean/Kohane 2019) Dies ergibt sich daraus, dass große Datenmengen entweder durch eine lange Zeit des Datensammelns erreicht werden oder durch das Sammeln von Daten verschiedener Orte. Aus der Historizität der Daten stellt sich die Frage, ob die Qualität der Daten für die angezeigte Verwendung ausreicht. (Ebd.) Denn wenn der Wissensstand sich inzwischen geändert hat ist fraglich, inwiefern sich diese Information in den Daten wiederfindet (siehe auch den vorhin erwähnten Fall der mangelhaften Behandlung von Frauen in der Kardiologie). Ist dies nicht der Fall, ergibt sich die Frage, ob die Daten durch Neuevaluierung von Expert*innen nachbearbeitet werden sollten. Dies kann in spezieller Weise Minderheiten betreffen, weil oft gerade über sie erst kürzlich neuere Erkenntnisse erhalten wurden. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018)4 Allgemein heißt daher historische Daten zu verwenden auch den Bias dieser Daten in die Zukunft zu übertragen, es sei denn, dem wird aktiv entgegengewirkt. Unabhängig davon stellt sich die Frage, inwiefern die Da-

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Die Besonderheit ergibt sich aus den weitreichenden gesundheitlichen Folgen, die Ergebnisse aus KI-Anwendungen in der Medizin haben können. Die Frage, was es generell heißt mit historischen Daten durch Anwendungen in die Zukunft zu prognostizieren, würde den Rahmen des Textes sprengen und wird daher nur kurz aufgeworfen.

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ten, die zum Training verwendet wurden, überhaupt passend für Voraussagen zu den Personengruppen sind, auf die sie angewandt werden. (Ebd.)

Alles Statistik Nach den Daten werden nun im zweiten Punkt Herausforderungen bei der Entwicklung von KI-Anwendung aufgeworfen. Zuvor hatte ich kurz angesprochen, dass die Daten, auf denen die Ergebnisse beruhen, in einem spezifischen kulturellhistorischen Kontext von Menschen produziert wurden. Auch bei der Programmierung solcher Anwendungen sind Menschen involviert. Programmierer*innen entscheiden bei gewissen Techniken wie dem supervised Learning, manchmal Datum für Datum, welche Daten sie als sinnvoll für die Anwendung erachten. Sie entscheiden dabei, was als Datum gilt, welches Datum gut genug ist und welches schlecht; also welches Datum als Ausreißer nicht miteinbezogen wird und welches schon. Dasselbe gilt für die Ergebnisse aus dem Verfahren. Sind sie gut genug oder sind noch Optimierungen notwendig? Entschieden wird dabei auch, auf welche Personengruppe(n) die Resultate angepasst werden sollen und auf welche nicht. Vorstellungen der involvierten Entwickler*innen über die Zielgruppe entscheiden, auf wen die Anwendung ausgerichtet ist. Für diese Personengruppe(n) ergibt die Anwendung üblicherweise das passendste Ergebnis. Mit ihren Wert- und Normvorstellungen prägen Entwickler*innen daher Technik, gleich wie es die Wert-und Normvorstellungen derer tun, die die Daten aufgenommen haben. Dieses Phänomen wird in der Techniksoziologie als »Werteinschreibungsprozess in die Technik« (Hagendorff 2019: 53) benannt. (Vgl. Friedman/Nissenbaum 1996) Solche Werteinschreibungen können entweder direkt erfolgen, wenn sogenannte »preexisting biases« (Friedman/Nissenbaum 1996: 330) oder direkt diskriminierende Annahmen eingeschrieben werden. Ein Beispiel sind Geräte, die für gewisse Personen nicht nutzbar sind, weil man sie in der Entwicklung, gewissen Normvorstellungen von Menschen folgend, nicht mitbedacht hat. So passiert es Menschen mit Beeinträchtigungen häufig, dass sie Geräte erst gar nicht nutzen können, Körperscanner aufgrund von Implantaten ausschlagen etc. (Vgl. Hagendorff 2015) Es gibt vielfältigste Beispiele aus nicht-medizinischen Bereichen, wie Technik auf eine erstaunlich kleine Gruppe an Personen ausgelegt ist. Automobilsicherheit, die auf Männerkörper einer gewissen Größe ausgelegt ist, Gesichtserkennungstools, die keine schwarzen Frauen erkennen, weil sie vor allem mit Bildern weißer (und männlicher) Gesichter trainiert wurden etc. (Vgl. Barry 2019; Wiggers 2019) Im Gegensatz dazu spricht man von »emerging biases«, (Friedman/Nissenbaum 1996: 330) wenn diskriminierende Daten erlernte Diskriminierung perpetuieren. Beispiele dafür sind die zuvor erwähnten historischen Daten, die eventuell diskriminierende Informationen enthalten, mit denen ein KI-Tool programmiert wurde, oder aber die

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?

ins Tool einprogrammierten Werte und Normen eines*einer Programmierer*in, die vielleicht erst bei Verwendung des Tools evident werden. Statistisch kann das Programmieren des Datensatzes entweder so verlaufen, dass das Resultat an die größte Gruppe angepasst ist (Englisch fitting), also für diese das passendste Resultat ausgegeben wird5 und damit für alle anderen Gruppen ein nicht so passendes, oder aber, das Resultat ist für die größte Gruppe nicht ganz so gut, dafür werden auch für andere Gruppen gute Resultate erzielt. Gängige Praxis innerhalb der ML-Community ist es jedoch den Algorithmus möglichst gut performen zu lassen. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018) Es stellt sich daher die Frage, für wen das Tool die passendsten Resultate ergibt. Da die Passgenauigkeit der Ergebnisse wahrscheinlich eher anhand der größten Gruppe erfolgt, kann man davon ausgehen, dass Minderheiten oder Personen, die eher im statistischen Randbereich anzutreffen sind, bei dieser Vorgehensweise benachteiligt werden. Das Trainieren des ML-Algorithmus stellt somit auch eine Praxis der Normalisierung dar. Milena Gianfrancesco et al. (2018) sprechen daher davon, dass es hier einer Neuausrichtung unter Programmierer*innen bedarf und klinisch relevante Verbesserungen über eine gute Performance des Algorithmus gestellt werden sollten. Als Resultat aller vorher erwähnten Diskriminierungen ergibt sich daher erstens, dass Ergebnisse aus KI-Tools für gewisse Personengruppen nicht wirklich passend sein könnten. Zweitens kann es passieren, dass gewisse Personen von einer Anwendung erst gar nicht erkannt werden und der Einsatz an ihnen nicht möglich ist. Einem Hautkrebserkennungstool wurde vorgeworfen, auf dunklerer Haut nicht anwendbar zu sein, obwohl Menschen mit brauner oder schwarzer Haut auch Hautkrebs bekommen, nur sieht er eben anders aus und ist für das ungeübte Auge schwieriger zu erkennen. (Vgl. Esteva et al. 2017; Topol 2019) Für die Gesundheit der ausgeschlossenen oder nicht korrekt mitbedachten Personengruppen heißt das letztendlich, dass die Behandlung dieser Personengruppen schlechter ist6 , sich eventuell verzögert und damit (existierende) Ungleichheiten fortgesetzt und weiter verfestigt werden. Dieser Praxis müsste aktiv entgegengewirkt werden, zum Beispiel indem Diversität schon im Entwicklungsprozess mitbedacht wird.

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Gesprochen wird hier von einem statistischen Anpassen. Generell geht es in multiplen Regressionen im ML darum ein passendes statistisches Modell für Muster in den Daten zu finden. Das Modell muss so gewählt sein, dass es sowohl die vorhandenen Datenpunkte repräsentiert als auch Generalisierungen auf neue Datenpunkte zulässt, also weder überangepasst noch unterangepasst ist. Es lässt sich auch an Zukunftszenarien denken, in denen dies ein Vorteil sein kann. Zum Beispiel, wenn eine Behandlung ohne KI einen passenderes Ergebnis liefern würde und Gesundheitspersonal sowohl Zeit, Kompetenz als Ressourcen hätte diese durchzuführen.

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Objektivität der Technik? Wir wissen nun, dass KI, gleich wie Menschen, auch Vorurteile haben kann. Warum ist dies aber bei KI speziell problematisch? Man könnte argumentieren, dass KI Fehler machen darf, gleich wie Menschen es auch tun. Der letzte Teil wird sich daher dem Thema widmen, warum es besonders problematisch ist, wenn gerade die KI diskriminierende Ergebnisse vorschlägt. Vorurteile oder Biases bei KI sind aus verschiedenen Gründen schwer zu erkennen: 1. Der Vorgang ist unter Umständen versteckt (siehe die vorhin erwähnte Black Box). Es ist also selbst für Expert*innen schwer nachzuvollziehen, wie die Anwendung zu ihrem Ergebnis kommt. 2. Es benötigt Fachpersonal, um den Vorgang zu verstehen. 3. Technik wird mehr Objektivität zugesprochen und es scheint schwieriger, sie zu kritisieren. Dieses blinde Vertrauen (Englisch overreliance) auf KI wird von vielen Kritiker*innen als großes Risiko identifiziert. (Vgl. Gianfrancesco et al. 2018; Cabitza/Rasoini/Gensini 2020) Dem Problem der Black Box wird von Seiten der Entwickler*innen mit erklärbarer oder interpretierbarer KI begegnet. Dabei werden zusätzliche Features programmiert, anhand derer die Anwendung melden sollen, durch welche Eigenschaften sie zu einem Ergebnis gekommen ist. (Vgl. Holzinger et al. 2019) Ich hatte schon erwähnt, dass Maschinen oder digitalen Systemen eher Objektivität zugesprochen wird als Menschen. Durch die Annahme der Objektivität werden Werteinschreibungen, die in der Tat passieren, nicht weiter hinterfragt. (Vgl. boyd/Crawford 2012; Roberge/Seyfert 2017) Auch in praktischer Hinsicht können komplexe digitale Systeme schwieriger für etwas zur Verantwortung gezogen werden als Menschen7 beziehungsweise konnte man beobachten, dass Menschen eher andere Menschen kritisieren als Maschinen. (Vgl. Grote/Berens 2020) Unbenommen dessen, welche Kompetenzen dafür notwendig sind, um ein komplexes digitales System kritisch zu hinterfragen und unabhängig davon, wie opak die Black Box ML ist. Viele Autor*innen beschreiben daher, wie wichtig es ist, dass Anwender*innen imstande sind, die Technik kritisch zu verwenden, Ergebnisse auf Plausibilität zu prüfen und so weiter. (Vgl. Rajkomar/Dean/Kohane 2019; Cabitza/Rasoini/Gensini 2020) Ein Training im kritischen und überlegten Umgang mit dieser vermeintlich objektiv agierende Technik und eine Einführung in ihre Möglichkeiten und Grenzen scheint essentiell, wenn sie im medizinischen Alltag Verwendung finden soll. Welchen Stellenwert sollte dabei dem Thema Diskriminierung durch KI zukommen und wie positioniert sich die ML-Community dazu?

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Auf den existierenden zum Teil ethischen Diskurs zur Verantwortung von KI/ML kann hier aus Platzmangel nicht weiter eingegangen werden.

Künstliche Intelligenz in der Medizin: Diskriminierung oder Fairness?

Bewusstsein für Diskriminierung durch KI in der Medizin Bislang fiel Diskriminierung in KI-Anwendungen vor allem außerhalb der Medizin auf. Erst kürzlich wurde – wie oben bereits erwähnt – aufgedeckt, dass schwarze Frauen oder Transgenderpersonen von einer Gesichtserkennung nicht erkannt werden. (Vgl. Hay 2019; Wiggers 2019) KI-Anwendungen in der Medizin befinden sich derzeit vielfach noch im Entwicklungsstadium. Konkrete Beispiele für Diskriminierung sind ein Apple Health-Tracking-Tool, welches erst seit 2015 Menstruationstracking zulässt und ein Hautkrebserkennungstool, das auf schwarzer oder brauner Haut nicht funktioniert. (Vgl. Ferryman/Winn 2018; Topol 2019) Das heißt jedoch auch, dass noch beeinflusst werden kann, wie die Anwendungen letztlich aussehen werden. Viele Vertreter*innen der ML-Community bemühen sich, Themen wie Transparenz, Interpretierbarkeit, Fairness und Robustheit im Fach zu verankern. (Vgl. Holzinger et al. 2019; Grote/Berens 2020) Dies und die Frage der Anwender*innenfreundlichkeit der Tools werden voraussichtlich auch weiterhin über die Verwendbarkeit von KI in der Medizin entscheiden. Weitergeführte oder zusätzliche Diskriminierung in KI-Anwendungen könnte dazu führen, dass Personen eine schlechtere medizinische Versorgung erhalten oder gleich gar nicht versorgt werden. Dies würde schon bestehende Ungleichheiten im Gesundheitssystem verstärken. Außerdem fällt es durch Zuschreibungen von Objektivität an KI schwer, solche Ungleichheiten zu adressieren. Fragen von Diskriminierung und Fairness, die einen Einfluss auf gesundheitliche Chancengleichheit haben, müssen daher so früh wie möglich und in jedem Stadium des Prozesses von Datenergebung bis zum Einsatz der KI mitbedacht werden, damit KI zur Chance gereicht und nicht zum Risiko.

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Diskriminierung als Identität? Phänomene von Un/doing Gender in der Katholischen Kirche Michael Schüßler

Differenz, Kategorisierung, Diskriminierung Beim Thema Diskriminierung, Geschlechterfragen und Katholische Kirche fallen einem schnell etliche Beispiele ein, aus medialer Berichterstattung oder aus persönlicher Erfahrung. Eines geht so: Bei einer medial und personell bestens besetzen Veranstaltung zur Kirchenentwicklung betritt mit der Poetry Slammerin Fee Brembeck die erste Frau die Bühne. In ihrem Vortrag spielt sie amüsant mit Geschlechterklischees. Beste Unterhaltung, bis der Moderator sie mit dem Motto des Abends fragt, wofür die ›Kirche Platz machen sollte‹. Ihre Antwort lautete schlicht: ›Für die Ordination von Frauen‹. Die Stimmung im Saal sank. Mit dieser Antwort hatten die ›480 Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus‹ […] nun nicht gerechnet, denn sie passte so gar nicht in die ›We make Catholic Church great again‹ Stimmung des Abends. (N. Bauer 2017) Dass die Priesterweihe ausschließlich Männern vorbehalten bleibt, ist nur die Spitze des Eisbergs. Während leitende Kirchenvertreter den Aktivist*innen von Maria 2.0 Wollknäule zuwerfen, damit der Gesprächsfaden nicht reißt, bringt Christiane Florin in beißender Präzision »2000 Jahre Verachtungsgeschichte« von Frauen auf den Punkt: Die römisch-katholische Kirche ignoriert Begabungen, verachtet Wissen und verbietet sich Visionen. Sie hat sich an Frauen versündigt und versündigt sich weiter. Diskriminierung ist ihr harter, aber hohler Markenkern. Es ist hoffentlich nicht der Kern des Christentums. Wer braucht diese harte, hohle Kirche? (Florin 2020) Die mitkommunizierte Empörung ist leider völlig berechtigt und dem Themenfeld angemessen. Religion und Geschlecht sind beides sehr existenzielle Kategorien. Sie betreffen das Höchstpersönliche, nämlich die je eigene existenzielle »Gesamtreaktion eines Menschen auf das Leben« (James 1997: 67) sowie die körperlich mitcodierte Geschlechteridentität. Abwertungen und Verletzungen in diesen Bereichen gehen oft besonders tief.

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Nun hat die kulturwissenschaftliche Forschung der letzten Jahrzehnte aber deutlich gemacht, dass auch das Höchstpersönliche, dass die eigene religiöse Orientierung, die Verortung im Geschlechterdiskurs und sogar die Empörung über Diskriminierungserfahrungen nicht uns selbst gehören. All das ist eingebettet in soziale Strukturen und kulturelle Codes, in Begriffe, Selbstverständlichkeiten und Machtverhältnisse, die subjektive Bedeutung erst ermöglichen, damit aber auch wesentlich prägen. Dieser eher theoretische Hinweis ist sehr wichtig. Er bewahrt davor, es sich beim Thema Geschlechterdiskriminierung und Kirche zu leicht zu machen, nämlich bei Empörung und dem Austausch von Abwertungserfahrungen stehenzubleiben. Das Aufdecken struktureller Zusammenhänge käme zu kurz. Geschlecht und Religion sind Kategorien, die weltweit an der Verteilung von Lebenschancen beteiligt sind. Als kleine Vergewisserung sei deshalb daran erinnert, dass im Begriff ›Diskriminierung‹ analytische und normative Teile zusammenkommen. Analytisch sind wir unausweichlich mit Unterscheidungen konfrontiert, die Menschen und Dinge in Kategorien einteilen – eben in Mann und Frau, in katholisch, evangelisch oder islamisch, in politisch links oder rechts etc. Die Idee, diesen ganzen Schubladenschrank an Kategorisierungen über Bord zu werfen, ist ebenso sympathisch wie utopisch. Es wäre ein U-Topos, ein Ort, den es nicht gibt, und kein wirklicher Erfahrungsraum. Soziologen wie Stephan Hirschauer beobachten stattdessen, wie Kategorien und soziale Zugehörigkeiten in der Praxis und in Praktiken eigentlich hergestellt werden. (Vgl. Hirschauer 2017) Welche Einteilungen werden gemacht und wann sind bestimmte Unterschiede entscheidend? Kurz: Wer definiert und benutzt mit welchen Folgen welche Schubladen? Damit kommen normative Kategorien ins Spiel. Es wird nicht einfach nur unschuldig differenziert, sondern die beiden Seiten einer Differenz werden oft unterschiedlich gewertet und hierarchisch sortiert: in oder out, thumbs up oder thumbs down! Wer also wird bei dem unvermeidlichen »Doing Difference« (Scherr 2016: 9) jeweils ausgegrenzt? Als einmaliges Ereignis ist das vielleicht noch kein Problem. Doch was, wenn intersektionale Ausgrenzung selbstverständlich wird und Menschen um Lebenschancen gebracht werden? In den brasilianischen Favelas gibt es die Redensart: Mulher, negra, favelada – tres vezes discriminada.1 Die drei angesprochenen Intersektionalitäts-Kategorien Gender, Race und Class machen deutlich: Durch die kulturell stabilisierte Kumulation von situativ meist tolerierten Nichtberücksichtigungen zu biografie- oder gruppenbezogenen Exklusionsverdichtungen

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Frau, Afrobrasilianerin, Favelabewohnerin – auf drei Weisen diskriminiert. Übers. MS.

Diskriminierung als Identität? Phänomene von Un/doing Gender in der Katholischen Kirche

entsteht strukturell Diskriminierung. So lautet auch die einschlägige Definition von Albert Scherr: Durch Diskriminierung werden auf der Grundlage jeweils wirkungsmächtiger Normalitätsmodelle […] soziale Gruppen markiert, denen der Status des gleichwertigen und gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieds bestritten wird (Scherr 2016: 9) Nun ist das religiöse Feld, und nicht zuletzt der in diesem Beitrag speziell betrachtete Global Player Katholische Kirche, an der Wirkmächtigkeit von ganz bestimmten Normalitätsmodellen mitbeteiligt. Der Beitrag geht der Frage nach, wie welche Überzeugungen und Narrative aus dem Raum des Katholischen an genderbezogener Diskriminierung beteiligt sind.

Kritik an der ›Gender-Ideologie‹ als katholische Identitätspolitik In einem Kursbuch-Beitrag zum ›Antigenderimus‹ (vgl. Hark/Villa 2015) hat Christina von Braun die größten Feinde von Geschlechterforschung aufgelistet – zu Beginn die Katholische Kirche. (Vgl. von Braun 2017: 29) Die feministische Theologie hat in den letzten Jahrzehnten vielfältig aufgedeckt, wie Diskriminierung von Frauen über Jahrhunderte bis in die Gegenwart als Identitätsmarker der Katholischen Kirche fungiert (hat). In jüngerer Zeit schien es jedoch, als hätte die katholische Kirche in Deutschland beim Thema Gleichberechtigung der Geschlechter eigentlich viel dazugelernt. (Vgl. Bode 2018: 29-38) 2002 gab es im Bistum Osnabrück die erste weibliche Chefin eines diözesanen Seelsorgeamts. 2013 veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz eine Selbstverpflichtung, »den Anteil von Frauen in Leitungspositionen weiter zu erhöhen.« (DBK 2013) Damals gab es auf der mittleren Leitungsebene in den Ordinariaten nur 19 Prozent Frauen. (Vgl. Höfling 2018) Im gleichen Jahr gaben die Arbeitsstellen für Frauen- und Männerseelsorge einen Informations-Flyer heraus: »Geschlechtersensibel: Gender katholisch gelesen«. Darin werden aktuelle Genderdiskurse konstruktiv aufgenommen und eine diskriminierende Lesart des Glaubens ausgeschlossen. »Eine gesellschaftliche Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres biologischen Geschlechts ist mit Blick auf die Bibel nicht zu rechtfertigen,« (DBK 2015) heißt es dort. Trotzdem wird man das Gefühl nicht los, dass sich in grundsätzlichen Bereichen der Kirche zu wenig ändert. Und das hat seine Gründe. Denn die dogmatischen und sakramentalen Kernbereiche bleiben von all dem ziemlich unberührt. Andrea Qualbrink schreibt am Ende ihrer diskursanalytischen und qualitativ-empirischen Studie zu Frauen in kirchlichen Leitungspositionen:

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Die Kirche, die sich gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ausspricht (GS 29) und modellhaft für das gleichwertige und partnerschaftliche Zusammenleben und -wirken von Männern und Frauen sein will, bleibt so lange […] unglaubwürdig, wie sie ihre eigenen bewussten und unbewussten, formellen und informellen Ausgrenzungen von Frauen nicht konsequent theologisch und geschlechtertheoretisch reflektiert, bearbeitet und ausmerzt. (Qualbrink 2019: 535-536) Dazu aber wären zentrale Aspekte in der theologischen Grundmatrix von lehramtlicher und kirchenrechtlicher Selbstbeschreibung der Kirche zu reformieren.

Die kirchenamtlich katholische Position zum Geschlechterverhältnis Das Katholische Lehramt nimmt für sich in Anspruch, den von Gott geoffenbarten Plan für Mann und Frau normativ auszulegen und durch die Zeiten zu bewahren. (Vgl. Anuth 2017: 171-188) Um das nachvollziehen zu können, muss man zwei Ebenen unterscheiden. Auf einer ersten Ebene verkündet die Kirche, dass Männern und Frauen als Personen und Ebenbild Gottes die gleiche Würde zukommt. (Vgl. Kongregation 2019: Nr. 15) Doch es gibt eine zweite Ebene und die ist entscheidend. Diese gleiche Würde kommt den Menschen nämlich zwingend und ausschließlich als Mann oder als Frau zu. Das katholische Lehramt kennt in einer trennscharfen Dichotomie nur entweder Frauen oder Männer. Und es definiert für diese normativ, was von Gottes Schöpfungsplan her wahres Mannsein und wahres Frausein bedeutet. Während das sakramentale Leitungsamt nur Männern vorbehalten bleibt, Autorität also an eine männliche Geschlechtsidentität gebunden ist, wird »die unersetzliche Rolle der Frau in allen Bereichen des familiären und gesellschaftlichen Lebens verständlich, bei denen es um die menschlichen Beziehungen und die Sorge um den anderen geht. […] Dies beinhaltet vor allem, dass die Frau aktiv und fest in der Familie […] gegenwärtig sein soll.« (Ratzinger 2004) In einem neueren Schreiben von 2019 heißt es: »Die Frau ist in der Lage, die Wirklichkeit auf einzigartige Weise zu verstehen.« Deshalb kommt es Frauen besonders zu »sich in den menschlichen Beziehungen zu verausgaben.« Bei »dieser Arbeit verwirklichen sie so etwas wie eine gefühlsmäßige, kulturelle und geistige Mutterschaft.« (Bildungswesen 2019: Nr. 18) Mann und Frau sind dieser heteronormativen Logik zufolge also auf spiegelbildliche soziale Rollen hin angelegt, die sich in der Ehe gegenseitig komplementär ergänzen: »Mann und Frau sind von Beginn der Schöpfung an unterschieden und bleiben es in alle Ewigkeit.« (Ebd.: Nr. 12) Das heißt: Männern die Macht, Frauen dagegen Kinder, Küche und der Blumenschmuck in der Kirche. Man muss es so klar sagen: Daran hat sich bei al-

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ler Beteiligungs- und Wertschätzungsrhetorik bis heute im Kern der katholischen Lehre wenig geändert.

Diskriminierung von Gendervielfalt als katholische Identitätspolitik Das Problem wird jetzt sichtbar. Das katholische Lehramt sieht sich einer normativen Geschlechteranthropologie verpflichtet, auf deren Vorderseite Gleichberechtigung fingiert wird, auf deren Rückseite es aber strukturell unvermeidlich zu Abwertungen und Diskriminierungen kommt. Denn wer sich nicht in den stereotypen Gender-Containern der Kirche verortet, dokumentiere »eine falsch verstandene Freiheit des Fühlens und des Wollens statt […] die Wahrheit des Seins.« (Ebd.: Nr. 19) Und das gilt dann für Schwule und Lesben sowie trans* Personen und queere Lebensstile. Hier ist Diskriminierung zur amtlich-katholischen Identität geworden. Die Härte und Gewalthaltigkeit dieses Normalitätsmodells zeigt sich zugespitzt in der Empfehlung zum Umgang mit Neugeborenen, die mit uneindeutigem Geschlecht auf die Welt kommen. Um die Norm binärer Heteronormativität gegen die Vielfalt der Schöpfung zu schützen, wirft die vatikanische Kongregation für das Bildungswesen sogar die traditionelle katholische Wertschätzung der Familie über Bord. In diesen besonderen Situationen sind es nicht die Eltern, und noch weniger die Gesellschaft, die eine willkürliche Wahl treffen können, sondern es ist die wissenschaftliche Medizin, die mit therapeutischer Zielsetzung eingreift, das heißt, auf der Grundlage objektiver Parameter in minimal-invasiver Weise handelt, mit dem Ziel, die konstitutive Identität deutlich zu machen. (Ebd.: Nr. 24) Die Zwangsnormalisierung von Neugeborenen gehört mittlerweile zur Schuldgeschichte der Medizin. Man kann Kindern nicht einfach technokratisch ein per Operation festgelegtes Geschlecht anerziehen (so oft umgekehrt der polemische Vorwurf an Gendertheorien). Sie müssen es im Laufe ihres Aufwachsens erst entdecken und Gesellschaft wie Kirche sollten dies liebevoll und akzeptierend begleiten. (Vgl. Schreiber 2016) Deshalb, so Maren Behrensen, ist es »tragisch, dass sich die Bildungskongregation in ihrer Ablehnung der ›Gendertheorie‹ mit einer Medizin gemein macht, die den Machbarkeitswahn, wie ihn gerade die katholische Kirche sonst gerne und oft kritisiert, zur Methode erhoben hat.« (Behrensen 2019) Bereits während der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking hatte der Heilige Stuhl gegen die Formel ›Frauenrechte sind Menschenrechte‹ argumentiert, wie gegen die Rezeption von Gendertheorien. In lehramtlicher Lesart haben Männer und Frauen zwar gleiche Würde, aber nicht gleiche Rechte, weil sie ontologisch auf eine heteronormative Differenz in Rollen und Aufgaben angelegt sind. So kann man sich radikal und kapitalismuskritisch für soziale Menschenrechte einsetzen,

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zugleich aber die Anerkennung von gleichberechtigten LGBTIQ-Rechten als kontraproduktiv ablehnen. »For the Vatican, the struggle over womanʼs human rights is a struggle over ›the power to interpret social relations‹ […] in an increasingly globalized context.« (Buss 1998: 357) Flankiert wurde das in den Nullerjahren zunächst von einem ›neuen, wahren Feminismus‹, wie ihn Johannes Paul II angeregt hatte. Die Zeit des alten, libertären Feminismus sei vorbei, denn der Preis für Freiheit und Unabhängigkeit von Frauen sei zu hoch. »Women want men in their lives, and being feminine, staying at home, married, and pregnant are definitively ›in‹. … Women need a new feminism. Woman need to know again who they are and regain confidence of their roles as wives, mothers and educators in the world.« (Swanson 2006: 44; 46) Dieser globale und weltkirchliche Kontext ist auch der Horizont für die neueren deutschsprachigen Phänomene dieser Auseinandersetzungen. Fast schon legendären Status hat hier der Flyer Gender-Ideologie der Initiative Kirche in Not, ein weltweites Hilfswerk Päpstlichen Rechts. Die unentgeltliche Broschüre erschien 2014. Binnen zwei Tagen wurden 100.000 Exemplare bestellt. (Vgl. Marschütz 2014: 457458) Darin heißt es auf die Frage, was die Ziele des ›Genderismus‹ seien: Diese Ideologie möchte die völlige Auswechselbarkeit von Mann und Frau in allen Lebensbereichen erreichen. […] Beide Geschlechter könnten vielmehr alle Aufgaben gleich gut erfüllen, seien also völlig austauschbar. […] Damit stellen die Vertreter der Gender-Ideologie Naturgesetze infrage, die seit Menschengedenken Gültigkeit haben, wonach die beiden biologischen Geschlechter aufeinander bezogen und zudem in der Lage sind, durch die Zeugung von Kindern das Leben weiterzugeben. […] Die Betrachtung der menschlichen Geschlechtlichkeit als ›soziale Rolle‹, die jeder ›frei wählen‹ solle, entspringt letztlich einer atheistischen Sichtweise des Menschen: Sie blendet den Schöpfer aus, der jedem Menschen sein (weibliches oder männliches) Geschlecht zuteilt, damit dieser es als Gabe und Aufgabe empfange. (Kirche in Not: 4- 5, 14) Wer nur ein wenig die akademische Literatur zu (theologischer) Genderforschung kennt, kann über diese Sätze nur den Kopf schütteln. Weder leugnen Gendertheorien biologische Differenzen, noch ist jede vom lehramtlichen Geschlechteressentialismus abweichende Perspektive atheistisch. In inhaltlicher Nähe zu dieser Broschüre befinden sich die Texte der zum Katholizismus konvertierten Gabriele Kuby. (Vgl. Kuby 2014) Zusammen mit Birgit Kelle gehört sie nach Recherchen von Sonja Strube zu jenen Protagonistinnen, die über Homofeindlichkeit und Genderangst den »Brückenschlag zwischen der Neuen Rechten und den Kirchen machen.« (Strube 2017: 116) Als wichtiges Sprachorgan fungiert die privat betriebene Plattform kath.net. Dort veröffentlichte der inzwischen emeritierte Salzburger Weihbischof Andreas Laun 2017 einen offenen Hirtenbrief mit dem Titel: »Hinter der Gender-Ideologie steht die Lüge des Teufels!«

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(Laun 2017) Die Lüge laute, es gebe keine Männer und Frauen, alles werde in Willkür aufgelöst. Die dämonische Genderideologie »greift […] nach den Kindern und zerstört die Liebe zwischen Mann und Frau, die Familie, die Gott sich als besonderes Geschenk für uns Menschen ausgedacht und erschaffen hat.« (Ebd.) Bedauerlicherweise übernimmt auch der in vielen anderen Bereichen reformorientierte Papst Franziskus beim Thema Geschlechterverhältnisse diesen Diskurs und diese Sprache. Weihbischof Laun war es, der dem Papst beim Adlimina-Besuch der österreichischen Bischöfe 2014 den Satz entlockte: »Die Genderideologie ist dämonisch!« (Marschütz: 458; Kirche in Not: 15) In Amoris Laetitia, dem Schreiben nach der römischen Bischofssynode zum Thema Familie von 2015, ist dann die Rede von »einer Ideologie, die gemeinhin Gender genannt wird und die ›den Unterschied und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet‹.« (Franziskus 2016: 56) Und in einer Ansprache vor der Päpstlichen Akademie für das Leben von 2017 heißt es: »Die Utopie eines »Neutrum« hebt sowohl die menschliche Würde der unterschiedlichen geschlechtlichen Verfasstheit als auch zugleich den personalen Aspekt der generativen Weitergabe des Lebens auf.« (Franziskus 2017: Nr. 3) Und mit diesem Zitat wird dann im Dokument der Bildungskongregation von 2019 die Abwehr von menschenrechtlichen Anti-Diskriminierungsforderungen: Tatsächlich verbirgt der allgemeine Begriff der ›Nicht-Diskriminierung‹ oft eine Ideologie, die die Differenz und die natürliche Aufeinander-Verwiesenheit von Mann und Frau leugnet. […] Auf diese Weise wird die anthropologische Grundlage der Familie ihrer Bedeutung entleert. (Bildungswesen: Nr. 21) Damit ist nicht nur, was im Staat Diskriminierung wäre, zur gottgewollten Basis katholisch-lehramtlicher Identität erklärt. Umgekehrt werden damit alle nationalen und globalen Antidiskriminierungsbemühungen im Bereich der Geschlechterverhältnisse von der Kirche als destruktive Ideologie verurteilt.

Verbale Überzeugungsstarre bei gleichzeitiger Verhaltensoffenheit: Der umgekehrte Ulrich Beck Diese konträren Gegensätze gehen am Leben der Menschen nicht spurlos vorbei. Täglich erleben auch gläubige Menschen, dass Biografien, auch die der eigenen Kinder, offen und vielfältig aussehen. Es entsteht eine Kluft zwischen frommer Überzeugung und dem faktischen ›doing gender‹, zwischen erzählter Einstellung und erzählter Alltagspraxis. Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim haben vor Jahrzehnten mit Blick auf die Gleichberechtigung der Geschlechter die schöne Wendung formuliert, im Alltag gebe es »verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre.«

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(Beck/Beck-Gernsheim 1990: 31) Man ist schon irgendwie für Gleichberechtigung, aber mit den Kindern basteln, das macht eben weiterhin Mama. Heute spricht einiges für die These, dass sich die Situation umgekehrt hat. Was sich nicht zuletzt im Feld von Religion und Gender beobachten lässt, ist eine ›verbale Überzeugungsstarre bei gleichzeitiger Verhaltensoffenheit‹. Im alltäglichen Leben praktiziert man selbstverständlich die Freiheiten gelockerter Erwartungen an Frauen- und Männerrollen, während im Bereich der Überzeugung an traditionellen Rollenbildern und ihrer scheinbaren Sicherheit festgehalten wird. Im Rahmen eines qualitativen Forschungsprojekts zu lokaler Kirchenentwicklung äußerte eine der Befragten diese beiden Passagen: Über ihre Alltagspraxis meint sie: B: Meine Tochter macht inzwischen jetzt bei der Sonntagsschule mit. Ja, aber ich des isch was … ich konnte es mit meinen Kindern noch nie/lachen/[…] Des war wirklich schon immer so dieses Basteln, Basteln, ganz schrecklich. Vorlesen musste immer mein Mann machen. Und dann hab ich hier [Kindergruppe] … also ich würds tun aus der Not raus, mal einzuspringen. Aber jetzt ned weil mein Herz dafür brennt. Wenig später dann diese Passage: B: Also was mir gerade richtig Mühe macht und Sorge macht, isch dieses Gendermainstream. Finde ich ganz, ganz schlimm. Und wenn ich mir vorstelle, dass meine, irgendwann mal, Enkel, […] irgendwann mal beigebracht wird, dass es absolut okay isch, dass man zwei Mamas oder zwei Papas hat, dann krieg ich echt. ahh. […] Ich kann mir ned vorstellen. des steht in der Bibel, dass des ned, dass da kein Segen drauf sein kann. […] Oder ja, wenn… ja wenn die Schulbücher so abgeändert werden, dass die Geschlechtlichkeit irgendwann mal wegfällt – ›das Mensch‹./lachen/Also ich denk, Gott hat Mann und Frau, fertig. (Vgl. Dera et al. 2019) Hier zeigt sich in der Analyse ein auffälliger Kontrast. Die Auflösung traditioneller Geschlechterrollen wird als bedrohlich geschildert und mit Bezug auf die Bibel abgelehnt. Zugleich scheint aber im Alltagskontext die sanktionsfreie Öffnung der Mutterrolle als Gewinn erlebt zu werden. Indem sie sich als Frau und Mutter gerade nicht allein für die Kinder zuständig fühlt und es genießt, dass umgekehrt ihr Mann in der Erziehung präsent ist, werden in den Praktiken die Gewinne jener verflüssigten Geschlechterverhältnisse realisiert, die sie programmatisch als ›Genderwahn‹ ablehnt. Mit Andreas Reckwitz könnte man das als Hinweis lesen, wie sich im Alltagshandeln ein liberales Dynamisierungsparadigma durchsetzt, während der dazu gegenläufige individuelle Ordnungsbedarf durch klar regulierte, symbolische (hier religiöse) Grenzen stabilisierend erzeugt wird. (Vgl. Reckwitz 2019)

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Die katholische Ablehnung von Geschlechterforschung und Gendertheorien besteht damit zusammenfassend in einer Doppelbewegung. Nach Außen in die Gesellschaft und in die Biografien hinein wird eine heteronormative Geschlechterordnung verteidigt – und zwar als exklusiv einzige Form katholischer Rechtgläubigkeit. Beides wird deshalb so verbissen und aggressiv verteidigt, weil diese Geschlechterordnung nach Innen in die katholische Glaubenslehre hinein zum entscheidenden Pfeiler kirchlicher Identitätspolitik geworden ist. »Der ständische Aufbau der Kirche ist […] rechtlich eine Geschlechterhierarchie,« (Anuth 2017: 172) meint der Tübinger Kirchenrechtler Bernhard Anuth und kommentiert dazu: »Was im Staat Diskriminierung wäre, gilt in der Kirche als Konsequenz der lehramtlichen Geschlechteranthropologie […].« (Ebd.) Das aber lässt sich sowohl gesellschaftlich als auch theologisch immer weniger rechtfertigen.

