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German Pages 66 [68] Year 1884
Theologische Wissenschaft und
pfarrarnttiche H*raris von Director D. G. Diegel zu Friedberg.
Der Heutige Stand der
alttrstamentlichen Wissenschaft von Professor D. W. Graf von Baudissin zu Marburg.
Vorträge gehalten auf der Theologischen Lonferenz zu Gießen am 12. Juni 1884.
Gieße«, 3. Ricker'sche Buchhandlung.
1884.
Borbericht. Am 12. Juni d. I. ist zu Gießen eine Theologische Conferenz für die Provinz Hessen-Nassau, daS Großherzogthum Hessen und den Kreis Wetzlar begründet worden,
nachdem der Wunsch
Jahren
mehrfach laut
nach einer solchen in den letzten geworden
war.
Die Conferenz,
welche keiner der bereits bestehenden Vereinigungen und Conferenzen hindernd in den Weg treten will, soll vor
allem den wissenschaftlichen Bestrebungen der Pfarrer und theologischen Lehrer dienen, auf Grund von Vorträgen
über wichtige Probleme einen fruchtbaren Gedankenaus
tausch schaffen und durch Referate über den Stand der
Forschung
in
den
einzelnen
Wiffenschaft orientiren.
Zweigen der
theologischen
Die Einladung zu der Conferenz,
welche ein provisorisches Comite erlassen hatte, fand er
freulicher Weise die günstigste Aufnahme.
Zahlreich waren
die Pfarrer beider Hessen, Naffau'S, Franffurt's und des
Kreises Wetzlar, sowie die Professoren der Theologie zu
Marburg und Gießen, zu Friedberg und Herborn er schienen.
Die Präsenzliste ergab mehr als 160 Theil-
nehmer.
Als besonder« dankenSwerth muß es bezeichnet
werden, daß auch die Mitglieder der Consistorien in großer
Zahl anwesend waren.
Die Verhandlungen begannen nach
IV einem gemeinsamen Gebet mit der Feststellung einer GeschiiftSordnung.
Allerseits war man darüber einig, daß
die Aufstellung
detaillirter Statuten
noch Wünschenswerth sei.
weder nothwendig
Die Versammlung genehmigte
nach kurzer Debatte folgende Vorschläge und constituirte
sich auf Grund derselben : 1) Jährlich wird eine theologische Conferenz für die
Provinz Hessen-Nassau, das Großherzogthum Hessen und den Kreis Wetzlar
zu
abgehalten,
welcher
sämmtliche
Pfarrer, Professoren der Theologie und Religionslehrer dieser Gebiete aufgefordert werden,
2) Die Conferenz wird vorbereitet, angekündigt und
geleitet von einem geschäftsführenden Ausschuß von 9 Mit gliedern (5 aus der Provinz Hessen-Nassau, 3 aus dem
Großherzogthum Hessen, 1 aus dem Kreis Wetzlar); die Theilung
der Geschäfte
bleibt
diesem
überlassen,
auch
hat derselbe das Recht, einen engeren Ausschuß aus seiner
Mitte zu bilden,
3) Die Kosten
der Vorbereitung
werden jedesmal
durch eine Sammlung gedeckt, über welche der geschäfts führende Ausschuß in dem je folgenden Jahre der Con
ferenz Rechnung ablegt, 4) Der Ort der nächsten Conferenz wird jedesmal von der Versammlung bestimmt, die Zeit von dem geschästssührenden Ausschuß,
5) Der
geschäftsführende Ausschuß
wird
von
der
Versammlung auf die Zeit von drei Jahren gewählt und
hat innerhalb dieser Zeit das Recht, sich zu coopttren, falls ein Mitglied ausscheidet.
Außer dieser Geschäftsordnung wurde auf der ersten
Conferenz
weiter
beschlossen,
der
Vorstand solle
dafür
Serge tragen, daß jedesmal ein Referat über den gegen
Stand
wärtigen
einer
theologischen
Disciplin erstattet
Als Ort der nächstjährigen Versammlung wurde
werde.
Gießen ausersehen;
sämmtliche unterzeichnete Mitglieder
des provisorischen Comites wurden in den Vorstand ge wählt und mit der Wahl der noch fehlenden drei Mit
glieder betraut. Director
D.
Nach Erledigung dieser Punkte hielt Herr
Diegel
den
einleitenden
Vortrag
über
„Theologische Wissenschaft und pfarramtliche Praxis", an den sich eine lebhafte, aber von dem Geiste des Vortrags bestimmte Debatte knüpfte.
Nach kurzer Pause erstattete
Herr Professor D. Graf von Baudissin das freund
lichst übernommene Referat über „den heutigen Stand der
alttestamentlichen Wissenschaft".
Jener Vortrag und dieses
Referat erscheinen nachstehend auf Wunsch der Versamm lung, dem die Herrn Redner bereitwillig entsprochen haben,
im Druck.
Ter unterzeichnete Vorstand hofft, daß die
selben unter unseren heimischen Pfarrern der Conferenz neue Freunde gewinnen und den schon gewonnenen eine Erinnerung an den schönen Tag zu Gießen sein werden.
Zugleich aber möchte er durch diese Gabe Borurtheile zer
streuen, die
jedem neuen Unternehmen,
die Kräfte der
evangelischen Kirche zu vereinigen, entgegenstehen.
Die
Theologische Conferenz will nicht einer bestimmten Rich tung
und Partei in der Kirche oder in der Theologie
dienen, sondern einen brüderlichen Gedankenaustausch er
möglichen.
Die Gegensätze
innerhalb
der evangelischen
Kirche und ihrer Theologie lassen sich weder todtschweigen
VI noch
kurzer Hand
wegschaffen.
Aber wo immer Ernst
gemacht wird mit dem Grundsatz, daß das Evangelium nach dem reinen Verstand das Fundament aller Theologie
sein müsse, da fordert die Pflicht, einander anzuhören und das apostolische „dty&evecv lv dyday“ zu üben. In
der evangelischen Kirche bestehen keine conservativen und keine liberalen
„Ideen"
zu Recht,
sondern
allein
das
Evangelium, welches die conservativste Macht auf Erden
ist und zugleich jenen allein werthvollen Liberalismus zu
schaffen
vermag,
nämlich
die
Weitherzigkeit
Grundes gewissen Liebe (I Cor. 9, 19 ff.).
der
ihres
Möge unsere
theologische Conferenz unter Gottes Segen den Beweis
liefern, daß in unseren Landen die heiligen Güter, die
als gemeinsame geschenkt sind, auch als gemeinsame noch festgehalten werden, und möge sie selbst ein Band des Friedens
werden,
welches die Einigkeit
im Geiste
stärkt und erhält!
Im October 1884.
Dr. Diegel.
Dr. Ehlers.
Dr. Harnack.
Dr. Hemriri. Oberpfarrer Koebenacke. Dr. Sachsse.
Thesen und einleitender Vortrag über
theologische Wissenschaft und
pfarramtliche Praxis von
Director Dr. theol. Diegel zu Friedberg.
Vorbemerkung. Man hat freundlich aufgefordert, daß nachfolgend« „Einleitung zu einer DiScussion" gedruckt werde.
So sehr
mich natürlich diese Aufforderung einerseits gefreut hat, so lebhaft fühle ich doch
andererseits die Schwierigkeit,
etwas einigermaßen Befriedigendes herzustellen. Nicht blos
in der Weite des Themas, dessen Erledigung sehr wohl ein umfangreiches Buch in Anspruch nehmen könnte, liegt
diese Schwierigkeit, sondern namentlich auch darin, daß meine Arbeit absichtlich und in immer steigendem Maße Lücken ließ, welche die DiScussion ausfüllen sollte.
gedruckte Abhandlung
soll
ein irgendwie
Eine
befriedigendes
Ganze bieten; hier aber war Alles so eingerichtet, daß die
Hörer zum Ergänzen gereizt wurden. Als ich dem Drucke zustimmte, war meine Absicht, das Gesprochene mit einer sogleich zu nennenden Ausnahme
unverändert wiederzugeben, weil diese Schrift im Namen
unserer Conferenz und als eine Art Programm derselben
erscheint, und weil ich kein Recht habe, die meinem Vor trage im Ganzen gewordene Zustimmung auf Aenderungen
und Zusätze zu übertragen.
Die zur Ausfüllung der für
die DiScussion gelassenen Lücken unbedingt nöthigen Zusätze
1*
4 wollte ich, um sie als solche zu bezeichnen, in Klammern schließen, dagegen im Bortrage selbst Alles hinweglassen, waS auf die nachfolgende DiScussion hinwies.
Dieser Plan erwies sich als nicht durchführbar.
Die
Zusätze, welche der gebotenen Raumersparniß wegen ganz
knapp gehalten werden müssen, paßten nicht zur übrigen Darstellung und führten trotz ihrer Kürze zu Wieder
holungen.
Der Vortrag selbst verläßt nämlich nach Er
örterung der ersten These den Wortlaut der nachfolgenden
Thesen, um in allgemeiner Weise auf dieselben vorzube
reiten, während ich die unmittelbare Erklärung ihres Wort lautes der jemaligen DiScussion vorausschicken wollte. Ein fügungen
dieser
genaueren
Thesenerklärungen
brachten
demnach in anderer Fassung und Reihenfolge Gedanken des Vortrages
wieder.
Alle Weglasiungen in letzterem
aber ließen ihn noch mehr als unverständlichen Rumpf
erscheinen. Deshalb weiß ich keinen besseren Rath, als den Vor trag ganz
unverändert
zu
geben
und
möglichst kurzen Anmerkungen beizufügen. halten
zumeist
dasjenige,
was
ich
alle Zusätze in Dieselben ent
der DiScussion
der
einzelnen Thesen vorausschicken wollte. Einige Ergänzungen
auS der wirklichen DiScussion einzuflechten, unterlasse ich zumeist, weil mein schlechtes Gedächtniß dieß nicht treu
und gleichmäßig genug vermag.
Dazu kommt die Rück
sicht auf den Raum und auf die einheitliche Anschauung.
Daß ich insbesondere da, wo eine humoristische Ein kleidung der Gedanken vorliegt,
nicht zu ändern suchte,
obwohl sich dergleichen weniger gut liest als anhvrt, wird
man schon allein deshalb leicht begreifen und billigen, weil
5 jene Einkleidung gerade als Hülle für ernste und bittere Wahrheiten gewählt wurde.
Nur einen einzigen mir für
den Druck allzuderben Ausdruck habe ich geändert, obwohl
ich ihn zur Bezeichnung der Sache auch jetzt noch keines
wegs für zu stark halte. Diese ganz zum Sprechen für den Augenblick berech
neten, absichtlich unvollständigen und an sehr verschieden artigen Thüren anllopfenden Andeutungen in den Druck zu geben, ist ein großes Wagniß, dem ich nur zugestimmt
habe in dem Vertrauen,
daß sie wohlwollend auch als
blose Andeutungen ausgenommen werden, und in der Hoff nung, daß sie als solche auch bei dem Lesen einige heilsame
Anregung bewirken.
Hochgeehrte Herrn! Mein Thema ist ein sehr weite-.
Ich muß dasselbe
wenigstens etwas enger zu begrenzen suchen.
Dies soll
namentlich dadurch geschehen, daß ich auf die bestimmten Ziele meine- Vorträge- Hinweise.
E- gilt mir nicht um
eine wissenschaftliche Erörterung;
eine
zweite
heutige Vortrag
bringen.
solche
wird
der
Als meine Aufgabe
betrachte ich, Anlaß und Anregung zu gegenseitigem AuSsprechen und Kennen-Lernen zu geben.
Ich möchte deshalb
wie ein Franzose des vorigen Jahrhunderts zu Ihnen
reden.
Man hat nämlich gesagt: Die alte französische
Höflichkeit bestand nicht darin, immer selbst zu sprechen, sondern Andere zum Sprechen zu bringen.
Man wird
zugeben, daß in diesem Stücke keineswegs alle deutschen
Theologen alte Franzosen sind. Meine Thesenstellung hat also einen ganz bestimmten praktischen Zweck.
Daß mir die Ehre zu Theil ge
worden ist, bei dem ersten Versuche unserer Conferenz die
Discussion einzuleiten, legte mir besondere Rücksichten auf.
Wir wußten nicht, welche Männer und wie viele kommen würden; wir suchen Fühlung miteinander; die ersten Ver
anstalter möchten ihre Gäste für das Wiederkommen ge winnen.
Da gilt es gemeinsame Grundlagen, gleichsam
7 gewisse Umzäunungen herzustellen, innerhalb deren man
sich bewegen kann. gesteckt werden.
Diese Umzäunungen müssen sehr weit
Später werden engere Themata die besseren
Ich habe mein Thema rein formal zu behandeln
sein.
Später wird man lieber genau in die Stoffe
gesucht.
selbst eingehen.
Aber die Gabe uneinig zu werden pflegt
sowohl bei mehr wiffenschaftlichen als bei mehr praktischen Theologen eine sehr entwickelte zu sein. wir
feste
gemeinsame Wurzeln
haben,
Später, wenn wird
lebhaftes
Streiten in feinen Formen der Gesundheit förderlich sein, aber vorerst müssen wir diese festen gemeinsamen Wurzeln zu gewinnen suchen.
Deshalb also ein sehr weites Thema in
rein formaler Behandlung.
Gerade dieses Thema
lag sehr nahe zur Einleitung einer Zusammenkunft, bei welcher Männer, welche mehr der theologischen Wissen schaft und solche, welche mehr der theologischen Praxis
angehören, mit einander verkehren sollen.
Denn daß es
sich hier nicht um ein Entweder-Oder, sondern nur um
ein Mehr oder Minder handelt, darf ich als allgemein zugestanden voraussetzen.
In weitester Fassung war mir
von Herrn Professor Dr. Harnack unter Zustimmung
der
übrigen Herrn Begründer unserer Conferenz mein
Thema gegeben worden.
