Altes Testament und völkische Frage: Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit 3161471024, 9783161471025, 9783161578168

Die Zeit des Dritten Reichs stellte die alttestamentliche Wissenschaft vor die Existenzfrage. Die völkische Ideologie, d

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German Pages 450 [369] Year 1999

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Titel
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung
1. Einführung in das Thema
2. Forschungsgeschichtliche Relevanz, Methodik und Quellenlage
II. Das Volk als Leitidee – völkisches Denken vor und in der Zeit des Nationalsozialismus
1. Der Volksbegriff in der neuzeitlichen Geistesgeschichte
a) Geistesgeschichtliche Grundlagen
b) Der Volksbegriff im 18. und 19. Jahrhundert
α) Die Völker im göttlichen Schöpfungsgarten: J. G. Herder
β) Staat und Nation als göttliche Institutionen: F. D. Schleiermacher
γ) Das deutsche Volk als ‚Urvolk‘: J. G. Fichte
δ) Die ‚Deutsche Bewegung‘ – der Volksbegriff im 19. Jahrhundert
c) Eine ‚Deutsche Nationalreligion‘: P. de Lagarde und H. St. Chamberlain
d) Die ‚völkische Bewegung‘ – der Volksbegriff nach dem Ersten Weltkrieg
2. Der Volksbegriff in der evangelischen Volksnomostheologie
a) ‚Volksnomos‘ und ‚Volkheit‘: W. Stapel
b) „Die gegenwärtige Stunde im Volk“: E. Hirsch
c) Gottes Gebot in den Staats- und Volksgesetzen: F. Gogarten
3. Der Volksbegriff im Kirchenkampf
a) Die Volksnomostheologie in der Ideologie der Deutschen Christen
α) „Du bist nichts, Dein Volk ist alles“ – völkisches Denken im Nationalsozialismus
β) Die Sorge um das Volk als gemeinsames Anliegen von Staat und Kirche
γ) Der Volksbegriff in den Grundsätzen der Deutschen Christen
δ) ‚Evangelische Reichskirche‘ oder ‚Deutsche Nationalkirche‘
b) „Wir verwerfen die falsche Lehre“ – Proteste gegen die Vergötzung von ‚Rasse und Volkstum‘
4. Zusammenfassung: Die Volksnomostheologie als Grundlage einer religiös-politischen Bewegung
III. Der Streit um das Alte Testament – ‚Völkische Frage‘ und Exegese des Alten Testaments
1. Der ‚Streit um das Alte Testament‘
a) Der Streit um die Kanonizität des Alten Testaments
b) Religionsgeschichte Israels oder alttestamentliche Theologie
2. ‚Völkische Bewegung‘ und Altes Testament
a) „Mythus der Ehre“ versus „jüdische Lohnmoral“
b) Gesetz und Evangelium – das Alte Testament als „Widerspiel“ zum Neuen
c) „Das doppelte, aber einheitliche Zeugnis“ – Bekenntnis zur Einheit der Schrift
3. „Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der Gegenwart“
a) „Das Alte Testament als Wort Gottes“ – theologische Exegese
b) Biblisches Volk und deutsches Volk – ‚völkische‘ Exegese
α) Israel – „Musterbeispiel für eine Volksgeschichte überhaupt“
β) Die prophetische Kritik – Gottes Warnung an ein Volk
γ) Das Alte Testament in der völkischen Erziehung
4. Zusammenfassung: Das Alte Testament innerhalb völkischer Weltanschauung
IV. Alttestamentliche Wissenschaft und völkische Ideale – zu Leben und Werk des Alttestamentlers Johannes Hempel
1. Wissenschaftlicher Werdegang
a) Studium in Leipzig (1910–1914)
b) Die Kriegszeit (1914–1918)
c) Habilitation und außerordentliche Professur in Halle (1920)
d) Professur in Greifswald (1925–1928)
2. Professur in Göttingen (1928–1937)
a) Professor für Altes Testament
α) Lehrstuhl für Altes Testament und vergleichende Religionsgeschichte
β) Wissenschaftliche Kontakte im In- und Ausland
γ) Hempels Mitarbeit an der Bibelrevision (1928–1933)
δ) Die internationale Tagung alttestamentlicher Forscher in Göttingen (1935)
b) Die Theologische Fakultät in Göttingen
α) Die Göttinger Universität im Nationalsozialismus
β) Die Göttinger Theologische Fakultät im Nationalsozialismus
c) Hempel an der Theologischen Fakultät in Göttingen
α) Prodekan unter Emanuel Hirsch
β) Kurator des Göttinger Waisenhauses
γ) Ephorus des Sprachenkonvikts
d) Die Skandinavienreise im September 1933
e) Mitgliedschaft in kirchlich-politischen Organisationen
α) Christlich-Sozialer Volksdienst
β) Deutsche Christen
γ) Die Heimkehr zum Volk als Heimkehr zu Christus
3. Professur in Berlin (1937–1940)
a) Professor für Altes Testament und Religionsgeschichte
α) Berufung
β) Professur in Berlin und wissenschaftliche Tätigkeiten
b) Direktor des Institutum Judaicum
α) Zur Geschichte des Institutum Judaicum
β) Das Institutum Judaicum in der Zeit des Nationalsozialismus
c) Ein ‚Institut für vergleichende Glaubensgeschichte‘: Theologie im Dienst des Nationalsozialismus
d) Mitarbeit im ‚Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘
α) Zur Geschichte des Institutes
β) Alttestamentliche Wissenschaft und Religionsgeschichte als Beitrag zur „Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses“
4. Feldseelsorge und Gefangenschaft (1940–1946)
a) Militärgeistlicher in Frankreich, Norwegen, Rußland und Holland (1940–1945)
b) Gefangenschaft und Lazarettaufenthalt (1945–1947)
5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität (1947–1964)
a) Bewerbung um Wiederaufnahme an der Berliner Universität
b) Entnazifizierungsverfahren
c) Pfarrdienst in Salzgitter-Lebenstedt (1949–1957)
d) Honorarprofessur (1955) und Emeritierung (1958) in Göttingen
6. Hempel als Herausgeber der ZAW (1927–1959)
a) Zur Geschichte der ZAW
α) Die Anfänge – Stades Zeitschrift
β) „The turning point“ – die ZAW unter Hugo Greßmann
γ) „... und die Kunde des nachbiblischen Judentums“ – der erweiterte Name als Programm
b) Die ZAW unter Hempel
c) Die ZAW in der Zeit des Dritten Reichs
α) Die Namensänderung der ZAW im Jahre 1936
β) Die Verdrängung jüdischer Wissenschaftler aus der Autorenreihe
γ) Die ZAW vor und während des Zweiten Weltkriegs
d) Die ZAW in der Nachkriegszeit
α) „Animositäten“ gegen Hempel – Belastungen durch den Herausgeber
β) Die Frage eines Mitherausgebers – Entlastung für die ZAW
γ) „Totengräber der alttestamentlichen Wissenschaft“ – weitere Vorwürfe gegen Hempel
δ) Die holländische Konkurrenz – Existenznöte der ZAW
7. Zusammenfassung: Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik
V. „Altes Testament und völkische Frage“ – die Auslegung des biblischen Volksbegriffs im Werk von Johannes Hempel
1. Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung
a) „Die übergeschichtliche Wirklichkeit des Alten Testaments“
α) Lutherische Tradition und Wertschätzung des Alten Testaments
β) Das Alte Testament in seiner Beziehung zum Christentum
b) ‚Christologisierung‘ oder ‚Christianisierung‘ des Alten Testaments – die Ansätze von W. Vischer und J. Hempel im Vergleich
α) „Genossen Einer Verheißung“ – der Entwurf von W. Vischer
β) Das Alte Testament im christlichen Glauben
c) Religionsgeschichte in christlicher Verantwortung
α) „Ohne die Religionsgeschichte ist die alttestamentliche Forschung blind“
β) „Ohne die Theologie ist die Religionsgeschichte blind“
2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel in der neueren exegetischen Forschung
a) Lexikalische und etymologische Aspekte
α) עַם
β) גּוֹי
b) Volk und Gottesvolk
α) „Ein jeder kam mit seinem Hause“ (Ex 1,1) – die vorstaatliche Zeit
β) „Wie alle Völker“ (1 Sam 8,5) – die staatliche Zeit
Exkurs: Zur Herkunft des Begriffs des Gottesvolkes
γ) „Damit du dem Herrn, deinem Gott, ein heiliges Volk seist“ (Dtn 26,19) – das Volk Israel in Dtn und DtrG
δ) „Ich will euch annehmen zu meinem Volk“ (Ex 6,7) – die priesterschriftliche Überlieferung
ε) „Tröstet, tröstet mein Volk!“ (Jes 40,1) – das Volk und die Völker in der Verkündigung der exilischen und nachexilischen Prophetie
ζ) „כׇּל־יׅשְׂרׇאֵל – ganz Israel“ – Israel in den Chronikbüchern und in Esr/Neh
η) Zusammenfassung
3. Der biblische Volksbegriff im Werk von J. Hempel
a) Die ‚Eigenart‘ der israelitischen Religion
α) Die Konzentration des Geschehens auf JHWH
β) Die Geschichte als Handlungsort Gottes
γ) Zum Verhältnis zwischen Mensch und Gott
b) Israel, das Gottesvolk
α) Das gottgestiftete Volk
β) Zum Verhältnis von Religion und Volkstum
γ) Der Bundesgedanke
δ) Mittler zwischen Gott und Volk: die besondere Stellung der Propheten
ε) Der einzelne und sein Volk
ζ) Geschichte und Glaubensgeschichte
c) Der biblische Volksbegriff vor den Anfragen der Zeit
α) Das Alte Testament als Kritik am biblischen Israel
β) Biblisches Volk Israel und deutsches Volk der Gegenwart
4. Der biblische Volksbegriff bei J. Hempel im Vergleich
a) Artur Weiser
b) Volkmar Herntrich
5. Zusammenfassung: Völkische Frage und Altes Testament
VI. Der Volksbegriff in Leben und Werk des Alttestamentlers Johannes Hempel
1. Zur Bedeutung des Alten Testaments innerhalb der christlichen Theologie
2. Zur ‚völkischen Bedeutung‘ des Alten Testaments
3. Zur Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments
4. Ausblick
Anhang
1. Verzeichnis der eingesehenen Archivalien
2. Literaturverzeichnis
a) Johannes Hempel
b) Sonstige Literatur
3. Register
a) Bibelstellenregister
b) Personenregister
c) Sachregister
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Altes Testament und völkische Frage: Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit
 3161471024, 9783161471025, 9783161578168

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Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Bernd Janowski und Hermann Spieckermann

28

ARTI BUS

Cornelia Weber

Altes Testament und völkische Frage Der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit, dargestellt am Beispiel von Johannes Hempel

Mohr Siebeck

CORNELIA WEBER, g e b o r e n 1964; 1 9 8 5 - 9 2 S t u d i u m d e r ev. T h e o l o g i e u n d J u d a i s t i k in H e i d e l -

berg, Jerusalem und Berlin; 1998 Promotion; 1998-2000 Vikariat; seit 2000 Pfarrvikarin der Badischen Landeskirche.

Die Deutsche Weber,

Bibliothek

-

CIP-Einheitsaufnahme

Cornelia:

Altes Testament und völkische Frage : der biblische Volksbegriff in der alttestamentlichen Wissenschaft der nationalsozialistischen Zeit, dargestellt am Beispiel vonJohannes Hempel / Cornelia Weber. Tübingen : Mohr Siebeck, 2000 (Forschungen zum Alten Testament ; 28) 978-3-16-157816-8 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 3-16-147102-4 © 2000 J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Guide-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Niefern gedruckt und von der Großbuchbinderei Heinr. Koch in Tübingen gebunden. ISSN 0940-4155

Vorwort

„Altes Testament und völkische Frage", so betitelt der Alttestamentler Johannes Hempel 1931 seine Schrift über den biblischen Volksbegriff. Die in diesem Titel mitklingende Spannung zwischen alttestamentlicher Wissenschaft und völkischer Ideologie, zwischen biblischem und politischem Volksbegriff hat der vorliegenden Untersuchung ihre Ausrichtung gegeben. Erste Vorarbeiten gehen auf ein Seminar von Prof. R. Liwak über ,Alttestamentliche Exegese zur Zeit des Nationalsozialismus' zurück, das an der Kirchlichen Hochschule Berlin im Wintersemester 1989/90 stattfand. In jenem Jahr erhielt der Volksbegriff in Deutschland durch die Wiedervereinigung eine ganz neue Aktualität und Brisanz. Die im Rahmen einer Seminararbeit aufgeworfenen Fragen konnten schließlich ausführlicher bearbeitet und an der Person von Johannes Hempel exemplarisch dargestellt werden. Diese Untersuchung wurde im Wintersemester 1997/98 von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen und liegt mit diesem Buch nun in überarbeiteter Form vor. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater Prof. Dr. Bernd Janowski. Er hat die Dissertation angeregt und ihr Entstehen mit großem Interesse begleitet. Ihm wie auch Herrn Prof. Dr. Hermann Spieckermann danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe Forschungen zum Alten Testament. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Jörg Thierfelder, der die Betreuung der Dissertation nicht auf die Erstellung des Zweitgutachtens beschränkt hat. Mit vielen konkreten Hilfestellungen hat er mir die für diese Arbeit notwendige Methodik der Kirchlichen Zeitgeschichte nahegebracht. Herrn Prof. Dr. Gotthilf Hempel verdanke ich ein wesentlich persönlicheres Bild seines Vaters, als dies aus den Akten zu erschließen gewesen wäre. Bedanken möchte ich mich auch bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Doktorandenkolloquien von Prof. Janowski und der Professoren Strohm und Thierfelder. Durch ihre konstruktive Kritik hat die Arbeit ihre inhaltliche Form gefunden, in der sie nun erscheinen kann. Maßgeblich beteiligt am Entstehen dieses Buches sind auch meine Familie, Freundinnen und Freunde. Ohne ihre Begleitung wäre es mir wohl nicht möglich gewesen, mich so lange und intensiv mit der oft menschenverachtenden Sprache und Ideologie der nationalsozialistischen Zeit auseinanderzusetzen.

VI

Vorwort

Der Landesgraduiertenförderung danke ich für die Gewährung eines Stipendiums, der Badischen Landeskirche für einen Zuschuß zur Erstellung der Druckvorlage.

Mannheim, im Dezember 1999 Cornelia Weber

Inhalt

Vorwort Inhalt

I. Einleitung

V VII

l

1. Einführung in das Thema

1

2. Forschungsgeschichtliche Relevanz, Methodik und Quellenlage

3

II. Das Volk als Leitidee - völkisches Denken vor und in der Zeit des Nationalsozialismus

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1. Der Volksbegriff in der neuzeitlichen Geistesgeschichte

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a) Geistesgeschichtliche Grandlagen b) Der Volksbegriff im 18. und 19. Jahrhundert a) Die Völker im göttlichen Schöpfungsgarten: J. G. Herder ... ß) Staat und Nation als göttliche Institutionen: F. D. Schleiermacher y) Das deutsche Volk als ,Urvolk': J. G. Fichte 5) Die .Deutsche Bewegung' - der Volksbegriff im 19. Jahrhundert c) Eine .Deutsche Nationalreligion': P. de Lagarde und H. St. Chamberlain d) Die .völkische Bewegung' - der Volksbegriff nach dem Ersten Weltkrieg

2. Der Volksbegriff in der evangelischen Volksnomostheologie a) .Volksnomos' und .Volkheit': W. Stapel b) „Die gegenwärtige Stunde im Volk": E. Hirsch c) Gottes Gebot in den Staats- und Volksgesetzen: F. Gogarten

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Inhalt

3, Der Volksbegriff im Kirchenkampf a) Die Volksnomostheologie in der Ideologie der Deutschen Christen a) „Du bist nichts, Dein Volk ist alles" - völkisches Denken im Nationalsozialismus ß) Die Sorge um das Volk als gemeinsames Anliegen von Staat und Kirche y) Der Volksbegriff in den Grundsätzen der Deutschen Christen 5),Evangelische Reichskirche' oder ,Deutsche Nationalkirche' b) „Wir verwerfen die falsche Lehre" - Proteste gegen die Vergötzung von ,Rasse und Volkstum'

4. Zusammenfassung: Die Volksnomostheologie als Grundlage einer religiös-politischen Bewegung

III. Der Streit um das Alte Testament - ,Völkische Frage' und Exegese des Alten Testaments 1. Der ,Streit um das Alte Testament' a) Der Streit um die Kanonizität des Alten Testaments b) Religionsgeschichte Israels oder alttestamentliche Theologie

2.,Völkische Bewegung' und Altes Testament a),,Mythus der Ehre" versus „jüdische Lohnmoral" b) Gesetz und Evangelium - das Alte Testament als „Widerspiel" zum Neuen c)„Das doppelte, aber einheitliche Zeugnis" - Bekenntnis zur Einheit der Schrift

3. „Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der Gegenwart" a) „Das Alte Testament als Wort Gottes" - theologische Exegese b) Biblisches Volk und deutsches Volk - , völkische' Exegese a) Israel - „Musterbeispiel für eine Volksgeschichte überhaupt" ß) Die prophetische Kritik - Gottes Warnung an ein Volk y) Das Alte Testament in der völkischen Erziehung

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Inhalt

IX

4. Zusammenfassung: Das Alte Testament innerhalb völkischer Weltanschauung

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IV. Alttestamentliche Wissenschaft und völkische Ideale - zu Leben und Werk des Alttestamentlers Johannes Hempel

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1. Wissenschaftlicher Werdegang a) Studium in Leipzig (1910-1914) b)Die Kriegszeit (1914-1918) c) Habilitation und außerordentliche Professur in Halle (1920) .... d) Professur in Greifswald (1925-1928)

2. Professur in Göttingen (1928-1937) a) Professor für Altes Testament a) Lehrstuhl für Altes Testament und vergleichende Religionsgeschichte ß) Wissenschaftliche Kontakte im In- und Ausland Y) Hempels Mitarbeit an der Bibelrevision (1928-1933) 8) Die internationale Tagung alttestamentlicher Forscher in Göttingen (1935) b) Die Theologische Fakultät in Göttingen a) Die Göttinger Universität im Nationalsozialismus ß) Die Göttinger Theologische Fakultät im Nationalsozialismus c) Hempel an der Theologischen Fakultät in Göttingen a) Prodekan unter Emanuel Hirsch ß) Kurator des Göttinger Waisenhauses Y) Ephorus des Sprachenkonvikts d) Die Skandinavienreise im September 1933 e) Mitgliedschaft in kirchlich-politischen Organisationen a) Christlich-Sozialer Volksdienst ß) Deutsche Christen Y) Die Heimkehr zum Volk als Heimkehr zu Christus

3. Professur in Berlin (1937-1940) a) Professor für Altes Testament und Religionsgeschichte a) Berufung ß) Professur in Berlin und wissenschaftliche Tätigkeiten b) Direktor des Institutum Judaicum a) Zur Geschichte des Institutum Judaicum

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Inhalt

ß) Das Institutum Judaicum in der Zeit des Nationalsozialismus c) Ein .Institut für vergleichende Glaubensgeschichte': Theologie im Dienst des Nationalsozialismus d) Mitarbeit im , Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben' a) Zur Geschichte des Institutes ß) Alttestamentliche Wissenschaft und Religionsgeschichte als Beitrag zur „Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses"

4. Feldseelsorge und Gefangenschaft (1940-1946) a) Militärgeistlicher in Frankreich, Norwegen, Rußland und Holland (1940-1945) b) Gefangenschaft und Lazarettaufenthalt (1945-1947)

5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität (1947-1964) a) Bewerbung um Wiederaufnahme an der Berliner Universität b) Entnazifizierungsverfahren c) Pfarrdienst in Salzgitter-Lebenstedt (1949-1957) d) Honorarprofessur (1955) und Emeritierung (1958) in Göttingen

6. Hempel als Herausgeber der ZAW (1927-1959) a) Zur Geschichte der ZAW a) Die Anfänge - Stades Zeitschrift ß) „The turning point" - die ZAW unter Hugo Greßmann y) „... und die Kunde des nachbiblischen Judentums" der erweiterte Name als Programm b) Die ZAW unter Hempel c) Die ZAW in der Zeit des Dritten Reichs a) Die Namensänderung der ZAW im Jahre 1936 ß) Die Verdrängung jüdischer Wissenschaftler aus der Autorenreihe Y) Die ZAW vor und während des Zweiten Weltkriegs d) Die ZAW in der Nachkriegszeit a) „Animositäten" gegen Hempel - Belastungen durch den Herausgeber ß) Die Frage eines Mitherausgebers - Entlastung für die ZAW

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Inhalt

y) „Totengräber der alttestamentlichen Wissenschaft" weitere Vorwürfe gegen Hempel 5) Die holländische Konkurrenz - Existenznöte der ZAW

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7. Zusammenfassung: Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik

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„Altes Testament und völkische Frage" die Auslegung des biblischen Volksbegriffs im Werk von Johannes Hempel

195

1. Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung

195

a) „Die übergeschichtliche Wirklichkeit des Alten Testaments" a) Lutherische Tradition und Wertschätzung des Alten Testaments ß) Das Alte Testament in seiner Beziehung zum Christentum b) ,Christologisierung' oder .Christianisierung' des Alten Testaments - die Ansätze von W. Vischer und J. Hempel im Vergleich a) „Genossen Einer Verheißung" - der Entwurf von W. Vischer ß) Das Alte Testament im christlichen Glauben c) Religionsgeschichte in christlicher Verantwortung a) „Ohne die Religionsgeschichte ist die alttestamentliche Forschung blind" ß) „Ohne die Theologie ist die Religionsgeschichte blind"

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2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel in der neueren exegetischen Forschung

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a) Lexikalische und etymologische Aspekte a)DJ? ßpia b) Volk und Gottesvolk a) „Ein jeder kam mit seinem Hause" (Ex 1,1) - die vorstaatliche Zeit ß) „Wie alle Völker" (1 Sam 8,5) - die staatliche Zeit Exkurs: Zur Herkunft des Begriffs des Gottesvolkes

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Inhalt

y) „Damit du dem Herrn, deinem Gott, ein heiliges Volk seist" (Dtn 2 6 , 1 9 ) - d a s Volk Israel in Dtn und DtrG 8) „Ich will euch annehmen zu meinem Volk" (Ex 6,7) - die priesterschriftliche Überlieferung e) „Tröstet, tröstet mein Volk!" (Jes 40,1) - das Volk und die Völker in der Verkündigung der exilischen und nachexilischen Prophetie 0 - ganz Israel" - Israel in den Chronikbüchern und in Esr/Neh r|) Zusammenfassung

3. Der biblische Volksbegriff im Werk von J. Hempel a) Die ,Eigenart' der israelitischen Religion a) Die Konzentration des Geschehens auf JHWH ß) Die Geschichte als Handlungsort Gottes y) Zum Verhältnis zwischen Mensch und Gott b) Israel, das Gottesvolk a) Das gottgestiftete Volk ß) Zum Verhältnis von Religion und Volkstum y) Der Bundesgedanke 5) Mittler zwischen Gott und Volk: die besondere Stellung der Propheten e) Der einzelne und sein Volk £) Geschichte und Glaubensgeschichte c) Der biblische Volksbegriff vor den Anfragen der Zeit a) Das Alte Testament als Kritik am biblischen Israel ß) Biblisches Volk Israel und deutsches Volk der Gegenwart

4. Der biblische Volksbegriff bei J. Hempel im Vergleich a) Artur Weiser b) Volkmar Herntrich

5. Zusammenfassung: Völkische Frage und Altes Testament

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Inhalt

VI. Der Volksbegriff in Leben und Werk des Alttestamentiers Johannes Hempel

XIII

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1.Zur Bedeutung des Alten Testaments innerhalb der christlichen Theologie

294

2. Zur ,völkischen Bedeutung' des Alten Testaments

297

3. Zur Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments

299

4. Ausblick

301

Anhang 1. Verzeichnis der eingesehenen Archivalien

303

2. Literaturverzeichnis

307

a) Johannes Hempel b) Sonstige Literatur

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3.Register a) Bibelstellenregister b) Personenregister c) Sachregister

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I. Einleitung 1. Einführung in das Thema „Unter den Literaturdenkmälern des Alten Orients ist das Alte Testament das am stärksten völkisch eingestellte Buch"1. Mit diesen Worten beginnt der Alttestamentler Johannes Hempel 1935 einen Aufsatz zum Thema Das Alte Testament und die völkische Idee. Er begründet damit sein Engagement für das Alte Testament in der Zeit des Dritten Reichs. Hempel setzte denjenigen Stimmen, die eine Verwerfung der alttestamentlichen Schriften forderten, das Alte Testament selbst entgegen. In die Interpretation der biblischen Texte bezog er die völkische Gesinnung seiner Zeit mit ein. Sein Anliegen wird durch exegetische, geistes- und zeitgeschichtliche Komponenten bestimmt: Mit dem zitierten Satz greift Hempel auf die besondere Stellung zurück, welche die alttestamentlichen Schriften einem Volk, dem Volk Israel, im Gegenüber zu JHWH zuschreiben. Zugleich aber schwingt in seinen Worten die Begrifflichkeit der geistesgeschichtlichen Periode mit, in der das Volk zum Zentrum des Denkens erhoben wurde. Mit seiner These von der völkischen Bedeutung der alttestamentlichen Texte tritt Hempel denen entgegen, die das Alte Testament aus dem christlichen Kanon ausscheiden wollten, weil es dem deutschen Volksempfinden widerspreche 2 . Die Zeit des Dritten Reichs stellte die alttestamentliche Wissenschaft vor die Existenzfrage. In der Ideologie der völkischen Bewegung, die mit der nationalsozialistischen Machtübernahme zur staatstragenden Ideologie geworden war, stand das Volk im Mittelpunkt. Die Vertreter des völkischen Gedankens hatten im 19. Jahrhundert ihre Bindung an den allgemeinen und universalen Volksbegriff der Romantik zugunsten eines ausgeprägt nationalistischen Verständnisses aufgegeben. Sie proklamierten den Überlegenheitsanspruch der ,nordisch-germanischen Rasse' gegenüber dem Judentum. In diesem Zusammenhang wandte sich ihre Polemik auch gegen die Schriften des Alten Testaments als einem jüdischen Buch. Die alttestamentliche Wissenschaft wie auch die christliche Theologie im ganzen hatten diesen Angriffen zunächst wenig entgegenzusetzen. Verunsichert und geschwächt durch interne Streitigkeiten um die Bedeutung der alttestamentlichen Schriften innerhalb der christlichen Verkündigung, verdeut1 2

HEMPEL, Das Alte Testament und die völkische Idee, 1.

In diesem Sinne heißt es in einer Rezension zu Hempels Schrift Altes Testament und völkische Frage von WENDEL, 61: „Das ist das Bedeutsame, daß er (sc. Hempel) gerade die am A.T. sich entladende Kritik hinsichtlich überspannten Volksgefühls in das Lager des Völkischen trägt. So spricht er das angeklagte A.T. frei und macht es zum Richter des Klägers!".

2

I. Einleitung

lichten die Angriffe von außen den christlichen Theologinnen und Theologen die existentielle Notwendigkeit, sich auf ihre Grundlagen zu besinnen. Insbesondere die alttestamentliche Wissenschaft sah sich gezwungen, ihre Arbeit inhaltlich und theologisch zu legitimieren. In diesem Zusammenhang versuchten viele Alttestamentler, eine bleibende Bedeutung der alttestamentlichen Schriften anhand der in ihnen zum Ausdruck kommenden besonderen Beziehung zwischen Gott und Volk zu begründen. Sie bemühten sich, die zentrale Stellung des Volkes in Gottes Heilsplan und die Entsprechung von Volksgemeinschaft und göttlichem Willen zu verdeutlichen. Nach ihrem Selbstanspruch konnten die Alttestamentler auf diese Weise einen Beitrag zu der ihre Zeitgenossen beschäftigenden Diskussion um die völkische Frage leisten. Die wissenschaftliche Arbeit am Alten Testament wurde somit in den Dienst gestellt, Antworten auf drängende Zeitfragen zu geben. War es das Ziel, das Alte Testament für die Deutschen im Dritten Reich über ein vertieftes Verstehen und Wahrnehmen des biblischen Volksbegriffs zu retten, so werden die Grenzen dort deutlich, wo es um die Erwählung Israels als Gottesvolk geht: Den alttestamentlichen Schriften wurde eine bleibende Gegenwartsbedeutung bezüglich ihrer Schilderung der Bindung Gottes an ein Volk zugesprochen. Gleichzeitig betonte man jedoch das vermeintliche Versagen Israels, das die mit dieser Bindung einhergehende Verantwortung vor Gott mißachtet und sich so selbst dem Gericht ausgesetzt habe. Die Verbindung von zeitgeschichtlich vorgegebener Fragestellung und wissenschaftlicher Arbeit führte zu einer Öffnung der exegetischen Wissenschaft für den inzwischen gesellschaftsfähig gewordenen Antisemitismus. Antijudaistische und antisemitische Stereotypen wurden in die wissenschaftliche Arbeit am Alten Testament hineingetragen und zugleich aus den alttestamentlichen Schriften heraus zu legitimieren versucht. Mit dem Rückgriff auf diese Vorurteile sollte der Vorwurf entkräftet werden, die Beschäftigung mit dem Alten Testament sei einer positiven Wertung des Judentums gleichzusetzen und widerspräche deshalb völkischer Gesinnung. Die vorliegende Untersuchung stützt sich in besonderem Maße auf die Analyse von Leben und Werk des Alttestamentlers Johannes Hempel (1891-1964). Hempel, der sich als Wissenschaftler, Universitätsprofessor und Herausgeber der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft bereits in der Zeit der Weimarer Republik einen Namen gemacht hatte, spricht davon, daß das Alte Testament dem Volkstum eine göttliche Weihe verleihe3. Schon seine frühen Schriften kreisen um den Gedanken, daß sich in den alttestamentlichen Texten eine heilbringende Verbundenheit zwischen Gott und Volk widerspiegele 4 . Diese zeige sich paradigmatisch an der Erwählung Israels als dem Volk JHWHs. Zentrale Bedeutung erhält der Volksbegriff in Hempels 3

HEMPEL, Das Alte Testament und die völkische Idee, 3.

4

So z.B. HEMPEL, Gott und Mensch, 58.

2. Forschungsgeschichtliche

Relevanz, Methodik und

Quellenlage

3

Arbeiten aus den 30er Jahren. Immer wieder verweist er auf die biblischen Texte und sieht in ihnen das Volk als die erste und von Gott gewollte Größe beschrieben 5 . In diesem Sinne hebt er das religiöse Verständnis des alttestamentlichen Volksbegriffs hervor, welches das Ergehen des Volkes eng an den Gehorsam gegenüber Gott binde. Israel habe jedoch den mit der Erwählung gegebenen Zusammenhang zwischen Volksschicksal und Gottesgehorsam vernachlässigt und so den Zorn Gottes auf sich gezogen. Die Schilderung der biblischen Geschichte verbindet Hempel mit einem Appell an seine Zeitgenossen: Aus dem Alten Testament sei deutlich zu erkennen, welch ein Segen über einem Volk stehe, das sich dem Willen Gottes unterstelle. Gleichzeitig betonte er jedoch immer wieder, daß schon die alttestamentlichen Schriften das Versagen Israels an diesen Aufgaben aufzeige. Seine Arbeit am Alten Testament sei deshalb keineswegs als Verherrlichung des Judentums zu verstehen6. Vielmehr liege im Schicksal Israels die Mahnung an das deutsche Volk, sein Leben nach dem Willen Gottes auszurichten.

2. Forschungsgeschichtliche Relevanz, Methodik und Quellenlage Die vorliegende Studie hat sich zum Ziel gesetzt, die zeit- und geistesgeschichtlichen sowie die biographischen Aspekte zu untersuchen, die Hempel zu seiner intensiven Beschäftigung mit dem alttestamentlichen Volksbegriff geführt haben. Zugleich soll das Spezifische, das seiner Deutung der biblischen Schilderung des Volkes eigen ist, herausgearbeitet werden. Im Vergleich mit neueren Arbeiten zum Volksbegriff sowie mit zeitgenössischen Veröffentlichungen anderer Alttestamentler wird sein Ansatz kritisch reflektiert. So ist durch die Themenstellung der vorliegenden Abhandlung ein vertiefender Beitrag zur Forschungsgeschichte der alttestamentlichen Wissenschaft im 20. Jahrhundert intendiert. Zugleich wird mit der Fokussierung auf den Volksbegriff die konkrete exegetische Arbeit z.Zt. der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus in den Blick genommen. Das Forschungsfeld .Altes Testament im Nationalsozialismus' wird exemplarisch unter der Thematik „Altes Testament und völkische Frage" bearbeitet. 5 6

HEMPEL, aaO. 2f.; DERS., Das Alte Testament und die völkische Idee, 2.

HEMPEL, aaO. 8. Zu diesem Sachverhalt schreibt KRAUS (Geschichte, 432) allgemein: „Nie sollte es die alttestamentliche Wissenschaft vergessen, daß die nationalsozialistischen und deutsch-christlichen Herolde einer neuen völkischen Religion den Kampf gegen das .alttestamentliche Fremdelement' mit Waffen geführt haben, die ihrem eigenen Forschungsarsenal entnommen wurden. Eine unvergleichliche Schande bleibt außerdem die Tatsache, daß alttestamentliche Theologen in dem Lager derer gestanden haben, die sich nicht genug tun konnten, das Buch des Alten Bundes mit Hohn und Spott zu übergießen".

4

I. Einleitung

Allgemein ist der Themenbereich .Christliche Theologie in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft' bisher weitgehend im Rahmen kirchengeschichtlicher Forschungen behandelt worden. Das Verhalten einzelner Persönlichkeiten7, verschiedener Theologischer Fakultäten 8 , einzelner Landeskirchen 9 und kirchlicher Institutionen 10 steht dabei im Mittelpunkt des Interesses. Für die exegetischen Wissenschaften hat Leonore Siegele-Wenschkewitz mit der Biographie des Neutestamentiers Gerhard Kittel einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftsgeschichte im Dritten Reich geleistet11. Innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft liegen mit den Arbeiten von Rudolf Abramowski 12 , Carsten Nicolaisen 13 , Hans-Joachim Kraus 14 und Frank Crüsemann 15 forschungsgeschichtliche Abhandlungen über die Stellung des Alten Testaments in der Zeit des Kirchenkampfs vor. Ihr Ziel ist die Erfassung dessen, was in jener Zeit in der Auseinandersetzung um die Stellung des Alten Testaments geschrieben und veröffentlicht wurde. Ulrich Kusche widmet sich in seiner Dissertation erstmals thematisch der Darstellung des Judentums in der wissenschaftlichen Literatur zum Alten Testament. Den Zeitraum der nationalsozialistischen Herrschaft handelt er jedoch nur in einem kurzen Ausblick ab16. Brigitte Schroven stellt in ihrer Arbeit die Diskussion um die christologische Auslegung des Alten Testaments in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen dar17. Mit der Themenstellung der vorliegenden Monographie wird der .Streit um das Alte Testament' nicht ausschließlich dokumentarisch erfaßt18. Im Vordergrund steht die Betrachtung der theologischen Arbeit, denn der genannte An7

So z.B. ERICKSEN, Theologen, zu Gerhard Kittel, Paul Althaus und Emanuel Hirsch.

8

So z.B. MEISIEK, Evangelisches Theologiestudium, bes. 17-27 (hier findet sich eine Literaturübersicht zu einzelnen Theologischen Fakultäten); SIEGELE-WENSCHKEWITZ / NICOLAISEN (Hg.), Theologische Fakultäten; MEIER, Die Theologischen Fakultäten. 9 S. z.B. für die hannoversche Landeskirche: GROSSE u.a. (Hg.), Bewahren. 10 Vgl. hierzu z.B. die Untersuchung der Geschichte verschiedener diakonischer Einrichtungen, wie sie in dem Sammelband von STROHM/THIERFELDER, Diakonie, dargestellt sind. 11 SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Neutestamentliche Wissenschaft. 12

ABRAMOWSKI, V o m Streit.

13

NICOLAISEN, D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n ; DERS., D i e S t e l l u n g .

14

KRAUS, Das Alte Testament.

15

CRÜSEMANN, T e n d e n z e n .

16

KUSCHE, Die unterlegene Religion, 163-167.

17

SCHROVEN, T h e o l o g i e .

18

NICOLAISEN (Die Auseinandersetzungen, 2f.) bezeichnet seine Arbeitsweise hingegen als historisch, da er „eher daran interessiert (ist), die für das Verständnis des A T im Kirchenkampf bedeutsam gewordenen Positionen nachzuzeichnen, als das den Alttestamentler oder Systematiker interessierende theologische Gewicht der einzelnen Aussagen zu prüfen oder zu diskutieren."