Un/Doing Gender: Theologische Dekonstruktion katholischer Genderregime Nun ist die Frage, ob man sich mit all dem katholischen Antigenderismus abfinden muss? In den nicht-katholischen Bereichen der Gesellschaft begegnet einem immer wieder eine Haltung, die einer kulturrelativistischen Position ähnelt. Dann heißt es: Gut, bei den Katholiken sind das eben die Regeln. Religion darf und soll dann ein Bereich der Gesellschaft bleiben, in dem vieles von dem (noch oder wieder) existieren und praktiziert werden darf, was anderswo nicht mehr akzeptiert wird. Solange Demokratie, Freiheit und Gleichberechtigung nicht grundsätzlich auch in anderen Bereichen gefährdet werden, dann dürfen in Kirche und Religion Geschlechterdiskriminierung, Homofeindlichkeit oder autoritäre Entscheidungsformen weiterexistieren – sie sollen es womöglich sogar. Das läuft auf eine Exotisierungsthese hinaus: Religion wird als ein Bereich modelliert, in dem es nostalgische Sehnsüchte, Essentialismen und romantische Antiaufklärung geben darf, von dem sich dann der Bereich des vernünftig Aufgeklärten abheben kann und soll. Wie Ulrike Auga treffend beschreibt, reproduziert sich dieses säkularistische Othering auch im akademischen Verhältnis von Genderforschung und Theologie. Theologie wird in der Außenperspektive häufig als der hegemoniale Diskurs konservativer Theologien universalisiert, während Gegendiskurse befreiungstheologischer, postkolonialer, geschlechterkritischer oder queerer Theologien kaum wahrgenommen werden. Zahlreichen […] Ansätzen liegt ein Verständnis von Religion zugrunde, das ›Vernunft‹ und ›Glauben‹ im Zuge der Aufklärung unhinterfragt strikt trennt. So wird der eigene Säkularismus nicht wahrgenommen, der Religion als das ganze ›Andere‹ konstruiert und ausschließt. (Auga 2019: 45)

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Der Preis dabei: Religion und Kirche werden zu einer Art Zoo seltsamer Praktiken (vgl. Hoyer 2013), zu einem eingehegten Bereich des scheinbar autoritär Stabilen, der vielleicht sogar die Irrungen und Wirrungen des digital-spätmodernen Alltags aushaltbar macht. Nur: Wer kann und will sich einen solchen Defätismus heute leisten? Um hier weiterzukommen, braucht man tatsächlich Theologie. Denn dann kommt die scheinbar so klare und starr genderbezogene Glaubenslehre, dann kommen religiöse Essentialismen plötzlich in Bewegung. Da unterscheiden sich Religion und Theologie nicht von anderen Feldern: je näher man heranzoomt, umso differenzierter und vielfältiger wird das Bild. Gerade weil Religionen weltweit für viele Menschen eine große Rolle spielen, meint Doris Strahm, »gilt es, […] kirchlichen Anti-Genderist*innen nicht die Deutungshoheit über die ›christliche‹ Religion und ›christliche‹ Werte zu überlassen.« (Strahm 2017) In der akademischen Theologie und auch bei vielen engagierten Christ*innen bleibt Gender-Diskriminierung als kirchliche Identitätspolitik nicht unwidersprochen. Religiös begründete Ansprüche auf die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen haben viele emanzipatorische Bewegungen, zum Beispiel für Geschlechtergerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte, inspiriert. Es gibt auch in der christlichen Religion viele progressive Strömungen […]. Diese legen die christliche Religion emanzipatorisch und geschlechtergerecht aus und zeigen damit, dass sie nicht grundsätzlich als Gegensatz zu Frauen-Menschenrechten gesehen werden muss. (Ebd.) Dafür gibt es wichtige theologische Grundlagen in der Kirche selbst, um die aber bis heute heftig gestritten wird. Das II. Vatikanische Konzil in den 1960er Jahren war der Beginn einer ›pastoralen Wende‹ katholischer Theologie. Seither gibt es eine theologische Einspruchsfunktion von Erfahrungen, in denen Menschen um ihre Würde ringen. Weil sie in ihren intensiven Nah-Beziehungen mit Gefährdungen und Scheitern konfrontiert sind und weil sie darin ganz neue Formen des Gelingens erproben und entdecken. Diese Erfahrungen ans Licht zu bringen und in ihrem dogmatischen Gewicht stark zu machen, das ist Aufgabe pastoraler Theologie. (Bauer/Schüßler 2015: 7) Freiheits- und Menschenrechte, »besonders der Armen und Bedrängten,« (Johannes Paul II 1965: 1) sind kein Gegensatz zur Kirche, sondern potenzieller Verwirklichungsort der christlichen Botschaft. »Diese Frohbotschaft nämlich verkündet und proklamiert die Freiheit der Kinder Gottes; sie verwirft jede Art von Knechtschaft, die letztlich aus der Sünde stammt; […] Kraft des ihr anvertrauten Evangeliums verkündet also die Kirche die Rechte des Menschen, und sie anerkennt und schätzt die Dynamik der Gegenwart, die diese Rechte überall fördert.« (Ebd.)

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Die im II. Vatikanum begonnene Wende zu einem christlich begründeten Menschenrechtsstandpunkt, (vgl. Baumeister/Böhnke/Heimbach-Steins 2018) den die Katholische Kirche nach außen mit Macht vertritt, muss aber auch nach Innen in den religiösen Kernbereichen wirksam werden. Und die Geschlechterfrage ist dafür nicht marginal, sondern zentral. An zwei besonders signifikanten Diskriminierungen entzündet sich in der Theologie und in widerständigen religiösen Praktiken eine Art katholisches AntiDiskriminierungsdispositiv, das die reale Vielfalt des Lebens im Horizont des Glaubens ganz selbstverständlich wertschätzt. Das zeigt sich katholischerseits am Ausschluss von Frauen vom priesterlichen Weiheamt und am Ausschluss gleichgeschlechtlicher Partnerschaften vom Segen der Kirche. Nach dem Katholischen Katechismus (KKK 2357) wird Homosexualität biblisch als schlimme Abirrung und werden homosexuelle Handlungen als ›in sich‹ nicht in Ordnung bewertet. Die bibelwissenschaftliche und theologische Forschung kommt mittlerweile zu differenzierteren und in der Wertung gegensätzlichen Befunden. (Vgl. Goertz 2015) Nicht gleichgeschlechtliche Partnerschaften verdienten theologische Kritik, sondern deren abwertende Diskriminierung. (Vgl. Goertz: 95) Zugleich entsteht eine selbstbewusste und innovative ›Queer Theology‹, die queere und LGBTIQ-Lebensformen als theologiegenerativen Ort verstehen und bisher verschwiegene Erfahrungen auch in dogmatische Traktate hineintragen. (Vgl. Althaus-Reid 2003; Abraham 2019) Während sich fast alle Landeskirchen der Evangelische Kirche in Deutschland für die Trauung oder zumindest Segnung gleichgeschlechtlicher Paare entschieden haben, (vgl. Weyel in diesem Band) ist das in der Katholischen Kirche heftig umstritten und lehramtlich weiterhin verboten. »Um die Legalisierung der homosexuellen Lebensgemeinschaften zu stützen, kann man sich nicht auf das Prinzip der Achtung und der Nicht-Diskriminierung jeder Person berufen.« (Kongregation 2003: Nr. 8) Die Ehe sei katholisch ein Sakrament und naturrechtlich als Lebensform zur Weitergabe des Lebens so besonders, dass es mit Aristoteles und Thomas von Aquin nur gerecht sei, Ungleiches auch ungleich zu behandeln. Das sehen mittlerweile auch deutsche Bischöfe anders. Im Juni 2018 gab es in Hamburg ein nicht öffentliches Fachgespräch zur Frage nach dem kirchlichen Ort und der liturgisch-rituellen Begleitung (Segensfeiern) von gleichgeschlechtlichen Lebensformen und Paaren. Die Ergebnisse der Tagung sind mit einem Geleitwort der Bischöfe Bode (Osnabrück) und Heße (Hamburg) mittlerweile veröffentlicht. Darin beschreibt gleich zu Beginn eine Frau, wie sie mit ihrer Partnerin völlig unaufgeregt an einem katholischen Ehevorbereitungsseminar teilnehmen konnte. »Im Dezember feierten wir einen wunderschönen Segensgottesdienst in den Weinbergen, wo wir zum ersten Mal über unsere Liebe zueinander gesprochen haben. Die Ehe- und Familienseelsorgerin begleitete die Feier.« (Dankova 2019: 19) Das Ganze fand aber ohne Ankündigung und mit möglichst wenig öffentlicher Sicht-

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barkeit statt. Binnenkirchlich handelt es sich weiterhin um »riskante Liturgien,« (vgl. Fechtner/Klie 2011; Knop/Kranemann 2020) weil das seelsorglich Notwenige und Gebotene amtskirchlich nur als »kriminalisierte Pastoral« (Fuchs 2017) möglich ist. Lehre und Recht der Kirche erzeugen hier auf der Geltungsebene der Praktiken mit seinem »Phantomgeltungsanspruch« (Hahn 2019: 228) höchste Rechtsunsicherheit, indem praktisch alles von der Willkür der Vorgesetzten abhängig bleibt. Im gleichen Band berichtet der Kirchenrechtler Thomas Schüller, wie ein Pfarrer die Segensfeier für eine Verpartnerung wieder absagen musste, »weil ihm von Seiten des Generalvikariats bedeutet worden sei, dass er dies zu unterlassen habe, wolle er keine disziplinarrechtlichen Sanktionen riskieren.« (Schüller 2019: 158) Damit zur Männerordination (also dem diskriminierenden Ausschluss von Frauen). Im Dezember 2017 fand in Osnabrück der ökumenische Kongress »Frauen in kirchlichen Ämtern: Reformbewegungen der Ökumene« statt. In den viel beachteten Osnabrücker Thesen heißt es: »Nicht der Zugang von Frauen zu den kirchlichen Diensten und Ämtern ist begründungspflichtig, sondern deren Ausschluss (3). […] Alle Dienstformen sollen für Frauen geöffnet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass keine geschlechtsspezifische Festlegung erfolgt. (5).« (Eckholt et al. 2018) Bis heute sind dagegen die entscheidenden Auswahlkriterien für die sakramentalen Leitungsämter sexualitäts- und genderbezogen. Gültig empfängt die Weihe nur ein getaufter Mann, der auf gelebte Sexualität verzichtet, also zölibatär lebt. In den Begründungen wird wesentlich geschlechterbezogen argumentiert. Jesus war ein Mann, die zwölf Apostel waren Männer, also kann nur ein Mann ›in persona Christi‹ handeln. Die sakramentale Repräsentation des von Gott zugesagten Heils hänge letztlich am Geschlecht, am Mannsein. Man sieht, wie stark hier Sakralität genderbezogen normiert wird. Die katholische Theologin Saskia Wendel hat diese Argumentation noch einmal nach allen Regeln der theologischen Kunst auseinandergenommen. (Vgl. Wendel 2018; Florin 2017) Was den Apostelkreis angeht: Nach den Evangelien war Maria Magdalena die erste Person, der der Auferstandene erschienen ist. Seit 2016 wird Maria Magdalena in der katholischen Kirche als ›Apostelin unter Aposteln, den Aposteln gleichgestellt‹ und ein Festtag gewidmet. Das römische Lehramt sieht damit ein, dass der Kreis der Apostel*innen als die frühesten Auferstehungszeugen nicht exklusiv männlich ist. Die Geschlechterkategorie verliert ihre normative Bedeutung. Und wie sieht es mit der Männlichkeit Jesu aus? Aus der eingangs erwähnten Doing-Difference-Perspektive stellt sich eine einfache Frage: Wieso sollte die Humankategorie Geschlecht für die Repräsentanz Christi wesentlich sein, während andere Kategorien wie das Alter, die ethnische Zugehörigkeit oder die soziale Stellung Jesu als zeitbedingt angesehen werden? (Vgl. Gerber 2018: 117) Saskia Wendel schreibt:

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›Geschlecht‹ ist eine Diversitätskategorie (und dies neben anderen), keine Wesensbestimmung einer menschlichen Natur – und wie bei allen Menschen ist dies auch bei Jesus von Nazareth der Fall gewesen. […] Ob Jesus ein Mann war oder nicht, spielt für die Funktion, in persona Christi zu handeln, keine Rolle. Dann aber spricht aus systematischer Sicht auch nichts dagegen, dass in persona Christi prinzipiell alle Gläubigen handeln können, unabhängig von ethnischer, sozialer und sexueller Zugehörigkeit bzw. Identität. (Wendel 2018: 340, Herv. i.O.) Unabhängig von ihrer sexuellen Zugehörigkeit! Damit bin ich in den normativen Teilen beim Thema Diskriminierung angelangt. Die Erkenntnis lautet: Antidiskriminierend wäre an dieser Stelle das Absehen von Geschlechterkategorien. Es geht dann um ein strukturelles Un-doing gender im Bereich christlicher Religion. (Vgl. Gerber 2018: 119) Und das ist dem Christentum keineswegs fremd. In der Tradition des biblisch bezeugten Gottesglaubens gibt es eine immer wieder aufbrechende Spur des Undoing gender, des ausdrücklichen Absehens von Geschlechterkategorien im Blick auf das Geheimnis Gottes. Im alttestamentlichen Buch Hosea heißt es in 11,9: »Denn Gott bin ich und nicht Mann, in deiner Mitte der Heilige; ich will nicht in Zornglut kommen.« (Fuchs 2017) Das ist eine Absage an sakralisierte Machovorstellungen eines autoritären Übervaters. Und an die Idee, man könnte Gott mit binären Genderkategorien in den Griff bekommen: »Durch die Verweigerung, Frauen Ämter zuzubilligen, die das Handeln in persona christi erfordern, wird letztlich die Christusförmigkeit der Frau bestritten. Anders ausgedrückt, das zentrale Dogma des Christentums, die Menschwerdung Gottes, wird in einer wesentlichen Hinsicht beschränkt und deformiert.« (Ruhstorfer 2019: 326) Die Zentralstelle im Neuen Testament ist Vers 3,28 im Galaterbrief des Paulus: »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.« Die lange Geschichte der Kirche ist auch die Geschichte des langen und epochalen Scheiterns an dieser biblischen Utopie. Ruhstorfer weist darauf hin, dass der christliche Antijudaismus erst nach der Shoa als Übel erkannt wurde, ebenso wie die Sklaverei, die bis an die Wende zum 20. Jahrhundert kirchlich akzeptiert war. Das Scheitern der Kirche an Gendergerechtigkeit hält dagegen bis heute an. Weder ethnische noch soziale noch genderbezogene Kategorien machen also vor Gott einen Unterschied. Was aber dann? Die Botschaft des Evangeliums verbindet sich gerade in prophetischer Tradition viel stärker mit Gerechtigkeits- und Antidiskriminierungskategorien. Im Magnifikat (Lk 1,52f) heißt es: »Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.« Und das Matthäusevangelium lässt Jesus in Kapitel 25 im Blick auf die Solidarität mit den Diskriminierten seiner

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Zeit sagen: »Was ihr einem meiner geringsten Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.« Wenn die katholische Kirche zentrale Inhalte ihrer Glaubensverkündigung an binären und diskriminierenden Geschlechterkategorien festmacht, dann ist das vor ihrer eigenen Tradition heute höchst begründungspflichtig und wird eigentlich immer fragwürdiger: »Jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht.« (Johannes Paul II 1965: Nr. 29) Die Identität des christlichen Glaubens besteht nicht in der diskriminierenden Zuschreibung fester Rollen für Männer und Frauen, sondern in der immer wieder ereignishaften Freisetzung aus dem, was das Leben klein und destruktiv macht.

Männer im Norden? Zwei blinde Flecken Zum Schluss noch zwei blinde Flecken, auf die ich an dieser Stelle nur hinweisen kann. Erstens: Religiös formatierte Genderfragen sind globale Existenzfragen. Theologische Antidiskriminierungsdiskurse zu Gender und Sexualität, die kontextuell im globalen Norden formuliert sind, werden aber nicht selten ins Licht abgehobener Wohlstandsprobleme gerückt. Die vatikanischen Diplomaten hatten diese Entwertungsstrategie schon 1995 in Peking verfolgt. »Surely this international gathering could have done more for women and girls than to leave them alone with their rights.« (Buss 1998: 354) Ähnlich lautet im Umfeld der vatikanischen Amazonas-Synode 2019 der Vorwurf, die Aufmerksamkeit für Frauenrechte und Genderfragen sowie die Öffnung des Weiheamtes sei ein Missbrauch lokaler Probleme Brasiliens für eine weltkirchliche Reformagenda. Die in Peru lehrende Birgit Weiler, die als Expertin an der Synode teilnahm, stellt dagegen klar: »Dem ist nachweislich nicht so.« (Weiler 2019) Die Thematisierung von Klimaschutz, Menschenrechten und der Gleichberechtigung von Männern und Frauen kommt aus den Erfahrungen am Amazonas selbst. Zweitens deshalb: Genderfragen sind wesentlich auch Männerfragen. Es fällt einfach auf, dass in den katholischen Diskursen zu Geschlechterfragen die Rolle von Männlichkeitskonzepten so gut wie nie reflektiert wird. Der theologische Männlichkeitsforscher Björn Krondorfer meint: »Die weitverbreitete patriarchale Ordnung in den Weltreligionen ist Ausdruck hegemonialer Männlichkeit. Eine kritisch-theologische Männerforschung muss sich an diese Aufgabe wagen,« (Krondorfer 2015: 133) nämlich die Rolle von in Glaubensüberzeugungen verankerten Männlichkeitsvorstellungen und deren Beitrag zu genderbezogener Diskri-

Diskriminierung als Identität? Phänomene von Un/doing Gender in der Katholischen Kirche

minierung von Frauen und nicht-hegemonialer Männlichkeiten beziehungsweise Lebensformen zu analysieren. Eines ist klar: Die Aufgaben kritisch-theologischer Geschlechter- und Männlichkeitsforschung sind noch lange nicht erledigt.

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Keine Trauung für alle: Die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Ehepaare in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg Birgit Weyel

Öffentliche Segnung? Am 11. März 2019 wurde in der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg das »Gesetz zur Einführung eines Gottesdienstes anlässlich einer Eheschließung zwischen zwei Personen gleichen Geschlechts« mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit beschlossen. Auf den ersten Blick scheint ein Gottesdienst anlässlich einer Eheschließung für alle Paare auch in Württemberg möglich geworden zu sein. Diese Deutung wurde öffentlichkeitswirksam präsentiert. »Nach langem Ringen hat die Landessynode die öffentliche Segnung gleichgeschlechtlicher Paare möglich gemacht.« (Evangelisches Medienhaus 2019: 1) Mehrfach ist hier vom »Ringen« um eine »Ermöglichung« der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare in einem öffentlichen Gottesdienst die Rede. »Erleichterung nach langem Weg« lautet die Überschrift über einem Interview mit dem Landesbischof, der davon spricht, dass die Bemühungen »jetzt auch zu einem Ziel geführt haben« und sich durch das neue Gesetz »eine Tür öffnet in der Kultur der Landeskirche.« (Evangelisches Medienhaus 2019: 2) Auch die Presse eignete sich die Deutung vom erreichten Kompromiss an. Für evangelische homosexuelle Paare gab es kürzlich einen Grund zur Freude: Die Synode der Evangelischen Landeskirche Württemberg beschloss, dass sich interessierte Paare künftig auch offiziell den Segen ihres Pfarrers abholen können. Württemberg war mit Schaumburg-Lippe die letzte Landeskirche, in der es keine gottesdienstliche Segnung homosexueller Paare gab. (Schreil 2019) Allerdings bleibt in diesen öffentlichen Deutungen unausgesprochen, dass mit diesem Gesetz die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare in der Landeskirche fortgesetzt wird, weil eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen homosexuellen und heterosexuellen Ehepaaren nicht nur beibehalten, sondern argumentativ erneuert und theologisch zementiert wird. Diese Diskriminierung geht nicht

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nur – wie mehrfach behauptet – eine Minderheit1 an, sondern alle evangelischen Christ*innen, weil ganz grundsätzlich das Verständnis dessen berührt ist, was die Trauung in der Evangelischen Kirche bedeutet, und zwar unabhängig vom Geschlecht der Beteiligten. Zudem ist die für Religionsgemeinschaften sensible Frage ihrer Glaubwürdigkeit berührt, wenn Angehörige einer Kirche, die sich auf das Evangelium beruft, diskriminiert werden. Tatsächlich blicken wir in Kirche und Gesellschaft auf eine lange Diskriminierungsgeschichte zurück, die mit diesem Gesetzesbeschluss in der Evangelischen Landeskirche Württemberg fortgeschrieben wird. Im Folgenden möchte ich die diskriminierenden Dynamiken in den Debatten der Landessynode vom 28. und 29. November 2017 und vom 28. November 2018 aufzeigen. Darüber hinaus gehe ich auf den Gesetzesentwurf ein, der am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist.2 Die diskriminierenden Äußerungen in der Kirche und die Analyse der in diesem Zusammenhang zur Sprache gebrachten theologischen Argumentationen ließen sich problemlos historisch nachverfolgen oder ergänzen.3 Sie bilden einen Diskurszusammenhang. So wird in den gegenwärtigen Diskussionen mehrfach auf den im Jahr 1996 von der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichten Text »Mit Spannungen leben« verwiesen. (EOK 2019: 10; EKD 1996) Ich beschränke mich jedoch aus pragmatischen Gründen auf diese jüngsten Entwicklungen im Umfeld des Gesetzes zur öffentlichen Segnung in Württemberg.

Die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau als heilige Norm Von Diskriminierung ist nicht nur angesichts vieler Voten von Synodalen in den Debatten zu sprechen, die man den gedruckten Protokollen entnehmen kann. Eine Diskriminierung wird auch ausdrücklich in dem Gesetz, das am 1. Januar 2020 in Kraft getreten ist, festgeschrieben. Der Gesetzestext hat eine feierliche Präambel, in der Grundsätze zum Verständnis von Ehe, Trauung und Segnung festgehalten werden. Dort heißt es im 1. Artikel: Überliefert ist nach der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Reformation der Charakter der Ehe zwischen Mann und Frau als weltlich Ding und göttlicher

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»Zahlenmäßig geht es um die Minderheit in einer Minderheit. Wir haben es mit wenigen im Verhältnis zu den vielen in unserer Kirche zu tun.«, so der Synodale Ulrich Hirsch in: EOK 2017: 1559. Die Protokolle der Synoden wurden auf Anfrage von der Evangelischen Landeskirche in Württemberg versandt. Der Gesetzestext findet sich neben den Verfahrensregeln und weiteren Texten in: EOK 2019. Zum Beispiel die vom Arbeitskreis Württemberg des Netzwerks für Bibel und Bekenntnis herausgegebene Broschüre »Was Gott nicht segnet, kann die Kirche nicht segnen.«

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Stand. Die Auslegung von Schriftstellen im Alten Testament (Lev 18,22; 20,13) und im Neuen Testament (Röm 1,24-27), die sich auf gleichgeschlechtliche Liebe beziehen, ist uneinheitlich. Über die Schlussfolgerungen für die Begleitung zweier Menschen gleichen Geschlechts durch die Kirche anlässlich der bürgerlichen Eheschließung besteht Streit, ohne dass dieser die Einheit der Kirche in Christus in Frage stellt. (EOK 2019: 35-36) In diesem Artikel wird die Ehe zwischen Mann und Frau als Gegenstand christlicher Überlieferung und zugleich als schrift- und bekenntnisgemäß behauptet. Hier wird von vornherein die eheliche Lebensgemeinschaft als eine Ehe zwischen einem Mann und einer Frau verstanden. Sie sei die Norm, denn nur sie sei Teil christlicher Überlieferung, nur sie entspreche der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Reformation. Die rhetorische Weichenstellung besteht darin, die Texte der religiösen Überlieferungen zur Ehe auf die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau zu begrenzen. Die heterosexuelle Ehe wird zu einem Gegenstand des Bekenntnisses gemacht. Argumentativ eingesetzt werden Schrift und Bekenntnis, als die Autoritäten, die der Protestantismus aufzubieten hat. Die weichenstellende Funktion einer hoheitlichen Reservierung des Ehebegriffs wird in der Handreichung an prominenter Stelle platziert. Auch der Begriff der ›Trauung‹ wird nur für die Verbindung heterosexueller Paare namhaft gemacht: Die ›kirchliche Trauung‹ ist und bleibt eine Amtshandlung anlässlich der Eheschließung eines Mannes und einer Frau. Sie ist letzten Endes im biblischen Ehe- und Familienverständnis gegründet, wie es in den Bekenntnissen der Reformation ausgelegt wurde. Auch wenn man die bekenntnishermeneutischen und theologiegeschichtlichen Detailfragen anders beurteilt, wird man theologisch Schwierigkeiten haben, den Begriff der ›Ehe‹ so zu erweitern, dass er mit dem staatlichen und umgangssprachlichen Verständnis identisch ist. (EOK 2019: 13) Es wird ein Ehebegriff mit pointierter Abgrenzung gegenüber homosexuellen Paaren zementiert. Alle Aussagen zur gemeinschaftlichen Verbindung von zwei Menschen in der christlichen Überlieferung wären demnach heterosexuellen Paaren vorbehalten. (EOK 2019: 35) Die Ehen gleichgeschlechtlicher Paare wären demnach nicht gemeint. Sie seien nur Ehen im »staatlichen und umgangssprachlichen« (EOK 2019: 20) Verständnis, aber könnten als solche nicht anerkannt werden, weil »man theologisch Schwierigkeiten« (ebd.) habe, sie als Ehen anzuerkennen. In § 1 Grundsatz heißt es: Nach Maßgabe der landeskirchlichen Ordnung erfolgt die Begleitung von zwei Personen gleichen Geschlechts anlässlich der bürgerlichen Eheschließung im Rahmen der Seelsorge. Daneben kann nach Maßgabe dieser Ordnung in einer

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begrenzten Zahl von Kirchengemeinden oder Verbundkirchengemeinden aus diesem Anlass ein öffentlicher Gottesdienst stattfinden. (EOK 2019: 35) Es wird ausdrücklich festgehalten, dass ein öffentlicher Gottesdienst für gleichgeschlechtliche Ehepaare im Grundsatz nicht möglich sei. Die als Regelfall für gleichgeschlechtliche Ehepaare vorgesehene Begleitung ›im Rahmen der Seelsorge‹ bedeutet: kein Gottesdienst, denn Gottesdienste sind öffentlich, vielmehr eine nichtöffentliche Segnung des Paares durch den*die Pfarrer*in. Eine nichtöffentliche Segnung im Rahmen der Seelsorge war schon bisher möglich: ohne Abkündigung, ohne amtliche Fürbitte, ohne Glockengeläut, ohne Anwesenheit der Gemeinde, ohne Eintrag ins Kirchenbuch. Der Begriff der ›Seelsorge‹ steht in diesem Fall für Nichtöffentlichkeit und er suggeriert auf subtile Art und Weise, das Paar wäre seelsorgebedürftig, als hätte es ein Problem, einen besonderen Beratungsbedarf. Hier wird, nebenbei gesagt, die Seelsorge als zentrales Handlungsfeld der Kirche missbräuchlich aufgerufen. Karikierend bringt es die Synodale Sabine Foth auf den Punkt: »Da ist sie wieder – die sorgenbedürftige Seele der gefallenen Schöpfung.« (EOK 2018: 2210) Mit der Verortung der Segnung in der Seelsorge, die den Charakter der Nichtöffentlichkeit trägt, wird eine Formulierung aus dem Jahr 2000 aufgenommen und zitiert, die wiederum aus dem EKD-Papier Mit Spannungen leben zitiert. (Vgl. EKD 1996) »Die Segnung soll ›ihren Ort […] in der Seelsorge und der damit gegebenen Intimität‹ haben.« (EOK 2000: 17; 2019: 55)4 Im Grundsatz, das stellt §1 fest, führt das Gesetz von 2019 nicht über diese Formulierung hinaus. Neu ist nur, dass es neben der nichtöffentlichen Segnung, die Möglichkeit geben soll, einen öffentlichen Gottesdienst zu feiern, unter besonderen Bedingungen und nur in solchen Kirchengemeinden, die ein Verfahren durchlaufen, in dem sie nachweisen können, dass »die Kirchengemeinde der Auffassung ist, dass ein solcher Gottesdienst in Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen der Reformation steht.« (EOK 2019: 6) Die Gemeinden können nicht selbst initiativ werden, sondern bewerben sich beim Oberkirchenrat um die Teilnahme am Verfahren. Die Begründungspflicht liegt somit nicht bei denen, die diskriminieren, sondern bei denen, die die Diskriminierung in einer örtlichen Gottesdienstordnung überwinden wollen. Da es sich um eine örtliche Ordnung handelt, ist die Zahl der Gemeinden von vornherein auf ein Viertel begrenzt. Für einen höheren prozentualen Anteil von Gemeinden wäre keine Regelung im Rahmen einer örtlichen Gottesdienstordnung möglich, sondern ist eine Zweidrittelmehrheit in der Landessynode für die Reform der Agende notwendig. Angesichts von Gemeindefusionen schwankt die Zahl der Gemeinden in absoluten Zahlen, derzeit bedeutet ein Viertel ca. 298 Kirchengemeinden. Bis zum 11. Mai 2020 hatten sich 172 Gemeinden beworben, von

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Die Auslassung im Zitat findet sich schon in EOK 2000: 17.

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denen 23 so weit anerkannt wurden, dass sie eine öffentliche Segensfeier durchführen können.5 Auch das Verfahren zur Anerkennung ist problematisch, weil in einer öffentlichen Veranstaltung beiden Positionen gleichermaßen Raum gegeben werden soll. (Vgl. EOK 2019: 3) Das Primat der prinzipiellen Unterscheidung zwischen den öffentlichen Gottesdiensten von gleichgeschlechtlichen und heterosexuellen Ehepaaren moderiert die gesamte liturgische Gestaltung der Gottesdienste, in denen gleichgeschlechtliche Paare gesegnet werden: »Die Gottesdienstliturgie zeichnet sich dadurch aus, dass der Gottesdienst nicht dem Paar gilt, sondern den beiden Individuen, die sich zu einer lebenslangen Verbindung zusammenschließen. Hier liegt der Schwerpunkt also darauf, dass zwei Menschen für ihr weiteres Leben gesegnet werden und zwar auf der Folie, dass sie dieses Leben gemeinsam verbringen wollen, der ›Ehebund‹ kommt hier nicht vor.« (EOK 2019: 21) Die Differenzierung zwischen Homosexualität und Heterosexualität in ehelichen Gemeinschaften wird zu einer kategorialen Grenzziehung und fundamentalen Ordnungskonstruktion gemacht. Diese Grenzziehung manifestiert sich in dem in diesem Zusammenhang entwickelten Begriff der ›Ehe‹ als einer Ehe zwischen einem Mann und einer Frau als ›heiliger‹ Norm und den entsprechenden diskriminierenden Konsequenzen hinsichtlich der kirchlichen Trauung für diejenigen, die dieser Norm nicht entsprechen. Während der bürgerliche Gesetzgeber jede Unterscheidung, zuletzt, im Oktober 2017, auch die zwischen der Ehe und einer eingetragenen Lebensgemeinschaft aufgegeben hat, schreibt die evangelische Kirche in Württemberg diese Differenzierung im Rückgriff auf vermeintlich göttliche – und damit kategorial unverfügbare – Ordnungen fest. Menschen werden anlässlich ihrer Eheschließung in der Kirche auf ihre sexuelle Orientierung reduziert, für die hier überhaupt nur zwei Ordnungskategorien zur Verfügung stehen: heterosexuell oder gleichgeschlechtlich. (Vgl. Bubmann 2020: 63-81) Es geht also nicht um den institutionellen Charakter der Ehe, sondern nur um die Sexualität in dieser Ehe und diese wird wiederum auf das Geschlecht (antigenderistisch) der Beteiligten reduziert. Im Anschluss an Michel Foucault formuliert, wird in dieser Debatte das Dispositiv der Allianz, das bei der ehelichen Verbindung das zentrale ist, überlagert und überformt vom diskursiven Dispositiv der Sexualität. (Vgl. Foucault 2008: 1112) Hinzuweisen ist auch auf die problematischen Rahmenbedingungen des kirchlichen Diskurses. Die Debatte ist in vielfältiger Hinsicht von Asymmetrie geprägt. Die Synode hat die Macht, über die Ermöglichung und Nichtermöglichung eines öffentlichen Traugottesdienstes für Ehepaare zu entscheiden. Es wird über diese Paare gesprochen und die kategoriale Unterscheidung zwischen Mehrheit (Ehen 5

Ich danke Herrn KR Dr. Frank Zeeb für die Auskünfte und die freundliche Bereitschaft zum Gespräch.

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heterosexueller Orientierung) und Minderheit (Ehen homosexueller Orientierung) konstruiert. Die Mehrheit berät, diskutiert und entscheidet darüber, ob die Minderheit eine öffentliche Segnung anlässlich ihrer Eheschließung in Anspruch nehmen darf, ob es ihr erlaubt wird oder nicht; zugespitzt formuliert: ob ihr der Segen Gottes für ihr gemeinsames Leben zugesprochen oder verweigert wird. Gleichgeschlechtliche Paare werden hier von vornherein distanziert, sie werden ›verandert‹6 , also zu anderen gemacht. Othering kann beschrieben werden als »simultaneous construction of the self or in-group and the other or out-group in mutual and unequal opposition […]. Othering thus sets up a superior self/in-group in contrast to an inferior other/out-group.« (Brons 2015: 70) Die relevanten Differenzierungen werden an mehreren Stellen der Liturgie markiert. Im liturgischen Formular für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare ist der Begriff der ›Traufrage‹ durch den der »Verpflichtungsfrage« (EOK 2019: 24) ersetzt worden. In der Trauagende für heterosexuelle Paare werden die beiden Eheleute einzeln (›Willst Du…‹) mit der Formulierung »als deinem Ehemann/deiner Ehefrau« befragt. (EOK 2020: 21) Diese Formulierung aber soll dadurch vermieden werden, dass das Paar »gemeinsam befragt und auf die Nennung des Standes verzichtet wird.« (EOK 2019: 24) Das, was der Fall ist, nämlich die zivilrechtliche Eheschließung zweier Menschen, soll im rituellen Vollzug mit einem Tabu belegt werden. Nach der Logik der Differenz darf an keiner Stelle in der Segnung für gleichgeschlechtliche Paare von einer Ehe gesprochen werden. »Entsprechend dem Duktus dieses Agendenformulars wird der Bezug auf ›Gottes Gebot und Verheißung‹ nicht auf den ›Ehestand‹ oder ›Ehebund‹ gerichtet, sondern ausdrücklich auf die Bereitschaft, das ›weitere Leben‹ an Gottes Gebot und Verheißung auszurichten.« (Ebd.) Gottesdienstteilnehmer*innen, die mit liturgischen Detailfragen wenig vertraut sind, werden sich diese Praktiken von doing difference (Hirschauer 2014) im rituellen Vollzug möglicherweise gar nicht erschließen. Die begriffliche Weichenstellung, den Ehebegriff für die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau zu reservieren und sie anderen Ehepaaren zu verweigern, wirft die Frage nach dem theologischen Verständnis von Ehe und Trauung auf.

Zum Verständnis von Ehe und Trauung Die evangelische Trauung ist ein Gottesdienst, der anlässlich der zivilrechtlichen Eheschließung stattfindet und den man als biografischen Passageritus verstehen kann. Den Eheleuten wird der göttliche Segen für das gemeinsame Leben zugesprochen und es wird für sie Fürbitte gehalten. Die Trauung ist insofern im Ge6

Der Begriff der ›Veranderung‹ als deutsche Übersetzung von Othering wurde geprägt durch Julia Reuter. (Vgl. Reuter 2002)

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gensatz zum katholischen Ehesakrament keine Eheschließung, sondern sachgemäß als eine öffentliche Segnung anlässlich einer Eheschließung zu beschreiben. Zwar agierte der evangelische Pfarrer noch bis 1875 zugleich als Standesbeamter, doch wurde bereits seit der Reformation zwischen dem bürgerlichen Rechtsakt und der gottesdienstlichen Amtshandlung unterschieden, indem die Eheschließung vor der Kirchentür stattfand und das Paar als bereits verheiratetes Ehepaar (und nicht etwa als Brautpaar) zur Trauung einzog oder aber die gottesdienstliche Trauung am Tag nach der Eheschließung gefeiert wurde. Eine begriffliche Unterscheidung zwischen einer ›Trauung‹, einer ›Amtshandlung‹ und einer ›Segnung‹ macht im Grunde keinen Sinn. Die evangelische Trauung ist eine Segnung und damit zugleich eine Amtshandlung, für die ein*e Pfarrer*in beauftragt wird. Für die Reformatoren war wichtig festzuhalten, dass die Ehe nicht als ein Sakrament verstanden werden sollte, das heißt nicht als ein Zeichen, das auf eine göttliche Wirklichkeit verweist und somit sakralisierende Wirkung hat. Die Ehe ist – so Martin Luther – »ein weltlich geschefft.« (Luther 1529: 900) Segen und Fürbitte sind daher wesentlich als symbolisch-ritueller Beitrag zur Stärkung der Lebensgemeinschaften zu verstehen, der von den Ehepaaren erbeten wird. So hält die Formulierung aus Luthers Traubüchlein von 1529 fest: denn wer von dem Pfarherr oder Bischoff gebet und segen begert, der zeiget damit wolan (ob er es gleich mit dem munde nicht redet), in was für fahr und not er sich begibt und wie hoch er des Göttlichen segens und gemeinen gebets bedarff zu dem stande, den er anfehet, wie sichs denn auch wol teglich befindet, was unglücks der Teufel anrichtet in dem Ehestand mit Ehebruch, untrew, uneinigkeit, und allerley jammer. So wöllen wir nun auff diese weise an dem Breutigam und der Braut (wo sie es begeren und fordern) handeln. (Luther 1529: 901) Luther konnte zugleich auch von einem »göttlich werck und gebot« (ebd.) der Ehe reden, weil er, wie der Zusammenhang zeigt, alle weltlichen Ordnungen gegenüber klerikalen Ordnungen und insbesondere die Ehe gegenüber dem Zölibat aufgewertet wissen wollte. So finden sich bei ihm auch Aussagen über den Beruf als göttlichen Stand. Allerdings war sowohl im 16. Jahrhundert als auch im Jahr 1957, in dem die der heutigen Debatte vorausgehende Trauordnung für die Evangelische Landeskirche in Württemberg beschlossen wurde, gesamtgesellschaftlich nur die heterosexuelle Ehe im Blick. Der Gesetzgeber aber hat seit 1969 mit der Entkriminalisierung einvernehmlicher homosexueller Akte unter Erwachsenen in einem langen Prozess homo- und heterosexuelle Partnerschaften rechtlich einander angenähert und zum 1. Oktober 2017 zuletzt schließlich auch die Unterscheidung zwischen eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe aufgegeben. Es wäre daher auch theologisch nur konsequent, wenn die Ordnung der kirchlichen Trauung den Entwicklungen des Zivilrechts und der Öffnung des Ehe- und Familienbegriffs folgen würde. Den Ehebegriff und die kirchliche Trauung für he-

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terosexuelle Paare zu reservieren und den Abstand zur Segnung homosexueller Paare zu markieren, ist mit erheblichen sozialen Folgen verbunden und auch nicht mit den relevanten theologischen und kirchenrechtlichen Logiken vereinbar. Zum einen konnte auf diese Weise eine Trauagende beschlossen werden, die die Ehe zwischen Mann und Frau als »Teil der Schöpfungsordnung« (EOK 2020: 4) zementiert. Zum anderen sind die diskriminierenden Strategien der Differenzierung in den kirchlichen Diskurs eingezeichnet. Das möchte ich im Folgenden an einigen Beispielen der Synodaldebatten zeigen.