Eine engere Begrenzung wurde
mir erlaubt.
Inwieweit eine solche hier vorliegt, werde zuerst dar gethan.
absichtige
Dabei und überhaupt in dieser Einleitung be
ich
gelegentlich
auch
engeren Thematen zu geben.
Stellung
Anregung zu
künftigen
Wir reden nicht von der
der Theologie zu den übrigen Wissenschaften,
8 auch nicht von deren Stellung zu der kirchlichen Praxis
überhaupt.
I»
dieser
wirken auch viele Laien.
Man
könnte nun zwar meinen, mit Laien habe die theologische Wissenschaft wenig zu thun, aber sie muß sich doch sicher
mit dem zum Thelle von Laien geführten Kirchenregimente beschäftigen und dieses auch mit ihr, fteilich nicht allzu
sehr ; wir aber reden nur von ihrer Stellung zur pfarr
amtlichen Praxis, und zwar während der Ausübung dieser letzteren, nicht während der Vorbildung zu derselben. Natürlich wird die theologische Wissenschaft vorzugs
weise durch die Universitätsprofessoren und die pfarramt
liche Praxis vorzugsweise durch die im Pfarramte Stehenden vertreten.
Es werden sich daher manchmal unwillkürlich
statt meiner Ueberschriften die Bezeichnungen Professor und
Pfarrer einstellen.
Das schadet um so weniger, da diese
Bezeichnungen kürzer sind als die an die Spitze gestellten.
Für richtiger aber muß ich letztere halten, denn auch der
Pfarrer soll theologische Wissenschaft haben, und auch der Professor kann pfarramtliche Praxis oder etwas davon üben
und er soll Verständniß für dieselbe besitzen.
Mcht um
die richtige Stellung zweier geschiedenen Heerlager zu ein
ander also handelt es sich, sondern gleichzeitig ganz in denselben Personen nehmen theologische Wissenschaft und
pfarramtliche Praxis keineswegs immer die rechte Stellung zu einander ein, und diese rechte Stellung wird oft nur
mit großer Anstrengung gefunden. Bei den Studirenden der Theologie darf Neigung
sowohl zur theologischen Wissenschaft als zur pfarramtlichen Praxis vorausgesetzt werden.
Die Begeisterung für die
9 theologische Wissenschaft liegt denselben am nächsten, aber
diese Begeisterung soll doch nicht die Liebe und Tüchtigkeit zur pfarramtlichen Praxis tödten, sondern aus sich hervorwachsen lassen, wie eine gesunde Blüte eine kräftige Frucht.
Die Ausbildung zur theologischen Praxis habe ich aber, wie schon gesagt, heute bei dieser nicht eigentlich im Auge, sondern Leute, welche in deren Ausübung begriffen sind. Hier liegt es auch nahe, von der gerade in Bezug
auf mein Thema eigenthümlichen Stellung der Seminar
professoren und Kandidaten zu reden, denen ja vornehmlich obliegt, die Wege von der theologischen Wissenschaft zur
Praxis hinüber aufzusuchen und zu wandeln.
Ein engeres
Thema dieser Art wäre ja auch wohl zu seiner Zeit ein mal neben andern am Platze.
Aber heute bei der Eröff
nung scheint eS mir sowohl der Höflichkeit als dem Zwecke
gemäß,
uns zur Beherzigung meines Themas
ohnehin
schon besonders verpflichtete Seminarprofessoren und Kan
didaten ganz
zurücktreten zu
lassen.
Unter Umständen
könnte ich auch einmal so etwas zu hören bekommen, wie die Naturgeschichte, aus der ich als Knabe lernte, das arme Schnabelthier bezeichnete, nämlich : Unseliges Mittel
ding zwischen Bogel und Säugethier.
Nur dadurch will
ich etwa einmal von meiner amtlichen Stellung Gebrauch
machen, daß ich bei dem Reden von Gebrechen der Pro fessoren sage : wir Professoren, bei dem Reden von Ge
brechen der Pfarrer dagegen : wir Pfarrer.
Ich glaube,
daß mir der letztere Ausdruck besser zu Gesicht steht.
Eigenthümlich ist
endlich
auch
Religionslehrer zu unserem Thema.
die
Stellung
der
Dieselben sind auch
Leute der Praxis, nicht aber der eigentlich pfarramtlichen.
10 Wir werden uns daher dieselben heute zumeist auf Seiten
der theologischen Wissenschaft zn denken haben.
Aber die
Neigung und Heranziehung zu pfarramtlicher Praxis pflegt
ihnen und ihrem Amte recht heilsam zu sein.
Die Zeit
dagegen, in welcher durch Glaubensschwäche hervorgerufne
Flucht vor dem Pfarramte zum Religions-Lehrer tüchtig zn machen schien, sollte weit hinter uns liegen. Indem ich nunmehr meiner Thesenstellung näher trete,
weise ich darauf hin, daß dieselbe nach der sehr einfachen
Ordnung : Nothwendigkeit, Schwierigkeit, Mög
Mein Wunsch wäre, daß sich die
lichkeit — verläuft.
Besprechung an die einzelnen Thesen etwa in der Form
einer umgekehrten Pyramide anschließen möchte, d. h. daß man über die ersten Thesen rasch hinwegginge, um den letzten um so mehr Aufmerksamkeit zuwenden zu können.
Das würde meinem gleich anfangs angedeuteten praktischen Zwecke entsprechen.
Unserer deutschen Art entspricht eS
freilich mehr, uns mit principiellen Zurechtstellungen zu beschäftigen, wozu gleich die erste These reichlich Gelegen heit gibt.
Inwieweit man dieselbe benützen will, geziemt
nicht mir zu bestimmen.
Um nicht meineStheilS in den Fehler Hineinzugerathen,
daß ich dasjenige, was jetzt meine allgemeine Einleitung bildet,
nachher vor den
einzelnen Thesen noch
einmal
wiederhole, will ich nur über die ersten derselben zusammen hängend etwas vollständiger reden, aber dann auch nachher
nur noch ganz weniges bemerken.
Bei ihrer Besprechung
darf ja diese Einleitung als noch frisch in der Erinnerung vorausgesetzt werden.
Die letzten Thesen dagegen streife
ich jetzt nur flüchtig, um später einer jeden derselben daS
11 Nöthigste vorauszuschicken.
Ebenso hat mir zweckdienlich
geschienen, auch jetzt bei meiner ersten größeren Einleitung dasjenige,
was ich zur Besprechung besonders geeignet
halte, nur kurz zu berühren, dasjenige aber etwas weiter auszuführen,
wovon ich spätere Erörterung nickt mehr
erwarte oder wünsche. These 1
lautet:
Theologische Wissenschaft
und pfarramtliche Praxis gehören in der ev. Kirche nothwendig zueinander, aber jede muß ihre eigenthümlichen Rechte behaupten.
Die Worte: in der ev. Kirche stehen mit be sonderem Nachdrucke da.
Sekten haben zum öftern theo
logisch ungebildete Redner, und in der katholischen Kirche nimmt die Wissenschaft eine andere Stellung ein als in der evangelischen.
Wie die Reformation im Zusammen
hänge mit einem wissenschaftlichen Aufschwünge entstand,
so wird unsere Kirche ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn
sie sich auf gleicher Höhe mit unserer gesammten CulturEntwicklung erhält.
In manchen Stücken, insbesondere
bezüglich der religiös-sittlichen Ziele und Wege, muß sie dieser Cultur-Entwicklung sogar immer voraus bleiben.
Dazu bedarf sie durchaus der theologischen Wissenschaft. Indem wir die Seligkeit allein auf die Gnade Gottes in
Christo gründen, bleibt im Uebrigen Freiheit und Raum für alle Wahrheit. Zur echt evangelischen Frömmigkeit gehört auch das Streben nach klarer Erkenntniß, also nach Wissenschaft.
Der ev. Geistliche insbesondere
muß mit klarer Erkenntniß der Principien, Wege und Ziele
seines Amtes wirken, also auf Grund theologischer Wissen schaft.
Letztere hat die Heranbildung von Pfarrern zu
12 einem Hauptzwecke in der praktischen Theologie unmittelbar, in ihren übrigen Fächern mittelbar.
Theologische Wissen
schaft und pfarramtliche Praxis liefern einander vielfach
Inhalt und Form; die theologische Mssenschaft verhilft
der pfarramtlichen Praxis zum Selbstbewußtsein, zum Be griffe; letztere muß erstere immer wieder mit bestimmten
Anschauungen und Vorstellungen erfüllen.
Beide dienen
dem Reiche Gottes; sie haben Einen Herrn, Einen Geist,
Ein Ziel, Ein Arbeitsfeld, gemeinsame Aufgaben, Gefahren
und Kämpfe; sie sollen niemals gegeneinander sein, auch
nicht ohneeinander, aber zuweilen nebeneinander. Ueber das eben zur Sprache Gebrachte habe ich nur
flüchtige Andeutungen gegeben, weil gewiß die nachfolgende
DiScussion
diese
ebenso
schwierige als wichttge Grund
stellung der theologischen Wissenschaft und pfarramtlichen
Praxis zu einander gern näher beleuchtet.
sehr
verschiedenarttge
und
Hier sind ja
feinunterschiedene Fassungen
Ueber die Stellung der prakttschen Theologie zu
möglich.
den übrigen Hauptfächern derselben ließe sich allein lange reden.
Ist die praktische Theologie nach dem bekannten
Ausspruche Schleiermacher'S deren Krone, oder, wie ungefähr Andere meinen, deren nicht ganz ebenbürtige
Ist die Theologie in dem Sinne Schleier-
Schwester?
macher'S
überhaupt eine positive, d. i. eine praktische
Wissenschaft?
Schwerlich werden alle Professoren ihrem
Collegen Fr. Delitzsch in dem zustimmen, was er vor
nicht langer Zeit geschrieben hat (vgl. Halte was du hast, Jahrg. 7, Heft 5, S. 217) :
„Ich
bin
so
fest
durch
drungen von dem praktischen Endzwecke aller wissenschaft lichen Arbeiten, daß ich eine gute Predigt und Katechese
13 für den Gipfel aller theologischen Leistungen halte; denn jene, so weit sie gelehrter Art sind, sind doch nur Vor
arbeiten,
die
eines
VereinfachungS -
nnd
BerklärungS-
prozesses bedürfen, um der Gemeinde Jesu Christi zu gute
zu kommen." Groß würde die Gefahr werden in der ersten These
völlig stecken zu bleiben, wenn wir uns auf genaue Defi
nitionen über Wissenschaft und Praxis einlassen wollten. Auf Untersuchungen z. B. über Wesen und Werth exacter Wissenschaft einerseits, spekulativer andrerseits.
Neuer
dings hat man (der Titel der Schrift ist mir nicht genau
erinnerlich) Vorschläge über die Erhebung der GeschichtSkunde
zur
Wissenschaft
Universitätsprofessoren
gelesen,
während
der Geschichte auch
Männer der Wissenschaft zu sein dachten.
doch
unsere
bisher
schon
Für unseren
Zweck wird das Beste sein, nur einmal kurz an daS Ein
fachste,
Sicherste,
allgemein Zugestandene zu erinnern.
Die Wissenschaft will erkennen, die Praxis will wirken;
Wissenschaft ist eine auf gründlicher Kenntniß eines Faches beruhende principielle, systematische Erkenntniß desselben; Praxis vollzieht einzelne Handlungen, um bestimmte Zwecke
im thätigen Leben zu erreichen.
Recht mannigfaltige und
auch wohl spitzige Bemerkungen würden kaum ausbleiben,
wenn wir von der verschiedenen Stellung der theologischen
Wissenschaft und der pfarramtlichen Praxis zur Frömmig
keit reden wollten.
Würden mir Alle zustimmen, wenn
ich für beide die Frömmigkeit
ebensowohl als die beste
Grundlage wie als das beste Ergebniß bezeichnete?
Wie
erklärt sich, daß dagegen sowohl die theologische Wissenschaft als die pfarramtliche Praxis die wahre Frömmigkeit schä-
14 feigen, ja vernichten können? Wie beseitigt man diese Gefahr? Macht man nicht auf beiden Seiten die Er fahrung, daß der Geist entflieht, während man sich zu viel mit der Form beschäftigt, sei's mit allzu scharfen, sei's mit stumpfen Messern? Pocht nicht die theologische Wissen schaft manchmal zu sehr darauf, daß sie der Frömmigkeit nicht bedürfe, und meint nicht die pfarramtliche Praxis manchmal zu sehr, die Frömmigkeit sicher in Besitz und Verwaltung zu haben? Hätte man nicht zuwellen Anlaß, beide an den Spruch zu erinnern (2 Mos. 3, 5): „Ziehe deine Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Ort, da du auf stehest, ist ein heiliges Land." Doch diese mir persönlich sehr wichttge Frage nach der Stellung zur Frömmigkeit schien eine zu zarte, um sie an einem Tage erster Bekanntschaften zu verhandeln. Vielleicht empfiehlt sie sich zu einem künfttgen Thema.
Wenn ich die Absicht hätte, nicht friedliches AuSsprechen zu veranlassen, sondern scharfes Aufeinanderplatzen der Geister, dann könnte ich meine erste These etwa so fassen: Die theologische Wissenschaft hat die pfarramtliche Praxis zum einzigen Zwecke; letztere hat erstere zu ehren, wie eine unmündige Tochter ihre Mutter.
Eine solche These würde lebhaft zum Widerspruche reizen. DaS Falsche in derselben zurückzuweisen, gibt feie zweite Hälfte meiner wirklichen These reichlich Gelegenheit: jede muß ihre eigenthümlichen Rechte be haupten.
Die theologische Wissenschaft hat noch andere Zwecke
15 als das Pfarramt, sie ist sich auch Selbstzweck*).
Sie ist
schon an und für sich, auch abgesehen also vom Pfarramte,
eine Säule im Gottesreiche.
Sie darf bei ihren Arbeiten
keineswegs immer auf das Pfarramt herüberschauen.