2. Forschungsgeschichtliche

Relevanz, Methodik und

Quellenlage

5

satzpunkt der .völkischen Frage' umfaßt einen zentralen Aspekt in der Auseinandersetzung um den Wert des Alten Testaments für die christliche Theologie im nationalsozialistischen Deutschland. Die hierfür ausgewerteten Broschüren 19 und Beiträge, die im Zusammenhang dieser Auseinandersetzung entstanden, zeigen die Intensität, mit der in jenen Jahren der alttestamentliche Volksbegriff in den ,Streit um das Alte Testament' mit einbezogen wurde. Zugleich ermöglicht die Konzentration auf den Alttestamentier Johannes Hempel eine differenzierte Darstellung der Thematik. An seinem Beispiel wird deutlich, wie sehr sich in der Zeit des Nationalsozialismus gerade in der Auslegung des biblischen Volksbegriffs wissenschaftliche Fragestellungen und Erkenntnisse mit biographischen und zeitgeschichtlichen Aspekten verbinden. Dabei kann für die Person Hempels kaum auf ausführlichere Vorarbeiten zurückgegriffen werden20. So liegt es im Interesse der Studie, eine politische Biographie nachzuzeichnen, die die Dimension seiner wissenschaftlichen Arbeiten auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund erhellt. Die vorfindliche Quellen- und Archivlage 21 machte es möglich, die einzelnen biographischen Stationen Hempels nachzuvollziehen und zugleich das mit diesen Orten verbundene wissenschaftliche und politische Umfeld darzustellen, in dem seine Forschungen zum Alten Testament entstanden. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich jedoch nicht auf historische Fragestellungen. Das besondere Interesse gilt der theologischen Arbeit Hempels, in welcher der Volksbegriff eine zentrale Rolle spielt. Hierin spiegelt sich die schwierige Situation der alttestamentlichen Wissenschaft im Dritten Reich ebenso wider wie die Prägung der Zeit durch die völkische Ideologie. Zudem ist jedoch die spezifisch theologische und exegetische Arbeitsweise Hempels zu analysieren, die ihn die Gegenwartsfragen in die wissenschaftliche Arbeit mit hineinnehmen läßt. 19

Die große Anzahl von Broschüren, die in den 20er und 30er Jahren zur Auslegung des biblischen Volksbegriffs erschienen, belegen die damalige Aktualität der Auseinandersetzung. In Broschüren konnte umgehend auf Problemstellungen reagiert werden, da Wartezeiten, die bis zur Veröffentlichung eines Buches notwendig sind, weitgehend entfielen. 20 Bruchstückhaft finden sich Hinweise auf Hempels Biographie und Schriften v.a. in den Nachrufen von FOHRER und von ZLMMERLI, außerdem bei KRUMWIEDE, Göttinger Theologie, 147-155; SMEND, Die älteren Herausgeber, 17-20; SMID, Deutscher Protestantismus, 2 2 5 241; KUSCHE, aaO. 164-166; SCHROVEN, aaO. 132-137. 21 Die Archivlage, die sich hauptsächlich an den Orten des universitären Wirkens Hempels orientiert (Universitätsarchive Göttingen und Berlin), wird durch persönliche Dokumente ergänzt, die sich v.a. im Briefwechsel mit N. Söderblom finden (Universitätsarchiv Uppsala). Für die Darstellung des kirchenpolitischen Engagements Hempels besitzen die im Evangelischen Zentralarchiv, Berlin, aufbewahrten Akten besondere Bedeutung. Zugleich ermöglichen die im Verlagsarchiv de Gruyter, Berlin, erhaltenen Archivalien und die im Rahmen der Entnazifizierung Hempels enstandenen Akten (Landeskirchliches Archiv Braunschweig; Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel) eine über die Zeit des Dritten Reichs hinausgehende Darstellung der biographischen und wissenschaftlichen Zusammenhänge.

6

I. Einleitung

Mit der Konzentration auf den Alttestamentier Johannes Hempel und auf die „völkische Frage" tritt die zentrale Auseinandersetzung um den Wert des Alten Testaments für Christinnen und Christen im nationalsozialistischen Deutschland in den Mittelpunkt. Denn gerade in der Exegese des alttestamentlichen Volksbegriffs zeigt sich, auf welche Weise die alttestamentliche Wissenschaft mit der Spannung umging, in der sie in der Zeit des Dritten Reichs stand: Aufgrund des eigenen Arbeitsgebietes war sie mit dem Alten Testament, dem Volk Israel und dem Judentum verbunden. Die öffentliche Meinung sah jedoch gerade in diesen Komponenten eine große Gefahr für das deutsche Volk. Die vorliegende Studie möchte einen Beitrag zur Erforschung der aufgeworfenen Zusammenhänge leisten. Ausgehend von der These, daß die Arbeiten zum alttestamentlichen Volksbegriff aus der Zeit des Dritten Reichs in einer Situation enstanden, in der zum einen die völkische Ideologie ihren Höhepunkt mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten fand und zum anderen die alttestamentliche Wissenschaft durch die Angriffe von außen sehr verunsichert war, zeichnen die beiden auf diese Einleitung (I.) folgenden Kapitel den Hintergrund nach, auf dem Hempels Arbeiten zum alttestamentlichen Volksbegriff erschienen: Kap. II zeigt die Geschichte des völkischen Denkens und der damit verbundenen Sprachfindung auf und verdeutlicht, wie diese sich in den Arbeiten der Alttestamentler zum Volksbegriff widerspiegeln. Die Entstehung der völkischen Gesinnung reicht dabei zurück in die Zeit der Romantik. Herder hatte mit Begriffen wie ,Volksseele' und ,Volksgeist' versucht, die Einheit eines Volkes zu umschreiben. Fortgeführt wurde dieses Gedankengut im Nationalismus des 19. Jahrhunderts (II.l.) und im ideologischen Gebäude des Nationalsozialismus schließlich pervertiert. Von der geistesgeschichtlichen Bewegung beeinflußt, widmete sich auch die evangelische Theologie dem Verhältnis von ,Volk und Kirche' und der Frage nach dem Volk als ,Schöpfungsordnung'. In diesem Zusammenhang griffen die beteiligten Theologen immer wieder auf die alttestamentlichen Schilderungen der Volksgeschichte Israels zurück (II.2.). Mit den Deutschen Christen wurde der Volksbegriff zur Grundlage einer kirchenpolitischen Bewegung, die in ihrer religiösen Glorifizierung des (deutschen) Volkes den Kirchenkampf prägte (II.3.). In diesem Sinne zeigt Kap. II die geistesgeschichtlichen, theologischen und politischen Komponenten auf, welche die Rede vom Volk in der Zeit des Nationalsozialismus bestimmten 22 .

22 Als wichtige Vorarbeiten zu diesem Kapitel konnten die Monographie von TILGNER, Volksnomostheologie und der ausführliche Lexikonartikel ,Volk, Nation, Nationalismus, Masse' von KOSSELLECK u.a. herangezogen werden. Dennoch erwies sich für die Darstellung der Sachverhalte der Rückgriff auf Originaltexte und Quellensammlungen als unerläßlich.

2. Forschungsgeschichtliche

Relevanz,

Methodik

und

Quellenlage

1

In einem weiteren Schritt (Kap. III) wird die Geschichte des .Streites um das Alte Testament' dargestellt (III. 1.). Sie vermag die Vehemenz zu erklären, mit der Alttestamentler in den 30er Jahren versuchten, ihre eigene Wissenschaft gegenüber den Angriffen von außen zu schützen (III.2.). Hierbei werden verschiedene Lösungsmodelle vorgestellt, mit denen die bleibende Relevanz der alttestamentlichen Schriften innerhalb der christlichen Theologie bzw. innerhalb der völkischen Weltanschauung begründet wurde (III.3.)23. Mit der Darstellung der Biographie des Alttestamentiers Johannes Hempel (Kap. IV) entfaltet sich das Bild eines fachlich wie politisch profilierten Wissenschaftlers, dessen wissenschaftliche Karriere in der Zeit der Weimarer Republik begann und im Dritten Reich ihren Höhepunkt erreichte24. Die Situation, in der sich Hempel als Alttestamentler im Dritten Reich befand, erhielt durch sein kirchenpolitisches Engagement bei den Deutschen Christen besondere Brisanz: Während jene an einem ,artgemäßen Christentum' festhielten, in dem die alttestamentlichen Schriften als Berichte über das Volk Israel keinen Raum hatten, integrierte er das Alte Testament in die kirchenpolitische Diskussion. Hempel sah seine Arbeit als Alttestamentler nicht im Widerspruch zu seinem politischen Eintreten für die Ziele der völkischen Bewegung. Vielmehr begründete er sein politisches Engagement mit der von Gott selbst gegebenen Verantwortung des einzelnen für die Volksgemeinschaft, wie er sie den alttestamentlichen Texten entnahm. Kap. V steht schließlich unter der Leitfrage, inwiefern sich der in Kap. II und III geschilderte geschichtliche Hintergrund und das politische Engagement Hempels (Kap. IV) in dessen wissenschaftlichem Werk widerspiegeln. Hierzu wird zum einen die Frage nach dem Selbstverständnis Hempels als Alttestamentler in der Zeit des Dritten Reichs gestellt und mit der Darstellung seines Bekenntnisses zur bleibenden Bedeutung der alttestamentlichen Schriften innerhalb der christlichen Theologie beantwortet (V.l.). Zugleich zeigt sich in seinem Werk der Volksbegriff als Schlüsselbegriff, um die bleibende Relevanz des Alten Testaments auch innerhalb der völkischen Weltanschauung begründen zu können (V.3.). Der alttestamentliche Volksbegriff wird als Zuspruch und zugleich als Mahnung an die eigene Gegenwart beschrieben. Um das Spezifische seiner Auslegung des biblischen Volksbegriffs erfassen zu können, wird diese im Vergleich zu Arbeiten seiner Zeitgenossen (V.4.) reflektiert. Diesen Teilen ist eine Darstellung der neueren Forschungs-

23 Dieses Kapitel basiert weitgehend auf der Analyse der sog. .Broschürenliteratur', die zum T h e m a .Altes Testament und völkische Frage' erschienen war. 24 A u f g r u n d mangelnder Vorarbeiten beruht die Darstellung in diesem Kapitel v.a. auf der Erarbeitung der eingesehenen Archivalien.

8

I. Einleitung

diskussion vorangestellt (V.2.), die den Hintergrund für eine kritische Analyse der Veröffentlichungen Hempels bildet25. In einem abschließenden Kapitel (Kap. VI) werden die unterschiedlichen Aspekte, die innerhalb dieser Untersuchung dargestellt und am Ende eines jeden Kapitels zusammengefaßt sind, aufeinander bezogen. Hierbei zeigen sich sowohl der paradigmatische Charakter, den Hempels Biographie als Alttestamentler in der Zeit des Dritten Reichs verkörpert, wie auch die Besonderheiten seines kirchenpolitischen Engagements und seines wissenschaftlichen Werks.

25

Das Kapitel umfaßt zum einen eine Analyse der Schriften Hempels, zum anderen werden mit den Schriften Weisers und Herntrichs zum alttestamentlichen Volksbegriff der Auslegung Hempels zeitgenössische Positionen gegenübergestellt. Mit der Darstellung der aktuellen exegetischen Diskussion um den biblischen Volksbegriff zeigt sich die Brisanz des Themas auch in der heutigen alttestamentlichen Wissenschaft.

II. Das Volk als Leitidee völkisches Denken vor und in der Zeit des Nationalsozialismus „Wir sind das Volk!" - so riefen die Bürgerinnen und Bürger Leipzigs auf ihren Montagsdemonstrationen im Winter 1989/90. Wenige Wochen später hieß es bereits: „Wir sind ein Volk!" Schon mit diesen kurzen Sätzen wird deutlich, daß der Volksbegriff viele Facetten aufweist. Zunächst wurde das Wort bemüht, um im regimekritischen Sinne Unwillen und Anspruch auf Selbstvertretung gegenüber der unliebsam gewordenen Staatsführung zu verdeutlichen. Auf den solidarischen Aspekt des Begriffs vertrauend, beschwor dann der Slogan: „Wir sind ein Volk!" 1 die Einheit von Ost- und Westdeutschland, die Gemeinsamkeit der beiden Bürgergemeinden 2 . Zu unterscheiden ist hier eine politisch-sozialwissenschaftliche von einer ethnischen Dimension des Volksbegriffs3. Die politische Definition entspricht der etymologischen Bestimmung von ,Volk' und beschreibt es im Gegenüber zur herrschenden Institution. In der Begriffsgeschichte wird der deutsche Begriff ,Volk' auf das althochdeutsche ,folc' zurückgeführt. Damit steht der Ursprung in einem militärischen Kontext. Denn das aus den Wurzeln ,voll' und ,folgen' gebildete ,folc' bezeichnete primär Heer- bzw. Kriegsscharen, die sich durch ihren Dienst als eigene Klasse hervortaten4. Der Begriff der ,Nation' läßt sich durch die lateinische Wurzel ,nasci/natio' auf die ursprüngliche Bedeutung einer durch die Geburt gegebenen Zugehörigkeit zurückführen 5 . Im Laufe der Begriffsgeschichte veränderte sich jedoch das Bedeutungsfeld. Zunächst bestimmte die ethnische Komponente, die den Aspekt der gemeinsamen Herkunft hervorhebt, den Begriff der Nation. Als dann im 13./14. Jahrhundert die Studenten an den Universitäten nach Nationen eingeteilt wurden, stand die sprachliche Gliederung im Vordergrund. Aber auch die Sprache blieb nicht eindeutiges Kriterium für die Umschreibung des Nationenbegriffs. Wenn etwa auf den Konzilien des 14./15. Jahrhunderts die Reichsstände als Vertreter der deutschen Nation galten, so bezog 1

Der Ruf prägte die Kundgebungen gemeinsam mit der bis dahin nicht gesungenen Strophe der DDR-Nationalhymne: „Deutschland, einig Vaterland". 2 Vgl. H. H. MÜLLER, Schlaglichter, 445.447. Hierzu auch L. HOFFMANN, „Ein Volk". 3 Zur Unterscheidung vgl. FRANCIS, Art. Volk. 4 KOSELLECK, Art. Volk, 193f. Zur Begriffsgeschichte s. auch FRANCIS, ebd. und J. und W. GRIMM, Art. Volk. 5

M . G . SCHMIDT, A r t . N a t i o n , 6 3 0 f . u n d KOSELLECK, a a O . 2 1 4 .

10

II. Völkisches

Denken

sich die Vertretung keineswegs auf das gesamte Volk, sondern allein auf die es repräsentierenden Stände und Fürsten6. Beide Begriffe, ,Volk' und ,Nation', verlieren in der Begriffsgeschichte der Neuzeit ihr ursprüngliche Bedeutung. ,Volk' beschreibt nun eine organische Einheit, die von politischen Rahmenbedingungen unabhängig existiert 7 , während ,Nation' ein soziologisch-politisches Ordnungsprinzip bezeichnet: „Die Nation ist eine Gemeinschaft von Menschen mit dem Bewußtsein gleicher politisch-kultureller Vergangenheit und dem Willen zum Staat."8 In der deutschen Geschichte stieß der Versuch, eine Einheit der Deutschen mit dem Volksbegriff zu beschreiben, auf besondere Schwierigkeiten. Es gab kein deutsches Volk und keine deutsche Nation, die sich räumlich auf ein gemeinsames Gebiet hätten zurückführen lassen. So stellte Lessing im Jahre 1768 fest, daß „wir Deutschen noch keine Nation sind"9. Statt dessen lebten die Deutschen auf mehrere Länder verteilt und von fremden Regenten beherrscht. Konnte aber territorial nicht von einer Einheit gesprochen werden, so erhielt die Suche nach übergreifenden Begriffen und gemeinsamen Merkmalen, die sich unabhängig von der politischen Realität darstellten, immer größere Bedeutung 10 . Die geistesgeschichtliche Periode des , völkischen Denkens' nahm hier ihren Anfang. Ihren schwierigen Höhepunkt sollte sie in der politischen Vereinnahmung der Volksidee durch den nationalsozialistischen Staat finden.

6

Zur Übertragung des .Nationenbegriffs' von der mittelalterlichen Universität auf die Konzilien und später auf das politische Gebilde des .Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation' vgl. GEISS, Nation, 14. S. auch WERNER, Art. Natio/Patria, 231-234. 7

ZILLESSEN, Volk, 29. Zu verschiedenen Definitionsversuchen der Begriffe .Nation' und .Ethnie', mit denen heute der Oberbegriff .Volk' unterschieden wird, vgl. JÄGGI, Nationalismus, 20-23. 8 SPIEKER (Nation, 99) spricht sich für eine kulturelle Definition von .Nation' aus, für die „die Gemeinsamkeit der Kultur und der politischen Geschichte" konstitutiv sei, gepaart mit dem Willen zum Staat. Zur Unterscheidung zwischen Volk und Nation in der heutigen Soziologie s. HECKMANN, Ethnische Minderheiten, 47-54.57. Er beschreibt das Volk als „das umfassendste ethnische Kollektiv, das durch den Glauben an eine gemeinsame Herkunft, Gemeinsamkeiten von Kultur und Geschichte sowie ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein gekennzeichnet ist". Nation sei dagegen ein „ethnisches Kollektiv, das ein ethnisches Gemeinsamkeitsbewußtsein teilt", sich jedoch durch seine politisch-verbandliche Organisation in der Form des Nationalstaates auszeichnet (aaO. 57). Z u m Begriff der Nation s. auch PERELS, Das Janusgesicht. 9 So LESSING (Hamburgische Dramaturgie II, 213) im Zusammenhang mit der Frage nach der Errichtung eines ,Nationaltheaters' für die Deutschen. 10 Zur integrativen Funktion von .Volk' s. L. HOFFMANN, Das .Volk', 199f. Zur spezifischen Problematik einer jüdischen Volkskunde s. DAXELMÜLLER, Jüdische Volkskunde.

1. Der Volksbegriff in der neuzeitlichen

Geistesgeschichte

11

1. Der Volksbegriff in der neuzeitlichen Geistesgeschichte a) Geistesgeschichtliche

Grundlagen

Wird im allgemeinen Johann Gottfried Herder die Entdeckung und Beschreibung des Volksbegriffs zugeschrieben, so ist seine Beschäftigung mit dem Wesen eines Volkes letztlich doch eine Wiederentdeckung. Die Begriffsgeschichte beginnt bereits in der Antike und kann auch in der Neuzeit keineswegs als abgeschlossen gelten11. Durch die gesamte Geistesgeschichte hindurch orientieren sich die Gedanken zum Volksbegriff am biblischen Bild: „Für die entwicklung dieser bedeutung (sc. Volk als großer Verband, der sich gegen andere absondert) ist der biblische gebrauch nicht unwichtig, das jüdische volk in seiner scharfen absonderung, das volk gottes wurden früh verbreitete Vorstellungen"12. Sowohl die Vorstellung vom Volk als einer ursprünglichen und von Gott erwählten Form der Lebensgemeinschaft als auch die biblische Beschreibung der Aufteilung der Welt in verschiedene Völker kommen dabei zum Tragen. Der antike Volksbegriff umschrieb vorhandene Einheiten, die sich durch gemeinsame Abstammung, Sprache, Sitte und Namen auszeichneten. Im Mittelalter sollte der Begriff wiederum eine fiktive Einheit imaginieren. So wurde bereits in der Frühzeit der Staatenbildung im 10. Jahrhundert durch Mythen die Fiktion eines einheitlichen Ursprungs heraufbeschworen, um die gemeinsame Volkszugehörigkeit zu begründen 13 . Im 16. Jahrhundert bemühten sich vor allem die Humanisten, die Wurzeln eines deutschen Volkes im Altertum zu verankern. In diesem Zusammenhang spielte die Wiederentdeckung der Germania von Tacitus eine bedeutende Rolle 14 . Tacitus hob in seiner Beschreibung der Germanen vor allem deren Heldenmut und ihren Freiheitsdrang hervor. Die Humanisten suchten nun in der Rückführung der Deutschen auf die Germanen eine ursprüngliche Einheit zu belegen, die in ihrer Gegenwart nicht existierte. Das in Sachsen, Franken, Alemannen und Bayern zergliederte Deutsche Reich erhielt somit einen Ur-

11 Besonders in Deutschland ist der Umgang mit den Begriffen ,Volk' und .Nation' bis heute durch viele Unsicherheiten belastet. Vgl. hierzu z.B. die Diskussionen um Volk und Nation in den Lutherischen Monatsheften 1994/95: VON THADDEN, Nation; OFFERGELD, Der Traum. Weiterhin SCHRÖDER, Was heißt; HONECKER, Nationale Identität. 12

J. und W. GRIMM, aaO. 461 (im Original kursiv gedruckt).

13

KOSELLECK, a a O . 177.

14

TACITUS, D e o r i g i n e . Z u r W i e d e r e n t d e c k u n g vgl. KOSELLECK, a a O . 2 8 2 u n d TILGNER,

Volksnomostheologie, 17. Tacitus' Schrift vom Ende des 1. Jh.s n.Chr. beschreibt in einem ersten Teil Lebensart und Sitten der Germanen und in einem zweiten die Wohnsitze der verschiedenen Stämme (vgl. hierzu H. M. MÜLLER, aaO. 21). Tacitus' Germania spielte auch in der Ideologie der völkischen Bewegung im 19. Jh. wieder eine Rolle. Vgl. hierzu MOSSE, Die völkische Revolution, 78.

12

II. Völkisches

Denken

sprungsmythos, demzufolge alle Stämme anfänglich germanisch und damit deutsch gewesen waren und sich durch die bei Tacitus beschriebenen positiven Werte auszeichneten. Diese ursprüngliche, in der Vergangenheit verortete und für die Zukunft wieder erhoffte Einheit prägte auch die Beschäftigung mit dem Volksgedanken im 18. und 19. Jahrhundert. Nun umschrieben Begriffe wie ,Volkheit' und ,Volkstum' eine Größe, die zwar in der politischen Gegenwart nicht vorhanden war, die es aber wiederherzustellen galt15. Auch der Begriff der ,Nation' erhielt in dieser Zeit in Deutschland eine neue Gewichtung. Im Bemühen, die Einheit der Deutschen beschreiben zu können, wurde an das Nationalgefühl und damit an das Ziel politischer Autonomie appelliert. Nun beschrieben sowohl ,Volk' wie auch .Nation' eine alle Stände umfassende Struktur, die, wenn auch politisch noch nicht verwirklicht, als ideelle Zielsetzung durchaus politische Bedeutung erhielt. Die Hoffnung auf Einheit beinhaltete auch die Hoffnung auf nationale Selbständigkeit und damit auf ein Ende der französischen Fremdherrschaft 16 . Die mittelalterliche Idee eines universalen Imperiums, wie sie sich vor allem in der katholischen Kirche als Weltkirche und in der lateinischen Sprache als Weltsprache widergespiegelt hatte, wich schließlich der Idee der Nationalstaatlichkeit17. Das nationale Bewußtsein suchte seinen Anspruch auf Selbstvertretung und auf die Eigenständigkeit des Volkes aus der Geschichte heraus zu begründen. b) Der Volksbegriff im 18. und 19. Jahrhundert a) Die Völker im göttlichen Schöpfungsgarten: J. G. Herder Johann Gottfried Herder (1744-1803), dem man zuschreibt, Wegbereiter der klassischen Romantik gewesen zu sein18, entdeckte für seine Geschichtskonzeption den Begriff der Völker neu19. Sie seien es, mit denen Gott die Geschichte lenke. Die Weltgeschichte ist damit im Gedankensystem Herders ein Gang Gottes unter den Völkern20. Sie gelten als Träger der von der Vorsehung

15

MOSSE, aaO. 23: „Idealisiert und transzendiert symbolisierte das Volk die ersehnte Einheit, abgehoben von der gegenwärtigen Realität". KOSELLECK (aaO. 149) faßt zusammen: „Quer durch allen Verfassungswandel kristallisieren sich am Begriff ,Volk' im Deutschen immer neue Erwartungen an". 16 17 18 19

SPIEKER, aaO. 101. Hierzu GENNRICH, Gott, 41. ÖLENDER, Die Sprachen, 40.

BESIER (Art. Volk, 3894) weist darauf hin, daß die romantische Volksidee als Gegenbewegung zur allgemeinen Menschheitsidee des Rationalismus der Aufklärung zu verstehen ist. 20 GENNRICH, aaO. 45. Im Original (HERDER, Auch eine Philosophie, 565) heißt es: „da der Gang Gottes unter die Nationen mit Riesenschritte fortgeht".

1. Der Volksbegriff

in der neuzeitlichen

Geistesgeschichte

13

gelenkten geschichtlichen Gesamtentwicklung 21 . Auch die Zergliederung der Menschheit in verschiedene Völker spiegele den göttlichen Willen wider, denn jedes Volk erhalte gemäß dem ursprünglichen Schöpfungsgesetz seine individuellen Eigenheiten 22 , die aus Gott selbst hervorgingen23. Die individuellen Äußerungen eines Volkes, wie sie sich in Sprache, Mythus, Kunst und Sitte 24 wiederfinden, wurden somit als Ausstrahlung eines spezifischen Charakters verstanden, der jedem Volk eigen sei. Herder nannte dieses Lebensprinzip ,Volk\ Hegel wird es später als ,Volksgeist' bezeichnen25. Die Individualitität eines Volkes, seinen Nationalcharakter, führt Herder auf das göttliche Schöpfungsprinzip zurück, das jedem Volk einen eigenen Platz in der Welt und in der Geschichte zuweise. Eine „wilde Vermischung der Menschengattungen und Nationen" 26 widerspräche deshalb der ursprünglichen Bestimmung eines Volkes. Für die Definition des Nationalcharakters erhält die Volksdichtung zentrale Bedeutung 27 . Denn für Herder läßt sich gerade in den sprachlichen Erzeugnissen des Volkes der Nationalcharakter am reinsten erkennen. Das Volk, als soziale Schichtbezeichnung verstanden, erfährt hier eine besondere Aufwertung. In der Volksdichtung zeigten sich sowohl Sprache wie auch Mythologie und Sittenvorstellungen eines Volkes unverfälscht 28 . Herder widmete sich deshalb besonders der Sprachforschung, denn in der Sprache zeige sich das Wesen, Denken und Fühlen eines Volkes29. In diesem Zusammenhang erhält gerade

21

KOSELLECK, aaO. 317. WILLI (Herders Beitrag, 132) spricht hier von einer „Ineinssetzung von Geschichte und Offenbarung". ^TlLGNER, aaO. 21. 23 STÖRIG, Kleine Weltgeschichte, 440. 24 Ausdrucksreihe bei MOSER, Volk, 131. 25 Zur Diskussion, ob Herder bereits den Begriff ,Volksgeist' kannte, vgl. TLLGNER, aaO. 19 mit A n m . 6. JÖNS (Begriff, 57 mit Anm. 1) spricht sich dafür aus, daß erst Hegel den Begriff benutzte. So auch L. HOFFMANN, Das „Volk", 200 mit Anm. 16. Bei HEGEL ist der Geist eines Volkes „ein bestimmter Geist, der sich zu einer vorhandenen Welt erbaut, die jetzt steht und besteht, in seiner Religion, in seinem Kultus, in seinen Gebräuchen, seiner Verfassung und seinen politischen Gesetzen, im ganzen U m f a n g seiner Einrichtungen, in seinen Begebenheiten und Taten. Das ist sein Werk - das ist dies Volk. (...) In diesem seinem Werke, seiner Welt genießt sich nun der Geist des Volkes und ist befriedigt" (DERS., Vorlesungen, 99). Z u m Volksgeist s. auch aaO. 73f.87. 26

HERDER, Ideen, 384.

27

Insofern kennt Herder neben der ethnischen Volksbestimmung auch eine soziale, auf die unteren Schichten und ihre geistigen Erzeugnisse bezogene .Volksdefinition'. Nach M O S E R (aaO. 128) kann ,Volk' bei Herder auch den einzelnen Stamm als ethnische Teilgröße bezeichnen. Damit habe Herder einen dreifachen Volksbegriff: ethnisch, sozial und als ethnische Teilgröße (im Sinne von Volksstamm). 28 Vgl. hierzu MOSER, aaO. 132. 29

MOSER, aaO. 131.

14

II. Völkisches

Denken

das Hebräische eine hervorgehobene Stellung als die älteste Sprache 30 . Auch das biblische Volk Israel besitze paradigmatischen Charakter: „Es war und ist das ausgezeichnetste Volk der Erde"31 und könne damit Bedeutung für das allgemein Menschliche beanspruchen32. So belegte er unter Verweis auf das Volk Israel seinen Entwurf von nationaler Religion: Der Nationalcharakter, der das Urprinzip eines jeden Volkes beinhalte, habe sein Pendant nicht nur in Sprache, Kunst, Mythos und Sitte, sondern auch in der Nationalreligion. Sie umfasse den sittlich-ethischen Anspruch eines jeden Volkes und sei somit geschichtlich mit dem jeweiligen Volk verbunden. Auf dieser Grundlage interpretiert Herder das Alte Testament als Nationalgesetz, das sowohl geschichtlich als auch in seinen ethischen Ansprüchen an das Judentum gebunden sei. Als ,Nationaldokument' 33 Israels wird das Alte Testament damit aus einem für Christen noch relevanten heilsgeschichtlichen Zusammenhang her-

30

HERDER, Abhandlung, 13.71. An anderer Stelle hält HERDER (Vom Geist I, 444) das Hebräische „für eine Tochter der Ursprache und zwar für eine der ältesten Töchter". Die ältesten Dokumente seien wiederum die poetische Texte der Hebräischen Bibel. Vgl. hierzu FÜRST, Sprache, bes. 143-156. Besondere Bedeutung erhält danach das Hebräische durch die Übereinstimmung von „Bild und Empfindung". Hierzu auch WILLI, Herders Beitrag, 35. Zur Interpretation des hebräischen Vokalsystems und der poetischen Sprache durch Herder s. ÖLENDER, D i e S p r a c h e n , 4 0 - 4 5 . 31

HERDER, Älteste Urkunde, 139. An anderer Stelle (aaO. 153) schreibt Herder: „Mit Ehrfurcht nah' ich mich dir, heiliges Volk, in seinem Schatten, vor seinem Angesichte, du Licht der Welt, du Salz der Erde! Du wärest das erwählte Geschlecht, ein Patriarchenpriesterthum, die Tugenden deines Beruffers zu verkünden. Das Denkmal Gottes, die Stimme des Vaters, die Geschichte der Schöpfung und alles Ursprungs erhieltst du: du hast sie auch uns erhalten: du wärest selbst dazu das gesetzte, lebende, bestimmte Denkmal." 32 Hierzu ÖLENDER, aaO. 46-48 und WILLI (aaO. 74f.), der davon ausgeht, daß Herder grundsätzlich eher am allgemein Menschlichen als an Israel selbst interessiert gewesen sei. Ebenso erlösche Herders Interesse an Israel mit dem Ende der politischen Selbständigkeit (aaO. 84). Willi kritisiert Herders Sicht Israels, die allein von seinem philosophischtheologischen System abhängig sei und damit die Tatsachen verfälsche (aaO. 136f.). WITTRAM (Nationalismus, 23f.) spricht davon, daß Herders Volkstumsidee „säkularisiertes Christentum, hervorgegangen vermutlich aus dem Erlebnis des Alten Testaments, entfaltet im Bereich des lutherischen Vorrangs von Wort und Sprache", sei. 33

Ausdruck bei SMEND, Herder, 1319. HERDER (Vom Geist II, 83) interpretiert die alttestamentlichen Feierlichkeiten und Texte als Mittel, um den Nationalstolz des Volkes, des Gottesvolkes, zu hegen. WILLI (aaO. 72f.) spricht bei Herder von einem Entwicklungsschema der israelitischen Religion, die von der Bewahrung der ältesten Naturreligion in Gen 1 zu einer Nationalisierung der Religion durch Mose führt. Im Exil sei jedoch die israelitische Religion nur noch .Schattenbild', abgeschnitten von den eigenen Wurzeln. So interpretiert Herder (Über die ersten Urkunden, abgedruckt bei SMEND [aaO. 155] und von ihm auf 1768/69 datiert) z.B. die Noachidentafel in Gen 10 folgendermaßen: daß „es (...) aber auch die Zeit (war), da der Familiengeist eben anfing Nationalgeist zu werden, und also am stärksten würkte."

1. Der Volksbegriff in der neuzeitlichen

Geistesgeschichte

15

ausgenommen 34 . Einzig als Vor- und Urbild einer nationalen Religion behält das Alte Testament Beispielcharakter für andere Völker35. Obwohl Herder immer wieder die Individualität der einzelnen Volksgemeinschaften betont, bleibt er Universalist. Die Erhebung eines Volkes über ein anderes aufgrund seines Nationalcharakters bleibt ihm fremd. Alle Völker wachsen gemeinsam im Garten Gottes36. Ein jedes hat seinen eigenen Ort in der Geschichte, der ihm von Gott zugewiesen wird. So besitzen alle Völker den gleichen Wert, auch wenn Herder innerhalb seines Geschichtsentwurfs das Christentum als Ziel der göttlichen Vorsehung ansieht37. Der einzelne Mensch aber steht in Bindung an das eigene Volk. Die optimale Organisation der Gemeinschaft liegt für Herder deshalb in dem Staat, der ein Volk umfaßt und somit einen Nationalcharakter besitzt38. ßj Staat und Nation als göttliche Institutionen: F. D. Schleiermacher In der Zeit der napoleonischen Herrschaft in Deutschland wurden die ursprünglich unpolitischen Ideen Herders und anderer Romantiker konkretisiert und zu politischen Axiomen für ein deutsches Nationalbewußtsein weiterentwickelt. Im Bestreben, die französische Fremdherrschaft zu überwinden, wollte man mit dem Begriff des ,deutschen Volkes' eine zukünftig freiheitliche Perspektive formulieren. Der Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher (1768-1834) nahm die Volkslehre Herders in weiten Teilen auf, politisierte aber dessen romantische Ideen. In den Predigten, die er in Halle und Berlin hielt, beschwor er die Liebe zum eigenen Volk und zum deutschen Vaterland. Neben Herders Vorstellung 34

Dies sind Vokabeln und Gedankengänge, die sich später in der Argumentation der völkischen Bewegung wiederfinden und für die u.a. Herder als Kronzeuge herangezogen wird. Zum Rückgriff auf Herder im Dritten Reich, wie es sich in unzähligen wissenschaftlichen Arbeiten niederschlägt, die in den 30er und 40er Jahren in Deutschland entstanden, vgl. z.B. die bei MOSER (aaO. 130f. mit Anm. lOf.) angeführten Titel. NADLER (Art. Johann Gottfried Herder, 302f.) preist Herder als denjenigen, der durch seine Volkslehre „den Deutschen auf seine Volkheit und auf die nordländischen Wurzeln seines Wesens zurückgeführt" habe. Für ein differenziertes Bild des Judentums bei Herder tritt ADLER (Johann Gottfried Herder) ein. 35 TlLGNER, aaO. 24-26. In der engen Bindung der Religion an den Nationalcharakter eines Volkes, die Herder vornimmt, erhält auch die Kirche ihre nationale Aufgabe. Sie hat dem Volk zu dienen und seinen Volksnomos als ein schöpferisches Handeln Gottes anzuerkennen (aaO. 26). 36 HERDER, Briefe, 249. 37 S. hierzu v.a. ÖLENDER (aaO. 48-57), der die Dialektik in Herders Entwurf hervorhebt, die in der Betonung der Gleichwertigkeit der Völker und der gleichzeitigen „Wertskala, auf der die Weißen, Europas Christen, allein den Vorrang haben" (aaO. 53), liegt. Zur Beurteilung speziell des deutschen Volkes s. HERDER, Entwürfe, 519-521. 38 HERDER, Ideen, 384. Der Nationalcharakter ist nach Herder nicht an den Staat, sondern an das Volk gebunden. Zur vergleichsweise geringen Bedeutung des Staates bei Herder s. auch MOSER, aaO. 129.

16

II. Völkisches Denken

einer göttlichen Einteilung der Welt in verschiedene Völker setzte Schleiermacher den Staat als göttliche Institution39. Auch dieser stehe unter einem göttlichen Gesetz, und die Obrigkeit sei ebenso von dem Geist ihres Volkes durchdrungen wie das Volk selbst. Insofern könne die Obrigkeit niemals gegen das eigene Volk handeln, vielmehr stelle der Staat letztlich eine höhere Entwicklungsstufe des Volkes dar 40 . Während Romantiker wie Herder ihre Volksidee als menschheitliche Idee verstanden hatten, betrat Schleiermacher mit seiner Forderung nach einem nationalen Volksstaat die Ebene realpolitischer Forderungen 41 . Er verlangte nicht nur die Bindung an das Volk als göttlich gestiftete Lebensform, sondern forderte zudem eine patriotische Liebe zum eigenen Nationalstaat. Nur derjenige, der „von dem Werthe des eigenen Volkes durchdrungen ist und mit Liebe daran hängt", könne auch am anderen dessen Liebe zum Vaterland schätzen, und nur wer „von der Bestimmung seines eigenen Volkes erleuchtet ist" 42 , könne auch den Beruf der anderen Völker im Hinblick auf die Menschheit erkennen. In der konkreten Auseinandersetzung mit den französischen Machthabern hoffte Schleiermacher auf die Errichtung eines souveränen deutschen Nationalstaates. Damit war die Überführung des völkischen Gedankens der Romantik in das nationalstaatliche Denken des 19. Jahrhunderts vorbereitet 43 . Die Wertschätzung des Volkes als der von Gott selbst für das Zusammenleben der Menschen eingesetzten Form wurde mit einer Überhöhung des eigenen Volkes verbunden, das seine adäquate Ergänzung in einem eigenen, selbständigen deutschen Staat finden mußte. j ) Das deutsche

Volk als , Urvolk': J. G. Fichte

Wie bei Schleiermacher ist auch der Entwurf Johann Gottlieb Fichtes (1762-1813) von der Erfahrung der napoleonischen Herrschaft über Deutschland geprägt. Gegen die politische Realität der französischen Fremdherrschaft

39 SCHLEIERMACHER, Die christliche Sitte, 455. Im weiteren beruft sich Schleiermacher u.a. auf Paulus und Rom 13, um den Staat als göttliche Institution zu definieren (aaO. 456). 40 SCHLEIERMACHER (Abhandlungen, 260): „Der Staat aber ist die Form des Volkes, das Volk ist nur völlig ausgebildet, wenn sich diese Form rein und vollendet in ihm darstellt." 41 TLLGNER, Volksnomostheologie, 42. Zur Unterscheidung eines ,Risorgimento-Nationalismus' von einem .integralen Nationalismus' vgl. D. BRAUN, Gott, 255. 42 SCHLEIERMACHER, Predigt, 295. 43 TlLGNER, aaO. 41. JACOBS (Die Entwicklung, 107) stellt die These auf, Schleiermacher habe mit seiner Behauptung, ein jedes Volk habe Zugang zur biblischen Botschaft entsprechend seinem geistigen Wesen, den Übergang von der christlichen Verkündigung zur völkischen Religiosität angekündigt, „mitsamt der Konkurrenz zwischen dem Alten Testament und dem deutschen Volksnomos, die die Deutschen Christen und Wilhelm Stapel um 1933 wieder erneuerten."