Strategien der Differenzierung/Diskriminierung »Jegliche Form von Diskriminierung lehnen wir ab«: Diskursive Strategien »Es ist mir ein Anliegen, dass homosexuell empfindende Menschen nicht abgewertet und diskriminiert werden. Ich bin froh, dass wir uns da einig sind.« (EOK 2017: 1566) Der Synodale Philippus Maier beginnt seinen Redebeitrag anlässlich der Herbsttagung der Landessynode mit dieser Absichtserklärung, um dann eine Strategie des Otherings zu betreiben, also homosexuell empfindende Menschen als Gruppe zu distanzieren, sie zu verandern, indem er scheinbar bekräftigend fortfährt: »Ebenso freue ich mich zu sagen, dass die Kontakte, die ich bislang zu solchen Menschen hatte, durchweg positiv waren. Ich habe also, Gott sei Dank, keine Probleme mit solchen Menschen.« (Ebd., Herv. B.W.) Die sprachliche Eingruppierung (›solche Menschen‹) und den Kontakt zu problematisieren, indem ausdrücklich betont wird, dass ›keine Probleme‹ aufgetaucht seien, stellt eine Diskriminierung dar, die dann auch als solche ganz offensichtlich wird, wenn er sein eigentliches Argument vorträgt: Allerdings kann ich beim besten Willen keine stichhaltigen Gründe erkennen, warum wir von der bisher geltenden Einsicht abweichen sollten, dass die Bibel homosexuelle Praxis, nicht die Prägung, durchweg negativ beurteilt und als Sünde einstuft. Auch ist mir nicht wirklich klar aus meiner Kenntnis der Umwelt des Neuen Testaments, in der es teilweise schick war, eine homosexuelle Beziehung zu haben, auch zwischen erwachsenen gleichberechtigten Menschen, dass wir da wegen anderer Umstände die Aussagen der Bibel heute nicht mehr gelten lassen sollten, ganz davon abgesehen, dass wir das ja an anderen Stellen auch nicht tun. Am Gebot der Nächstenliebe halten wir trotz veränderter Sozialstrukturen fest. Ebenso daran, dass Habgier und Neid Sünde sind, obwohl unsere Vermögens- und Besitzverhältnisse sich deutlich geändert haben. (Ebd.) Gelebte Homosexualität, so die Aussage, sei demnach Sünde. Die anderen, ›solche Menschen‹, seien Sünder*innen und zur Begründung wird das Neue Testament

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herangezogen. Dem Verweis auf die Bibel wird damit eine autoritative Funktion zugewiesen, ihre Auslegungsbedürftigkeit (›wegen anderer Umstände‹; ›veränderte Sozialstrukturen‹) bestritten. Tatsächlich ist überhaupt nur an vier Stellen in der gesamten Bibel (Altes und Neues Testaments) von sexuellen Praktiken die Rede, die zwischen Männern ausgeübt werden: Lev 18,22; Lev 20,13; 1 Kor 6,9 und Röm 1,26b. Die beiden alttestamentlichen Stellen zielen auf eine Abgrenzung gegenüber ägyptischen und kanaanäischen Sexualpraktiken in Israel. (Vgl. Leuenberger 2020) Und in 1 Kor 6,9 sind bei Paulus homosexuelle Pädophilie und homosexuelle Prostitution genannt, so dass diese Praktiken – also Pädophilie und Prostitution – im Hintergrund stehen, wenn in Röm 1,26f Homosexualität abgelehnt wird. Gewichtiger aber – und hier kommt die Bibelhermeneutik in den Blick – ist, dass die Merkmale, die Paulus für die eheliche Beziehung geltend macht (vor allem Relationalität und Reziprozität7 ) aus heutiger Sicht für alle Menschen gelten, die eine auf Dauer angelegte und von Verantwortung füreinander geprägte Beziehung eingehen, wie dies der bürgerliche Ehevertrag impliziert. Hermeneutisch ist ebenfalls wichtig, dass das Verständnis von Homosexualität und Geschlechterbeziehungen in der Antike nicht vergleichbar ist mit den Einsichten der modernen Humanwissenschaften, die auch den Liberalisierungsprozess unserer Gesetzgebung initiiert und flankiert haben. Der (falsche, fundamentalistische, auf antike Weltbilder rekurrierende) Hinweis auf die Heilige Schrift ist der Versuch, Diskriminierung als göttliches Wort, als Gegenstand des Bekenntnisses und als Gewissensentscheidung der Diskursivität zu entziehen.8 Pfarrer*innen, die gegen die Segnung homosexueller Paare votieren, erklären zugleich: »Wir verstehen die christliche Gemeinde als einen Ort, an dem alle Menschen willkommen sind, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung. Jegliche Form von Diskriminierung lehnen wir ab.« (EOK 2018: 2209)9 In demselben Schreiben aber wird eine Trauung für alle abgelehnt. Es ist eine diskursive Strategie, diesen Widerspruch nicht als solchen anzuerkennen, der darin liegt, einerseits die Gleichstellung mit dem Rekurs auf vermeintlich heilige Ordnungen (Schrift und Bekenntnis) zu verweigern, andererseits aber zu erklären, dass man Diskriminierung ablehne. Ausdrücklich wird diese Strategie auch in dem Votum Werner Tricks: 7

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Vgl. zur theologischen Begründung: Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland. (EKD 2013) Der Neutestamentler Peter Lampe notiert: »Die Frage, ob wir auf dem anthropologischen Wissensstand der Antike verharren müssen, stellt den eigentlichen Kern des innerchristlichen Streits über gleichgeschlechtliche Sexualität dar – nicht die Frage, ob wir der Bibel untreu werden müssen, wenn wir schwule und lesbische Paare trauen.« (Lampe 2017: 44) Die Synodale Christiane Mörk zitiert hier kritisch aus dem Schreiben der Pfarrer*innen, das den Synodalen vor der Herbsttagung 2017 zugeschickt wurde.

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Wir sollten nicht von Diskriminierung sprechen. Es geht nicht um Diskriminierung. Wir schätzen, ich glaube, das kann ich von uns allen sagen, alle Menschen in unterschiedlichen Lebensformen wert; sie sind wertgeachtet. Deshalb sollte man nicht von Diskriminierung sprechen, wenn man von Schrift und Bekenntnis her eine andere Position vertritt. (EOK 2017: 1540)

Bagatellisierung und Dämonisierung Eine weitere diskursive Strategie der Diskriminierung besteht in der Bagatellisierung der Anliegen von sogenannten ›Minderheiten‹, wie die Rassismuskritik gezeigt hat. (Dirim et al. 2016: 89) Bagatellisierend ist das Votum des Synodalen Ulrich Hirsch, der darauf insistiert, dass das Thema nur wenige Menschen betreffe und der Aufwand, die Diskussion zu führen, unverhältnismäßig hoch sei: »Zahlenmäßig geht es um die Minderheit in einer Minderheit. Wir haben es mit wenigen im Verhältnis zu den vielen in unserer Kirche zu tun.« (EOK 2017: 1559) Hier werden Menschen, die eine Trauung für sich in Anspruch nehmen wollen, in zweifacher Hinsicht minorisiert. Als Homosexuelle und als gleichgeschlechtliche Ehepaare, die eine kirchliche Trauung wünschen. Die rhetorische Strategie der doppelten Minorisierung liegt darin, das Problem der Diskriminierung zu bagatellisieren. Ulrich Hirsch ruft dem Plenum zu: »Nehmen Sie sich Zeit, wieder Zeit, für die wirklich wichtigen Themen, die anstehen. […W]ir müssen auch feststellen, dass der Stellenwert dieses Themas eine übergroße Bedeutung angenommen hat im Blick auf unser Engagement und unsere Zeit.« (Ebd.) Das Protokoll notiert: »Beifall.« Weiter sagt er: »Wir haben wahrlich in unserer Kirche noch viele andere wichtige Themen.« (Ebd.) Die Themen, die er im Folgenden benennt, sind neben Fremdenfeindlichkeit und Fundamentalismus auch »die Abstimmung unserer Kirchenmitglieder mit den Füßen.« (Ebd.) Dass Menschen möglicherweise aus der Kirche austreten, weil sie sich mit der Diskriminierung Homosexueller, dem sakralisierenden Eheverständnis und der Bipolarität der Geschlechterrollen nicht identifizieren können, wird nicht in Betracht gezogen. Die andere Seite der Bagatellisierung stellt die Dämonisierung dar. Micha Brumlik fasst zusammen, Dämonisierung sei die unausgesprochene Festschreibung und Generalisierung durchaus zu verurteilender, sich massenhaft addierender Handlungen von Einzelnen auf das ›Wesen‹ ihrer Kultur […], dem Beharren auf unveränderlichen, negativen Charakterzügen sämtlicher Angehöriger einer wie auch immer stigmatisierten Bevölkerungsgruppe, Charakterzügen, die ihrer unveränderlichen Kultur zugeschrieben werden. (Brumlik 2016: 53) In diesem Sinne interpretiere ich das Votum der Synodalen Gabriele Reiher, die die Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare generalisierend mit – im Übrigen

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rechtlich unmöglichen – Praktiken des Zusammenlebens in eins setzt. Sie sagt: »Ich möchte zu bedenken geben: Werden dann, wenn wir dem Antrag Folge leisten, auch Kinder getraut? Kann ich mir meinen virtuellen Partner im Internet herunterladen, mit ihm aufs Standesamt gehen, mich trauen lassen und dann segnen lassen?« Das Protokoll verzeichnet: »Zuruf.« Die Synodale fährt fort: »Das wird heutzutage recht oft gemacht.« (EOK 2017: 1540) Der außerhalb des rechtlich und gesellschaftlich Möglichen liegende Fall einer bürgerlichen Eheschließung mit einem virtuellen Partner zielt auf die Vorstellung von einem vermeintlichen Dammbruch, dass, wenn man erst einmal die Trauung für alle einführe, alle möglichen anderen skandalösen Fälle möglich wären, die nicht mehr kontrollierbar seien. Die Referenz auf die Digitalisierung, ›das Internet‹, in dem alles möglich zu sein scheint, sowie der Hinweis auf ›heutzutage‹ zielen darauf, Angst vor Kontrollverlusten zu erzeugen, deren vermeintlichen Anfängen gewehrt werden müsse.

Diskriminierung durch symbolisch-rituelle Differenzierung Eine symbolisch-rituelle Differenzierung ist nicht als Ausdruck liturgischer Formenvielfalt zu verstehen, sondern folgt strikt der Konstruktion sexueller Bipolarität, die auch auf das Eheverständnis in heterosexuellen Lebensgemeinschaften und die sozialen Rollen von Männern und Frauen Auswirkungen hat. Ausdrücklich wird festgehalten, dass der Ehebegriff für heterosexuelle Ehepaare reserviert bleibe, weil – so die Begründung – die dynamische Auslegung des bürgerlichen Ehebegriffes nicht mit dem Ehebegriff der Reformatoren vereinbar sei, insofern für diesen die Geschlechtsverschiedenheit prägende Bedeutung habe. Hier wird das historisch-kulturell geformte Eheverständnis der Reformatoren zum reformatorischen Bekenntnis stilisiert. Ausdrücklich hält die Handreichung fest: Die Präambel macht deutlich, dass eine Differenz zwischen dem biblisch-reformatorischen Eheverständnis und dem säkularen Ehebegriff besteht. Nach Luthers Traubüchlein ist für die Trauung die Gegengeschlechtlichkeit beider Partner konstitutiv. Deshalb ist die begriffliche Unterscheidung entscheidend: Ein Gottesdienst anlässlich einer bürgerlichen Eheschließung zweier gleichgeschlechtlicher Menschen kann nicht als Trauung bezeichnet werden. (EOK 2019: 13) Liturgisch soll diese Differenz darin deutlich werden, dass nicht etwa die Ehe gesegnet wird, sondern nur die Personen, die die Ehe geschlossen haben. Der Gesetzentwurf des Oberkirchenrats schlägt, so vorgetragen von Dr. Michael Frisch, »eine eigene Amtshandlung anlässlich der Eheschließung von zwei Personen gleichen Geschlechts vor, in der Gottes Wort über die Ehe als dauernde Verbindung zwischen Mann und Frau nicht verkündigt wird und nicht der Ehebund, sondern allein die Ehegatten gesegnet werden.« (EOK 2017: 1531) Damit aber wird der An-

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lass, der den Gottesdienst motiviert – die Eheschließung – ignoriert. Die Eheleute erbitten ja den Segen für das gemeinsame Leben. Die Segnung aber sieht vor, das Paar wiederum in zwei Individuen aufzusplitten und sie als Einzelne und nicht als Paar zu segnen. Ausdrücklich hält der Oberkirchenrat Ulrich Heckel fest, dass der Segen »nicht der Lebensform« (EOK 2017: 1560) gelte und daher der Segen nicht über den Händen der Eheleute gesprochen werden könne. Gleichgeschlechtliche Paare »sollen nach dem Entwurf des Oberkirchenrats den Segen kniend empfangen und bekommen dabei die Hände auf beide Köpfe gelegt, so, wie wir es von der Konfirmation vor Augen haben.« (Ebd.) Auch in der liturgischen Ordnung heißt es schließlich: Ausdrücklich entfällt der Bezug auf den Ehebund. Die beiden Menschen werden – analog zur Konfirmation, wo die Jugendlichen einzeln oder in Paaren/kleinen Gruppen niederknien, der Segen aber dem Einzelnen ›auf den Kopf zugesagt‹ wird – individuell gesegnet. Die Formulierung ist traditionell, da es sich um eine Individualsegnung handelt. (EOK 2019: 25) Im Insistieren auf der Segnung von Einzelnen wird im Grunde dem Ehepaar der Segen für das gemeinsame Leben verweigert.

Es geht auch anders In der Oldenburgischen Kirche wurde in der Synode am 22. November 2018 die Trauung für alle Ehepaare beschlossen, wie dies in vielen anderen Landeskirchen bereits möglich ist. Der Oldenburgische Bischof Thomas Adomeit kommentierte den Beschluss nicht nur als »großartig«, (Evangelischer Pressedienst 2018) sondern er bat auch homosexuelle Paare um Entschuldigung für Verletzungen, die sie in der Vergangenheit erlitten hätten, weil sie nicht getraut werden konnten: »Das dadurch entstandene Leid, die durchlebte Enttäuschung und die erlittene Diskriminierung begleiten manche Beziehung bis heute«, (ebd.) sagte er. Es geht also auch anders als in Württemberg. Die Evangelische Kirche in Hessen-Nassau hat 2018 eine Broschüre veröffentlicht: »Zum Bilde Gottes geschaffen. Transsexualität in der Kirche.« (EKHN 2019) Humanwissenschaftliche Einsichten und theologische Deutungen werden in dieser Broschüre miteinander vermittelt und zwar nicht durch ›Veranderung‹ und Markierung von Differenz, sondern so, dass das eigene Leben als ein Teil von Vielfalt besser zu verstehen ist: Menschliche Vielfalt und Verschiedenheit als Gabe und Herausforderung anzunehmen, kann […] Kirche und Gesellschaft bereichern. Indem ein Prozess des wechselseitigen Verstehens in Gang gesetzt wird, wird eine wertschätzende und fruchtbare Begegnung mit Menschen und deren Lebensgeschichten möglich. Das

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kann dazu beitragen, auch das eigene Leben besser zu verstehen und zu leben. (EKHN 2019: 4) Kirche reduziert sich hier nicht auf das diskursive Dispositiv der Sexualität, sondern sie will einen Beitrag zum Verstehen von Leben leisten. Es soll um Begegnungen mit Menschen und ihren Lebensgeschichten gehen. Hier wird nicht verhandelt, ob etwa den anderen auch dies und das erlaubt werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnisse und theologische Einsichten, die sich auf diese Erkenntnisse beziehen und sie nicht ignorieren, werden hier mit- und nebeneinander präsentiert. Eine solche Praxis der Differenzierung und Veranderung wäre auch theologisch nicht mit einem Verständnis von evangelischer Kirche in Einklang zu bringen. Vor 52 Jahren wurden Frauen in vielen Landeskirchen, auch in Württemberg, zum Pfarramt zugelassen. (Evangelisches Medienhaus 2018: 8) Das Selbstverständnis einer evangelischen Kirche, die nicht einen Erlaubnisdiskurs nach dem anderen führen will, und zwar stets zeitversetzt zu gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen, muss sich tatsächlich stärker selbst verändern.

Literatur Arbeitskreis Württemberg des Netzwerks Bibel und Bekenntnis (Hg.) (2020): Was Gott nicht segnet, kann die Kirche nicht segnen! Biblisch-theologische Orientierung in der Auseinandersetzung um die Homo-Segnung, Windsbach. Brons, Lajos (2015): »Othering, an Analysis«, in: Transcience 6, S. 69-90. Brumlik, Micha (2016): »Juden: Vampyre – Gemeinschaftsschädliche Dämonen«, in: Maria do Mar Castro Varela/Paul Mecheril (Hg.), Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld: transcript Verlag, S. 41-54. Bubmann, Peter (2020): »Binäre Schöpfungsordnung oder versöhnte Vielfalt? Theologische Perspektiven auf geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung«, in: Doris Feldmann/Annette Keilhauer/Renate Liebhold (Hg.), Zuordnungen in Bewegung: Geschlecht und sexuelle Orientierung quer durch die Disziplinen (= FAU Studien Gender, Differenz, Diversität, Band 1), Erlangen: FAU University Press, S. 63-81. Dirim, Inci et al. (2016): »Nichts als Ideologie? Eine Replik auf die Abwertung rassismuskritischer Arbeitsweisen«, in: Maria do Mar Castro Varela/Paul Mecheril (Hg.), Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, Bielefeld: transcript Verlag, S. 85-96. Evangelische Kirche in Deutschland [EKD] (Hg.) (1996): Mit Spannungen leben. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Thema »Homosexualität und Kirche«, Hannover.

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Evangelische Kirche in Deutschland [EKD] (Hg.) (2013): Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau [EKHN] (3 2019): Zum Bilde Gottes geschaffen. Transsexualität in der Kirche. Darmstadt. Evangelischer Oberkirchenrat [EOK] (Hg.) (2017): Protokoll der 15. Landessynode, 34. Sitzung, vom 28. Oktober 2017, Stuttgart. Evangelischer Oberkirchenrat [EOK] (Hg.) (2018): Protokoll der 15. Landessynode, 45. Sitzung vom 28. November 2018, Stuttgart. Evangelischer Oberkirchenrat [EOK] (Hg.) (2019): Handreichung. Gottesdienste anlässlich der Eheschließung gleichgeschlechtlicher Paare…, Stuttgart. Evangelischer Oberkirchenrat [EOK] (Hg.) (2020): Gottesdienstbuch für die evangelische Kirche in Württemberg. Zweiter Teil: Sakramente und Amtshandlungen. Teilband: Die kirchliche Trauung, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Evangelischer Pressedienst (2018): »›Trauung für alle‹ in oldenburgischer evangelischer Kirche«, in: Kirche+Leben Netz. Das katholische Online-Magazin vom 22.11.2018, https://www.kirche-und-leben.de/artikel/trauung-fuer-alle-in-old enburgischer-evangelischer-kirche/. Evangelisches Medienhaus GmbH im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats (Hg.) (2000): Gesichtspunkte im Blick auf die Situation homosexueller kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Stuttgart. Evangelisches Medienhaus GmbH (Hg.) (2018): Bericht aus der Synode. Beraten und beschlossen. Tagung der 15. Evangelischen Landessynode vom 8. bis 10. März 2018. Stuttgart. Evangelisches Medienhaus GmbH (Hg.) (2019): Bericht aus der Synode. Beraten & beschlossen. Tagung der 15. Evangelischen Landessynode vom 21. bis 23. März 2019, Stuttgart. Foucault, Michel (2008): Der Wille zum Wissen, in: Ders., Die Hauptwerke. Mit einem Nachwort von Axel Honneth und Martin Saar (= Suhrkamp Quarto), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 1025-1151. Hirschauer, Stefan (2014): »Un/Doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten«, in: Zeitschrift für Soziologie 43, S. 170-191. Leuenberger, Martin (2020): »Geschlechterrollen und Homosexualität im Alten Testament«, in: Evangelische Theologie 80, S. 206-229. Luther, Martin (1529): »Ein Traubüchlein, für die einfeltigen Pfarherrn«, in: Irene Dingel et al. (Hg.) im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland, Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition. Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht [= BSELK], S. 900-905. Reuter, Julia (2002): Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld: transcript Verlag.

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Schreil, Jacqueline (2019): »Das Kreuz mit dem kirchlichen Segen«, in: Schwäbisches Tagblatt vom 11.05.2019, https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-Kre uz-mit-dem-Segen-414376.html.

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3. Dimensionen der (Anti-)Diskriminierung

Konkurrenz vs. Solidarität: Überlegungen zu den Chancen und Herausforderungen jüdischmuslimischer Allianzen Ozan Zakariya Keskinkılıç/Armin Langer

In den letzten Jahren nahm die Zahl an Projekten zu, die Jüdinnen*Juden und Muslim*innen zusammenbringen, mit dem Ziel, Solidarität untereinander angesichts des zunehmenden Rechtsrucks zu stärken. Doch allzu oft wird die Kohäsion solcher Zusammenkünfte von Konkurrenzen überschattet, bei denen marginalisierte Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Im vorliegenden Beitrag diskutieren wir den Fall des Jüdischen Museums Berlin, das sich zu einem einzigartigen Ort der jüdisch-muslimischen Begegnung in Deutschland entwickelt hat, jedoch besonders nach 2017 zur Zielscheibe von Angriffen und Diffamierungen wurde. Das Jüdische Museum Berlin ist das größte jüdische Museum Europas. Es gibt Besucher*innen in der Dauerausstellung einen Überblick über 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte, darunter Höhe- und Tiefpunkte der Beziehungen zwischen Juden*Jüdinnen und Nichtjuden*Nichtjüdinnen im Gebiet, das wir heute Deutschland nennen. Zum Museum zählen außerdem weitere Einrichtungen, die dazu dienen, jüdische Kultur und deutsch-jüdische Geschichte zu vermitteln, unter anderem ein Archiv und eine Bibliothek. Im Jahr 2012 eröffnete das Museum die W. Michael Blumenthal Akademie und erweiterte damit seine inhaltlichen Schwerpunkte. Hinzu kamen zum einen das Jüdisch-Islamische Forum und zum anderen Migration und Diversität mit dem Themenschwerpunkt Erinnerungskultur(en) in der Migrationsgesellschaft. Hier wurden auch die Perspektiven anderer religiöser und ethnischer Minderheiten aufgezeigt und das Judentum in der deutschen Migrationsgesellschaft behandelt. Der Blick richtete sich nicht nur auf die Beziehung zwischen Mehrheitsbevölkerung und einzelnen Minderheiten, sondern es wurde vor allem der Austausch und die Vernetzung von Minderheiten untereinander gefördert. Die Akademieprogramme umfassen Lesungen, Konferenzen, Workshops und Podiumsdiskussionen. Doch das Museum ist immer wieder Thema von politischen Auseinandersetzungen, die im Juni 2019 dazu führten, dass der Judaist Peter Schäfer, der seit 2014 als Museumsdirektor tätig war, von seinem Amt zurücktrat. Der letzte Tropfen, der

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das Fass zum Überlaufen brachte, war ein Tweet der Pressestelle des Museums mit der Empfehlung eines Artikels, in dem 240 jüdische und israelische Wissenschaftler*innen den Beschluss des Bundestages kritisierten, der die BDS-Bewegung,1 die sich für ein Boykott israelischer Waren aus den besetzten palästinensischen Gebieten einsetzt, als antisemitisch eingestuft hat. »Das Maß ist voll«, twitterte @ZentralratJuden (2019). »Das Jüdische Museum Berlin scheint gänzlich außer Kontrolle geraten zu sein. Unter diesen Umständen muss man darüber nachdenken, ob die Bezeichnung ›jüdisch‹ noch angemessen ist.« Der Zentralrat brach daraufhin den Kontakt zum Museum ab. (Vgl. Schmitz 2019) Kritik erntete Schäfer auch unter Politiker*innen, unter anderem vom AfDBundesvorstand und MdEP Beatrix von Storch, die auch Gründungsmitglied der Interessenvertretung der israelischen Siedler*innen im Europaparlament, Friends of Judea and Samaria in the European Parliament, ist. (Vgl. Kalev 2017) Von Storch warf dem Museum »mangelnde Abgrenzung von der BDS-Bewegung« vor und warnte, dass die »Instrumentalisierung des Jüdischen Museums zur Verbreitung antiisraelischer Positionen« auch »dem Ansehen Deutschlands schweren Schaden zugefügt« habe. (von Storch 2019) Der israelische Botschafter Jeremy Issacharoff war über den Tweet ebenfalls empört und beschuldigte das Museum, die BDSBewegung zu unterstützen, (vgl. @JIssacharoff 2019) obwohl im vom Museum auf Twitter geteilten Artikel weder eine pro-, noch eine kontra-BDS Position bezogen wurde, sondern lediglich der pauschale Antisemitismusvorwurf gegenüber der BDS-Bewegung kritisiert wurde. Elio Adler (2019), Vorstandsvorsitzender des Vereins WerteInitiative – jüdisch-deutsche Positionen, unterstellte dem Museum, sich zu einem »anti-jüdischen Museum« etabliert zu haben. Bisher reihte sich das Jüdische Museum Berlin neben andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen, die dem Wettkampf der Erinnerungen und Diskriminierungserfahrungen entschieden entgegentraten, ein. Neben der Salaam-Schalom-Initiative, die seit ihrer Gründung 2013 Diskurse über jüdisch-muslimische Feindschaft herausfordert, gesellen sich nun auch weitere Projekte hinzu. Darunter finden sich etwa der neu gegründete jüdisch-muslimische Thinktank karov-qareeb der beiden Begabtenförderungswerke Avicenna und dem Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES), genauso wie der von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KiGA) in Kooperation mit der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft(EVZ) erstmals ausgerufene jüdisch-muslimische Solidaritätspreis. Bundesweit leisten Initiativen auch auf lokaler Ebene ihren Beitrag. Sie widersetzen sich Strategien des Teilens und Herrschens, in denen Jüdinnen*Juden nur solange im ›jüdisch-christlichen Abendland‹ geduldet werden, wie sie der mehrheitsdeutschen Deutungshoheit über Erinnerung, Migration und Religion nicht widersprechen,

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BDS steht für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen.

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schon gar nicht Muslim*innen unterstützen. Der umstrittene BDS-Tweet des Museums war nur die Eskalation einer Debatte, die seit Jahren lief und besonders Ende 2017, Anfang 2018 die Bühne beherrschte. In medialen und politischen Debatten stand nicht nur die Deutungshoheit um Israel-Palästina im Vordergrund. Darüber hinaus traten die Herausforderungen jüdisch-muslimischer Allianzen in Deutschland überhaupt umso stärker zum Vorschein.

Eine Ausstellung über Jerusalem und die Folgen Im Dezember 2017 lud das Jüdische Museum Berlin zu der Themenausstellung Welcome to Jerusalem ein. Die Ausstellung thematisierte die Geschichte der Stadt von der Zeit des Zweiten Tempels und seiner Eroberung durch Rom über die osmanische Herrschaft und die britische Mandatszeit bis zu israelisch-palästinensischen Konflikten der Gegenwart. Zu sehen waren wertvolle historische Objekte und Modelle, die erstmals in Berlin gezeigt wurden; ebenso mediale Installationen, die eigens für die Schau entwickelt wurden. Arbeiten von internationalen Künstler*innen wie Yael Bartana, Mona Hatoum, Harun Farocki, Nira Pereg oder Fazal Sheikh kommentierten historische Ereignisse und politische Positionen. Eine Filmspur mit Interviews aus der Echtzeit-Dokumentation 24h Jerusalem machte die Besucher*innen mit der bemerkenswerten Stadt bekannt. Die Ausstellung erntete schon kurz nach der Eröffnung Kritik. Die Veranstalter*innen bewarben das Projekt mit mehreren Plakaten, unter anderem mit solchen, die mit Silhouetten einer Menora und eines Minaretts illustriert waren. Insbesondere letzteres Symbol stieß auf Missbilligung. Der israelische Journalist Eldad Beck (2018) beklagte, dass das Museum mit dem Plakat »den jüdischen Charakter der Stadt herunterspielen« würde. Beck meinte, dass die Ausstellung »das arabisch-palästinensische Narrativ einer muslimischen Herrschaft über die Stadt« wiedergeben und »die zionistische Bewegung und Israel als Aggressoren« darstellen würde, die das Land der Palästinenser*innen gestohlen hätten. (Ebd.) Auch Daniel Pipes (2019), Gründer des Thinktanks Middle East Forum, beklagte sich in seinem Beitrag zur AfD-Veröffentlichung Was Juden zur AfD treibt darüber, dass »ein Jüdisches Museum Berlin […] in einer Ausstellung über Jerusalem beinahe ausschließlich die muslimische Geschichte und den muslimischen Charakter dieser Stadt betont.« Diese Kritikpunkte wurden sogar von der israelischen Politik aufgegriffen: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu forderte das Kanzleramt auf, keine öffentlichen Gelder mehr ins Jüdische Museum Berlin fließen zu lassen. Der israelische Premier warf dem Haus »antiisraelische Tätigkeiten« vor. (Landau 2018) Im Gegensatz zu diesen falschen Tatsachenbehauptungen wurden auch jüdische Symbole auf den Plakaten zur Ausstellung gezeigt. Außerdem beschäftigte

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sich die Ausstellung nicht nur mit dem ›arabisch-palästinensischen Narrativ‹. Die Ausstellung setzte einen Schwerpunkt darauf, so viele Facetten Jerusalems darzustellen, wie möglich: darunter sowohl diverse christliche, jüdische als auch muslimische Erzählungsweisen. Diese Vielfalt wurde auch mit der Darstellung unterschiedlicher jüdischer Gruppen gezeigt, die dem deutschen Publikum eher unbekannt sein dürften, wie zum Beispiel die israelische Frauenrechtsorganisation Frauen der Mauer, die sich vor allem für das Recht jüdischer Frauen einsetzt, an der westlichen Mauer in Jerusalem zu beten, den Tallit und Tfillin (Gebetsmantel und -riemen) zu tragen und gemeinsam aus der Tora zu lesen. Dies wird im traditionell-orthodoxen Judentum aufgrund der unterschiedlichen Geschlechterrollen untersagt; an der vom traditionell-orthodoxen Rabbinat kontrollierten westlichen Mauer ist das Tragen des Tallits und Tfillins für Frauen nicht erlaubt. Auch wurde dem antiken jüdischen Tempel und der nach dessen Zerstörung durch die Römer im Jahr 70 n.d.Z. einsetzenden Jerusalem-Sehnsucht im rabbinischen Judentum ein eigener Raum gewidmet. (Vgl. Rohde 2018) Es scheint, als hätte nicht die vermeintliche Abwesenheit jüdischer Stimmen und Perspektiven die Kritiker*innen irritiert, sondern die Anwesenheit nichtjüdischer. In der Gegenkampagne wurde die Legitimität der nichtjüdischen Erinnerungen, Erfahrungen und Präsenzen geleugnet. Der Diskurs, der jüdische Präsenzen in und Anrechte auf Jerusalem betont und nichtjüdische bestreitet, zeichnet die israelische Rechte seit Jahrzehnten aus. Obwohl Jüdinnen*Juden seit Jahrtausenden in Jerusalem leben und die jüdische Kontinuität in der Stadt nie unterbrochen wurde – selbst zu den Zeiten der jüdischen Zerstreuung nicht –, entwickelte sich Jerusalem im Laufe der Jahrhunderte auch zur Heimat von Nichtjüdinnen*Nichtjuden, vor allem von Palästinenser*innen. Rechts-zionistische Diskurse fokussieren ausschließlich auf jüdische Bezüge Jerusalems und verdecken – wenn nicht gar leugnen – nichtjüdische. Dadurch vermitteln sie den Eindruck, als ob Jerusalem, dessen Ostteil seit 1967 besetzt ist, ausschließlich jüdisch wäre und streiten so Ansprüche anderer ab. Ethnisierende Argumentationen finden sich auch im ›Groß-Palästina‹-Diskurs jener antizionistischen Akteur*innen, die die historische jüdische Präsenz im Gebiet, das heute Israel genannt wird, leugnen und ›die Juden‹ an sich als außenstehende, europäischweiße Kolonist*innen markieren. (Vgl. Yiftachel 1999; Rabinovich/Reinharz 2008: 432, 435) Jerusalem ist weder nur jüdisch noch nur palästinensisch: Jerusalem ist jüdisch und palästinensisch. Und noch viel mehr: Jerusalem wird von zahlreichen weiteren religiösen, politischen und historischen Dimensionen geprägt. Jerusalem inkludiert auch die dortige jahrhundertealte armenische Präsenz, genauso wie die Geschichte ihrer genozidalen Verfolgung im Osmanischen Reich und ihrer Zuflucht in armenisch-christlichen Gemeinden in Jerusalem (bis heute hat die israelische Regierung den Genozid an den Armenier*innen nicht offiziell anerkannt),

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die Erfahrung der misrachischen und äthiopischen Jüdinnen*Juden angesichts der sozio-ökonomischen und religiösen Dominanz aschkenasischer Jüdinnen*Juden; über queere Lebenskonzepte bis hin zu den Lebensrealitäten von Geflüchteten aus dem Sudan, Eritrea und anderen afrikanischen Ländern, ihren Kämpfen gegen antischwarzen Rassismus und für Anerkennung und Schutz. Eine konstruktive antirassistische, machtkritische und intersektionale Auseinandersetzung mit Jerusalem hilft, um Konkurrenzen und die Hierarchisierung von Unterdrückungserfahrungen zu vermeiden und so mehr Solidarität untereinander zu ermöglichen. Dass einem Museum, das sich seit Jahren ausdrücklich gegen Rassismen stellt – dem Antisemitismus an seiner Schnittstelle zum antimuslimischen Rassismus in besonderer Weise – unterschwellig mangelnde Solidarität und Antisemitismus im Zusammenhang mit Israel-Palästina nachgesagt wird, ist enttäuschend. Die ans Museum herangetragenen Unterstellungen lösen den Konflikt nicht, stattdessen machen sie aus Allianzpartner*innen im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus Gegner*innen.

Der 3D-Test: Dämonisierung, doppelte Standards und Delegitimierung ›Proisraelische‹ Aktivist*innen weisen oft auf den sogenannten 3D-Test hin, um zu definieren, wann Kritik an der israelischen Palästinapolitik antisemitisch ist und wann nicht. Dieser Test geht auf den israelischen Politiker Natan Sharansky zurück, der die drei Ds stellvertretend für »Dämonisierung«, »doppelte Standards« und »Delegitimierung« verwendete. (Vgl. Sharansky 2004) Laut Sharansky sind Aussagen, die Israel dämonisieren, doppelte Standards anlegen oder delegitimieren, antisemitisch. Seine Kriterien fanden auch in den Arbeitsdefinitionen für Antisemitismus außerhalb Israels Anwendung, zum Beispiel zwischen 2010 und 2017 im US-amerikanischen Außenministerium. (Vgl. U.S. Department of State 2010) Kritiker*innen bemängeln den Test dahingehend, dass er zu unkonkret sei und leicht missbraucht werden könne, um legitime Kritik an Israels Palästinapolitik als antisemitisch zu diskreditieren. Darüber hinaus verwundert es, warum ähnliche 3D-Tests im öffentlichen Diskurs keine Anwendung finden, um zu überprüfen, wann Aussagen antipalästinensisch-rassistisch motiviert sind. In den Vorwürfen gegen die Jerusalem-Ausstellung wurde offensichtlich, dass manche Akteur*innen die Darstellung von muslimischen und palästinensischen Lebensrealitäten für unzulässig halten, dass ihre Stimmen in der Geschichte, Gegenwart und Zukunft von und gleichberechtigte Anrechte auf Jerusalem für illegitim erklärt wurden. Inwiefern handelt es sich hier um die Manifestation antipalästinensischer Ressentiments? Vorwürfe von ›antiisraelischen Tätigkeiten‹ gab es auch nach der Eröffnung der Jerusalem-Ausstellung. Als Begleitprogramm zur Ausstellung wurde der Vor-

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trag Queer-Sein in Ostjerusalem des palästinensisch-US-amerikanischen Friedensforschers Saʼed Atshan für den Sommer 2018 im Museum angekündigt. Der israelische Botschafter, Jeremy Issacharoff, forderte erfolgreich die Ausladung Atshans mit der Begründung, er sei »sehr eng verquickt mit der BDS-Bewegung« und kein Mensch, »der Brücken der Verständigung mit Israel bauen möchte.« (Schmitz 2018) Der Harvard-Alumnus Atshan ist Professor für Friedens- und Konfliktforschung am renommierten Swarthmore College. Entgegen der Behauptung der israelischen Botschaft ist er kein BDS-Aktivist, doch seine öffentliche Kritik an der israelischen Besatzungspolitik war genug, um seine Stimme zu delegitimieren. Atshans Vortrag, in dem es nicht um die BDS-Bewegung ging, wurde abgesagt. Hinweise auf die geplante Veranstaltung wurden von Mitarbeiter*innen des Museums noch am gleichen Tag gelöscht. Atshan konnte schließlich in den Räumen des Institute for Cultural Inquiry (ICI) in Berlin vortragen. In seinem Vortrag am ICI wurde BDS ebenfalls in keiner Weise erwähnt, Atshan habe lediglich über queeres Leben in einer patriarchalisch-geprägten palästinensischen Gesellschaft geredet, die unter israelischer Besatzung lebt. Thorsten Schmitz kommentierte den Vorfall in der Süddeutschen Zeitung wie folgt: Hätte die Botschaft sich ein bisschen mehr Mühe gegeben, hätte sie in zahlreichen Vorträgen Atshans, die frei zugänglich im Internet zu finden sind, einen sehr ausgewogen argumentierenden palästinensischen Quäker kennenlernen können, der nicht zu Gewalt aufruft gegen Israel, sondern die Notwendigkeit gewaltlosen Protestes betont. (Schmitz 2018) Doch palästinensische Stimmen werden von Apologet*innen der israelischen Besatzungspolitik dämonisiert, nach doppeltem Standard behandelt und delegitimiert. Kritiker*innen an der israelischen Besatzungspolitik und Menschenrechtsverletzungen werden dadurch zum Schweigen gebracht. Wie die israelischen Historiker und Diplomaten Moshe Zimmerman und Shimon Stein beobachteten, werden seit den Staatsgründungen der Bundesrepublik und Israels 1948 und 1949 normale Staatsinteressen und Erinnerungspolitik miteinander vermischt. (Vgl. Zimmerman/Stein 2019) Die Gleichberechtigung der Juden*Jüdinnen und die Abwehr des Antisemitismus sind selbstverständlich eine wichtige Lehre aus der Vergangenheit. Gleichzeitig fragen sich Zimmermann und Stein, ob es nicht vom Ziel ablenke, wenn keine Differenzierung stattfindet, wenn sich der Kampf gegen Antisemitismus auf den BDS (praktisch stellvertretend für ›die Palästinenser‹) konzentriert und dabei der breitere Rahmen, der Kampf gegen Rechtsradikale und Rechtspopulisten, gegen Intoleranz und Rassismus außer Acht gelassen wird? Ist es nicht irreführend, wenn ein unscharf definierter »Israel-bezogener Antisemitismus« in den Vordergrund gerückt wird? Bedeutet diese Art von Kampagne gegen diesen

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Antisemitismus nicht, dass die deutsche Politik einlenkt bei dem dubiosen Versuch der israelischen Politik, sich eine Garantie gegen Kritik an ihrer Siedlungspolitik zu sichern? (Ebd.) Der Versuch, das Museum auf Linie zu bringen, erinnert Ofer Waldman, den Vorsitzenden des New Israel Funds in Deutschland »an die Praxis der NetanjahuRegierung, Kritiker in Israel mundtot zu machen. Das darf nicht nach Deutschland schwappen.« (Hagmann/Reinecke 2019) Waldmans Organisation unterstützt in Israel zivilgesellschaftliche Projekte, die sich für Menschenrechte einsetzen. Der Verein wird deshalb von rechten Medien und der Regierung in Israel seit Jahren als ›Verräter‹ diffamiert.