Da
durch würde sich ein übles Schielen herausbilden, denn streng wissenschaftliche Arbeit duldet kein Hinwegwenden
des geistigen Auges.
Niemals wird sich deshalb die theo
logische Wissenschaft die Stelle einer Magd des Pfarramtes
zuweisen lassen.
Aber sie soll dieses anch nicht als eine
Stieftochter betrachten, welche sie am liebsten gern aus
dem Hause hätte.
Auch nicht die Stellung einer unmün
digen Tochter darf sich die pfarramtliche Praxis gegenüber
der theologischen Wissenschaft anweisen lassen.
Praxis nährt sich,
Denn diese
um mit einem bekannten Ausspruche
zu reden, nicht allein von dem Brode, das ihr die Ge lehrten einbrocken, sondern auch von eigenen Erfahrungen, ethischen Eigenschaften, von der GebetStteue und der gesammten persönlichen Frömmigkeit.
Theologische Wissenschaft
und
pfarramtliche Praxis
werden in den Stellungen von Mutter und Tochter wech
seln, d. h. nicht nur die Wissenschaft wird der Praxis oft
voraus sein, sondern auch die Praxis der Wissenschaft. Denn zuweilen wird sich auch hier der Schillerische VerS anwenden lassen :
*) Daß so bedeutende, scharffinnige MHnner, wie Schleier macher u. A. die Theologie in noch engere Beziehung zum Pfarr amte setzen, al« oben geschehen, sei kurz erwähnt. ES handelt fich jedoch wohl nur um theoretische Unterschiede.
16 Und hat Genie und Herz vollbracht Was Locke und DeScarteS nie gedacht,
Sogleich wird auch von diesen Die Möglichkeit bewiesen. Also ihre eigenthümlichen Rechte muß sowohl die
theologische Wissenschaft als die pfarramtliche Praxis be haupten; aber trotzdem gehören beide nothwendig zu ein
ander. Wir wünschen eine theologische Wissen schaft, welche für das Pfarramt begeistert, und eine pfarramtliche Praxis, welche das Ver
ständniß für
die
theologische
Wissenschaft
schärft und sich auch auf Grund fortgesetzter wissenschaftlicher Arbeit vervollkommnet. DaS Auge der Wissenschaft wird ohne den öfteren Blick auf die Praxis weitsichtig,
das der Praxis ohne ständige
Schärfung durch die Wissenschaft kurzsichtig.
Wenn, wie
daS einst Professor Holtzmann geschildert*) hat und wie meines Erinnerns in Holland Ansätze oder doch Neigungen
vorliegen, die einzelnen Fächer der Theologie sich von ein ander lösen und in die entsprechenden andern FgcultätSwiffenschaften übergehen würden, dann wäre ihnen wohl
der eigentliche Lebensnerv durchschnitten.
Eine Theologie,
welche ihre Beziehung zur Kirche fahren ließe, würde den festen Boden unter ihren Füßen verlieren; ein Pfarrer
aber, welcher seine amtlichen Thätigkeiten mehr und mehr von der wissenschaftlichen Erkenntniß löste, würde damit auf dem Wege vom Künstler zum Handwerker oder Fabrik
arbeiter wandeln.
Er könnte noch ein sehr ehrenwerther.
*) Nicht aber gewünscht oder gebilligt.
17 auch ein vielwirkender Mann sein, aber als Theologe wäre
er im Ruhestande.
Daß wir nun gar bei der Ausbildung
unserer jungen Theologen von der Wissenschaft zur Ab richtung oder Dressur herabsänken, diese Besorgniß wird
unter uns niemand hegen, und ich würde dieselbe gar nicht
erwähnen, wenn nicht vor etwa 20 Jahren ein Dr. philos. in vollem Ernste vorgeschlagen hätte, künftig die jungen
Volksschullehrer auf die Universität zu schicken, dagegen die Theologen von derselben Hinwegzulassen.
Für die innige Zusammengehörigkeit von theologischer Wissenschaft und pfarramtlicher Praxis spricht auch die
Thatsache, daß sich die größten Männer im Gottesreiche zugleich wissenschaftlich und praktisch ausgezeichnet haben.
Man denke, unter der Voraussetzung, daß man einmal den Ausdruck Wissenschaft auf ältere Zeiten übertragen
darf, an Paulus, Augustin, Luther, Schleier macher.
Bei Bielen wird fteilich die Begabung für
eines
beiden Gebiete
der
vorherrschen,
wie z. B.
bei
Melanchthon für die wissenschaftliche, bei El. Harms für die praktische Thätigkeit.
Manchen weisen sein Bildungs
gang und überhaupt sein Schicksal auf eines von beiden
Gebieten, während er auf dem andern grade so viel oder noch mehr leisten könnte.
Ob Ludwig Harms z. B. auch
auf wissenschaftlichem Gebiete große Bedeutung hätte er langen können, darüber ließe sich lebhaft streiten. weise
Gleicher
werden oft die Mängel eines Mannes auf dem
einen Gebiete auch seine Mängel auf dem andern sein,
eben weil diese Mängel in dem ganzen Menschen stecken.
Bei Gregor von Nhssa z. B., dessen wissenschaftliche Be gabung ja offenbar seine praktische weit überragte, werden
18 doch, wenn ich mich nicht sehr täusche, die Mängel seiner
Praxis auch in seiner Mssenschaft bemerklich.
Arg irren
nicht selten solche Eltern, welche ihre Kinder wegen ihres praktischen Ungeschickes zur Mssenschaft, oder wegen ihrer
wissenschaftlichen Unfähigkeit zu ausgezeichneten praktischen Leistungen berufen meinen.
Also oftmaliges Vorherrschen
der Begabung für Wissenschaft oder Praxi- geben wir zu, aber im Ganzen
gehören
theologische Mssenschaft und
pfarramtliche Praxis nothwendig zusammen. Doch ich darf voraussetzen, daß die Nothwendig keit dieser Verbindung unter uns allgemein zugestanden wird.
Andersmeinende könnte man kurz mit der Frage
zurückweisen : Soll der Praktiker nicht verstehen, waS er
thut und der Theoretiker keinen Erfolg von dem wünschen, was
er
durchdenkt?
Immer
neues Hervorheben
jener
Nothwendigkeit rechtfertigt sich nur durch die Schwierig
keiten und Kämpfe, welche sich erheben.
bei
dieser Verbindung
In der Hitze solcher Kämpfe wird dann manch
mal gegenseitig ein übereiltes, ärgerliches, heftiges Wort
gesprochen, welches weit mehr eine vorübergehende Stim mung als eine dauernde Ueberzeugung ausdrückt und des
halb nicht allzu ernsthaft genommen werden darf. dieser
zuweilen
allerdings
recht
Um
hochgradigen Misstim-
mungen willen kann man das Wechselverhältniß auch so
ausdrücken: Theologische Wissenschaft und pfarramtliche Praxis leben gleichsam in einer nicht immer friedlichen,
aber
unauflösbaren
lichen Ehe.
und
keineswegs
.unglück
19 These 2—4*) beschäftigen sich mit den tauchenden Schwierigkeiten und Kämpfen.
hier auf
Wenn ich nicht
bei unserer heutigen ersten Zusammenkunft schwierige, zum
*) These 2 lautet: Der Zwiespalt zwischen beiden, welcher zuweilen an einzelnen Punkten heftig wird, darf nicht allzu ängstlich machen; denn er ist nicht blos Folge menschlicher Sünde, sondern auch lebensvoller Entwicke
lung des Gottesreiches. „Allzu ängstlich" heißt es sehr mit Absicht; denn etwas ängst lich soll allerdings der wissenschaftliche Theologe werden, wenn er seine Ausstellungen in argem Widerstreite mit der Praxis sieht, und ebenso der Praktiker, wenn sein Thun der Theorie scharf widerspricht. „Folge menschlicher Sünde" ist obiger Zwiespalt, wenn er durch Mangel an Gewissenhaftigkeit, Demuth, Fleiß und gutem Willen des gegenseitigen Verständnisses veranlaßt wird. Auf jedem Gebiete soll man insbesondere volles Verständniß für die Schwierig keiten auf dem andern haben. Aber auch als eine „Folge lebens voller Entwickelung des Gottesreiches" erscheint dieser Zwiespalt; denn die Wissenschaft wird oft der Praxis voraus sein, indem sie für deren Verfahren und Erfolge dermalen noch unerreichte oder gar unerreichbare Ideale aufstellt; ebenso wird die Praxis oft der Wissenschaft voraus sein, indem sie neues Verfahren auffindet, für welches erst später der volle Begriff und namentlich die systema tische Einordnung gesucht werden muß.
These 3.
Eine bestimmte Gestalt oder Abtheilung
der theologischen Wissenschaft ist ebensowenig die theologische Wissenschaft, als eine bestimmte Gestalt
psarramtlicher Praxis die vollkommene. Diese These weist in genauem Anschlüsse an die zweite auf die Nothwendigkeit wechselseitiger Kämpfe hin. Die Wissenschaft soll immer Vieles an der Praxis ungenügend finden und zu verbessern suchen, aber nicht die Praxis überhaupt gering schätzen. Diese wird gegen manche Ausstellungen und Gestaltungen der Wissenschaft bedenk lich sein, andere scharf bekämpfen. Letzteres hat mit ehrlichen und namentlich auch mit wissenschaftlichen Waffen zu geschehen. Zu un-
2*
20 Zorne reizende Thesen hätte meiden wollen, dann würde
ich eine solche darüber aufgestellt haben, daß namentlich der erste Uebergang von der theologischen Wissenschaft zur
pfarramtlichen Praxis
Mancher
leidet
Wahrhaftigkeit,
dabei
nicht
selten
großen
Freudigkeit
recht
Schaden
und
schwer
an
Tüchttgkeit.
fällt.
persönlicher Was
er
wissenschaftlich erworben hat und mit Lust aussprechen würde, findet er nicht zur Mittheilung geeignet, was ihn
dagegen Recht und Sitte
der Kirche
mitzutheilen ver
anlaßt, geht nicht mit voller Wahrhafttgkeit, Lust und
Kraft aus ihm hervor.
Wird dieser Zwiespalt nicht in
der rechten Weise ausgeglichen, dann leben Wissenschaft und Praxis auch im späteren Pfarramte nebeneinander wie
zwei Ehegatten, die keine Tisch- und Güter-Gemeinschaft
geziemenden^Waffen rechne ich CharakterverdLchtigungen, sowie Masseuerttärungen mit Unterschriften solcher, welche die betreffenden Schriften nicht studirt, vielleicht sogar nicht einmal gelesen, jedenfalls nicht ver standen haben.
These 4. Schwere Conflicte werden nicht durch Ab leugnen oder Verschleiern gelöst, sondern durch vermehrte Anstrengung, welche auf einen höheren Standpunkt erhebt, also hier durch Vertiefung der Wissenschaft oder der Praxis oder beider. Bezüglich solcher Conflicte wird hier natürlich nicht an das Ver halten gegenüber den Gemeinden gedacht, welches gänzlich außerhalb meines Themas liegt, sondern an das Verhalten der Theologen sowohl untereinander als innerhalb des Seelenlebens der Einzelnen, also bezüglich der eignen geistigen Entwickelung. Besonders hüte man sich vor solchen falschen „Entweder-Oder", durch welcke sich schwache Köpfe und Herzen von mehr kühnen und dispntaüonSgewandten, als genau und scharf auffaffenden Leuten zum Lftern er schrecken lassen.
21 haben.
Solche zwiespältigen Gemüther
sind
keine Be
hausungen, über welchen der Segen Gottes schwebt.
Da, wie wir vorhin sahen, die theologische Wissen schaft keineswegs blos und noch weniger immer unmittelbar für die pfarramtliche Praxis arbeitet, so wird sich auch
nicht Alles aus ihr unmittelbar auf diese Praxis über tragen lassen.
Indem die Wissenschaft auf den Wegen der
Erkenntniß vorwärts dringt, verirrt sie sich nicht selten,
und die Hypothesen, deren sie nicht entbehren kann, dürfen
nicht sogleich als ausgemachte Wahrheiten betrachtet und vor die zu ihrer Würdigung unfähige Gemeinde gebracht
werden.
Daß hier kirchliches Recht, kirchliche Ordnung
und Sitte entgegenwirken, wird zwar von wissenschaftlich begeisterten
jungen
Leuten
manchmal
unangenehm
em
pfunden, aber doch bei gründlicher Ueberlegung von allen Verständigen als heilsam erkannt.
Die theologische Wissen
schaft bedarf der freien Bewegung auf einem weiten Bersuchsfelde
für
allerlei
Neubildungen;
die
pfarramtliche
Praxis dagegen hat solches Experimentiren zu unterlassen
und sich als eine vielfach gebundene zu betrachten, nicht
blos durch die schon erwähnten kirchlichen Rechte, Ord nungen und Sitten, sondern auch durch kirchlichen Takt
und christliche Liebe.
Hier stehen wir an einem Punkte,
an dem theologische Wissenschaft und pfarramtliche Praxis allerdings zeitweilig auseinandergehen.
Ich weiß die Sache
nicht besser zu verdeutlichen, als an einem Ausspruche des
Herrn Professor Holtzmann in Straßburg, den ich aber
nur aus dem Gedächtnisse citire.
Derselbe lautete un
gefähr : „Soll uns eine alte Waschfrau in kritische Fragen hereinsprechen?"
Auf diesem Gebiete würde eine derartige
22 Mitarbeiterin mit vollem Rechte zurückgewiesen; aber ein
Pfarrer kann mit ebenso gutem Rechte auf eine alte Wasch frau große Rücksicht nehmen. Hier will ich denn auch mit einem Angriffe auf eine
bestimmte theologische Richtung bett Anfang machen.
In
späteren Conferenzen wird dergleichen vielleicht zum öftern
unvermeidlich werden.