1. Der Volksbegriff

in der neuzeitlichen

Geistesgeschichte

17

setzte Fichte das Ideal eines freien, selbstbestimmten Volkes; gegen die „Ausländer" rühmte er das deutsche Volk. Ursprünglich hatte Fichtes Herz durchaus für die universalen Ideen der Französischen Revolution geschlagen. Unter ihrem Einfluß formulierte er in seiner Grundlage des Naturrechts von 1796 ganz allgemein: „Denn das Volk ist in der Tat, und nach dem Rechte, die höchste Gewalt, über welche keine geht, die die Quelle aller anderen Gewalt, und die Gott allein verantwortlich ist" 44 . Als jedoch Napoleon 1806, kurz nachdem das , Heilige Römische Reich Deutscher Nation' aufgelöst worden war, in Berlin einzog, veränderte er seinen allgemeinen Volksbegriff hin zu einer Glorifizierung allein des deutschen Volkes. In Abgrenzung zu Napoleon als der Personifikation der Sündhaftigkeit entwarf Fichte - besonders in seinen Reden an die deutsche Nation45, die er 1807/1808 vor Studierenden in Berlin gehalten hatte - das Bild des deutschen Volkes als dem Hort der Vernunft: Jedes Volk als „das Ganze der in der Gesellschaft miteinander fortlebenden, und aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen" 46 stehe unter einem besonderen Gesetz der Entwicklung des Göttlichen aus ihm. Aber in der deutschen Nation sei das göttliche Schöpfungsgesetz am reinsten bewahrt. Damit galten die Deutschen als „ein Urvolk, das Volk schlechtweg' 47 . Gerade in dieser politisch schwierigen Phase, so Fichte, träten im deutschen Volk Ursprüngliches wie auch die Schöpferkraft des Neuen hervor. In der Situation politischer Unterdrückung müsse das deutsche Volk nun zu seiner Bestimmung zurückfinden und trotz körperlicher Gefangenschaft einen freien Geist behalten und als Volk Charakter erlangen 48 . Dann aber komme auch seine Aufgabe, die es als das Urbild eines Volkes besitze, zum Tragen: Der Keim zur menschlichen Vervollkommnung liege in ihm und müsse entwickelt werden 49 . Denn, so appellierte Fichte an seine deutschen Zeitgenossen: „Gehet ihr in dieser eurer Wesenheit zugrunde, so gehet mit euch zugleich alle Hoffnung des gesamten Menschengeschlechtes auf Rettung aus der Tiefe seiner Übel zugrunde." 50 Das Volksgesetz ist bei Fichte nicht mehr an die christliche Religion gebunden. Statt dessen versteht er darunter ein „allgemein einsichtiges Ver-

44

FICHTE, Grundlage, 179.

45

FICHTE, Reden. Für eine kurze Inhaltszusammenfassung s. BAUMANN, J. G. Fichte, 289-293. 46 So definiert FICHTE (aaO. 128) in seiner 8. Rede , Volk'. 47

FICHTE, 7. Rede, in: DERS., aaO. 121.

48

FICHTE, 12. Rede, in: DERS., aaO. 193. Schon mit der Reformation habe das deutsche Volk seine Bedeutung für die Bildungsgeschichte der Welt unter Beweis gestellt (FICHTE, 6. Rede, in: DERS., aaO. bes. lOlff.). 49

50

FICHTE, 14. Rede, in: DERS., aaO. 246.

18

II. Völkisches Denken

nunftgesetz" 51 . Dieses sollte Maßstab für die nationale Erziehung des deutschen Volkes werden. In seinen Reden rief Fichte die Deutschen deshalb auf, trotz der gegenwärtigen Hemmnisse zu dem zurückzugelangen, zu dem sie eigentlich bestimmt seien52. 8) Die , Deutsche Bewegung' — der Volksbegriff im 19. Jahrhundert Zusammenfassend läßt sich erkennen, daß Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland eine neue Geistesbewegung entstanden war. Durch die Französische Revolution begann man in vielen Ländern, sich über die Existenzform der politischen Nation Gedanken zu machen. In Deutschland galt das Bestreben zunächst der Vereinheitlichung des zersplitterten Reichs als deutscher Kulturnation. So suchte z.B. Herder in der Besinnung auf gemeinsame Sprache und gemeinsames Volksgut die Identität des deutschen Volkes. Durch die Erfahrung der napoleonischen Fremdherrschaft erhielt die geistige Volksbewegung in Deutschland eine politische Ausrichtung. Schleiermacher in seinen politischen Predigten wie auch Fichte mit seinen Reden an die deutsche Nation forderten eine patriotische Bindung an das eigene Volk. Das ,Volk\ das .deutsche Volk', symbolisierte die ersehnte Einheit. Ihm als der höchsten sozialen Einheit anzugehören, wurde lebenswichtig53 und verband sich mit der Abgrenzung gegenüber anderen Völkern. Diese fand besonders in der Feindschaft gegenüber den Franzosen ihren Ausdruck . Mit der Überhöhung des Volksgedankens wurden dem Volksbegriff auch religiöse und göttliche Eigenschaften zugeordnet. Das Volk galt nicht mehr nur als Stiftung Gottes, sondern erhielt selbst „Attribute des Göttlichen, Sakralen" 54 zugesprochen. So formulierte z.B. W. Grimm in seinen Kleineren Schriften, „daß das Ewige, Unsichtbare, wonach zu streben allen edlen Herzen eingepflanzt ist, so weit es offenbar geworden, am deutlichsten und reinsten in der Gesamtheit, d.h. in der Idee eines Volkes sich ausspreche" 55 . Unter den politisch-religiösen Zielen dieser Bewegung fanden sich die unterschiedlichsten Gruppierungen und Interessen zusammen. Ernst Moritz 51

52

TILGNER, a a O . 4 9 .

FICHTE, 12. Rede, in: DERS., aaO. 193. Vgl. Fichtes Wertung durch STAPEL aus dem Jahre 1935 (Art. Johann Gottlieb Fichte, 445) als denjenigen, der in seinen Reden „eine noch heute gültige Darstellung des deutschen Nationalcharakters" gegeben habe. Damit aber gehören für Stapel „diese vierzehn Reden, aus der tiefen Not geboren, (...) zu den heiligen Schätzen unseres Volkes. Und in der Tat haben immer wieder glühende junge Deutsche aus ihnen die entscheidenden Gedanken, ja die geistige Formung ihres Lebens empfangen. Hier wurde zum erstenmal der deutsche Geist nationalistisch in einem radikalen Sinne" (aaO. 445). 53 Vgl. hierzu MOSSE, Die völkische Revolution, 23ff. Mosse unterstreicht hier auch die Bindung der völkischen Bewegung zum Ende des 19. Jh.s. an die Natur und die damit einhergehende Idee der .Verwurzelung' (aaO. 25). 54 EMMERICH, Germanistische Volkstumsideologie, 51. 53 W. Grimm, Kleinere Schriften 2 (1881-1887), 551, zitiert nach EMMERICH, aaO. 51.

1. Der Volksbegriff

in der neuzeitlichen

Geistesgeschichte

19

Arndt (1769-1860), der Schwager Schleiermachers, verband die Idee des deutschen Volkes mit religiösen Vorstellungen56. Er forderte eine deutsche Religion, die das deutsche Volk eine 57 und die zu Gott um die Stärkung des deutschen Volkes bete58. Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) sprach sich aus demselben Geist für eine nationale Erziehung aus und gründete in diesem Rahmen die Deutsche Turnerschaft59. Das gemeinsame Bestreben der .Deutschen Bewegung' lag in der Beendigung der napoleonischen Fremdherrschaft. Unter dieser Zielsetzung politisierte sich der Volksgedanke. Er beinhaltete jetzt die explizite Bindung an Deutschland und führte so letztlich zur Überhöhung des deutschen Wesens 60 . Damit hatte sich das moderne National- bzw. Vaterlandsgefühl zu einer der stärksten politischen Kräfte im Deutschland des 19. Jahrhunderts entwickelt. Angestrebt wurde die Bildung eines souveränen deutschen Nationalstaates, 56

„Ein Volk zu sein, ist die Religion unserer Z e i t " (E. M. Arndt, zitiert nach dtvGeschichtsatlas II, 32). Zu Arndt s. STROHM, Theologie, 5 1 - 5 3 . 57 E. M . Arndt, Über Volkshaß und über den Gebrauch einer fremden Sprache (1813), abgedruckt bei ALTER (Hg.), Nationalismus, 157-159: Arndt ruft hier zum Haß gegen die Franzosen auf, der einerseits das deutsche Volk vereine, zum anderen das Volk schütze. „Dieser Haß glühe als die Religion des teutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unserer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit" (aaO. 159). Arndt führt auch bereits eine rassebiologische Komponente in seine Argumentation mit ein: „Die Deutschen sind nicht durch fremde Völker verbastardet, sie sind mehr als viele andere Völker in ihrer angeborenen Reinheit geblieben und haben sich aus dieser Reinheit ihrer Art und Natur nach den stetigen Gesetzen der Zeit langsam und still entwickeln können; die glücklichen Deutschen sind ein ursprüngliches Volk" (ders., Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen [1815], zitiert nach EMMERICH, aaO. 115f.). 58 „Das ganze Deutschland soll es sein! / O Gott vom Himmel sieh darein, / Und gieb uns rechten deutschen Muth, / Daß wir es lieben treu und gut. / Das soll es sein! / Das ganze Deutschland soll es sein!" (Letzte Strophe des Gedichts von ARNDT, Des Deutschen Vaterland, in: DERS., G e d i c h t e , 235). Zu A r n d t s Ü b e r t r a g u n g biblischer Verheißungen auf Deutschland s. D. BRAUN, Gott, 256f. 59 Jahn bezeichnet in seiner Schrift Deutsches Volkstum von 1810 (Ausgabe von 1884, I, 154f., zitiert nach KOSELLECK, Art. Volk, 332) das Volkstum als innewohnendes Wesen, Regen und Leben, als Wiedererzeugungskraft und Fortpflanzungsfähigkeit, das die Identität der Deutschen stifte. Z u m Begriff der , Volkserziehung' bei Jahn s. OELKERS, Erziehung, 33. 60

A r n d t hatte bereits 1803 einen .nationalpolitischen Volksbegriff' gegenüber einem universalistischen Volksbegriff' gefordert: „Ich habe schon mehr als einmal geäußert, was ich von der Universalität der Völker meine, und daß mir schlecht gefällt, was andre von einem allgemeinen Reiche und einem Zusammenfliessen aller Völker mit der fortgehenden Vermenschlichung und Veredelung hoffen und träumen. Ich hasse jenes Zusammenfließen auf Erden, weil es ein Zerfließen, also ein politischer und moralischer Tod der verschiedenen Nationen wird" (DERS., Germanien und Europa, 423f.). Arndt sah die Einheit von Volk und Staat als höchste Stufe an und bezeichnete sein eigenes Volk als „edel und brav" (aaO. 426f.): „Sie sind nicht entartet von den Vätern, sondern noch immer ein starkes, tapferes und rüstiges Volk; keine Schmach der Feigheit hat sie geschändet" (hierauf folgt eine Beschreibung der Deutschen).

20

II. Völkisches Denken

der seinen Zusammenhalt in natürlichen Gegebenheiten, kulturellen Faktoren oder subjektiv-irrationalen Momenten begründen sollte61. Aber auch mit der allmählichen Verwirklichung deutscher Souveränität in den Befreiungskriegen und mit dem Beginn der Bismarck-Ära erfüllten sich die nationalistisch-völkischen Hoffnungen noch nicht. Die Formierung Deutschlands als Staatenbund bzw. als einer Reichsstruktur mit Territorialstaaten erschwerte das Aufkommen eines ,patria-Gefühls' 62 . Die nationale Opposition forderte deshalb die Errichtung eines einheitlichen nationalen deutschen Reichs. Auch innerhalb der protestantischen Theologie vollzog sich in dieser Zeit eine fortschreitende Nationalisierung 63 . Volk und Nation galten als Orte der Gottesoffenbarung und der Gotteserkenntnis64. Zwar hatte die nationalistische Ausrichtung zunächst nicht mehr die absolute Priorität, als sich die Kirche allmählich der im 19. Jahrhundert so deutlich aufbrechenden sozialen Frage zuwandte. Aber auch die Ansätze Johann Hinrich Wicherns, Adolf Stoeckers und Friedrich Naumanns, die als die herausragenden Vertreter der evangelisch-sozialen Bewegung gelten, waren eng mit der Sorge um das eigene Volk und um das Wohl der deutschen Nation verbunden65. 61 Der dtv-Geschichtsatlas (Bd. II, 32) nennt hier drei unterschiedliche Auffassungen von .Nation': als geistige Kulturgemeinschaft, als völkische Schicksalsgemeinschaft und als politische Gemeinschaft freier Menschen, welche sich unter dem gemeinsamen Ziel der Beendigung der französischen Fremdherrschaft vereinten. 62 KOSELLECK, aaO. 237. Nach KOSELLECK (aaO. 238) wird dies erst mit dem Dritten Reich anders. 63 TLLGNER (aaO. 63) führt hier als Beispiele die Theologen A. Vilmar und J. H. Wichern an. Vilmar will durch die Volksgesetze als „Trümmer der Uroffenbarung" Gott erkennen können, während Wiehern mit der Arbeit der Inneren Mission die von Gott den Nationen anvertrauten Güter wahren und pflegen will (aaO. 65). Diese Verbindung von deutscher Nation und Christentum erhält ihre Steigerung in der nationalen Ausrichtung der Kirchentage und des 1863 gegründeten ,Deutschen Protestantenvereins'. 64 Die Theologie betreffend kommt GENNRICH in seiner Untersuchung (Gott, 89) für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg zu dem Ergebnis: „Im Grunde wurzelte die evangelische Theologie in ihrer Stellung zu den Fragen um Volk und Volkstum noch weithin in der Überlieferung der Romantik und des Idealismus und war im nationalstaatlichen Denken befangen. Die tiefere Problematik des Volkstums wurde gar nicht gesehen und nicht weiter durchdacht. In der Mission und in der deutschen Diaspora wurde sie jedoch brennend und verlangte theologische Entscheidungen." 65 WICHERN (Erklärung, in: DERS., Sämtliche Werke, 155) forderte auf dem Kirchentag 1848 die Errichtung einer Volkskirche, die die Aufgabe habe, das Volk durch das Evangelium in neuer Weise und mit neuer Kraft zu durchdringen. Die kirchliche Missions- und Sozialarbeit müsse sich auf das eigene Volk richten. STOECKER (Parteiprogramm, abgedruckt bei KRUMWEEDE u.a., Neuzeit, 12) nennt als Grundprinzipien seiner christlich-sozialen Arbeiterpartei: „Die christlich-soziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland". Zu Stoecker vgl. ENGELMANN, Kirche. WALLMANN

1. Der Volksbegriff in der neuzeitlichen Geistesgeschichte

c) Eine ,Deutsche Nationalreligion':

21

P. de Lagarde undH. St. Chamberlain

Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verließen die Vertreter einer deutsch-religiösen Bewegung vollständig den Boden des Christentums. In nicht-kirchlichen Kreisen erhielt der nationale Gedanke neuen Auftrieb in den national-religiösen Gedanken Paul Anton de Lagardes (1827-1891) 6 6 und in den deutsch-germanischen und antisemitischen Strömungen um Houston Stewart Chamberlain (1855-1927). Darin bereitete sich die völkische Bewegung der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts vor, die in der Verherrlichung des deutschen Volkes Abstand von aller christlichen Tradition nahm67 und sich somit nicht nur politisch, sondern auch religiös dem Germanentum als der vermeintlichen Urwurzel der Deutschen zuwandte. War bis dahin eine Nationalisierung des Christentums gefordert worden, in der das Volksgesetz neben die Christusoffenbarung treten sollte, so forderte de Lagarde, dem Widerspruch zwischen dem Offenbarungsgehalt des Christentums und dem metaphysischen Anspruch des Volkes in einer dritten Religion, einer nicht mehr christlich geprägten Nationalreligion, zu begegnen. In einer solchen Religiosität, „in welcher die Interessen der Religion und des Vaterlandes vermählt sind"68, könnten die geistigen Kräfte der deutschen Nation geeint werden69. Dabei sei es nicht Aufgabe, „eine nationale Religion zu schaffen - Religionen werden nie geschaffen, sondern stets offenbart wohl aber, Alles zu thun, was geeignet scheint, einer nationalen Religion den Weg zu bereiten, und die Nation für die Aufnahme dieser Religion empfänglich zu machen" 70 . Diese nationale Religion solle von ihrem Wesen her unprotestantisch, unkatholisch und nicht liberal sein und statt dessen „Heimatluft in der Fremde, Gewähr des ewigen Lebens in der Zeit, unzerstörbare Gemeinschaft der Kinder Gottes mitten im Hasse und der Eitelkeit, ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer und Erlöser, Königsherrlichkeit und Herrschermacht gegenüber Allem, was nicht göttlichen Geschlechtes ist" 71 ,

(Kirchengeschichte, 243) spricht z.B. bei Naumann von einem Übergang „vom christlichsozialen Gedanken (...) zum national-sozialen Prinzip". Zur Aufnahme der Idee der Volksmission durch die Deutschen Christen vgl. MINKER, Christuskreuz, 133ff. 66 Zu de Lagarde vgl. TLLGNER, aaO. 71-77; MOSSE, Die völkische Revolution, 4 ( M 9 ; KOSELLECK, aaO. 374f. 67 Schon bei Fichte hatte das Nationalgesetz den Boden des Christentums verlassen. Dennoch ist bei Fichte wie auch bei Herder und Hegel „alles noch mit christlichen Anschauungsund Denkelementen durchsetzt, der eigentliche Glaubensinhalt hat sich jedoch schon verflüchtigt" (so WITTRAM, Nationalismus, 12). Die neue völkische Bewegung suchte jedoch nach einer „völkisch-religiösen Ersatzreligion" (Ausdruck bei TlLGNER, aaO. 62). 68 DE LAGARDE, Deutscher Glaube, 40. 69

MOSSE, a a O . 4 2 .

70

DE LAGARDE, Über das Verhältnis, 82.

71

D E LAGARDE, a a O . 83.

22

II. Völkisches

Denken

für die Deutschen darstellen. Das Ziel war letztlich eine germanische Religion, die sich von der Verfälschung des Christentums, wie sie durch Paulus und das Judentum geschehen sei, befreie 72 . Mit der Vermischung von Religion und Nation und der damit verbundenen Gleichsetzung von Volksgesetz und Gottesgesetz wurde de Lagarde „das wichtigste Bindeglied zwischen politischer Romantik und deutsch-völkischer Erneuerungsbewegung" 73 . In seinem Entwurf löste sich die romantische Volksidee von ihren christlich-humanen Ursprüngen. Sein Schüler Julius Langbehn (1851-1909) 74 und Chamberlain entwickelten die Gedanken de Lagardes weiter, indem sie diese an rassischen Kriterien orientierten 75 . In seinem Buch Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts76 postulierte Chamberlain im Anschluß an Graf Joseph A. Gobineau qualitative Unterschiede zwischen den einzelnen Rassen. Diese seien jedoch nicht übergeschichtlich, sondern eine edle Rasse entwickele sich und müsse durch das Zusammenleben innerhalb der Nation erhalten bleiben77. Gleichzeitig solle auch in religiösen Fragen dem Anspruch der germanischen Rasse genüge getan werden. Chamberlain forderte deshalb die Deutschen auf, das Christentum von seinen Verfälschungen, die es im Laufe der Geschichte erfahren habe, zu befreien und zu einer ursprünglichen und germanischen Form des Christentums zurückzukehren 78 . Langbehn sah in den Deutschen die hervorragende Menschheitsrasse verkörpert und führte sie damit auf eine biologischmystische Ebene. Die rassische Komponente und die damit verbundene antisemitische Ausrichtung erfuhren in der völkischen Bewegung sowie in den Grundsätzen der Deutschen Christen ihre Wiederaufnahme. dj Die ,völkische Bewegung' - der Volksbegriff nach dem Ersten Weltkrieg War die völkische Idee im 18. und 19. Jahrhundert die Sache einiger Vordenker gewesen, so entwickelte sie sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg vor allem für die Gegner der Weimarer Republik zum grundlegenden Erklärungsmuster der geschichtlichen Erfahrungen. Die ,Idee des Volkes' galt als

72 Vgl. SCHOLDER, Die Kirchen I, 102 und MOSSE, aaO. 42. Vgl. das Urteil von GRESSMANN (Art. De Lagarde, 1919): „Im Interesse der deutschen Frömmigkeit" arbeitete de Lagarde „an der Germanisierung des Christentums, das zu einer deutschen innerlichen Gegenwartsreligion werden sollte." 73

TILGNER, aaO. 75f.

74

Zu Langbehn s. MÜSSE, aaO. 4 9 - 5 5 .

75

Vgl. hierzu MOSSE, aaO. 104-109 und TILGNER, aaO. 77f.

76

Das Buch erschien 1899.

77

S. hierzu CONZE, Art. Rasse, 173. Zu Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts

78

1615.

s. CHRISTLIEB, Art. Chamberlain,

1. Der Volksbegriff

in der neuzeitlichen

Geistesgeschichte

23

„der zentrale politische Begriff der antidemokratischen Geisteshaltung" 79 . Mit der NSDAP formierte sich die geistig-religiöse völkische Bewegung schließlich zur politischen Partei. Eine einschneidende Veränderung hatte die völkische Idee durch die Übernahme der Rassenlehre bereits im 19. Jahrhundert erfahren. In diesem Zusammenhang fand das 1853/55 erschienene Buch von Gobineau über die Ungleichheit der menschlichen Rassen große Aufmerksamkeit 80 . Hier wird die These von der Überlegenheit der weißen Rasse vertreten, die als arische .Eliterasse' Anspruch auf die Beherrschung der anderen Rassen besäße. In diesem Sinne unterschied der völkische Dualismus strikt zwischen der germanischen und der jüdischen Rasse. Besonders die völkischen Ideologen Theodor Fritsch, Artur Dinter und Dietrich Eckart vertraten in ihren Schriften die These einer „jüdischen Weltverschwörung" und benannten zugleich die Aufgabe Deutschlands, sich dieser Gefahr zu erwehren, um so das eigene Land und die ganze Welt vor dem jüdischen Feind zu retten81. Das Ziel, das die Vertreter einer ,Deutschen Nationalreligion' in der Befreiung des Christentums bzw. der Religion vom Judentum gesehen hatten, war damit bei weitem überschritten. Auch das Bemühen um ein deutsches Nationalbewußtsein, wie es noch Fichte seinen Zeitgenossen ans Herz gelegt hatte, konnte nicht mehr als alleiniges Grundprinzip der völkischen Bewegung gelten. Mit Übernahme der Rassenideologie und der daraus folgenden antisemitischen Ausrichtung erhielten ihre Forderungen realpolitische Dimensionen, die in der Zeit des Dritten Reichs zu ihren grausamen Konsequenzen führen sollten. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg fanden die Gedanken der völkischen Bewegung breiten Zuspruch unter der deutschen Bevölkerung: „Es ist nicht schwer zu erkennen, was an dieser Weltanschauung in der Nachkriegszeit faszinierte. Sie erklärte auf einfache Weise die Ursachen der deutschen Niederlage und ihre fortwirkenden Folgen; sie nannte den Urheber beim Namen und wies zugleich den Weg in die bessere Zukunft" 82 . Man appellierte an die bleibende „Lebenskraft des deutschen Volkes" und schrieb zugleich der „jüdischen Weltverschwörung" die Schuld für die Niederlage Deutschlands zu. In den verschiedensten Gruppierungen wurden diese Gedanken nun tra79

SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, 250. SONTHEIMER (aaO. 256) beschreibt im weiteren die antidemokratische Bewegung folgendermaßen: „Wesentlich für das Verständnis der antidemokratischen Bewegung bleibt indes, daß solche Elementarbegriffe wie Volk, Gemeinschaft und Organismus den Kern ihrer weltanschaulichen Orientierung bilden. Alle diese Grundbegriffe, deren Gegenbild fast immer zur Kennzeichnung der bestehenden sozialen und politischen Situation in der Weimarer Republik dient, sind polemische Begriffe, die nicht primär Wirklichkeit erfassen, sondern als Waffe gegen die Wirklichkeit verwandt werden." 80

Zu Gobineau s. CONZE, aaO. 161-163.

81

S. hierzu SCHOLDER, Die Kirchen I, 9 5 - 9 7 . Zu Artur Dinter vgl. MÖHLER, Die konservative Revolution I, 378f.; zu Theodor Fritsch vgl. aaO. 356. 82

SCHOLDER, aaO. 97.

24

II Völkisches

Denken

diert 83 . Während sich die meisten jedoch mit einer „geistige(n) Aufklärung" 8 4 der Bevölkerung begnügten, formte Hitler die völkischen Gedanken zu einer politischen Weltanschauung um 85 , indem er das deutsche Volk im Kampf gegen die innen- und außenpolitischen Feinde zu einen versuchte 86 . Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die durch die Weltwirtschaftskrise hervorgerufene große Not 87 öffneten die Ohren vieler für die einfachen Erklärungsmuster und kämpferisch klingenden Zukunftspläne der Nationalsozialisten.

2. Der Volksbegriff in der evangelischen Volksnomostheologie In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entstand eine Anzahl neuer theologischer Entwürfe. War der Krieg zunächst von vielen Protestanten in nationalistischer Begeisterung gefeiert worden, so galt es jetzt, die Niederlage Deutschlands nicht nur politisch, sondern auch theologisch zu verarbeiten. Viele evangelische Theologen konnten sich nur schwer mit dem Verlust der machtvollen Stellung, welche die Kirche im Kaiserreich besessen hatte, abfinden. Sie kämpften nun gegen die liberalen Ideen einer demokratischen Republik 88 und suchten nach einer schöpfungstheologischen Begründung autoritärer Staatsführung 89 . In vielen Kreisen rang man leidenschaftlich um die Begriffe ,Volk' und ,Nation' sowie um deren inhaltlich-theologische Interpretation. Inspiriert von der aktuellen Auseinandersetzung wählte der Deutsche Evangelische Kirchenausschuß für den Kirchentag 1927 das Thema Die Festigung des Bandes zwischen Kirche und Volkstum. Hier sprach Paul Althaus zum Thema Kirche und Volkstum und entwarf einen geistigen Volksbegriff: „Volkstum ist eine geistige Wirklichkeit, durch geistige Urzeugung geheimnisvoll geboren und, unbeschadet der Wichtigkeit der genannten Bedingungen, vor allem der natürlichen Fortzeugung von Geschlecht zu Geschlecht, geistig weiterzeugend in der Geschichte, durch die Liebe, die es entzündet" 90 .

83 Zu den unterschiedlichen Gruppen und Parteien, die die völkische Idee als Grundlage hatten, s. HOHL WEIN, Art. Völkische Bewegung; SONTHEIMER, aaO. 130-134 und MÖHLER, aaO. 131-138. 84

TYRELL, Das Scheitern, 22.

85

SCHOLDER, aaO. 102.

86

Zur integrierenden Funktion des Volksbegriffs innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie s. unten 38ff. 87

TYRELL, aaO. 27.

88

Z u m Patriotismus innerhalb des deutschen Protestantismus vgl. VAN NORDEN, Zwischen Patriotismus, bes. 61-68. 89 TILGNER, aaO. 88. 90

ALTHAUS, Kirche und Volkstum, 188.

2. Der Volksbegriff in der evangelischen Volksnomostheologie

25

Althaus postulierte eine besondere Beziehung zwischen deutschem Volkstum und Christentum: „Aus seinem Eigensten heraus, kraft einer gottgeschenkten Wahlverwandtschaft hat deutsches Volkstum das Evangelium ganz tief erfassen dürfen, vom Heiland zu Luther hin" 91 . Die damit verbundene unkritische Verschmelzung von christlichem Glauben und deutschem Volkstum bildete die Grundlage der in den folgenden Jahren entstehenden Entwürfe der Volksnomostheologie'. Im Anschluß an den Vortrag verabschiedete der Königsberger Kirchentag eine .Vaterländische Kundgebung' 92 , die eine Verpflichtung auf Volk, Vaterland und Staat enthielt und sich dennoch positiv an den Reichspräsidenten der Weimarer Republik wandte. Die im Umkreis jener Gedanken enstehenden Entwürfe verbanden jedoch die These von der göttlichen Einsetzung des Volkes mit radikal konservativer Kritik an der liberalen Republik. Hans-Joachim Sonne bezeichnet die entstehende theologische Richtung, in der sich evangelische Theologie mit völkischer Ideologie verband, als ,Nationalprotestantismus' 9 3 . Klaus Scholder prägte hierfür den Begriff der politischen Theologie' 94 . Karl Barth und seine Weggefährten reagierten auf diese Entwicklung mit einem eindeutigen „Nein!". Sie protestierten gegen die Vermischung von weltlicher und göttlicher Ebene. Die Theologie der Krisis, die ,Dialektische Theologie' 95 , fand hier ihren Anfang. Die Vertreter der .Politischen Theologie' kämpften nun sowohl gegen die liberalen Ideen der Weimarer Republik als auch gegen die Dialektischen Theologen. Die politische Entwicklung in Deutschland trug schließlich dazu bei, daß sie durch das Erstarken der Nationalsozialisten Unterstützung für ihre theologisch-politischen Ziele fanden. a) ,Volksnomos' und ,Volkheit': W. Stapel Zu den exponiertesten Vertretern der Volksnomostheologie gehörte der Hamburger Publizist Wilhelm Stapel (1882-1954) 96 . Mit seinem Namen verbindet 91

ALTHAUS, aaO. 193. SCHOLDER (Kirchliche und theologische Erneuerungsbestrebungen, 276) spricht in diesem Zusammenhang davon, daß hier „zum ersten Mal vor der Gesamtvertretung des deutschen Protestantismus die Bedeutung des völkischen Gedankens für die deutsche Theologie und Kirche" entfaltet wurde. Zu ALTHAUS S. auch seinen Beitrag .Kirche, Volk und Staat'. 92 Vaterländische Kundgebung des Königsberger Kirchentags, abgedruckt in: KRUMWIEDE, Evangelische Kirche, 207f. Zum Vortrag von Althaus und zur Kundgebung s. NOWAK, Evangelische Kirche, 173-177. 93 SONNE, Die politische Theologie, 15f. 94 SCHOLDER, Die Kirchen I, bes. 124-150. 95 Zur Bezeichnung s. MOLTMANN, Vorwort zu ders. (Hg.), Anfänge I, XII. 96 Zur Biographie Stapels vgl. MEYER, Berlin Provinz, 15f.; KEINHORST, Wilhelm Stapel, 5-9; DUPEUX, Der Kulturantisemitismus. Stapel, der u.a. Kunstgeschichte studiert hatte, gab von 1912 bis 1917 die Kulturzeitschrift ,Der Kunstwart' heraus. Die Zeitschrift .Deutsches

26

II. Völkisches Denken

sich die Einführung des N o m o s b e g r i f f s in die t h e o l o g i s c h e Diskussion 9 7 . Sein e Schriften z e i g e n eine Geisteshaltung, die sich durch die rigorose A b l e h n u n g des W e i m a r e r Staates 9 8 und der i h m verhaßten l i b e r a l e n T h e o l o g i e ' a u s z e i c h n e t e . G e g e n die p o l i t i s c h e Realität der d e m o k r a t i s c h e n R e p u b l i k setzte Stapel e i n e methaphysische Vorstellung von ,Volk', die sich an die G e danken Herders, Fichtes und Arndts anlehnte. Grundsätzlich galt Stapel das ,Volk' als Teil der göttlichen S c h ö p f u n g s ordnung, in die der M e n s c h hineingeboren wird und in die er damit als einzelner eingebettet ist. D e r Staat sei h i n g e g e n e t w a s m e n s c h l i c h G e s c h a f f e n e s . Ein Volk b e s t i m m e sich durch „ein Blut, eine S e e l e , eine Sprache und Kultur" 99 . In d i e s e m S i n n e vertrat Stapel e i n e n b i o l o g i s c h - g e i s t i g e n Volksbegriff 1 0 0 . S e i n e Sicht der Völkergeschichte verdeutlichte er anhand der Erzählung v o m Turmbau in G e n 11. E n t g e g e n der üblichen Interpretation, w e l c h e die B e e n d i g u n g der Einheitssprache als Strafe Gottes für die Überheblichkeit des M e n s c h e n ansieht, sprach er an dieser Stelle von göttlicher Rettung 1 0 1 . Erst

Volkstum. Halbmonatsschrift für das deutsche Geistesleben (Amtsblatt der Fichte-Gesellschaft), herausgegeben vom Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband', erschien zwischen 1918 und 1938 unter der Schriftleitung Stapels. Die Zeitschrift wurde damit zum Forum des konservativ-völkischen Nationalismus. Vgl. hierzu TLLGNER, aaO. 93. 97 So MERZ, Gesetz Gottes, 75: „Der Begriff des Nomos ist in die gegenwärtige Diskussion von Wilhelm Stapel eingeführt worden, der ihn von dem Altphilologen Hans Bogner übernahm". Merz wirft Stapel im weiteren vor, daß er den Nomosbegriff Bogners, den jener für die griechische Polis und damit für das vorchristliche Heidentum entworfen habe, mit dem Luthertum in Einklang bringen wolle. 98 Die Ablehnung der liberalen Weimarer Republik' ließ STAPEL zum Unterstützer Hitlers werden: „Weil der Hitler-Staat echter Staat ist, im Gegensatz zur liberalen Staatszersetzung" (DERS., Die Kirche Christi, 27). Dennoch aber trat Stapel bewußt nie in die NSDAP ein und geriet schließlich sogar in Auseinandersetzungen mit den Machthabern, die für Stapel in einem Redeverbot und mit dem Rücktritt von der Schriftleitung des .Deutschen Volkstum' im Jahre 1938 endeten (vgl. hierzu MEYER, aaO. 41f.). 99 Stapel, Der deutsche Mensch, in: Jungdeutsches Wollen (1920), 59, zitiert bei TILGNER, aaO. 9 9 . 100 An anderer Stelle besteht STAPEL (Antisemitismus, 66) jedoch vehement darauf, daß die gemeinsame Sprache selbst kein Kriterium für die Volkszugehörigkeit sein könnte. So seien jüdische Schriftsteller, auch wenn sie deutsch schrieben, keine Deutschen. Da Sprache Ausdruck einer volkhaften Individuation sei, könne das Dichten eines jüdischen Dichters, der in deutscher Sprache schreibe, niemals „ein unmittelbares Laut-werden der Seele sein", da der jüdische Dichter einer anderen „volkhaften Individuation' entstamme als die deutsche Sprache (aaO. 49). TILGNER (aaO. 107) weist jedoch ausdrücklich darauf hin, „daß Stapel dem ideologischen Judenhaß ablehnend gegenübergestanden hat", vielmehr auch dem jüdischen Volk seine Existenz aus Gottes Schöpferhand zugesprochen habe. 101 STAPEL, Der christliche Staatsmann, 174.183. Zum möglichen Zusammenhang von Gen 11 und der Kritik am assyrischen Einheitsreich s. EBACH, Wir sind, 124ff.; DERS., Die biblische Rede, 205 (dort auch weitere Literatur).

2. Der Volksbegriff in der evangelischen Volksnomostheologie

11

durch die Sprachverwirrung hätten die Völker letztlich zu einem eigenen Denken und zu eigener Gottesanbetung gefunden. Damit aber erscheine Gott den einzelnen Völkern als ihr jeweiliger Nationalgott. Vorbild und Anknüpfungspunkt ist, wie schon für Herder, die Thora als Volksnomos der Israeliten 102 : Wie Gott dem israelitischen Volk die Thora als ihren Nomos gegeben habe, so erhalte jedes Volk seinen eigenen Nomos 103 . Die Volksgesetze seien also gottgegeben. Auch dem deutschen Volk eigne, wie allen Völkern auf der Welt, ein eigener Volksnomos. Stapel nannte ihn eine „lex numinosa der Deutschen, einen Nomos Germanikos" 104 , der das deutsche Volkstum konstituiere. Aufgrund seiner spezifischen Werte und geschichtlichen Leistungen sei das deutsche Volk als ein imperiales Volk ausgezeichnet, das ein Recht auf die Vormacht über die anderen Völker Europas habe. Stapel schwebte ein deutsches Imperium vor, das „Imperium Teutonicum" 105 , in dem die Deutschen ihrem Führungsanspruch gegenüber Europa gerecht werden könnten. Die einzelnen Völker mit ihren eigenen Volksnomoi stünden jedoch jeweils in einem größeren Zusammenhang, den Stapel mit ,Volkheit' 106 bezeichnet. In ihr verbänden sich vergangene und zukünftige Geschlechter mit dem gegenwärtigen Geschlecht eines Volkes zur eigentlichen Bestimmung, zur Norm des Volkes107. Das einzelne, geschichtlich konkrete Volk tritt damit in eine metaphysische Ebene ein. In Stapels Volkslehre geschieht ein Doppeltes, wogegen Karl Barth und die Dialektischen Theologen ihr „Nein" sprachen 108 : Mit dem Glauben an den Volksnomos als Gabe Gottes hielt die natürliche Theologie Einzug in die christliche Lehre, denn Gott sollte auch aus den Nomoi der Völker erkannt m

Vgl. hierzu auch KRAUS, Tora, 225-227 u. DUPEUX, aaO. 169. Gegen eine Gleichsetzung des alttestamentlichen Nomos mit den heidnischen Nomoi verwehrte sich VISCHER, Der noachitische Bund, 22. Zu Vischer und seiner Stellung zu AT und Judentum s. unten 202ff. 103

104

STAPEL, a a O . 1 7 8 .

105

Zu dem Begriff und der damit verbundenen Vorstellung s. STAPEL, aaO. 246-273. 106 STAPEL bezieht sich hier nach eigener Aussage auf eine Wortschöpfung Goethes (DERS., Volksbürgerliche Erziehung, 72). 107 STAPEL, aaO. 76. Mit seinem Begriff der Volkheit setzt sich Stapel auch von dem demokratischen Selbstverständnis der Weimarer Republik ab. Er verwirft ihren Anspruch der Volksrepräsentanz, da sie nur den Willen einer „nach Ort und Zeit ganz zufälligen Menge deutscher Menschen kundgibt" (aaO. 75). Zur besonderen Stellung des Führers in Stapels Entwurf vgl. TLLGNER, aaO. 105. Im Gegensatz zu einer durch demokratische Wahlen von Menschen eingesetzten Staatsführung sah Stapel in dem geborenen Führer die göttliche Wahl. Insofern lehnte Stapel die Weimarer Republik vehement ab und hoffte dagegen auf Hitler (s. oben Anm. 98). Vgl. hierzu auch KEINHORST, aaO. 20-28. 108

Vgl. hierzu die Erläuterung zur 1. These der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 (abgedruckt in: KRUMWIEDE u.a., Kirchen- und Theologiegeschichte IV/2, 130-132; hier: 130f.). Zur ersten These s. unten 47f.