Antiintellektualismus und die Leugnung des antimuslimischen Rassismus Das Jüdische Museum Berlin mussten nach der Ausladung Atshans und dem Aufruhr über die Jerusalem-Ausstellung eine weitere Verleumdungskampagne erfahren. Im Oktober 2018 fand die internationale Living with Islamophobia Konferenz im Museum statt. Die zweitägige Veranstaltung wurde in Kooperation mit der Humboldt-Universität zu Berlin und der Alice Salomon Hochschule organisiert. Sie rückte die Erfahrungen von Muslim*innen und als solche wahrgenommenen Menschen mit antimuslimischem Rassismus in den Mittelpunkt. Die Betroffenenperspektive ist wichtig, um die Auswirkungen rassistischer Diskriminierungen im Alltag einordnen und Handlungsmöglichkeiten ausloten zu können. Doch stieß das Anliegen der Konferenz auch auf Ablehnung. Zu den prominenten Kritiker*innen zählte Alan Posener. »Was ist am Jüdischen Museum noch jüdisch?«, fragte der Welt-Journalist in seinem gleichnamigen Artikel. (Posener 2018) Er äußerte seine Verwunderung darüber, dass »in Zeiten des grassierenden Antisemitismus eine Konferenz über Islamophobie« abgehalten werde. (Ebd.) Zudem unterstellte er einigen Referent*innen der Tagung Antisemitismus und Israelhass. Dem österreichischen Politikwissenschaftler Farid Hafez sagte er Verbindungen zur Muslimbruderschaft nach. Diese Behauptung wurde auf der Website welt.de, wo Poseners Artikel erschien, als unwahr widerrufen. (Vgl. Axel Springer SE 2020) Nichtsdestotrotz verbreiten sich weiterhin Anschuldigungen gegen Wissenschaftler*innen zum antimuslimischen Rassismus, die mit Verschwörungstheorien operieren und eine Nähe zu Islamist*innen unterstellen. Anfang 2019 unterstellte der Politikwissenschaftler Clemens Heni in der Times of Israel Organisator*innen und Referent*innen der besagten Islamophobie-Konferenz »anti-Zionist politics or downplaying of not affirmation of Islamism.« (Heni 2019) Den Museumsdirektor Peter Schäfer bezichtigte er des Antisemitismus und sah ihn für eine ver-

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meintlich pro-arabische und anti-israelische Museumspolitik in Verantwortung. Den Islamismus zu ignorieren sei »core element of Schaefer’s ideology.« (Ebd.) Schäfer folge darin gar seiner damaligen Mitarbeiterin, der Historikerin Yasemin Shooman, die Heni als »Muslim co-worker« vorstellt. (Ebd.) So klingt es, als würde die zugeschriebene religiöse Herkunft für die oben genannten vermeintlichen Entwicklungen eine wesentliche Rolle spielen, als würde der Hinweis (›Muslim‹) die Anschuldigungen (Antisemitismus, Islamismus) quasi beweisen. Shoomans antiisraelische Haltung sei genauso offensichtlich, wie »the fantasy of Jewish-Muslim cooperation,« (ebd.) so Heni weiter. Er resümiert, dass es sich bei der Einrichtung um »an anti-Jewish Museum« mit einer »pro-Islam as well as post- or anti-Zionist agenda« handele. (Ebd.) Ähnliche Anschuldigungen rückte Thomas Thiel in der FAZ ins Zentrum eines persönlichen Angriffs auf Yasemin Shooman und das Forschungsfeld des antimuslimischen Rassismus. (Vgl. Thiel 2019) Komparative Studien im Vergleich zum Antisemitismus bewertete Thiel als Holocaustrelativierung. Das Jüdische Museum sei zu »einem Ort der BDS-Sympathisanten mit Querverbindung zum politischen Islam« geworden. (Ebd.) Das Zentrum für Antisemitismusforschung spreche Israel das Existenzrecht ab. Thiel vermutete einen staatlichen und wissenschaftlichen Konsens, der bis in einen ominösen Migrationsrat der Bundesregierung reiche. Dabei existiert kein ›Migrationsrat der Bundesregierung‹, sondern ein eingetragener Verein mit dem Namen Rat für Migration, der keine Gelder von der Bundesregierung erhält, wie Max Czollek in seiner Replik im Tagesspiegel klarstellte; in den Vorwürfen sieht er »die Grenze zur persönlichen Unterstellung mit verschwörerischen Anleihen überschritten« und schlussfolgert: »Kritiker wie Thomas Thiel mögen die Forschung zur Diskriminierung von Muslimen und Musliminnen nicht.« (Czollek 2019) Regelmäßig werden Kontaktschuld-Hypothesen ins Feld gerückt, um Wissenschaftler*innen im Feld zu delegitimieren und Studien zum antimuslimischen Rassismus mit dem Vorwurf der Propaganda und des Islamismus zu belegen. Dies geschieht ausgerechnet mit aus dem Antisemitismus bekannten verschwörungstheoretischen Argumenten. In anderen Worten finden antisemitische Topoi selbst in der Abwehr der Kritik am antimuslimischen Rassismus ein Ventil, und das unter vorgehaltener Solidarität mit Jüdinnen*Juden. Unter dem Schlagwort des ›politischen Islams‹ werden Stimmen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft, die sich kritisch zur Diskriminierung von Muslim*innen äußern, als politisch motiviert diskreditiert und unter Generalverdacht gestellt. Indem die Kritik des Antisemitismus gegen die des antimuslimischen Rassismus ausgespielt und Konkurrenzen bedient werden, werden Erfolge im jüdisch-muslimischen Dialog und Plattformen für Allianzen und Solidarität zum Zwecke einer Dämonisierung von Muslim*innen verdrängt und unsichtbar gemacht. Dass Max Czolleks Fürsprache für Yasemin Shooman auch ihn zur Angriffsfläche machte, beweist, wie fragil der

Konkurrenz vs. Solidarität

gesellschaftliche Konsens im Kampf gegen Antisemitismus und wie gefährdet jüdisches Leben in Deutschland noch immer ist. Angesichts erneuter Attacken von Seiten Clemens Henis und Michael Kreutz im Tagesspiegel, (vgl. Heni/Kreutz 2020) twittert @rubenmcloop (2020): »Ko-Autor Clemens Heni is 1 Typ, der es geschafft hat, dem jüdischen Studienwerk ELES sowie sämtlichen Juden*, die es gewagt haben, nicht tot zu sein, einen Antisemitismusvorwurf zu machen. Wehe der Kritik, die solche Helden braucht.«

Allianzen gegen die ›Teile und Herrsche‹-Politik Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus unterscheiden sich in Entstehung und Entwicklung. Weder sind Muslime ›die neuen Juden‹, noch ist Antisemitismus nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von der Bildfläche verschwunden. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Zusammenhänge zwischen beiden Phänomenen gäbe. Die aktuelle Verschwörungstheorie der ›Islamisierung‹ Deutschlands und Europas zeigt ganz eindrücklich, wie aus dem Antisemitismus bekannte Topoi der Unterwanderung und Übermacht ein Ventil in Islamdebatten finden können. (Vgl. Keskinkilic 2019) Auch der insbesondere unter Rechtspopulist*innen beliebte Vorwurf der Taqqiya, wonach Muslim*innen ihr wahren Absichten verbergen würden, erinnert an das antisemitische Motiv der Doppelzüngigkeit. Jüdinnen*Juden und Muslim*innen sehen sich historisch wie auch aktuell einer Reihe von Anschuldigungen ausgesetzt, die ihre Zugehörigkeit zu Deutschland in Frage stellen. Sie gelten als illoyal und fremd, ihre Religion wird als archaisch und primitiv stigmatisiert. Jüdische und muslimische Religionspraktiken, darunter die Beschneidung von Jungen und das Schächten von Tieren, werden mit dem Dominanzanspruch christlich-säkularer ›Leitkultur‹ problematisiert. (Langer 2019) Klassische antisemitische und rassistische Argumente finden sich in Debatten über ein Beschneidungsverbot oder über das Kopftuch. Die weit verbreitete Strategie, ›gute‹ Jüdinnen*Juden und Muslim*innen gegen ›böse‹ Jüdinnen*Juden und Muslim*innen auszuspielen, sie für nationalistische Projekte zu instrumentalisieren und marginalisierte Stimmen zu verdrängen, zeigt, wie wichtig es ist, Antisemitismus und antimuslimischen Rassismus zusammenzudenken und eine neue Form der Solidarität zu leben. (Vgl. Keskinkilic/Langer 2018) Dass Worte in Taten münden, haben der Anschlag in Halle auf die Synagoge und den türkischen Kiez-Imbiss, die Enthüllungen der rechtsextremen Gruppe S und ihrer Anschlagspläne auf Moscheen und der rassistische Terroranschlag in Hanau auf Shishabars im Februar 2020 wieder aufs Schärfste gezeigt. Auch anderswo, zum Beispiel in den USA, stehen gewaltvolle Übergriffe und Anschläge auf Schwarze, Muslim*innen, Jüdinnen*Juden und ihre Einrichtungen auf dem Tagesprogramm. Eine Allianz von Jüdinnen*Juden, Muslim*innen und Verbündeten ist wichtiger denn je.

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Orte wie das Jüdische Museum Berlin erfüllen eine wichtige Funktion, um die Erfahrungen verschiedener Gemeinschaften in Beziehung zu setzen und Solidarität zu stärken. Das jüdisch-muslimische Forum der Akademie des Jüdischen Museums kann eine Vorbildfunktion erfüllen und weitere Akteur*innen und Initiativen darin bestärken, kritische Räume für Begegnung zu schaffen, in denen marginalisierte Perspektiven Gehör finden und zu einem respektvollen Klima des Zusammenhalts beitragen.

Literatur Beck, Eldad (2018): »Berlin Jewish Museum sparks ire with poster ignoring Jerusalemʼs Jewish symbols«, in: Israel Hayom vom 09.01.2018, https://www. israelhayom.com/2018/01/09/berlin-jewish-museum-sparks-ire-with-posterignoring-jerusalems-jewish-symbols/. Brumlik, Micha (2018): »Ein Fall von Rufmord: Der Streit um das Jüdische Museum streit um falsche Behauptungen«, in: Der Tagesspiegel vom 07.01.2020, https://www.tagesspiegel.de/kultur/ein-fall-von-rufmord-der-str eit-ums-juedische-museum-kreist-um-falsche-behauptungen/25396382.html. Czollek, Max (2019): »Warum das Jüdische Museum ein offenes Haus bleiben muss«, in: Der Tagesspiegel vom 27.12.2019, https://www.tagesspiegel.de/ kultur/nach-peter-schaefers-abgang-warum-das-juedische-museum-einoffenes-haus-bleiben-muss/25367736.html. Axel Springer SE (2020): »Widerruf betreffend Farid Hafez«, in: Die Welt vom 12.02.2020, https://www.welt.de/debatte/kommentare/article205418799/Wide rruf-betreffend-Farid-Hafez.html. Hagmann, Jannis/Reinecke, Stefan (2019): »Streit, Macht, Kontrolle«, in: die taz vom 14.06.2019, https://taz.de/BDS-Tweet-des-Juedischen-Museums-Berlin/ !5600322/. Heni, Clemens/Kreutz, Michael (2020): »Peter Schäfer machte das Jüdische Museum zum Inkubator für Israel-Ressentiments«, in: Der Tagesspiegel vom 02.01.2020, https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-grenzen-der-toleranzpeter-schaefer-machte-das-juedische-museum-zum-inkubator-fuer-israelressentiments/25383316.html. Heni, Clemens (2019): »How German is the Jewish Museum in Berlin«, in: The Times of Israel vom 27.1.2019, https://blogs.timesofisrael.com/how-german-is-the-je wish-museum-berlin/. Kalev, Gol (2017): »The rise of Germanyʼs far-right: Its impact on Europa and Israel«, in: Jerusalem Post vom 25.09.2017, https://www.jpost.com/International/Therise-of-Germanys-far-right-AfD-leader-sits-down-with-the-Post-505898.

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»Das Transsexuellengesetz ist eine massive Menschenrechtsverletzung«: Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung Mari Günther im Gespräch mit Barbara Stauber Barbara Stauber1 (BS): Bei Diskriminierung kommt es, davon sind wir hier ja auch ausgegangen, nicht so sehr auf Absichten an, die jemand verfolgt oder nicht – darüber kann man sich endlos streiten: Hat jemand eine Handlung böse gemeint oder nicht? – sondern darauf, was diskriminierend wirkt. Diskriminierung ist also grundsätzlich von der Seite derer zu denken, die potenziell von Diskriminierung betroffen sind. Macht dieser Perspektivwechsel für die Themen von trans* Personen einen Sinn?   Mari Günther (MG): Ja. Diese Perspektive ist wichtig. Für mich ist die Situation von trans* Personen ein gutes Beispiel, um Diskriminierung zu verstehen – es ist nicht das einzige, aber es ist ein sehr gutes Beispiel, an dem sehr viele Diskriminierungsformen und Potenziale beschrieben werden können. Und für die Frage der Perspektive ist es wichtig, sich gleich mit einem Begriff auseinanderzusetzen: Vor einigen Jahren und teilweise auch heute sagte man noch, Menschen wären ›transphob‹ oder es gäbe so etwas wie ›Transphobie‹. Damit greift man auf einen Psychoanalytiker zurück, der vor vielen Jahrzehnten die Gefühlssensationen seiner Kollegen angesichts der Beschäftigung mit Homosexualität beschreiben wollte und so den Begriff der ›Homophobie‹ geprägt hat. Daraus wurde der Begriff der ›Transphobie‹ entlehnt. Wir verwenden stattdessen heute die Begriffe ›Transfeindlichkeit‹ oder ›Transnegativität‹, weil wir sagen, man muss dieses Phänomen immer aus der Perspektive derer beschreiben, die es erleben. Und trans* Personen erleben eben kein phobisches Verhalten, sondern sie erleben etwas Feindliches oder zumindest,

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Neue Veröffentlichung: Günther, Mari/Teren, Kirsten/Wolf, Gisela (2019): Psychotherapeutische Arbeit mit trans* Personen. Handbuch für die Gesundheitsversorgung, München: Reinhardt Verlag.

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wenn man es strukturell oder auch stimmungsmäßig betrachten will, etwas Negatives, Abwertendes, das sich teilweise auch nicht gut greifen lässt. Dies lässt sich mit dem Verständnis von Mikroaggression recht präzise fassen. Dieses Erleben ist eine entscheidende Ebene, um Diskriminierung zu erfassen.   BS: Dieser Perspektivenwechsel macht also durchaus Sinn – dennoch gibt es da auch eine Debatte…   MG: Ja, es gibt tatsächlich immer noch eine Debatte. Man streitet sich, weil man sagt, schon wieder ein neues Wort, muss denn das sein?! Und: die Begriffe ›Homophobie‹ und ›Transphobie‹ kennen ja nun die Leute. Das ist aber ein Wegwischen oder fast schon Unsichtbarmachen der Erlebenshorizonte, also dessen, was trans* Menschen tatsächlich erleben. Und die haben ja häufig sowieso schon den Hang dazu, Diskriminierung nicht so wahrnehmen zu wollen und zu sagen: »Ach, das war ja nicht so schlimm. Ach, na Mobbing war das jetzt nicht so.« Es gibt häufig ein Bemühen, das ein bisschen kleinzureden. Dies ist zwar eine sinnvolle Schutzfunktion, um trotz solcher Diskriminierungen handlungsfähig und erst mal stabil zu bleiben, aber das macht es natürlich auch schwer, eine Verletzung, die ich erfahren habe, anzuerkennen und damit zu einem guten Zeitpunkt bearbeitbar zu machen. Unbearbeitete Diskriminierungserfahrungen können über die Lebensspanne hinweg zu massiven psychischen Belastungen führen.   BS: Phobie benennt ja nur die Ängste von jeweils diskriminierenden Personen.   MG: Genau, damit wird deren Perspektive in den Mittelpunkt gestellt. Doch vor allen Dingen passt diese alberne Vorstellung von Phobie nicht. Weil ›normale‹ Phobiker*innen, also zum Beispiel Spinnenphobiker*innen, ja vor der Spinne, der angstauslösenden Situation, weglaufen. Aber leider ist es ja eher so, dass die sogenannten trans*- oder homophoben Menschen den trans* und homosexuellen Personen hinterherlaufen und sie misshandeln wollen und eben nicht vor ihnen weglaufen.   BS: Willst Du dazu noch etwas aus Deiner Beratungspraxis ergänzen?   MG: In der Praxis hat es auch etwas Konfrontatives, den Leuten zu sagen, ja, Du bist dort diskriminiert worden, ja, das war trans*feindlich. Weil es das einerseits der trans* Person schwerer macht zu sagen, ach, das war doch gar nicht so schlimm und sich mit dieser Einschätzung eben zu schützen. Aber andererseits gebe ich ihr ja auch die Möglichkeit in die Hand, das Erlebte ernst zu nehmen und auch wirklich als eine Verletzung kenntlich zu machen. Und das hat natürlich auch einen empowernden Charakter, deutlich zu sagen: Das war eine Handlung oder ein Verhalten oder ein Negieren, was auch immer, das tatsächlich gegen dich gerich-

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

tet war. Das darfst Du auch so benennen. Und das darfst Du auch schlecht finden. Nicht selten haben trans* Personen den Impuls zusagen: Naja, ich verstehe ja, dass die sich damit nicht auskennen oder dass das schwierig für die ist. Immer wenn ich zum Beispiel Jugendliche frage: »Was glaubst Du, wie lange deine Eltern noch Zeit haben sollten, bis sie dein richtiges Pronomen und deinen richtigen Namen können?« Dann geben sie denen locker mal zehn Jahre Zeit. Und da denke ich: »Wow, Du hast aber ein großes Herz!«, und: »Nein, das sollte aber eigentlich in zehn Wochen erledigt sein!« Daran wird deutlich, dass trans* Personen eher glauben, sie müssten mehr Verständnis für die Umwelt haben als umgekehrt. Das ist zwar sehr freundlich, aber nicht immer gesund.   BS: Jetzt hast Du ja im Vortrag auch eine ganze Reihe von Diskriminierungstatbeständen genannt, die gar nicht so sehr mit Praktiken von einzelnen Personen zusammenhängen, sondern tief eingelassen sind in die rechtlichen und medizinischen Strukturen. Das ist ja jetzt auch nochmal eine wichtige Ebene, eine Person darin zu stärken, dass sie diese auch kritisieren sollte.   MG: Also, im Grunde versuche ich mit den trans* Personen in der Beratung ihre Perspektive und ihren Blickwinkel einzunehmen. So dass wir uns gemeinsam anschauen, inwiefern hat denn zum Beispiel das deutsche Rechtssystem oder das deutsche Gesundheitswesen bisher versucht, Trans*geschlechtlichkeit zu verstehen? Aus dieser Perspektive kann man beschreiben, dass an diesen Stellen noch wenig verstanden wurde. Also, dass die Leistung, trans*geschlechtliches Leben zu akzeptieren, anzuerkennen, zu würdigen noch lange nicht ausreichend ist. Diese Perspektive macht es einfacher, deutlich zu machen, wo tatsächlich die Fehler im System liegen. Wenn ich mir die rechtliche, die medizinrechtliche, die leistungsrechtliche Situation anschaue, ist es tatsächlich ein eng verwobener Teppich von Diskriminierung, Abwertung, Unsichtbarmachung, der schwer zu durchdringen ist. Es entsteht das Bild, dass die Gesellschaft trans*geschlechtliches Leben einfach noch immer nicht haben, nicht wahrhaben will. Diese Trans*negativität kommt jetzt gerade ein klein wenig in Bewegung, zumindest der Aspekt der Unsichtbarmachung, wenn aktuell Firmen und Institutionen gefordert sind, sich darum zu kümmern, dass es drei positive Geschlechtseinträge gibt. Dies ist ein kleines Signal, das Konstrukt der dichotomen Zweigeschlechtlichkeit zu hinterfragen. Sichtbar wird dieser Aspekt bei Stellenausschreibungen, in denen zum Beispiel steht: »Elektriker (m/w/d).« Ein Dilemma entsteht aber dann, wenn trans* Personen beim Lesen solcher Ausschreibungen hoffen, dass die Firma, die hier ausgeschrieben hat, schon zum Thema geschlechtliche Vielfalt sensibilisiert ist. Was natürlich allermeist nicht stimmt. Das wird häufig nur umgesetzt, weil es das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) so empfiehlt. Aber eine wirkliche Auseinandersetzung findet dabei sehr selten statt. Wenn wir uns aus dieser Perspektive

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der Vermeidung zum Beispiel die aktuelle rechtliche Situation von trans* Personen anschauen, können wir feststellen, dass diese in vielen Punkten auf dem Stand der achtziger Jahre stehen geblieben ist. Sie ist immer noch getragen von einer ganz offen trans*feindlichen Haltung. Der Gesetzgeber weiß seit mindestens zehn Jahren, dass dieses Transsexuellengesetz (TSG) dringend überarbeitet gehört und tut es einfach nicht. Diese Verweigerung ist ein aktives Handeln – in dem Falle ein aktives Verhindern. Dieses Verhindern, dass die rechtliche Situation von trans* Personen in Deutschland den aktuellen europäischen und menschenrechtlichen Vorgaben angepasst wird, muss klar als ein feindlicher Akt gewertet werden. Es ist wichtig für trans* Personen zu verstehen, dass gegen sie gehandelt wird und dass es kein Versehen ist. Sie haben das Recht darauf wütend zu sein und festzustellen, ich werde hier verletzt und ich darf mich dagegen wehren. Es steht meinem Staat nicht zu, mich so massiv zu diskriminieren. Es ist wichtig, diese Position einnehmen zu können. Ich glaube, dass diese auf vielen Ebenen vorhandene Diskriminierung die Psyche, die Seele von trans* Person ganz schön belasten kann. Ich würde da fast von so etwas wie ›Verwitterung‹ sprechen. Ja, ein schleichender, kaum messbarer Prozess.   BS: Verbitterung?   MG: Nein, Verwitterung. Wie ein Stein, der langsam zerbröselt. Man sieht es nicht, er sieht eigentlich immer gleich aus. Aber wenn man genauer hinschaut oder über viele Jahre, merkt man, wie er porös wird. Wie er mürbe wird. Wie eine Seele Risse bekommt und wie die Abwehrkräfte schwinden. Und wie sie damit letzten Endes auch anfälliger werden kann für zum Beispiel psychische oder psychosomatische Erkrankungen. Ich glaube, dass viele trans* Personen sehr darunter leiden, an wie vielen Orten und wie permanent sie immer wieder diskriminiert werden, zurückgesetzt werden, unsichtbar gemacht werden. Das ist grauenvoll.   BS: Man könnte eigentlich sagen, das AGG und das TSG sind ein Widerspruch?   MG: Ja, natürlich. Das TSG ist eine massive Menschenrechtsverletzung. Das AGG möchte Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen verhindern, ist aber ein stumpfes Schwert. Es erwähnt die geschlechtliche Identität als ein eigenes Diskriminierungsmerkmal nicht. Man hat sich auf den Kunstbegriff der ›Sexuellen Identität‹ geeinigt. Und damit bleibt unscharf, ob damit auch die geschlechtliche Identität oder eigentlich doch eher die sexuelle Orientierung gemeint sei. Aber man könnte aufgrund des Begriffes ›Geschlecht‹ eine Diskriminierung von trans* Personen feststellen. Aber auch dies bleibt eine kipplige Angelegenheit. Zudem ist das AGG in vielen Lebensbereichen überhaupt nicht anwendbar und damit für viele Diskriminierungssituationen nicht relevant.

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

BS:  Was lässt sich denn dann überhaupt mit diesem stumpfen Schwert anfangen?   MG: Nicht viel. Es muss dringend überarbeitet werden. Derzeit ist es nur bei vertraglichen Dingen, wie Massengeschäften oder Bewerbungen, anwendbar. Wenn aber zum Beispiel eine trans* Person vorsätzlich bei einem Krankenhausaufenthalt in ein nicht gewünschtes Zimmer gelegt wird oder falsch angesprochen wird und damit zwangsweise immer wieder geoutet wird, greift kein AGG. Auch in Schulen und bei kirchlichen Arbeitgebern gibt es keinen Diskriminierungsschutz.   BS: Was mache ich denn dann in so einem Fall?   MG: Ich sollte mich trotzdem an Gleichstellungsbeauftragte, Mobbingbeauftragte, den Betriebsrat, eine Antidiskriminierungsstelle, Vertrauenslehrer*innen wenden. Auch wenn es nur dazu führt, dass diese Personen erst einmal bemerken, dass sie auch für die Diskriminierungen von trans* Personen zuständig sind. Das ist noch nicht allen bewusst. Und im Zweifelsfall kann auch eine zivilgerichtliche Klage angestrengt werden, wegen Beleidigung oder Ähnlichem. Aber auch dies hätte vermutlich eher einen symbolischen Charakter. Schauen wir uns ein Beispiel an: Wie ist es, wenn eine katholische Kita sagt, dieses Kind hat einen Jungennamen und einen Jungenkörper, ist damit ein Junge und darf jetzt nicht mehr mit Mädchenkleidern in die Kita kommen, und die Eltern sich nicht daran halten? Dann wird mit der Kündigung des Betreuungs- oder Kitavertrags gedroht. An solch einer Stelle könnte man theoretisch mit dem AGG sagen, das ist unangemessen, dieser Vertrag kann nicht gekündigt werden und es würde ein Anspruch auf Entschädigung entstehen. Aber das ist einer der wirklich sehr seltenen Fälle. Häufig wird diese Ablehnung und Zurückweisung von trans* Personen eher ein bisschen unauffälliger platziert. Arbeitgeber wissen mittlerweile, wie sie Ablehnungen von Bewerbungen formulieren, ohne dass der eigentliche Ablehnungsgrund sichtbar wird. Bei einer Überarbeitung des AGG wären die Beweislastumkehr, die explizite Nennung des Diskriminierungsmerkmals ›Geschlechtliche Identität‹ und die Ausweitung der Wirksamkeit von großer Bedeutung.   BS: Jetzt hast Du in deinem Vortrag auch eine Reihe von Prozedere beschrieben, bis die Behandlungsbedürftigkeit bei Trans*geschlechtlichkeit überhaupt anerkannt ist. Dieser ganze Durchgang ist ja ein einziger Diskriminierungsprozess. Da steckt die Diskriminierung schon in den Abläufen des medizinischen Systems, in den Praktiken des Medizinischen Dienstes. Habe ich denn da irgendeine Handhabe?   MG: Wichtig ist für die Person, die ich berate, dieses bizarre System so zu beschreiben, dass die Person ungefähr verstehen kann, was da mit ihr passiert. Dabei ist

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es wichtig, immer eine Distanz dazu zu behalten und ihr dabei deutlich zu machen, das System ist verrückt und nicht Du. Das ist ein großer Balanceakt, der erfordert auch ein gewisses Abstraktionsvermögen und eine dicke Haut. Manche trans* Personen haben Schwierigkeiten zu verstehen, dass nicht sie die Geisterfahrer sind, sondern eben die andere Seite. Der entscheidende Aspekt dabei ist die immer noch vorhandene Psychopathologisierung von trans*geschlechtlichen Lebensweisen. Trans*sein wird nicht selten noch immer als Geisteskrankheit betrachtet. Noch immer basieren viele Regelungen und Vorschriften auf der Annahme, dass trans* Personen psychisch krank seien, dass sie für sich keine Entscheidungen treffen können, dass sie keine Verantwortung übernehmen können und im Grunde eine Gefahr für sich und andere darstellen. Nach Möglichkeit sollte eine ›Heilung‹, eine Versöhnung mit dem Zuweisungsgeschlecht stattfinden. Das würden viele Menschen, auch Fachleute wahrscheinlich gar nicht mehr so aussprechen, aber dieser Grundtenor prägt immer noch den Umgang mit trans* Personen. Deutlich ist er in der sogenannten Diagnostik: Es wird immer noch behauptet, man könne von außen eine Trans*geschlechtlichkeit diagnostizieren und wendet dazu die veraltete und massiv diskriminierende Diagnose der ›Transsexualität‹, des ›Transsexualismus‹ an. In deren Logik heißt es: Wer transsexuell sei, müsse den Wunsch formulieren, sich operieren lassen zu wollen. Diese veraltete Annahme führt weiter zu einer sogenannten Begutachtungsrichtlinie des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), in der steht, dass jede trans* Person, die einen körperlichen Angleichungsschritt haben möchte und eben eine Kostenübernahme dafür, sich einer Psychotherapie unterziehen muss. In dieser Psychotherapie solle erst mal versucht werden, das Leiden unter dem als falsch erlebten Körper zu lindern. Und erst wenn eine Linderung auf diesem Wege nicht zu erreichen ist, dürfen als Ultima Ratio körperliche geschlechtsangleichende Schritte indiziert werden. Das heißt: Es ist eigentlich eine inquisitorische Situation, in der man erst noch mal versuchen will, ob man die für verrückt gehaltenen trans* Personen nicht doch irgendwie heilen kann. Und mit dieser Grundhaltung sind trans* Personen häufig noch im gesamten psychomedizinischen Versorgungssystem konfrontiert. Es handelt sich um Konversionsversuche, welche ethisch absolut nicht vertretbar sind und möglicherweise auch bald (straf-)rechtlich relevant werden können. Ein Beispiel für die Psychopathologisierung: Eine junge Psychiaterin in einem Berliner Krankenhaus sagt: »Ja, da kam eine trans* Frau auf Station. Und die hatte diese Verhütungspillen benutzt, um für sich eine nicht ärztlich begleitete Hormontherapie zu machen. Die habe ich erst mal weggenommen und ihr gesagt, also wenn sie die weiternimmt, dann wird sie hier psychiatrisch gar nicht behandelt. Und dann ist die aber plötzlich wieder gegangen und hat sich gar nicht behandeln lassen.« In diesem Beispiel kann man vielleicht noch unterstellen, die Ärztin habe versucht, im Rahmen ihres Verständnisses eine nicht ärztlich begleitete Behandlung zu unterbinden, weil sie diese für gefährlich hielt. Aber faktisch hat

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

sie der trans* Person ganz massiv geschadet. Sie hat nicht abgewogen, was an der Stelle wichtig gewesen wäre – nämlich eine Compliance für eine psychiatrische Behandlung. Mit der Frage, ob eine erwachsene Person sich mit Medikamenten selbst behandelt und ob das gesundheitlich angemessen ist oder nicht, hat das erst mal gar nichts zu tun. Da wäre eine Aufklärung über die aktuellen Risiken angemessen gewesen und die Empfehlung, die Hormontherapie unter ärztlicher Begleitung fortzuführen. Hier wird deutlich, wie selbstverständlich trans* Personen entmündigt werden. Bei einer cis Frau, welche die gleichen Medikamente zur Verhütung nimmt, hätte das niemand thematisiert. Trans* Personen wird hingegen eine psychiatrische Behandlung unmöglich gemacht.   BS: Also Sonderbehandlung auf ganzer Länge?   MG: Ja, das lässt sich auch beim Procedere ablesen, welches das Transsexuellengesetz verlangt. Trans* Personen müssen sich für die Änderung ihres Vornamens und Personenstandes noch immer zweifach psychiatrisch oder psychologisch begutachten lassen, diese Gutachten auch noch selber bezahlen und sich einem Gerichtsverfahren aussetzen. Es wird eine unglaubliche Hürde aufgebaut, um einen Namen oder einen Geschlechtseintrag zu ändern. Hier setzt sich diese oben erwähnte Übergriffigkeit und ein massiver Eingriff in die Persönlichkeitsrechte fort.   BS: Gleichzeitig gibt es ja eine enorme Angewiesenheit auf genau diese Prozeduren. Denn das sind die Gatekeeper.   MG: Ja, das ist das Perfide dabei.   BS: Das habe ich von dir jetzt auch so im Ohr, dass Du in deiner Beratung schon auch sagst: Leute, haltet das auf Distanz. Also nicht ihr seid hier schräg drauf, sondern das System, das von euch ganz merkwürdige Dinge verlangt. Und gleichzeitig seid ihr angewiesen auf diese Personen.   MG: Das ist tatsächlich eine paradoxe Situation. Trans* Personen müssen psychologisches oder psychiatrisches Personal aufsuchen, welches ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Schaden zufügen wird. Für eine Schadensminimierung muss ich trans* Personen einladen, an bestimmten Stellen zu schauspielern, manches zu verschweigen und manchmal auch zu lügen, um ihre Ziele zu erreichen und sich zu schützen. Für manche ist das gut verstehbar, sie können sich darauf einlassen und können für sich auch in einer relativ sicheren Haltung bleiben. Aber häufig fällt es trans* Personen total schwer, das zu verstehen und cool zu bleiben oder das mit ihrem Anspruch von Wahrhaftigkeit zu vereinbaren. Und es bedeutet häufig für die psychotherapeutischen Kolleg*innen, die im guten Kontakt mit ihren

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trans* Klient*innen sind, dass sie nach jedem Begutachtungsgespräch die Person wieder stabilisieren müssen. Es kann helfen, trans* Klient*innen mit Rollenspielen auf so ein Gespräch vorzubereiten und darauf, sich unangemessenen Fragen verweigern zu können, ohne ihr Ziel dabei zu gefährden. Aber auch wenn das vorher gut vorbereitet wurde und die trans* Person sich sicher ist und sagt, ja das kriege ich schon hin, hört man hinterher dann doch häufig, dass es ihnen arg zugesetzt hat. Es bleibt sehr schmerzhaft und verletzend.   BS: Das bringt eine*n ja auch als Berater*in in ein Dilemma. Der Ansatz ist ja eher empowernd, und doch werden Leute dadurch, was sie da erleben müssen und worauf sie sich einlassen müssen, geschwächt.   MG: Für die Beratungen heißt das, recht schnell erfassen zu müssen, wie belastbar eine Person ist. Also gemeinsam zu überlegen, welche Schritte kannst Du dir gerade zumuten. Kann diese Person zum Beispiel gerade diesen Aufwand betreiben, um das Kostenerstattungsverfahren für Psychotherapie zu bewältigen? Oder muss ein*e Versorger*in gefunden werden, der*die einen Kassensitz hat? Dazu muss eine Beratung eigentlich immer auch etwas subversiv sein. Also sie muss immer auch auf dem Schirm haben, an welchen Stellen unsinnige Vorschriften umgangen werden können. Wo kann man Diskriminierung vermeiden? Wo kann man mit kleinen Tricks das System ein bisschen unterlaufen, um da hinzukommen, wo man hinmöchte? Für manche trans* Personen, die sich lieber an die Vorschriften halten, ist es ganz schön schwierig, dies mit ihren Moralvorstellungen zu vereinbaren. Oder es geht um die Frage der sogenannten Diagnostik. Manche trans* Personen würden sich wünschen, dass ihnen ein Arzt sagt, ob sie trans* sind, um sich etwas sicherer zu fühlen und sich vielleicht auch besser selbst akzeptieren zu können. Da ist es natürlich wichtig zu erklären, dass der Arzt, die Ärztin das gar nicht wissen kann und dass ich es für mich selber rausbekommen muss. Das ist manchmal für beide Seiten eine ganz schöne Herausforderung.   BS: Wie muss denn eine diskriminierungskritische Beratungspraxis mit Blick auf Lebenswelten, Familien, Umfelder ansetzen? Wie kommst Du da überhaupt in Kontakt?   MG: Im Blick auf das Umfeld geht es häufig um Coming-out Fragen. Also soll ich mich in meiner Lehrstelle oder Arbeitsstelle outen und wann? Wie offenbare ich mich in meiner Familie? Gegenüber den Kindern? Welche Folgen muss ich abschätzen? Bei solch einer Coming-out Planung muss ich viele Fakten erfragen. Also zum Beispiel müssen wir schauen, gibt es da gerade eine Probezeit? Gibt es in dieser Einrichtung einen Betriebsrat oder eine Mitarbeiter*innenvertretung? Also Strukturen, die man nutzen kann, um sich ein wenig vor Diskriminierung zu schützen?