Heute aber genügt mir vollkommen
meine eigene Richtung, die der positiven Mittelpartei, ein mal anzugreifen.
Eine ihrer schwächsten Seiten hat man
recht treffend bezeichnet, indem man sie „Angsttheologie" nannte.
Wenn man mir die Schattenseiten derselben in
brüderlich-wohlwollender Weise vorhält, dann gehe ich gern darauf ein; sollte man mir aber unhöflich kommen, so
würde ich auch lebhaft werden und etwa sagen : Nicht gerade an Muth fehlt es mir bezüglich der Uebertragung
wissenschaftlicher Ansichten in die Praxis, aber manchmal
hindern mich Gewissen und Liebe.
Ich schäme mich nicht
der Angst, es möchten unsere Gemeinden, es möchten ein fache, treue Christen an ihrem Glauben Schaden leiden,
wenn man ihnen Anstoß gibt.
Meine wirklich ängstliche
Rücksichtsnahme auf solchen Anstoß rechtfertige ich mit dem Worte unseres Herrn : Wer ärgert dieser Geringsten einen,
die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühl stein an seinen Hals gehängt und er ersäuft
würde im Meere, da es am tiefsten ist. UebrigenS darf auch nicht vergessen werden, daß ein zartes Gewissen
und ein kindliches Gemüth sehr wohl von einem engen, eigensinnigen, müssen.
böswilligen
Kopfe
unterschieden
werden
Deshalb sage ich in der Weise des Predigers:
Zurückhalten hat seine Zeit und Durchgreifen hat seine
23 — Diese ganze Bemerkung über die Aengstlichkeit
Zeit!
war übrigens nur eine scheinbar persönliche, denn sie wird mehr oder minder auf die Stellung der pfarramtlichen
Praxis zur
theologischen Wissenschaft
überhaupt passen.
Erstere wird die Neuerungen der letzteren zum vftern nur
mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit herübernehmen.
Aber diese Aengstlichkeit vor falschem Gebrauche der
Wissenschaft darf nimmermehr zur Angst vor der Wissen
schaft überhaupt werden.
Wenn man einzelne Gestaltungen
der Wissenschaft verwirft oder für verdächtig erllärt, wie
ja das bei den fast immer gleichzeitig vorhandenen ver schiedenen Ansichten der Wissenschaft gar nicht anders sein kann, dann darf man doch nicht die Wissenschaft überhaupt
verwerfen oder für verdächtig erklären.
Auch auf Seiten
der Wissenschaft findet sich zartes Gewissen, der Gerechtigkeit wegen will ich auch auf ihrer Seite enge, eigensinnige, hochmüthige Köpfe zugeben; aber wenn freilich die kind lichen Gemüther nicht gerade vorwiegend einen Beruf zur
Wissenschaft haben, so doch die gescheidten, sittlich ernsten
Leute.
Deshalb darf die Wissenschaft gewiß nicht minder
als die Menge der Schwachen auf behutsame Rücksichts nahme
und
auf
Anspruch erheben.
das Zurückhalten vorschneller Urtheile
Zuweilen wird leider durch einzelne
Veranlassungen oder Zeitströmungen das Mißtrauen und die Verstimmung zwischen den Männern der Wissenschaft
und der Praxis recht groß.
Auf dem Frankfurter Kirchen
tag 18H4 habe ich den seligen Professor Hundeshagen am Anfänge eines Vortrages sagen hören : Früher war es eine Ehre ein Professor zu sein, jetzt ist es
fast eine Schande.
Vorzugsweise scheint die Homiletik
24 mit unüberlegten Grobheiten bedacht zu werden.
Wenn
z. B. neulich ein namhafter Mann einen Anderen sprechen ließ: diese Predigt kann nicht correct sein, denn
sie hat Erfolg und das ist innormal; dann ist
ein kleines Fünkchen Wahrheit als Licht in eine große,
trübe Laterne von Verkehrtheit hineingesteckt worden. Die Wissenschaft geräth wie alles Menschenwerk zu weilen in große Verfehlungen, aber in noch weit größere doch sicher die Unwissenheit.
Die Wissenschaft sucht, ver
sucht und irrt mannigfaltig, aber sie wird doch nimmer
mehr durch die Unwissenheit, sondern nur durch ihre eigene
Vertiefung wieder auf den rechten Weg gebracht.
Ist der
Hochmuth auf das Wissen häßlich, so doch noch viel häß
licher der auf die Unwissenheit.
Die echte Wissenschaft
wird auch über ihre Grenzen, über ihre festen sowie ihre zweifelhaften Bestandtheile und über ihre richtige Anwen
dung belehren.
Eben deshalb gibt es ja auch eine prak
tische Theologie.
ES gilt da nur die appellatio a papa
male informato ad papam melius informandum.
Dem
paulinischen Satze : das Wissen bläset auf — darf der andere an die Seite gestellt werden : echte Wissenschaft
macht bescheiden. Ebenso wird echte pfarramtliche Praxis sehr bescheiden
machen.
Ein wirllich tüchtiger, frommer Pfarrer wird
den großen Zielen und den ihm anvertrauten Schätzen des Himmelreiches
gegenüber
feine Leistungen
und
Erfolge
immer gering finden; er wird sich selber gegenüber dem Widerstände, der ihm aus der sündigen Welt entgegentritt,
immer schwach fühlen.
Das Pfarramt ist ein Amt nicht
des Experimentirens, wohl aber des unausgesetzten Suchens,
25 Betens,
Ringens und Kämpfens.
Wenn nun
da die
Wissenschaft manchmal auf ein ganz Anderes hinweist als
auf das bisher Besessene und Geübte, so wird die pfarr amtliche Praxis dieses Andere zwar nicht sofort und un geprüft
herübernehmen,
sie
wird
Manches
entschieden
zurückweisen, wenigstens vorerst, sie wird vielleicht Manchem mit lebhaftem Unwillen entgegentreten;
aber sie muß den
scharf prüfenden Blick doch auch ständig auf sich selber wenden,
um über die eigenen, oft recht argen Unvoll
kommenheiten und Verfehlungen strenges Gericht zu halten;
sie wird nicht von dem Einen Rande einer tiefen Kluft
in die Luft springen, wenn sie auf dem andern keinen festen Boden sieht, wohl aber als richtig erwiesene neu
entdeckte Wege vom Evangelium zu den Herzen der Menschen jubelnd willkommen heißen.
Keine Leute waren unserem
Heilande mehr zuwider als die satten, selbstzufriedenen,
selbstgerechten.
Nach alledem kann der große Zwiespalt, welcher sich zuweilen
zwischen
theologischer Wissenschaft und
pfarr
amtlicher Praxis erhebt, nur eine Aufforderung zu ge
steigerter, wechselseitiger Vertiefung sein. Dieser Zwiespalt hat mich deshalb auch weniger ver anlaßt,
die
Nothwendigkeit
einer
Verbindung
zwischen
theologischer Wissenschaft und pfarramtlicher Praxis her vorzuheben,
als die These 5*) erwähnte Schwierigkeit,
*) These 5. Der Mangel an ständiger voller Wechsel wirkung zwischen beiden wird weniger durch Verkennen des bisher Gesagten herbeigeführt, als durch die Aus dehnung der beiderseitigen Gebiete, deren jedes schon
26 welche aus der Ausdehnung der beiderseitigen Gebiete er wächst. Im Allgemeinen darf man annehmen, daß sich die Männer der theologischen Wissenschaft gern mit der allein einen ganzen Mann in Anspruch zu nehmen scheint. Deshalb hat man weniger die Nothwendigkeit als die Möglichkeit jener Wechselwirkung nachzuweisen. Wenn auf jedem der beiden Gebiete Manche meinen : „besser Eins ganz als beides ungenügend; durch solches, welches zunächst nicht befohlen ist, darf die Hauptpflicht nicht geschädigt werden" — dann hat diese Ansicht gewiß Vieles für sich. Man weiß ja von Professoren,
deren Wissenschaft durch ihre Neigung zum Praktischen und Erbau lichen geschädigt wurde, sowie von Pfarrern, welche um wissenschaft licher Studien und einträglicher Schriftstellerei willen heilige Amts pflichten vernachlässigten. Die auf Grund solcher Erfahrungen auf tauchenden wohlberechtigten Bedenken soll These 6 erledigen helfen. These 6. Richtig zusammen betrieben werden theolo gische Wissenschaft und psarramtlichePraxis einander nicht hindern, sondern fördern. Bei der einen erholt und stärkt man sich für die andere. Sehr Wenige werden so glücklich begabt und gestellt sein, daß sie bei der dermaligen Sachlage aus beiden Gebieten gleich Tüchtiges
leisten. Für die Meisten muß Eines die Hauptsache sein, das Andere aber so mit beigezogen werden, daß eS jener Hauptsache nicht Abtrag thut, sondern dient. „Eines hilft dem andern", sagte bekanntlich Schleiermacher mit Beziehung auf seine sehr verschiedenartigen Aemter.
Wohlberechnete Abwechselung der Arbeit ist für Manche die beste und fast die einzige Art des AuSruhens. Wohl dem Pfarrer, der eS als wahre GeisteSerfrifchung begrüßt, wenn er sich einige Stunden für wissenschaftliches Arbeiten erobern kann; und wohl dem Professor, der sich von innen heraus getrieben fühlt und dem es gelingt, zu weilen in praktischer Thätigkeit sein Herz zu erwärmen! Beide arbeiten nachher in ihrem Hauptsache freudiger, rascher, umsichtiger, also besser. Niemals aber darf so getheilt werden, daß auf Seiten deS Hauptfaches nur die Pflicht, das Vergnügen dagegen nur auf Seiten der Nebenbeschäftigung steht. Wohl vielmehr Allen, welche ihre Hauptarbeit mit solcher Lust vollziehen, daß sie dieselbe ungern
27 psarramtlichen Praxis und die Pfarrer gern mit der theo
logischen Wissenschaft beschäftigen, wenn sie nur die Zeit und Kraft dafür zu finden wissen.
Es kann freilich nicht geleugnet werden, daß manche
Theologen viele Zeit verlieren, ohne daß ihre Wissenschaft
oder ihre Praxis Deutschen
sind
etwas
ein
damit
sehr
zu
schaffen
gemüthliches
Volk.
hat. In
Wir der
Familie, bei dem geselligen Verkehre, bei dem Glase Wein
oder Bier wird 'öfter ein zu großer Aufwand von Zeit gemacht, und der Pfarrer, von dem man unlängst in einer
theologischen Zeitschrift las, daß er auf die Frage, was er nach seinem so frühen Aufstehen Morgens thue, mit der
Betonung wohlberechtigter Selbstzufriedenheit geantwortet hat : Ich rauche — wird wohl nicht der Einzige seiner
Art sein.
Aber auch viele Zeitverschwendung zugestanden :
Ruhe und Erholung muß doch gerade um der Tüchtigkeit
in der Arbeit willen sein, und unsere obige Behauptung, daß die Ausdehnung der beiderseitigen Gebiete die Männer der Wissenschaft von der Praxis, ebenso die der Praxis
von der Wissenschaft abhält, bleibt vollkommen richtig und betrifft grade die Tüchtigsten.
Indem ich die weitere Aus
führung der Besprechung überlasse,
erwähne ich nur:
immer neue Einzelfächer zweigen sich in der Theologie ab.
Das legt dem Professor die Klage nahe : ich kann kaum neben meinem Einzelfach noch die angrenzenden Fächer
beherrschen;
ich kann
mir nur
schwer eine allgemein
theologische Bildung erhalten, noch schwerer den nöthigen und mit Gewalt unterbrechen, um leistungsfähig zu bleiben, und die sich gerade um dieser Leistungsfähigkeit für das Hauptfach willen auch
einer Nebenbeschäftigung zuwenden!
28 Zusammenhang mit der übrigen Wissenschaft; woher soll mir Zeit für pfarramtliche Praxis bleiben?
Die in letzterer
Stehenden können mit demselben Rechte klagen : es werden uns immer neue Arbeiten zugemuthet; außer dem eigent lichen Pfarramte, dessen Pflichten immer schwieriger werden,
nehmen das Armenwesen, die Werke der inneren Mission,
überhaupt die mannigfaltigen Vereine so viele Zeit in Anspruch, daß ich keine mehr für wissenschaftliche Beschäf tigung finde, so gern ich möchte.
Bielgeschäftigkeit, Zer
splitterung einerseits und einseitige Beschränkung anderer seits sind jetzt wirklich sich gewaltsam aufdrängende schwere
Uebel.
Man spottet gern über faule Pfarrer und diese
species wird leider noch nicht ausgestorben sein; aber es wäre mehr Grund, von solchen zu reden, die unter schwerer
Arbeitslast sich auf das Redlichste anstrengen und frühzeitig
zusammenbrechen. Deshalb scheinen mir unsere beiden letzten Thesen,
welche die Möglichkeit eines Wechselverkehrs zwischen
theologischer Wissenschaft und pfarramtlicher Praxis nach weisen, die wichtigsten.
Ich überlasse und
vorzugsweise zur Besprechung.
empfehle sie
Bei dieser will ich das
Wenige, was ich noch zur Erläuterung zu sagen habe,
zufügen *).
*) Bezüglich der Mittel zu reger Wechselwirkung zwi schen theologischer Wissenschaft und psarramtlicher Praxibemerken wir: a) das Lesen von Kirchenzeitungen und Zeitschriften ist zwar unentbehrlich, die Art und Weise aber, wie eS gewöhnlich geschieht, gehört doch eigentlich zur siebenten Bitte;
29 Meine Einleitung aber lassen Sie mich so schließen:
Es ist natürlich, schön und recht, daß sich der wissenschaft
liche Theologe für seine Wissenschaft und der praktische für sein Pfarramt begeistert.
Wissenschaft und Pfarramt
werden glücklicherweise jedem, der sich mit voller Aufbietung
seiner besten Kräfte an sie hingibt, immer lieber und hoch
stehender.