28

II. Völkisches

Denken

werden können 109 . Zugleich aber vollzog Stapel eine strikte Trennlinie zur Kirche hin. Diese habe allein die Aufgabe, das Evangelium zu verkündigen. Der zweite, und nach evangelischer Lehre dem Wort Gottes zugehörige Teil: das Gesetz, obliege allein Volk und Staat und werde aus dem Nomos des Volkes abgeleitet. Indem Stapel dem Volk religiöse Eigenschaften zusprach, erhielt es den Status einer ethischen Wertegemeinschaft. Die Entscheidung, was sittlich sei, wurde an den Nutzen für das Volk rückgebunden. b) „Die gegenwärtige

Stunde im Volk": E. Hirsch

Im Jahre 1933/34 schreibt Emanuel Hirsch (1888-1972) über die gegenwärtige Stunde': „So wird es denn durch unser Ja zu dem, was heut mit unserm Volk geschieht, noch einmal wirklich, daß die deutsche evangelische Theologie, das deutsche evangelische Christentum und die gegenwärtige Stunde im Volk zusammengehören. Sie stehen in der Hoffnung und Liebe unsrer Hingabe beide gemeinsam unter der Hoheit des Herrn, der über unser Dasein verfügt" 110 . Hirsch hatte sich bereits in Opposition zur Weimarer Republik intensiv mit dem Volksbegriff und seiner christlichen Deutung beschäftigt. Die politischen Vorgänge des Jahres 1933 schienen nun seinen Hoffnungen realen Nährboden zu geben. Im nationalsozialistischen Staat und in seinem Führer verwirklichte sich alles, was er sich für die deutsche evangelische Theologie und für das deutsche Volk erhofft hatte. Hirsch wuchs als Pfarrerssohn in Berlin auf, wandte sich aber bald von der .positiven Theologie' seines Vaters ab111. Sein eigenes Theologiestudium war vor allem durch seinen Lehrer Karl Holl geprägt, dessen Name für die theologische Bewegung der ,Lutherrenaissance' steht112. Den Ersten Weltkrieg und die Niederlage Deutschlands empfand er, wie viele seiner Kollegen, als tiefen Einschnitt113. Die liberale Verfassung der Weimarer Republik erschien ihm als Verrat am deutschen Volk und am Christentum 114 . Deshalb bemühte er sich in dieser Zeit verstärkt um eine neue

109 110 111

Vgl. hierzu WOLF, Zur Frage, 209f. HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage, 153. Zur Biographie von E. Hirsch s. BIRKNER, Art. Hirsch; SCHOTTROFF, Theologie, bes.

1 4 0 - 1 5 7 ; VON SCHELIHA, A n m e r k u n g e n . 112 113

Vgl. hierzu ASSEL, Der andere Aufbruch. Auch Hirsch hatte zunächst den Kriegsausbruch begrüßt. Vgl. hierzu SCHOTTROFF,

aaO. 1 4 7 f . 114 HIRSCH (Deutschlands Schicksal, 83) bezeichnete „Demokratie als eine große Verkehrtheit", die den Staat in die Hände der Mehrheit der gerade lebenden Bürger gebe. Im Rückblick resümierte HIRSCH (Christliche Freiheit, 13): „Ich habe gegen den damaligen Staat gekämpft, indem ich ihm die Vollmacht, deutsches Leben und deutschen Geist zu gestalten, die er durch seine Gesinnungslosigkeit in den Abgrund riß, nach Kräften zu entwinden suchte."

2. Der Volksbegriff in der evangelischen

Volksnomostheologie

29

evangelische Staatslehre 115 . Enttäuscht über die politische Situation, der er besonders „die Zerrissenheit des Volkes" anlastete, entwarf Hirsch eine politische Theologie' 116 , die das Volk in das Zentrum theologischen Denkens stellte117. Bereits 1920 war Hirsch der Öffentlichkeit mit seiner Schrift Deutschlands Schicksal bekannt geworden. In ihr forderte er die Erneuerung von Volk und Staat im Sinne „eines religiös begründeten und von christlichem Geist getragenen Nationalstaates" 118 . Denn „die Liebe zum eignen Volk" verstand er „als Tatsache des natürlichen Lebens" 119 , und da aus ihr heraus sich der einzelne der Volksgemeinschaft zuneige, sei der Nationalstaat anzustreben. In ihm gewönne „die Eigenart unseres Volkes Gestalt" 120 , und die Einbindung des einzelnen in die von allen getragene Gemeinschaft führe zur Überwindung der Selbstsucht zugunsten des Gemeingeistes. Der Staat erhalte so „natürlichsittlichen Gehalt" 121 . Hirschs offene Ablehnung der Weimarer Regierung kulminierte schließlich in seiner Lehre vom .verborgenen Suverän', die er an der Wende zum Jahr 1933 entwarf 122 . Ausgehend von der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, versuchte er zu begründen, warum sich der geforderte Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit nicht auf die Weimarer Demokratie beziehen könne: In ihr bildeten die Bürger selbst das oberste Gremium. Eine Obrigkeit nach reformatorischem Verständnis sei aber eine von Gott eingesetzte Instanz, die in ihrer Autorität dem einzelnen gegenüberstehe. Weil er den Weimarer Staat ablehnte, setzte Hirsch nun die ,Volkheit' an die Stelle der Obrigkeit: „So haben wir im Verhältnis zur Volkheit eben das gefunden, was die Reformatoren an ihrer Beugung unter die Obrigkeit fanden: ein von Gott als dem Herrn der

115

HIRSCH, Vom verborgenen Suverän [sie!], 5. HIRSCH selbst (Christliche Freiheit, 6) bezeichnete seine Theologie als .politische Theologie', übernahm dabei aber wohl eine Klassifizierung von außen. Vgl. hierzu: ASSEL, Barth, 449 mit Anm. 13. Anders DERS., Der andere Aufbruch, 247 mit Anm. 59, wo er auf Schneider-Flume, Scholder und Strohm eingeht und denen Recht gibt, die die Bezeichnung Hirschs als .politischen Theologen' kritisieren. 117 Es fällt auf, daß Hirsch für seine Volkslehre - im Gegensatz zu Stapel - nicht auf biblische Texte zurückgreift. Zu Hirschs Volksbegriff s. auch TLLGNER, aaO. 136-157; SCHNEIDER-FLUME, Die politische Theologie, 58-67 (hier auch zu der Diskussion, ob Hirschs Zustimmung zum nationalsozialistischen Staat als Ergebnis einer konsequenten Entwicklung aus Hirschs Theologie der 20/30er Jahre angesehen werden kann und zum Vergleich der Lehre Hirschs mit der Volkslehre Stapels); SCHJ0RRING, Theologische Gewissensethik, 186-204; ASSEL, Der andere Aufbruch, 247-263. 116

118

SCHOTTROFF, a a O . 149.

119

HIRSCH, Deutschlands Schicksal, 9. 120 HIRSCH, aaO. 81. 121

HIRSCH, a a O . 89.

122

HIRSCH, Vom verborgenen Suverän. Hierzu auch DERS., Christliche Freiheit, 13.29.

30

IL Völkisches Denken

Geschichte gesetztes Dienstverhältnis, das uns in eine irdisch-geschichtliche Gemeinschaft leidend-gehorchend einfügt" 123 . Zugleich distanzierte er sich so von dem demokratischen Verständnis einer Volksvertretung, die für ihn höchstens auf der zufälligen Meinung der gerade lebenden Volksglieder basiere. Das Volk im Sinne der ,Volkheit', das sich gegenüber den vergangenen wie auch den künftigen Generationen verpflichtet wisse, sei dagegen „der verborgene und damit der wahre Suverän". Dieser stehe über „allen Regierenden und allen Regierten". Ihm habe letztlich auch der Staat als Werkzeug zu dienen, der einzelne müsse sich ihm eingliedern124. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann für Hirsch die Wende zum Positiven: Nun endlich habe der „verborgene Suverän" des Volkstums sein Pendant im „offenbaren Suverän", in der Person des Führers, gefunden. Die demokratische wie auch die autoritäre Staatsform sei somit überwunden. Denn der nationalsozialistische Staat basiere auf „freiwillige(m), aus ursprünglichem Wollen kommende(m) Bekenntnis der Geführten zum Führer" 125 . Da aber Führer und Staatsführung das natürlich-geschichtliche Volkstum als das Bestimmende anerkannt hätten 126 , sei der Staat endlich schaffendes Werkzeug des ,verborgenen Suveräns' geworden. Hirsch widmete sich fortan ganz dem Aufbau einer deutschen Volkskirche, die er im Rahmen des nationalsozialistischen Staates zu verwirklichen hoffte 127 . Denn durch die Befreiung und durch den Aufbruch des deutschen Volkes, als die er die Machtübernahme der Nationalsozialisten interpretierte, geschehe zugleich auch Befreiung und Aufbruch des evangelischen Christentums. Die evangelische Kirche erhalte eine neue Chance, „an deutscher Volksordnung und Volksart mitzuarbeiten" 128 . Nun endlich sollte das deut-

123

HIRSCH, Vom verborgenen Suverän, 5.

124

HIRSCH, a a O . 7f.

125

HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage, 64.

126

HIRSCH, a a O . 6 5 .

127

Hirsch trat bereits 1933 der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' bei, wurde 1934 Mitglied im NS-Lehrerbund und war weiterhin förderndes Mitglied der SS (s. hierzu ERICKSEN, Theologen, 227). Eine wenig rühmliche Rolle spielte Hirsch in seiner politisch motivierten Arbeit als Dekan der Theologischen Fakultät Göttingen in den Jahren 1932-1939 (s. hierzu TRILLHAAS, Emanuel Hirsch, 50ff.; ERICKSEN, aaO. 227-241; MAGER, Das Verhältnis ; KRUMWIEDE, Göttinger Theologie, 167-171). 128 HIRSCH, Das kirchliche Wollen, 7. Hirsch sah es als Aufgabe der Kirche an, die nationalsozialistische Bewegung auf eine christliche Grundlage zu stellen: „Es ist meine ehrliche Meinung, daß die Neubildung des Volksethos, die heute in Deutschland beginnt, der Vertiefung und Klärung aus dem evangelischen Rechtfertigungsglauben bedarf (aaO. 10). Aufgabe der Kirche sei es aber auch, „die Ehrfurcht und Treue dem Blut gegenüber und den Willen zum Kinde wieder in allen Gliedern unsers Volks" zu erwecken und so dem Staat zu helfen (aaO. 11).

2. Der Volksbegriff in der evangelischen

Volksnomostheologie

31

sehe Volk sich zu dem entfalten können, zu dem es nach Gottes Plan bestimmt war. Zentral in Hirschs Lehre ist der Gedanke, daß sich Gott in der Geschichte treffen lasse: „Er bezeugt sich uns (...) in der wunderbaren Geschichte der Völker und des Menschen, (...) in der besonderen Art und Aufgabe, die er jedem einzelnen Volke und jedem einzelnen Menschen gegeben hat" 129 . Das Volk und der zugehörige Nomos spielen dabei eine besondere Rolle. In seinem Leitfaden zur christlichen Lehre definierte Hirsch das Volk als göttlich geschaffene ,Lebenseinheit', die durch drei Gemeinsamkeiten bestimmt werde: den Blutbund, die Schicksalsgemeinschaft und den Nomos. Letzterer entspreche der „in Denkart, Empfindungsart und Umgangsart konkret ethisch bestimmtein) Lebensverfaßtheit" 130 . Der Nomos des deutschen Volkes habe sich aber aufgrund der langen Geschichte, welche die Deutschen mit dem Christentum gemeinsam hätten, germanisch-christlich herausgebildet 131 . Im Jahre 1933 war sich Hirsch sicher, daß sich im neu geschaffenen nationalsozialistischen Staat ein germanisch-christlich geprägter Staat verwirklichen werde. Insofern sah er es als Aufgabe der Theologen an, die Deutschen zur Treue gegenüber Volk und Staat zu erziehen. Er selbst bezeichnete die von ihm maßgeblich bestimmte Bewegung als ,junges nationales Luthertum' 132 . Sie sollte dem deutschen Volk den Willen zu sich selbst bewahren. Die „volkhafte geschichtliche Individualität" gehörte für Hirsch zur natürlichen Bestimmtheit des Menschen 133 . Im Volkstum aber verbinde sich Irdisches mit Göttlichem. Denn „in dem durch Natur und Geschichte geprägten Blutbunde des Volkstums 134 stoßen wir auf ein letztes irdisch Gegebenes, das zu bewahren und zur rechten Entfaltung zu bringen höchste Aufgabe aller politisch Handelnden ist" 135 . Damit aber sei „das Staatlich-Politische dem 129 HIRSCH, Kurzer Unterricht, in: Das kirchliche Wollen, 17. Auch Hirsch spricht von dem „Blutbunde unsers Volkstums" als gottgegebener Ordnung (aaO. 19). Zu Gott als dem Herrn der Geschichte, an dem sich ethische Maßstäbe orientieren, vgl. auch HIRSCH, Gegenwärtige geistige Lage, 116. 130

HIRSCH, Leitfaden, 234.

131

HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage, 69. Auch Hirsch bezeichnete die Thora als N o m o s des jüdischen Volkes. Durch die Wendung ,germanisch-christlich' konnte er den deutschen Nomos völlig von seinen jüdischen Wurzeln lösen. Zur Forderung der Einführung des Arier-Paragraphen in den kirchlichen Raum und Hirschs Stellungnahme s. SCHJ0RRING, aaO. 193-195. 132

HIRSCH, aaO. 1 1 4 .

133

HIRSCH, Das kirchliche Wollen, 12. Da ihm das Volk als natürliche, gottgesetzte Gegebenheit galt, wollte Hirsch auch die Kirche als Volkskirche auf diese Grundlage stellen. Zu den volkskirchlichen Konzepten der Deutschen Christen vgl. MEIER, Die zeitgeschichtliche Bedeutung, 179-181. 134

Zur Einschränkung einer reinen, allein blutbedingten Volkslehre vgl. HIRSCH, Christliche Freiheit, 46. 135

HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage, 60.

32

II. Völkisches

Denken

Volkstum als dem eigentlichen Träger der Kultur, dem wahren Quell alles menschlich-geschichtlichen Lebens" 136 unterworfen. Die Vorrangstellung im politischen Bereich erhalte das Volkstum jedoch aus seiner göttlichen Einsetzung. Denn in ihm liege die von Gott verliehene natürliche Gottebenbildlichkeit und die Gestaltungsmacht verborgen137. Konnte die Lehre vom verborgenen Souverän in der Zeit der Weimarer Republik eine kritische Distanz zur vermeintlich zufälligen, durch Abstimmung ernannten Staatsführung bilden, so verkörperte der nationalsozialistische Staat für Hirsch diejenige Form, die sich der Gegebenheit des Volkstums unterordnet. Denn dieser zeige sich einer völkisch-rassischen Fundierung gegenüber verantwortlich. Zwar wußte auch Hirsch darum, daß im Christentum die letzte Entscheidung über den Menschen an den einzelnen vor Gott gebunden ist138, im nationalsozialistischen Staat und seinem Führer Adolf Hitler sah er jedoch Gottes Wille erfüllt: „Daß Führer und Volk zueinander finden und einander verstehen, das ist eine freie Gabe Gottes, der die geschichtliche Stunde wirkt."139 In seinem politischen Leben verstand sich Hirsch deshalb als treuer Anhänger Hitlers140. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bemühte er sich, die Deutschen auf ein neues ethisches Nationalbewußtsein zu verpflichten. Denn nur durch eine neue nationale Haltung sei eine Rettung Deutschlands möglich. In der Auseinandersetzung um den ,Fall Dehn' 141 formulierte Hirsch, daß die Nation und ihre Freiheit bei aller Fraglichkeit des kreatürlichen Lebens auch für den Christen von Gott geheiligte Güter seien, welche die vollständige Hingabe des Herzens und des Lebens forderten 142 . Im Jahre 1933 bezeichnete Hirsch in seinen akademischen Vorlesungen Blut und Rasse als göttlich gesetzte Grenzen, die der Mensch nicht überschreiten dürfe 143 . 1933 habe „der Saum der

136

HIRSCH, e b d .

137

HIRSCH, aaO. 60f.: „In den ursprünglichen menschlichen Möglichkeiten des natürlichgeschichtlichen Volkstums liegt die uns von Gott verliehene natürliche Gottesebenbildlichkeit und damit alle uns von Gott verliehene Gestaltungsmacht verborgen". Hirsch ist sich allerdings dessen bewußt, daß das Volk zwar göttliche Schöpfungsordnung, dennoch aber eine irdisch-vergängliche Sache sei. Insofern lasse er sich den Vorwurf des „schwärmerischen Mißbrauchs" nicht gefallen (DERS., Christliche Freiheit, 40). 138 HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage, 143. 139

HIRSCH, a a O . 6 4 .

140

Vgl. Hirschs Eid auf Hitler und seine Verweigerung eines Eides auf die Weimarer Republik (s. hierzu ASSEL, Barth, 451-455). Zur Diskussion, wie Hirsch die Zeit des Nationalsozialismus nach 1945 beurteilte, vgl. ERICKSEN, Theologen, 263. 141 Zu den Vorfällen um die Berufungen G. Dehns an die Universitäten in Heidelberg bzw. Halle vgl. SCHOLDER, Die Kirchen I, 216-224. 142 TlLGNER, aaO. 145. 143

HIRSCH, a a O . 3 6 f .

2. Der Volksbegriff in der evangelischen

Volksnomostheologie

33

durch die Geschichte wandelnden Gottheit" die Deutschen gestreift 144 . Die Theologie habe sich an den Nationalsozialismus zu binden, die Kirche wiederum die Aufgabe zu erfüllen, zur Treue gegenüber Ordnung und Art hinzuführen. Das deutsche Christentum sei germanischen Ursprungs, eine Abkehr vom Judentum deshalb zwingend notwendig. Die völkische Erneuerung des deutschen Volkes könne nur unter Ausschluß des jüdischen Volksteils vollzogen werden. Zugleich müsse jedoch an der christlichen Tradition festgehalten werden, da das deutsche Volkstum einem germanisch-christlichen Nomos verhaftet sei. Auch für Hirsch sollte die Kirche ihre völkische Verpflichtung in der Verwirklichung eines deutschen evangelischen Volkskirchentums, das sich freiwillig in die öffentliche politische Ordnung hineinstelle, wahrnehmen 145 . In diesem Sinne schrieb er 1939: „Darum heiligt diejenige Religion die Volksgemeinschaft am tiefsten, die dem Einzelnen einbrennt: eben von dem Gotte, der ihn zum Gliede des Volks erschaffen hat, ist er persönlich gefragt nach seiner inneren Ehre bei ihm"146. Er faßte seine Gedanken folgendermaßen zusammen: „Es besteht zwischen deutschem Volkstum und christlichem Glauben keinerlei Scheidung oder Gegensatz, die es schwer machten, als Deutscher ein Christ, als Christ ein Deutscher zu sein"147. c) Gottes Gebot in den Staats- und Volksgesetzen: F. Gogarten Wie Hirsch eröffnete auch Friedrich Gogarten (1887-1967) seine wissenschaftlich-theologische Laufbahn mit einer Arbeit über Fichte148. Seine erste große Schaffensphase begann in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. 1920 veröffentlichte er unter dem Titel Zwischen den Zeiten149 einen Aufsatz in der ,Christlichen Welt'. Er setzte damit Impulse für eine Arbeitsgemeinschaft derjenigen Theologen, die der Krise, welche die Erfahrung des Kriegs hinsichtlich einer positiven Bindung des Christentums an die Geschichte bedeutet hatte, durch die Betonung des Abstands zwischen Gott und Mensch begegneten. Sie fanden in der neugegründeten Zeitschrift ,Zwischen den Zeiten' ein 144 HIRSCH, aaO. 27. Zum Begriff des Horos, mit dem Hirsch die geschichtliche Stunde bezeichnet, in der Gott dem Menschen begegnet, und die er im Jahr 1933 gegeben sieht, s. aaO. 4 2 - 4 4 . Hierzu auch TILGNER, aaO. 147f. 145

HIRSCH, Christliche Freiheit, 95.

146

HIRSCH, Das Wesen, 152.

147

HIRSCH, a a O . 1 5 5 .

148

GOGARTEN, F i c h t e . Z u F. G o g a r t e n s. TILGNER, a a O . 1 5 7 - 1 7 9 ; FISCHER, C h r i s t l i c h e r

Glaube; STROHM, Theologie; DERS., Friedrich Gogarten; GRAF, Friedrich Gogartens Deutung, 1 6 9 - 2 3 0 ; HENKE, A r t . G o g a r t e n ; KRUMWIEDE, G ö t t i n g e r T h e o l o g i e , 1 7 3 - 1 7 6 ; KRAUS, Tora,

bes. 2 2 9 - 2 3 1 ; KROEGER, Friedrich Gogarten. 149 GOGARTEN, Zwischen den Zeiten. Gogarten spricht hier davon, daß das Vertrauen auf die Entwicklung und auf die Kultur den Todesstoß bekommen habe und nun, da man zwischen den Zeiten stehe, der Raum frei geworden sei für das Fragen nach Gott, für das erneute Hören auf sein Wort.

34

II. Völkisches

Denken

gemeinsames Organ 150 . Auf die Phase der idealistischen Theologie und der Kriegsbegeisterung reagierten die .Dialektischen Theologen' mit der Betonung der totalen Nichtigkeit des Menschen vor Gott. Denn Gott lasse sich nicht in der „Sphäre der Bedingtheiten" von „Kunst, Kirche, Familie, Krieg, Schicksal, Staat, Volkstum und was man sonst will" 151 finden. Gogarten durchschritt im Laufe seines Lebens mit seiner theologischen Lehre jedoch weitere Phasen 152 . Vom Gegensatz zwischen Gott und Mensch, der die .Dialektische Theologie' bestimmte, wandte er sich hin zum Gegensatz bzw. Gegenüber von Ich und Du 153 . Anders als die Dialektischen Theologen begab er sich hier auf die Ebene der Geschichtlichkeit, denn im anderen begegne das Ich einem geschichtlich-konkreten Du 154 . Die Betonung der Ich-Du-Relation wurde in den 30er Jahren von der Ständelehre bzw. der Lehre von den Schöpfungsordnungen abgelöst 155 . Aus ihr erhob Gogarten schließlich die Forderung nach einem starken Staat: Ausgehend vom ersten Gebot des Dekalogs entwarf er seine Lehre der geschichtlichen Ordnungen. Der Sünden vergebende und die Welt erschaffende Gott rufe die Menschen in der Welt und in ihren Ordnungen zum Gehorsam. Der Dekalog regele sowohl unser Verhältnis zu Gott (entsprechend Luthers erster Tafel) als auch das Verhältnis der Menschen untereinander (entsprechend Luthers zweiter Tafel) 156 . In beiderlei Hinsicht spiegele sich Gottes Herrschaft wider - im Sinne eines befehlenden und eines um die ihm Anbefohlenen Sorge tragenden Herrschers. Die Ordnungen gehörten zur Schöpfung Gottes. In ihnen, und hier benennt Gogarten konkret Staat und Gesellschaft als Schöpfungsordnungen, gebe Gott „das Leben, das wir als Menschen leben" 157 . In 150 Zwischen den Zeiten, begründet von Karl Barth in Verbindung mit Fr. Gogarten, E. Thurneysen und G. Merz, München 1923ff. Vgl. hierzu ZAHRNT, Die Sache, 4 3 - 5 0 . 151 GOGARTEN, Religion, 25. 152 Yg] hierzu u.a. HENKE, ebd. 153

TILGNER (Volksnomostheologie, 171) spricht zusammenfassend davon, „daß die politische Theologie Gogartens einen bemerkenswerten Weg von einer dialektisch-theologischen Daseinsanalyse zu einer normativen Existenzaussage zurückgelegt hat." Zur Ich-Du-Philosophie vgl. THEUNISSEN, Art. Ich-Du-Verhältnis. 154 GOGARTEN, Ich glaube, 71. SAUTER (Art. Dialogik, 706) schreibt hierzu: „Bei F. Gogarten, K. Heim und E. Brunner verband sich die Aufnahme der Dialogik mit Kategorien eines existentiellen Denkens, bei Gogarten außerdem mit dem Versuch, die Geschichte als Ort der Begegnung aufzuweisen". Nach FISCHER (Systematische Theologie, 13 lf.) erfährt die Wirklichkeit des Menschen bei Gogarten so eine theologische Deutung. 155 WEINRICH (Der Wirklichkeit, 187) spricht hier von einer „erheblichen Erweiterung über die Grenzen der interpersonalen Begegnung hinaus zu den den Menschen umgebenden Verhältnissen", die der Wirklichkeitsbegriff Gogartens erfahre: „Gott begegnet dem Menschen nicht allein im Du des Nächsten, sondern er erweist seine Autorität auch in den Ordnungen seiner Schöpfung." 156 GOGARTEN, Die Bedeutung, 292. 157

GOGARTEN, Die Selbstverständlichkeiten, 25.

2. Der Volksbegriff in der evangelischen

Volksnomostheologie

35

seiner Politischen Ethik aus dem Jahr 1932 beschreibt er die Beziehung zwischen göttlichem Willen und staatlichen Gesetzen 158 : Da der Mensch böse sei vor seinem Mitmenschen, habe der Staat die Aufgabe, Schranken zu errichten und so die Existenz der Menschheit zu ermöglichen 159 . Tue er solches, so handele der Staat in göttlichem Auftrag, da er letztlich die Schöpfergüte Gottes bewahre. In seinem Artikel Schöpfung und Volkstum aus demselben Jahr spricht Gogarten jedoch nicht von Staatsgesetzen, sondern vom „völkischen Gesetz"160, das den Menschen auf seine „hörige Verbundenheit mit den Anderen" verpflichte: Das „völkische Gesetz kann von keinem anderen gegeben sein als von Gott, dem Herrn161. (...) Er, der ewige Schöpfer, ist das Subjekt des Willens, der in dem Gesetz des Volkstums, der in der lebendigen Sitte eines Volkes über die Menschen herrscht"162. So wird das Volkstum Träger des göttlichen Willens, indem es den einzelnen Menschen auf seine Verantwortung für den Nächsten verpflichtet. Es sei eingesetzt, um das Leben der Menschen unter- und miteinander zu ermöglichen. Damit aber war das Volksgesetz mit Gogartens Worten Gottesgesetz: „Das heißt, im Volkstum und durch 158

GOGARTEN, Politische Ethik, 195f. STROHM (Friedrich Gogarten, 339) spricht davon, daß der Staat dadurch ethische Qualität besitze, „weil er der ist, der die Macht des Bösen bannt." STROHM (aaO. 340) führt die Sicht Gogartens, hinter dem Staatsgesetz Gottesgesetz zu sehen, das ein Abrutschen des Menschen ins Chaos verhindere, auf die Lehre von Gesetz und Evangelium in der lutherischen Theologie zurück. TLLGNER (aaO. 177) spricht von einem ,Mehr' des Evangeliums über den Staat bei Gogarten. Dieses liege in der Freiheit der Kirche gegenüber dem Staat. Aber die Kirche habe eine Funktion am Volksgesetz, nämlich es mit „äußerster Radikalität" als Gottesgesetz zu verkündigen „und damit die Ungesetzlichkeit des Menschen an die Gnade Gottes in Jesus Christus" zu verweisen. So kommt Tilgner zu dem Schluß: „Damit ist aber auch bei Gogarten das , Volksgesetz' als Gottes Gesetz zur schöpfungstheologischen Vorbedingung für den Empfang des Evangeliums erhoben worden" (ebd.). GRAF (Friedrich Gogartens Deutung, 211) betont, daß gerade die Verortung von Staat und Volk im göttlichen Schöpferwillen, wie sie Gogarten postuliert, auch ihre Begrenzung bedeute. 159

160

GOGARTEN, Schöpfung, 502. FISCHER (Christlicher Glaube, 115 mit Anm. 208) macht darauf aufmerksam, daß das Volkstum schon in Gogartens Frühschrift Religion und Volkstum aus dem Jahre 1915 positiv beurteilt wird. Hier beschreibt GOGARTEN (Religion, 34f.) unter dem Eindruck des Volkserlebnisses während des Weltkriegs das Volkstum als „natürliche Grundlage unseres Lebens als Deutsche", „als den lebendigen Quell, aus dem unsere höchsten Gedanken, unsere weiteste Sehnsucht ihre Kraft, ihre Form und ihren Inhalt holen", „als den ewigen Gedanken, den Gott dachte, als er in langer, schwerer Schöpfungsarbeit das deutsche Volk s c h u f . Auch TlLGNER (aaO. 158ff.) und STROHM (Theologie, 140) weisen nach, daß Gogarten sich bereits in seiner Frühzeit mit dem Volksbegriff - allerdings im idealistischen Verständnis - beschäftigt hat. 161 Gogarten beruft sich hier in einer erstaunlichen Übersetzung auf Eph 3,15, indem er den Begriff der Ttcrcpid Gottes auf „alle geschlecht- und volkhafte Verbundenheit im Himmel und auf Erden" bezieht. 162

GOGARTEN, e b d .

36

11. Völkisches Denken

das Volkstum ist Gottes Herrschaft über uns aufgerichtet. Und zwar in der Weise, in der sie uns in unserem irdischen Leben erhält"163. Solle menschliches Leben gelingen, so müsse es in die Ordnung des Volkstums eingebunden sein. Der einzelne ist ihm gegenüber verpflichtet: „Völkische Art ist Verpflichtung, ist Forderung. Und nur, wo das Volkstum als solche empfunden, und wo man der Forderung, die es ist, gehorcht, wo man ihm treu ist, ist es zugleich der feste Halt, die tiefe Geborgenheit, das sichere Zuhause, der starke Trotz, die echte völkische Art für den gesund empfindenden Menschen bedeutet." 164 Auch Gogarten sah, ähnlich wie Hirsch, mit der „Forderung der gegenwärtigen Stunde" 165 im Jahre 1933 seine Anliegen verwirklicht: Indem der nationalsozialistische Staat den Menschen auf seine Zugehörigkeit zu den Volksgenossen verpflichte, werde das Ich wieder von einem Du angesprochen und zur Verantwortung gezwungen. Gerade im totalitären Staat, den das nationalsozialistische Deutschland darstelle, erfahre der Mensch das Gesetz in bezug auf die Totalität seiner Existenz 166 . Aus dieser Überzeugung wandte sich Gogarten 1933 den Deutschen Christen zu167. 163 GOGARTEN, Volkstum, 88. Auch an anderen Stellen wiederholt Gogarten seine These der Übereinstimmung von Volks- und Gottesgesetz. Vgl. hierzu DERS., Schöpfung, 503; Volkstum, 87f. H. VÖGEL (Wider die Gleichschaltung, 339) gesteht Gogarten in seiner Kritik an dessen Volksbegriff zu, daß er sehr wohl die Kraft der einzelnen Gesetze aus dem Gesetz Gottes und nicht aus dem Volksnomos herleite. Die Gefahr bei einer Gleichsetzung von Staats- und Gottesgesetz bestehe aber darin, die „Ethik der Gnade zur Tür" hinauszuweisen. 164 GOGARTEN, Volkstum, 86. 165 Gogarten, Einheit von Evangelium und Volkstum (1933), zitiert nach H. VÖGEL, aaO.

334. 166

GOGARTEN, Ist Volksgesetz, 30: „Um Gottes Gebot als das Gebot aller Gebote und Gott als den Herrn aller Herrschaften verkündigen zu können, muß die kirchliche Verkündigung von dem Totalitätsanspruch des heutigen Staates her ausgerichtet sein, das heißt von der Stelle her, wo der heutige Mensch das Gesetz in bezug auf die Totalität seiner Existenz erfährt". Gogarten vertritt damit einen totalitären Staatsbegriff, den er im ,Ruf der Stunde' des Jahres 1933 verwirklicht sieht. 167 GOGARTEN (aaO. 9) begründete seinen Schritt damit, daß die Deutschen Christen die Aufgabe der Neubegründung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft zu ihrer Aufgabe gemacht hätten - sowohl die politische Botschaft als auch die kirchliche Verkündigung betreffend. H. VOGEL (aaO. 333) wirft Gogarten vor, mit der These der Einheit von Evangelium und Volkstum den Deutschen Christen „die theologische Begründung ihres Anliegens zu geben". Gogarten gehört aber zu den Theologen, die nach der Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen im November 1933 scharfe Kritik erhoben. S. hierzu die von Gogarten und anderen unterschriebene Erklärung, die mit den Worten beginnt: „Die Verwirklichung der Forderungen, die in dieser Entschließung (sc. im Sportpalast) in bezug auf Lehre und Bekenntnis der Kirche erhoben werden, würden das Ende jeder christlichen Kirche bedeuten" (abgedruckt in: JK 1 [1933] 357f.). Nach MEIER (Die Deutschen Christen, 48) verabschiedete sich Gogarten mit dieser Erklärung bereits im November 1933 wieder von seiner Mitarbeit bei der Glaubensbewegung .Deutsche Christen', nachdem er ihr erst im August 1933 beige-

3. Der Volksbegriff im Kirchenkampf

37

In Gogartens Theologie der 30er Jahre geschieht eine inhaltliche Gleichsetzung von Gottesgesetz und Volksgesetz. Das Volk gilt als Verantwortungsgemeinschaft, als von Gott gesetzte Lebensform und Schöpfungsordnung. In den Volksgesetzen ist der göttliche Wille für die Gestaltung des irdischen Lebens erfahrbar168, der Mensch ist an sein Volk gebunden. Hierbei stehen jedoch weniger biologische Kriterien im Vordergrund169 als vielmehr die ethische Bindung des einzelnen an das Volksganze 170 .

3. Der Volksbegriff im Kirchenkampf Die an den Beispielen von Stapel, Hirsch und Gogarten dargestellten Inhalte der Volksnomostheologie wurden in die Ideologie der Deutschen Christen aufgenommen. Die geschilderten Überlegungen verließen damit den Rahmen eines innerwissenschaftlichen Diskurses. Sie bildeten vielmehr die geistigen und theologischen Grundlagen einer kirchenpolitischen Bewegung.

treten war. So auch PUTZ, Warum Bekenntnisgemeinschaft?, 839 (zu Putz s. SCHOLDER, aaO. 172f.). Die Frage, ob Gogartens Zuspruch zu den Deutschen Christen und zum nationalsozialistischen Staat eine Konsequenz seiner theologischen Lehre ist oder ob er vielmehr als opportunistische Anbiederung an die politischen Verhältnisse zu verstehen ist, wird in der Gogarten-Literatur immer wieder diskutiert. S. hierzu WEINRICH, Der Wirklichkeit, 194f.; FISCHER, Christlicher Glaube, 108; GRAF, aaO. 191f. 204-216; GIBELLINI, Handbuch, 120; HENKE, Art. Gogarten, 563; STROHM, Theologie, 149-160. 168

GOGARTEN, aaO. 10: „Das heißt, das Gesetz Gottes begegnet uns, in einzelne Gebote gefaßt, in Forderungen des Staates, des Volkes und der Sitte." 169 Gegen einen biologistischen Volksbegriff, wie ihn z.B. Wilhelm Stapel vertreten hatte, wehrte sich GOGARTEN energisch (Schöpfung, 501): „Daß man heute im Ernst und weithin meinen kann, diese Einheit sei durch das Blut, durch die Rasse bedingt, sie stelle sich in der Gemeinsamkeit der Rasse dar, ist eine der grausigen Gedankenlosigkeiten, die nur da möglich sind, wo das geistige Leben jede Berührung mit dem Volksleben verloren hat und wo das Volk bzw. die Menschen aus ihren wild wuchernden volkhaften Instinkten, aus ihrem Hunger nach Volksverbundenheit alles aufgreifen, was ihnen Sättigung verspricht." Zum Vergleich zwischen Stapel und Gogarten s. STROHM, Theologie, 126.154 mit Anm. 135.158 mit Anm. 150 und TLLGNER, aaO. 173. Zu Gogartens Theologie nach 1945, seiner Hinwendung zum Problem der Säkularisierung', s. STROHM, Friedrich Gogarten, 342-349; HENKE, aaO. 565f.; GRAF, aaO. 216ff.; FISCHER, Systematische Theologie, 141-148. 170 STROHM (Friedrich Gogarten, 335) spricht im Zusammenhang von Gogartens Ich-DuBeziehung davon, daß Gogarten diese als eine genuin theologische Kategorie aufgenommen habe und so „anthropologische Strukturen unmittelbar theologisch auflädt zu wesentlichen Strukturen". In den 30er Jahren werden diese Strukturen mit völkischem Gedankengut aufgefüllt. Vgl. hierzu KRUMWIEDE u.a., Einleitung zum Textauszug aus Gogartens Politischer Ethik, in: DIES., Kirchen- und Theologiegeschichte IV/2, 88.