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

Oder, wann sind Prüfungszeiten, in denen weitere Belastungsmomente hinzukommen? Es ist hilfreich, viele Informationen zu erfragen, um gut zu planen und zu schauen, ob es jetzt sinnvoll ist sich zu outen, wo genau oder noch nicht. Und manchmal dürfen trans* Personen ein bisschen daran erinnert werden, dass sie ja gar nicht verpflichtet sind, ihr Geschlecht zu erklären, sich explizit zu outen. Das machen ja alle anderen auch nicht. Aber manche Menschen haben so einen Impetus, der natürlich auch ganz erfreulich ist, dass sie sozusagen der Welt endlich sagen wollen, wer sie sind. Das ist zwar ganz schön und erfrischend, aber manchmal können trans* Personen auch davor geschützt werden, ungebremst zum Beispiel ihrem Arbeitgeber das mitzuteilen, ohne vorher zu prüfen, welche Konsequenzen das haben könnte. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das Arbeitsverhältnis nicht so ohne Weiteres weitergeht, ist immer noch relativ hoch. Also vielleicht ist es in manchen Bereichen schon etwas entspannter, vielleicht eher da, wo öffentliche Arbeitgeber*innen im Spiel sind, da könnte es ein bisschen einfacher sein, weil die Verantwortlichen Angst haben, etwas falsch zu machen und weil es vorgebildete Gleichstellungsbeauftragte gibt. Bei kleineren Unternehmen oder konservativen Arbeitgeber*innen kann das natürlich total nach hinten losgehen. Man kann nicht davon ausgehen, dass ein Unterstützungssystem, ein Diskriminierungsschutz bei trans* Personen auch gleichermaßen funktionieren würde, oder sich eine Gleichstellungsbeauftragte des Themas überhaupt annehmen würde. Ob sie das gleichermaßen ernst nehmen würde, wie die Diskriminierung einer cis Frau zum Beispiel, wissen wir nicht. Das muss eigentlich vorher immer geprüft werden.   BS: Wie prüft man so etwas?   MG: Wenn es jetzt um den Betriebsrat einer großen Firma gehen soll, dann schaue ich, wer ist da die gleichstellungsbeauftragte Person und rufe die an. Das kann letzten Endes die trans* Person anonym auch selbst machen und fragen, wie ist denn hier in diesem Betrieb der Umgang mit Trans*geschlechtlichkeit? Wie funktioniert das hier? Kennen sie sich damit aus? Dann ist es im Prinzip der Lackmustest: Kommt eine kurze Antwort, dann gibt es eher Kompetenz. Kommt eine lange verschwurbelte Antwort, dann muss man damit rechnen, dass es keinen Plan gibt. Aber es gibt mittlerweile Firmen, die sagen, ja klar, wir wissen, wie das läuft. Sie sind ja nicht die erste Person. Bei anderen Beratungsanliegen, bei denen ich an andere Akteur*innen verweisen muss, also wenn es darum geht, ein ärztliches Attest zu besorgen, muss ich vorher wissen, ob dieser Arzt mit trans* Personen respektvoll umgeht oder nicht. Das kann ich nicht voraussetzen. Also eigentlich braucht es immer ein mir persönlich bekanntes Verweisnetzwerk, das ich nutzen kann. Dazu gehören trans*freundliche Zahnärzt*innen und Familientherapeut*innen, auch ein Schuhmacher. Es besteht immer die Gefahr, dass trans* Personen erneut diskriminiert werden und es

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kommt hier hinzu, dass die trans* Person bei einer persönlichen Empfehlung keine Diskriminierung erwartet und dann vielleicht besonders verletzbar ist, weil sie sich darauf verlassen hat, dass es eine gute richtige Empfehlung ist. Da sollte man nicht leichtfertig sein.   BS: Und die Familien habt ihr ja auch im Blick, Du hast ja auch einen Leitfaden für Angehörige formuliert.2   MG: Ja – hier geht es um die Situation von trans* Personen, die Elternteile sind und sich outen. Häufig stellt sich noch immer die Frage, wie geht es mit der Familie weiter? Mit der Partnerin oder dem Partner? Den gemeinsamen Kindern? Und dann kommen manchmal auch Kinderärzt*innen, das Jugendamt, ein Familiengericht und ähnliche Institutionen mit ins Spiel. Da können hoch pathologische Sichtweisen und Meinungen Einfluss gewinnen. Ein Familiengericht kann davon ausgehen, dass der Umgang der drei- und fünfjährigen Kinder mit ihrem transweiblichen Elternteil, also dem biologischen Vater, nicht zu verantworten oder nicht zu vertreten sei. Nach dem Motto: Dieser Kontakt würde deren psychosexuelle Entwicklung durcheinanderbringen. So etwas passiert in Berlin vielleicht etwas seltener, es muss aber durchaus mit solchen Haltungen gerechnet werden. Man kann absolut nicht davon ausgehen, dass diese Institutionen informiert oder gar fortgebildet sind. Bei Jugendämtern wird es deutlich, wenn wir mit trans* Jugendlichen zu tun haben, die zum Beispiel eine Hormontherapie machen wollen und beide Eltern nicht zustimmen. Da gibt es zwar formal den Weg, dass diese sich an das Jugendamt wenden können und das Jugendamt mithilfe des Familiengerichts eine Ergänzungspflegschaft einrichtet, um damit die Entscheidung für die Gesundheitssorge der Pflegschaftsperson zu übertragen, damit diese gemeinsam mit der*dem trans* Jugendlichen für eine Hormontherapie entscheiden kann. Aber es kann ohne Weiteres passieren, dass eben das involvierte Jungendamt und auch das Familiengericht die Situation nicht verstehen, keine fähigen Expert*innen einbeziehen und die*den Jugendlichen nicht unterstützen. Solch eine Entwicklung muss mit der*dem Jugendlichen vorher gut besprochen werden. Es kann helfen, geeignete Verfahrenspfleger*innen mit im Boot zu haben, die in diesen Verfahren jeweils die Jugendlichen auch mit vertreten und versuchen, etwas in deren Sinne zu erreichen. Aber es bleibt immer noch eine heikle Angelegenheit. Es bleibt vage, ob dieses Hilfesystem, das ja eigentlich für alle jungen Menschen und ihre Anliegen da sein sollte, auch in diesem Fall in einem guten Sinne wirksam ist. Es ist nicht lange her, dass ich ein Telefonat führte mit einer Mutter, die berichtete, 2

Siehe Günther, Mari (2016): pro familia Hintergund Psychosoziale Beratung von inter* und trans* Personen und ihren Angehörigen. Ein Leitfaden, Frankfurt: pro familia Bundesverband.

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

das Jugendamt unterstelle ihr ein Münchhausen-by-proxy-Syndrom, weil sie die trans*geschlechtliche Entwicklung ihres Kindes respektiere. Das Amt sei der Überzeugung, sie würde ihr zehnjähriges Kind zu einer Trans*identität nötigen. Und deshalb solle nun das Kind aus der Familie herausgenommen werden. Die Eltern müssen sich jetzt gegen das Jugendamt und das eingeschaltete Familiengericht zur Wehr setzen. Es gibt einige kleine Verbesserungen. Es gibt ein bisschen mehr gesellschaftliche Akzeptanz und es gibt mittlerweile eine aktive Community, die ihre Geschicke in die Hand genommen hat. Aber aus der Perspektive der trans* Person ist es schon noch so, dass sie, wenn sie einige Diskriminierungserfahrungen gemacht hat, der Umwelt skeptischer und misstrauischer gegenübersteht. Und damit wird sozialer Kontakt, die Nutzung sozialer Ressourcen – ein Freundeskreis, gut vernetzt zu sein, verhindert oder erschwert. Oder einfach eine Beziehung zu finden. Ja, all diese Ressourcen sind häufig eingeschränkt. Und manchmal begeben sich trans* Personen in Kontakte oder Beziehungen hinein und merken zu spät, dass nicht sie als attraktive und interessante Menschen gemeint waren, sondern dass sie eigentlich eher exotisiert wurden, dass es für das Gegenüber darum ging, irgendwie etwas Bizarres zu erleben. Das kann sehr verletzen und zu erneutem Rückzug führen. Auch im Umgang mit dem Gesundheitssystem kann eine trans* Person skeptisch und zurückhaltend bleiben. Dies kann dazu führen, dass notwendige Behandlungen oder Leistungen zu spät in Anspruch genommen werden. Damit erhöht sich das Risiko von Chronifizierungen und schwereren Krankheitsverläufen. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung kann lebenslang eingeschränkt bleiben.   BS: Das schreibt sich in die Biografien ein und trägt sich auch fort. Und die Frage ist ja schon, was macht ihr dann als Beratungsinstanz? Wo setzt ihr da an? Was heißt für euch diskriminierungssensible Arbeit?   MG: Es geht hier natürlich um eine Haltungsfrage: Welche Haltung nehme ich von vorneherein gegenüber diesem Personenkreis und überhaupt gegenüber marginalisierten Gruppen ein? Für die Arbeit mit trans* Personen vergegenwärtige ich mir, dass es das Thema Trans*geschlechtlichkeit schon viel länger gibt, als Psychologie oder das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) sie entdeckt haben. Daher kann ich mir aus Trans*perspektive die bisherigen psychologischen oder mehrheitsgesellschaftlichen Verstehensversuche von Trans*geschlechtlichkeit anschauen und diese mehr oder weniger ausgereift finden. Zentrales Kriterium bleibt die Frage des Verstandenwerdens. Wenn trans* Personen von sich erzählen, sitze ich sinnbildlich neben ihnen und kann ihrem Blick auf die Welt folgen. Wenn ich ihnen gegenüber skeptisch bliebe und zum Beispiel irgendein diskriminierendes Verhalten anderer Leute rechtfertigen oder relativieren wollte, würde ich zu weiterer Marginalisierung und Ausgrenzung beitragen. Es kann schon sein, dass manchmal Bera-

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ter*innen nicht gerne in Kontakt mit Menschen gehen, die Diskriminierung erfahren haben, weil sie selbst dem Unglück nicht zu nahekommen und sich emotional auf Distanz halten wollen. Solch eine Haltung bliebe natürlich nicht unbemerkt und würde Rückzugstendenzen bei der trans* Person verstärken. Solche Dynamiken beeinflussen die Qualität des Miteinanders im Beratungsgespräch. Die explizite Beschäftigung mit Diskriminierungserfahrungen muss für jedes Gespräch neu justiert werden. Also es gibt Beratungsgespräche, in denen höre ich kleine Diskriminierungen, also Andeutungen von Diskriminierungen und frage aber gar nicht hin, sondern lasse das in gewissem Maß durchlaufen, weil ich glaube, dass ich die Person in dem Moment überfordern könnte. Sie hat ein informatives Anliegen, möchte wissen, wie irgendetwas funktioniert. In dem Moment wäre es nicht angemessen, sie darauf zu stoßen, wie schlecht sie behandelt wurde. Damit mag sie sich vermutlich gerade gar nicht auseinandersetzen. In anderen Beratungssequenzen kann das sehr wohl wichtig sein, da hinzuschauen und zu sagen, auch im Sinne von Bestärken, Empowerment: »Da wurdest Du schlecht behandelt und das darfst Du auch so benennen. Und Du darfst dich auch wehren. Du musst dich nicht wundern oder schämen, dass Du wütend bist und dass Du Bauchschmerzen bekommen hast. Oder dass Du dich depressiv erlebst.« Oder: »Das lag nicht daran, dass Du psychisch instabil bist, oder krank oder was auch immer. Sondern in erster Linie wurdest Du schlecht behandelt.« Solche Interventionen gehören natürlich in Beratungssequenzen, in denen Zeit dafür ist und es wenigstens einen kleinen Auftrag dafür gibt. Nicht selten gibt es in Trans*beratungen widerstrebende Anliegen, welche nicht gut zueinander passen. Auf der einen Seite wollen die Ratsuchenden etwas vom Gesundheitssystem oder von einem Gericht. Sie müssen sich dem System irgendwie anpassen, kompatibel sein, in gewissem Maße dessen Sprache sprechen. Und dabei sollten sie stabil und handlungsfähig sein, um manchen Widersinn zu überstehen. Daher ist es manchmal angemessen, auf diese Ebene zu gehen, ohne vorherige Erfahrungen von Diskriminierungen und Verletzungen anzusprechen, weil das destabilisieren könnte. Solche Themen scheinen manchmal besser in der Zeit nach den wichtigsten Transitionsschritten aufgehoben zu sein. Es können nicht alle Anliegen gleichermaßen gut versorgt werden. Eine kleine wichtige Geste kann es sein, zu signalisieren: »Ich weiß, dass es dir scheiße geht, aber wir müssen jetzt dafür sorgen, dass Du hier gut durchkommst und ich bin mit meinem Mitgefühl bei dir.«   BS: Da wird es ein bisschen schwierig mit diesem Begriff ›Empowerment‹. Eine gewisse Stabilität vorauszusetzen, weil wenn jemand gerade super verletzt ist, Empowerment gar nicht geht. Ist das auch noch mal so eine kleine Schizophrenie in der Beratungspraxis?   MG: Das ist gegenläufig.

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

BS: Oder Gegenläufigkeit, genau. Aber kannst Du mit dem Begriff ›Empowerment‹ für deine Beratungspraxis etwas anfangen? MG: Ja. Empowerment ist ein wichtiges Element. Es findet sich schon in einer akzeptierenden Haltung und kann sichtbar werden im Auftakt, wenn die Person reinkommt und sagt: »Ich bin trans*.« Und ich sage: »Glückwunsch!« Und ich muss mir die ganze Geschichte dazu gar nicht erzählen lassen, um irgendetwas verstehen, ergründen zu wollen und ganz bestimmt nicht diagnostizieren. Damit erkenne ich an, dass Du bist, wie Du bist und dass Du stolz sein kannst. Auch das Vorhandensein einer expliziten Trans*beratung kann signalisieren, wir (die Community) sind füreinander da. Für Eltern von trans* Jugendlichen kommt hinzu, dass sie hier Beispiele, vielleicht sogar Vorbilder finden für die Lebensentwürfe ihrer Kinder und sie so mit einem sichereren Gefühl empowern können. Empowern kann auch, wenn ich mir mit der ratsuchenden trans* Person das pathologisierende Gesundheitssystem aus ›unserer‹ Perspektive anschaue mit der Frage: Wie hat das Gesundheitswesen in den letzten 15 Jahren versucht, uns zu verstehen? Und siehe da, es ist ihm noch nicht gelungen. Mit so einer Perspektive können wir uns der Pathologisierung besser entziehen: »So, gucken wir uns mal an, wie das Gesundheitssystem vor sich hinhühnert und stellen fest, dass da noch Luft nach oben ist« – mal zugespitzt formuliert. »Und weil wir bestimmte Leistungen haben wollen und weil die uns auch zustehen, müssen wir an manchen Stellen unserem ärztlichen, psychotherapeutischen, gutachterlichen Gegenüber ein bisschen die Fontanelle streicheln, damit es zutraulich wird und uns das gibt, was wir brauchen.« Hinzu kommt, dass wir als Beratungsstelle oder wir als Berater*innen häufig im Kontakt mit dem Versorgungssystem sind. Durch die Zusammenarbeit bauen sich Berührungsängste ab und es ist mehr Augenhöhe möglich. Das ist ein Nebeneffekt der direkten Beratungsarbeit und erleichtert auch das Miteinander von trans* Patient*innen und Versorger*innen. BS: Könnt ihr da Erfolge verbuchen? MG: Ja, ich würde schon sagen, dass wir in Berlin die Versorgungslandschaft schon deutlich transaffirmativer gestalten konnten. Wir können sagen, wer in Berlin sich als trans* erlebt und eine Hormontherapie machen möchte, kann das innerhalb von wenigen Wochen beginnen und hat die Möglichkeit, für sich eine informierte Entscheidung zu treffen. BS: Wie ist das sonst in der Republik? MG: In vielen Regionen orientieren sich die Behandler*innen noch immer an den unsinnigen Fristen, die der MDS gesetzt hatte. Zudem wird ab und an empfohlen,

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eine Hormontherapie zu beantragen, aber mit dem Risiko, dass Kasse oder MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) mit häufig sehr unfachlichen Begründungen die Kostenübernahme ablehnen. Es gibt auch völlig unsachgemäße Verknüpfungen mit der rechtlichen Vornamens- und Personenstandsänderung, was zu weiteren Verzögerungen führen kann. Solche Vermischungen geschehen in Berlin kaum noch, im Zweifelsfall gibt es kurze Wege der Verständigung und mittlerweile auch die Haltung, einander zuzuhören. Wenn es zum Beispiel bei einem Verfahren der Vornamens- und Personenstandänderung zu einer Ablehnung oder massiven Verzögerung käme, könnten die Beteiligten miteinander telefonieren und mithelfen, Missverständnisse aus dem Weg zu schaffen. Das ist in anderen Regionen derzeit noch nicht der Fall. Aber in Berlin gibt es eben schon recht komfortable Strukturen und auch eine Menge an trans* Personen. BS: Und die Communitygröße… MG: Genau. Die Berliner Community hat ein anderes Kampfgewicht als die in kleineren Städten. BS: Fallen dir sonst noch Erfolge ein? Wo Du sagen würdest, da hat sich echt etwas getan? Da hat sich der politische Kampf gelohnt? MG: Ich weiß manchmal gar nicht, was da jeweils wirksam war. Also, ob es die Auseinandersetzung auf politischer Ebene war, oder eher diese Step-by-Step Geschichten. Man kennt sich, man kooperiert jahrelang miteinander. Man trinkt abends mal ein Bier nach einem Qualitätszirkel. Und es entsteht so ein Teppich, also ein Filz letzten Endes, der mittlerweile transaffirmativ wirken kann. Immer neue Mitstreiter*innen kommen hinzu und sagen, wir kämpfen für die Rechte von trans* Personen und wir gestalten die Versorgung um. Dafür haben wir sehr viele cis Verbündete gefunden, die mit uns kämpfen. Und wir können eben auch sagen, dass jede*r Jugendliche, die*der eine Hormontherapie braucht, sie in Berlin auch bekommen kann. Das organisieren wir, dass das sicher funktioniert. Und wenn irgendwelche Behörden sich da besonders querstellen, dann werden sie in aller Regel irgendwann damit auch konfrontiert. Auf politischer Ebene hat sich vielleicht eher eine Beißhemmung entwickelt: viele Gremien oder Menschen, die vielleicht trans* Personen gerne noch diskriminieren würden, trauen sich nicht mehr so. Ob sich in deren Köpfen und Haltung etwas geändert hat, weiß ich nicht so genau. BS: Naja, im Moment trauen sich rechtspopulistische Stimmen ganz schön viel. Inwiefern tangiert Euch der rechtspopulistische Diskurs?

Zur institutionellen Diskriminierung von trans* Personen und den Möglichkeiten von Beratung

MG: Naja, das bekomme ich in meiner Arbeit im Moment nicht so viel mit. Ich lese viel dazu. In der Beratung selbst habe ich die Haltung, dass ich alle trans* Personen berate, wenn sie mich in dem Moment respektieren. Also auch die, die vielleicht Mitglied in der AfD sind. Das gehört auch dazu. Können also gerne kommen (lacht). BS: Wenn Du das jetzt noch mal so bündeln wolltest: Was wären zentrale Forderungen an die Antidiskriminierungspolitik für trans* Personen? Könntest Du da noch mal einen Durchgang machen: was wären die zentralen Aspekte? MG: Es muss eine klare, ungebrochene Anerkennung der Menschenrechte für trans* Personen jeden Alters geben und damit auch die Anerkennung der Kinderrechte, diese haben den gleichen Status wie unsere Menschenrechte. Hier das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die selbstbestimmte geschlechtliche Identität. Das muss ganz klar eins zu eins umgesetzt werden. Alle Veränderungen, die für trans* Personen erfolgen, müssen dahin führen, dass ihnen volle Selbstbestimmung möglich ist – ganz gleich, welchen Geschlechtseintrag und welchen Namen trans* Personen führen wollen; und auch, wie oft sie das erneut wechseln wollen. In anderen westlichen Ländern ist das teilweise kein Problem. Es muss eine massive Aufklärung im medizinischen Bereich geben, weil die noch bestehende Psychopathologisierung viele andere Handlungsfelder durchsetzt. Ja, auch Kitapersonal schwingt sich da zur Diagnosevergabe auf, wenn es dumm läuft, oder Lehrer*innen. Viele Fachkräfte im psychosozialen Bereich orientieren sich an irgendwelchen unhinterfragten medizinischen Sichtweisen. Deswegen ist es wichtig, dass von medizinischer Seite ganz klar eine veränderte Haltung kommt, die dann auch weitergetragen werden kann. Im AGG müsste zudem ein Verbot von Psychopathologisierung formuliert werden. Das wäre ein scharfes Schwert. Diese Menschen sind in ihrer Selbstbeschreibung zu akzeptieren, in der Entwicklung ihrer Körperlichkeit zu unterstützen. Die Forschung sagt, diese Menschen sind dann gesünder, glücklicher, können besser am Bruttosozialprodukt mitarbeiten und entlasten letzten Endes auch das Gesundheitssystem. Und es braucht mehr Sichtbarkeit. Also es bräuchte zum Beispiel mehr trans*geschlechtliche Politiker*innen. Auch gerade für Heranwachsende muss es bessere Rollenmodelle geben. So muss zum Beispiel das ganze Aufklärungs- und Bildungsmaterial für Kitas, Schulen und so weiter überarbeitet werden. Sämtliche Curricula im Bereich der Sozialen Arbeit, Psychologie und Medizin müssen angepasst werden. Mir fällt kaum ein Bereich ein, der das nicht bräuchte. Selbst die Architektur müsste befragt werden und zum Beispiel öffentliche Gebäude so gestaltet werden, dass sie nicht weiterhin dieser Männchen- und Weibchenlogik folgen, sondern es halt mehr Toiletten gibt, andere Lösungen für Duschen und Umkleiden. Oder Klinikkonzerne müssen ein Konzept entwickeln, wie sie mehr

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als zwei Geschlechter auf ihren Stationen versorgen. Und zwar auf allen Stationen, die sie dahaben. Und so weiter. So ließe sich das ewig weiterspinnen. BS: Gibt es noch irgendetwas, das wir nicht angesprochen haben? MG: Also, mir fallen gerade spontan einfach glückliche Gesichter und fröhliche Rückmeldungen ein. Ich erlebe, wenn trans* Personen in das Richtige oder in das Richtigere für sich kommen und Dinge richtiger machen, dann sind sie glücklich. Und dieses Bild ist glaube ich sehr wichtig zu verstehen, dass es halt nicht darum geht, irgendeine Marotte oder irgendeine Mode zu unterstützen, sondern es ganz basal darum geht, erstens zu überleben und zweitens irgendwann im Leben auch glücklich sein zu dürfen, so.

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen Petra Flieger/Volker Schönwiese

Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung sind wesentliche Prinzipien aller internationaler Übereinkommen zu Menschenrechten, unter anderem der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Doch was genau bedeutet Diskriminierung aufgrund von Behinderungen? Welche Situationen werden als diskriminierend erlebt und welche Phänomene sind damit im Alltag verbunden? Der folgende Text geht diesen Fragestellungen nach. Er spannt dabei einen Bogen von konkreten Alltagssituationen und deren Reflexion über theoretische Bezüge hin zu Formen des Widerstands und der Utopie einer inklusiven Gesellschaft ohne Barrieren.

Einführung Menschenrechte beruhen auf grundlegenden Konzepten von persönlicher Selbstbestimmung und Gleichheit als zentralen Rechtsprinzipien. (Vgl. Degener/Butschkau 2020: 136) Diskriminierung wird dementsprechend als Verletzung von Gleichheitsrechten verstanden, die allerdings je nach Definition von Gleichheit anders beurteilt werden. Oft wird von formaler Gleichheit ausgegangen, also von der Notwendigkeit der Gleichbehandlung Gleicher. Das führt dazu, dass Ungleichbehandlung im Sinne von »Ungleichbehandlung Ungleicher« (ebd.: 139) als richtig und keinesfalls als diskriminierend verstanden wird. Ein Beispiel soll die Problematik dieses Ansatzes verdeutlichen: »Die scheinbar neutrale Vorschrift etwa, dass Polizeiamtsanwärter*innen eine Körpergröße von 180 cm aufweisen müssen, wirkt sich auf Frauen und behinderte Personen nachteilig aus, obwohl sie sich formal – wie alle anderen – bewerben können.« (Ebd.: 140) Aus menschenrechtlicher Sicht handelt es sich bei diesem Beispiel nicht um eine Gleichbehandlung, sondern vielmehr um eine nicht akzeptable Ungleichbehandlung oder eben Diskriminierung. Alternativ zu solcher formalen Gleichheit haben sich Konzepte von substanzieller Gleichheit oder, besonders im menschenrechtlichen Diskurs, Modelle von inklusiver Gleichheit etabliert. Diese nehmen »System und Strukturen der Diskriminierung wie auch Machtverhältnisse in den Blick« (ebd.) und berücksichtigen unter anderem

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auch sozioökonomische Benachteiligungen, Anerkennung aller Formen von Diversität und damit zusammenhängender Formen von Benachteiligung, Partizipation sowie die Notwendigkeit von Anpassungen, um individuellen Unterschieden angemessen gerecht zu werden. (Vgl. ebd.) Dies kann sehr gut am Beispiel der UN-BRK gezeigt werden, in der Gleichberechtigung und Nicht-Diskriminierung in Art. 3 als Prinzip, in Art. 5 darüber hinaus aber auch als explizites Recht von Menschen mit Behinderungen festgehalten und näher definiert werden. In einer allgemeinen Stellungnahme hat der bei den Vereinten Nationen zuständige Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ausführlich und anhand anschaulicher Beispiele die sich daraus ergebenden Inhalte und deren konkrete Bedeutung erläutert. (Vgl. Committee 2018) Nicht nur für Staaten, die die UN-BRK ratifiziert haben, ergeben sich demzufolge mannigfache Konsequenzen und Verpflichtungen zur Reduktion von Diskriminierungen aufgrund von Behinderungen. Darüber hinaus bewirkt die eingehende Auseinandersetzung mit »inklusiven Menschenrechten« (Schulze 2011: 18) auch ganz allgemein ein erweitertes Bewusstsein für die alltäglichen Verletzungen von Gleichheitsrechten behinderter Menschen und die Notwendigkeit, diese zu reduzieren.

Barrieren und Diskriminierung Es ist sinnvoll, für die weitere Auseinandersetzung einen Blick auf die Zielgruppe der UN-BRK zu richten. Diese umfasst »Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe, gleichberechtigt mit anderen, an der Gesellschaft hindern können.« (Art. 1 Abs. 2 UN-BRK) Maßgeblich ist hier die Betonung von Barrieren, die Menschen mit Beeinträchtigungen an der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe behindern können. Es werden unterschiedliche Formen von Barrieren beschrieben, zum Beispiel bauliche Barrieren wie Stufen, Barrieren bei der Information wie Texte in sehr schwerer Sprache, Barrieren bei der Kommunikation, ökonomische Barrieren sowie soziale Barrieren, etwa Vorurteile oder Ängste. (Vgl. Schulze 2011: 16) Verschiedene Barrieren können gleichzeitig und einander überlappend auftreten, sie bedingen für Personen, die mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen leben, behindernde und in der Konsequenz benachteiligende Situationen und Verhältnisse. Der Abbau von Barrieren bildet ein wesentliches Element für die NichtDiskriminierung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen, dementsprechend wird Barrierefreiheit in Gesetzen zur Gleichstellung von behinderten Menschen explizit erwähnt und definiert. Beispielsweise heißt es in Art. 4 Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) der Bundesrepublik Deutschland:

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig. Eine fast gleichlautende Definition beinhaltet das österreichische BundesBehindertengleichstellungsgesetz (BGStG) in § 6: Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind. Die UN-BRK unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Barrierefreiheit einerseits und angemessenen Vorkehrungen andererseits. Die Herstellung von Barrierefreiheit gilt allgemein, im Detail muss sie mit den Interessenverbänden von Menschen mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen ausgehandelt sowie konsequent und umfassend umgesetzt werden. Demgegenüber sind angemessene Vorkehrungen notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können. (Art. 2 Abs. 4 UN-BRK) Angemessene Vorkehrungen beziehen sich also auf konkrete Situationen einzelner Personen und müssen im Dialog mit diesen vereinbart und umgesetzt werden. (Vgl. Degener 2019: 494) Die Versagung oder Unterlassung angemessener Vorkehrungen stellt im Sinne der UN-BRK genauso eine Verletzung des Gebots der Gleichbehandlung dar wie die Nichtbeachtung von Barrierefreiheit. (Vgl. Schulze 2011: 18) Was bedeuten diese juristischen Formulierungen und theoretischen Erläuterungen im Alltag behinderter Menschen? Wie manifestieren sich Barrieren oder der Mangel an angemessenen Vorkehrungen für Personen mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigungen? Anhand konkreter Situationen, die behinderte Frauen und Männer als diskriminierend erleben, sollen diese Fragestellungen im Folgenden beantwortet werden. Beschreibungen von Schlichtungsverfahren, die das BGStG in Österreich zwingend vorsieht, bevor bei Gericht geklagt werden

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kann, dienen dafür als Quelle. (Vgl. Bundessozialamt Österreich 2012) Sie sind auf der Website des Bundesbehindertenanwalts veröffentlicht, der behinderte Personen bei Schlichtungsverfahren berät und unterstützt.1

Kommunikative Barriere bei Dienstbesprechung Eine gehörlose Arbeitnehmerin fühlt sich diskriminiert, weil sie bei Dienstbesprechungen keine Gebärdensprachdolmetschung erhält. Im Schlichtungsverfahren wird vereinbart, dass in Zukunft für Dienstbesprechungen Gebärdensprachdolmetschung bereitgestellt wird. Sollte dies nicht möglich sein, findet die Dienstbesprechung nicht statt und alle Mitarbeiter*innen werden schriftlich informiert.

Nicht barrierefrei zugängliches Formular einer Behörde Eine blinde Frau fühlt sich diskriminiert, weil sie für die jährliche Beantragung einer staatlichen Unterstützung einen Fragebogen nur in Papierform erhält. Diesen kann sie weder lesen noch ausfüllen. Trotz wiederholten Ersuchens wird ihr das Formblatt nicht in elektronischer Form übersandt. Im Schlichtungsverfahren wird vereinbart, dass die Behörde das Formular elektronisch übermittelt und es so für die blinde Frau les- und bearbeitbar ist.

Bauliche Barrieren im Theater Ein Rollstuhlfahrer fühlt sich diskriminiert, weil er auf dem für Rollstuhlfahrer*innen eingerichteten Platz nur sehr eingeschränkt bis gar keine Sicht auf die Bühne hat. Außerdem darf er sich aus Brandschutzgründen nicht im 1. Stock beim Buffet aufhalten. Im Schlichtungsverfahren wird vereinbart, dass für Rollstuhlfahrer*innen ein neuer Platz mit sehr guter Sicht eingerichtet wird. Außerdem können in der Pause nun auch im Foyer Getränke angeboten und konsumiert werden.

Bauliche Barriere im Hotel Eine Rollstuhlfahrerin fühlt sich diskriminiert, weil sie trotz expliziter Reservierung in einem Hotel kein barrierefreies Zimmer erhält und sie deshalb den Sanitärbereich gar nicht oder nur sehr erschwert nutzen kann. Im Schlichtungsverfahren werden eine schriftliche Entschuldigung sowie die Rückerstattung des geleisteten Rechnungsbetrags vereinbart.

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Siehe Schlichtungen: Behindertenanwalt, www.behindertenanwalt.gv.at/schlichtungen vom 15. 3. 2020.

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen

Akustische Barriere im Einkaufszentrum Mehrere hörbehinderte Personen fühlen sich durch Musik in einigen Einkaufszentren diskriminiert. Aufgrund der Beschallung können sie nicht beziehungsweise kaum mit dem Verkaufspersonal kommunizieren, auch die Kommunikation mit den sie begleiteten Personen ist stark beeinträchtigt. Im Schlichtungsverfahren wird vereinbart, dass die Musik bei Bedarf kurzfristig leiser gestellt beziehungsweise in der betroffenen Abteilung kurzfristig zur Gänze abgestellt werden kann.

Soziale Barriere bei Wohnungsvermietung Eine Person mit psychischer Beeinträchtigung fühlt sich diskriminiert, weil ihr bei der Wohnungssuche mitgeteilt wird, dass in einer neuen Wohnhausanlage keine Menschen mit psychischer Beeinträchtigung wohnen dürfen. Im Schlichtungsverfahren wird vereinbart, dass der betroffenen Person eine alternative Wohnung angeboten wird.

Soziale und kommunikative Barriere beim Einkaufen Ein Mann mit Lernschwierigkeiten fühlt sich aufgrund des Verhaltens eines Verkäufers in einem Elektrofachmarkt diskriminiert. Er will einen Fernseher kaufen und ersucht den beratenden Verkäufer, langsamer und einfacher zu sprechen, doch dieser tut das nicht und beendet einfach die Beratung. Im Schlichtungsverfahren wird dem Mann mit Lernschwierigkeiten eine neuerliche und individualisierte Beratung angeboten. Außerdem wird eine Schulung der Verkäufer*innen des Elektrofachmarkts vereinbart.

Nicht barrierefreie Website Ein Mann mit einer starken Sehbeeinträchtigung fühlt sich diskriminiert, weil er die Webseite eines österreichischen Flughafens nicht benutzen kann. Diese entspricht nicht dem Standard für barrierefreies Webdesign. Das Schlichtungsverfahren verläuft ohne Einigung. Diese konkreten Fallvignetten decken sich mit Forschungsergebnissen zu Diskriminierungserfahrungen von behinderten Personen, wie beispielsweise der zusammenfassende Überblick von Arne Müller (2018: 106-109) zeigt. Diskriminierungen aufgrund von Behinderungen finden in allen Lebensbereichen statt, auf allen Ebenen der Bildung, in der Arbeit, beim Zugang zu Dienstleistungen und so weiter. Als im Alltag besonders belastend empfinden behinderte Menschen vor allem unangemessene und diskriminierende Verhaltensformen von anderen Menschen, wie etwa angestarrt, ignoriert, nicht ernst genommen oder ungefragt geduzt zu

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werden. Solche herabwürdigenden Verhaltensformen erleben auch Kinder und Jugendliche mit Behinderungen häufig, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern vor allem auch in der Schule. (Vgl. Paulmichl 2018) Es liegen kaum differenzierte und vertiefende Daten aus repräsentativen Untersuchungen zu Diskriminierungserfahrungen von Personen mit Behinderungen vor. Eine Ausnahme stellt die repräsentative Studie zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderungen des BMFSFJ in Deutschland dar. Die darin erhobenen Daten bestätigen die beschriebenen Phänomene. Zudem zeigen sie, dass diskriminierende Situationen von den Befragten subjektiv sehr unterschiedlich erlebt und interpretiert werden. Dies hängt nicht zuletzt davon ab, ob Frauen in Bezug auf Diskriminierung entsprechend informiert und sensibilisiert oder möglicherweise auch behindertenpolitisch aktiv sind. (Vgl. BMFSFJ 2013: 230) Eine gerade in Studien häufig nicht beachtete Personengruppe sind behinderte Menschen, die in Einrichtungen leben und/oder arbeiten, die sich nur an behinderte Personen richten. In der genannten Studie gaben Frauen, die in Behinderteneinrichtungen leben, an, dass sie vorgegebene beziehungsweise nicht veränderbare Regeln, bevormundende Betreuungspersonen oder Einschränkungen durch das Leben in einer Gruppe als diskriminierend erleben. Überhaupt empfinden viele dieser Frauen das Leben in einer Einrichtung als belastend und diskriminierend. (Ebd. 240) Menschen mit Behinderungen sind nie nur ›Behinderte‹, sie nehmen immer und vor allem auch viele andere Rollen ein beziehungsweise sind durch weitere Differenzlinien, beispielsweise Alter und Geschlecht, charakterisiert. Sie sind Söhne und Töchter, Geschwister, Freund*innen, Partner*innen, (Groß-)Eltern, Kolleg*innen, Politiker*innen und vieles mehr. Wird beispielsweise die Gesamtbevölkerung in den Blick genommen, spielt die Kategorie Behinderung »eine, mit zunehmendem Alter, wichtige Rolle.« (Schildmann/Libuda-Köster 2018: 106) Gleichzeitig zeigen sich deutliche Geschlechtsunterschiede: Bei den unter 65-Jährigen, auch bei Kindern, leben deutlich mehr Männer mit Behinderungen, bei den über 65-Jährigen sind es deutlich mehr Frauen. (Vgl. ebd.: 107) Es ist dringend an der Zeit, einen verstärkt intersektionalen Blick in der Auseinandersetzung mit Diskriminierung im Kontext von Behinderungen zu entwickeln, um gesellschaftliche Phänomene besser verstehen und erklären zu können. In einer ausführlichen Analyse weisen die Autorinnen strukturelle und gesellschaftliche Dynamiken zwischen den Kategorien Geschlecht, Alter und Behinderung eindrücklich nach. Untersucht wurde, welchen Einfluss diese auf die Sicherung des Lebensunterhalts durch die eigene Erwerbstätigkeit haben. Dabei zeigten sich deutliche Wechselwirkungen zwischen diesen drei Dimensionen: Nicht behinderte Männer kristallisierten sich deutlich als die privilegierteste Gruppe heraus, wohingegen behinderte Frauen systematisch benachteiligt sind, deutlich seltener ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit sichern können und daher ein erheblich höheres Armutsrisiko haben.

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen

Diese Analyse »weist auf strukturelle Wechselwirkungen zwischen den Kategorien Geschlecht – Behinderung – Alter (Lebensphasen) hin.« (Ebd.: 140) Um Diskriminierungsphänomene nicht einseitig zu erfassen und auch um angemessene Strategien für Anti-Diskriminierung zu entwickeln, erscheint daher sowohl in wissenschaftlichen als auch in anwendungsorientierten Bereichen ein intersektionaler Ansatz wichtig und erforderlich.