Aber eine
armselige Hochachtung ist
überall
diejenige, welche nur durch die Niedrigstellung eines andern,
ebenfalls Wohlberechtigten zu bestehen vermag.
In unserem
Falle aber ist dieses Andere nicht einmal ein Anderes, denn bei jedem schließt ja das vollumfaßte Eine auch schon das Andere mit ein.
Wenn nun auch selbstverständlich
Manche von uns stärker in der theologischen Wissenschaft, Manche stärker in der pfarramtlichen Praxis sind, so hoffe und wünsche ich doch uns alle reich an Verständniß und
Hochachtung für beide Gebiete, uns alle bewegt von Be geisterung für dieselben hohen Ziele und Güter de« Gottes
reiches, von derselben Liebe, die unter dem Kreuze Christi sich entzündet, uns alle als demüthige, treue Diener dieses
ewigen Königes und seiner großen Gemeinde; ich wünsche auf
solchen Grundlagen
dann
persönliche Befreundung
und wechselseitige Förderung, überhaupt Gedeihen unserer
Conferenz.
Während dieser Absatz a der Conferenz in einer absichtlich zum Widersprüche
reizenden Gestalt vorgelegt wurde, wie das ja dem
eigentlichen Wesen einer These entspricht, schien angemessen, hier für die Leser meine wirkliche Meinung genau auszusprechen.
Mcht das
Lesen der kirchlichen Zeitungen und Zeitschriften an sich ist vom Uebel,
wohl aber vielfach unser Verfahren dabei, nämlich, daß man entweder nur Blätter Einer Richtung, oder planlos und ohne klares Urtheil
30 solche verschiedener Richtungen untereinander liest; besonders aber, daß man nur gedankenlos überfliegt und gerade die größeren, werth volleren Artikel überschlägt, anstatt sie gründlich zu studiren. Wer letzteres mit wissenschaftlichem Sinne und prakttschem Ernste thut, also
mit Anknüpfung an tüchtige- Wissen und mit der Richtung auf wichttge Ziele hin, der kann großen Gewinn haben. b) wie einerseits da- zeitweilige Studium größerer wissenschaftlicher Werke, so ist andererseits einige wirkliche praktische Thätigkeit dringend zu em
pfehlen; Während das bunte Durcheinander flüchtig gelesener kleiner Artikel etwas Zerstreuendes, ja selbst etwas wissenschaftlich und sittlich Entnervendes hat, stählt das gründliche, scharfe Anstrengung erfor dernde Studium größerer wissenschaftlicher Werke die geistige Kraft. Ersteres streift nur die Oberfläche, letzteres bewegt die Tiefen des Seelenlebens. Zuweilen, d. h. alle paar Jahre einmal, soll der Pfarrer für solches Studium eines größeren Werkes Zeit zu finden
suchen; denn wer etwa nur einmal in seinem späteren Leben zu solchem Studium gelangt, gibt fich leicht ganz an dieses Eine Werk
gefangen. Als eine wirkliche wird hier die praktische Thätigkeit bezeichnet,
um dieselbe scharf von der theoretischen Beschäftigung mit dem Pfarr amte zu unterscheiden, welche ja vielfach bei Professoren stattfindet. Bei jener prakttschen Thätigkeit denken wir hier an die kirchlich-prak tische überhaupt, so daß dazu besonders auch die Theilnahme an Vereinen zur Förderung des GotteSreicheS gehört. Leider fällt ja deren Leitung so vielfach vorzugsweise den Pfarrern zu, daß man den Begriff der pfarramtlichen Praxis nicht allzusehr erweitert, wenn man daS kirchliche Vereinswesen mit Hineinrechnei.
c) man arbeite tüchtig auf Einem Felde (oder eini gen Feldern) des anderen Gebietes, erhalte sich aber Verständniß und Hochachtung für das Ganze; Hier wird noch ein Anderes und Mehreres angerathen als bei b, nicht blos ein Studium, ein Durchdenken und Aneignen größerer Werke, sondern selbstthätige Mitarbeit an der Wissenschaft zu deren Weilerförderung. Ebenso andererseits nicht blos passive Theilnahme, sondern wirkliche, eifrig praktische Arbeit. Beides wird in der Regel
31 nur auf engbegrenzten Gebieten möglich sein. Nicht in Vielem et was und nirgends etwas Rechtes; sondern in Einem tüchtig und dadurch Sinn für Alles.
d) zum Studium empfehlen sich dem praktischen Theologen (neben oder in der praktischen Theo logie) besonders solche Einzelfächer, welche sich mit der Bibel beschäftigen, zu praktischer Thätig keit dem wissenschaftlichen Theologen besondersolche Arbeiten, welche viel lebendigen Verkehr mit Menschen herbeiführen. Wir geben diesen Absatz in seiner ursprünglichen, leichter über sehbaren Fassung. Bei der großen Anzahl sowie mannigfachen Be anlagung und Stellung der praktischen Geistlichen ist es ebenso natürlich als wünschenswerth, daß sie ihre Studien den verschieden artigsten Seiten des wissenschaftlichen Gebietes zuwenden. Was eignet sich nicht, wenn es richtig betrieben wird? könnte man fragen. Nur die gründliche, tiefeingehende Beschäftigung mit der Bibel möchte ich besonders hervorheben, theils weil ich von dem Segen einer solchen lebhaft überzeugt bin, theils weil sie durch die Menge des sich sonst Aufdrängenden beeinträchtigt wird. Selbstverständlich habe ich dabei insbesondere auch Exegese und biblische Theologie im Auge. An die
Wissenschaft der praktischen Theologie erinnere ich, weil man behauptet hat, gerade diese werde von Geistlichen im Amte wenig studirt; ich aber muß bekennen, darüber keine Erfahrung zu haben. Zu dem unter c in das Auge gefaßten selbstthätigen Mitarbeiten an Förderung der Wiffenschaft auf engbegrenztem Felde eignet sich auch besonders die Kirchengeschichte, weniger die Dogmatik, weil bei letzterer die Be arbeitung eines einzelnen Punktes Beherrschung des ganzen Systemes und philosophische Durchbildung voraussetzt. Dagegen zum Studium, zum aneignenden Durchdenken, wie es vornehmlich unter d gefordert wird, sind dogmatische und ethische Werke, die Apologetik mit ein geschloffen, sehr zu empfehlen. Der rege Verkehr mit Menschen, der zum Theile während der
edelsten und tiefsten Bewegungen des Seelenlebens stattfindet, gehört zu den schönsten Vorzügen des Pfarramtes. In einen bedeutenden, liebenswürdigen, eigenartigen Menschen der Jetztzeit hineinzuschauen, ist mir ein Genuß, wie Andern eine neuaufgefundene Handschrift aus
32 alter Zeit. Dem Professor verschafft sein Beruf jenen regen Verkehr nicht; denn die Studirenden stehen ihm in gleichartigen Verhältnisten zumeist als Empfangende gegenüber; neben dem Predigen, bei besten Vorbereitung schon man stch die Gemeinde lebhaft zu
vergegenwärtigen hat, empfiehlt fich darum den Gelehrten namentlich die Betheiligung an dem BereinSwesen als wohlthätige Ergänzung
zur Beschäftigung mit den Büchern. Wenigstens für Manche darf auch wohl daran erinnert werden, daß Ertheilen von Religionsunter
richt heilsam wäre. e) sehr anregend und fördernd kann zwischen Män
nernder theologischen Wissenschaft und der pfarr amtlichen Praxis der persönliche Verkehr auf
Eonferenzen werden. In dieser Beziehung könnten wohl auch die Pfarrconferenzen, welche übrigens nicht genau unter den Wortlaut dieses Absatzes fallen, vielfach noch fruchtbarer gemacht werden. Man soll die Themata so auswählen und behandeln, daß praktische und wiffen-
schaftliche Förderung zugleich erreicht wird. ES könnte zum öftern mehr empfunden werden, daß eö ein wichtiger Dienst für das Gotteöreich ist, wenn man dessen Diener stärkt. Längere Beschäftigung mit einem Thema von Seiten des Bearbeiters und etwa noch eines Eorreferenten, zeitige Borausverkündigung des Themas und der et waigen Thesen, damit sich auch die übrigen Betheiligten gründlich vorbereiten können, würden den Gewinn sehr steigern. Obiger Absatz aber hat vorzüglich eine Conferenz, wie unsere
gegenwärtige, im Auge, welche sich die Wechselwirkung zwischen Wissenschaft und Praxis ausdrücklich zum Ziele gesetzt hat. Der persönliche Verkehr kann in dieser Beziehung so heilsame Dienste leisten, weil daS lebendige Wort und die ganze Erscheinung
der Menschen ungleich wirksamer sind als schriftliche Be lehrungen. Durch jene werden leichter Borurtheile und Mißverständniffe beseitigt z die Anschauungen bereichert, Annäherungen der Gemüther herbeigesührt. Was der Verstand, das System und die Parteirichtung trennen, wird oft durch das Herz und den Eindruck der gesammten Persönlichkeit geeinigt. Wir sind als ganze Menschen meist bester und liebenswürdiger wie die Einzelnheiten, die man von unS weiß und erzählt. Bei der theologischen Wiffenschast, wie bei
33 der pfarramtlichen Praxis fragt man nicht -los : was leistet man mit ihr oder in ihr; sondern namentlich auch: was ist man durch sie geworden? Beide sollen eine Mannigfaltigkeit christlicher Charaktere und Persönlichkeiten herausbilden helfen, in denen allen wenigstens einigermaßen die Herr lichkeit des Einen Herrn der Kirche sich abspiegelt.
Der heutige Stand der
Alttestamentlichen Wissenschaft. Vortrag von
Professor D. W. Graf von Baudissin.
Hochgeehrte Herren!
Wer die Aufgabe hat, in dem kurzbemessenen Rahmen
eines einzigen Vortrages zu referiren über den heutigen Stand der alttestamentlichen Wissenschaft vor einem aus
Theologen bestehenden Zuhörerkreise muß von vornherein darauf verzichten, seinem Auditorium durch Neuheit des
Stoffes Interesse zu erwecken.
Was ich Ihnen, m. H., in
der mir zubestimmten Zeit mitzutheilen im Stande bin, habe ich bei Ihnen in den Einzelheiten als so ziemlich
allgemein bekannt
vorauszusetzen.
Nur
damit
darf ich
hoffen, Ihnen etwa einen Dienst zu erweisen oder wenig
stens einige Anregung zu bieten zu selbständiger Beur
theilung,
daß ich die
bekannten Einzelheiten zu einem
Gesammtbilde zusammenzufassen und Bedeutung wie Werth des Einzelnen zu der BehandlungS- und Auffassungsweise des gesammten Gebietes der alttestamentlichen Disciplin
hervorzuheben versuche. 1.
ES ist bekannt, daß seit einer Reihe von Jahren
pentateuchische Fragen, speciell Fragen nach der Abfassungs
zeit des PentateucheS oder, noch genauer ausgedrückt, nach
der Abfassungözeit eines besümmten Theiles des ganzen
PentateucheS im Mittelpunkte der alttestamentlichen For
schungen stehen.
Es scheinen dies Fragen zu sein, welche
38
der nicht zum Fache Gehörige füglich den Specialisten überlasten könne, da zunächst wenig naheliegend aussieht, daß ein so specifisch literärhistorischer Gegenstand, noch
dazu einem Gebiet
angehörend,
stehung des Christenthumes
welches
von der Ent
auf jeden Fall durch weite
Zeiträume getrennt ist, dem Theologen als solchem, nament lich dem praktischen Theologen, ein aus seine theologische
Gesammtauffaffung bezügliches Interesse zu gewähren im Stande sei.
Ich glaube mir für heute die Aufgabe zu
weisen zu dürfen. Sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Art, wie in den letzten Jahren diese literärkritische
Frage behandelt
wurde,
nicht
nur
von
dem
größten
Einflüsse geworden ist für die Auffassung des gesammten Alten Testamentes, sondern auch ein so wesentlich neues
Bild der alttestamentlichen Entwickelung erzeugt hat, daß die Verschiedenheit der Auffassung auf diesem Gebiet aller-
dingS von hoher Wichtigkeit ist für die Anschauung von der Vorbereitung des Christenthumes, somit geeignet, jedem
Theologen Interesse zu erwecken. Erst seit etwas über hundert Jahren beschäftigt man sich
überhaupt
mit Quellenkritik des Pentateuches, seit
1753, als die Conjectures von Astrüc erschienen.
Dieser
eigentliche Anfänger der Pentateuchkritik trug seine Analyse
vor in dem Sinne, daß Mose es war, welcher verschiedene Urkunden benützte.
Bon dieser Anschauung, daß Mose
sich denken lasse nach der Weise der späteren jüdischen Tradition als der eigentliche Verfasser oder doch Redactor
des Pentateuches sind aber diejenigen, welche überhaupt die Berechtigung einer kritischen Analyse zugeben, längst
zurückgekommen.
Sie geben theilweise wohl eine Mosaische
39 Grundlage der alttestamentlichen Gesetzgebung zu, verlegen aber die Quellenschriften selbst durchgehend in weit spätere
Zeiten.
Es wird allerdings die Berechtigung der Quellen
kritik auch jetzt noch nicht von allen zugestanden.
Aber
der Vertreter des Faches sind doch nur wenige, welche wie
Hengstenberg'S Schüler Keil
dieselbe einfach ablehnen.
Heute, m. H., wo ich über den gegenwärtigen Stand der alttestamentlichen Wissenschaft zu referiren habe, muß ich
einfach die quellenkritische Untersuchung als etwas Ge
stehendes und zwar unter den wissenschaftlichen Pflegern
des Faches fast allgemein Anerkanntes voraussetzen, ohne diese Weise der Behandlung rechtfertigen zu können.