38

II. Völkisches Denken

a) Die Volksnomostheologie

in der Ideologie der Deutschen Christen

Wie die ,Volksnomostheologie' so ist auch die Bewegung der Deutschen Christen aus dem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg neu aufkeimenden Nationalismus hervorgegangen. In ihrer komplizierten Geschichte von Vereinigungen und Spaltungen einzelner Teilgruppierungen stellten die Deutschen Christen 171 ein Sammelbecken derjenigen Theologen und Laien dar, die an einer „Synthese von evangelischem Christentum und Deutschtum" 172 festhielten. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung, daß Gott den Menschen in der Volksgemeinschaft den angemessenen Lebensraum gegeben habe 173 . In ihren Richtlinien, mit denen sich die Glaubensbewegung .Deutsche Christen' (GDC) 1932 als „kirchenpolitische Partei" 174 für die Kirchenwahlen der Altpreußischen Union formiert hatte, betonten sie deshalb ihre Verpflichtung gegenüber dem eigenen Volk: „Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen, uns Gottes Gesetz ist" 175 . Damit lehnten sich die Deutschen Christen in ihrem Vokabular deutlich an die Parolen der erstarkenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) an und griffen zudem die in den beiden Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg ausformulierte Theologie der Schöpfungsordnungen (Volksnomostheologie)176 auf. a) „Du bist nichts, Dein Volk ist alles" - völkisches Denken im Nationalsozialismus Von Anbeginn an suchten die Nationalsozialisten im Begriff des Volkes die integrierende Kraft für die eigene Ideologie. Schon in Mein Kampf bemühte sich Adolf Hitler, die Deutschen auf ihre Verantwortung für die Volksgenossen einzuschwören: „Wer sein Volk liebt, beweist es einzig durch die Opfer, die er für dieses zu bringen bereit ist"177. Im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 heißt es, das deutsche Volk genese nur, wenn es sich auf die Grundlage ,Gemeinnutz vor Eigennutz' stellen werde 178 . Hitler kam damit dem „aufge171 Zur Geschichte der Deutschen Christen und ihrer Einzelgruppierungen vgl. MEIER, Die Deutschen Christen; DERS., Kreuz. 172 MEIER, Art. Deutsche Christen, 552. 173 Zum Beitritt z.B. vieler Pfarrer aus Arbeitergemeinden zu den Deutschen Christen, die den Begriff der Volksgemeinschaft als sozialen Begriff verstanden, vgl. SCHOLDER, Die Kirchen I, 269. 174 J. Hossenfelder vom 7.8.1945, zitiert bei SCHOLDER, aaO. 265. 175 Punkt 7 der Richtlinien der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' vom 6. Juni 1932,

a b g e d r u c k t in: KRUMWIEDE u.a., aaO. 118. 176

Zur Volksnomostheologie s. oben Kap. II.2. A. Hitler, Mein Kampf, Bd. 2: Die nationalsozialistische Bewegung ( 47 1939), 473ff„ zitiert bei ALTER (Hg.), Nationalismus, 257 (dort kursiv gedruckt). 178 Parteiprogramm der NSDAP von 1920, abgedruckt bei HOFER (Hg.), Der Nationalsozialismus, 31. 177

3. Der Volksbegriff im Kirchenkampf

39

staute(n) Integrationshunger in der deutschen Gesellschaft" 179 entgegen. Die Berufung auf volksgemeinschaftliche und nationale Ziele sprach vielen Deutschen aus dem Herzen. Denn die Hoffnung auf Überwindung sozialer Spaltungen kam hierin gleichermaßen zum Ausdruck wie die Sehnsucht nach politischer Einheit und Stärke, nach Beendigung der Schmach, die viele als Verlierer des Ersten Weltkriegs empfanden 180 . Das Volkswohl wurde zur Legitimationsbasis politischer Forderungen und Handlungen 181 : Die Verordnung, die Reichspräsident Hindenburg am Tag nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 erließ und durch welche die Nationalsozialisten freie Hand gegen politisch unliebsame Gegner bekamen, nannte sich .Verordnung zum Schutz von Volk und Staat' 182 . Unter dieser Prämisse wurden die Grundrechte in weiten Bereichen außer Kraft gesetzt. Das sogenannte Ermächtigungsgesetz' vom 24.3.1933 erhielt die Bezeichnung .Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat'. Die Reichsregierung erreichte mit diesem Gesetz faktische Unabhängigkeit von der Zustimmung des Reichstags in gesetzgeberischen Fragen. Die angebliche Sorge um das Wohl von Volk und Staat legitimierte Gesetze, die der Regierung weitgehend freie Hand ließen. Mit der zunehmenden Einschwörung auf die Volkseinheit galt der einzelne nur noch in seiner Beziehung zur Gemeinschaft. Unter dem Topos „Du bist nichts, Dein Volk ist alles" 183 wurde versucht, den Menschen bereits in der Erziehung ein ausgeprägtes Volksbewußtsein einzuimpfen. Die mit der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege 184 und dem Winterhilfswerk hochgehaltene Volkssolidarität grenzte jedoch diejenigen aus, die nicht dem deutschen Volk angehören durften 185 . Mit dem ,Gesetz zum Schutze des deutschen 179

BROSZAT, Das weltanschauliche und gesellschaftliche Kräftefeld, 96. Der Begriff des .Nationalsozialismus' greift geschickt beide Komponenten auf: die national-konservative wie auch die sozial-revolutionäre Interpretation des Volksbegriffs. Zum Begriff s. auch SONTHEIMER, Antidemokratisches Denken, 270-278. 181 Zur Funktion des Begriffs der .Volksgemeinschaft' innerhalb der nationalsozialistischen Erziehung vgl. JEGELKA, „Volksgemeinschaft", bes. 121-123. 182 Verordnung zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung) vom 28.2.1933, abgedruckt in: Der Nationalsozialismus, 24. 183 Vgl. hierzu BERG/ELLGER-RÜTTGART, DU bist nichts, 5. Aufgenommen und religiös verklärt wurde dieser Satz z.B. durch Julius Leutheuser, dem Mitbegründer der Thüringer ,Deutsche Christen': „Du bist nichts, dein Volk in seiner Sendung und göttlichen Aufgabe ist alles. (...) Immer wieder mußt du dir klar werden und den Worten Adolf Hitlers nachleben: Du bist nichts, dein Volk ist alles! Und durch dein Volk und das Opfer für dein Volk geschehe der Wille Gottes auf der Erde" (Erklärung Leutheusers auf der Führertagung der Deutschen Christen am 23.11.1933, abgedruckt bei GAUGER, Chronik II, 207). 184 Zur nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege im Sinne einer ,Volkspflege' s. SÜNKER, Nationalsozialistische Herrschaftssicherung. 185 Zum Begriff der .Volkspflege' s. H.-U. OTTO/SÜNKER, Volksgemeinschaft. Zur Verwendung des Volks- bzw. Gemeinschaftsgedankens innerhalb der nationalsozialistischen Rechtssprechung s. STOLLEIS, Gemeinschaft. 180

40

II. Völkisches

Denken

Blutes und der deutschen Ehre' vom 15.9.1935, das u.a. „Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" verbot 186 , orientierte sich der Volksbegriff offensichtlich an .rassischen Kriterien'. Durch die ständige Berufung auf das ,Volkswohl' sicherten sich die Nationalsozialisten die weitgehende Zustimmung der Bevölkerung. Von seinen Anhängern wurde Hitler als derjenige verehrt, der das deutsche Volk auf dem rechten Weg führe, der es letztlich dem, was Gott mit dem deutschen Volk vorhabe, näherbringe 187 . ß) Die Sorge um das Volk als gemeinsames Anliegen von Staat und Kirche Viele, die sich den Deutschen Christen anschlössen, erhofften sich von der durch die Nationalsozialisten propagierten .nationalen Revolution' eine Verchristlichung der Gesellschaft 188 . Die liberale Staatsführung und die schwache Stellung der Kirche in der Zeit der Weimarer Republik sollten ein Ende finden. Nicht wenige waren der Überzeugung, daß das deutsche Volk mit dem Erstarken des Nationalsozialismus eine „geschenkte Möglichkeit, noch einmal neu anfangen zu dürfen" 189 , erhalte. Deshalb habe die Kirche die „Stunde des Volkes" 190 zu bejahen und „an deutscher Volksordnung und Volksart mitzuarbeiten" 191 . 186

Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, abgedruckt bei ROHM/THERFELDER, Juden 2/1, 27. 187

Vgl. hierzu KOSELLECK, Art. Volk, 409f.

188

So schrieb z.B. Johannes HEMPEL im Rückblick, daß die ,,lebendige(...) Sehnsucht, das [sie!] die Heimkehr zum Volk für viele zu einer Heimkehr zu Gott und nicht zu einer Abkehr von ihm werden möchte", für ihn den Grund dargestellt hatte, den Deutschen Christen beizutreten (Rundbrief Hempels an Verwandte und Freunde vom 10.4.1963, S. 2). S. hierzu unten 129f. 189

HIRSCH, Das kirchliche Wollen, 7. Wort und Bekenntnis westfälischer Pastoren zur Stunde der Kirche und des Volkes, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1933, 33. 191 HIRSCH, aaO. 7. VON DER HEYDT (Die Ziele, 46) schreibt: „Gott hat unserem Volk eine große Stunde mit diesem Staat geschenkt. Er fordert von uns, daß wir den deutschen Volksstaat bauen. Vorbehaltlos stehen wir deshalb zum Dritten Reich." Immer wieder ist in diesem Z u s a m m e n h a n g davon die Rede, daß Hitler und die durch seine Partei initiierte .nationale Revolution' das Werk der Reformation weiterführen und letztlich vollenden werden. So z.B. im Wort und Bekenntnis westfälischer Pastoren zur Stunde der Kirche und des Volkes (abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 33): „Es geht uns nicht nur um Treue gegen das Erbe der Väter, es geht uns um Vollendung der Reformation." So auch Landesbischof Adalbert Paulsen an die G e m e i n d e n der e v a n g e l i s c h - l u t h e r i s c h e n L a n d e s k i r c h e S c h l e s w i g - H o l s t e i n s (6.10.1933) (abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 170): „Unsere Kirche ist bestimmt durch den Geist Martin Luthers. Der Geist dieses deutschen Reformators soll aufs neue das Leben und die Haltung der Kirche bestimmen. Eine Kirche im Geiste Luthers wird immer sich innerlich gedrungen fühlen, in lebendigem Zusammenklang mit Volkstum und Volksleben, mit Staat und Vaterland ihren Dienst zu tun". Vgl. hierzu auch die Kundgebung des Reichsbi190

3. Der Volksbegriff im Kirchenkampf

41

Die Bereitschaft, um des Volkes willen mit dem neuen Staat zu kooperieren, erstreckte sich keineswegs nur auf die Deutschen Christen. Mit vielen anderen dankte der designierte Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh im Mai 1933 Gott für die nationalsozialistische Regierung und erklärte die Bereitschaft der Christen, „in froher Freiwilligkeit Herzen und Hände für diesen Dienst am Volke zur Verfügung zu stellen"192. Ebenso findet sich in der Entschließung von Mitgliedern der Bekennenden Gemeinden in Barmen die Verpflichtung der Kirche auf den „ihr aufgetragenen Dienst(...) an unserem Volk" 193 . Das nationalprotestantische Denken bestimmte weite Teile der evangelischen Bevölkerung Deutschlands, die in der Verfassung und in der politischen Realität der Weimarer Republik eine existentielle Gefährdung des kirchlichen Lebens und des deutschen Volkes gesehen hatten. Die Nationalsozialisten wiederum bemühten sich zunächst offen, die Kirchen in die Verwirklichung ihrer politischen Ziele miteinzubeziehen 194 . Angesichts des Schlagwortes vom ,positiven Christentum', wie es im Parteiprogramm der NSDAP von 1920 festgeschrieben war195, schlössen viele auf ein vermeintlich starkes Interesse der Nationalsozialisten an einem christlich geführten Staat. In den ersten Monaten nach der Machtergreifung warb Hitler schofs Ludwig Müller zum 450. Geburtstag Dr. Martin Luthers am 26.10.1933 (abgedruckt in: BECKMANN, Kirchliches Jahrbuch, 37f.). Deutlich wird der Anspruch, die Reformation vollenden zu wollen, auch in der Entschließung des Gaues Groß-Berlin der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' vom 13.11.1933, die sich verpflichtet fühlten, „bei der religiösen Erneuerung unseres Volkes und der Vollendung der deutschen Reformation im Geiste des Nationalsozialimus (...) mitzubauen an einer wehrhaften und wahrhaften völkischen Kirche, in der wir die Vollendung der deutschen Reformation Martin Luthers erblicken" (abgedruckt in: BECKMANN, aaO. 38f.). (Zu der Kundgebung s. unten 44). Anders bei Hans Ehrenberg (Bekenntnisfront vom August 1933, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 73ff.), der zwar seine Zeit mit dem Mittelalter der Reformationszeit vergleicht, jedoch feststellt, daß im Gegensatz zur Reformationszeit dem deutschen Volk das Gotteserlebnis fehle. Vgl. hierzu auch SONNE, Die politische Theologie, 90f. 192

Von Bodelschwingh als designierter Reichsbischof an die evangelischen Christen Deutschlands (Mai 1933), abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 156. 193 Entschließung von 1200 Männern der evangelischen Gemeinden Barmens, reformierten, lutherischen und unierten Bekenntnisses vom 7.12.1933, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 175. 194 Dies änderte sich bald nach der Machtübernahme, als die Pläne für den Aufbau einer deutschen Reichskirche als gescheitert gelten mußten. Von nun an betrieb die NSDAP das Programm einer .Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens'. Vgl. hierzu z.B. MEIER, Kirche, 125ff. 195 Punkt 24 des Parteiprogramms der NSDAP lautet: „(...) Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden. Sie bekämpft den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns und ist überzeugt, daß eine dauerhafte Genesung unseres Volkes nur erfolgen kann von innen heraus auf der Grundlage: Gemeinnutz vor Eigennutz" (abgedruckt in: ROHM/THLERFELDER, Evangelische Kirche, 17).

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II. Völkisches

Denken

tatsächlich verstärkt um die Unterstützung der Christinnen und Christen für sein politisches Programm. Hierfür versprach er den Kirchen die Wahrung ihrer Rechte, um gleichzeitig die Kirchenglieder auf die gemeinsame Verantwortung von Kirche und Staat gegenüber dem Volk zu verpflichten: „Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums. (...) Ihre Rechte sollen nicht angetastet werden. Sie erwartet aber und hofft, daß die Arbeit an der nationalen und sittlichen Erneuerung unseres Volkes, die sich die Regierung zur Aufgabe gestellt hat, umgekehrt die gleiche Würdigung erfährt" 196 . Besonders die evangelischen Christen waren bereit, mit dem neuen Staat zusammenzuarbeiten, um das deutsche Volk zu christlichen Grundwerten zurückzuführen. Zudem erhofften sich viele von der Errichtung einer einheitlichen evangelischen Reichskirche, die parallel zum nationalsozialistischen Einheitsstaat geschaffen werden sollte, eine Reform der schwach gewordenen Kirche 197 . Durch die Entwürfe der Volksnomostheologie war die Zustimmung vieler Protestanten zur nationalen Erhebung' mit ihrer Betonung der Verpflichtung auf Volk und Staat vorbereitet und wesentlich erleichtert worden. Denn schon hier hatten Theologen, unabhängig bzw. sogar gegenläufig zur politischen Realität, in der Zeit der Weimarer Republik eine Verbindung von Glaube und Politik, von Christentum und Engagement für das deutsche Volk gefordert. Das Verständnis des Volkes als Gottes Schöpfung und des Staates als göttlich eingesetztem Instrument zur Eindämmung der Sünde nahm die evangelischen Christinnen und Christen in die Pflicht. Die Sorge um das Wohl des Volkes erschien vielen als eine der Kirche von Gott selbst auferlegte Aufgabe 198 . y) Der Volksbegriff in den Grundsätzen der Deutschen Christen Im Rahmen der im November 1932 anstehenden Kirchenwahlen in den Kirchen der Altpreußischen Union drängte die preußische Landtagsfraktion der

196 Adolf Hitler am 23.3.1933 bei der Reichstagssitzung in Berlin, wiedergegeben in: BECKMANN, aaO. 23. Neben der Verpflichtung auf die Mitarbeit stand die Beschwörung gemeinsamer Feinde: „Der Kampf gegen eine materialistische Weltauffassung und für die Herstellung einer wirklichen Volksgemeinschaft dient ebensosehr den Interessen der deutschen Nation wie denen unseres christlichen Glaubens". Hitler betonte, daß „die Reichsregierung ( . . . ) im Christentum die unerschütterlichen Fundamente des sittlichen und moralischen Lebens unseres Volkes" sehe (ebd.). 197 Vgl. MEER, Die Deutschen Christen, 16. Nach MEIER (ebd.) spielte auch die große Zahl von Theologieprofessoren, die in die Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' eintraten, eine große Rolle für die Popularität der Bewegung. Zur Übersicht über die Mitgliedschaft von Theologieprofessoren bei den Deutschen Christen s. MEISIEK, Evangelisches Theologiestudium, 2 5 0 - 2 5 6 . 198 S.o. Kap. II.2.

3. Der Volksbegriff im

Kirchenkampf

43

NSDAP auf Gründung einer Gruppe ,Evangelischer Nationalsozialisten' 199 . Die damit von Anbeginn an unter politischer Motivation stehende Gruppierung formierte sich für die Wahlen als Glaubensbewegung , Deutsche Christen' und organisierte sich bald auch auf Reichsebene. Um der Entwicklung zu einer breiten Bewegung innerhalb der protestantischen Kirchen gerecht werden zu können, wurden die im Juni 1932 für die preußische Kirchenwahl erstellten Grundsätze der Glaubensbewegung im Mai 1933 in abgemilderter Form neu formuliert. Hatte man 1932 noch betont, die Kirche solle „in dem Entscheidungskampf um Sein oder Nichtsein unseres Volkes an der Spitze" kämpfen und in diesem Sinne - entsprechend der von den Nationalsozialisten propagierten Ziele - zum „Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen" beitragen, so trat 1933 die Hoffnung in den Vordergrund, die .nationale Erhebung', in der Volk und Staat wieder zueinander gefunden hätten, werde das deutsche Volk auch „den Weg zur Kirche finden" lassen 200 . Diese Richtlinien, die der spätere Reichsbischof Ludwig Müller im Mai 1933 nach breiter Kritik an den radikalen Tendenzen innerhalb der Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' aufgestellt hatte, zielten vor allem auf eine Reform der evangelischen Kirche in Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. In Verpflichtung gegenüber „unserem Gott und eben deswegen unserem Vaterland" sollte die Kirche ihre Stellung im deutschen Volk zurückerhalten. Die Deutschen Christen wollten sich deshalb dem zuwenden, „was die gegenwärtige Stunde mit Ernst von uns fordert" 201 . Die Kirche müsse dem Volk so dienen, daß dieses „den von Gott ihm aufgetragenen Beruf erkennen und erfüllen kann. (...) Den deutschen Kirchen (sei) eine Gestalt zu geben, die sie fähig macht, dem deutschen Volke den Dienst zu tun, der ihnen durch das Evangelium von Jesus Christus gerade für ihr Volk aufgetragen ist" 202 . Ganz im Sinne der ,Volksnomostheologie' verstanden sie das Volk als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung. Die Menschen seien „nicht Volk durch eigenen Entschluß, sondern durch Gottes Schöpfung und Führung" 203 . Immer wieder wurde betont, daß die Kirche das Volkstum als Teil der Schöpfungswirklichkeit Gottes anerkenne 204 , die Deutschen Christen sich deshalb dem Volk in

199 Zuvor hatte es innerhalb der Pfarrerschaft bereits Überlegungen zur Gründung eines nationalsozialistischen Pfarrerbundes gegeben. Vgl. MEER, aaO. 1 lf. 200

Richtlinien vom 16.5.1933, abgedruckt in: KRUMWEDE u.a., 118f. Hierzu MEIER, aaO.

16. 201

HIRSCH, Das kirchliche Wollen, 23.

202

Richtlinien vom 16.5.1933, abgedruckt in: KRUMWEDE u.a., ebd.

203

VON DER HEYDT, Die Ziele, 15. Auf S. 21 schreibt er: „Die Entstehung der Völker liegt jenseits des menschlichen Wollens; darum betrachten wir unser Volkstum als Gottes Schöpfung" (im Original gesperrt gedruckt). m So z.B. im Wort und Bekenntnis westfälischer Pastoren zur Stunde der Kirche und des Volkes (Pfingsten 1933) (abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 34): „Sie (sc. die Kirche) tastet

44

II. Völkisches

Denken

besonderer Weise verbunden und verpflichtet fühlten: „Die Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' ist der Ausdruck dieser unbedingten Verbundenheit und unlöslichen Treue zwischen Volk und Kirche, dem Willen des Dritten Reiches und dem Wirken der neugestalteten Kirche" 205 . Gott selbst sei in der Geschichte der Völker wirksam, das deutsche Volk aber habe hierbei eine herausgehobene Stellung: „Wir nehmen die großen Taten und Leistungen unseres Volkes als ein sichtbares Zeichen, daß Gott uns auch in der Zukunft brauchen will als ein Werkzeug seines Handelns in der Geschichte" 206 . Eine Zusammenarbeit der Deutschen Christen mit den Nationalsozialisten, die ihrerseits dem Volk religiöse Qualitäten zusprachen, schien selbstverständlich und letztendlich ,gottgewollt' zu sein. Zu der im Protestantismus weithin üblichen Bindung der Kirche an das Volk kam somit eine Anbiederung an den nationalsozialistischen Staat hinzu. 8J ,Evangelische Reichskirche' oder,Deutsche

Nationalkirche'

Die inhaltliche Entscheidung, welche die Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' mit ihren Richtlinien vom Mai 1933 zugunsten der Kirchenreform gefällt hatte, sollte die Bewegung auf eine breite Basis der Reform willigen innerhalb der protestantischen Kirchen stellen. Die Grundsätze der Glaubensbewegung ,Deutsche Christen', die ihr Reichsleiter, Joachim Hossenfelder, wenige Tage vor der Veröffentlichung der Richtlinien vorgelegt hatte, fanden deshalb keine mehrheitliche Zustimmung. In ihnen hatte nicht so sehr die Kirchenreform im Vordergrund gestanden als vielmehr die „evangelische Reichskirche" als „Kirche der Deutschen Christen, d.h. der Christen arischer Rasse"201. Die Betonung des ,Rasseprinzips' innerhalb von Theologie und Kirche konnte jedoch nicht zur Basis einer kirchlichen Massenbewegung werden, als die sich die Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' verstehen wollte. Doch auch die Verständigung auf die Richtlinien vom Mai 1933 brachte die radikalen Kräfte innerhalb der Deutschen Christen nicht zum Schweigen. Im November 1933 unternahmen diese einen erneuten Versuch, ihre Gedanken zur Grundlage der Glaubensbewegung zu machen 208 . Die Rede des Gaudabei niemals die Schöpfungsgemäßheit des Volkstums und die Gottgewolltheit des Staates an." 205

Landesbischof Adalbert Paulsen an die Gemeinden der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins vom 6.10.1933, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 170. 206 Das sog. Pommersche Bekenntnis Deutscher Christen, unterschrieben u.a. von Emanuel Hirsch, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 104. 207 Grundsätze der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' vom 4.5.1933, Eingabe des Reichsleiters Hossenfelder an Präsident D. Kapler anläßlich der Verhandlungen in Loccum, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 144f. 208 Veranlaßt u.a. durch die Neutralitätserklärung der N S D A P gegenüber den Konfessionen vom 13.10.1933. Vgl. hierzu MEIER, Die Deutschen Christen, 31.

3. Der Volksbegriff im Kirchenkampf

45

obmanns der Berliner Deutschen Christen, Dr. Reinhold Krause, auf der Kundgebung der Deutschen Christen im Berliner Sportpalast verärgerte in ihrer Radikalität jedoch einen großen Teil der Anhänger. Krause hatte in seiner Rede die Identität einer gereinigten Jesuslehre mit den Forderungen des Nationalsozialismus postuliert 209 . Die nachträglich geäußerte Kritik richtete sich vor allem gegen die Zustimmung der bei der Kundgebung anwesenden Deligierten zu der Entschließung', in der die Landeskirchen zur Einführung des Arierparagraphen in der Kirche und zur Verkündigung einer „heldischen Jesus-Gestalt" aufgefordert wurden. Sie endete mit dem Bekenntnis, „daß der einzige wirkliche Gottesdienst für uns der Dienst an unseren Volksgenossen ist", und daß man sich verpflichtet fühle, „mitzubauen an einer wehrhaften und wahrhaften völkischen Kirche, in der wir die Vollendung der deutschen Reformation Martin Luthers erblicken und die allein dem Totalitätsanspruch des natsoz. Staates gerecht wird"210. Unter den Mitgliedern der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' kam es zu entrüsteten Protesten und zu Massenaustritten211. Die Veranstaltung selbst ging unter dem Begriff des ,Sportpalastskandals' in die Geschichte ein. Die Sammelbewegung, als die sich die Deutschen Christen bis dahin dargestellt hatten, fand hier ihr Ende. In ihrer weiteren Geschichte zerfiel sie in kleinere Gruppierungen, die nun auch gegenüber dem nationalsozialistischen Staat um ihr Überleben zu kämpfen hatten 212 . Zu diesem Zeitpunkt spaltete sich die Thüringer Kirchenbewegung d e u t sche Christen' (KDC) von der Dachorganisation der Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' wieder ab. Diese Gruppierung, die bereits 1927 gegründet worden war und sich 1932 der Glaubensbewegung angeschlossen hatte213, vertrat nun offensiv den radikalen Kurs der deutsch-christlichen Ideen. Ihr Ziel war die Errichtung einer deutschen ,Nationalkirche'. Mit dieser Forderung ging sie über das Bestreben der Glaubensbewegung .Deutsche Christen', eine einheitliche protestantische Reichskirche zu schaffen, weit hinaus. Denn die Basis der Nationalkirche sollte sich nicht auf die evangelische Kirche beschränken, sondern sich überkonfessionell auf das gesamte deutsche Volk erstrecken. Unter dem Motto: „Ein Volk! - Ein Gott! - Ein Reich! - Eine Kir-

209 Zur Rede Krauses und zu seiner Person s. ROHM/THIERFELDER, Juden 1, 220f. Zu den Äußerungen Krauses über das Alte Testament s. unten 63f. 210 Punkt 6 der Entschließung des Gaues Groß-Berlin der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' vom 13.11.1933, abgedruckt in: GAUGER, Chronik I, 111. 211 S. unten 64f. 212 Zur weiteren Geschichte der Deutschen Christen s. MEIER, aaO. passim. 213 Zu Geschichte und Programm der KDC vgl. SONNE, Die politische Theologie,

5 6 - 1 0 0 ; RINNEN, K i r c h e n m a n n , 7 6 f f . u n d BECKMANN, a a O . 4 6 7 ^ 1 8 8 .

46

II. Völkisches Denken

che!" 214 erhielt der Volksbegriff eine eindeutig übergeordnete Stellung über Kirche und Konfession. Siegfried Leffler, einer der Führer der Kirchenbewegung .Deutsche Christen', formulierte es 1937 folgendermaßen: „Also, wer in Deutschland Katholik, Protestant, Methodist oder sonst wer ist, seine Gemeinschaft ist und wird überhöht von der Gemeinschaft des deutschen Volkes" 215 . Das Ziel der Kirchenbewegung lag somit in der Gestaltung einer überkonfessionellen „Christusgemeinde der Deutschen" 216 . Da - ganz im Sinne der Volksnomostheologie - das göttliche Gesetz im Volksgesetz erkannt werden könne, erhielt der Dienst am Volk die Dimension eines Dienstes für Gott217. b) „ Wir verwerfen die falsche Lehre " - Proteste gegen die V'ergötzung von ,Rasse und Volkstum' Die breiten Proteste, die sich vor allem nach der Sportpalastkundgebung vom November 1933 in weiten Teilen der evangelischen Kirche gegen die Deutschen Christen erhoben, wandten sich zunächst weniger gegen die von der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' propagierte Verpflichtung der Kirche auf das deutsche Volk. Hierin fanden viele, die selbst nicht Mitglied der Deutschen Christen waren, ihre eigenen Anliegen aufgenommen. Der Protest richtete sich vielmehr gegen eine offensichtliche Vergötzung von , Rasse und Volkstum', wie sie besonders von den radikalen Kreisen innerhalb der Deutschen Christen vertreten wurde. Die Mitglieder der sich in der folgenden Zeit bildenden Bekennenden Kirche, die zunächst im Pfarrernotbund gegen die Einführung des ArierParagraphen im Raum der Kirche protestiert hatten, übten vor dem Hintergrund der ,Dialektischen Theologie' heftige Kritik an der natürlichen Theologie' der Deutschen Christen. Sie warfen diesen vor, in den natürlichen Gegebenheiten Gottes Willen wiederentdecken zu wollen 218 . So sollte das 214 Richtlinien der Kirchenbewegung Deutsche Christen (Nationalkirchliche Bewegung) in Thüringen vom 11.12.1933, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 102. 215 Siegfried Leffler, Weltkirche oder Nationalkirche? Volk - Staat - Kirche. Vortrag gehalten auf der 4. Reichstagung der Deutschen Christen, Nationalkirchliche Bewegung, in Eisenach am 9.10.1937, zitiert bei SONNE, aaO. 76. Die Überzeugung der Thüringer Kirchenbewegung, die Volksgemeinschaft sei der konfessionellen Gemeinschaft übergeordnet, verbindet sich mit dem Glauben an die göttliche Prädestination des deutschen Volkes vor allen anderen Völkern. Vgl. hierzu SONNE, aaO. 78ff. und RINNEN, aaO. bes. 169-175. 216 MEIER, Volkskirche, 52. 217

218

SONNE, a a O . 7 3 f .

Karl Barth hatte in seiner Ethik-Vorlesung von 1928/29 bzw. 1930/31 das Volkstum durchaus als vorgegebene Ordnung anerkannt. Er sprach von „der Wirklichkeit, die einfach darin besteht, daß wir nun einmal Deutsche und nicht Slawen, Romanen oder Semiten sind. Daß wir in dieser Wirklichkeit auch Gott begegnen müssen und nicht in einer anderen, daß Gott uns auch in dieser Hinsicht da finden will, wo er uns hingestellt hat, das ist die ethische

3. Der Volksbegriff

im

Kirchenkampf

47

,Betheler Bekenntnis', das im Sommer 1933 nach dem Wahlerfolg der Deutschen Christen erstellt und in überarbeiteter Fassung schließlich um die Jahreswende 1933/34 veröffentlicht worden war 219 , für „Pfarrer, Lehrer und Presbyter der Kirche" das Bekenntnis der Väter danach befragen, was es ihnen in der Gegenwart zu sagen habe. In diesem Sinne stellten die Verfasser bekenntnisartige Sätze zusammen, die als Grundlage der kirchlichen Verkündigung dienen sollten. Gleichzeitig verwahrten sich die Autoren gegen Irrlehren, wie sie im Raum der Evangelischen Kirche im nationalsozialistischen Deutschland Fuß gefaßt hätten. Ausdrücklich wandten sie sich so gegen die von den Deutschen Christen vertretene Ausweitung der Ordnungstheologie auf die Rasse: „Die Rasse gehört nicht wie die Ehe oder die Obrigkeit oder das Volk zu den dem Menschen durch Gottes Gebot aufgetragenen Lebensordnungen" 220 . Einer Gleichsetzung von Volksgesetz und Gottesgesetz wurde entschieden widersprochen: „Wir verwerfen die Irrlehre, daß die Ordnungen in den Nö|om der Völker mit dem Gesetz Gottes eins seien." Eine solche Gleichsetzung gelte nur für Israel und das im Alten Testament aufgezeichnete Gottesgesetz. Ebenso sei die Kirche nicht an ein bestimmtes Volk gebunden und damit auch nicht als „die religiöse Organisation eines Volkes" anzusehen, die „das Volkstum religös zu unterbauen habe" 221 . Vielmehr müsse sich die Kirche mit ihrem Auftrag, das Evangelium zu verkünden, an alle Völker richten222. Auch die erste These der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934, mit der sich die Bekennende Kirche auf eine gemeinsame Grundlage stellte, richtete sich explizit gegen eine von den Deutschen Christen vertretene Theologie der Schöpfungsordnungen: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben

Relevanz des Volkstums" (BARTH, Ethik I, 327). Schon damals j e d o c h verwehrte sich Barth gegen eine Vergötzung des Volkstums als Letztinstanz (aaO. 329). Nach BRAUN (Vorwort zur Ethik I, VII) hatte Barth den Druck der Ethikvorlesung zu seinen Lebzeiten abgelehnt, da er „in ihr noch als A n w a l t der später von ihm leidenschaftlich abgelehnten Lehre von den Schöpfungsordnungen erscheint". Der Hinweis zu Barths Verurteilung einer Vergötzung des Volkstums findet sich bei TÖDT, Karl Barth, 545. Tödt gibt den entsprechenden Paragraphen, in d e m Barth die Kritik übe, mit § 7,3 der Ethik an. Die von mir zitierten Stellen finden sich jedoch in § 8,2. 219 Zur Entstehungsgeschichte des Betheler Bekenntnisses vgl. VAN DER KOOI (Hg.), Das Betheler Bekenntnis. S. auch unten 207 mit Anm. 70. 220

Betheler Bekenntnis, VI.3., abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 119. Dennoch wird die Rasse aber zu den ,Ordnungen der Natur' gezählt (ebd.). 221 Betheler Bekenntnis VII. 1. Pkt.lOf.; abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 123. 222 Betheler Bekenntnis, VII.3; abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 125.

48

II. Völkisches Denken

diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen." 223 Der Volksbegriff, der durch die geschichtliche Entwicklung in Deutschland schließlich zum zentralen Thema in Politik und Theologie erhoben worden war, bestimmte so auch die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche in der Zeit des Kirchenkampfs.

4. Zusammenfassung: Die Volksnomostheologie als Grundlage einer religiös-politischen Bewegung Die Theologinnen und Theologen der Dialektischen Theologie und der Bekennenden Kirche lehnten eine Ordnungstheologie nicht grundsätzlich ab. Auch ihnen galten „die Ordnungen der Ehe, der Familie, des Volkes, des Eigentums (Arbeit, Wirtschaft), des Berufes, der Obrigkeit" 224 als Bereiche, die Gott zur Ermöglichung des irdischen Lebens eingesetzt hat. Mit diesen ,Erhaltungsordnungen' sollte die Menschheit nach dem Sündenfall bewahrt werden. Aber sie wehrten sich gegen die Vergötzung einzelner Ordnungen, wie sie die Deutschen Christen gerade mit dem Begriff des Volkes als göttlich bestimmter Schöpfungsordnung propagierten225. Die Deutschen Christen leisteten mit ihrer Vergöttlichung des Volkes einer vollständigen Auslieferung von Theologie und Kirche an die Nationalsozialisten Vorschub. Im Nationalsozialismus sah man diejenige Bewegung und Macht, die das deutsche Volk zu seiner ursprünglichen und religiösen Bestimmung zurückführen werde. In der Hoffnung auf ein christliches deutsches Volk und auf eine christlich geprägte Gesellschaft in Deutschland unterstützen die Deutschen Christen die Nationalsozialisten, ihren Führer und den totalitären Staat. Die Grundlage für diese Entwicklung hatten diejenigen Theologen geschaffen, die mit der ,Volksnomostheologie' bzw. der politischen Theologie' das entscheidende theologische Argument für alle lieferten, „die auf den Einsatz der Kirche für die deutsche Freiheitsbewegung drängten oder zumindest 223

Barmer Theologische Erklärung (BThE) 1, abgedruckt in: KRUMWIEDE u.a., aaO. 30f. Vgl. hierzu wiederum die Antwort auf die BThE im .Ansbacher Ratschlag' (abgedruckt bei SCHMIDT, Bekenntnisse 1934, 103), in dem die Unterzeichnenden betonten, daß das Gesetz „jeden an den Stand, in den er von Gott berufen ist, (bindet und uns verpflichtet) auf die natürlichen Ordnungen, denen wir unterworfen sind, wie Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutzusammenhang). Und zwar sind wir einer bestimmten Familie, einem bestimmten Volk und einer bestimmten Rasse zugeordnet." 224 Betheler Bekenntnis, VI.3, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1933, 119. 225 Gerade das Betheler Bekenntnis betont aber, daß diese ,Erhaltungsordungen' keinen endgültigen Wert besitzen, sondern „von Christus und von Seiner Zukunft her aufgehoben und überwunden" sind.

4.

Zusammenfassung

49

wohlwollende Neutralität forderten" 226 . Sie griffen die in der Romantik formulierte und in der Zeit der napoleonischen Bedrängnis stark politisierte Volkslehre auf, die sich von einem geistigen Volksbegriff bereits zu einem politisch-religiösen Ideologumenon entwickelt hatte. Mit diesen Entwürfen einer völkischen Theologie wurde der Zustimmung zum Nationalsozialismus der Boden bereitet. Das Programm der Deutschen Christen kann somit nicht allein als Antwort auf die erstarkende Bewegung des Nationalsozialismus angesehen werden227. Denn schon zuvor hatten Theologen ihre religiöse Lehre des Volkes formuliert. Mit der Bewegung der Deutschen Christen überschritt die Volksnomostheologie jedoch die Grenze einer theologischen Diskussion, die unter einzelnen Wissenschaftlern geführt wurde. Sie bildete jetzt die Grundlage einer religiös-politischen Bewegung innerhalb der Kirche.

226 227

SCHOLDER, aaO. 172.

W i e z.B. MEIER (Art. Deutsche Christen, 552) m.E. zu einseitig formuliert: „Die Deutschen Christen (...), die ihre Entstehung dem Aufstieg des Nationalsozialismus verdankt e ^ ) " . Für SCHOLDER (aaO. 264) stellen die Richtlinien der Deutschen Christen von 1932 „mehr ein(en) völkische(n) Appell als ein kirchenpolitisch oder gar theologisch durchdachtes P r o g r a m m " dar. Sie seien j e d o c h ohne die politische Theologie der Zeit nicht zu verstehen. Den Punkt 4 der Richtlinien interpretiert Scholder als „eine eindeutig völkische Auslegung des .positiven Christentums' des Parteiprogramms (sc. der N S D A P ) " (aaO. 263).

III. Der Streit um das Alte Testament ,Völkische Frage' und Exegese des Alten Testaments „Wir verwerfen das Alte Testament nicht, aber wir fordern, daß die Verkündigung der Kirche seinen vorchristlichen Charakter nicht verhüllt" 1 . Mit diesem Bekenntnissatz versuchten die Deutschen Christen in Mecklenburg 1933 ihr Verhältnis zu den Schriften des Alten Testaments zu definieren. Sie bemühten sich, einen Weg zwischen einseitiger Ablehnung und traditioneller Verbundenheit zu finden. In der grundsätzlichen Anerkennung der alttestamentlichen Schriften als Teil des christlichen Kanons und der gleichzeitigen Degradierung des Alten gegenüber dem Neuen hofften sie, ihrer kirchenpolitischen Annäherung an die völkische Bewegung gerecht werden zu können. Johannes Hempel schrieb in dieser Zeit von der „Unterchristlichkeit" der alttestamentlichen Schriften 2 . Zudem äußerte er Verständnis für diejenigen, die vom Alten Testament als dem „antisemitischsten Buch der Weltliteratur" 3 sprachen. Wenn Hempel, der sein Lebenswerk der Erforschung der alttestamentlichen Schriften gewidmet hatte, solche Formulierungen fand, so entsprach dies der schwierigen Situation der alttestamentlichen Wissenschaft in jener Zeit.

1. Der , Streit um das Alte Testament' In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die alttestamentliche Wissenschaft mit massiver Polemik gegen den Gegenstand ihrer Wissenschaft konfrontiert. Der ,Streit um das Alte Testament' widmete sich jedoch nicht nur den aktuellen Vorwürfen von seiten der völkischen Bewegung. Er war auch Folge einer langen Geschichte christlichen Ringens um einen angemessenen Zugang zu den alttestamentlichen Texten. a) Der Streit um die Kanonizität des Alten Testaments Der grundlegende Charakter, den die Hebräische Bibel als Heilige Schrift des Judentums im Urchristentum selbstverständlich innegehabt hatte, wurde ihr innerhalb der christlichen Kirchengeschichte bald abgesprochen. Bereits im 2. Jahrhundert bestritt Marcion den alttestamentlichen Schriften eine theologi1

Grundsätze und Ziele für die Arbeit der Glaubensbewegung „Deutsche Christen" in Mecklenburg, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1933, 152. 2 3

HEMPEL, Gegenwartsaufgaben, 36f. HEMPEL, Altes Testament und völkische Frage, 13.