Gesellschaftliche Ausweich- und Abwehrdynamiken Diskriminierung durch Barrieren oder ein Mangel an angemessenen Vorkehrungen sind auch Folgen von typischen Handlungsstrukturen und Situationsdefinitionen in der Auseinandersetzung mit Menschen, denen der Status Behinderung zugeschrieben wird. Behinderte Personen, Aktivist*innen der SelbstbestimmtLeben-Bewegung sowie ihre Angehörigen und Verbündeten erleben bei der alltäglichen Benennung von Diskriminierung durch Barrieren sehr häufig Widerstand. Dabei entstehen im Alltag Abwehr- und Ausweichdynamiken, die wir anhand der Reflexion unserer eigenen Alltagserfahrungen durch folgende Phänomene beschreiben können: •









Viele Formen von existierenden Barrieren werden nicht als Diskriminierung verstanden beziehungsweise fehlen in weiten Teilen der Bevölkerung Information und Sensibilisierung dazu. Oft kommt es erst bei einem offiziellen Schlichtungsverfahren zu der Einsicht, dass eine für die behinderte Person diskriminierende Situation besteht. Nicht behinderte Menschen wollen behinderten Menschen in einer konkreten Situation helfen und wehren den Abbau von Barrieren beziehungsweise eine Auseinandersetzung damit ab. Niemand fühlt sich in einer konkreten Situation verantwortlich, daher kommt es sehr häufig weder zu einem (An-)Erkennen einer Diskriminierung oder einer Entschuldigung dafür. Zum Anerkennen und zu einer Entschuldigung kommt es – wenn überhaupt – erst im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens. Sehr häufig erfolgen Rechtfertigungen und Erklärungen, warum der Abbau von Barrieren nicht möglich sei. Vereinbarungen, wie Barrieren abgebaut oder in Zukunft vermieden werden, können oft erst in einem Schlichtungsverfahren herbeigeführt werden. Dies gelingt in knapp 40 % aller Verfahren. (Vgl. Sozialministeriumservice o.J.: 20) Die Zuständigkeit und Verantwortung für Barrieren beziehungsweise für Barrierefreiheit wird hin- und hergeschoben, beispielswiese zwischen Behörden und öffentlichen Dienstleistungsunternehmen.

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• •

Barrieren werden auch trotz mehrfacher Hinweise und wiederholter Aufforderungen nicht beseitigt. An der konkreten behindernden Situation ändert sich auch langfristig nichts.

Die aufgelisteten Abwehr- und Ausweichtendenzen können als alltägliche Verhandlungsmuster zu Behinderung und Diskriminierung mithilfe von drei theoretisch fundierten Zugängen verstanden werden. (Vgl. Schönwiese 2011; Flieger 2012; Flieger et al. 2014)

Angstabwehr Der erste Aspekt betrifft die Dominanz von Phänomenen der Angstabwehr in diskriminierenden Interaktionsverhältnissen. Projektiv werden bei Wahrnehmung oder Sichtbarkeit von Behinderung Eigenanteile aller an Interaktionen beteiligten Personen mobilisiert, bezogen auf gesellschaftlich gut etablierte Normen, wie nicht schön, leistungsfähig oder reich genug zu sein. Fragen von Ästhetik, gesellschaftlicher Positionierung, Leistungsanforderungen sowie nach den großen gesellschaftlichen Verteilungsfragen vermischen sich mit fundamentalen Existenzfragen, mit Schicksalskonstruktionen. (Vgl. Schönwiese 2012) Eine von Angstabwehr gesteuerte projektive Verschiebung von gesellschaftlichen und existenziellen Problemlagen auf behinderte Personen verstellt den Blick auf die reale Situation von Menschen mit Behinderungen. Dies führt zu • •



Erschrecken und Distanz beim Anblick von als fremd oder als abweichend wahrgenommenen Personen; zum meist unbewussten Wunsch, dass diese Personen nicht so sein sollten, wie sie sind beziehungsweise nicht hier sein sollen, sondern an eigenen Orten ausgesondert oder dort, wo sie herkommen, jedenfalls immer woanders; in der konsequentesten Form verbunden mit Aggression und Euthanasie/Todeswunsch; oder zu unmittelbar empfundenen abwehrenden Mitleidsgefühlen, die in spontanen Aktionen, wie zum Beispiel Geld spenden oder ungefragt helfend eingreifen, umgesetzt werden (wobei solches Mitleid streng von ›einfühlendem Verstehen‹ zu unterscheiden ist, auf das wir alle existentiell angewiesen sind). (Vgl. Schönwiese 2001/Niedecken 2003)

Die Erkenntnis, dass Andere zum Spiegelbild des Eigenen werden, ist – wenn sie bewusstgemacht werden kann – eine der wirksamsten Schutzmechanismen gegen die Errichtung von Feindbildern und Entmenschlichung. Die frühe Erkenntnis des Eigenen im Fremden ist Schutz gegenüber einem Mechanismus, den Josef

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen

Berghold in einer Analyse politischer Psychologie über Fremdheit und Feindbilder beschreibt. Er geht davon aus, dass Fremde einerseits als Menschen wahrgenommen werden, denen man im Prinzip ihre Menschlichkeit abspricht und die daher im Grunde aus der menschlichen Gesellschaft auszuschließen wären – die aber andererseits auch – als solche aus der menschlichen Gesellschaft auszuschließenden Menschen – für den eigenen Gefühlshaushalt unbedingt benötigt werden [….] wobei aber [….] gerade dieser Umstand nicht bewusst eingestanden werden kann. (Berghold 2002: 122) Diese Analyse trifft auf Menschen, die mit Beeinträchtigungen leben, in sehr hohem Maße analog zu.

Entdifferenzierungen Der zweite Aspekt bezieht sich auf eine historische Tatsache: Es lässt sich für den gesamten Zeitraum der überschaubaren menschlichen Geschichte zeigen, dass große gesellschaftliche Krisen wie Kriege, ökonomische Zusammenbrüche, Epidemien wie die Schwarze Pest oder Naturkatastrophen immer wieder über die Verfolgung von zu Sündenböcken gemachten Menschen jüdischen Glaubens, Fremden, als Hexen bezeichnete Frauen, körperlich beeinträchtigten Menschen und so weiter abgehandelt wurden. René Girard geht davon aus, dass es ein historisches, kulturübergreifendes Schema kollektiver Gewalt im Sinne einer Sündenbock-Bildung gibt2 . Dies ist nicht als Notwendigkeit, aber als anthropologisch festgelegte Möglichkeit menschlichen kollektiven Handelns zu sehen. Er schreibt dazu: Jene Krisen, die Auslöser breiter kollektiver Verfolgung sind, werden von den Betroffenen stets mehr oder weniger gleich erlebt. Als stärkster Eindruck bleibt in jedem Fall das Gefühl eines radikalen Verlustes des eigentlich Sozialen zurück, der Untergang der die kulturelle Ordnung definierenden Regeln und ›Differenzen‹. (Girard 1992: 23-24)

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Während diese Zeilen geschrieben werden, ist die »Corona-Krise« im Jahr 2020 in vollem Gange, sie ist voll von Krisen-, Kriegs- und Sündenbockrhetorik begleitet. US-Präsident Donald Trump bezeichnet zum Beispiel in der Krise den Sars-CoV-2-Virus als ›ausländischen Virus‹ oder ›chinesischen Virus‹. Trump nimmt nach Kritik die Benennung zwar halb zurück, hat aber erfolgreich einen ›Feind‹- und ›Kriegs‹-Diskurs gesetzt. »Ich möchte der US-Bevölkerung versichern, dass wir jeden Tag alles uns Mögliche tun, um diesem furchtbaren, unsichtbaren Feind entgegenzutreten und ihn zu besiegen. Wir sind im Krieg, im wahrsten Sinne des Wortes im Krieg.« (Siehe ORF.at/Agenturen: »Der fahrlässige Umgang mit der Krise«, in: news ORF.at, https://orf.at/stories/3159171/ vom 25.3.2020)

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Die derzeitigen globalisierten Krisen sind mit der Gefahr verbunden, dass allenthalben das Soziale unter Druck gerät und kulturelle Tendenzen der Entdifferenzierung verstärkt werden. Dies beinhaltet Stereotypisierungen, die die Welt in Gut und Böse teilen, die ›die Fremden‹ für Kulturverfall verantwortlich machen, die Kopftücher (aber nicht das Kreuz) zu Staatsproblemen erklären, sozial benachteiligte Menschen als ›Leistungsunwillige in sozialen Hängematten‹ oder ›Sozialschmarotzer‹ für die Krise des Sozialstaates verantwortlich machen, oder die den ›Osten‹ (wer auch immer damit gemeint ist) oder ›Fremde‹ als Bedrohung für die nationale Ökonomie und Identität sehen. Menschen mit Behinderungen werden in aktuellen öffentlichen und politischen Debatten weniger explizit genannt oder werden verdrängt, historisch sind sie aber gerade in Deutschland und Österreich durch eugenisch-vernichtende Politiken für die Konstruktion von bedrohenden Feinbildern prädestiniert. Gesellschaftlich fungieren sie quasi als dauerhafte und innere Fremde und werden dementsprechend repräsentiert. (Vgl. Kappeler 2000; Schönwiese 2012)

Naturalisierung Als dritter Aspekt soll schließlich darauf verwiesen werden, dass ökonomische Krisen, Individualisierungsphänomene, schwer durchschaubare Entscheidungsstrukturen und Hierarchisierungen von einer Unsichtbarkeit der Akteur*innen der Verteilungskämpfe geprägt sind. Naturalisierungseffekte, die ökonomische, soziale und kulturelle Phänomene betreffen, sind dabei als wichtige Phänomene der Gestaltung von Alltagsbewusstsein zu beschreiben. Pierre Bourdieu meint dazu: In einer hierarchisierten Gesellschaft gibt es keinen Raum, der nicht hierarchisiert wäre und nicht Hierarchien und soziale Abstände zum Ausdruck brächte. Dies allerdings in mehr oder weniger deformierter Weise und durch Naturalisierungseffekte maskiert, die mit der dauernden Einschreibung sozialer Wirklichkeiten in die natürliche Welt einhergehen. (Bourdieu 1998: 160) Die alltäglich erlebbare und scheinbar objektive Schwierigkeit, bauliche Barrieren zu überwinden, ist ein gutes Beispiel für solch einen Naturalisierungseffekt. Stufen müssen wohl Natur sein, weil sie so schwer abbaubar sind, und Behinderung Schicksal. Die Wahrnehmung von Anwesenheit an bestimmten Orten, die Frage der Zugänglichkeit oder des Ausschlusses brennt sich in Denkstrukturen und auch emotionale Prädispositionen ein: Ganz allgemein spielen die heimlichen Gebote und stillen Ordnungsrufe der Strukturen des angeeigneten Raums die Rolle eines Vermittlers, durch den sich die sozialen Strukturen sukzessiv in Denkstrukturen und Prädispositionen

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen

verwandeln. Genauer gesagt, vollzieht sich die unmerkliche Einverleibung der Strukturen der Gesellschaftsordnung zweifellos zu einem guten Teil vermittelt durch andauernde und unzählige Male wiederholte Erfahrungen räumlicher Distanzen, in denen sich soziale Erfahrungen behaupten, aber auch – konkreter gesprochen – vermittels der Bewegungen und Ortswechsel des Körpers zu räumlichen Strukturen konvertieren und solcherart naturalisierte soziale Strukturen gesellschaftlich organisieren und qualifizieren. (Ebd.: 162) Naturalisierungseffekte verweisen das Problem immer als individuelles Problem auf die diskriminierte oder ausgeschlossene Person selbst zurück beziehungsweise auf ihre Fähigkeit, Kompensationsstrategien zu entwickeln oder Raummanagement zu betreiben. Dabei entsteht eine fatale Doppelbindung: Sich den verweigerten Raum mithilfe von Kompensationsstrategien zu erobern, sich beispielsweise von Freund*innen oder Assistent*innen über Stufen tragen zu lassen, stabilisiert den deprivierenden symbolischen Raum genauso wie sich den nicht zugänglichen Räumen aktiv zu verweigern – einfach nicht hinzugehen, den »stillen Ordnungsrufen« (ebd.) zu folgen, sich zu isolieren oder in privatisierte Subkulturen oder Kulturräume zurückzuziehen. Die Alltags-Handlungs-Situation der Doppelbindung zeigt: Jede Option ist falsch, jede Option stabilisiert entfremdende und identitätsschädigende Verhältnisse.

Widerstand gegen Diskriminierungen und die Utopie einer inklusiven Gesellschaft Ein Ausstieg aus der beschriebenen komplexen gesellschaftlichen Struktur, die Barrieren und Diskriminierungen produziert, erfordert eine Reflexion der mit Barrieren verbundenen (Macht-)Verhältnisse durch den Wechsel auf eine Metaebene. Vor allem in konkreten diskriminierenden Situationen ist ein solcher Wechsel oft sehr schwierig, da sich diskriminierende Situationen und Konstellationen im Alltag unvorhergesehen ergeben und kaum Zeit für reflektierte Reaktionen ist. Dennoch ist es möglich – wenn auch keineswegs einfach – durch Ansprechen der erlebten Situation einen Wechsel von Perspektiven herbeizuführen. Das Ansprechen und Deutlichmachen in Form symbolischer Aktionen ermöglichen es, zugrundeliegende Phänomene und handlungsleitende Strukturen offenzulegen. Das meint nicht nur die äußeren Strukturen als Barrieren, die Zugang verhindern, sondern auch Interaktionsstrukturen, die die Bedeutung von Diskriminierungen über Routine vergessen machen und über Störungen oder Krisen offengelegt werden können. (Vgl. Garfinkel 1980: 204-207) Ein Beispiel für solch eine symbolische Aktion war der Vortrag der Autorin und des Autors im Rahmen der Tübinger Ringvorlesung zu Antidiskriminierung: Da der Hörsaal für Vortragende im Rollstuhl nicht zu-

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gänglich war, referierten die beiden von oberhalb der Sitzreihen nach unten zu den Hörer*innen. Das veränderte die Situation vor allem für die Studierenden, die nun selbst Barrieren erlebten und sich an die ungewohnte Situation durch Umdrehen, sich auf das Schreibpult setzen, um nach hinten oben schauen zu können, oder durch bloßes Zuhören ohne Blick auf die Vortragenden anpassen mussten. Das Thema der Diskriminierung durch (fehlende) Barrierefreiheit wurde so in der Präsentation selbst jenseits des gesprochenen Wortes direkt als Störung erleb- und reflektierbar. Aktiv gegen die Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen aufzutreten ist zentral für die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung. Zivilgesellschaftliches Engagement von Menschen mit Behinderungen in Kooperation mit Verbündeten hat ein hohes Potenzial bewusstseinsbildend für inklusive Gleichheit und inklusive Menschenrechte zu sein. Ohne dieses Engagement ist es nicht denkbar, dass die im Art. 8 der UN-BRK genannten öffentlichen Kampagnen zur Bewusstseinsbildung wirksam werden können. Öffentliche Verantwortung ist es, die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass gesellschaftlichen Angstphänomenen, defizitorientierten Naturalisierungen sowie Entdifferenzierungen langfristig entgegengewirkt werden kann. Dies meint, vielfältige und selbstverständliche Begegnungsmöglichkeiten beziehungsweise Handlungsräume für behinderte und nichtbehinderte Menschen, Kinder, Jugendliche und Erwachsene zur Verfügung zu stellen. In diesen müssen auf dem Hintergrund der in der UN-BRK ausdifferenzierten Menschenrechte Aushandlungsprozesse moderiert und begleitet werden, denn typisch für menschenrechtliche Bewusstseinsbildung ist Lernen über einen Prozess, der Konflikte als Teil von Lernen und Entwicklung anerkennt. (Vgl. Markowetz 2000) Zu diesem Prozess gehört der Abbau unterschiedlichster Barrieren, der reale und symbolische Voraussetzungen für Aushandlungsprozesse mit Personen schafft, die als different wahrgenommen und diskriminiert werden. Die »Neugestaltung der Umwelt als inklusive Gesellschaft« (Hinz 2006: 4) ist als reale gesellschaftliche Utopie so zu erarbeiten, dass sie substantielle und inklusive Gleichheit für alle Menschen sicherstellt, um die es sich zu kämpfen lohnt.

Literatur Berghold, Josef (2002): Feindbilder und Verständigung. Grundfragen einer politischen Psychologie, Opladen: Leske+Budrich. BMFSFJ (2013): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland. Ergebnisse der quantitativen Befragung. Endbericht, Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Diskriminierung aufgrund von Behinderungen

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Rassismus als traumatisches Erlebnis: Implikationen für die Soziale Arbeit Teresa Cersan im Gespräch mit Maria Kechaja

Maria Kechaja: Ich kenne Dich als Kollegin aus der Jugendarbeit, als EmpowermentTrainerin, als HipHop-Tänzerin. Warum hast Du Dich mit dem Thema Rassismus und Trauma beschäftigt? Was interessiert dich daran?   Teresa Ceran: Ich bin Erziehungswissenschaftlerin und arbeite, wie Du weißt, seit 2014 in einem Jugendkulturprojekt, das sich mit Antidiskriminierung und Empowerment beschäftigt. Das heißt, in meiner Praxis habe ich die Möglichkeit, mit vielen Jugendlichen, die Diskriminierungserfahrungen machen, zusammenzukommen. In diesem Kontext war und bin ich nicht selten mit den psychischen Folgen von Rassismuserfahrungen bei Jugendlichen konfrontiert. Da gibt es eine Diskrepanz zwischen meiner Praxis und der wissenschaftlichen Theorie beziehungsweise Lehre: Ich habe den Eindruck, dass in den Diskursen der Sozialen Arbeit in Deutschland wenig Wissen über die psychischen Folgen von Rassismusund Diskriminierungserfahrungen herrscht. Es finden sich kaum deutschsprachige Texte, welche psychische Auswirkungen von Rassismuserfahrungen in ein sozialpädagogisches Setting setzen. Gleichzeitig finde ich, dass die Bandbreite an Rassismuserfahrungen sowie die langfristigen psychischen Konsequenzen für Individuen, die Rassismuserfahrungen machen, im Fach, aber auch gesamtgesellschaftlich zu wenig thematisiert werden. Werden rassistische Übergriffe besprochen, geht es oft nur um den Vorfall an sich, aber wie sich das weitertragen oder in der Persönlichkeit verfestigen kann, wird zunächst außer Acht gelassen. Dabei beeinträchtigen die Auswirkungen von Rassismus den Prozess der Identitätsbildung nachhaltig, wenn psychische Konsequenzen unbesprochen und unbearbeitet bleiben. Die Gesundheit von Menschen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft, ihrer (zugeschriebenen) Religionszugehörigkeit oder ihres Aussehens täglich mit Erfahrungen von Ausgrenzung, Demütigung und Abwertung konfrontiert sind, wird nachweislich stark davon beeinträchtigt. Ich habe mich damit beschäftigt, weil ich mich gefragt habe, was zum Beispiel in der Jugendarbeit passiert, wenn so wenig Wissen darüber besteht und so vieles unbearbeitet, ja unausgesprochen bleibt.

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Teresa Cersan im Gespräch mit Maria Kechaja

MK:  Gab es in Deiner Arbeit einen bestimmten Anlass für diese Auseinandersetzung?   TC: Ja, ein für mich prägendes Ereignis war ein Schlüsselmoment, der zur Motivation wurde, mich intensiver mit dem Thema ›Rassismuserfahrungen als traumatische Erlebnisse‹ zu beschäftigen: Eine Jugendliche berichtete mir, während eines Workshops im Jugendkulturprojekt TALK1 , sichtlich aufgebracht von einem verbalen rassistischen Übergriff in der Schule. Dies war für sie nicht der erste Vorfall dieser Art. Im Verlauf des Gesprächs, in dem ich versuchte, sie zu beruhigen, stellte sich heraus, dass für die Jugendliche nicht das eigentliche Geschehen, sondern vielmehr alles, was danach geschah, im Zentrum stand. Es war für sie wesentlich wichtiger, weil unverständlicher, zu erzählen, wie ihre Reaktion auf den Übergriff von den Lehrer*innen aufgefasst wurde: Ihr wurde vorgeworfen, dass sie ›hysterisch‹ sei und unangemessen reagiere. Sie berichtete mir daraufhin von Gefühlen der Ohnmacht und Verzweiflung und fühlte sich von den Vertrauenspersonen unverstanden, nicht ernst genommen und allein gelassen. Das hat mich tief erschüttert und mich dazu gebracht, viele Fragen an die Praxis, auch meine eigene (in der offenen Jugendarbeit und in der Jugendhilfe), zu stellen. Mehrere Punkte wurden mir anhand dieses Berichtes deutlich: Rassismus scheint in Deutschland trotz der gravierenden und vielfältigen Auswirkungen noch immer ein Tabuthema zu sein. Mit Rassismus werden häufig Rechtsradikalismus und körperliche Gewalt oder der Nationalsozialismus assoziiert. Die anderen (subtileren und alltäglicheren) Facetten des Rassismus als gesellschaftlichem Machtverhältnis sind nach wie vor zu wenig bewusst, besprechbar und sichtbar. Selbst den Betroffenen, vor allem Jugendlichen, fehlen oft Begriffe und Erklärungen, um das Vorgefallene zu deuten und einzuordnen. Das hat Konsequenzen: Das wiederholte Erleben solcher Situationen, aber vor allem auch die auf Bagatellisierung und Unverständnis fußenden Reaktionen von pädagogischen Fachkräften sind besonders schmerzvoll. Es gibt mehrere Studien, die aufzeigen, dass Diskriminierungserfahrungen von Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen systematisch verharmlost und geleugnet werden. (Vgl. Melter 2006, Jagusch et al. 2012, Amirpur 2006) Deshalb hat mich vor allem interessiert, welche Rolle hier die Soziale Arbeit spielt oder spielen kann und welchen Beitrag sie zu einer Veränderung leisten kann. Im Zuge meiner Auseinandersetzung mit den psychischen Folgen von Rassismus musste ich mich zwangsläufig auch mit dem Thema Trauma beschäftigen. In

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Weitere Informationen zum Projekt unter https://adis-ev.de/empowerment/lokale-empower mentgruppen/talk

Rassismus als traumatisches Erlebnis: Implikationen für die Soziale Arbeit

der deutschsprachigen Wissenschaft werden Rassismus und Trauma bisher kaum zusammengedacht. Dabei erinnern die physischen und psychischen Symptome, die bei Menschen mit Rassismuserfahrungen beobachtet werden können, an traumabedingte Verhaltensweisen, zum Beispiel Bluthochdruck, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwierigkeiten Verpflichtungen einzuhalten, Hypervigilanz oder Ein- und Durchschlafstörungen, um nur ein paar zu nennen. (Vgl. Pascoe/Smart Richman 2009, Paradies 2016, Carter 2007: 37-41) Eines muss ich aber gleich zu Beginn sagen: Natürlich sind nicht alle Menschen, die Rassismuserfahrungen machen, automatisch traumatisiert. Viele wenden gute, also sogenannte adaptive Bewältigungsstrategien effektiv an. Trotz der langen Geschichte des Rassismus, des jahrhundertelangen Kolonialismus und der Unterdrückung, haben es viele BIPoC2 geschafft, einerseits ihre Ziele im Leben überwiegend zu verwirklichen und andererseits bedeutendes soziales und politisches Ansehen zu erreichen und immer noch gegen Rassismus anzukämpfen. (Vgl. Yeboah 2017: 152) Die psychische Widerstandsfähigkeit gegen rassistische Gewalt ist eine Tatsache, genauso wie die Tatsache, dass Menschen ihre traumatische Erfahrung auch überwinden und daran wachsen können.   MK: Ist Rassismus als Ursache von Traumata anerkannt?   TC: Nein, in den gängigen Klassifikationssystemen, dem in Deutschland gültigen ICD-10-GM3 und dem US-amerikanischen Pendant dazu, dem DSM -54 , wird Rassismus zunächst nicht als Ursache für eine Posttraumatische Belastungsstörung aufgeführt. Die Definition im ICD-10 spricht von Trauma als »Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen«, als »ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltend unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft.« (ICD-10-F43) Charakteristisch für ein Trauma ist, dass ein Widerspruch zwischen der subjektiv erlebten Gefahr und den eigenen Copingstrategien, also den Strategien des Umgangs, besteht. Die Bedrohung muss sich nicht zwangsläufig auf die eigene Person beziehen, auch der Verlust einer Bezugsperson oder das Miterleben einer traumatischen Situation kann eine Überlastung der persönlichen Bewältigungsmechanismen und somit eine Traumatisierung hervorrufen. (Vgl. Pausch/Matten 2018: 4) Dabei geht es stets

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Black subject, Indigenous and Person/People of Color. Selbstbezeichnung von Menschen mit Rassismuserfahrungen Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Ausgabe 10, German Modification Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Ausgabe 5

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um die individuelle Wahrnehmung und Bewertung der Ereignisse. Nicht jede*r reagiert auf dieselbe Belastung gleich und nicht jede*r ist traumatisiert. Wichtig ist, dass das Störungsbild der PTBS (Posttraumatischen Belastungsstörung) im Vergleich zu anderen Störungen, die in den Klassifikationssystemen gelistet sind, relativ jung ist und sich stetig verändert. Die Kriterien werden modifiziert und durch weitere ergänzt. Das bedeutet, dass auch die Definitionen im ICD und DSM nichts Statisches sind und deswegen auch hinsichtlich des Themas Rassismus Potenzial zur Veränderung vorhanden ist. Da die PTBS eine der wenigen Störungen ist – im ICD ist sie sogar die einzige –, bei der ursächliche Faktoren genannt werden, bietet sie allein dadurch schon eine Plattform für Diskussionen. Die ursächlichen Faktoren zu definieren, limitiert die Gruppe potenziell Traumatisierter dramatisch. (Vgl. Carter 2007: 31) Dadurch wird deutlich, dass die Symptome bei dieser Störung nicht allein im Zentrum stehen und die Selbsteinschätzung der Betroffenen beziehungsweise standardisierte Tests nicht dieselbe Relevanz wie bei anderen Störungen haben. Auffallend ist, wie gesagt, vor allem, dass die in den Definitionen beschriebenen Symptome den Folgen, Auswirkungen und Bewältigungsstrategien von Rassismuserfahrungen sehr stark ähneln. Trotzdem gelten ein Großteil der Rassismuserfahrungen, die BIPoC machen, nach den aktuellen Kriterien der Diagnosemanuale nicht als traumatisch, da sie nicht als mit »katastrophenartigem Ausmaß« oder als »Konfrontation mit dem Tod« (ICD-10-F43.1, Falkai & Wittchen 2015: 369) eingestuft werden. Ausnahmen wären nur körperliche Gewalttaten oder eine Abschiebung in Orte, in denen Gewalt und Folter droht. (Vgl. Velho 2011: 23) Das sehe ich kritisch. Die Psychologin Amma Yeboah, zum Beispiel, würde dahingegen sagen, dass alle Formen rassistischer Praktiken gewaltförmig sind, denn sie fordern BIPoCs dazu auf sich aus der sozialen Gemeinschaft zu entfernen […]. Die Botschaft lautet in jedem Fall: Du gehörst nicht in diesen sozialen Resonanzraum. Du bist (sozial) tot. Diese Botschaft ist ein Akt der Gewalt. Jede Erfahrung, aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, ist eine Gewalterfahrung und kann traumatisch wirken. (Yeboah 2017: 147) Sie begreift Rassismen nicht nur als gewaltvolle Botschaften, sondern geht sogar noch einen Schritt weiter und beschreibt, dass Traumata bestimmte Gene im Körper abschalten und aktivieren, so dass Zellen zugrunde gehen und damit chronische biologische Selbstzerstörungsprogramme aktiviert werden, welche sich zum Beispiel in Form von Depression oder Drogenmissbrauch zeigen können. (Vgl. Ebd.: 148) Die Aufnahme spezifischer Diskriminierungserfahrungen in die Definition der Klassifikationssysteme ist wichtig, weil sie erstens legitimiert, wer Zugang zu welchen Leistungen und Unterstützungsangeboten hat, und zweitens, weil auf ihnen

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ein Großteil der Forschung basiert. Anhand der Diagnosemanuale wird entschieden, wer Therapie bekommt und wer nicht. Sie haben also großen Einfluss auf die Wissenschaft, aber auch auf die Praxis, sodass es äußert relevant ist, ob Rassismus hier klar als Ursache formuliert wird. Mittlerweile gibt es aber einige Studien, die Rassismus als traumatisierend begreifen und dies begründen.   MK: Welche Studien gibt es denn zu Rassismus als Ursache von Traumatisierung?   TC: Robert T. Carter hat, denke ich, mit seinem Race-Based Traumatic StressModell einen entscheidenden Beitrag geleistet. Er versteht Traumatisierungen als Prozess und beschreibt, wie das Stresslevel bei Personen, die rassistischen Angriffen ausgesetzt sind, ansteigt – denn darum geht es im Endeffekt bei Traumata aufgrund von sich immer wiederholenden sogenannten (rassistischen) Mikroagressionen. So kann sich Langzeitstress oder eben sogar traumatischer Stress entwickeln. Es muss also nicht das eine überwältigende Ereignis sein, das nicht verarbeitet werden kann, es können auch ›kleine‹ alltägliche Erfahrungen sein, die sich akkumulieren. Deshalb kann es auch ein subtiles Ereignis sein, das das Fass zum Überlaufen bringt. Ohne ein Verständnis von Trauma als Prozess ist es natürlich schwer nachzuvollziehen, wieso ein vielleicht für andere eher kleines oder unbedeutendes Erlebnis so heftige Reaktionen bei Betroffenen auslösen kann. Oft wird unterstellt, dass sich Individuen gerade wegen des permanenten Auftretens rassistischer Aggression an den Stress gewöhnen könnten. Dies widerlegen Carter und auch andere Forscher*innen jedoch. Denn gerade, weil es alltägliche Situationen sein können, die das Trauma verursachen, ist Erholung kaum möglich. Trauma als Prozess zu verstehen, ist aber nichts Neues: In der Psychotraumatologie gibt es viele grundlegende Ansätze, die dies so sehen. (Vgl. Fischer/Riedesser 2009: 151) Nur in den gängigen psychiatrischen Klassifikationssystemen ist es nicht so. Aber Carter belegt, dass rassistische Gewalt als Stressor verstanden werden kann, was in der Stressforschung meist außer Acht gelassen wird, obwohl klar ist, dass Stressoren an die Rolle einer Person in sozialen Strukturen gebunden sind und innerhalb dieser auftreten. Rassismus ist ein Ungleichheitsmechanismus und muss in der Forschung zu Stress berücksichtigt werden. Außerdem finde ich den Ansatz von Dileta Fernandes Sequeira, die rassismusbedingte Traumata als soziale Begebenheiten in den Fokus nimmt, für die Praxis wichtig, weil hier noch einmal betont wird, dass Traumata eine soziale Dimension haben und damit die Heilungsprozesse nicht nur individuell stattfinden müssen, sondern sich auch oder vielleicht sogar vor allem auf einer zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Ebene abspielen müssen. Sie führt in ihrem Buch Gefangen in der Gesellschaft: Alltagsrassismus in Deutschland (2015) den Begriff des ›Verratstraumas‹ ein. Ein Verratstrauma geht von Fürsorge- und Bezugspersonen aus, also wenn es ein Abhängigkeitsverhältnis gibt. Sie bezeichnet dies als die komplexeste

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Form eines Traumas. Es kann sowohl aus einmaligen als auch mehrmaligen Vorfällen hervorgehen und von allen Personen ausgehen, die sogenannte Fürsorgepersonen sind und im täglichen Beziehungsumfeld der BIPoCs sind, also zum Beispiel Lehrer*innen, Nachbar*innen oder auch Busfahrer*innen. Diese können bewusst, aber auch unbewusst und unwillentlich rassistische Gewalt ausüben. Weil es ihre Aufgabe ist, für das Wohlergehen der Menschen, für die sie durch ihre Fürsorgeaufgaben verantwortlich sind, zu haften und sie oft auch in Machtpositionen sind, trifft solche Gewalt umso härter und die Wertesysteme der Betroffenen können zutiefst erschüttert und langfristig verändert werden. Zu dieser Abhängigkeit zwischen Betroffenen und Bezugs- beziehungsweise Fürsorgepersonen führt Sequeira das Beispiel der Busfahrer*innen auf: BIPoCs muss es möglich sein, in einen Bus zu steigen, ohne sich vorher informieren zu müssen, ob die*der Busfahrer*in ›in Ordnung‹ ist oder ob sie rassistische Gewalt erwarten müssen. Diesen Missbrauch von Vertrauen bezeichnet Sequeira als Verrat. Betroffene können die Beziehung nicht kappen und müssen eine Strategie des Aushaltens entwickeln. Je stärker und notwendiger diese Beziehung zu der Bezugsund Fürsorgeperson ist, umso eher versuchen BIPoCs, den Verrat nicht zur Kenntnis zu nehmen. Auch hier gibt es in der Psychotraumatologie ähnliche Konzepte. Fischer und Riedessers (2009) Idee eines ›Beziehungstraumas‹ ist dem ›Verratstrauma‹ beispielsweise sehr ähnlich. Nur Rassismen sind hier ebenfalls nicht berücksichtigt. Menschen mit einem Verratstrauma sind daher oft sehr wachsam und entwickeln ein sensitives Verhalten, um sich vor Rassismus in ihrem sozialen Umfeld zu schützen. Nach Sequeira lässt die rassistische Gewalt eine Diskrepanz zwischen dem davon betroffenen Individuum und der Mehrheitsgesellschaft entstehen. Um das Gefühl der Unmöglichkeit des Dazugehörens zu verdrängen und die Bindung zu Bezugspersonen nicht zu gefährden, müssen BIPoCs den Verrat ignorieren lernen. Nur so kann eine Bindung zur Gesellschaft aufrechterhalten und einer psychologischen Krise vorgebeugt werden. Das Ignorieren, kann jedoch auch dazu führen, dass rassistische Denk- und Bewertungsmuster internalisiert werden. In der Psychologie wird hier von Introjekten beziehungsweise Introjektion (vgl. Fernandes Sequeira 2015: 373-388) gesprochen: Teile der Täter*innen werden verinnerlicht, in diesem Fall die des weißen Mainstreams. Gerade diese Erkenntnisse sind meiner Meinung nach sehr wichtig, um neue ›Heilungsmethoden‹ und soziale Unterstützungsangebote zu entwickeln. Sequeira verdeutlicht außerdem, dass ein Verrat nicht nur auf einer interpersonalen Ebene stattfindet, sondern auch beispielweise aus der Struktur oder den Gesetzen eines Staates, also großen sozialen Kontexten, hervorgehen kann. Dass Rassismus, wie auch alle anderen Diskriminierungsformen, sich auch auf einer institutionellen und strukturellen Ebene entfalten kann, stellt einen Unterschied zu anderen Traumaursachen dar. Rassismus ist ein gesellschaftliches Machtver-

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hältnis, in dem wir alle agieren. Deshalb sind auch Bezugspersonen nicht frei davon und üben willentlich oder unwillentlich rassistische Gewalt aus. BIPoC sind demnach gezwungen, bei Menschen, die sie traumatisieren, trotzdem Vertrauen und Schutz zu suchen. Das Trauma ist eine soziale Begebenheit und lässt sich allein nicht bewältigen, die Heilung hat eine soziale Dimension. Professionelle, die mit durch häusliche Gewalt traumatisierten Frauen arbeiten, raten ihnen, sich von ihren gewalttätigen Männern zu trennen und die Bindung zu unterbrechen. Der traumatisierende Verrat durch Rassismen passiert in gesellschaftlichen Strukturen, aus denen es kein Entkommen gibt. Es gibt keine Möglichkeit die Gesellschaft zu verlassen. Dies ist einer der Hauptthesen des Buches von Sequeira, wie ja auch am Titel erkennbar wird. Zu Bedenken bei diesem Vergleich bleibt aber, dass das Verlassen des Partners nur eine momentane Befreiung aus der akuten häuslichen Gewalt bedeutet. Den sexistischen Strukturen der patriarchalen Gesellschaft wird dadurch nicht entflohen. Eine weitere wichtige Studie ist, wie ich finde, die von Thema Bryant-Davis und Carlota Ocampo, die eine ganz andere Herangehensweise wählen, um Rassismus und Trauma in Verbindung zu setzen. Sie schauen sich Ursachen an, die nach dem DSM als traumatisierend gelten, nämlich häusliche Gewalt und Vergewaltigungen, und vergleichen diese mit Rassismuserfahrungen. Dabei zeigen sie die Parallelen der drei Unterdrückungsformen auf. Die Autor*innen erklären, dass Vergewaltigungen und rassistische Übergriffe aus dem Bedürfnis, Macht auszuüben entstehen. Um Überlegenheit und die Privilegien zu rechtfertigen, werden Bilder beziehungsweise Zuschreibungen konstruiert. So wird Survivors5 von Vergewaltigungen zugeschrieben, dass sie promiskuitiv oder BIPoCs zugeschrieben, dass sie kriminell oder unzivilisiert seien. Wenn Täter*innen nicht zur Rechenschaft gezogen werden, können solche Denkweisen, also, dass die Frau* schuld sei, weil sie etwas Anzügliches anhatte oder den Täter zu sich nach Hause gelassen hat, oder dass BIPoCs rassistische Gewalt verdienten, weil sie arrogant oder kriminell seien, als legitim dargestellt werden. Täter*innen nicht zur Rechenschaft zu ziehen und manche Formen der Gewalt in Diskursen nicht eindeutig als Rassismus oder Vergewaltigung anzuerkennen, bringt die Survivors in die Lage, die Gewalt ›beweisen‹ zu müssen und sich zu rechtfertigen. Aus Angst davor, nicht ernst genommen zu werden oder davor, dass ihnen die Legitimität ihrer Erfahrung abgesprochen wird, kann es dazu kommen, dass sie schweigen. Dieses Schweigen hat negative Folgen auf die psychische Stabilität der Betroffenen. Survivors von rassistischer Gewalt und Vergewaltigungen entwickeln generell ähnliche Symptome auf psychischer und physischer Ebene. In der Gegenüberstellung führen die Autor*innen zum Beispiel auf, dass Survivors, also die ›Opfer‹, beider 5

Ich verwende hier den Begriff Survivor (deutsch: Überlebende*r), da im Englischen darin kein Geschlecht angezeigt wird im Gegensatz zum deutschen Wort.