Nur
das möchte ich vorausgeschickt haben, daß die Kritik auf
diesem Gebiete — ich meine die Sonderung von Quellen
an und für sich, nicht die gerade jetzt herrschende Art der Kritik — mir einmal durch den Befund der überkommenen Literatur unabweisbar
geboten und dann auch für den
Charakter dieser Literatur als einer heiligen durchaus un-
bedenllich zu sein scheint.
Wir zerstören dadurch nicht ein
Selbstzeugniß dieser Literatur; denn der Pentateuch als Ganzes gibt sich keineswegs für ein Werk des Mose aus;
erst die spätere jüdische Anschauung hat ihn dazu gemacht. Mag nun dieses große Sammelwerk von Mose zusammen gestellt sein oder von einem weit Späteren — es gibt uns
Zeugniß von einer gottgewirkten Leitung und Erziehung
des Volkes Israel; es ist, weil von heiliger Geschichte zu uns redend und in einer solchen Weise davon redend, wie
es dienlich war, um Israel auch durch diese Schriften zu
erziehen für
die Aufnahme der Offenbarung Gottes in
40 Christo Jesu — es ist und bleibt un- deßhalb ein Bestand -
theil der heiligen Literatur. 2.
Vor zehn Jahren erschien ein Buch, von welchem,
wenn ich nicht allzuweit
von der Gegenwart mich ent
fernen will, hier auszugehen gestattet sein mag, nicht um
wesentlicher Neuheit seines Inhaltes willen, wohl aber deßhalb,
weil
sein Erscheinen
eine
Wende
bezeichnet,
wenigstens für Deutschland, in der Beurtheilung penta-
tenchischer Fragen.
Im Jahre 1874 veröffentlichte
Straßburger Kayser seine Schrift:
der
„Das vorexilische
Buch der Urgeschichte Israels und seine Erweiterungen". Die Absicht war, als den ältesten Theil des PentateucheS
jenes Erzählungsbuch darzustellen, welches wir nach dem vorherrschenden Gebrauche des Gottesnamens Jehova oder
Jahwe als das jehovistische Buch zu bezeichnen Pflegen, jenes Buch, welchem die schönen detaillirten, culturgeschicht-
lich und psychologisch fein ausgemalten Erzählungen der Patriarchenzeit wie der Mosaischen Zeit angehören, wäh
rend nur ein Keines gesetzliches Stück Ex. 21—23. 34
demselben zugewiesen wird.
Die nächste Erweiterung dieses
seinerseits wieder aus verschiedenen Quellenschriften zu
sammengesetzten BucheS soll das Deuteronium sein und
eine daran anschließende, vom Deuteronomiker vollzogene Ueberarbeitung der jehovistischen Erzählungen aus der Ge schichte des Josua.
Erst nach dem Exil unter Esra kam
ein großes neues Buch hinzu, wesentlich gesetzlichen, speciell
ceremonialgesetzlichen Inhaltes. die
großen
B. Exodus,
gesetzlichen
Demselben sind zuzuweisen
Partieen,
vorzugsweise LeviticuS
welche
theilweise
daS
und Numeri füllen.
Eingerahmt sind diese gesetzlichen Stücke von geschichtlichen
41 Berichten, welche, mit der Weltschöpfung beginnend, durch aus nur das Gerüste der Gesetzgebung bilden, deßhalb dürr
und kahl sind, wo sie dieser nicht direct dienstbar sein können, ausführlich meist nur da, wo sie Cultuseinrich
tungen, wie die Einsetzung des Sabbaths und der Be schneidung zu «fernen haben.
Einzelne Novellen dieses
großen Gesetzbuches sollen erst der Zeit nach Esra angehvren; im wesentlichen aber war dies Buch fertig, als Esra dasselbe für die neue jüdische Colonie als das gültige Gesetz publicirte.
Es ist dies jener Theil des Pentateuches,
um dessen Entstehung sich die Verhandlungen der neuesten Zeit gedreht haben.
Man hat verschiedene Benennungen
für dieses gesetzliche Buch vorgeschlagen.
demselben bis
Nach dem in
auf die Gottesoffenbarung an Mose ge
brauchten GotteSnamen Elohim nennt man dasselbe wohl
das elohistische Buch.
Es gibt aber auch elohistische Be
standtheile außerhalb desselben, welche, mit jahwistischen
enge verwoben, dem „vorexilischen" Erzählungsbuche Kayser'S angehören.
Wir ziehen vor, jenes Buch zu bezeichnen
als die priesterliche Schrift, mag man daran dabei denken,
daß dasselbe von Priestern geschrieben war oder daran,
daß eS zum größten Theil Vorschriften enthält für die Vollziehung des priesterlichen Dienstes.
Kahser's Darstellung war nicht neu.
Sie war eine
Wiederaufnahme der von Graf im 1.1866 („Die geschicht lichen
Bücher
Hypothese.
des
Alten Testaments")
vorgetragenen
Graf wie Kayser sind Schüler von Reuß,
welcher in seinen Vorlesungen seit 1834 (1833) hinsichtlich
des sog. Priestercodex, d. h. des in der Schrift"
„priesterlichen
enthaltenen Gesetzes, dieselbe Anschauung vor-
42 getragen hatte.
Doch hatte Reuß wie zuerst auch Graf
(in der angeführten Schrift) den Priestercodex getrennt
von den denselben einrahmenden erzählenden Bestandtheilen und hatte diese für älter gehalten.
Gleichzeittg fast mit
Reuß und unabhängig von ihm waren im 1.1835 Vatke
und George für ungefähr dieselbe Consttuction der Penta
teuchentstehung eingetteten.
Die Anschauung der Reuß'-
schen Schule, mit welcher der Altmeister selbst bis auf
einige Andeutungen in wenig beachteten Artikeln erst allerneuestens in die Oeffentlichkeit hervorgetreten ist, würde
in Deutschland sicher um einige Jahre früher das allge
meine Interesse in Anspruch genommen haben, wenn ein
in den Jahren 1869/70 erschienenes, auf dieser Hypothese sich auferbauendes groß angelegtes Werk nicht in der für viele unzugänglichen holländischen Sprache erschienen wäre.
Ich meine das durch seinen Scharfsinn und seine rücksichts
lose Handhabung historischer Kritik ausgezeichnete Werk von Ku en en :
De Godsdienst van Israel.
Es blieb
bei uns zunächst wider Verdienst unbeachtet, bis zuerst die kleine Schrift von Kayser diese Fragen wieder in An
regung brachte, worauf gleich im folgenden Jahre 1875 Duhm in seiner um ihrer geistvollen, wenn auch durch aus nicht immer haltbaren Bemerkungen willen bemerkenöwerthen „Theologie der Propheten" eben diese Anschauung
zu Grunde legte und bald darauf in den Jahren 1876/77
in den Jahrb. für deutsche Theologie Wellhausen'S
im allgemeinen dasselbe Resultat erzielende geistvolle Ana lyse des Hexateuches erschien.
Den historischen Gewinn
dieser Analyse hat Wellhausen zusammengefaßt in seinem zuerst 1878 erschienenen ersten Bande einer „Geschichte
43
Israels", welcher neuerdings (1883) in zweiter Auflage als „Prolegomena zur Geschichte Israels" unter richtigerem
Titel herausgegeben wurde;
die eigentliche Volksgeschichte
ist darin noch nicht behandelt, nur die Literatur- und
Cultusgeschichte.
Auch letztere wurde durchaus sachgemäß
zur Grundlage gewählt für den Aufbau der israelitischen
Geschichte, weil in der That die Anschauung von der Ent
wickelung des Cultus den Ausgangspunkt der neuen Dar stellung bildet.
Dieses Werk hat, wie Ihnen allen bekannt,
in weiten Kreisen das größte Aufsehen erregt und bei der Mehrzahl der Vertreter des alttestamentlichen Faches eine völlige Umwandlung ihrer Anschauungen hervorgebracht.
Durfte bis dahin seit de Wette und namentlich durch den Einfluß Ewald's und seiner Schule hinsichtlich der
zeitlichen Folge
der
pentateuchischen Bestandtheile
als
herrschende Anschauung diese gelten, daß der älteste Be standtheil die priesterliche Schrift mit dem großen Gesetz
buchs sei, der zweite das jehovistische Erzählungsbuch und der dritte und jüngste das unter Josia publicirte Deutero
nomium, so verlegte man jetzt den erstgenannten Theil an das Ende der Entwickelung.
Wellhausen selbst hat ein kurz zusammenfassendes Bild der israelitischen Geschichte,
wie sie sich ihm auf dieser
Grundlage darstellt, gegeben in seinem Artikel Israel in
der Encyclopaedia Brittannica. größeren Werken ist
Von seitdem erschienenen
auf derselben Grundlage auferbaut
der Commentar von Sm end zu Ezechiel (1880) und die
erst in einigen Lieferungen erschienene „Geschichte Israels"
von Stade, woneben noch genannt werden mag Budde's „Biblische Urgeschichte" (1883), welche die Voraussetzungen
44 der genannten Werke theilt, ohne gerade bei minutiös
detaillirter Untersuchung der Quellenbestandtheile für die Gesammtanschauung Neues zu bringen.
mit
dem
Hauptwerke
Wellhausen's,
Schon gleichzeitig
also
nicht beeinflußt, hat Hermann Schultz
durch dieses sich in
der
zweiten Auflage seiner „Alttestamentlichen Theologie" (1878)
entschlossen, die gesetzliche Periode, welche früher den Aus gangspunkt seiner Darstellung gebildet hatte, als den Ab
schluß
der
prophetischen Entwickelung zu charakterisiren.
Im 1.1881 trat dann auch der eigentliche Urheber dieser
Darstellung, Reuß, mit derselben hervor in seiner „Ge schichte der heiligen Schriften des Alten Testaments", nach dem er einige Jahre früher dieselbe bereits in der glän
zenden Einleitung zum Pentateuch in seinem französischen
Bibelwerke vertreten hatte (1879). Als solche, welche in breiteren Ausführungen gegen
die neue Construction eintraten, sind hervorzuheben Dill mann in seinem Commentare zum Pentateuch (seit 1875)
und Delitzsch mit einer großen Reihe von Aufsätzen in der Zeitschr. f. kirchl. Wiss. u. kirchl. Leben (seit 1880). Auch ist hier noch zu erwähnen die Schrift von Breden
kam p „Gesetz und Propheten" 1881, ferner eine ausführ
liche, in einzelnen Punkten richtig urtheilende Kritik des Wellhausen'schen Werkes von Kittel („Die neueste Wen dung der pentateuchischen Frage" in : Theologische Studien aus Württemberg 1881/82).
Unter den bisher schweigen
den Gegnern ist um seiner von allen anerkannten Un befangenheit sowohl als Sachverständigkeit willen einer zu
nennen, dessen Gegnerschaft Wellhausen in der Vorrede seiner neuen Auflage mit respektvollen, aber nicht minder
45 sein Bedauern bekundenden
Worten
der
Verborgenheit
entzieht : ich meine einen der ersten unter unseren Orien
talisten, Theodor Nöldeke, welcher bei dem Stand punkte seiner Untersuchungen von 1869 im Gegensatze zu Graf verharrt.
3.
Es ist bekannt, mit welcher Leidenschaftlichkeit von
der einen und Empfindlichkeit von der anderen Seite über die hier skizzirte Angelegenheit ist verhandelt worden. Es
muß
aber
bemerkt
werden,
daß
die Leidenschaftlichkeit
weniger kommt auf das Conto der sachverständigen Gegner der neuen Construction, als auf dasjenige ferner Stehender, welche, nicht immer mit der genügenden Kunde ausge
stattet,
sich
berufen fühlten,
in
anderwärts darüber zu referiren.
Kirchenzeitungen und Woher diese Erregtheit
in der Behandlung einer, wie es scheint, sehr indifferent literaturhistorischen Frage?
Zu einem guten Theile erklärt
sich dies Auftreten von gegnerischer Seite daraus, daß die
neue Hypothese von einigen ihrer Vertreter — durchaus nicht von allen — vorgetragen worden ist mit solchen
Nebenausführungen, welche, zum Kerne der Darstellung durchaus nicht gehörend, kaum anders als pietätlos be
zeichnet werden können, sowohl mit Rücksicht auf die ehr würdige Literatur, um welche es sich handelt, als mit Rücksicht auf würdige Personen, welche auf gegnerischer'
Seite standen.
Aber die bedauerliche Form einzelner Dar
stellungen kann zur Erklärung der Schärfe des hervor gerufenen Gegensatzes doch nicht genügen; diese muß in
der Sache ihren Grund haben. so bedenllich halten,
Sollte man nun das für
daß die zeitliche Ansetzung einiger
Bestandtheile der heiligen Schrift um einige Jahrhunderte
46
verschoben wird?
Aber auch auf der äußersten Rechten
— wenn ich dieses Ausdruckes mich hier bedienen darf —
der heutigen Theologie sind nur ganz vereinzelte Stimmen, welche den Pentateuch nach der Weise früherer Tradition
als
Mosaisch
Böhl
eingetreten Selbst
sich
vorstellen.
Ungefähr ist
neuerdings
(„Zum Gesetz und zum Zeugniß" 1883) und doch
auch
Bredenkamp
hierfür
er nur mit Modifikationen.
gibt bedeutende
Verschiebungen
jenes alttraditionellen Bildes der Entstehung des Pentateuches zu, und Delitzsch trägt neuerdings eine Zeitfolge der
Pentateuchbestandtheile
vor,
welche
derjenigen
der
Reuß'schen Hypothese entspricht, nur daß bei ihm etwa unter Josia fällt was dort unter Esra.
Der Leipziger
Dr. König, welcher in seinem „Offenbarungsbegriff des Alten Testamentes" (1882) eintritt für ein mit dem leib
lichen Ohre wahrnehmbares Reden Gottes zu den Pro
pheten und in seiner jüngst erschienenen Broschüre : „Die Hauptprobleme
der
altisraelitischen
(1884) für eine durchaus
Religionsgeschichte"
realistische Auffassung der alt-
testamentlichen Aussagen von einer Licht- und Feuernatur
Gottes, welcher also mit modern-theologischen Ideen kaum Berührungspunkte hat, erklärt sich bezüglich der literatur
geschichtlichen Auffassung
geradezu für einen „Wellhau-
senianer".