1. Der,Streit

um das Alte

Testament'

51

sehe Bedeutung für die christliche Kirche. Sein dualistisches Weltbild ließ dem Alten Testament, das nach seinen Worten allein von dem Schöpfer- und Rachegott berichte, keinen Raum im Christentum. Denn dieses sollte allein vom Glauben an den neutestamentlichen Gott der Liebe getragen werden. Auf Marcions Anfeindungen reagierte die Alte Kirche mit ihrem Bekenntnis zum christlichen Kanon, der Altes und Neues Testament umfasst 4 . Doch auch nach der Einigung auf einen verbindlichen Kanon aus Hebräischer Bibel und Neuem Testament 5 blieben die Fragen nach der Gewichtung des alttestamentlichen Teils der Heiligen Schriften virulent. Nun ging es darum, eine theologische Position gegenüber beiden Teilen des christlichen Kanons zu finden, die Spannung zwischen alt- und neutestamentlichen Schriften theologisch zu reflektieren und für den eigenen Glauben fruchtbar zu machen. Der Streit entzündete sich um die Frage, ob das Alte Testament innerhalb des Christentums beibehalten werden solle, und er spiegelt wider, wie im Laufe der gesamten Kirchengeschichte um die christliche Wertung der alttestamentlichen Schriften gerungen wurde. Denn immer wieder griffen die an dem ,Streit' Beteiligten auf die Aussagen der theologischen Vorväter zurück, um eigene Positionen zu autorisieren. So wird in vielen Schriften Luther als Kronzeuge aufgerufen, um einerseits eine grundsätzliche Verbundenheit des Protestantismus mit dem Alten Testament zu begründen und andererseits eine kritische Stellung gegenüber einzelnen alttestamentlichen Schriften und Erzählungen zu rechtfertigen 6 . Luther hatte die Hebräische Bibel als elementaren Bestandteil des christlichen Kanons gewürdigt und wies dabei auf die alttestamentlichen Glaubensexempel und das natürlichen Gesetz hin. Das jüdische Zeremonialgesetz galt ihm jedoch als abgetan 7 . Maßstab für die Beurteilung der alt- und neutestamentlichen Schriften sollte sein, „ob sie Christum treiben oder nicht" 8 . Auch im alttestamentlichen Teil des Kanons fand Luther

4

Zu Marcion s. VON HARNACK, Marcion; B. ALAND, Marcion; DIES., Art. Marcion.

5

Zur Kanonbildung innerhalb der katholischen Kirche, die sich auf den ,Septuagintakanon' bezieht und damit die zwischentestamentarischen Schriften miteinbezieht, s. ZENGER, Einleitung, 28f. (hier auch weitere Literatur zur Kanonfrage). 6 Zu Luthers umstrittener Stellung zu den alttestamentlichen Schriften vgl. BORNKAMM, Luther; BOENDERMAKER, Martin Luther. 7 LUTHER unterscheidet bei den alttestamentlichen Gesetzen zwischen dem, was dem natürlichen Gesetz gleicht und somit auch den Heiden ins Herz geschrieben ist, und dem Teil des Gesetzes Mose, das allein die Juden angehe und nicht allen Menschen von Natur aus eingepflanzt sei. Diesem müssten sich die Heiden nicht verpflichtet fühlen (DERS., Eine Unterrichtung, 6), vielmehr stelle es „der Juden Sachsenspiegel" dar (der Begriff von Mose als „der Juden Sachsenspiegel" fällt in aaO. 378, und DERS., Wider die himmlischen Propheten, 81). Luther vergleicht damit das mosaische Gesetz mit dem bedeutenden deutschen Rechtsbuch aus dem 13. Jh.). 8 LUTHER, Vorrede auf die Episteln Sanct Jacobi und Judas, 384: „Auch ist das der rechte Prüfstein alle Bücher zu taddeln, wenn man sihet, ob sie Christum treiben oder nicht".

52

III. ,Völkische Frage' undalttestamentliche

Exegese

Texte, die diese Voraussetzung erfüllten 9 . Seine Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium trennt deshalb nicht Altes und Neues Testament. Vielmehr ist die Differenzierung im Alten Testament selbst zu verankern, da in ihm beides enthalten sei: Gesetz und Evangelium. In der Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dieser Aspekt oft vergessen und Luther einseitig als Ankläger der alttestamentlichen Schriften herangezogen 10 . Auch Schleiermacher, für den die Weiterentwicklung der Geschichte auch zu einer Überwindung des Alten Testaments durch das Neue geführt hatte", wurde in der Diskussion zitiert. Schleiermacher bestritt die Existenz einer besonderen Beziehung des Christentums zum Judentum und damit auch zum Alten Testament: „Mein Glaubensbekenntnis ist, Daß das Christentum mit Christo anfängt; keine Fortsetzung des Judenthums, kein gleichstehendes mit heidnischen Anfängen" 12 . Der Christ als „neuer Mensch" 13 habe keinen Bezug mehr zur jüdischen Volksreligion. Die Verbindung bestehe allein über die Verwendung alttestamentlicher Texte im Neuen. Er forderte deshalb nicht, das Alte Testament aus dem christlichen Kanon zu entfernen. Er schlug aber vor, es dem Neuen lediglich als Anhang beizugeben14. Obwohl in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder auf Argumente aus den theologischen Auseinandersetzungen der Kirchengeschichte zurückgegriffen wurde, stellte sich die Situation in den Streitigkeiten der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg neu dar. Auf der einen Seite gewannen die antisemitischen Tendenzen innerhalb der deutschen Bevölkerung immer größeren Einfluß und mit ihnen auch die Polemik gegen das Alte Testament als die Heilige Schrift des Judentums 15 . Auf der anderen Seite hatte der For9 S. hierzu Luthers berühmtes Bild, mit dem er in seiner Vorrede zum Alten Testament das Christuszeugnis der alttestamentlichen Schriften beschreibt (LUTHER, Vorrede auf das Alte Testament, 13) : „Hie wirstu die Windeln und die Krippen finden, da Christus innen liegt, dahin auch der Engel die Hirten weiset. Schlechte und geringe Windeln sind es, aber teuer ist der Schatz Christus, der drinnen liegt." 10 11

S. unten 83. Zu Schleiermachers Stellung zum Alten Testament vgl. SCHÜTTE, Christlicher Glaube;

PREUSS, V o m V e r l u s t ( m i t w e i t e r e n L i t e r a t u r h i n w e i s e n ) ; SMEND, D i e Kritik; DERS., S c h l e i e r -

machers Kritik; STEVE, Das Alte Testament. 12

SCHLEIERMACHER, A p h o r i s m e n , 6 6 3 .

13

SCHLEIERMACHER, D e r c h r i s t l i c h e G l a u b e § 1 2 , 1 6 1 .

14

SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube §132, 47. SMEND (Die Kritik, 106f.) weist darauf hin, daß Schleiermacher nur in Ausnahmefallen über alttestamentliche Texte gepredigt hat und sich in seinen exegetischen Vorlesungen und Veröffentlichungen zu biblischen Fragen auf das Neue Testament beschränkte. PREUSS (aaO. 136) stellt fest, daß Schleiermacher alttestamentliche Texte hauptsächlich zu bürgerlichen und völkischen Anlässen als Predigttexte verwendete. Schleiermacher legte allerdings auch zu solchen Gelegenheiten keine geschichtlichen Erzähltexte und keine typisch prophetischen Worte aus (aaO. 134). 15 Sicherlich wurden die Angriffe gegen das Alte Testament nicht nur aus antisemitischen Gründen, d.h. also aus Feindschaft gegenüber der .jüdischen Rasse" erhoben, sondern auch

1. Der,Streit

um das Alte Testament'

53

schungsstreit im 19. Jahrhundert, der unter dem Schlagwort ,Babel-BibelStreit' zusammengefaßt wird, die alttestamentliche Wissenschaft nachhaltig verunsichert: Die Archäologie, die ihre Arbeit verstärkt im Vorderen Orient aufgenommen hatte, brachte Funde zutage, die eine Einbindung des biblischen Israels in die gesamte Kulturgeschichte des Vorderen Orients belegten. Das grundsätzlich Neue und Einmalige, wie es nach der biblischen Schilderung mit dem Volk Israel und seiner Gottesverehrung verbunden war, mußte sich parallelen Erscheinungen und Vorstadien in anderen Religionen stellen. Israel zeigte sich als „Spätling unter den Völkern" 16 . Das Alte Testament wurde nun als schriftlicher Niederschlag einer Religion unter anderen vorderorientalischen Religionen gesehen, die Erforschung der alttestamentlichen Texte geschah weithin mit Methoden, die nicht der Theologie, sondern der allgemeinen Religionswissenschaft entnommen waren. Als schließlich der Assyriologe Friedrich Delitzsch 1902 in seinem Vortrag Babel und Bibel vor der Deutschen Orient-Gesellschaft die These von der Überlegenheit der älteren babylonischen Kultur über die israelitische aufstellte 17 , schien der christlichen Theologie jegliche Begründung für eine Bindung an das Alte Testament genommen zu sein. Das Alte Testament, das sich in weiten Teilen in die allgemeine Vorstellungswelt des Alten Orients eingliedere, so Delitzsch, sei für Christen nicht verbindlicher als babylonische Texte 18 . In diesem Sinne formulierte der Dogmatiker Adolf von Harnack im Rückgriff auf Marcion: „Das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung" 19 . Von Harnack forderte, hier spielte die gesamte christliche Tradition mit ihrer oft antijudaistisch geprägten Stellung gegenüber dem jüdischen Volk und der jüdischen Religion eine tragende Rolle. Zur Unterscheidung der Begriffe .Antijudaismus' und .Antisemitismus' vgl. SMID, Deutscher Protestantismus, 204-207; Chr. HOFFMANN, Christlicher Antijudaismus, 294. Gerade hinsichtlich des .Streites um das Alte Testament' läßt sich jedoch erkennen, wie wenig die Begriffe eindeutig zu trennen sind. Vielmehr vermischen sich gerade in bezug auf das Alte Testament oft politisch-,rassische' und religiös-antijudaistische Beweggründe, mit denen seine Ablehnung begründet wurde. 16

So BAUMGARTNER, Wellhausen, 290. S. hierzu R. LEHMANN, Friedrich Delitzsch, 80ff.; JOHANNING, Der Bibel-Babel-Streit. 18 ROGERSON, Art. Bibelwissenschaft 1/2, 359. Zu den unterschiedlichen Reaktionen auf die Vorträge Delitzsch's von konservativen, liberalen bzw. jüdischen Wissenschaftlern und über die tiefe Verunsicherung, die seine Thesen v.a. innerhalb der christlichen Gemeinden hervorriefen, s. JOHANNING, aaO. passim. 19 VON HARNACK, aaO. 217 (im Original gesperrt gedruckt). Von Harnack will „das AT zwar an die Spitze der Bücher (...) stellen, ,die gut und nützlich zu lesen sind' und die Kenntnis der wirklich erbaulichen Abschnitte in Kraft (...) halten, aber den Gemeinden keine Zweifel darüber (...) lassen, daß das AT kein kanonisches Buch ist" (aaO. 220). Die kanoni17

54

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche Exegese

endlich die Konsequenz zu ziehen und das Alte Testament aus dem christlichen Kanon zu entfernen. Die alttestamentliche Wissenschaft schien diesen Angriffen nur standhalten zu können, indem sie ihre eigene Arbeit weitgehend in die religionsgeschichtliche Forschung eingliederte und das Alte Testament so nahezu auf einen Forschungsgegenstand der Altorientalistik reduzierte20. Im Ersten Weltkrieg griff man jedoch erneut auf Theologie und Bibel und im besonderen auf die alttestamentlichen Texte zurück. Die Kriegspredigten, die überall im Land und an der Front von protestantischen Pfarrern gehalten wurden, bezogen sich immer wieder auf das Alte Testament. Seine Erzählungen boten nun den Hintergrund, das aktuelle Geschehen zu deuten, den deutschen Soldaten ihre Aufgabe im Kriegsgeschehen theologisch zu begründen und ihnen für ihren Kampf um Deutschland Gottes Segen zuzusprechen 21 : „Die alttestamentlichen Situationen - das Volk Israel, im Kampf gegen übermächtige Feinde auf Gott vertrauend; der Fromme, Gottes Schutz gegen ungerechte Bedrängung erflehend - waren der Lage, in der das deutsche Volk, der deutsche Christ im Kriege war, oft überraschend ähnlich"22. Mit dem Alten Testament berief man sich auf die Tradition des ,Heiligen Krieges' 23 und untermauerte den eigenen Nationalismus mit der alttestamentlichen Verbindung von Gott und Volk 24 . sehe Autorität soll dem Alten Testament gänzlich abgesprochen werden, da sich aus ihm nicht erkennen lasse, was christlich ist (aaO. 223). Zu von Harnacks Position s. auch REYMOND, Die Konzepte, 133-135. 20 Für die Ende des 19. Jh.s entstandene und sich v.a. in der Person Gunkels mit den Thesen Delitzschs auseinandersetzende (s. hierzu JOHANNING, aaO. 174-184) ,religionsgeschichtliche Schule' bedeutete die Beschäftigung mit der altorientalischen Umwelt jedoch zugleich immer auch die Suche nach der .Eigentümlichkeit' der israelitischen Religion. Zur .religionsgeschichtlichen Schule' s. RUDOLPH, Art. Religionsgeschichtliche Schule; LÜDEMANN, Die religionsgeschichtliche Schule; DERS. (Hg.), Die „Religionsgeschichtliche Schule". 21 Vgl. hierzu PRESSEL, Die Kriegspredigt. PRESSEL (aaO. 40) zitiert hier z.B. den freien Evangelisten Samuel Keller: „Wie kam jetzt zuerst das vielgeschmähte Alte Testament wieder zu Ehren! Die meisten Texte der von Millionen besuchten Kriegsgottesdienste waren ganz selbstverständlich aus dem Alten Testament!" SCHIAN (Die Arbeit der evangelischen Kirche im Felde, 229) berichtet, daß v.a. Texte aus den Psalmen gepredigt wurden. Vgl. hierzu die Schilderung von HIRSCH (Das Alte Testament, 41f.), in der er beschreibt, wie eine Soldatenmutter auf eine Lesung von Ps 91 reagierte. SCHIAN (ebd.) stellt die häufige Verwendung alttestamentlicher Texte für Kriegspredigten v.a. zu Beginn des Kriegs fest. 22 SCHIAN, Die Arbeit der evangelischen Kirche in der Heimat, 133. 23 Vgl. hierzu NOWAK, Evangelische Kirche, 53. Auch Schleiermacher bezeichnete den Krieg 1813 bereits als „heiligen Krieg" (Predigt vom 28.3.1813), s. hierzu PREUSS, aaO. 140.142. 24 Vgl. hierzu HUBER, Evangelische Theologie, 140. Der Kieler Professor für Praktische Theologie, Otto Baumgarten, warnte jedoch vor einer naiven Verwendung alttestamentlicher Texte und alttestamentlicher Bilder für die Kriegspredigten. Vgl. hierzu VON BASSI, Otto Baumgarten, 290f.

1. Der .Streit um das Alte Testament'

55

Die Niederlage Deutschlands im Jahre 1918 mußte zu einer grundsätzlichen Erschütterung einer solchen kriegsverherrlichenden Theologie führen. Hatte man in der Kriegszeit Gott für den eigenen Nationalismus beschworen („Gott mit uns" 25 ) und seine Bindung an und sein Gehen mit dem deutschen Volk anhand der alttestamentlichen Bilder des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel illustriert, so stürzte die militärische Niederlage die Menschen in Deutschland moralisch und religiös in eine tiefe Krise. Pfarrer in den Gemeinden wie auch Theologen an den Universitäten sahen sich vor die Aufgabe gestellt, theologische Grundanliegen neu zu durchdenken 26 . Auch die alttestamentliche Wissenschaft bemühte sich nun um eine theologische Begründung ihrer Arbeit. Ihre Forschung konnte nicht mehr allein dem Erkenntnisfortschritt der Religionswissenschaft dienen, sondern war auf die Fragen innerhalb der christlichen Kirche zu beziehen. So begann eine erneute Reflexion über die theologische Bedeutung des Alten Testaments. b) Religionsgeschichte

Israels oder alttestamentliche

Theologie

Im Jahre 1921 erschien in der ZAW ein Vortrag Rudolf Kittels, den dieser unter dem programmatischen Titel Die Zukunft der alttestamentlichen Wissenschaft im Rahmen des Leipziger Orientalistentags gehalten hatte. Kittel forderte, die isolierte, allein auf schriftlichen Quellen basierende Erforschung Israels, wie sie seit Wellhausen gepflegt werde, zu durchbrechen: „Das verflossene Zeitalter ist das der Literarkritik" 27 . Statt dessen sei im Vergleich zu anderen Religionen nach dem „spezifisch religiösen Gut"n in der Religion Israels zu fragen. Die Religionswissenschaft erschöpfe sich nicht in der Darstellung der israelitischen Religion, sondern ihr Ziel richte sich darauf, „letztlich das Geheimnis ihrer Gotteskraft ergründen (zu) wollen" 29 . Damit aber werde die alttestamentliche Religionsgeschichte ganz von selbst zu einer theologischen Disziplin. Kittel hoffte, so den Stimmen, die „das alttestamentliche Studium als für den Theologen minder bedeutsam" 30 behandeln wollten, begegnen zu können. Aus den Worten Kittels wird die Neuorientierung deutlich, die sich innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft nach dem Ende des Ersten Welt25

Zur sog. ,Koppelschloßtheologie' (H. H. Eßer) s. D. BRAUN, Gott, 254. Die ,Theologie der Krisis' ist ein Beispiel hierfür. S. oben 33. 27 R. KITTEL, Die Zukunft, 91. Zu Kittels Vortrag vgl. MARTI, Die Tagung, 110-112. 28 R. KITTEL, aaO. 95. Hiermit definierte Kittel auch die Aufgabe der religionsgeschichtlichen Forschung neu. Ziel könne es nicht mehr sein, durch das Suchen nach Analogien Israel im Alten Orient aufzulösen (aaO. 98), sondern im Vergleich zu den anderen Religionen zeige sich gerade, daß die israelitische Religion „an der Spitze aller alten Religionen stehe" (aaO. 96). Zur Entwicklung der .Religionsgeschichte Israels' vgl. den Forschungsabriß bei ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels I, 20-32. 26

29

R. KITTEL, aaO. 96.

30

R. KITTEL, aaO. 97.99.

56

III. ,Völkische Frage ' und alttestamentliche

Exegese

kriegs vollzog31. Die ausschließlich literarkritische und historische Betrachtung der alttestamentlichen Texte, wie sie bis dahin den Methodenkanon bestimmt hatte, offenbarte ihr Dilemma hinsichtlich des fehlenden Bezugs zur christlichen Theologie. Die Spannungen innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft, die sich in der Frage nach dem eigenen Selbstverständnis als altorientalische Religionswissenschaft bzw. nach dem theologischen Verständnis der Arbeit an den biblischen Texten zeigten, waren bereits Ende des 19. Jahrhunderts aufgebrochen und hatten zu einer tiefen Verunsicherung geführt. Die Alttestamentler konnten den Angriffen, die in den darauffolgenden Jahrzehnten gegen das Alte Testament geführt wurden, keinen eigenen, dezidiert theologischen Standpunkt entgegenhalten. Auf das literarkritische Zeitalter, dessen Methode im Leerlauf zu enden drohte 32 , war nach den Worten Greßmanns „das vorderorientalische Zeitalter gefolgt" 33 . Man suchte in einem neuen Ansatz, das Alte Testament vor dem Hintergrund seiner vorderorientalischen Umwelt zu verstehen. Die einseitige Hinwendung zur Religionsgeschichte gipfelte jedoch bald, wie beschrieben, in der These von der Überlegenheit der älteren babylonischen Kultur über die israelitische34. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, erschüttert durch die Kriegsereignisse und verunsichert durch die Angriffe gegen das Alte Testament, wandte man sich erneut der theologischen Aufgabe einer alttestamentlichen Wissenschaft zu. Jetzt bemühte man sich um einen neuen Standpunkt, der das eigene Fach als integralen Bestandteil der Theologie erweisen sollte. Es bestand die Hoffnung, auf diese Weise den Angriffen gegen die Kanonizität des Alten Testaments überzeugend begegnen zu können. Otto Eißfeldt benannte 1926 in einem Aufsatz zum Thema Israelitischjüdische Religionsgeschichte und alttestamentliche Theologie die Spannung innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft als die Spannung zwischen „Geschichte und Offenbarung" 35 . Dabei zeichne sich die religionswissenschaftliche bzw. historische Methode dadurch aus, daß sie mit den gleichen Mitteln die Religion des Alten Testaments bearbeite wie die gängige Geschichtswissenschaft. Die theologische Sicht gehe dagegen davon aus, daß das eigentliche Wesen der alttestamentlichen Religion nicht durch die üblichen 31 Vgl. hierzu SCHROVEN, Theologie. Sie untersucht in ihrer Dissertation insbesondere die alttestamentliche Wissenschaft in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. 32 Ausdruck bei S MEND, Über die Epochen, 24. 33 GRESSMANN, Die Aufgaben der alttestamentlichen Forschung, 8f. Greßmann bezeichnet die Literarkritik als „nur vorbereitende Hilfswissenschaft" (aaO. 4). Ziel müsse jedoch ein geschichtliches Verständnis des Alten Testaments sein (aaO. 1), ein Verständnis des Alten Testaments von innen heraus (aaO. 17). 34 35

Vgl. hierzu SMEND, aaO. 25.

EISSFELDT, Israelitisch-jüdische Religionsgeschichte, 1. Zum Thema vgl. auch schon STEUERNAGEL, Alttestamentliche Theologie.

1. Der,Streit

um das Alte

Testament'

57

historischen Forschungsmethoden zu erfassen sei. Vielmehr erschließe sich ihr Offenbarungscharakter nur aus dem Glauben 36 . Damit aber komme der alttestamentlichen Theologie die Aufgabe zu, das darzustellen, „was dem Glauben am AT als Gottes Offenbarung aufgegangen ist"37. Eißfeldt fordert, beide Betrachtungsweisen anzuerkennen, nicht aber zu vermischen. Die Religionsgeschichte sei als historische Wissenschaft zu verstehen, welche die alttestamentliche Religion in ihrer Geschichte untersuche. Damit könne sie dem Glauben wohl große Dienste erweisen, indem sie z.B. das, was im Laufe der israelitischen Geschichte selbst überwunden werde, etwa die Bindung Gottes an die eine Nation, als ,unterchristlich' und nicht sittlich erweise 38 . Die Frage nach der Wahrheit aber könne die Religionswissenschaft nicht beantworten. Hier sei der Theologe gefragt, der von seinem eigenen christlichen Glauben aus das darstelle, was seiner Religionsgemeinschaft im Alten Testament zur Offenbarung geworden ist39. Wenige Jahre später führte Walter Eichrodt die Thesen Kittels und Eißfeldts mit einem Referat auf dem Fünften Orientalistentag 40 fort. Er wandte sich vehement gegen die von Eißfeldt geforderte Aufspaltung von historischer und theologischer Fragestellung. Statt dessen solle der historischen Erforschung der alttestamentlichen Schriften ihr Recht zurückgeben werden. Gerade das Anliegen, das „Wesen der ATlichen Religion" 41 auszumachen, „das, was das AT eigentlich meint" 42 , müsse Aufgabe der historischen Erforschung sein. Die damit gegebene systematische Betrachtung sei durchaus in die historische einzuschließen 43 . Für Eichrodt stand fest, daß auch jede Geschichtswissenschaft ein subjektives Moment in sich berge. So könne es eine „von subjektiven Voraussetzungen unabhängige israelitische Religionsgeschichte überhaupt nicht" geben, denn auch ihr Zielbegriff liege in der Offenbarung Christi. Insofern sei die strikte Gegenüberstellung von „Historie und intuitiver 36 EISSFELDT (aaO. 3f.) nennt als Vertreter dieser Forderung die dialektischen und die konservativen Theologen, die durch eine pneumatische Exegese die alttestamentlichen Texte von innen bzw. aus dem Glauben heraus verstehen wollen. Vgl. hierzu auch CHILDS, Old Testament, bes. 234-240. 37 EISSFELDT, aaO. 2. 38 EISSFELDT, aaO. 8. Eißfeldt nennt hier als Beispiele „Jakobs verschlagene(s) und betrügerische(s) Verhalten gegen Esau und Laban" und die Rückführung der „rücksichtslose(n) und grausame(n) Ausrottung der Kanaaniter auf Jahwes Befehl". Da diese Religionsform bereits im Laufe der israelitischen Religionsgeschichte selbst überwunden werde, befreie „das historische Erkennen den christlichen Glauben von unterchristlichen Religionsformen des AT" (ebd.). 39

EISSFELDT, aaO. lOf.

40

Der Fünfte Orientalistentag fand 1928 in Bonn statt.

41

EICHRODT, Hat die alttestamentliche Theologie, 83.

42

EICHRODT, a a O . 8 5 .

43

EICHRODT, a a O . 8 6 .

58

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

Glaubenserkenntnis" 44 aufzugeben und statt dessen anzuerkennen, daß beide sich gegenseitig ergänzten. Die alttestamentliche Theologie bedürfe der historischen Arbeit, um die innere Struktur der israelitischen Religion und ihre Eigenart gegenüber ihrer religiösen Umwelt überhaupt erkennen zu können. Die so von dem alttestamentlichen Forscher „aufgezeigten Beziehungen zwischen Gott und Mensch im AT im System des christlichen Glaubens als normative Erkenntnis zu verwerten" 45 , sei jedoch dann nicht mehr Aufgabe des Alttestamentlers, sondern die des Dogmatikers. Im Vorspann zu seiner 1933 erschienenen Theologie des Alten Testaments spricht Eichrodt von einem doppelten Gesicht der alttestamentlichen Theologie. Das eine wende sich der allgemeinen Religionsgeschichte zu, das andere aber dem Neuen Testament 46 . Weiterhin betont er die Notwendigkeit einer historischen Erforschung der alttestamentlichen Texte, um die Eigenart und die Entwicklung der israelitischen Religion nachvollziehen zu können 47 . Jedoch stehe alle historische Arbeit unter der Erkenntnis, daß die „alttestamentliche Religion bei aller unverwischbaren Eigenart in ihrem eigentlichen Wesen nur von der Vollendung aus begriffen wird, die sie in Christus gefunden hat" 48 . Historische und theologische Arbeit seien aber nicht zu trennen. Die letzten Gründe müßten jedoch der Theologie überlassen werden, die in ihrem Zugang allerdings auf die historische Betrachtung angewiesen sei. Auch auf dem von Johannes Hempel vorbereiteten und durchgeführten Altestamentlerkongreß im Jahre 1935 in Göttingen49 wurde die Spannung, in der die alttestamentliche Wissenschaft zwischen ihrer Bindung an die Religionsgeschichte einerseits und derjenigen an die (christliche) Theologie andererseits stand, immer wieder thematisiert: So betonte Eißfeldt in seinem Tagungsbeitrag die Notwendigkeit historischer Erforschung der alttestamentlichen Texte: „Die theologische Aufgabe des heutigen Alttestamentiers setzt eine allseitige und gründliche historische Erfassung des Alten Testaments voraus" 50 . Sein Anliegen richtete sich hier jedoch nicht auf die Legitimierung historischer Forschung innerhalb der 44

EICHRODT, a a O . 8 8 .

45

EICHRODT, a a O . 9 0 .

46

EICHRODT, T h e o l o g i e d e s A l t e n T e s t a m e n t s ( B d . 1: 1 9 3 3 / 3 1 9 4 8 ; B d . 2: 1 9 3 9 / 2 1 9 4 8 ) .

47

Aber, so EICHRODT (Theologie I, 1), die historische Forschung könne zwar die Bindung des Alten an das Neue Testament historisch begründen, der letzte Zusammenhang jedoch, der in dem „Einbruch und (der) Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes in dieser Welt, die die beiden äußerlich so verschiedenen Welten des Alten und des Neuen Testaments unlösbar zusammenschließt", sei mit einer historischen Untersuchung nicht zu ergründen. 48

EICHRODT, a a O . 2 .

49

Zu der Alttestamentlertagung s. unten 107-109.

50 EISSFELDT, Altertumskunde, 156. Als Aufgabe nennt Eißfeldt wiederum, die gegenwärtige Religion von dem Baiast zu befreien, die das religiöse und sittliche Empfinden der Gegenwart an der Heiligkeit des Alten Testaments zweifeln ließen (ebd.).

1. Der,Streit um das Alte Testament'

59

Theologie, wie er sie in seinem Aufsatz von 1926 begründet hatte 51 . Vielmehr hob er die Bedeutung alttestamentlicher Wissenschaft für die Altertumswissenschaft allgemein hervor, denn „keine andere antike Religionsurkunde läßt uns das, was Religion ist, in dem Grade von innen heraus betrachten wie die Bibel und das Alte Testament" 52 . Da aber die Altertumswissenschaft durch die Verbindung mit dem Alten Testament Anteil am Leben und an gegenwärtigen Fragen bekäme, sei es notwendig, daß die Wissenschaft vom Alten Testament mit der vom Altertum Hand in Hand gehe53. Auf demselben Kongreß hob Artur Weiser die explizit theologische Aufgabe alttestamentlicher Wissenschaft hervor. Grundvoraussetzung bleibe zwar die exegetische, historisch-kritische Arbeit unter Einbeziehung literarischer, historischer, religionsgeschichtlicher und religionspsychologischer Forschungsergebnisse 54 . Das eigentliche Verständnis des Alten Testaments sei jedoch kein Wissen um einen Sachverhalt. Vielmehr gebe der theologische Zugang Zeugnis von der Wirklichkeit des Menschen vor Gott 55 . Damit aber besitze das Zeugnis des Alten Testaments eine unmittelbare Gegenwartsbezogenheit 56 , da die Wirklichkeit des Menschen vor Gott „zugleich auch unsere Wirklichkeit ist" 57 . Die theologische Aufgabe einer alttestamentlichen Wissenschaft müsse insofern das eigene Leben und seinen Sinngehalt miteinbeziehen, sie stelle den heutigen Menschen vor die Glaubensentscheidung, ohne die der tiefe Gehalt der alttestamentlichen Texte nicht erfaßt werden könne. Dennoch steht für Weiser fest, daß die biblische Offenbarung „durch das Medium menschlicher Gedanken und Sprache hindurchgegangen ist" 58 , und somit die historisch-kritische Methode notwendig sei, um den „Brechungswinkel" zu erfassen. So kommt auch er zu dem Fazit, daß nur „in der Verbindung von theologischer Aufgabe und kritisch-historischer Methode die alttestamentliche Wissenschaft auch der Kirche den Dienst leisten (kann), den sie ihr schuldet als theologische Wissenschaft"59. Die alttestamentliche Wissenschaft befand sich somit auf der Suche nach dem eigenen Selbstverständnis. Die Frage, ob den Texten des Alten Testaments eine theologische oder eher eine religionswissenschaftliche Betrach-

51

S. oben 56f.

52

ElSSFELDT, aaO. 159.

53

ElSSFELDT, aaO. 161.

54

WEISER, Die theologische Aufgabe, 208f. Zu Weisers Interpretation des biblischen Volksbegriffs s. unten 284-286. 55

WEISER, aaO. 215.

56

WEISER, aaO. 2 2 0 .

57

WEISER, aaO. 2 1 6 .

58

WEISER, a a O . 2 2 3 .

59

WEISER, aaO. 2 2 4 .

60

III. ,Völkische Frage' undalttestamentliche

Exegese

tung angemessen sei, schien in ihrer Ausschließlichkeit zwar überholt, als Richtungsstreit jedoch keineswegs entschieden zu sein60. 60 Betrachten wir die neuere Diskussion um die Frage nach der Ausrichtung der alttestamentlichen Wissenschaft, so fällt auf, daß auch heute noch kein Konsens festzustellen ist. Im Jahre 1963 forderte Rolf RENDTORFF, „die religionsgeschichtliche Betrachtung wieder voll zur Geltung kommen zu lassen" (Alttestamentliche Theologie, 221). Denn eine Theologie des Alten Testaments habe die geschichtliche Darstellung zur Aufgabe. Darüber hinaus aber wehrt er sich gegen die von Eißfeldt formulierte Alternative zwischen „Geschichte und Offenbarung". Denn für ihn geschieht die Offenbarung inmitten der Geschichte, der altorientalischen Religionsgeschichte: „Die Offenbarung Gottes in der Geschichte Israels und seiner Religion ist unlösbar verknüpft mit der Geschichte und Religionsgeschichte des Alten Vorderen Orients; aber sie geht nicht darin auf, sondern führt aus ihr heraus auf die weitere Geschichte der Offenbarung hin" (aaO. 136). In seiner 1992 veröffentlichten Religionsgeschichte klagt Rainer ALBERTZ eine Entscheidung der alttestamentlichen Wissenschaft zwischen einer Theologie des Alten Testaments und der Religionsgeschichte ein. Albertz selbst hat sich bereits entschieden und - wie sollte es bei der Einleitung für eine zweibändige Religionsgeschichte Israels auch anders sein - hält „in der heutigen Situation die Religionsgeschichte für die sinnvollere zusammenfassende alttestamentliche Disziplin" (Religionsgeschichte I, 37). Mit der Polarisierung zwischen Theologie des Alten Testaments und Religionsgeschichte Israels löste Albertz eine breite Diskussion unter seinen Fachkolleginnen und -kollegen aus, die in Auszügen im Jahrbuch für Biblische Theologie von 1995 dokumentiert ist. In dem hier abgedruckten Vortrag erläutert Albertz nochmals seine Überlegungen und plädiert für eine „forschungsgeschichtliche Umorientierung" (Religionsgeschichte Israels, 3.24). In mehreren Argumentationsgängen führt er vermeintliche Defizite und Schwierigkeiten einer Theologie des Alten Testaments auf, um sie den „Vorteilen" (aaO. 14f.) einer Religionsgeschichte Israels gegenüberzustellen: Während sich der theologische Ansatz der Tatsache stellen müsse, daß sich das Alte Testament einem systematischen Ansatz entziehe und sich nicht auf einheitliche Aussagen reduzieren lasse, besitze die Religionsgeschichte im historischen Zugang den Vorteil einer klar umrissenen Methode und eines eindeutig definierten Interpretationskontextes (aaO. 14f.). Ganz anders als noch 1963 spricht sich RENDTORFF (Die Hermeneutik, 42) in seiner Antwort auf Albertz für eine Theologie des Alten Testaments als angemessenem Zugang aus, um der „Erhellung der in den biblischen Texten selbst gegebenen Aussagen dienen (zu) können". Während die Religionsgeschichte das Leben des antiken Israels zu rekonstruieren versuche, beschäftige sich die Theologie des Alten Testaments „mit der theologischen Auslegung der alttestamentlichen Texte" (aaO. 36). Im Gegensatz zur historischen Methode des religionsgeschichtlichen Ansatzes sei der Gegenstand der Theologie des Alten Testaments „das Alte Testament in seiner Endgestalt" (aaO. 37). Ganz im Gegensatz zu Albertz, der gerade im religionsgeschichtlichen Zugang zum Alten Testament die positiven Aspekte einer klaren Methodik gesehen hatte, betont Rendtorff den Vorteil des theologischen Ansatzes, nach dem der Alttestamentler durch die Bindung an die Endgestalt nicht an rekonstruierte frühere Stadien und damit hypothetische Texte gebunden sei. Die genannten Standpunkte spiegeln, gemeinsam mit den weiteren im Jahrbuch für Biblische Theologie veröffentlichten Diskussionsbeiträgen, die Offenheit der Frage nach der Ausrichtung der alttestamentlichen Wissenschaft wider, wie sie bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg aufgebrochen war. Damals hatten die zeitgeschichtlichen Umstände eine positive Stellungnahme hinsichtlich der biblischen Texte erfordert, während heute weniger die Existenz als vielmehr die Frage nach der konzeptionellen Ausrichtung der alttestamentlichen Wissenschaft im Vordergrund steht.

2. , Völkische Bewegung ' und Altes Testament

61

2. ,Völkische Bewegung' und Altes Testament Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war durch eine nationale Gegenbewegung gegen die demokratischen Leitlinien der Weimarer Republik geprägt. Die erstarkende völkische Bewegung mit ihrer propagierten Besinnung auf das ,Deutschgemäße' stellte auch die alttestamentliche Wissenschaft in das Kreuzfeuer der Kritik. Hatten schon Schleiermacher und von Harnack die „Un- und Unterchristlickeit" des Alten Testaments postuliert 61 , so sahen die Anhänger der völkischen Bewegung einen tiefen Graben zwischen Deutschtum und Ariertum auf der einen und dem, was in den alttestamentlichen Schriften geschildert werde, auf der anderen Seite. a) „Mythus der Ehre" versus „jüdische Lohnmoral" In seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts fordert der damalige außenpolitische Berater der NSDAP, Alfred Rosenberg 62 , die Abschaffung des Alten Testaments mit seinen „Zuhälter- und Viehhändlergeschichten" 63 . Israel als „rassisch unterwertiges Volk" dürfe nicht mehr Gegenstand der Bewunderung sein. Vielmehr solle sich das Christentum aus seiner Befangenheit gegenüber der Vergangenheit befreien und sich einem zukunftsweisenden „Mythus der Ehre" zuwenden: „Nicht der Traum von Haß und mordendem Messianismus, sondern der Traum von Ehre und Freiheit ist es, der durch nordische, germanische Sagen angefacht werden muß. (...) Die Sehnsucht, der nordischen Rassenseele im Zeichen des Volksmythus ihre Form als Deutsche Kirche zu geben, das ist mit die größte Aufgabe unseres Jahrhunderts" 64 . Das Alte Testament könne als Religionsbuch keine Bedeutung mehr beanspruchen. Nur so werde endlich „der mißlungene Versuch der letzten anderthalb Jahrtausende, uns geistig zu Juden zu machen"65, beendet. Rosenberg, dessen Buch mit einer Gesamtauflage von über einer Million Exemplaren unter der deutschen Bevölkerung verbreitet war66, traf mit seinen Angriffen das christliche Selbstverständnis67. Seine Polemik gegen das Alten 61

S. oben 52-54. Zu Rosenbergs weiterer Karriere in der NSDAP, der er bereits seit 1919 angehörte, s. BAUMGARTNER, Weltanschauungskampf. Rosenberg wurde 1946 als einflußreichster Propagandist der NSDAP neben Goebbels vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt. 63 ROSENBERG, Der Mythus, 614. 62

64

ROSENBERG, e b d .

65

ROSENBERG, a a O . 603.

66

Z a h l e n bei BAUMGÄRTNER, a a O . 82.