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Unterdrückungsformen, Schwierigkeiten entwickeln können, Bindungen zu Personen aufzubauen, die sie an die Täter*innen erinnern und dazu tendieren, diesen Personen zu misstrauen. Auch das Leugnen und nachträgliche Herabspielen der Tat, was für Survivors eine Form der Bewältigung sein kann, ist eine interessante Parallele. So werden von den Survivors selbst häufig Aussagen getroffen wie ›Es war bestimmt nicht so gemeint‹, ›Es ist meine Schuld, weil ich …‹. Das Dissoziieren und Erstarren in der Situation, die Scham im Nachhinein und selbstverletzendes Verhalten sind weitere Parallelen. Ähnlich wie Sequeira führen auch Bryant-Davis und Ocampo Internalisierung als Folgeerscheinung auf. Bei einer Internalisierung des Rassismus oder Sexismus kann eine Ablösung der Survivors von ›ihresgleichen‹ stattfinden. Sie geben ihrer Herkunft oder ihrem Geschlecht die Schuld. Wichtig ist noch, zu verstehen, dass das Wissen allein, potenziell vergewaltigt zu werden oder Rassismus zu erfahren, eine sogenannte sekundäre Traumatisierung auslösen kann, welche auch Reaktionen wie Wut, Trauer oder Leugnen zur Folge haben kann. (Vgl. Bryant-Davis & Ocampo 2005: 489-490) Trotz der genannten Parallelen gibt es dennoch Unterschiede zwischen den Traumata aufgrund von Rassismuserfahrungen und denen durch Vergewaltigungen. Vergewaltigungen sind im Gegensatz zu rassistischen Übergriffen immer auch physische Gewalt. Gerade subtiler Rassismus ist schwer sachlich zu belegen oder mit Worten zu beschreiben, weshalb Betroffenen oft nicht geglaubt wird und sie in die Position geraten, sich umso mehr rechtfertigen zu müssen. (Vgl. Ebd.: 491) Ein weiterer Vergleich, den Bryant-Davis und Ocampo ziehen, ist der zwischen Rassismus und häuslicher Gewalt. Sie haben vor allem gemeinsam, dass sie keine einmaligen Ereignisse sind. Survivors müssen also mit der ständigen Angst vor einer nächsten Gewalterfahrung leben, wobei sie nie wissen, wann oder was passieren wird, und den Umfang der Auswirkungen nicht einschätzen können. Diese Dynamiken lösen bei Betroffenen Prozesse wie Scham, Angst, Verwirrung und das Gefühl von Machtlosigkeit aus. Oft geben sie sich selbst die Schuld für das Geschehene. Ihnen wird eingeredet, dass, wenn sie ihr Verhalten ändern, ihnen keine Gewalt mehr angetan werden würde. Die folgenden verzweifelten Versuche der Anpassung des eigenen Handelns äußern sich bei häuslicher Gewalt in dem Versuch die ›richtigen‹ Dinge zu tun oder zu sagen, und bei Rassismus zum Beispiel über den Versuch freundlich ›genug‹ zu sein, sich ›professionell‹ zu kleiden und hart ›genug‹ zu arbeiten. Bei Fortsetzung der Gewalt entsteht ein Gefühl der Macht- und Hilfslosigkeit. Wenn das Umfeld die Berichte über die Erfahrungen nicht glaubt oder nicht als gewaltvoll anerkennt, zweifeln Survivors oft an ihrer eigenen Wahrnehmung. Die Survivors geben sich nicht nur selbst die Schuld, die Täter*innen rechtfertigen ihr Verhalten auch dadurch, dass sie ihnen die Schuld zuschreiben. Sie begreifen sich selbst oft gar nicht als Gewalttäter*innen. Um ihre Opfer zu kon-

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trollieren, machen sie sie finanziell abhängig und isolieren sie von Hilfssystemen. So erhalten und entfalten sie ihre Macht. Bei rassistischer Gewalt auf struktureller und institutioneller Ebene zeigt sich der Versuch der Herstellung einer finanziellen Abhängigkeit beispielsweise in Form der Verweigerung von Wohnraum oder Krediten oder der Verwehrung von Arbeit. Rassismus und häusliche Gewalt werden von der Gesellschaft ähnlich aufgearbeitet beziehungsweise thematisiert. Beides wird in seiner Häufigkeit und in der Bandbreite der Auswirkungen heruntergespielt oder teilweise gar geleugnet. Bei einer Benennung der Gewalt wird den Barrieren (zum Beispiel die finanzielle Lage) der Survivors zu wenig Beachtung geschenkt, sodass sie für ihr Schicksal mitverantwortlich gemacht werden, weil sie beispielweise ihre*n Partner*in ›einfach verlassen‹ könnten (bei häuslicher Gewalt) oder ›mehr und härter arbeiten‹ sollten (bei Rassismus). Die Autorinnen bemerken hier, dass es leichter ist, die Folgen der Gewalt herunterzuspielen, als sich damit auseinanderzusetzen. Denn wenn die Häufigkeit von häuslicher Gewalt und Rassismus als traumatisch anerkannt werden würde, dann müsste auch mehr Geld in Forschung, Prävention und Hilfemaßnahmen fließen, welches dafür umverteilt werden müsste. (Vgl. Ebd.: 493-494) Unterschiede zwischen häuslicher Gewalt und Rassismus sind, dass normalerweise nicht eine romantische Beziehung zwischen den Täter*innen und Survivors von Rassismus besteht und, dass es bei häuslicher Gewalt meist ein*e Täter*in ist, wohingegen Rassismen von mehreren Personen ausgehen können. Was ich spannend finde, ist, dass Bryant-Davis und Ocampo in dieser Studie nicht nur die Auswirkungen von Rassismuserfahrungen in Form von ›Reaktionen‹ der Gewalt auf die Survivors untersuchen, sondern beispielsweise auch die Parallelen der Täter*innenmotivation oder Parallelen auf gesellschaftlicher Ebene. Sie machen deutlich, dass Vergewaltigungen, häusliche Gewalt und Rassismus alle auf dem Bedürfnis basieren, Macht auszuüben, und kommen durch ihre Belege zu dem Schluss, dass Rassismen als traumatisierende Ereignisse gelten müssen. Sie weisen außerdem darauf hin, dass Berater*innen sich über diese Auswirkungen von Rassismuserfahrungen bewusst sein müssen, damit Heilung stattfinden kann. Dafür entwickeln sie übrigens auch Handlungsempfehlungen.   MK: Warum wird Rassismus trotzdem nicht als traumatisch anerkannt?   TC: Vor allem wird Rassismus, wie bereits erwähnt, nicht explizit in den Diagnosemanualen als ursächlich thematisiert. Das kann natürlich daran liegen, dass der Diskurs noch sehr jung und auch nicht einheitlich ist. Es könnte aber auch zeigen, wie Rassismus sich auch im psychiatrischen Diskurs manifestiert. Wichtig ist außerdem, darauf hinzuweisen, dass die genannten Klassifikationssysteme ICD und DSM, und damit auch die jeweiligen Störungsbilder, in kolonialen Kontexten entstanden sind und unter anderem auch als Unterdrückungsmechanismus (vgl.

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Kutchins/Kirk 2003) fungiert haben (beziehungsweis fungieren). Es sollte also auch die Frage gestellt werden, ob die Diagnosemanuale, wenn sie selbst nicht frei von Rassismus sind, in der Lage sind, Rassismus und seine Auswirkungen abzubilden. Um neue Forschung möglich zu machen und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, wäre es natürlich gut und naheliegend, Rassismus als Ursache in die Diagnosemanuale aufzunehmen. Aber es gibt auch Fallstricke. Es besteht zum Beispiel die Gefahr, dass die Betroffenen als ›psychisch gestört‹ eingestuft werden und Rassismus, also die Ursache, vergessen wird. Somit würden BIPoCs pathologisiert werden. Es geht aber darum, den tatsächlich Traumatisierten beizustehen und gleichzeitig gesellschaftliche Machtverhältnisse zu analysieren und zu verändern.   MK: Was würde es den sozialpädagogischen Fachkräften bringen, wenn Rassismus als potentiell traumatische Erfahrung anerkannt würde?   TC: Ich denke, die Frage ist nicht nur, wie sie davon profitieren könnten, sondern es ist einfach der Auftrag der Sozialen Arbeit, rassismusbedingte Traumatisierungen auf dem Schirm zu haben. Wenn wir einen guten Job machen wollen, müssen wir als Professionelle auch Ahnung davon haben und dieses Wissen in unsere Praxis einbinden. Das ist auch unsere Verantwortung. Es ist wichtig in die Diskussion zu bringen, dass es der Auftrag der Sozialen Arbeit ist, sich mit Trauma und Traumatisierungen durch rassistische Gewalt zu beschäftigen und dies nicht mehr mehrheitlich im Feld der Psychologie und Psychiatrie zu verorten. Es ist die Aufgabe der Sozialen Arbeit, die Einschnitte in Gesundheit und Lebensqualität, die aus der traumatischen Gewalt von Rassismus hervorgehen, zu sehen, anzuerkennen, sichtbar zu machen und Survivors bei Heilung und Bearbeitung zu unterstützen. Außerdem ist Teil der Definition Sozialer Arbeit, dass sie gesellschaftlichen Wandel anstoßen und anstreben soll und somit geeignet ist, um Machtstrukturen zu thematisieren. (Vgl. DBSH 2014: 1ff.) Soziale Arbeit ist aber auch eine wissenschaftliche Disziplin und sollte mehr Forschung zu diesen Themen fördern, damit Erkenntnisse über Rassismus und Trauma Bestandteil sozialpädagogischen Wissens werden und in die Praxis transferiert werden. Brandmeier und Ottomeyer bringen es ganz gut auf den Punkt, wenn sie sagen: Die Gesellschaft und die professionellen Traumahelfer/innen sind herausgefordert, sich der Konfrontation mit Überlebenden dem Unfassbaren und Unsagbaren zu stellen, dieses als Realität anzuerkennen und sich nicht er- beziehungsweise abschrecken zu lassen. Es ist besonders schmerzhaft, auch in professionellen Hilfekontexten dem Leugnen der erlittenen Gewalt, blaming the victim oder Bagatellisierung zu begegnen. Therapeut/innen, Pädagog/innen und Sozialarbeiter/innen müssen gesellschaftliche Machtverhältnisse, eigene Privilegien und soziale Positionierungen sowie soziokulturelle Einstellungen reflektieren und sen-

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sibel für äußere Einflüsse (zum Beispiel Alltagsrassismus) sein. Dies hilft, Reaktionen auf Ungleichheiten und Widersprüche nicht zu individualisieren oder zu pathologisieren. (Brandmaier/Ottomeyer 2016: 348) Außerdem sehe ich in der Sozialen Arbeit die besten Voraussetzungen, sich dem Thema zu widmen. Dadurch, dass die Soziale Arbeit ganz andere zeitliche und örtliche Rahmenbedingungen hat als psychotherapeutische Settings, können Traumatisierungen außerdem früher erkannt und die sozialen Gegebenheiten beobachtet und einbezogen werden. Auch der Spielraum präventiv zu arbeiten ist größer, da die Soziale Arbeit einen flächendeckenden Zugang zu vielfältigen Zielgruppen hat und damit Menschen erreicht, die zwar unter traumatisierenden Rassismuserfahrungen leiden, aber vielleicht keinen Zugang zu psychiatrischen oder psychotherapeutischen Angeboten haben. Trauma ist eigentlich ein Begriff, der einen individuellen psychischen Prozess beschreibt, jedoch immer in Interaktion mit gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden muss. Der Sozialpsychologe David Becker führt dazu aus, dass auch wenn der Begriff »an den Rändern unscharf« ist, die medizinisch-psychologischen Ansätze aufzeigen, dass »individuelles Leid und soziales Leid miteinander verknüpft sein können« (Becker 2002: 68-69) Er schlägt darum eine Einteilung und Konkretisierung vor: Lassen Sie uns unterscheiden zwischen Trauma als individuellem Phänomen, traumatischen Situationen als sozialen Phänomenen und den Symptomen (die wiederum ein individuelles Phänomen sind). Lassen Sie uns außerdem anerkennen, dass bei einer bestimmten Art der Traumatisierung das wesentliche Thema die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind. (Ebd.) Daraus wird erkenntlich, dass durch Rassismus ausgelöste Traumata soziale Phänomene sind, also eine Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft besteht und sowohl persönliche als auch gemeinsame Erfahrungen darin eine Rolle spielen. Es ist also wissenschaftlich gesehen nicht ausreichend, das eine, ohne das andere zu betrachten. Wir müssen den Blick erweitern, um nicht nur das individuelle Leid zu sehen. Nur so können wir eine Sprache finden, um beispielsweise das Kappen von Beziehungen, das Verlassen von Familien oder das Ändern von Karriereplänen, nicht mehr als persönliches Versagen zu verstehen, sondern sie als Konsequenzen systemischer Gewalt zu begreifen. Unsere Gesellschaft sieht rassismusbedingte Traumatisierungen noch nicht in ihrer Komplexität, weil die Begriffe und in der Konsequenz natürlich auch die Handlungsstrategien fehlen. Wichtig zu wissen ist, dass im Fach der Erziehungswissenschaft bereits eine relevante Expertise, nämlich die der Traumapädagogik, existiert. Wesentlich sind dabei in Bezug auf Rassismus die drei Konzepte der Pädagogik des sicheren Ortes,

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der korrigierenden Bindungserfahrungen und der Pädagogik der Selbstbemächtigung, weil sie in Bezug auf die traumatischen Folgen von Rassismus Antworten und Handlungsorientierungen für die Soziale Arbeit liefern. Die Grenzen der Traumapädagogik zeigen sich aber darin, dass die meisten ihrer Ansätze Rassismus als Faktor nicht berücksichtigen. Das heißt es gibt schon Überlegungen, wie eine traumasensible Arbeit in pädagogischen Kontexten umgesetzt werden kann; das ist eine gute Basis. Meines Erachtens sollten diese Konzepte aber mit einer rassismuskritischen Perspektive überprüft und überarbeitet werden. Wenn es mehr Forschung zu traumatisierenden Rassismuserfahrungen gibt, werden sich neue Handlungsmöglichkeiten und Hilfemaßnahmen entwickeln, die dann aufgegriffen und in die Praxis übersetzt werden können. Es ist schwer oder gar unmöglich, Dinge zu sehen für die wir keine Sprache haben. Dadurch, dass die traditionellen (klassifikationssystembasierten) Definitionen von Trauma verkürzt oder sehr eng gefasst sind, ist unser Wissen über andere Traumaerfahrungen beschränkt. Uns ist es demnach noch nicht möglich, viele traumatische Erfahrungen, die Menschen machen, oder deren Auswirkungen zu sehen. Wenn die traumatischen Auswirkungen und Folgen von Rassismuserfahrungen kaum bis gar nicht in der Fachliteratur oder in anderen sozialpädagogischen Diskursen thematisiert werden, kann da ein professionelles Handeln möglich sein? Kann so angemessen mit Adressat*innen kooperiert werden, oder besteht gar die Gefahr einer Retraumatisierung durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit? Trotz allem muss ich sagen, Rassismus als traumatisch zu konzeptualisieren ist nicht zwingend notwendig, um die gravierenden Auswirkungen dieser Form von Gewalt zu sehen und zu verstehen. Welche Auswirkungen rassistische Gewalt haben kann, ist vielen klar. Mit traumaspezifischen Begriffen kann die Wirkungsweise von Rassismus aber noch aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Es lässt sich dadurch vielleicht besser nachvollziehen, wie groß die innere Verwundung ist und dass subtile, alltägliche Ereignisse Traumata triggern können. Wenn ich mir nochmal das vorhin erwähnte Beispiel von dem Mädchen vor Augen führe, das mir von ihren rassistischen Erfahrungen in der Schule berichtete, muss ich sagen, dass mit einer rassismuskritischen und traumapädagogischen Grundhaltung der Fachkräfte, der Jugendlichen viel Leid erspart worden wäre – und anderen Jugendlichen sicher auch.

Literatur Amirpur, Katajun (2006): Alltag zwischen Angst und Hass. Eine Familie in Bagdad. Freiburg: Herder Verlag. Becker, David (2002): »Interview mit Dr. David Becker. Flüchtlinge und Trauma.«, in: Projekttutorien ›Lebenswirklichkeiten von Flüchtlingen in Berlin‹/›Behör-

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den und Migration‹ (Hg.) (2003), Verwaltet, entrechtet, abgestempelt – wo bleiben die Menschen? Einblicke in das Leben von Flüchtlingen in Berlin, Berlin: FU Berlin, S. 67-73. Brandmaier, Maximiliane/Ottomeyer, Klaus (2016): »Trauma und Gesellschaft. Zum Verhältnis von Bewältigung und Anerkennung«, in: Wilma Weiß/Silke Birgitta Gahleitner (Hg.), Handbuch Traumapädagogik, Weinheim/Basel: Beltz Verlag, S. 342-350. Bryant-Davis, Thema/Ocampo, Carlota (2005): »Racist Incident-Based Trauma«, in: The Counseling Psychologist 33, S. 479-500. Carter, Robert T. (2007): »Racism and Psychological and Emotional Injury. Recognizing and Assessing Race-Based Traumatic Stress«, in: The Counseling Psychologist 35, S. 13-105. Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. (DBSH) (2014): »Kommentar zur ›Global Definition of Social Work‹«, in: DBSH.de, www.dbsh.de/fileadmin/downloads/2014_DBSH_Dt_ %C3 %9Cberset-zung_Kommentar_Def_SozArbeit_02.pdf vom 16.12.2018. Falkai, Peter/Wittchen, Hans-Ulrich (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, Göttingen: Hogrefe Verlag. Fernandes Sequeira, Dileta (2015): Gefangen in der Gesellschaft. Alltagsrassismus in Deutschland. Rassismuskritisches Denken und Handeln in der Psychologie, Marburg: Tectum Verlag. Fischer, Gottfried/Riedesser, Peter (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie, München: Ernst Reinhardt Verlag. Jagusch, Birgit/Sievers, Britta/Teupe, Ursula (2012): Migrationssensibler Kinderschutz. Ein Werkbuch, Frankfurt a.M.: Walhalla Fachverlag. Kutchins, Herb/Kirk, Stuart A. (2003): Making Us Crazy. DSM: The Psychiatric Bible and the Creation of Mental Disorders, New York: Free Press. Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit, Münster: Waxmann Verlag. Pausch, Markus J., & Matten, Sven J. (2018): Trauma und Traumafolgestörung in Medien, Management und Öffentlichkeit, Wiesbaden: Springer Fachmedien. Paradies, Yin (2016): Racism and Health, Melbourne: Elsevier Inc. Pascoe, Elizabeth & Smart Richman, Laura (2009): »Preceived discrimination and health. A meta-analytic review«, in: Psychological Bulletin Jul., S. 531-554. DOI: 10.1037/a0016059 Velho, Astride (2011): »Un/Tiefen der Macht. Auswirkungen von Rassismuserfahrungen auf die Gesundheit, das Befinden und die Subjektivität. Ansätze für eine reflexive Berufspraxis«, in: Antidiskriminierungsstelle für Menschen mit Migrationshintergrund (AMIGRA) (Hg.), Alltagsrassismus und rassistische

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Diskriminierung. Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit, München: Direktorium Landeshauptstadt München, S. 12-39. Yeboah, Amma (2017): »Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland«, in: Karim Fereidooni/Marela El: Rassismuskritik und Widerstandformen (Hg.), Wiesbaden: Springer Fachmedien, S. 143-161.

Ist Armut Diskriminierung? Ein Diskussionsbeitrag für die Soziale Arbeit Lena Hezel

Dieser Diskussionsbeitrag schafft eine Verbindung zwischen theoretischen Überlegungen einerseits und Erfahrungen aus der sozialarbeiterischen Praxis der stationären Jugendhilfe und der feministischen Mädchen*arbeit andererseits, in der mir Armut immer wieder als zentrales Thema begegnet. Insbesondere in der Praxis zeigt sich deutlich, dass Armut zu Ausgrenzung und Chancenungleichheit führt – nicht nur durch materiellen Mangel, wie im Folgenden aufgezeigt werden wird. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Armut damit als eine Form der Diskriminierung1 gefasst werden kann, oder ob dies nicht ein vereinfachter und unzureichender Schluss ist. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist ein Workshop, den ich vor kurzem im Rahmen einer Tagung zu antidiskriminierender Mädchen*arbeit besucht habe. Der Workshop trug den Titel »Armut ist Diskriminierung!« und bot eine Einführung in das Thema Klassismus, also Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Das Konzept Klassismus ist bisher im deutschsprachigen Raum wenig verbreitet. Die historischen Entstehungsbedingungen dieses Ansatzes liegen in den sozialen Bewegungen der USA in den 1970er Jahren und stehen damit in einer Traditionslinie mit sozialen Kämpfen gegen Rassismus und Sexismus sowie der Theoriebildung zur Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen2 . Bestehende Klassismusmodelle unternehmen den Versuch, klassenbezogene Ungleichbehandlungen, meist in Form von Abwertungs- und Ausschlussprozessen die sich gegen Arbeiter*innen oder Arme richten, als klassistische Diskriminierung zu beschreiben. (Vgl. beispielsweise Barone 1998, 1999; Kemper/Weinbach 2016) Diese Ansätze weisen neben einigen Widersprüchen, Schwächen und Unklarheiten auch Potenziale

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Im Verlauf dieses Beitrags wird das Verständnis von Diskriminierung, welches dem Klassismus-Diskurs zugrunde liegt, ausdifferenziert, analysiert und einer Kritik unterzogen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass eine intersektionale Verschränkung von Klasse, vor allem in der sozialarbeiterischen Praxis, immer mitgedacht werden sollte, der Übersicht und Schwerpunktsetzung wegen in diesem Beitrag aber nicht weiter ausgeführt wird.

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auf, die im Verlauf dieses Beitrags aufgezeigt und auf ihre Übertragbarkeit auf eine sozialarbeiterische Alltagspraxis hin ausgelotet werden. Ich vertrete in diesem Beitrag – in Anknüpfung an eine Reihe anderer Theoretiker*innen (vgl. Baron 2014, Bewernitz 2009, Friedrich 2011, Nowak 2011) – die Position, dass Armut und Klassenverhältnisse reale sozio-ökonomische Phänomene sind, die ihren Ursprung in der materiellen Basis der Gesellschaft, also der kapitalistischen Produktionsweise haben. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass klassistische und diskriminierende Ideologien, Diskurse und Alltagspraxen für die Reproduktion dieser Verhältnisse keine Rolle spielen. Sie erfüllen die Funktion, so meine These, die bestehende Klassengesellschaft zu stabilisieren und hegemonial abzusichern, indem sie das durch sie erzeugte Leid legitimieren und rationalisieren und die Verantwortung dafür von den gesellschaftlichen Strukturen auf das Individuum übertragen. Chuck Barone vertritt mit seinem Modell, in dem er die Klassenunterdrückung auf verschiedenen Ebenen analysiert, einen ähnlichen Ansatz, (vgl. Barone 1998, 1999) auf den später ausführlicher eingegangen wird. Welche Zusammenhänge und Mechanismen bestehen nun zwischen ökonomisch basierten Klassenverhältnissen und Diskriminierungs- und Abwertungsprozessen, beispielsweise gegenüber Armen, Arbeits- oder Wohnungslosen? Wo begegnen uns entsprechende Zuschreibungen und welche Rolle spielen diese Klassenverhältnisse und klassistischen Diskriminierungen in der (sozialarbeiterischen) Praxis? Und schließlich: was tun? Wo lassen sich Anknüpfungspunkte für die Soziale Arbeit formulieren und was können wir in der ganz konkreten sozialarbeiterischen (Alltags-)Praxis umsetzen? Diesen Fragen widmet sich der nachfolgende Beitrag.

Klasse und Klassismus: Eine Bestandsaufnahme Die Begriffe ›Klasse‹ und ›Klassenkampf‹ sind bereits im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entstanden und bilden den politisch-ideologischen Kerngedanken der Arbeiter*innenbewegung.3 Das Konzept des Klassismus ist dagegen deutlich jünger. Die erste Erwähnung findet der Begriff ›Classism‹ 1974 in Texten der Lesben-Gruppe The Furies, (Bunch/Myron 1974) die damit ihre Benachteiligung als Arbeiter*innen- oder Farmer*innentöchter zum Thema machten. Der US-amerikanische Ökonom Chuck Barone ist einer der wenigen, der sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit Klassismus befasst hat. Er entwickelte Ende der 1990er Jahre ein Mehrebenen-Modell zur Analyse von klassenbeding3

Karl Marx und Friedrich Engels forderten im Kommunistischen Manifest von 1848 den Klassenkampf des internationalen Proletariats, der Arbeiter*innenklasse, als Mittel zur Überwindung des Kapitalismus.

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ter Ungleichheit und Unterdrückung. (Vgl. Barone 1998, 1999) Barone unternimmt den Versuch, das Verständnis der politischen Ökonomie der Klassengesellschaft zu erweitern, indem er Klassenunterdrückung als ein soziales System beschreibt, welches auf unterschiedlichen Ebenen wirksam wird. Mit diesem Modell lassen sich die Auswirkungen der strukturellen Klassenunterdrückung auf das alltägliche Leben analysieren und Zusammenhänge herstellen: It will examine how people come to occupy their class roles; how they learn their particular class outlook, mannerisms, behavior, and culture; and how the personal and social dynamics of class oppression are related to the larger macrostructures of class oppression and exploitation. (Barone 1998: Abstract) Die kapitalistische Klassengesellschaft, die die Unterscheidung in besitzende und nicht besitzende Klassen hervorbringt, konstituiert sich durch das Privateigentum an Produktionsmitteln und eine hierarchische Arbeitsteilung. Barone definiert Klassismus als die systematische Unterdrückung von einer Gruppe durch eine andere, basierend auf ökonomischen Unterschieden oder genauer: aufgrund der jeweiligen Stellung im Produktionsprozess. Die Basis von Klassismus ist also eine ökonomische, aber »the capitalist mode of production requires a capitalist system that includes a set of noneconomic institutions and culture to make it work.« (Barone 1998: 13) Zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung wirken also vielfältige Mechanismen auf unterschiedlichen Ebenen: Like any other oppression, classism exists because people ›agree to‹ play by the rules. When people decide not to play by the rules or try to change the rules, they are confronted by a range of social responses from normative peer pressure to intervention by legal authorities to threats and use of physical violence by the dominant classes or those who act on their behalf such as the police or militia. The so-called ›power‹ of the dominant classes rests upon this structure of rules, the ideology of classism, and the threat or use of violence. (Barone 1998: 10) Triebfedern für die Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft sind Profitmaximierung und Ausbeutung auf der Makroebene und Konkurrenz, Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg und internalisierte (Selbst-)Zuschreibungen auf der intergruppalen und individuellen Ebene. Hierzu zählen zum Beispiel generalisierte Annahmen darüber, Menschen aus der Arbeiter*innenklasse seien weniger intelligent, unzivilisiert, untalentiert und faul. Damit wird die Verantwortung für Erfolg oder Scheitern in der Leistungsgesellschaft auf einer ideologischen Ebene ganz den Individuen zugeschrieben und die Gesellschaftsordnung und die damit einhergehende Ungleichheit scheint legitim und gewissermaßen verdient: In the U.S. it is a cultural belief in the ideology of individual achievement, the myth of meritocracy, where anyone can make it if they work hard, that individuals rise

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on the basis of their own effort and ability. Success honors those who make it and failure stigmatizes those who fail. (Barone 1998: 16-17) Im deutschsprachigen Raum finden der Klassenbegriff und das Konzept Klassismus erst seit wenigen Jahren überhaupt Beachtung in der wissenschaftlichen Debatte. Unter den wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen ist insbesondere der Einführungsband von Andreas Kemper und Heike Weinbach (2016) zu nennen, dessen erste Auflage 2009 erschien. Dieses Bändchen liefert immer noch die ausführlichste Darstellung, auch wenn es mittlerweile vereinzelte weitere Veröffentlichungen im Themengebiet Klassismus gibt.4 Die Autor*innen begreifen Klassismus als »ein System der Zuschreibung von Werten und Fähigkeiten, die aus dem ökonomischen Status heraus abgeleitet oder besser: erfunden und konstruiert werden.« (Kemper und Weinbach 2016: 17) Auch sie nehmen damit die ökonomische Stellung im Produktionsprozess zum Ausgangspunkt und ergänzen, es gehe »immer auch um die Aberkennungsprozesse auf kultureller, institutioneller, politischer und individueller Ebene« (ebd.: 13) und schreiben Klassismus wie Barone eine systemstabilisierende Funktion zu. (Vgl. ebd.: 19)

Leerstellen, Kritik und Potenziale Dem Konzept Klassismus fehlt es bisher an begrifflicher Schärfe, klaren Definitionen und einem einheitlichen Verständnis.5 Zum einen liegt das an der unscharfen Verwendung des Klassenbegriffs in den deutschsprachigen Publikationen zu Klassismus: Kemper und Weinbach verzichten in ihrer Darstellung bewusst auf klare Definitionen und plädieren dafür, Klasse erstens als »horizontalen Begriff«, ohne starke »Oben-Unten-Dichotomien« (ebd.: 26-27) zu interpretieren: in ihrem Verständnis stehen verschiedene Klassen im Widerspruch nebeneinander. Zweitens nehmen sie von der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Schärfung der Begriffe explizit Abstand, wenn sie schreiben, es gehe »in erster Linie um die Beschreibung der Phänomene von Klassismus und die Sensibilisierung für neue Sehweisen, weniger um begriffliche Schärfe und starre Definitionen.« (Ebd.: 14-15) Die Unklarheiten in der Klassismus-Diskussion sind so weitreichend, dass es sogar unterschiedliche Annahmen darüber gibt, ob es sich bei Klassismus ausschließlich um 4

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Für eine Übersicht über Literatur und Angebote zum Thema Klassismus (vgl. Kemper 2016: 22-24) und KJP-Fachgruppe »Für soziale Gerechtigkeit, gegen Ausgrenzung und Rassismus« beim Bundesarbeitskreis ARBEIT UND LEBEN (2019). Zur Kritik an Klassismus und deren Entgegnungen. (Vgl. ausführlich insbesondere Bewernitz 2009, Nowak 2011, Friedrich 2011, Baron 2014, Kemper 2014, Kemper 2015, Birkner 2015, Bewernitz 2016, Kemper 2016: 11-12)

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eine Top-Down-Praxis, also einer Diskriminierung von oben nach unten handelt, oder ob nicht auch Wohlhabende ›von unten‹ diskriminiert werden könnten. (Vgl. Bundeskoordination Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage 2017) Auf der Basis eines machtkritischen Diskriminierungsbegriffs, (vgl. Kechaja und Foitzik in diesem Band), kann hier allerdings nicht von Diskriminierung gesprochen werden, da nur Machtüberlegene wirksame Diskriminierungen ausüben können. Außerdem fällt auf, dass bei den genannten Autor*innen auch begriffliche Abgrenzungen weitgehend ausbleiben, das heißt dass Begriffe unterschiedlicher Konnotation synonym verwendet werden und dadurch eine analytische Schärfe verhindert wird: Kemper nutzt beispielsweise Diskriminierung und Unterdrückung sinngleich und subsumiert darunter in Anlehnung an Iris M. Young (1996) auch Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt, Macht und Kulturimperialismus. (Vgl. Kemper 2016: 6) Aus den beschriebenen terminologischen Unschärfen ergeben sich letztlich stark voneinander abweichende Analysen und damit weitreichende Folgen für praktische Ansätze.

Sind Klassen konstruiert? Wie Christian Baron (2014) herausstellt, lässt sich eine methodologische Schwäche bisheriger Klassismus-Konzepte darin finden, dass Klassen – anknüpfend an die Theorietradition des Poststrukturalismus – vor allem als (sprachliche) Konstruktionen aufgefasst werden: Dahinter verbirgt sich das verkürzte Verständnis, nach dem es die Sprache sei, die Realität schaffe. Hier findet ein Transfer aus der kritischen Rassismus-Forschung statt, in der Rassen als Konstruktionen analysiert werden. Doch diese Analogie funktioniert nur, wenn Klasse als ebenso konstruiert gilt wie Rasse. Klassen jedoch sind in erster Linie analytische Kategorien, die Aussagen über Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Systems treffen […]. (Baron 2014: 229) Folgt man einem konstruktivistischen Konzept von Klasse, so liegt als Praxisansatz im Sinne einer antiklassistischen Intervention die Dekonstruktion von sprachlichen Ausdrucksweisen nahe, die beispielsweise Hierarchien anzeigen oder Individuen eine bestimmte Klassenzugehörigkeit zuschreiben (zum Beispiel in der Vermeidung des Begriffs Unterschicht). Kemper und Weinbach konstatieren diesbezüglich: »Dekonstruktion heißt, die Konstruiertheit von etwas aufzuzeigen und gegebenenfalls in der Praxis unerwartet neu zu konstruieren.« (Ebd.: 27) Wie genau das funktionieren soll, bleibt offen. Damit kann möglicherweise ein Beitrag zur Ablösung abwertender Bezeichnungen geleistet werden, »die mit der Klassenzugehörigkeit einhergehenden materiellen Konsequenzen werden damit aber nicht beseitigt, sondern verschleiert.« (Baron 2014: 230) Es muss also darum gehen, Klas-

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sen nicht als bloße Konstrukte aufzufassen, da man dabei Gefahr läuft deren realökonomisches Existenzfundament systematisch auszublenden. Auf eine weitere Schwierigkeit in Bezug auf einen Klassenbegriff, der die ökonomischen Verhältnisse aus dem Blick verliert, weist Bewernitz hin: Die Klassismus-Kritik entkoppelt den Klassenbegriff von der Arbeit und koppelt ihn dafür an eine vermeintlich klassenspezifische Kultur (etwa: Kemper 2015: 29). Oftmals ist diese Abkopplung sogar sehr dezidiert eine Kritik an einem vermeintlichen ›Ökonomismus‹ und der damit einhergehenden Zentralität des Begriffs der Arbeit. (Bewernitz 2016: 3) Damit geht die Gefahr einher, Klassen eine vermeintliche kollektive Kultur zuzuschreiben, der sie angeblich deterministisch unterworfen seien, und so aus bestimmten Verhaltensmustern Definitionsmerkmale einer gemeinsamen Klasse zu konstruieren. Damit wird die Klassenzugehörigkeit zu einer essentialistisch gefassten kulturellen Identität und der Klassenbegriff wird gewissermaßen »von den Marxschen Füßen auf den Bourdieuschen Kopf gestellt«; (Bewernitz 2009) gleichzeitig erscheint die Arbeiter*innenklasse durch einen »entmächtigten Opferstatus« (ebd.) rein passiv. Mit dieser Reduktion des Klassenbegriffs auf ein kulturalistisches Verständnis entsteht der Eindruck, die Arbeiter*innenklasse konstituiere sich durch eine kollektive Kultur und nicht durch die Tatsache, dass sie arbeiten muss, weil sie selbst keine Produktionsmittel besitzt. Gleichzeitig wird der Klassenbegriff häufig synonym mit dem Begriff der ›Unterschicht‹ verwendet. Damit wird das Konzept der Arbeiter*innenklasse, die im Marx’schen Sinne alle Menschen einschließt, die keine Produktionsmittel besitzen und damit auf Lohnarbeit angewiesen sind – also die große Mehrheit der Gesellschaft – eingeengt auf eine soziale Minderheit, die besonders von Armut und Ausgrenzung betroffen ist. In der Folge sind Begriffe wie ›Ausbeutung‹ und ›Unterdrückung‹ zwar mit Blick auf diese Minderheit anwendbar, der Teil der Arbeiter*innenklasse, der von seinem Lohn einigermaßen leben kann und nicht auf Hartz IV oder andere Sozialleistungen angewiesen ist, wird aber vollständig aus der Analyse ausgeklammert. Zusätzlich gerät aus dem Blick, wie vielfältig und divers die Arbeiter*innenklasse in ihrer realen Zusammensetzung ist. Zusammenfassend lässt sich anmerken, dass eine Dekonstruktion der Arbeiter*innenklasse auf einer rein sprachlichen oder kulturellen Ebene ohne eine tatsächliche soziale und ökonomische Veränderung, nicht zu einem Prozess der Aufhebung der Klassenverhältnisse – und damit auch von Armut – beiträgt.

Lobbyarbeit oder Antikapitalismus? Sebastian Friedrich (2011) und Peter Nowak (2011) greifen einen wichtigen Punkt auf, der sich insbesondere auf die Anknüpfungspunkte für die Praxis bezieht. Bei-

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de Autoren weisen darauf hin, dass Klasse nicht nur hinsichtlich ihrer Reproduktion analysiert werden darf: Die Klassenunterdrückung ist zwar nicht von ihrer Reproduktion durch Institutionen, Handlungen und Diskurse zu trennen, aber sie ist eben auch Grundlage des Kapitalismus. Nowak bringt das uneinheitliche Verständnis von Klassismus folgendermaßen auf den Punkt: Wer unter Klassismus den Ausschluss von materiellen Ressourcen und Partizipation versteht, strebt, wie die Furies, eine Änderung dieser Verhältnisse an. Wer unter Klassismus hingegen die Verweigerung von Respekt und Anerkennung gegenüber Menschen mit ihren Rechten, Lebensweisen und Vorstellungen versteht, muss nichts dagegen haben, dass Menschen arm und beispielsweise gezwungen sind, Flaschen zu sammeln. Nur sollten das bitte auch alle respektieren. Aus einem Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen und Macht in einer Gesellschaft wird die Sorge, dass auch diejenigen, die wenig oder keine Ressourcen haben, respektiert werden sollen. (Ebd. 2011) Dementsprechend könne nicht dabei stehen geblieben werden, Lobbyarbeit zu machen oder Antidiskriminierungskämpfe zu führen, sondern es sollte darum gehen, das System in Frage zu stellen, welches die soziale Ungleichheit hervorbringt, anstatt sich maximal für die Abmilderung der gesellschaftlichen Unterdrückung einzusetzen. Es ist aus dieser Perspektive unumgänglich, die ökonomische Basis der Klassenverhältnisse in den Blick zu nehmen, um nicht Gefahr zu laufen, ein Verständnis von Klassismus zu entwickeln, in dem es vorrangig um die Analyse von Diskursen und Zuschreibungen geht. Dabei muss auch klar definiert werden, wo genau Klassismus beginnt: Bestehende Ansätze differenzieren nicht oder nur unzureichend zwischen dem real-ökonomischen Fundament, reproduzierenden Zuschreibungen und ideologischen Diskursen, die bestehende Ungleichheiten legitimieren und aufrechterhalten; stattdessen fassen sie alle drei Aspekte schwammig unter dem Begriff ›Klassismus‹ zusammen. In der trennschärferen Ausarbeitung des Theoriekonzepts liegt eine Herausforderung für zukünftige KlassismusAnalysen.