4.
Darüber, m. H., darf doch wohl ein Zweifel nicht
bestehen, daß für denjenigen, welcher nicht etwa um der späteren jüdischen und christlichen Tradition willen einen Werth legt auf die Mosaische Herkunft des PentateucheS im vollen Sinne des Wortes,
daß für einen solchen es
theologisch indifferent sei, ob ein Theil des PentateucheS
47 einige Jahrhunderte
früher
oder später angesetzt wird.
Das ist unter jener Voraussetzung eine rein literatur
geschichtliche Frage.
anders.
Aber die Sache liegt doch bei weitem
Zunächst auf Grund jener literaturgeschichtlichen
Anschauung wird das Bild der altisraelitischen Geschichte
ein vollständig anderes.
Früher stellte man an die Spitze
der specifisch israelitischen Entwickelung ein
ausgebildetes
Gesetz, Sittenlehre wie Cultuslehre umfassend.
Die Pro
pheten wenigstens sollten ein solches Gesetz voraussetzen.
Sie sollten in Ergänzung, vielleicht auch in theilweiser
Correctur dieses Gesetzes den höheren Werth des Moral gebotes dem Cultusgebote gegenüber predigen.
Und jetzt?
Das Moral- wie das Cultusgesetz am Anfänge fällt weg. Die
Propheten
haben
davon
nichts
vorgefunden:
der
Dienst eines Gottes, welcher als Nationalgott in einem
physischen Zusammenhänge mit Israel steht, welcher natura listisch, kaum ethisch bestimmt ist und deßhalb ethische Forderungen an sein Volk nicht stellt — das ist es, was
nach Kuenen u. A. die Propheten vorgefunden haben. Nach Duhm bestand diese religiöse Auffassung ohne eine
ethische Umbildung noch bis auf Amos und Hosea; nach Kuenen's viel besonnenerem Urtheil ist eS nicht zu ver
kennen, daß AmoS und Hosea die von ihnen gepredigte
Religion bereits voraussetzen; sie ist gebildet worden nach ihm von den Propheten des dunkeln neunten Jahrhunderts,
von welchen Sicheres Niemand weiß.
Aber wo immer
man den Anfang der specifisch alttestamentlichen Religion
ansetzen möge, vielleicht mit einziger Ausnahme des Be gründers der neuenConstruction, Reuß (wenn ich absehe
von dem unter den Wellhausenianern wie ein verirrter
48 Fremdling erscheinenden Dr. König), wollen wohl alle Vertreter derselben eine in mündliche oder schriftliche Ge
bote gefaßte ethische Auffassung nicht zum vorprophetischen
Ausgangspunkte des israelitischen JahwediensteS machen, sondern erst durch die Propheten ist in allmählicher Ent
wickelung
der
Dienst
eines
naturalistisch
bestimmten
Nationalgottes umgewandelt worden in denjenigen eines
ethisch bestimmten Gottes.
Abgesehen von unbedeutenden
Ansätzen hat die moralische wie die kultische Gesetzgebung erst begonnen, als die prophetische Predigt zu verstummen
anfing.
Moral- und CultuSgesetz sind die theils correcte,
theils mißbildete Versteinerung des im freien Propheten
worte vorgetragenen Gehaltes. So, m. H., wird allerdings das Bild der alttestament-
lichen Entwickelung ein von dem älteren sehr wesentlich
differirendeS.
ES ist schwer, mit wenigen Worten ein
Urtheil darüber zu fällen für einen solchen, der sich für
seine Behauptungen nicht auf veröffentlichte eigene Unter suchungen über diesen Punkt berufen kann.
Unbestreitbar
scheint mir und — wenn ich mich nicht irre — wohl allen
wissenschaftlichen Gegnern der neuen Construction die- zu
sein, daß der Priestercodex da- allgemein giftige Gesetzbuch
Israels erst unter Eöra wurde.
Seine damalige Publi
cation vor dem Volke ist deutlich ein Novum.
Ebenso
darf meine- Erachtens — ich kann hier nur im eigenen Namen reden — als sicher angesehen werden, daß das ganze dieses Gesetz
Schrift")
enthaltende Buch (die „priesterliche
jünger ist als das jehovistische Erzählungsbuch.
ES geht dies aus dem Charakter der Erzählung-- und
Auffassung-weise hervor.
Das jehovistische Buch schildert
49
Cultussitten, welche dem Naturdienste noch sehr nahe stehen. DaS Priesterthum ist nach ihm noch in den ersten An
fängen
der
Entwickelung.
Ausgezeichnet hat,
um uur
einen Punkt aus dem Gebiete der eigentlich theologischen Anschauung hervorzuheben, Ku en en dargestellt, wie der
Monotheismus der priesterlichen Schrift ein ungleich ent
wickelterer ist dem einfacheren des Jahwisten gegenüber.
Dieser weiß nur von dem Gotte Israels, von Jahwe;
da
rüber reflectirt er nicht, in welchem Verhältnisse die Jahwe-
Vorstellung zu der Gottes-Vorstellung überhaupt stehe. Jene dagegen unterscheidet zwischen Elohim als der Be
zeichnung
des GotteS aller Welt und Jahwe als dem
Namen des Gottes, welcher mit Israel einen Bund ge Indem
schlossen.
die priesterliche
Schrift
den Elohim,
welcher die Welt geschaffen und den Patriarchen unter dem
Namen El schaddaj sich offenbart hat, dem Mose sich kund thun läßt mit dem neuen Namen Jahwe, erklärt sie auf
Grund
einer
bewußten
monotheistischen
Ueberzeugung,
welche an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt, daß der Begriff des Gottes Israels mit dem Begriffe der
Gottheit sich deckt, daß es einen andern Gott neben Jahwe
nicht gibt. Wenn aber die priesterliche Schrift einmal jünger ist als das jehovistische Buch und zweitens erst unter Esra ihr Gesetz als Volksgesetz publicirt wurde, so ist damit noch
durchaus nicht entschieden, daß erst in der Zeit ESra'S
diese Schrift entstanden sei.
WaS
uns
davon
abhält,
dieser jetzt herrschenden Anschauung beizustimmen,
sind
nicht einzelne Schwierigkeiten, welche entgegenzustehen scheinen, sondern ist die für unS bestehende Unmöglichkeit
4
50 der Vorstellung, daß erst die cultuslose Zeit des Exils oder
die des in der neuen jüdischen Colonie in kleinen Anfängen wieder beginnenden Cultus mit der Codificirung der Cere-
monialtradition sollte begonnen haben, und nicht nur das,
sondern — so wäre es nach der neuen Construction zu
denken — daß diese Zeiten die Cultustradition wesentlich sollten umgebildet haben.
Namentlich in der Zeit des
ESra hat eine durchgreifende Neugestaltung keine Stelle, da uns diese Zeit in den authentischen Memoiren des
Esra und des Nehemia wie in der Erinnerung der folgen
den Generationen
von ESra'S
und
seiner
Zeitgenossen
Thätigkeit durchaus nicht als productiv entgegentritt.
Da
gegen wäre es unbegreiflich, wenn nicht schon vor dem Exile der seit Salomo zu Jerusalem bestehende Tempelcult sich sollte feste Normen geschaffen und dieselben während
dieses langen Zeitraumes schriftlich zu fixiren begonnen haben, und wenn dies der Fall war, weiter unbegreiflich,
daß
die spätere Zeit,
welche auf Wiederherstellung des
salomonischen Tempels mit seinem Cultus ausging, wesent lich neue Cultussatzungen sollte an die Stelle der vor
handenen alten gesetzt haben. Man sagt, der Cultus sei im Priestercoder entwickelter
al« im Deuteronomium, folglich der Priestercoder später als die Zeit Josia's.
Jenes ist unbedingt zuzugeben, aber
die Folgerung nicht mit Nothwendigkeit daraus zu ziehen. ES hat vor Josia keinen einheitlichen Cultus, also auch
keine einheitliche Cultussitte gegeben.
Der Cultus an dem
großen Heiligthum des jerusalemischen Tempels wird früh zeitig ein entwickelterer gewesen sein als derjenige an den
Heiligthümern der Landstädte.
ES kann so liegen, daß der
51 Priestercodex die Cultussitte des vorexilischen jerusalemischen Heiligthums ins Auge faßt, theils wie dieselbe wirklich war, theils wie man ihre Weiterentwickelung erstrebte,
während das Deuteronomium den einfacheren Cultus der
Landstädte mit ihren Bamoth
zu Grunde legt.
Diese
Möglichkeit wird dadurch näher gelegt, daß das deutero-
nomische Gesetz deutlich nicht specifisch im Interesse der
jerusalemischen Priesterschaft, der Zadokiden, verfaßt wurde, wie eS überhaupt ein Cultusgesetz nicht sein will, sondern als ein Volksgesetz der Gottesdienstordnung nur nebenher
und unvollständig Erwähnung thut.
Aus der angedeuteten
Beurtheilung des Priestercodex als des Gesetzbuches des jerusalemischen Tempels ergibt sich, weßhalb der Priester
codex von der
„Gemeinde"
redet und nicht vom Volke
Israel und weßhalb er ein einziges Heiligthum als be stehendes voraussetzt.
Es hat sich meiner Anschauung eine vorexilische An sehung des Priestercodex — ich will allgemein sagen, da
derselbe nicht aus einem Gusse ist — neben dem Deu teronomium bisher immer mehr dadurch empfohlen, daß
ich verschiedene Schilderungen des Priestercodex auf die
nachexilische Zeit durchaus nicht passend finde, so nament lich die Unterscheidung nur von Leviten und Priestern
innerhalb des am Heiligthum dienenden Personals, während in der nachexilischen Zeit neben den Priestern, d. i. den
Zadofiden, die Leviten, d. i. die Nachkommen derjenigen, welche Priester gewesen waren an den durch Josia'S Reform
eingegangenen Heiligthümern, und außerdem noch nie dere Diener des Tempels, die Sänger und Thorhüter,
vorhanden waren, letztere in den Memoiren des Esra
52 bestimmt von den Leviten unterschieden.
der Reform Jerusalem
des Sofia
naturgemäß
dagegen nur
zwei
Für die Zeit vor am Tempel zu
kamen
Claffen
in Betracht,
eigentliche Priester und ihnen untergeordnete HeiligthumSdiener, wie uns zwei derartige Claffen in den Schilde
rungen
der
„priesterlichen
Schrift"
als Priester und
levitische Heiligthumsdiener entgegentreten. Auch das in der Regel für die Graf'fche Construction als entscheidend entgegengehaltene ideale Gesetz des Ezechiel
ist keine unsere Ansetzung abweisende Instanz.
ES ist viel
leichter begreiflich, daß Ezechiel, bekannt mit dem Priestercoder, dessen Cultusordnung zu modificiren wagte, weil er
dieselbe, als für den untergegangenen salomonischen Tempel
bestimmt, mit diesem abrogirt dachte, Ezechiel folgender Gesetzgeber,
als daß ein auf
für das neue Jerusalem
und seinen Cultus schreibend und — das wäre bei der unbestreitbaren Verwandtschaft nothwendig anzunehmen — mit Ezechiel bekannt und dessen Cultusordnungen im all
gemeinen billigend, sich ermächtigt befunden hätte, von
diesem prophetischen Gesetze, welches dem für Ezechiel zu
künftigen Jerusalem, also dem unter ESra wiederhergestellten galt, willkürlich abzuweichen. gesetzte Unterscheidung
Die im Priestercodex voraus
von Priestern
und HeiligthumS-
dienern (Leviten) hat nicht, wie man behauptet, Ezechiel
erst geschaffen.
Er weist nur solchen Leviten, welche bis
dahin Priester gewesen waren, nämlich an den Bamoth,
eine dienende Stellung statt der priesterlichen an zur Be strafung für die von ihnen an den Bamoth geübte Ab
götterei.
Gab eS, wie unzweifelhaft hervorgeht aus der
Classe der aus dem Eril heimkehrenden Tempelsänger und
53 Thorhüter schon vor dem Exil einen Stand von Tempel
dienern, so war es also die Absicht des Ezechiel, die zu Tempeldienern degradirten Höhenpriester diesem bereits bestehenden Stande einzugliedern, nicht
aber einen
solchen Stand erst zu schaffen. Ganz besonders habe ich gegen die Graf'sche Construction noch einzuwenden die Schwierigkeit, sich nach ihr
ein Bild zu machen von der Redaction des Pentateuches.
Ein im Geiste und mit der Sprache des Deuteronomiums schreibender Redactor hat vom Deuteronomium an als der
Abschiedsrede des Mose den Geschichtsbericht (für die Zeit Josuas) überarbeitet.
Nach seiner Verwandtschaft mit dem
Deuteronomium zu urtheilen, ist er nicht allzuweit von diesem abzurücken, nicht
später als im Exil anzusetzen.
Dieser „Deuteronomist" soll nach der modernen Construction nur das deuteronomische Gesetz gekannt und ausgenommen
haben.
Aber wie seltsam, daß er demselben nicht am
Sinai, sondern in Moab, am Lebensabende des Gesetz
gebers vom Sinai eine Stelle anwies als Recapitulation des
sinaitischen
Gesetzes,
während
in
dem
durch
den
Deuteronomisten abgeschlossenen Buch ein eigentliches Sinai-
Gesetz gar nicht gestanden hätte.
Diese vom Deuterono
misten dem Deuteronomium angewiesene Stelle finde ich
nur dann erllärlich, wenn derselbe den Priestercodex als das ältere sinaitische Gesetz bereits kannte und vor dem Deuteronomium aufnahm.