67 Die Veröffentlichung des Mythus rief eine breitere Diskussion innerhalb der katholischen und der protestantischen Theologie hervor. Vgl. hierzu von katholischer Seite: Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts, von evangelischer Seite: HERNTRICH, Neuheidentum und KUNNETH, Antwort. Ausführlich zu den Diskussionen, auch zu Hirschs Verteidigung Rosen-

62

III. ,Völkische Frage' undalttestamentliche

Exegese

Testament ging einher mit der Forderung nach einem erneuerten Christentum und einer an Germanentum und nordischer Seele orientierten Kirche. Zwar bezeichnete er sein Buch zunächst als „private Veröffentlichung", da es in einer Zeit geschrieben war, in der die NSDAP noch um die Gunst der Kirchen warb 68 . Dennoch spiegelt sich in seinen Worten der brüchige Boden wider, auf dem die alttestamentliche Wissenschaft damals gründete. Die Angriffe gegen das Alte Testament richteten sich gegen eine Bindung des Christentums an vermeintlich Überkommenes. Hinzu trat der anschwellende Antisemitismus der deutschen Gesellschaft, der jegliche Bindung an das Judentum bekämpfte und die .Befreiung' der christlichen Kirche von ihren jüdischen Wurzeln, und damit insbesondere von der Hebräischen Bibel, einklagte. Diese Forderungen wurden von verschiedenen religiösen Gruppierungen erhoben, die sich zum Teil bereits von der christlichen Kirche losgesagt hatten, um eine ,Deutsche Kirche' mit,deutschem Glauben' zu gründen 69 . Aber auch innerhalb der protestantischen Kirche wurden diejenigen Stimmen immer lauter, welche die Besinnung auf ein ,artgemäßes Christentum' erreichen wollten. Sie fanden vor allem in der Bewegung der Deutschen Christen ihr Sprachrohr: In ihren Grundsätzen hatte sich die Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' auf die Erhaltung der eigenen Rasse und auf einen „artgemäßen Christus-Glauben" verpflichtet 70 . Für viele beinhaltete diese Verpflichtung auch die eindeutige Verwerfung der alttestamentlichen Texte, da nur so der vermeintlich negative jüdische Einfluß, der über diese Schriften in das Christentum eingehe, unterbunden werden könne. In diesem Sinne wurde z.B. ein deutsch-christliches ,Volkstestament' herausgegeben. Dieses erfüllte letztendlich die Forderungen Marcions, indem die Herausgeber auf die Aufnahme des Alten Testaments verzichteten und durch Texteingriffe versuchten, auch neu-

bergs gegenüber den Angriffen, s. BAUMGÄRTNER, aaO. 138-259. Rosenberg selbst reagierte auf die Angriffe in seiner Schrift „An die Dunkelmänner". Er wiederholte hier u.a. seine These, „daß Jahwe im Alten Testament doch nachweislich ein Anstifter von Lug und Trug und Mordtaten gewesen sei" (aaO. 21). Ruth l,15f. gilt ihm dagegen als Beweis dafür, daß jeder Stamm in Israel seinen eigenen Gott hatte. Blasphemisch sei es, „daß man es wagt, noch heute europäischen Völkern diese belanglosen jüdischen Erzählungen als Religionsurkunden vorzulegen" (aaO. 22), „aber unerfindlich wird es für jeden gesunden europäischen Menschen bleiben, was diese alten jüdischen Zuhältermethoden der famosen .Erzväter' für uns als religiösen Ansporn bedeuten könnten" (aaO. 24). 68

Vgl. hierzu BAUMGÄRTNER, aaO. 2. Zu den Gruppierungen der Deutschgläubigen, die sich, unter Lossagung von der christlichen Religion, einem „deutschen Gottglauben" zuwandten, vgl. NOWAK, Art. Deutschgläubige Bewegungen, 5 5 4 - 5 5 9 . Hiervon zu unterscheiden ist der .Bund für deutsche Kirche', dessen Ziel eine „völkische Reform" der evangelischen Kirche war. Vgl. hierzu MEIER, Der „Bund für deutsche Kirche", 179. 69

70 Richtlinien der Deutschen Christen vom Mai 1932, Pkt. 4 und 7, abgedruckt bei RÖHM/ THIERFELDER, Evangelische Kirche, 25.

2. , Völkische Bewegung ' und Altes Testament

63

testamentliche Stellen von ihrem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund zu befreien 71 . Dennoch konnte sich die Forderung nach einer radikalen Entfernung des Alten Testaments aus dem christlichen Kanon auch in den Reihen der Deutschen Christen nicht generell durchsetzen. Beispiel hierfür sind die Proteste, die sich nach dem bereits erwähnten ,Sportpalastskandal' vom November 1933 erhoben: Reinhold Krause, der in seiner Rede eine reine Jesuslehre zur Voraussetzung für den Aufbau einer deutschen Volkskirche erhoben hatte, forderte in diesem Zusammenhang auch die „Befreiung vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten" 72 . Denn artgemäßes Christentum, wie es in den Richtlinien der Deutschen Christen stehe, und Haften am Alten Testament schlössen sich gegenseitig aus. Krause fuhr fort: „Die Juden sind nicht Gottes Volk. Wenn wir NS uns schämen, eine Krawatte vom Juden zu kaufen, dann müßen wir uns erst recht schämen, irgend etwas, das zu unserer Seele spricht, das innerste Religiöse vom Juden anzunehmen" 73 . Die im Anschluß von den auf der Kundgebung 20 000 Anwesenden 74 angenommene Erklärung enthielt im Sinne der Rede Krauses die Forderung, „daß unsere Landeskirche als eine deutsche Volkskirche sich frei macht von allem Undeutschen in Gottesdienst und Bekenntnis, insbesondere vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral" 75 . Während sich auf der Versammlung selbst kein wesentlicher Widerspruch gegen die Erklärung erhob 76 , reagierte die breite Öffentlichkeit entrüstet 77 . 71

Die Botschaft Gottes, Weimar 1941. S. hierzu: NICOLAISEN, Die Stellung, 214 und JEHRKE, Wie wurde das Neue Testament. 72

Vgl. hierzu die Formulierungen Rosenbergs in seinem Mythus. Aus der Rede des Gauobmanns der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' in GroßBerlin, Dr. Krause, über „Die völkische Sendung Luthers", gehalten im Sportpalast am 13. November 1933 (nach doppeltem stenographischem Bericht), abgedruckt in: GAUGER, Chronik I, 109-111 und in JK 1 (1933) 363. 74 Zu dem Szenario der Kundgebung, auf der Krause seine Rede hielt, s. verschiedene Zeitungsberichte, abgedruckt in: JK 1 (1933) 309-311. Krause selbst kam ursprünglich aus der extremen Gruppierung des „Bundes für deutsche Kirche", die sich 1933 aus wahltaktischen Gründen der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' angeschlossen hatte. Nach dem .Sportpalastskandal' gründete Krause eine eigene „Glaubensbewegung Deutsche Volkskirche", die sich endgültig dem Neuheidentum annäherte. Vgl. hierzu: MEIER, aaO. 187f. 75 Entschließung, verabschiedet von den bei der Sportpalastkundgebung am 13.11.1933 in Berlin Anwesenden, Punkt 4, abgedruckt in: GAUGER, aaO. 111. 76 Nur ein einziger Anwesender scheint von der Galerie herab gegen die Entschließung gestimmt zu haben. Vgl. hierzu die Erklärung des Versammlungsleiters Schmiedchen, abgedruckt in: GAUGER, aaO. 112. 77 Zu den Folgen für Krause und die gesamte Bewegung der Deutschen Christen s. GAUGER, aaO. llOff.; den Bericht von SÖHLMANN, Grenzenlose Verwirrung, 354-363 und MEIER, Kreuz, 53f. 73

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III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

Viele kritisierten die in der verabschiedeten Entschließung wieder aufgenommenen Formulierungen Krauses gegen das Alte Testament. Die Leitungsgremien der Deutschen Evangelischen Kirche und die der Deutschen Christen sahen sich deshalb gezwungen, sich zu den Vorfällen in Berlin zu äußern. Reichsbischof Müller erklärte bereits zwei Tage nach der Kundgebung, daß „in der Rede (...) in einer unerhört agitatorischen Weise gegen das Alte Testament gesprochen" worden und „die Aufhebung der Bibel als der einzigen und unverrückbaren Grundlage der Kirche" intendiert gewesen sei 78 . Der Reichsleiter der Deutschen Christen, Joachim Hossenfelder, versuchte, sich von den Äußerungen Krauses zu distanzieren und dagegen Bibel und Bekenntnis als Grundlage der Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' hervorzuheben 79 . Auch verschiedene Theologieprofessoren protestierten gegen die Sportpalastkundgebung und nahmen dabei Rekurs auf die Äußerungen Krauses gegen das Alte Testament. So erklärte ein Kreis um Friedrich Gogarten, „daß das Evangelium von Jesus Christus, das mit der alttestamentlichen Verheißung anhebt, ohne die Verkündigung des Alten Testamentes nicht rein erhalten werden kann. Die Ablehnung des Alten Testamentes bedeutet deshalb ein Verlassen der Grundlage der Kirche Jesu Christi" 80 . Die Tübinger Professoren Karl Fezer, Hanns Rückert und Artur Weiser, denen sich wenig später auch Gerhard Kittel anschloß 81 , erklärten im Gefolge des , Sportpalastskandals' ihren Austritt aus der Glaubensbewegung .Deutsche Christen'. Sie begründeten diesen Schritt ebenfalls mit „den unerhörten Angriffen auf das Alte Testament, Paulus und den gekreuzigten Christus" 82 und forderten nachdrücklich, daß die Kirche „klar und unerschütterlich an der ganzen Bibel und an ihrer Auslegung getreu den reformatorischen Bekenntnissen festhalten" müsse 83 . Auch für viele Landesverbände und Untergruppierungen wurde der , Sportpalastskandal' zum Anlaß, ihre Mitgliedschaft bei der Dachorganisation der Glaubensbewegung .Deutsche Christen' aufzukündigen 84 .

78 79

Müller am 15.11.1933, abgedruckt in: GAUGER, aaO. 110.

Hossenfelder am 24.11.1933, abgedruckt in: GAUGER, aaO. 113 und in: JK 1 (1933) 356. Kritisch äußerte sich hierzu BARTH, Lutherfeier, 3f. 80 Erklärung von Gogarten, Gottschewski, Lonicer und Riehm, abgedruckt in: JK 1 (1933) 357f. 81 Weiterhin protestierten die Professoren Friedrich Karl Schumann, Ernst Kohlmeyer, Heinrich Bornkamm und Ernst Haenchen (vgl. hierzu einen Zeitungsbericht der BZ vom 27.11.1933, abgedruckt in: JK 1 [1933] 359). 82 Öffentliche Stellungnahme der Professoren Fezer, Weiser und Rückert am 1.12.1933, dokumentiert bei SCHÄFER, Die Evangelische Landeskirche II, 854. Vgl. hierzu auch SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Die evangelisch-theologische Fakultät, 4 9 - 5 1 . Zu Weiser s. auch unten 2 8 4 - 2 8 6 . 83 SCHÄFER, aaO. 857. 84 S. hierzu SÖHLMANN, aaO. 358-360.

2. ,Völkische Bewegung' und Altes Testament

65

Auch wenn im Gefolge des allgemeinen Aufsehens, das die Kundgebung im Sportpalast erzeugt hatte, „Bibel und Bekenntnis" als Grundlage der Glaubensbewegung betont wurden, herrschte unter den Anhängern der Deutschen Christen weiterhin Konsens darüber, daß man als Deutsche mit dem Judentum nichts mehr zu tun haben wolle. Insofern mußten auch die alttestamentlichen Schriften, die eindeutig Gottes Wort an Israel enthalten, in neuem Licht betrachtet werden, sofern nicht grundsätzlich auf sie verzichtet werden sollte. Im Zuge der Neuordnung der Deutschen Christen nach der Sportpalastkundgebung verständigte man sich auf die Übernahme der von Walter Grundmann entworfenen Thesen der sächsischen Volkskirche als Richtlinien für die Glaubensbewegung .Deutsche Christen'. In ihnen verdeutlicht sich die zwiespältige Haltung der Mehrheit der Deutschen Christen zum Alten Testament: Einerseits wurde die Minderwertigkeit' des Alten gegenüber dem Neuen Testament unterstrichen, andererseits war man um der Erkenntnis für die Gegenwart willen nicht bereit, ganz auf den alttestamentlichen Teil des Kanons zu verzichten. Denn schließlich zeige das Alte Testament den Abfall und die Sünde des jüdischen Volkes, das „trotz Gottes Offenbarung sich immer wieder von ihm trennte". An seinem Schicksal werde deutlich, daß „die Stellung einer Nation zu Gott (...) entscheidend für ihr Schicksal in der Geschichte" sei85. b) Gesetz und Evangelium - das Alte Testament als „ Widerspiel" zum Neuen Die Diskussion um eine angemessene Wertung der alttestamentlichen Schriften, wie sie durch die Angriffe aus der völkischen Bewegung angestoßen worden war, wurde nicht nur innerhalb der kirchenpolitischen Gruppierungen geführt, sondern auch an den theologischen Fakultäten. Theologen verschiedener Fachrichtungen und unterschiedlicher politischer Einstellungen äußerten sich zur Bedeutung des Alten Testaments. Aus den Reihen der Deutschen Christen profilierte sich besonders Emanuel Hirsch. Er galt bald als der prominenteste Theologe der Deutschen Christen 86 . Hirsch bemühte sich um einen Zugang zu den alttestamentlichen Texten vor dem Hintergrund deutsch-christlicher Theologie und fand ihn in dem Schema von ,Gesetz und Evangelium'. Er war überzeugt, daß der grundlegende Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament eine einheitliche Sicht ver85 Vgl. hierzu die 28 Thesen der sächsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1933, 98-102, hier bes. 100, und in: JK 2 (1934) 31-33 (zur Übernahme der 28 Thesen durch die Glaubensbewegung .Deutsche Christen' s. das Wort des Reichsleiters Dr. Kinder vom 21.12.1933, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 176f.). Hierzu auch: SCHROVEN, Theologie, 124-126; SCHOLDER, Die Kirchen I, 728f. und II, 25f. S. auch das Gutachten zu den 28 Thesen von R. Seeberg, das dieser im Auftrag der Theologischen Fakultät in Berlin verfaßte, abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, aaO. 31-35. 86 Zu Hirschs Lehre vom Volk s. oben 28ff.

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III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

biete. Denn während das Alte Testament seinen Mittelpunkt im Gesetz besitze, kreise das Neue um das Evangelium 87 . Der Prediger müsse sich diese Unterscheidung immer wieder verdeutlichen. Hirschs Argumentation endet jedoch nicht im Bestreben, das Alte Testament aus dem Kanon zu entfernen. Vielmehr war für ihn die Antithetik zum Alten Testament Grundvoraussetzung zur Erkenntnis des Neuen: „Gerade also weil das Alte Testament das geschichtlich mächtigste Widerspiel des Neuen ist, gerade darum paßt es so gut als erster Teil der christlichen Bibel" 88 . So soll das Alte Testament zwar im Kanon enthalten bleiben, jedoch ohne einen eigenständigen religiösen Wert zugesprochen zu bekommen. Vielmehr ist für Hirsch z.B. die Erzählung der Aqedah in Gen 22 „Dokument einer fremden Religion"89, denn der religiöse Anspruch des Alten Testaments an die Christen sei durch Christus zerbrochen: „Der Glaube an Jesus Christus scheidet uns von der Religion des Alten Testaments." 90 Viele Verlautbarungen der Deutschen Christen, die sich auf deren Verhältnis zum Alten Testament beziehen, orientieren sich an Hirschs Thesen. Die alttestamentlichen Schriften galten nicht mehr uneingeschränkt als Urkunde des christlichen Glaubens, sondern wurden auf die Antithetik zum Neuen Testament reduziert. Hierin behielten sie jedoch ihre Bedeutung. Zugleich berücksichtigte man die Argumente derer, die eine Verwerfung der alttestamentlichen Schriften aus dem christlichen Kanon als ,veraltet' und ,nichtchristlich' forderten 91 . c) „Das doppelte, aber einheitliche Zeugnis" - Bekenntnis zur Einheit der Schrift Der ,Streit um das Alte Testament' war inzwischen längst zur Sache des .Kampfes um die Kirche' geworden. Die Theologen der Bekennenden Kirche 87

HIRSCH, Das Alte Testament, 115.

88

HIRSCH, aaO. 121 (dort kursiv gedruckt). Noch wesentlich weniger antithetisch argumentierte HIRSCH m.E. in seiner Schrift Etwas von der christlichen Stellung zum Alten Testament. Dort spricht er (aaO. 154) von einer notwendigen „christliche(n) Hinaufdeutung als die Erfüllung dessen (...), was in der alttestamentlichen Gebundenheit schon heimlich gegenwärtig gewesen ist und selbst nach erlösendem Aufheben seiner Beschränkung gerufen hat". Hirsch spricht hier weiter von einer „gestuften", „geisthaften Einheit" zwischen Altem und Neuem Testament (aaO. 157). In seinen späteren Schriften betont er aber v.a. die Antithetik zwischen Altem und Neuem Testament. 89 HIRSCH, Das Alte Testament und die Predigt, 61f. GUNNEWEG schließt sich in seiner Hermeneutik (Vom Verstehen, 13lff.) Hirschs Thesen an. Vgl. hierzu die Kritik von

SCHOTTROFF, T h e o l o g i e , 1 9 0 f . 90

91

HIRSCH, a a O . 6 2 .

Zur kritischen Reaktion, die Hirschs Schrift unter Alttestamentlem hervorrief, s. SCHROVEN, aaO. 119. Vgl. auch die Besprechung von HEMPEL in: Chronik der ZAW 54 (1936) 296-306.

2. , Völkische Bewegung' und Altes Testament

67

sahen sich durch die massiven Angriffe, welche die Deutschgläubigen 92 und auch die Deutschen Christen gegen grundlegende Elemente christlicher Theologie führten, herausgefordert. Sie bemühten sich deshalb um theologische Positionen, die im Bekenntnis zur Einheit der Schrift gründeten. In Anlehnung an Karl Barth erfuhr die Theologie auf diese Weise eine neue Besinnung auf den biblischen Kanon. Bereits auf der ersten freien reformierten Bekenntnissynode zu Beginn des Jahres 1934 nahmen die Anwesenden eine von Barth verfaßte Erklärung an93. Darin heißt es: „Die Kirche hört das ein für allemal gesprochene Wort Gottes durch die freie Gnade des Heiligen Geistes in dem doppelten, aber einheitlichen und in seinen beiden Bestandteilen sich gegenseitig bedingenden Zeugnis des Alten und des Neuen Testamentes, das heißt in dem Zeugnis des Mose und der Propheten von dem kommenden, und in dem Zeugnis der Evangelisten und Apostel von dem gekommenen Jesus Christus" 94 . In ihrer Einheit galten Altes wie Neues Testament als Gottes Wort und als Christuszeugnis. Die beiden Teile der christlichen Bibel erfuhren so eine innere Verkettung, in welcher der eine Kanonteil auf den anderen hinweist und nur in Verbindung mit ihm vollständig ist. Der Kirchenkampf zwischen den Deutschen Christen und den Anhängern der Bekennenden Kirche spiegelte sich somit nicht nur im Kampf um die Struktur der Kirche, sondern auch in der Stellung zur Schrift wider. Hierbei stand der alttestamentliche Teil des christlichen Kanons im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Mit der Betonung der Einheit der Schrift, die sich immer wieder in den Bekenntnissen und theologischen Stellungnahmen der Bekennenden Kirche findet, trat man der Polemik bezüglich einer Minderwertigkeit des Alten Testaments entgegen 95 . Dadurch war die Grundlage für einen positiven Zugang zu den alttestamentlichen Texten gefunden. Eine differenzierte Verhältnisbestimmung zwischen alttestamentlicher Offenbarung und Christusverkündigung mußte jedoch erst noch theologisch erarbeitet und ausformuliert werden96.

92

Wie z.B. durch A. Rosenberg. S. hierzu oben 61f. SCHOLDER (Die Kirchen II, 178) weist auf die Parallelität zwischen dieser Erklärung und der, nach seiner Überzeugung ebenfalls weitgehend von Barth entworfenen Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934 hin. 94 Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der Deutschen Evangelischen Kirche der Gegenwart vom 3./4.1.1934, abgedruckt in: BECKMANN, Kirchliches Jahrbuch, 42; auch in: K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1934, 23. 95 NICOLAISEN (Die Auseinandersetzungen, 109) vermerkt hierzu, daß die Bekennende Kirche in der Auseinandersetzung mit der Häresie ein neues Bewußtsein erlangt habe: „Fast im Gegensatz zu dem .Stand' der atl. Theologie wurde die ganze Schrift als unteilbares Wort Gottes erkannt und anerkannt." 96 NICOLAISEN, ebd. Zum Entwurf von VISCHER, Das Christuszeugnis, s. unten S. 202. 93

68

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche Exegese

3. „Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der Gegenwart"97 Die breiten Angriffe, die von Seiten der völkischen Bewegung und auf dem Hintergrund der veränderten Forschungspositionen gegen das Alte Testament geführt wurden, forderten die Alttestamentler in ihrem Verhältnis zum Gegenstand ihrer Wissenschaft heraus. Die Verunsicherung, die bereits durch die forschungsgeschichtliche Annäherung an die allgemeine Religionsgeschichte eingesetzt hatte, wurde durch die Offensive von Seiten der völkischen Bewegung verstärkt. Aber erst jetzt zeigte sich, wie wenig die Alttestamentler den Angriffen entgegenzusetzen hatten. Rudolf Abramowski gestand sich und seinen Kollegen deshalb ein: „Richtig ist, daß der Kampf gegen das AT. uns schlecht vorbereitet traf. Wir sind genötigt, die Waffen während des Kampfes zu schmieden und müssen erfahren, daß sie zu kurz schießen."98 Durch die Anfeindungen von außen beunruhigt, begannen Alttestamentler in einer großen Anzahl von Schriften die Existenzberechtigung ihrer eigenen Wissenschaft zu begründen. Form und Ergebnisse ihrer Publikationen waren dabei sehr unterschiedlich. Die Spannbreite reichte von einzelnen Broschüren, in denen den Argumenten derjenigen, die das Alte Testament abschaffen wollten, aufs heftigste widersprochen wurde, bis hin zu differenzierten exegetischen Arbeiten 99 . Im Mittelpunkt stand die Frage nach der theologischen

97 Die Überschrift des Kapitels entspricht dem Aufsatztitel von BAUMGARTNER (Die Auslegung), in dem er die Anfeindungen gegenüber der alttestamentlichen Wissenschaft benennt und Lösungswege seiner Fachkollegen (und einiger Systematiker) kritisch kommentiert. 98 ABRAMOWSKI, Vom Streit, 84. Im weiteren stellt Abramowski jedoch fest: „Auf dem Gebiet der theologischen Durcharbeit des AT. herrscht reges Leben" (ebd.). Für die gesamte Theologie resümiert DOERNE (Das Alte Testament, 17): „Die eigentliche Not für die Kirche besteht nicht darin, daß das Alte Testament heute von draußen mit Leidenschaft - und leider zumeist auch mit Ahnungslosigkeit angefochten wird, sondern darin, daß die Kirche selbst weithin nicht mehr gründlich zu wissen scheint, was sie mit diesem Buche anfangen soll." VOLZ (Der Kampf, 34) hatte schon 1932 die Frage gestellt: „Woher kam es eigentlich, daß das Alte Testament in der heutigen Zeit in solchen Mißkredit geriet?" und gab der alttestamentlichen Wissenschaft die (Mit-)Schuld: „Schuld sind einmal wir Alttestamentler selbst. Lange Jahrzehnte hindurch haben wir der Mitwelt nichts besseres zu bieten gewußt als Literarkritik im Pentateuch und in den Propheten, Streit darüber, was echt oder unecht in der alttestamentlichen Literatur sei. Darüber wurde fast ganz vernachlässigt, zu zeigen, was an religiösem Gehalt in den Propheten und Psalmen, in der Genesis, im Deuteronomium und in Hiob steckt". Auch VON RAD (Sensus Scripturae, 33) sah die Notwendigkeit eines Neubeginns: „Wie stehen wir nach dem großen historisch-kritischen Wetter (...) noch am Anfang!"

" E i n e n Überblick über exegetische Arbeiten bis zum Jahr 1938 bietet z.B. die Sammelrezension von EISSFELDT, Die literarkritische Arbeit.

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der Gegenwart

69

B e d e u t u n g der alttestamentlichen Schriften für das Christentum 1 0 0 . S o konnte A b r a m o w s k i in seiner Bestandsaufnahme i m Jahre 1937 zu der Formulierung k o m m e n : „Wir stehen vor e i n e m Neuanfang, zu d e m alles von selbst strömt, zu d e m wir mit N o t w e n d i g k e i t gedrängt werden. Es wird die Zeit einer biblischen T h e o l o g i e des AT. sein" 1 0 1 . Innerhalb w e n i g e r Jahre erschienen die T h e o l o g i e n von Walter Eichrodt 1 0 2 , L u d w i g Köhler 1 0 3 und Ernst Sellin 1 0 4 , die sich deutlich in das B e m ü h e n u m e i n e t h e o l o g i s c h e N e u b e s i n n u n g mit einreihen 1 0 5 . S i e alle brachen mit der a u s s c h l i e ß l i c h r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e n Betrachtung der alttestamentlichen T e x t e . Statt d e s s e n versuchten sie, das Alte Testament v o n e i n e m dezidiert christlichen Standpunkt aus 1 0 6 zu erfassen und z u g l e i c h ihre w i s s e n s c h a f t l i chen Erkenntnisse aufzunehmen 1 0 7 .

100 Ein markantes Beispiel hierfür ist die Vortragsreihe, die die Leipziger Alttestamentier A. Alt, J. Begrich und G. von Rad 1934 auf Anfrage verschiedener Geistlicher unter der Leitfrage gehalten hatten, ob durch das Alte Testament eine Führung zum Christentum geschehe (ALT/BEGRICH/VON RAD, Führung). VON RAD (aaO. 70f.) beantwortet die Frage mit dem Bild aus Ex 33: „Die Herrlichkeit Gottes schauen wir nicht im Alten Testament; aber wir hören das Wort von der Gnade Gottes, und wenn wir in ihm lesen, dann können wir Gott nachschauen auf dem einzigartigen Weg, den er mit dem Volk Israel durch die Geschichte gegangen ist." Eine Kurzbesprechung dieser Vorträge findet sich bei WÜRTHWEIN, Zum Kampf, 424f. 101 ABRAMOWSKI, Vom Streit, 85. M

EICHRODT, T h e o l o g i e I—III.

103

KÖHLER, Theologie. S. auch DERS., Alttestamentliche Theologie. Hier bespricht Köhler die Theologien von Eichrodt und Sellin sowie Monographien verschiedener anderer Alttestamentler, die zu Beginn der 30er Jahre veröffentlicht worden waren. 104 SELLIN, Theologie. 105 EICHRODT schreibt im Vorwort zur 1. Auflage der Theologie I, o.S.: „Die Notwendigkeit eines Neuentwurfs der alttestamentlichen Theologie drängt sich angesichts der allgemeinen geistigen Lage und der theologischen im besonderen wohl jedem Vertreter der alttestamentlichen Wissenschaft immer gebieterischer auf'. Insofern solle eine Theologie „manchem einen Dienst leisten können, die im Streit um das Alte Testament nach neuen Richtlinien suchen." 106 EICHRODT (aaO. 1) nennt im §1 seiner Theologie „Aufgabe und Methode der Theologie des Alten Testaments" die Religionsgeschichte und die Ausrichtung des Alten auf das Neue Testament als die beiden Gesichter einer alttestamentlichen Theologie. Dazu schreibt er: „Erst in der Erscheinung Christi, in der die edelsten Kräfte des Alten Testaments zur Vollendung gelangen, kommt diese Bewegung zur Ruhe", und unterstreicht die Ausschließlichkeit des christlichen Blickwinkels, indem er fortfährt: „Der negative Beweis dafür ist der Anblick des Torso, den das vom Christentum geschiedene Judentum darstellt." SELLIN (aaO. 1) formuliert in der Einleitung zu seiner Theologie: „In der Theologie des A.T. interessiert uns nur die große Linie, die im Evangelium ihre Vollendung gefunden hat." 107 Vgl. z.B. KÖHLER im Vorwort zu seiner Theologie, VI: „Die literarische und die historische Kritik müssen ihr Werk getan haben. Die religionsgeschichtliche Vergleichung, ohne welche das AT weder in seiner Besonderheit noch in seiner Bedingtheit erkannt werden kann,

70

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

Einen ganz anderen und stark umstrittenen Zugang zum Alten Testament suchten in dieser Zeit die beiden Alttestamentier Wilhelm Vischer und Hans Hellbardt mit ihren Entwürfen 108 . Ihr Anliegen richtete sich darauf, das aus der Dialektischen Theologie gewonnene und in die Verlautbarungen der Bekennenden Kirche eingegangene Bekenntnis zur Einheit der Schrift für einen christlichen Zugang zum Alten Testament durchzubuchstabieren. Mit dem ,Christuszeugnis' in den alttestamentlichen Schriften wollten sie ein Zeichen gegen Auflösung und Abwertung der alttestamentlichen Texte setzen. Neben diesen umfassenden Entwürfen verdeutlicht auch die große Anzahl von Aufsätzen und kleineren Einzelschriften, die Alttestamentler in den 30er Jahren veröffentlichten, wie sehr sich die alttestamentliche Wissenschaft durch die Polemik von Seiten der völkischen Bewegung und durch den Richtungsstreit innerhalb des eigenen Fachgebiets herausgefordert sah. Alttestamentler aller Forschungsrichtungen und kirchenpolitischen Parteien versuchten, ihr Festhalten am Alten Testament zu begründen und für die Außenwelt verständlich zu machen. Von außen aufgezwungen fand eine breite Auseinandersetzung um Ziele und Methoden der eigenen Wissenschaft statt. Kaum ein Alttestamentler sah sich befähigt, weiterzuarbeiten, „als wäre nichts geschehen" 109 . Statt dessen suchten viele einen Mittelweg, um zwischen der Verwerfung des Alten Testaments und der grundsätzlichen Gleichsetzung der beiden Kanonteile 110 zu einer differenzierten Einstellung gegenüber den alttestamentlichen Schriften zu gelangen: „Zwischen der Skylla völkischer Diskreditierung und der Charybdis dialektischer Verchristlichung geht unser Weg. Und wir müssen ihn gehen, auch wenn er mit dem Odium eines Mittelweges belastet ist"111. So verlagerte sich der Richtungsstreit, der die alttestamentliche Wissenschaft in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg beschäftigt hatte, hin zu dem

muß durchgeführt sein. Alle diese wissenschaftlichen Aufgaben und Arbeiten sind Voraussetzung einer Theologie des AT." 108 Ausführlich zum Entwurf Vischers s. unten 202ff. 109

BARTH, Theologische Existenz, 26.

110

Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen W. Baumgartner und K. Barth aus den Jahren 1 9 4 0 - 1 9 5 5 (s. SMEND, Karl Barth), in dem Baumgartner Barth u.a. vorwirft, unter Verkennung der exegetischen Einsichten die Einheitlichkeit des Alten Testaments in den Vordergrund zu stellen und zudem das Alte Testament auf das Neue hin zu lesen, statt es als eigenes Werk verstehen zu wollen. 111 BAUMGARTNER, Die Auslegung, 29. Die weitere Darstellung Baumgartners bezieht sich hauptsächlich auf die Entwicklung innerhalb der protestantischen Theologie. Eine vergleichbare Entwicklung hin zu einer theologischen Auslegung des Alten Testaments fand jedoch auch in der katholischen Bibelwissenschaft statt. S. hierzu SEIDEL, Die Erforschung, bes. 217ff. Zu der besonderen Stellung Kardinal Faulhabers bezüglich einer bleibenden Bedeutung z.B. der sozialen Werte des Alten Testaments s. dessen Adventspredigten aus dem Jahr 1933 (s. hierzu RITTER-MÜLLER/WOUTERS, Die Adventspredigten).

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der

Gegenwart

71

Bemühen, angesichts der zeitgeschichtlichen Herausforderungen einen existentiellen Zugang zu den alttestamentlichen Texten zu finden" 2 . a) „Das Alte Testament als Wort Gottes "ns — theologische Exegese In einer zusammenfassenden Rezension mehrerer Broschüren klagte Ernst Würthwein gegenüber seinen Fachkollegen, „daß eine klare Vorstellung über die positive Bedeutung des AT.s zumeist nicht vorhanden ist" 114 . Vielmehr würden oft „die ästhetischen, psychologischen, rassischen usw. Argumente der Gegner" aufgenommen. Würthwein forderte deshalb, sich auf die alttestamentlichen Texte selbst zu besinnen, die Einzelstoffe zu bearbeiten und vor allem die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Glauben zu verdeutlichen. Auch andere Alttestamentier kritisierten den Zustand ihrer Wissenschaft: „Für uns muß heute die Position des Alten Testamentes theologisch neu begründet, oder aber das Alte Testament muß aufgegeben werden." 115 Die dramatische Lage führte zu einer leidenschaftlichen Diskussion innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft um die Frage, wie die alttestamentlichen Schriften angemessen auszulegen seien. Dabei sollte zum einen der Tatsache Rechnung getragen werden, daß die alttestamentliche Wissenschaft bereits auf eine lange Geschichte der Entwicklung von Forschungsmethoden und Einsichten zurückblicken konnte. Hinter die, vor allem im letzten Jahrhundert erworbenen revolutionären Erkenntnisse der Religionswissenschaft wollte man nicht mehr zurückgehen. Zum anderen aber bekam die durch Kittel und Greßmann in den 20er Jahren angestoßene Diskussion 116 neue Brisanz. Das Bewußtsein, daß auch die alttestamentliche Wissenschaft innerhalb der christlichen Theologie stehe und nicht wertneutral sei, erhielt durch die Angriffe von außen existentielle Bedeutung. Der Richtungsstreit zwischen der Einordnung der alttestamentlichen Wissenschaft als Teilgebiet der Religionswissenschaft oder als theologische Disziplin, der die Alttestamentler seit dem Ersten Weltkrieg bewegte, schien aufgrund der Notwendigkeit verbindlicher Aussagen zugunsten eines theologischen Verständnisses entschieden zu werden.

112 n o t h (Die Gesetze, VI) schreibt hierzu: „Es ist vielmehr auch hier (sc. in der Frage des Gesetzes) so wie bei einer ganzen Reihe anderer Fragen, daß in den Auseinandersetzungen der Gegenwart diejenigen Dinge wieder entscheidend in den Vordergrund treten, die überhaupt von grundsätzlicher Wichtigkeit sind und immer wieder neu ins Auge gefaßt werden müssen." 113

Die Überschrift entspricht dem Aufsatztitel von PRESS, Das Alte Testament.

114

WÜRTHWEIN, a a O . 4 2 4 .

115

PRESS, a a O . 2 2 5 .

116

S. oben 54ff.

72

III. ,Völkische Frage' undalttestamentliche

Exegese

Was Childs im Rückblick als Charakteristikum der wissenschaftlichen Arbeit in jenen Jahren als „the search for a new paradigm" 117 bezeichnet, versuchte man damals mit dem Begriff der .theologischen Exegese' zu beantworten. Unter diesem Schlagwort sollte sowohl den Ergebnissen der exegetischen Forschung wie auch der kanonischen Verbindung von Altem und Neuem Testament Rechnung getragen werden 118 . Ganz grundsätzlich formulierte Wilhelm Schütz in seinem Aufsatz Das Alte Testament in theologischer Exegese die Grundlagen 119 : Die Voraussetzung einer theologischen Exegese sei die Anerkennung im Glauben, „daß Gott zu Menschen geredet hat und durch ihr Zeugnis wiederum reden will", aus dem Zeugnis von Altem und Neuem Testament 120 . Unter diesen Leitlinien konnten sich viele Alttestamentier zusammenfinden, die von einem einheitlichen Zeugnis der Bibel Alten und Neuen Testaments überzeugt waren. Deutliche Differenzen ergaben sich jedoch aus der Umsetzung in die konkrete Arbeit an den biblischen Texten. Walter Eichrodt erkannte auch als Alttestamentler ausdrücklich die Forderung nach einer christlichen Betrachtung des Alten Testaments an. Die christologische Exegese, wie sie Vischer und Hellbardt in ihren Entwürfen vorgelegt hatten, sei jedoch nicht dazu geeignet, die Bezeugung Christi im Alten Testament zu bestimmen. Nach Eichrodt begingen die Vertreter der christologischen Exegese einen Fehler, indem sie versuchten, „der irdisch-zeitlichen Gebundenheit" der alttestamentlichen Schriften zu entfliehen und in den alttestamentlichen Texten die direkte Verkündigung Christi zu erkennen. Er forderte dagegen, gerade die „geschichtliche Mannigfaltigkeit der alttestamentlichen Botschaft zu achten (...), um im Gehorsam gegen den in der Knechtsge117 So der Untertitel von CHILDS' Aufsatz: Old Testament. Childs faßt allerdings unter .theologischer Exegese' alle Versuche der alttestamentlichen Wissenschaft zusammen, die es sich zur Aufgabe gestellt hatten, Altes und Neues Testament als Einheit zu lesen. In diesem Sinne zählt er auch die Ansätze Vischers, Hellbardts, der pneumatischen Exegese Prockschs und Girgensohns wie auch den antithetischen Ansatz Hirschs darunter. .Theologische Exegese' als Selbstbezeichnung umfaßt jedoch speziell das Bemühen, Exegese und christliche Bibelsicht zusammenzubringen. 118

MlSKOTTE (Das Problem, 55) bestimmt .theologische Exegese' als dritten Schritt zur Auslegung alttestamentlicher Texte, dem die historische Exegese und das „phänomenologische Verstehen" vorausgegangen sein müssen. Die Exegese sei somit „ein Kreislauf vom ersten Wahrnehmen bis zum letzten Sehen" (aaO. 67). 119 SCHÜTZ (Das Alte Testament, 294) geht davon aus, daß die begonnene Revision der üblichen alttestamentlichen Exegese hin zu einer theologischen Aussage unterbrochen wurde, als „von nichtchristlicher Seite her die Ablehnung des Alten Testaments mit einem bis dahin nicht erreichten Kraftaufwand in die breite Öffentlichkeit vorbrach". 120

SCHÜTZ, aaO. 297. Schütz ist der Überzeugung, daß derjenige, der als Christ die Rede des Neuen Testaments gehört hätte, von dort her die alttestamentlichen Schriften letztlich nicht nur besser verstünde „als der Jude, sondern daß er sie richtiger versteht, als jene Schreiber sich selbst verstanden haben" (aaO. 302). Wer allerdings das Neue Testament verstehen wolle, müsse das Alte verstehen (aaO. 303).