Potenziale und Ansatzpunkte für die Soziale Arbeit? Trotz der formulierten Schwächen und Unschärfen bleibt zu betonen, dass es grundsätzlich zu begrüßen ist, dass das Thema Klasse und klassenbezogene Ungleichheit (erneut) Eingang in Wissenschaft, Theoriebildung und Praxis findet. Hier liegen Möglichkeiten und Potenziale, die es – insbesondere hinsichtlich einer praktischen Anwendung – weiter auszuloten gilt. Wie kann es also gelingen, das Thema Klassismus gewinnbringend in das Feld der Sozialen Arbeit einzubringen? Zum einen muss es darum gehen, das Klassismuskonzept zu schärfen und weiter auszuformulieren, um es sinnvoll einbringen und nutzen zu können. Ansatz-

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punkte dafür können Verbindungen von politischer Ökonomie mit Armuts- und Diskriminierungsforschung sowie intersektionalen Analysen sein. Blickt man auf die Profession der Sozialen Arbeit, eröffnen sich weitere Spannungsfelder: Welche Rolle spielt die Soziale Arbeit selbst bei der Reproduktion von klassenbezogener Ungleichheit? Welche blinden Flecken gilt es zu beleuchten? An welchen Stellen ist Soziale Arbeit sogar (unmittelbar) daran beteiligt, Ungleichheitsstrukturen aufrecht zu erhalten und zu legitimieren? Welche Ansätze lassen sich angesichts der Verwobenheit der Sozialen Arbeit mit institutionellen Strukturen überhaupt weiterdenken? Es geht also in gewisser Weise darum, ein ›Klassenbewusstsein‹ zu entwickeln – ein individuelles für uns Sozialarbeitende einerseits, in dem wir unsere eigene Verstrickung in die Klassenverhältnisse erkennen und reflektieren – und eines für die Profession der Sozialen Arbeit andererseits, die ihre eigene Rolle in der Klassengesellschaft kritisch reflektieren muss. Als Grundlage und Orientierungsrahmen für letzteres kann die globale Definition der Sozialen Arbeit herangezogen werden, die der internationale Zusammenschluss der Profession Sozialer Arbeit (International Federation of Social Workers) in seiner Generalversammlung im Juli 2014 verabschiedet hat: Darin heißt es: »In Solidarität mit den Benachteiligten strebt der Beruf danach, die Armut zu lindern, die Schwachen und Unterdrückten zu befreien und die soziale Eingliederung und den sozialen Zusammenhalt zu fördern.« (International Association Of Schools Of Social Work 2014) Liest man dieses Kernmandat der Profession, scheinen die Ziele nicht weit von denen der Kämpfe gegen klassenbezogene Ungleichheit entfernt zu sein. Es bleibt jedoch die große Herausforderung, diese Kämpfe auch tatsächlich in die Praxis zu übertragen. Welche Potenziale sich für die sozialarbeiterische Alltagspraxis eröffnen, ist Gegenstand der nachfolgenden Abschnitte. Sie sollen nicht als fertiges Konzept, sondern als ein erster Aufschlag und als Ideensammlung zum Diskutieren und Weiterdenken gelesen werden.

Klassenbezogene Ungleichheit und Soziale Arbeit Eine Übertragung des Konzepts Klassismus in die sozialarbeiterische Praxis steht bisher weitgehend aus. Wie bereits eingangs erwähnt findet das Thema in Deutschland seit kurzem zögerlich Beachtung im Kontext von intersektionalen Antidiskriminierungs-Workshops, Social-Justice-Trainings und Fortbildungen für Pädagog*innen, auch wenn ›Klasse‹ in diesem Kontext nach wie vor eine unterbelichtete Kategorie ist. Dies mag verwundern, wenn man sich vor Augen führt, wie sehr die ökonomische Lage unser Leben beeinflusst: Sie bestimmt wer in welchem Stadtteil wohnt, welche Schule besucht und welche Abschlüsse erreicht werden, die Art wie gesprochen wird, welche Ausbildungen absolviert und welche

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Restaurants besucht, in welchen Läden eingekauft wird, wie mobil jemand ist, wie gesund, welche medizinischen Leistungen zugänglich sind, welche Lebenserwartung jemand hat und vieles mehr. Im Folgenden werden einige Beispiele benannt, um aufzuzeigen, welche Tragweite klassenbezogene Diskriminierungen haben, welche Formen sie annehmen können und welche Schnittpunkte es zu sozialarbeiterischen Handlungsfeldern gibt.

Ungleiche Bildungschancen: Jede*r ist ihres*seines Glückes Schmied? In Deutschland ist es nach wie vor so, dass der Bildungserfolg über alle Altersstufen hinweg stark von der sozialen Herkunft abhängt.6 Dabei haben Kinder aus akademischen Haushalten – bei gleicher Lesekompetenz und gleichen kognitiven Grundfähigkeiten – eine zweieinhalbmal so hohe Chance nach der Grundschule eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als Kinder von Facharbeiter*innen. (Vgl. Böckler Impuls 2011:2) Dass sich diese ungleichen Voraussetzungen im weiteren Bildungswettbewerb nach der Grundschule über die weiterführende Schule bis hinein ins betriebliche Ausbildungssystem und in die Hochschulen fortsetzt, ist hinlänglich bekannt. (Vgl. bspw. Hopf 2011) Neben strukturellen Barrieren spielen auch Einstellungen, Haltungen und Vorurteile von Lehrpersonen und anderen Entscheidungsträger*innen eine große Rolle, wie sich am Beispiel der sogenannten ›Kevin-Studie‹ (Kaiser 2009) verdeutlichen lässt: Erziehungswissenschaftler*innen der Universität Oldenburg konnten zeigen, welche Assoziationen in Bezug auf Verhalten, Persönlichkeit und Leistungsstärke von Schüler*innen aufgrund ihrer Vornamen beim Lehrpersonal hervorgerufen werden. Während Namen wie Sophie, Hannah, Alexander, Lukas oder Charlotte mit Leistungsstärke, unauffälligem Verhalten und Freundlichkeit in Verbindung gebracht werden, gelten Schüler*innen mit Namen wie Mandy, Maurice, Angelina, Justin, Chantal oder eben Kevin von vornherein als leistungsschwach und verhaltensauffällig. Tatsächlich ging aus einem Fragebogen der Satz hervor: »Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose!« (Ebd.: 3) 54,4 % der befragten Lehrer*innen benannten ohne jede Vorgabe Kevin als den Vornamen mit den negativsten Assoziationen, gefolgt von Justin (21 %), Dennis (10,6 %), Marvin (10,0 %) und Jacqueline (9,2 %). Die Forscher*innen verweisen auf eine Reihe von Studien, die den Wirkungszusammenhang von Vorbehalten und Bewertungsverhalten im pädagogischen Alltag belegen. (Vgl. ebd.: 2) Aus der Namensforschung sei zudem bekannt, dass Namen schichtspezifisch vergeben werden, so die Autor*innen. Folglich lässt

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Hierzu gibt es zahlreiche Untersuchungen, beispielhaft seien genannt: Böckler Impuls (2011), Holz/Laubstein/Sthamer (2012), AGJ – Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (2017).

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sich festhalten, dass unreflektierte Vorurteile und Vorannahmen sowie daraus resultierende unterschiedliche Erwartungshaltungen bei Lehrpersonen letztlich negative Folgen auf die Notengebung von Kindern aus den unteren Schichten haben. Dies kann als empirischer Beleg dafür interpretiert werden, wie sich klassenbezogene Zuschreibungen institutionell niederschlagen und damit aktiv zur Reproduktion bestehender Klassenverhältnisse beitragen.

Rechtliche Lage: Vor dem Gesetz ist jede*r gleich? Eine juristische Ungleichbehandlung von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft zeigt sich beispielsweise in verschiedenen Kontroll- und Strafpraxen – man denke hier zum Beispiel an selektive Personenkontrollen oder die sogenannte ›Ersatzfreiheitsstrafe‹, die dann vollzogen wird, wenn eine Geldstrafe nicht bezahlt werden kann. Damit ist es nicht unüblich, dass mehrmaliges Fahren ohne Fahrschein in öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer Haftstrafe führt. Es gibt eine Vielzahl gesetzlicher Bestimmungen, die von vornherein bestimmte Einkommensschichten bevor- beziehungsweise benachteiligen. So gibt es in Deutschland beispielsweise ein gesetzlich festgelegtes Existenzminimum, welches centgenau vorgibt, wieviel Geld Hilfebedürftige pro Monat beispielsweise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke (Erwachsene 150,60 €), Kleidung und Schuhe (Erwachsene 37,84 €) oder Bildung (zum Beispiel Kinder 15-17 Jahre 0,23 €) ausgeben dürfen. (Vgl. Bouajila 2019) Dieses Existenzminimum darf bei Regelverstößen (zum Beispiel Meldeversäumnissen oder Ablehnung/Abbruch einer ›zumutbaren‹ Arbeit) weiterhin gekürzt werden – nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2019 zwar nicht mehr um 60 % oder 100 % – aber Kürzungen um 30 % scheinen demnach juristisch gesehen weiterhin mit Menschenwürde und Grundgesetz vereinbar zu sein.7 Genauso wenig scheint ein Existenzminimum, welches an Bedingungen geknüpft ist, im Widerspruch zur Würde des Menschen zu stehen: Durch das Grundprinzip »Fördern und Fordern« (Kapitel 1 SGB II) sind Leistungsbezieher*innen verpflichtet, alles zu tun, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden. Gleichzeitig lassen die Regelsätze die Leistungsbezieher*innen in 7

Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 05.11.2019 zu Sanktionen im Sozialrecht heißt es: »Wird eine Mitwirkungspflicht zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit ohne wichtigen Grund nicht erfüllt und sanktioniert der Gesetzgeber das durch den vorübergehenden Entzug existenzsichernder Leistungen, schafft er eine außerordentliche Belastung. Dies unterliegt strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit […]. Zudem muss es den Betroffenen tatsächlich möglich sein, die Minderung existenzsichernder Leistungen durch eigenes Verhalten abzuwenden; es muss also in ihrer eigenen Verantwortung liegen, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung auch nach einer Minderung wieder zu erhalten.« (Bundesverfassungsgericht 2019) Für eine ausführlichen Analyse des Urteils in Bezug auf die (Nicht-)Vereinbarkeit von Sanktionen und Verfassung. (Vgl. Sell 2019)

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relativer Armut verharren, während ihr gesamtes Alltagsleben staatlicher Kontrolle ausgesetzt ist: Eigentum, Schonvermögen, Größe der Wohnung, Formen des Zusammenlebens, Kindererziehung und selbst der Umfang eines Geburtstagsgeschenks – alles kann zum Gegenstand bürokratischer Aufsicht und Reglementierung werden. Finanzen, Wohnverhältnisse und Lebensweise werden für die kontrollierende Instanz transparent. Wer so leben muss, der steht beständig unter dem Generalverdacht, die Gesellschaft als ›Schmarotzer‹ zu belasten. (Dörre 2012: 227) Unter den Leistungsempfänger*innen befinden sich knapp 2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Stand Juni 2019: vgl. Bundesagentur für Arbeit 2019), deren Teilhabemöglichkeiten durch staatliche Maßnahmen kaum verbessert werden. Es scheint insgesamt nicht so zu sein, dass vor dem Gesetz jede*r gleich ist: Wer mehr Geld besitzt, ist definitiv weniger Kontrolle ausgesetzt und kann frei über sein/ihr Vermögen verfügen, während Leistungsbezieher*innen grundsätzlich damit rechnen müssen, im Verdachtsfall unangekündigte Hausbesuche des sogenannten Bedarfsfeststellungsdienstes, eines »Außendienst[es] zur Bekämpfung von Leistungsmissbrauch« (§ 6 SGB II) zu bekommen.

Vermittelte Bilder: Faul und selbst schuld? Im gesellschaftlichen Diskurs wird der Erfolg oder Misserfolg in der Leistungsgesellschaft individuell verortet: hier wird nicht die kapitalistische Wirtschaftsordnung zur Begründung herangezogen, sondern das ›Fehlverhalten‹ einzelner. In dieser Logik schafft es nach oben, wer sich anstrengt und hart arbeitet – wer faul ist oder wessen Fähigkeiten nicht ausreichen, findet berechtigterweise einen Platz am unteren Ende der Gesellschaft. Dieser Mythos wird durch mediale Inszenierungen, wie zum Beispiel Skripted-Reality-Formate, in denen stereotype Bilder einer vermeintlichen Unterschichtskultur einem Millionenpublikum zugänglich gemacht werden, aufrechterhalten.8 Aber auch Politiker*innen und große Printmedien tragen mit abwertenden und diffamierenden Aussagen, zum Beispiel über Erwerbslose, zum Erhalt dieses Diskurses bei.9 Dabei geht es immer auch um Abgrenzung und eigene Abstiegsängste, besonders von Angehörigen der Mittelschicht, die sich zunehmend als gefährdet wahrnehmen: Im aktuellen Diskurs um Unterschichten zeigen sich verstärkte Konstruktionen von Diskriminierung, d.h. der Konstruktion der Armen als einer von der Normal8 9

Hier sei auf die äußerst detaillierte Untersuchung des Formats ›Familien im Brennpunkt‹ von Steinwachs (2015) hingewiesen. Zur Diskriminierung und medialen Inszenierung von Erwerbslosen durch die BILD-Zeitung vgl.: Baron/Steinwachs (2012).

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bevölkerung zu unterscheidenden Gruppe mit negativen Eigenschaften. Im Zentrum der diskriminierenden Abgrenzung stehen wie im 19. Jahrhundert Vorstellungen über Disziplinlosigkeit und fehlende Arbeitsmoral, unbeherrschtes Konsumverhalten, die Unfähigkeit, Kinder zu erziehen und sexuelle Freizügigkeit […]. Diese vor allem in den Medien breit aufgegriffenen Konstruktionen der Unterschicht erzeugen Moralpaniken hinsichtlich der Mentalität, der Apathie, von Kriminalität und Gewalt, der Sexualität, der Kindesvernachlässigung und so weiter, die Konflikte und Fraktionierungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen fördern. (Chassé 2017: 481) Diese Zuschreibungen konstruieren Wesenseigenschaften der Angehörigen der unteren Schichten und individualisieren gleichzeitig gesellschaftliche Problemlagen wie Armut oder Arbeitslosigkeit. In der Konsequenz entstehen Forderungen nach der Einschränkung wohlfahrtstaatlicher Unterstützung, Kontrollen und Strafen. Die Folgen sind eine zunehmende gesellschaftliche Spaltung und die Legitimation von Leistungskürzungen. Bei den Betroffenen kann eine Grundhaltung erzeugt werden, die – als Reaktion auf gesellschaftliche Missachtung und verweigerte Anerkennung – zum Rückzug aus sozialen Netzen, Freundeskreisen, zu Einkapselung oder zum Aufrechterhalten von Fassaden führt, die mit dem wirklichen Leben längst nichts mehr gemein haben. Es sind solche Anpassungen an entwürdigende Verhältnisse, die jene Phänomene miterzeugen, welche mit Schlagworten wie Leistungsverweigerung oder Verwahrlosung öffentlich diskutiert werden. (Dörre 2012: 227) Hier zeigen sich also vielfältige Mechanismen, die zur Legitimation und letztlich zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen. Für diejenigen, die ausgegrenzt und abgewertet werden, sind diese Erfahrungen einschneidend und führen häufig zu Isolation und Einsamkeit.

Was tun? Anknüpfungspunkte für die sozialarbeiterische Praxis Was tun? Diese Frage bleibt in der Regel auch nach Workshops oder Fortbildungen zum Thema Klassismus oder Armut unbeantwortet. Allzu bitter ist doch die Erkenntnis, dass den gesellschaftlichen Strukturen diese Ungleichheit inhärent ist. So bleibt häufig am Ende des Tages ein Gefühl der Ernüchterung zurück: »Tja, den Kapitalismus können wir wohl nicht abschaffen«, wie es eine Tagungsteilnehmerin in der Abschlussrunde des eingangs erwähnten Workshops formulierte. Aber was bleibt uns dann? Wir als Sozialarbeitende müssen uns damit auseinandersetzen, dass wir nur an kleinen Stellschrauben drehen, die Symptome etwas abschwächen

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und die Auswirkungen der Ungleichheit etwas abfedern können. Die gesellschaftlichen Strukturen bleiben aber bestehen und wir befinden uns in einem Dilemma zwischen kapitalistischer Realität und professionellem Auftrag. Die Herausforderung besteht für uns darin, trotzdem handlungsfähig zu sein und nicht den Mut zu verlieren. Anknüpfungspunkte für eine Handlungsfähigkeit gibt es auf verschiedenen Ebenen: In Hinblick auf die Profession der Sozialen Arbeit wurde bereits die globale Definition der IFSW als Orientierungsrahmen benannt. Hier sollte es beispielsweise darum gehen, Missstände zu thematisieren und diese zur politischen Agenda zu machen, Ausbildungsinhalte anzupassen, Handlungsstrategien zu entwickeln und so weiter. Eine weiteres Handlungsfeld ergibt sich aus der Schulung und Sensibilisierung von Fachpersonal. Hier gibt es bereits Ansätze, beispielsweise aus der Antidiskriminierungsarbeit, die weiterentwickelt und auf das Thema ›Klasse‹ angewendet werden sollten. Der Schwerpunkt der Überlegungen soll an dieser Stelle aber auf der ganz konkreten alltäglichen Praxis liegen: Wie können Adressat*innen, die von Armut betroffen sind, bestärkt werden? Wie können wir trotz der unveränderlichen Strukturen eine Handlungsfähigkeit aufrechterhalten? Grundlegend dabei ist eine Transparenz der Widersprüche, in denen wir uns bewegen. Dabei spielt das Bewusstsein über die eigene Lage und Verwobenheit in die bestehenden Klassenverhältnisse – sowohl für uns Sozialarbeitende als auch für die Adressat*innen – eine große Rolle: Erst wenn der strukturelle Rahmen sichtbar wird, kann der Mythos der selbstverschuldeten Armut aufgebrochen werden. Es muss darum gehen, transparent zu machen, dass Armut kein Ergebnis fehlender Anstrengung oder mangelnder Fähigkeiten ist, sondern eine logische Folge der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. So bitter diese Erkenntnis ist, so bestärkend kann es für Betroffene auch sein, die eigene Lage nicht (mehr) auf persönliches Versagen zurückzuführen. Denn so kann aus Ohnmacht Handlungsfähigkeit werden. Insbesondere im Zusammenschluss mit anderen, die ähnliche Erfahrungen machen, kann so Selbstwirksamkeit und Gemeinschaft erfahren werden. Dabei kann auf bestehende Ansätze zurückgegriffen werden, die in der Geschichte von Kämpfen marginalisierter Gruppen bereits eine lange Tradition haben: Es geht um Empowerment, Selbstermächtigung, Austausch, Vernetzung, Solidarität, darum, Räume zu schaffen, in denen Gefühle wie Angst oder Scham besprochen werden können und Selbstorganisation zu fördern. Die Formen, wie solche Angebote aussehen können, sind vielfältig: Sie können darin bestehen, Ressourcen zu teilen, Menschen bei Behördengängen (wie dem Jobcenter) zu begleiten, gegenseitige Hilfe zu organisieren, beispielsweise in Bezug auf Antragstellungen, Räume bereit zu stellen, in denen zum Beispiel Jugendliche einen kostenfreien WLAN-Zugang bekommen oder die Möglichkeit, eine Küche zu nutzen. Grundlegend hierfür ist es, mögliche Ausschlüsse und Stigmatisierungen und damit verbundene Verletzungen zu vermeiden (beispielsweise durch das öffentliche Einsammeln von Teilnahmege-

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bühren oder das Einfordern von ›Armutsnachweisen‹, die zu erzwungenen Outings führen). Für Sozialarbeitende gilt es, die Stärken und Ressourcen der Adressat*innen anzuerkennen und sie als Expert*innen ihrer Lebenswelt und gleichwertige Gesprächspartner*innen wahrzunehmen. Dabei müssen wir uns kontinuierlich fragen: Wer bestimmt eigentlich, welches Wissen gesellschaftlich anerkannt und welche Fähigkeiten wertgeschätzt werden? Es muss darum gehen den Fokus zu verschieben und anzuerkennen, dass zum Beispiel die Überlebensstrategien eines wohnungslosen Jugendlichen enorme Stärken sind. Oder zu reflektieren, dass Jugendliche mit wenig finanziellen Mitteln nicht aus fehlendem Umwelt- oder Nachhaltigkeitsbewusstsein bei Primark einkaufen gehen. Die Gründe können sehr vielfältig sein, und es ist die Aufgabe von Sozialarbeiter*innen, diese durch kontinuierliches Überdenken der eigenen Perspektive zu erkennen. Hier gilt es, eigene Vorurteile und Wertvorstellungen – die unweigerlich auch durch den eigenen Klassenhintergrund geprägt sind – ständig zu hinterfragen und zu reflektieren und den Blick zu erweitern. Grundlegend hierfür ist eine pädagogische Haltung, die Armut als ein gesellschaftliches Problem versteht und die eigene Verwobenheit in Klassenverhältnisse in den Blick nimmt.

Fazit Das Klassismuskonzept eröffnet Potenziale, muss aber weiter ausformuliert und geschärft werden, um es konstruktiv für Wissenschaft und Praxis nutzbar zu machen. Eine besondere Herausforderung liegt dabei darin, Antiklassismus nicht im Sinne einer rein diskursiven Lobbyarbeit für Respekt und Anerkennung oder die Förderung von Individuen stehen zu lassen, sondern beständig Möglichkeiten auszuloten, das kapitalistische Wirtschaftssystem als Ursache zu benennen, um letztendlich konkrete Veränderungen anzustoßen. Dabei ist fraglich, inwiefern es im Rahmen Sozialer Arbeit überhaupt möglich ist, an eine Tradition politischer Kämpfe anzuschließen und deren Potenziale und Erfahrungen zu nutzen, da die Profession selbst an vielen Stellen an der Legitimation und Aufrechterhaltung der Ungleichheitsstrukturen beteiligt ist. Abschließend soll erneut ein Blick auf die Ausgangsfrage geworfen werden: Ist Armut Diskriminierung? Nach den vorangestellten Ausführungen und Überlegungen würde ich sagen: Armut ist eine Folge der ökonomischen Verhältnisse und wird durch Ideologien und diskriminierende Diskurse legitimiert und aufrechterhalten. Ansätze, die nur auf der Diskursebene ansetzen und die materielle Basis ausblenden, können aus meiner Sicht nur eine sehr eingeschränkte praktische Wirkung entfalten und laufen sogar selbst Gefahr, zur Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse beizutragen. Der Kampf gegen Armut kann nicht bedeuten, lediglich ih-

Ist Armut Diskriminierung? Ein Diskussionsbeitrag für die Soziale Arbeit

re Auswirkungen abzuschwächen und Respekt und Anerkennung für Betroffene zu erkämpfen, sondern muss im solidarischen Zusammenschluss mit den Adressat*innen selbst weitergeführt werden.

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Ist Armut Diskriminierung? Ein Diskussionsbeitrag für die Soziale Arbeit

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Autor*innen

Gero Bauer ist Literatur- und Kulturwissenschaftler und Geschäftsführer des Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seit der Veröffentlichung seiner ersten Monographie, Houses, Secrets and the Closet. Locating Masculinities from the Gothic Novel to Henry James (2016), arbeitet er an einem neuen Projekt zu Hoffnung und ›Kinship‹ in der zeitgenössischen Erzählliteratur. Er ist Mitherausgeber von Sammelbänden zur Naturalisierung des Geschlechts (2018) und zu Kinship and Collective Action in Literature and Culture (2020) und hat Aufsätze zu frühneuzeitlicher Naturphilosophie, Geschlecht und Literatur, queeren Filmen und Serien und queerer Pädagogik publiziert. Renate Baumgartner ist Post-Doc am Zentrum für Gender und Diversitätsforschung der Eberhard Karls Universität Tübingen. Als Pharmazeutin und Soziologin forscht und lehrt sie an der Schnittstelle von Wissenschafts- beziehungsweise Techniksoziologie und Gender Studies, unter anderem zum Thema Künstliche Intelligenz in der Medizin. Ihre Forschungs- und Publikationstätigkeit erstreckt sich auf die unterschiedlichen Disziplinen Soziologie, Molekularbiologie und Medizin. Teresa Natalie Remile Ceran ist Erziehungswissenschaftlerin und seit 2018 bei adis e.V. angestellt. Seit 2019 arbeitet sie als sozialpädagogische Familienhelferin in der Oberlin-Jugendhilfe der BruderhausDiakonie Reutlingen. Bereits im siebten Jahr ist sie Hip-Hop-Tanz-Coach, Projektkoordinatorin und Empowerment-Trainerin im Jugendkulturprojekt TALK. Freiberuflich ist sie als Street-Dance-Trainerin und Betreuungshelferin tätig und bietet Workshops in den Bereichen diskriminierungskritische Jugendarbeit, Intersektionalität und Hip-Hop an. Sebastian Engelmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Erziehungswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Geschichte und Theorie pädagogischer Denksysteme, der Bildungs- und Erziehungstheorie sowie der Demokratiebildung.

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Petra Flieger beschäftigt sich als freie Sozialwissenschafterin in Österreich und international mit unterschiedlichen Aspekten der Gleichstellung und Integration von Kindern und erwachsenen Personen mit Behinderungen, die sie unter anderem auch in konkreten Projekten zu realisieren versucht. Aktuelle Publikation (2020): »Ermöglichen, nicht behindern. Zum Abbau von Barrieren für die Partizipation von Kindern mit Behinderungen in Schule und Unterricht«, in: Sabine GerhartzReiter/Cathrin Reisenauer (Hg.), Partizipation & Schule. Perspektiven auf Teilhabe und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen, Wiesbaden: VS Verlag, S. 135151. Andreas Foitzik arbeitet als Co-Geschäftsführer bei adis e.V. Tübingen mit dem Schwerpunkt diskriminierungskritische Praxisentwicklung in den Feldern Soziale Arbeit, Schule und Arbeitsmarkt. Er ist einer der Sprecher*innen der LAG Antidiskriminierungsberatung und des Netzwerks Rassismuskritische Migrationspädagogik. Seine letzten Veröffentlichungen sind das Praxisbuch Diskriminierungskritische Schule (2019) sowie Recht vor Gnade: Bedeutung von Menschenrechtsurteilen für eine diskriminierungskritische (Soziale) Arbeit (2020). Mari Günther, 1970 geboren, ist Väterin und lebt in Berlin. Als Gemeindepädagogin absolvierte sie ihr Vikariat in der evangelischen Kirche und arbeitete in der Jugend- und Eingliederungshilfe. Sie ist seit zwölf Jahren systemische Therapeutin (SG) in eigener Praxis und arbeitet derzeit in der trans* Beratung Queer Leben und als Fachreferentin für den Bundesverband Trans* e.V. Zudem ist sie Mitautorin der AWMF-Leitlinie »Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans*Gesundheit: Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung.« Im Rahmen von Fortbildungen und Forschungsprojekten setzt sie sich für die Verbesserung der medizinischen und psychosozialen Versorgung von trans* Personen ein. Rebecca Hahn koordiniert das Research Alumni Center der Universität Tübingen und ist assoziierte Wissenschaftlerin am Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung. Sie vertritt die Literary London Society in Deutschland und beschäftigt sich mit feministischen Literaturen und Theorien des 20. und 21. Jahrhunderts. Ihre Dissertation Side-Stepping Normativity in Selected Short Stories by Sylvia Townsend Warner erschien 2020 beim Narr-Verlag. Lean Haug ist Sozialwissenschaftler_in mit Fokus auf Gender und Queer Studies und hat adis e.V. in Tübingen mitgegründet. Lean arbeitet bei adis mit den Schwerpunkten Antidiskriminierungsberatung lokal und online, Beratung und Empowerment von trans Personen sowie Fachberatung und Bildungsangebote im Bereich Vielfalt von Geschlecht und sexueller Orientierung. Lean ist seit vielen

Autor*innen

Jahren queeraktivistisch in verschiedenen lokalen Gruppen sowie im Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg tätig. Jessica Heesen ist Leiterin des Forschungsschwerpunkts Medienethik und Informationstechnik am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Sie beschäftigt sich in verschiedenen Forschungsprojekten mit ethischen Debatten im Bereich Medien und Digitalisierung. Dazu gehören Probleme der Meinungsfreiheit in Sozialen Medien ebenso wie Fragen nach einer wertorientierten Entwicklung von Künstlicher Intelligenz. Sie wurde an der Universität Stuttgart promoviert und erhielt mit ihrer Habilitation am Karlsruher Institut für Technologie die Venia Legendi im Fach Philosophie. Anya Heise-von der Lippe ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Englische Philologie, Lehrstuhl für Anglophone Literaturen an der Eberhard Karls Universität Tübingen und arbeitet nach Abschluss ihrer Dissertation an einem neuen Forschungsprojekt zur literarischen Darstellung von Klimakatastrophen in der Literatur der Romantik. Ihre Dissertation zu Monstrous Textualities erscheint 2021 bei der University of Wales Press. Sie ist Mitherausgeberin der Reihe Challenges beim Narr-Verlag. Lena Hezel ist als Pädagogin im Mädchen*-Informations- und Beratungszentrum/Mädchen*treff e.V. Tübingen tätig. Ihre praktischen Arbeitsfelder sind dort neben der offenen Mädchen*arbeit die Beratung und Begleitung von Mädchen* und jungen Frauen* in verschiedenen Lebenslagen. Derzeit leitet sie dort ein Modellprojekt zur Arbeit mit schwer erreichbaren geflüchteten Mädchen*. Gleichzeitig forscht sie zum Thema Armut mit besonderem Blick auf die Zusammenhänge zwischen Armut und Kapitalismus, Stigmatisierung, Diskriminierung und scheiternde Übergänge ins Hilfesystem. Nicole Hirschfelder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Amerikanistik der Eberhard Karls Universität Tübingen. Nach ihrem Studium in Frankfurt und Studien-, Forschungs- und Lehraufenthalten an der University of Wisconsin-Madison, der Yale University und der University of Maryland, College Park, lehrt sie nun in Tübingen amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft und forscht unter anderem zu Protestbewegungen wie #metoo und Black Lives Matter. Ihre Dissertation erschien 2014 unter dem Titel Oppression as Process. The Case of Bayard Rustin (Heidelberg: Universitätsverlag Winter) und beschäftigt sich mit Unterdrückung als Machtbeziehung zwischen verschiedenen Gruppen anhand des Falles des afroamerikanischen Bürgerrechtlers Bayard Rustin.

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Diskriminierung und Antdiskriminierung

Maria Kechaja arbeitet bei adis e.V. Tübingen im Bereich Empowerment. Sie ist Kulturwissenschaftlerin und Ethnologin mit einem Schwerpunkt auf kritischer Migrations- und Rassismusforschung. Sie ist Empowerment-Trainerin, Antidiskriminierungsberaterin, Mentorin und künstlerische Leiterin im Jugendkulturprojekt TALK in Reutlingen. Ihre letzten Veröffentlichungen zu Empowerment-Theorie und -Praxis finden sich in den Bänden Diskriminierungskritische Schule: Einführung in theoretische Grundlagen (2019) sowie Empowerment und Powersharing: Ankerpunkte – Positionierungen – Arenen (2020). Ozan Zakariya Keskinkılıç ist Politikwissenschaftler, freier Autor und politischer Bildner. Er forscht und lehrt an der Alice Salomon Hochschule Berlin im Arbeitsbereich »Critical Diversity Studies/Rassismus und Migration.« Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem (antimuslimischer) Rassismus, Antisemitismus, Orientalismus, postkoloniale Erinnerungskultur, jüdisch-muslimische Beziehungen und Empowerment. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der neuen deutschen organisationen e.V. (ndo) und Co-Koordinator der Salaam-SchalomInitiative in Berlin. Von 2017 bis 2019 war er sachverständiges stellvertretendes Mitglied in der Enquete-Kommission »Rassismus und Diskriminierung« des Thüringer Landtags. Er ist Mitherausgeber des Sammelbandes Fremdgemacht & Reorientiert. Jüdisch-muslimische Verflechtungen (2018) und Autor des Buches Die Islamdebatte gehört zu Deutschland. Rechtspopulismus und antimuslimischer Rassismus im (post-)kolonialen Kontext (2019). Armin Langer studierte Philosophie und jüdische Studien in Budapest und Potsdam und promoviert seit 2018 am Institut für Sozialwissenschaften der HumboldtUniversität zu Berlin. Seine Dissertation behandelt deutsche Integrationsdiskurse im 19. Jahrhundert und heute. Er ist Rabbinerstudent am Reconstructionist Rabbinical College in Philadelphia, wo er am Center for Jewish Ethics forscht. Seit 2019 ist er Visiting Research Scholar am Schusterman Center for Israel Studies der Brandeis University in Waltham, MA. Er ist Autor des Buches Vergeblich integriert? Rabbiner Samson Raphael Hirsch und die jüdische Akkulturation im 19. Jahrhundert (2019) und Mitherausgeber des Sammelbandes Fremdgemacht & Reorientiert. Jüdisch-muslimische Verflechtungen (2018). Karoline Reinhardt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen und beschäftigt sich dort in verschiedenen Forschungsprojekten mit Fragen von gesellschaftlichem Pluralismus und Diversität aus migrations- und algorithmenethischen Perspektiven. Sie hat in Tübingen und New York studiert und wurde an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zu Migration und Weltbürgerrecht promoviert. Nach Gastdozenturen in Graz und Ankara sowie Forschungsaufenthalten an der London School

Autor*innen

of Economics und der Tulane University in New Orleans bereitet sie gegenwärtig ein Habilitationsprojekt zu Fragen von Supererogation und Heldenhaftigkeit vor. Laura Schelenz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen. Sie promoviert in Tübingen bei Astrid Franke in der Amerikanistik. In ihrer Forschung ist sie interdisziplinär ausgerichtet und arbeitet an der Schnittstelle von Technikentwicklung und Diversitäts- beziehungsweise Geschlechterstudien. Sie studierte American Studies sowie Friedens- und Konfliktforschung in Heidelberg, Hartford, Frankfurt und Budapest. Zwischenzeitlich arbeitete sie bei verschiedenen NGOs in der Menschenrechtsarbeit. Albert Scherr, geboren 1958, ist seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und leitet das dortige Institut für Soziologie. Seine wissenschaftliche Laufbahn umfasst Tätigkeiten an der Fachhochschule Darmstadt sowie den Universitäten Bielefeld, Karlsruhe und Koblenz-Landau. Einer seiner zentralen Arbeitsschwerpunkte ist die soziologische Diskriminierungsforschung, zu der er sowohl empirische Studien als auch theoretische Beiträge veröffentlich hat. Er ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des Bielefeld Center for Capability Research, der Redaktionen der Zeitschriften Soziale Probleme, Sozial Extra und Zeitschrift für Flucht- und Flüchtlingsforschung sowie Co-Leiter des deutsch-schweizerischen Promotionskollegs »Soziale Arbeit«. Nathalie Schlenzka ist seit 2011 Referentin für Forschung bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS). Dort ist sie für die Erstellung der Berichte der ADS an den Deutschen Bundestag sowie die Konzeption und Betreuung von Forschungsvorhaben zuständig. In den letzten Jahren befasste sie sich unter anderem mit Fragen von Diskriminierung im Arbeitsleben und im Bildungsbereich. Zuvor war sie langjährig als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung sowie der Alice Salomon Hochschule tätig. Ihr Studium der Politikwissenschaft hat sie an der Freien Universität absolviert. Volker Schönwiese, außerordentlicher Professor im Ruhestand, ist seit den 1970erJahren Teil der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung und hat von 1983 bis 2013 an der Universität Innsbruck den Lehr- und Forschungsbereich Inklusive Pädagogik und Disability Studies aufgebaut. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Thema Inklusion und Disability Studies, hat verschiedene Projekte zu Disability History realisiert, wie »Das Bildnis eines behinderten Mannes aus dem 16. Jahrhundert« und »Die Geschichte der Behindertenbewegung in Österreich«, und ist Gründer der digitalen Bibliothek bidok.at zu Fragen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen.

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Michael Schüßler hat in Bamberg Theologie und Pädagogik mit Soziologie und Psychologie im Nebenfach studiert. Seit 2015 ist er Professor für Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Aktuelle Arbeitsfelder sind Zeit- und Gegenwartsfragen von Theologie und Kirche, praktisch-theologische Genderforschung, Caritas-Theologien sowie postkoloniale und Befreiungstheologien. Veröffentlichungen: Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Pastoral in ereignisbasierter Gesellschaft, Stuttgart 2013; mit Tobias Kläden (Hg.), Zu schnell für Gott? Theologische Kontroversen zu Beschleunigung und Resonanz (Quaestio disputatae 286), Freiburg/Brsg. 2017. Barbara Stauber ist Professorin für Erziehungswissenschaft am Institut für Erziehungswissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen, Abteilung Sozialpädagogik, und Sprecherin des Graduiertenkollegs »Doing Transtions.« Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Fragen der Hervorbringung von Übergängen im Lebenslauf, insbesondere in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter. Diese interessieren sie unter einer intersektionalen Perspektive und im Hinblick darauf, wie sie im Kontext (sozial-)pädagogischer Begleitung und Unterstützung bearbeitet werden oder überhaupt entstehen. Borghild Strähle ist Sozialpädagogin, hat langjährige Erfahrung in feministischer Mädchen*arbeit und ist freiberuflich als Trainerin für Selbstbehauptung für Mädchen* und Frauen* mit Behinderungen tätig. Sie ist Mitbegründerin von adis e.V. und seit April 2017 hauptberuflich angestellt mit den Schwerpunkten Antidiskriminierungsberatung, Empowerment sowie Fort- und Weiterbildungen zu Antidiskriminierung. Birgit Weyel ist Professorin für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Pastoraltheologie und Seelsorgelehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Sie studierte in Bonn und Berlin. 1992 Ordination. 1997 wurde sie in Berlin mit einer Arbeit zur Osterpredigt promoviert und habilitierte sich 2006 mit einer historischen Studie zur praktischen Bildung evangelischer Pfarrer in Preußen. Sie ist Gründungsvorsitzende des Arbeitskreises empirische Religionsforschung e.V. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die wissenschaftstheoretische Grundlegung der Praktischen Theologie sowie die empirische Erforschung religiöser Praktiken und Rituale, insbesondere anlässlich biographischer Übergänge (zum Beispiel Bestattung). Sie ist Mitherausgeberin von Religion in der modernen Lebenswelt und des Intercultural and Interreligious Handbook of Practical Theology.

Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft Juli 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Naika Foroutan

Die postmigrantische Gesellschaft Ein Versprechen der pluralen Demokratie 2019, 280 S., kart., 18 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4263-6 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4263-0 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4263-6

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft September 2020, 320 S., 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

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Soziologie Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock

Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8

Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018 2019, 246 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4474-6

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