Bei unserer zeitlichen Ansetzung des Priestercodex soll
jedoch nicht ausgeschlossen sein, daß einzelne und sogar wichtige Bestandtheile dieses Gesetzbuches, wie z. B. etwa
54 da- Gesetz des Versöhnn ngstages, erst in nachexilischer
Zeit entstanden sind. Die Differenz hinsichtlich der Zeit des Priestercodex um etwa 200 Jahre von der Ansetzung nach der Graf'schen
Hypothese ist nun nicht so bedeutend, wenn wir die großen Perioden ins Auge fassen, mit welchen wir im allgemeinen
für die alttestamentliche Geschichte zu rechnen haben.
Wohl
aber ist daS so entstehende Geschichtsbild ein von dem jetzt herrschenden wesentlich differirendeS.
Die Gesetzgebung
ist darnach nicht, wie man neuerdings will, ein Nieder
schlag der prophetischen Entwickelung, ihr abschließendes Resultat, sondern die Bildung des Gesetzes ist in den Priesterkreisen parallel erfolgt mit der Predigt der Pro
pheten. 5.
Wir sind damit bei einer Differenz angelangt,
welcher man eine historische Wichtigkeit nicht wird ab sprechen können. Welches aber ist das theologische Interesse,
welches wir mit dieser Differenz verbinden und welches
man heutzutage allgemein dem Gegensatze gegen die neue
Construction zuzusprechen pflegt.
Dieses specifisch theo
logische Interesse hängt zusammen mit der Verschiedenheit der Methode hüben und drüben.
Sm end in seiner
Abhandlung über die Genesis des JudenthumS (Zeitschr. für die alttestamentl. Wissenschaft 1882, S. 114) hat ganz
richtig diesen methodischen Gegensatz als einen centralen
erkannt.
Die Art der modernen Methode scheint mir am
deutlichsten zu werden in der ganz konsequenten Ueber-
tragung auf das Gebiet der prophetischen Literatur, welche sie neuerdings erfahren hat.
Zunächst mußte Joel, welchen
man bis dahin als einen der ältesten Propheten angesehen
55 hatte, in späte Zeiten verlegt werden, doch wohl nicht deßwegen, weil die von ihm geschilderten politischen Ver
hältnisse nur den späteren Zeiten entsprächen,
sondern
zunächst weil er eine Form des Cultus voraussetzt, welche nach
der neuen Pentateuchconstruction für die
Königszeit nicht paßt.
mittlere
Hierüber läßt sich streiten.
Neuer
dings aber ist in einigen Aufsätzen der Zeitschr. f. d. alt-
ausgesprochen
testamentl. Wissenschaft
worden,
daß
die
prophetischen Schriften einer gründlichen Sichtung echter und
unechter Bestandtheile
bedürften auf Grund ihrer
biblisch-theologischen Beurtheilung. diesen
biblisch-theologischen
Woher entnimmt man
Maßstab?
Nicht
aus
den
Quellen selbst, wie sie uns überkommen sind; denn die einzigen vorhandenen Quellen sind eben zu sichten.
Viel
mehr steht das Bild einer geradlinigen theologischen Ent
wickelung von vornherein fest und darnach wird ausgeschieden was zu diesem Bilde nicht paßt.
Bekehrung
Assurs
oder
Jesaja redet von der
derjenigen Aegyptens.
Andere
Stellen des B. Jesaja, wo von einer Bekehrung aller Völker die Rede ist, sollen demnach als unecht ausgeschieden
werden, weil beides neben einander nicht bestehen könne. Anders ist im Grunde auch die moderne Pentateuchkritik nicht verfahren; nicht äußere Zeugnisse, nicht der Befund der Quellenkritik sind dafür entscheidend, sondern zu Grunde
liegt
die Anschauung
einer ohne Stockungen und Ab
weichungen in einer Linie
von Religion und Cultus.
fortlaufenden Entwickelung
Wenn wir dagegen protestiren,
so ist es deßhalb, weil wir uns methodisch nur für be
rechtigt erachten, aus den Quellen selbst die geschichtliche Entwickelung zu construiren, nicht die Quellen zu kritisiren
56
nach einer zunächst im Großen festgestellten geschichtlichen Entwickelung.
6.
Die
theologische Differenz
methodischen unabtrennbar.
ist
von
dieser
Die specifisch alttestamentliche
Religion hat sich nicht nach der Meinung aller, aber ich darf wohl sagen, nach derjenigen der Mehrzahl der An
hänger der Graf'schen Construction allmählich entwickelt,
ohne einen einmaligen Bruch, aus der zu Grunde liegen
den althebräischen Naturreligion.
Am unumwundesten ist
dies ausgesprochen in den hochinteressanten Hibbert-Vor
lesungen Ku en en'S über „Volksreligion und Weltreligion".
Nun, m. H., daß die alttestamentliche Religion nicht reine Geistesreligion ist, daß sie noch viel Naturalistisches ent
hält — denken Sie nur an Beschneidung und ReinigungSceremonien — soll nicht im mindesten bestritten werden.
DaS ist
das Durchschlagende gewesen in Schelling'S
bizarren Vorlesungen über die Philosophie der Offenbarung,
daß er das Ineinander von Naturreligion und Geistes
religion für die alttestamentliche Periode im Gegensatz zur christlichen glänzend geltend gemacht hat.
Die Mosaische
Religion setzt voraus eine Naturreligion und sie bleibt im
Kampfe mit derselben;
Ueberwindung
der
erst das Christenthum hat mit
naturalistischen
Geistesreligion dargestellt.
Elemente
die
reine
Aber der Anfang jenes Kampfes,
den wir im Alten Testament beobachten, ist als aus der naturalistischen Grundlage heraus entstanden nicht zu be greifen.
Stoch Niemand ist im Stande gewesen, historisch
zu erklären, wie jener Entwickelungsproceß des ethischen
Monotheismus vermittelt zu denken sei.
Er läßt sich im
Verhältnisse zur Raturreligion nur als ein absolut Neues,
57 als ein absoluter Bruch mit jener begreifen.
Darum
protestiren wir dagegen, daß man jene Entwickelungstheorie auch auf den Zusammenhang des ethischen Monotheismus
mit der Naturreligion überträgt.
Ob man jenen neuen
Anfang dem Mose zuschreibt oder etwa dem Elia, welchem sich Gott offenbarte nicht im Sturm, Erdbeben oder Feuer,
sondern im Windesweben als dem nächstliegenden Analogon
des Geistes — das ist dabei theologisch ziemlich indifferent. Was uns veranlaßt, bei der Annahme zu bleiben, daß die alttestamentliche Religion in ihrer Eigenart durch Mose
begründet wurde, ist lediglich der Umstand, daß die hebrä ische Tradition von keinem anderen außer von Mose, auch nicht etwa von Samuel oder Elia, derart lautet, daß sich
vorstellen ließe, derselbe sei der Begründer der specifisch
israelitischen Religion
gewesen.
Will
man
aber
einen
irgendwann einmal erfolgten Bruch mit der Naturreligion nicht zugeben und auch hier die geradlinige Entwickelung
festhalten, dann ist nur die durchaus entsprechende Conse quenz diejenige, welche Ku en en in den genannten Vor lesungen deutlich genug zieht, daß auch die Predigt Jesu nichts anderes sei als das Facit aus der vorangehenden
israelitisch-jüdischen Entwickelung.
Der „Schlußstein" der
selben ist jene Predigt ja gewiß, aber auch an dem Gebäude entnimmt man nicht den Schlußstein aus dem bis dahin
verarbeiteten Material.
7.
Diese theologischen Consequenzen sind aus der
sog. Graf'schen Hypothese
nicht
mit Nothwendigkeit
ziehen; sie sind nur zumeist damit verbunden.
zu
Der ehr
würdige noch lebende unter den Urhebern dieser Hypothese hat sich in seinem erwähnten neuesten großen Werke deut lich
genug
gegen derartige Consequenzen ausgesprochen.
58 Tür ihn ist jene Pentateuchconstruction eine solche, welche er glaubt gewinnen zu müssen mit einem historischen Ver
fahren, wie alle historischen Kritiker im Princip eS billigen
müssen.
Es ist wohl wenigstens zum Theil diese metho
dische Differenz zwischen Reuß und
seinen Nachfolgern
gewesen, welche eS veranlaßt hat, daß sein Werk von diesen
so ziemlich mit Stillschweigen
übergangen wurde.
UnS
aber gibt der vereinsamte Standpunkt des Urhebers der modernen Kritik
urtheilende
die Hoffnung,
Zeiten
jene
daß kommende
historischen
historisch behandeln werden.
Fragen
ruhiger
auch
rein
Was wir gefährlich erachten
an der herrschenden Darstellungsweise
israelitischen
der
Literaturgeschichte sind nicht die erzielten historischen Resul
tate als solche, sondern es ist die Methode, mit welcher man theilweise dazu gelangte und die Tendenz, welche sich — auch sie nur theilweise — damit verbindet.
Wie einmal von Tübingen aus eine große Umwälzung au-ging bezüglich der Beurtheilung der neutestamentlichen
Literatur, so sind wir jetzt für das Alte Testament in eine
ähnliche Bewegung
versetzt.
Analogieen
zwischen
den
Principien und dem Verfahren auf beiden Seiten fehlen
nicht.
ES ist nicht zufällig, daß einer der ersten Vertreter
der neuen Hypothese aus dem Gebiete des Alten Testa mentes, Vatke, seine geschichtliche Darstellung auf der
Grundlage Hegelscher Gedanken aufbaute.
Andererseits ist
nicht zu verkennen, daß die an ihn sich Anschließenden
zum großen Theile mit freierem Verständnisse für geschicht liche, namentlich auch für religionsgeschichtliche Entwicke lung aufgetreten sind.
Aber wenn wir sehen, wie auch
jetzt die Möglichkeit mannigfaltiger paralleler Bildungen verkannt wird um des Reizes willen, welchen die Con-
59 struction einer geradlinigen Entwickelung ausübt, so dürfen wir darin noch immer eine Nachwirkung der Hegelschen Die Tübingische Bewegung hat anderen
Epoche finden.
Auffassungen weichen müssen.
Aehnlich vielleicht wird eS
gehen mit der jetzigen alttestamentlichen.
Jene hat für
nachfolgende Anschauungen den Anstoß gegeben; von dieser dürfen wir zuversichtlich erwarten, daß auch positive Er
gebnisse derselben bleibend
Nicht dasselbe
sein werden.
glauben wir von der neuerdings hie und da sich breit
machenden Uebertreibung
in
einem
Weiterspinnen
der
modernen Construction, welches Mögliches — wohl auch oft sehr Unwahrscheinliches — zu Nothwendigem erhebt
und
jeder Controle
eine
neuere
gehende gnügt
zu
sich
Leistung
überholen
in
entzieht;
sucht,
mit den einigermaßen
wie
die
denn
Ueberhast
die
man
sicher zu
Art, wie
eben sich
vorher nicht be
unterscheidenden
Quellen, sondern innerhalb derselben wieder so und so viel Bearbeiter unterscheidet, welche ebenso geistlos waren
in ihren unermüdlichen Aenderungen wie sie ein geistlos-
gleichgiltiges Volk voraussetzen, welches solche Vergewal tigungen
seiner
doch
wenigstens
national-ehrwürdigen
Literatur sich gefallen ließ — diese Art erweckt die Ver muthung und bei uns wenigstens sehr lebhaft die Hoffnung,
daß ein solches Verfahren, welches nur dienen kann zur Discreditirung der historisch-kritischen Methode, allzu lange
nicht währen werde. Aber wie dem sein wird — ich habe nicht den Beruf,
ein Prophet zu sein — wir brauchen vor Vergewaltigungen
am Alten Testamente uns nicht zu fürchten.
Es ist un
längst ausgesprochen worden von einem der Vertreter der
neuen Hypothese, daß die bisherige praktische Verwerthung
60 des Alten Testamentes in der christlichen Kirche zu weichen habe vor dem helleren Achte, welches aufgegangrn sei in
der neuen Eonstruction.
Ich weiß nun wohl, und ich
denke, wir alle geben es zu, daß manche Partiten des
Alten Testamentes, auch gerade des PentateucheS, sich auf dem christlichen Standpunkte nicht mehr direkt verwerthen
lassen und wenn man es dennoch gethan hat, verwerthet
worden sind zum Schaden christlicher Moral und Religio
sität.
Wollten wir das nicht zngeben,
so müßten wir
konsequent überhaupt den Unterschied zwischen Altem Testa
ment und Neuem Testament ausgeben.
Aber diese Schriften
der vorchristlichen Gemeinde Gotte- haben als Ganzes und
auch in vielen Einzelheiten nun diese achtzehn Jahrhun
derte hindurch immer aufs neue ihre erwärmende und belebende Kraft auch auf christlichem Boden bewährt.
Sie
haben e» gethan trotz mancher Angriffsstürme, die bereit-
vor Zeiten über sie dahin gegangen sind.
ES wäre nicht
das erste Mal, wenn man jetzt da» Alte Testament als
ein nicht zugehöriges vom Neuen Testament trennen wollte. ES wird auch jetzt gehen wie vormals, und deffen dürfen
wir sicher sein, daß keine Wandlung der Anschauungen über die äußere Entstehung des Alten Testamentes seinen
erhabenen Prophetenworten, seinen innigen Psalmen, seinen poetisch-schönen Erzählungen den praktisch-erbaulichen Werth
zu nehmen vermag, welchen dieselben bis dahin behalten haben für die christliche Kirche.
Druck von Wilhelm Keller in Gießen.
Die geschichtliche Entwickelung der Kirche im i9 Jahrhundert Md die ihr dadurch gestellte Aufgabe von
Oberconsistorialrat D. K. Sell in Darmstadt.
Die Forschungen über die paulinischen Kriefe: ihr gegenwärtiger Stand und ihre Aufgaben von
Consistorialrat Prof. D. G. Heinriti in Marburg.
Vorträge gehalten auf der Theologischen Conferenz zu Gießen am 24. Juni 1886.
Gießen, 3. Ricker'sche Buchhandlung.
1887.