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der

Gegenwart

73

stalt der Geschichte sich offenbarenden Gott sein ewiges Wort sich dort sagen zu lassen, wo es ihm gefiel, in die irdisch-zeitliche Beschränktheit hinein sich in Gericht und Gnade kund zu tun." 121 In diesem Sinne plädierte Walter Baumgartner ausdrücklich für eine theologische Exegese der alttestamentlichen Texte. Diese sollte die historischkritische Herangehensweise als Grundlage und Voraussetzung haben und damit der unwissenschaftlichen Methodik ein Ende setzen. Zugleich könnten durch die theologische Exegese' aber auch „die letzten theologischen Fragen der betreffenden Stelle bloßgelegt werden" 122 . Baumgartner fühlt sich dem christlichen Kanon aus Altem und Neuem Testament verpflichtet, will sich aber die Freiheit bewahren, nämlich eine „der Verantwortung bewußte Freiheit, wie es Luther in seiner Zeit und seiner Sprache ausgedrückt hat mit dem, was Christum treibet'" 123 . Auch Gerhard von Rad wandte sich in dieser Zeit explizit gegen einen „naiven Biblizismus" 124 . Die Schulung durch die historisch-kritische Wissenschaft mache es unmöglich, das Alte Testament noch völlig als Christuszeugnis zu verstehen, wie es zu ihrer Zeit die Apostel aufgefaßt hatten. Von Rad möchte diesen Einbruch der historisch-kritischen Wissenschaft jedoch positiv werten und auch sie als „immanenten Gehorsam der Schrift gegenüber" sehen125. Eine „saubere Exegese", so von Rad, „wird immer zuerst nach dem Selbstverständnis eines Textes fragen" 126 . Dann aber stoße man auf die Tatsache, daß innerhalb der alttestamentlichen Offenbarung ein Wachstum zu er121

EICHRODT, Zur Frage, 85.

122

BAUMGARTNER, Die Auslegung, 34.

123

BAUMGARTNER, aaO. 38. Baumgartner scheint sich hier gegen die Forderung der Dialektischen Theologen zu wehren, das Alte Testament als abgeschlossenes Ganzes auszulegen. Siehe hierzu auch seinen Brief an Barth vom 20.3.1940, in: SMEND, Karl Barth, 244. In seinem Briefwechsel mit Karl Barth erkennt Baumgartner (in Ausführung seines Artikels in der SThU, den er Barth zugesandt hatte) das Alte Testament durchaus als „unentbehrliche Vorstufe für das NT" an, weist jedoch mit Nachdruck auf die Notwendigkeit einer Differenzierung innerhalb der alttestamentlichen Schriften hin: „Das A T enthält eben neben dem, was auf das Christentum hinführt, noch vieles anderes, und beides oft eng ineinander" (Baumgartner an B a r t h v o m 1 9 . 7 . 1 9 4 1 , in: SMEND, a a O . 2 5 2 ) . 124 125

VON RAD, Fragen, 7. VON R A D , aaO. 8.

126 VON RAD, aaO. 17. In einem anderen Aufsatz (Das Alte Testament in der katholischen Kirche, 181) definiert von Rad sein Exegeseverständnis folgendermaßen: „So meinen wir nicht jene Kritik, die alles auflöst und in sich zerbröckeln läßt und die die Texte ihres Zeugnischarakters entkleidet, sondern jenes Vermögen, die alten Dokumente scharf in ihrer Eigenart und Einmaligkeit zu sehen und ihre Konturen deutlich nachzuzeichnen. Und dazu, glauben wir, ist der Christ verpflichtet". In Absetzung von der katholischen Schriftauslegung schreibt von Rad hier auch: „Auch wir glauben an die Inspiration des hl. Geistes, aber unsere theologische Vorstellung von dem Zeugnis der Schrift ist eine andere. Wir wissen um ihre einzigartige göttliche Würde, aber auch um ihre Knechtsgestalt" (aaO. 179).

74

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

kennen sei. Dieser Weg verbinde die Theologie mit der Geschichte Israels. Von Rad verstand das Alte Testament als „fortschreitende Enthüllung Christi" und gleichzeitig als fortschreitende „Aufdeckung des humanuni", der Widergöttlichkeit des Menschen, der Christus ans Kreuz schlagen wird 127 . Walter Zimmerli suchte nach einem religiösen Verstehen des Alten Testaments: „Die wissenschaftliche Aufgabe im strengen Sinn war mit der historisch-literarischen Durchforschung abgeschlossen. Auf verschiedenen Wegen ist die Arbeit am AT. aber über diese Auffassung hinausgeführt worden" 128 . Eine vom religiösen Gehalt absehende Auslegung blicke gerade an wichtigster Stelle an der eigentlichen Absicht des Textes vorbei. Es gelte, das Eigenanliegen des Textes zu beachten: „Wir haben die at.lichen Texte als kerygmatische Texte zu lesen. Es wird aus alledem klar, daß zwischen wissenschaftlicher - d.h. doch wohl nichts anderes als: sachgemäßer, den Stoff in seinem Eigenanliegen zur Geltung kommen lassender Exegese und Predigt kein grundsätzlicher Unterschied besteht."129 Die ,theologische Exegese', wie sie die verschiedenen Positionen fordern, sollte somit der alttestamentlichen Wissenschaft aus ihrem Dilemma helfen. Der kerygmatische Anspruch und die existentielle Sprache 130 , mit denen die Alttestamentier ihren Zugang zu den alttestamentlichen Schriften formulierten, entsprachen den zeitbedingten Auseinandersetzungen im , Streit um das Alte Testament'. Durch die Ausrichtung auf das Zeugnis Jesu Christi blieb die Exegese an den christlichen Glauben gebunden. Die alttestamentliche Wissenschaft besaß damit innerhalb des Christentums einen anderen Stellenwert als z.B. die allgemeine Religionsgeschichte. Die Hebräische Bibel sollte ihren Ort in der christlichen Tradition behalten. Zugleich wollte man die christliche Auslegung des Alten Testaments nicht der Willkür preisgeben. Insofern beharrten die an der Diskussion beteiligten Alttestamentier auf der grundlegenden Funktion der wissenschaftlichen Methoden. Die historisch-kritische Exegese erhielt ihre Berechtigung auch innerhalb der theologischen Auslegung der Schriften und war Voraussetzung dafür, das Alte Testament in seiner geschichtlichen Prägung wahrzunehmen 131 . Im Bemühen um eine .theologische Exegese' erreichte die alttestamentliche Wissenschaft eine neue Basis. Gleichzeitig öffneten jedoch weder der dezidiert christliche Zugang noch die exegetische Beschäftigung mit den altte127

VON RAD, Fragen, 19f.

128

ZIMMERLI, Vom Auslegen, 7.

129

ZIMMERLI, aaO. 8. Zu Zimmerli s. auch DERS., Auslegung.

130

So CHILDS, aaO. 243. 131 HEMPEL (Chronik der ZAW 49 [1931] 154f.) plädierte für das „theologische Recht der historischen Exegese", denn nur in der geschichtlichen Bindung sei z.B. das an Israel ergehende Gesetz als „aktuelle Forderung an konkrete Menschen in konkreter Lage" zu erkennen und so in ihrem paradigmatischen Wert zu verstehen.

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der

Gegenwart

75

stamentlichen Texten die Augen für die in der Hebräischen Bibel unverbrüchlich bezeugte Bindung Gottes an Israel. Vielmehr wurden die wissenschaftlichen Methoden auch dazu benutzt, das Alte Testament in ,wertvolle' und ,nicht-wertvolle' Teile zu scheiden 132 . Waren die alttestamentlichen Texte aber bereits in geschichtlich gebundene und übergeschichtliche, d.h. auch für die christliche Verkündigung weniger bzw. mehr bedeutsame Passagen aufgeteilt, so konnte die Theologie an ihrer eklektischen Leseweise der Hebräischen Bibel - exegetisch begründet - festhalten: „Wir halten am Alten Testament fest, weil uns gegenüber der jüdischen Nationalreligion der lebendige Gott offenbart wird. (...) Deswegen ist das Alte Testament ein Gottesbuch mitten im Judenbuch." 133 b) Biblisches Volk und deutsches Volk - , völkische' Exegese Nicht alle Alttestamentler waren bereit, die Angriffe gegen die alttestamentlichen Schriften durch die Betonung ihrer theologischen Bedeutung zu widerlegen. Viele bemühten sich, das Alte Testament in die politische Realität der erstarkenden völkischen Kräfte und der sich schließlich als Staatspartei etablierenden Nationalsozialisten einzugliedern. Sie nahmen die Anfeindungen auf, die von außen an die alttestamentliche Wissenschaft herangetragen wurden, und versuchten, sie aus dem Alten Testament heraus zu widerlegen. Sie hofften, sich so gegen den Vorwurf verteidigen zu können, die Beschäftigung mit dem Alten Testament sei mit einer positiven Wertung des Judentums gleichzusetzen und widerspräche deshalb der völkischen Gesinnung. Statt dessen wollte man zeigen, wie viel gerade die alttestamentlichen Texte zu einer theologischen Fundierung völkischen Denkens beizutragen hätten. Das Alte Testament könne Antworten auf die ,völkische Frage' geben und bilde deshalb eine wertvolle Interpretationshilfe für das aktuelle politische Zeitgeschehen. Immer wieder wird in den von Alttestamentlern verfaßten Broschüren deshalb das „völkische Element" der alttestamentlichen Schriften beschworen. Durch diese Form der Interpretation war jedoch der theologische Konsens, der die Diskussion um eine theologische Exegese begleitet hatte, aufgehoben. Die Schriften des Alten Testaments wurden nicht mehr um der Frage willen betrachtet, inwiefern sie Positives zum Christentum beizutragen hätten. Ausschlaggebend war jetzt ihr Wert für die völkische Bewegung in Deutschland. Der Volksbegriff, der in weiten Teilen die Politik im nationalsozialisti-

132 So stellt SELLIN (Abschaffung, 19) in diesem Sinne ein ,Doppelangesicht' der israelitischen Religion fest: „die nationale Kultreligion und die sittlich-prophetische Religion". Dabei bereite die prophetische Verkündigung das Evangelium Jesu vor, während die nationaljüdischen Teile des Alten Testaments für den Christen abgetan seien. Sie hätten vielmehr ihre Krönung im Talmud gefunden (aaO. 25). 133

PUTZ, Warum, 7.

76

III. ,Völkische Frage ' und alttestamentliche Exegese

sehen Deutschland bestimmte, wurde als Maßstab an das Alte Testament herangetragen. Die an der Diskussion Beteiligten kamen nicht aus einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel zu ihrem Interesse an dem biblischen Volksbegriff, sondern trugen die Frage nach Wert, Sinn und Begrenzung von Volkstum an die Schrift heran und bemühten sich, aus den biblischen Texten heraus eine Antwort auf die Fragen der Zeit geben zu können: „Es gibt nur einen Weg, die Schüler von der einzigartigen Bedeutung auch des A.T.s zu überzeugen: zu zeigen, daß gerade die Fragen, die den Jungen von heute so ungeheuer stark bewegen, die völkischen Fragen, auch und gerade im A.T. aufgeworfen werden, und daß die Antworten, die wir heute auf diese Fragen geben, sich im wesentlichen decken mit den Antworten, die das A.T. gibt." 134 Die zentrale Stellung des Volkes Israel innerhalb der Hebräischen Bibel wurde so zugunsten eines allgemeinen Volksbegriffs aufgelöst und sollte nun auf die Situation in Deutschland übertragen werden. Mit diesem Schritt bemühte man sich, die Aktualität der alttestamentlichen Schriften zu beweisen, um den Forderungen nach Eliminierung des Ersten Testaments aus dem christlichen Kanon zuvorzukommen. In vielen kleineren und größeren Aufsätzen und Broschüren findet sich der Gedanke, daß das, was das Alte Testament über das Volk Israel sage, grundlegende Bedeutung für alle Völker besitze. Dabei spielten sowohl das Wohlwollen JHWHs gegenüber der Volksform eine Rolle wie auch die grundsätzliche Bindung Gottes an ein Volk. Gleichzeitig las man aus den Texten eine Warnung vor Überheblichkeit der in einem Volk zusammengefaßten Menschen heraus: „Die Religion ist Grenze des Volkstums" 135 . Damit war zunächst Kritik an Israels vermeintlicher Überheblichkeit geäußert und seine Verwerfung mit seinem Fehlverhalten als Volk begründet. Wurde dieser Gedanke aber weitergeführt, so erschien die Verwerfung Israels als Warnung an das eigene Volk, seine eigene religiöse Bindung nicht zu vergessen 136 . Schon Herder hatte sich bei seinen Gedanken zum Volksbegriff von der biblischen Schilderung des Volkes Israel inspirieren lassen 137 . Auch Stapel baute seinen Entwurf einer Nomostheologie auf biblischen Bildern auf 138 . Dementsprechend lag es nahe, daß gerade das Alte Testament in den 20er und 30er Jahren immer wieder zu der Frage nach Volk und Volkstum herangezogen wurde. Auf das Neue Testament wurde in diesem Zusammenhang nur 134

WERNER, Probleme, 384. So z.B. HEMPEL, Altes Testament und völkische Frage, 10. 136 Zu diesen komplexen Gedankengängen vgl. die differenzierte Darstellung der Interpretation des biblischen Volksbegriffs durch Johannes Hempel in Kap. V.3. 137 S. oben 14f. 138 S. oben 26. 135

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der Gegenwart

77

selten rekurriert, denn der in den neutestamentlichen Schriften zentrale Begriff der ,Gemeinde als Gottesvolk' konnte die völkische Diskussion nicht weiterbringen. Die alttestamentliche Wissenschaft befand sich mit der Frage nach dem biblischen Volksverständnis im Zentrum der politischen Auseinandersetzung um die völkische Gesinnung, welche die deutsche Gesellschaft seit Ende des Ersten Weltkriegs entscheidend bestimmte. So einheitlich jedoch der Diskussiongegenstand zu sein schien, so unterschiedlich stellten sich Schwerpunkte und Ergebnisse dar, welche die Interpretation des alttestamentlichen Volksbegriffs bestimmten. a) Israel —"Musterbeispiel

für eine Volksgeschichte

überhaupt"

In den 30er Jahren begannen verschiedene Theologen, die biblischen Texte, die das Volk Israel in seiner Geschichte beschreiben, auf ihre Gemeingültigkeit für jede Volksgeschichte, besonders aber für die des deutschen Volkes, zu befragen. Auch wenn sich die einzelnen Stellungnahmen im Detail und in ihrer Verhältnisbestimmung gegenüber Israel unterscheiden, so stimmen sie dennoch in der Überzeugung überein, daß nach dem Alten Testament der Ursprung des Volkes bzw. der Völker in Gottes eigenem Willen begründet liege. Ein Volk sei deshalb immer wieder dazu verpflichtet, sich seiner göttlichen Herkunft zu erinnern und sich Gottes Willen zu unterstellen. Nur im Gehorsam gegenüber Gottes Wort könne das Zusammenleben als Volk unter Gottes Segen gestaltet werden. Die Gewißheit hierzu wurde den biblischen Schilderungen der Geschichte Israels entnommen. Im biblischen Israel entdeckte man „das Musterbeispiel" 139 aller Völker, dessen Ergehen Mahnung und Warnung für das deutsche Volk sein könne. So wollte Wilhelm Kessler die Worte, die im Alten Testament Israel gesagt sind, grundsätzlich auf alle Völker übertragen wissen. Die Berechtigung hierzu entnahm er der Tatsache, daß der Gott Israels der Gott aller Völker sei. Ausgehend vom biblischen Zeugnis formulierte Kessler deshalb zwei zusammenfassende Gedanken als Grundpfeiler jeglichen Volkstums: Respekt vor dem einen Gott und Respekt vor dem Nächsten140. Die Autorität Gottes müsse als Grundlage des Volkstums immer gewahrt bleiben. In den Geboten habe Gott Israel deshalb eine feste Ordnung zur Erhaltung ihres Volkstums gegeben141. Auch der Alttestamentier Wilhelm Rudolph betonte in seinem Beitrag zu der Vorlesungsreihe der Gießener Theologischen Fakultät, die im Jahre 1933 unter dem Thema ,Volk-Staat-Kirche' veranstaltet wurde142, die Gültigkeit 139

Das in der Überschrift zu diesem Kapitel aufgenommene Zitat stammt aus einem Aufsatz von BEHM, Volk, 56 (s. unten Anm. 144). 140

KESSLER/WEBER, Gott, 7.

141

KESSLER/WEBER, a a O . 10.

142

Zu der Vortragsreihe s. NOWAK, Protestantische Universitätstheologie, 102-104.

78

III. ,Völkische Frage' undalttestamentliche

Exegese

der biblischen Volksidee für alle Völker. Zugleich wandte er sich mahnend an das deutsche Volk, Gottes Auftrag nicht zu verkennen: „Das AT selbst verheißt, daß der Segen der Erwählung auch über das Volk Israel hinaus wirksam sein werde. Wenn Abraham die göttliche Zusage bekommt: , durch dich sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden' (...), so bleiben wir auf biblischem Boden, wenn wir glauben, daß der Weg Abrahams, nämlich der Glaube an Gott und der Gehorsam gegen sein Gebot, auch heute noch ein Volk zum Heil führt, während das Vertrauen auf die eigene Kraft und die damit verbundene Auflehnung gegen Gott Gottes Zorn und Strafe herausfordert, wie die Geschichte vom Turmbau zu Babel lehrt."143 Ganz anders las der sich zu den Deutschen Christen bekennende Berliner Neutestamentier Johannes Behm aus den biblischen Texten die Rechtfertigung für die von den Deutschen Christen vertretene Verortung von Volk und Rasse in der göttlichen Schöpfungsordnung 144 . Mit der Schöpfung sei die Menschheit grundsätzlich in Rassen und Völker gegliedert und besitze damit die Möglichkeit, die verschiedenen schöpfungsgemäßen Anlagen zu entfalten. Gen 11 schildere hingegen die göttliche Beendigung jeglichen Einheitsstrebens, mit dem Menschen die in der Schöpfung angelegte Zergliederung zu durchbrechen versuchten. Israels Geschichte ist für Behm „das Musterbeispiel für eine Volksgeschichte überhaupt als Geschichte unter Gottes Regiment" 145 . Das Alte Testament zeige „die Grundlinien der Geschichte Gottes mit einem Volk (...), aber auch Umrisse der Geschichte Gottes mit der Vielheit der Völker." 146 Auch Behms Gießener Fachkollege Georg Bertram sprach in seiner Abhandlung Volk und Volkstum im Lichte der Heiligen Schrift, die er in einer Schriftenreihe der Deutschen Christen veröffentlichte, von einer Allgemeingültigkeit der alttestamentlichen Volkslehre. Er gestand jedoch allein dem vorexilischen Israel zu, eine echte ,Volksreligion' besessen zu haben147. Die weitere Geschichte des Judentums habe sich von dieser ursprünglichen Bestimmung weit entfernt, indem das hellenistische Judentum das griechische Ideal der Gleichheit aller Menschen für sich übernommen und durch die Septuaginta verbreitet habe148. Der ursprüngliche alttestamentliche Geschichtsbe-

143 RUDOLPH, Volk, 33. Die weiteren Beiträge zu der Vorlesungsreihe kamen von H. Bornkamm, Volk und Rasse bei Martin Luther; G. Bertram, Volk und Staat im Neuen Testament; E. Haenchen, Volk und Staat in der Lehre der Kirche und L. Cordier, Volk und Staat in der Predigt der Kirche (alle Beiträge sind in dem Band Volk-Staat-Kirche abgedruckt). 144

BEHM, V o l k , 5 6 .

145

BEHM, a a O . 5 9 .

146

BEHM, a a O . 5 7 .

147

BERTRAM, Volkstum, 14. Zu Bertram siehe auch seinen Beitrag ,Volk und Staat im Neuen Testament' in dem Sammelband der Gießener Fakultät und DERS., Art. ëOvoç/èôviKoç. 148

BERTRAM, V o l k s t u m , 2 5 . 4 1 .

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der

Gegenwart

79

griff, der von dem Handeln Gottes an dem einen Volk spreche, sei damit zugunsten einer Vorbildfunktion für alle Menschen aufgelöst worden 149 . Das Evangelium aber gebe den Völkern ihre schöpfungsgemäße Eigenart wieder zurück, indem die Bindungen an Volk, Rasse, Sprache und Nation im Evangelium als gegeben vorausgesetzt würden 150 . Der Christ habe sich deshalb wieder auf das eigene Volk als den Ort zu besinnen, an den er durch Gott „zu Dienst, Einsatz und Opfer" gestellt werde151. Mit den vorgestellten Beispielen wird deutlich, wie sich Theologen um eine religiöse Deutung der zeitgeschichtlich so aktuellen Volksfrage bemühten. Die alttestamentlichen Texte erhielten ihren Wert als Quellen, aus denen der göttliche Zu- und Anspruch an ein Volk herausgelesen werden konnte. Es zeigt sich jedoch auch, wie gerade die Anhänger der Deutschen Christen vor der Problematik standen, daß die göttlichen Verheißungen ursprünglich dem Volk Israel galten. Um der eigenen Ideologie, die eine Verwerfung des Judentums forderte, gerecht werden zu können, grenzte man die biblische Verheißungen auf das vorexilische Israel ein. So aber wurde es möglich, sich gleichzeitig vom nachexilischen Israel und dem aus ihm hervorgegangenen Judentum zu distanzieren152. ß) Die prophetische Kritik - Gottes Warnung an ein Volk Auch Vertreter der Bekennenden Kirche übertrugen den biblischen Volksbegriff ins Allgemeingültige. Im Gegensatz zu den Deutschen Christen, die das Alte Testament benutzten, um die nationalsozialistische Volksideologie zu stützen, war ihr Anliegen häufig die Erarbeitung kritischer Maßstäbe für die Gestaltung eines Volkes. Diese fanden sie besonders in den prophetischen Texten der Hebräischen Bibel dargelegt. Deshalb betonten sie immer wieder die harsche Kritik der Propheten am Volk Israel und bezogen diese auch auf das deutsche Volk. Letztendlich intendierten sie hiermit eine deutliche Warnung an ihre Zeitgenossen vor den Verfehlungen der Deutschen Christen, die das eigene Volkstum und sein Wohl über alle anderen Werte stellten153. 149

BERTRAM, a a O . 2 3 .

150

BERTRAM, a a O . 4 2 f .

151 BERTRAM, aaO. 44f. Ähnlich wie Bertram klagte der Neutestamentier STRATHMANN (Art. Xaoq, 55) eine Verbindung des völkisch-nationalen mit dem religiösen Element eines Volkes ein. Auch er sprach davon, daß Israel in seiner Geschichte an diesem Anspruch gescheitert sei, die neutestamentliche Gemeinde ihn dagegen verwirkliche: „Aus dem Xaoq im völkisch-religiösen Sinne und den Xaoi = eövr] erwächst ein neuer Xaöq im rein religiösen Sinn, für dessen Bestand das biologisch-geschichtliche, das völkische Element bedeutungslos geworden ist." 152 Auch hier zeigen sich bereits Grundfaktoren, welche die in dieser Arbeit gründlich zu untersuchende Position des Alttestamentlers und Deutschen Christen Johannes Hempel in seinen Arbeiten zum alttestamentlichen Volksbegriff bestimmen. 153 Als Beispiel vgl. die Position von V. Herntrich (s. unten 287-290).

80

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

In diesem Sinne setzte Eduard Putz der jüdischen Nationalreligion, wie sie im Alten Testament geschildert und dort auch unter das Gericht gestellt werde, die wahre Religiosität gegenüber. Diese unterstelle sich Gottes Willen, entsprechend der prophetischen Forderung. Die jüdische Nationalreligion aber, wie sie sich z.B. in der Verehrung des Goldenen Kalbs als Nationalgott, in der Verehrung Baals als Volksgott und JHWHs als Nationalgott zeige, vergleicht Putz mit der völkischen Religion seiner Tage: „Es war immer wieder ein völkischer Gottesglaube! So schreit der jüdische Mensch: ,Mein Gott das ist ein jüdischer Gott!' Diese Judenreligion ist im Alten Testament drin. Sie ist genau gezeigt. Jüdische Züge, Jüdisches Gottesbild! Aber ebenso ruft auch heute mancher deutsche Mensch: ,Mein Gott das ist ein arischer deutscher Gott!'" 154 Demgegenüber offenbare sich Gott als Gott der ganzen Welt, erhaben über die ,Rassegötter' und diesen im Alten Testament entgegentretend 155 . Deshalb, so Putz, müßten die Deutschen am Alten Testament festhalten, um die Warnung zu hören, die Gott durch die Propheten gegenüber nationaler Religion ausspreche und am jüdischen Volk beispielhaft vollziehe. Auch Rudolf Abramowski warnte vor einem falschen Verständnis des Gottesvolkes: Schon das alttestamentliche Israel habe sich selbst als messianisch und damit als Heilsbringer für die Welt (miß-)verstanden. Damit aber sei der Messiasgedanke von seiner ursprünglich eschatologischen Bedeutung auf eine innerweltliche Erfüllung im Volk Israel „als Prediger an die Völker, Sühner der Heiden und Herrscher der Welt" 156 uminterpretiert worden. Israel habe sich damit von der Demut, welche die Erwählung fordere, entfernt und statt dessen eine „Theologie der Ehren, die notwendig zu Selbstsicherheit und Übermut" führe, angenommen 157 . Exegetische Arbeit müsse nun dem durch Israel falsch interpretierten und von Gott unter das Gericht gestellten Volksbegriff wieder seine ursprüngliche Ausrichtung auf die Zukunft zurückgewinnen. Denn es zeige sich im Alten Testament, daß dort, „wo das Volk und seine Zukunft den Vordergrund einnehmen, wo seine Ewigkeit statuiert und seine Größe absolut gesetzt wird, da ist Gott verlassen, und ein neuer Götzendienst hat angefangen, (...) hier (...) verehrt der Mensch sich selbst in seinem Volke" 158 . Abramowski bleibt deshalb nicht bei einer Kritik der seiner Meinung nach falschen Volksauffassung des biblischen Israel stehen, sondern überträgt seine Erkenntnisse auf die Gegenwart. Um nicht den gleichen Fehlern wie Israel zu verfallen, müsse man von dem Anspruch, messianisches Volk zu sein, 154 155

PUTZ, Warum hält die Kirche, 6. PUTZ, aaO. 7.

156 ABRAMOWSKI (Die Messianität, 367) führt hier v.a. Dan 7, DtJes (Gottesknecht) und Ez 37 an. Zur Frage der individuellen bzw. kollektiven Deutung der Gottesknechtlieder vgl.

JANOWSKI, S t e l l v e r t r e t u n g , 7 5 - 7 8 . 157

ABRAMOWSKI, a a O . 3 6 8 .

158

ABRAMOWSKI, a a O . 3 6 9 .

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der Gegenwart

81

zu dem Bekenntnis zurückfinden, ein erwähltes Volk zu sein. Dieses zeichne sich durch den Ethos des Gehorsams gegenüber Gottes Willen aus, nicht aber durch den Mythos des Volkes, der auf Selbstvergötzung basiere159. In einem Beitrag für die Junge Kirche plädierte Wilhelm Vischer dafür, den Begriff des Gottesvolkes ganz von der Bindung an ein besonderes Volk zu lösen, um so jeglichem völkischen Überlegenheitsansprach eines einzelnen Volkes zuvorzukommen. Nach seinen Worten erwählt sich Gott aus allen Völkern der Erde sein heiliges Volk 160 . In Anlehnung an Martin Buber nennt Vischer Israel ein heiliges Volk „nicht vom Blute her, sondern vom Rufe Gottes her"161. Durch Jesus Christus werde dieser Gedanke vollendet, und an die Stelle des alttestamentlichen Bundesvolkes trete „die Kirche Christi aus und in allen Völkern". Die Stellung des Christen zu Volk und Staat entspreche damit mehr einem Erdulden, die Gewißheit der eschatologischen Hoffnung führe auf ein Ende aller antiken und gegenwärtigen Volkstumsmythen „heidnischer oder .christlicher', deutscher oder schweizerischer Fassung" hin 162 . Allein Israel habe als Heiliger Rest noch eine endzeitliche Bedeutung als Volk 163 . In den genannten Beiträgen wird zwischen einem biologischen Volksbegriff auf der einen Seite und dem Begriff des Gottesvolkes auf der anderen Seite unterschieden. Das Gottesvolk könne sich nicht auf seine biologische Abstammung berufen, sondern habe sich als ein solches im Leben zu erwei159

ABRAMOWSKI, aaO. 372f. Für Abramowski ist das Prinzip der Messianität einzig in Jesus Christus erfüllt, alle individuellen und gemeinschaftlichen Formen der Heilsgewinnung sind damit negiert (aaO. 373). 160 VISCHER, Gott, 28. Da nach Vischers Ansatz Altes wie Neues Testament Jesus als den Christus bezeugen, spricht er auch hier davon, daß nach alttestamentlichem Zeugnis Gott durch Jesus Christus das Volk aus allen Völkern beruft. 16 ' VISCHER, aaO. 33. Vergleichbar argumentiert auch der Schweizer Max HALLER (Religion). Für ihn liegen im Alten Testament Warnungen gegen einen einseitigen Rassegedanken verborgen, die sich auf jedes Volk beziehen lassen. Denn an Israel wird seiner Meinung nach deutlich, daß die Zugehörigkeit zum Volk nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern vielmehr auf Erwählung basiert. Haller (aaO. 13) wirft der Religionswissenschaft vor, „in ihrer Geschichte lange Zeit vom Rassegedanken geblendet gewesen (zu sein) und (...) somit Mitschuld an dem Unfug, der heute mit ihm getrieben wird", zu haben. Nach Hallers Worten müßte die Religionswissenschaft aber gerade aufdecken, „daß neben und über den Mächten von Blut und Art Mächte des Geistes einhergehen, die, im tiefsten Wesen des Menschen verankert, die Grenzen überschneiden, die durch jene geschaffen sind. (...) Religion ist gemeinschaftsbildend, nicht trennend" (aaO. 22). Zu Haller s. KUSCHE, Die unterlegene Religion, 96-102. 162

VISCHER, aaO. 4 3 ^ 6 . Zu Vischers Sicht Israels s. auch unten 206f. Von einer vergleichbaren eschatologischen Bedeutung Israels geht auch HUG (Das Volk, 45) aus: Nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums (Joh 4,22) betont er, daß das Heil von den Juden komme. Damit aber sei jeder Jude Gegenstand der Hoffnung, Antisemitismus und die Einführung des Arier-Paragraphen seien dagegen völlig falsche Zeichen. 163

82

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

sen. Gottesvolk ist Dienstgemeinschaft, die sich Gottes Willen unterstellt. Allem Stolz auf eigene Volks ab stammung und -Zugehörigkeit ist damit eine deutliche Absage erteilt. Die Mitglieder der Bekennenden Kirche verwarfen vielmehr die Vergötzung des eigenen Volkes und forderten statt dessen die gehorsame und hörende Unterstellung unter Gottes Willen. Damit kehre man letztlich zu dem zurück, was die Heiligen Schriften selbst intendierten 164 . Der Volksnomostheologie der Deutschen Christen, welche die göttliche Erwählung des Volkes auf die biologisch definierte Volksgemeinschaft bezog, war damit widersprochen. Y) Das Alte Testament in der völkischen Erziehung Im Zusammenhang mit der Frage, inwieweit das Alte Testament in einem völkisch geprägten Weltbild noch Bedeutung beanspruchen könne, wird immer wieder auf den Aspekt der Jugenderziehung verwiesen. Die Entwürfe der staatlichen Richtlinien für den evangelischen Religionsunterricht 165 , die seit 1936 in mehreren Fassungen vorgelegt wurden, forcierten eine weitgehende Zurückdrängung des Alten Testaments aus den Lehrplänen. Die Diskussion um die Gestaltung des Religionsunterrichts wurde sowohl auf staatlicher wie auch auf kirchlicher Ebene geführt 166 . Dabei war innerhalb der evangelischen Religionslehrerschaft kein einheitlicher Standpunkt gegenüber dem Alten Testament vorauszusetzen 167 . Ein beredtes Zeugnis hierfür sind die Beiträge, die in der Zeitschrift Deutsche Evangelische Erziehung von 1934 zu diesem Problem veröffentlicht wurden. Die Richtung der Zeitschrift, die ursprünglich dem pädagogisch orientierten theologischen Liberalismus nahegestanden hatte168, nahm 1934 eine Wende. Sie stellte sich weitgehend unter das Ideal einer „deutschen evangelischen Erziehung", um der „große(n) Pflicht der neuen Erziehung unseres Volkes" 169 nachkommen zu können. In diesem Zusammenhang stand auch die Frage nach der Behandlung des Alten Testaments innerhalb des Schulunterrichtes. Die ver¡64 Yg] hierzu die exegetischen Erörterungen zum alttestamentlichen Volksbegriff in Kap. V.2. 10 Zur Geschichte der Reichsrichtlinien für den Evangelischen Religionsunterricht, die in mehreren Entwürfen vorlagen, jedoch letztendlich nie eingeführt wurden, s. THIERFELDER, Der Streit und DERS., Die Geschichte. 166 Zur Diskussion um die Notwendigkeit einer Neugestaltung des Religionsunterrichts unter den veränderten politischen Bedingungen des Dritten Reichs s. die Sammelbesprechung von FABER, Probleme. 167 Zur parallelen Entwicklung innerhalb der Theologischen Fakultäten im Streit um die Beibehaltung des Hebräischen und des Faches , Altes Testament* in den Studienordnungen s. CASPARI, Die Bibel. 168

Zur Geschichte der Zeitschrift, die erst 1934 den Titel .Deutsche Evangelische Erziehung' erhielt, s. RINGSHAUSEN, Religionspädagogik. 169 KOEPP, Volkwerdung, 4.

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der

Gegenwart

83

schiedenen Beiträge zeigen, daß zur Beantwortung eher politische Argumente herangezogen wurden als die Treue gegenüber der christlichen Tradition, die an einen Kanon aus Altem und Neuem Testament gebunden ist170. So schreibt Ernst Posselt über seine Erfahrungen: „Wir erleben in der Gegenwart wieder einmal als Volk und durch das Volk göttliche Offenbarung" 171 . Volk und Gott würden als innerlichst verbunden empfunden, alles Volksfremde aus religiösen Gründen abgelehnt. Deshalb könne das deutsche Volk gar nicht anders, als die Frage nach der „Bedeutung des volksfremden jüdischen Alten Testaments" erneut aufzurollen172. Posselt selbst plädiert unter Berufung auf Luther und Schleiermacher dafür, Altes und Neues Testament grundsätzlich voneinander zu trennen. Es stehe „geschichtlich fest, daß das A.T. das völkische heilige Buch des Judentums sein wollte und sein sollte 173 . Der Unterschied in den Beweggründen der Kanonisierung von N.T. und A.T. ist unbestreitbar: um Christi willen wurde der Kanon des N.T.s, um des jüdischen Volkstums willen der des A.T.s zusammengestellt" 174 . Deutsche Christenmenschen verstünden aber das ihnen Nahe am besten. Um den Schülern das lebendige Gotteswort nahezubringen, müsse deshalb im Mittelpunkt des Religionsunterrichts das Neue und nicht das Alte Testament stehen: „Das A.T. wird immer nur dann herangezogen werden, wenn Leben und Lehre Jesu nur so verständlich werden." 175 Doch auch Posselt spricht von „wertvollen Teile(n) des A.T.s", aus denen die prophetische Religion spreche, an der sich das Christentum orientiere176. Im weiteren stellt Posselt ein „völkisches Kriterium" zur Auswahl der alttestamentlichen Texte für die Behandlung im Schulunterricht auf: „Zeugnisse jüdischer Volksreligion können im Religionsunterricht allenfalls soweit Verwendung finden, als an ihnen gelegentlich der Unterschied zur christlichdeutschen Auffassung erwiesen werden soll"177. Andere Teile dürften jedoch nicht behandelt werden, um die jugendlichen Schüler nicht zu gefährden: „Auf keinen Fall dürfen die Erzählungen in den Unterricht hineingenommen werden, die noch auf der Stufe einer primitiven Sittlichkeit stehen, es muß vielmehr dafür gesorgt werden, daß der Schüler sie gar nicht zu Gesicht be170

Der Versuch einer eher wissenschaftlich orientierten Behandlung des Problems findet sich in den Theologischen Blättern von A. JEREMIAS, Die biblischen Urgeschichten. 171

POSSELT, Altes Testament, 369.

172

POSSELT, ebd.

173 U m nach der Vernichtung der Juden als Volk im Jahre 7 0 n.Chr. die geistige Verbundenheit der Juden untereinander zu gewährleisten (POSSELT, aaO. 371). 174 175

POSSELT, ebd.

POSSELT, aaO. 376. Im Gegenzug spricht POSSELT (aaO. 377) von der Gesetzesreligion, an der sich das Alte Testament orientiere und aufgrund derer „als unterchristlich viele Abschnitte des A.T.s für den Religionsunterricht ohne weiteres" wegfielen. 177 POSSELT, aaO. 377. 176

84

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

kommt" 178 . Als Konsequenz fordert Posselt eine Auswahl der alttestamentlichen Texte in den Schulbüchern. Ganz anders spricht sich im selben Heft der Deutschen Evangelischen Erziehung Arnold Werner dafür aus, den Schülern die einzigartige Bedeutung des Alten Testaments für die eigene Gegenwart zu verdeutlichen: „Die kirchenpolitische Lage und gewisse geistige Bestrebungen der Gegenwart machen es notwendig, sich aufs neue zu besinnen auf den Wert des Alten Testaments beim Gebrauch in Kirche und Schule" 179 . Werner fordert deshalb, den Widerstand gegen das Alte Testament, der auch unter den Schülern zu spüren sei, zu brechen. Es sei ihnen zu zeigen, daß gerade die völkischen Fragen, welche die Jugend so sehr bewegten, im Alten Testament eine Antwort finden könnten 180 . So solle Moses im Unterricht „als der große Führer, der aus Nomadenstämmen ein Volk formt", behandelt werden. Denn so werde den Schülern deutlich, daß Männer Geschichte und auch Völker machen, die Kraft dazu aber Geschenk der göttlichen Gnade sei. Elia sei dagegen als derjenige zu schildern, der im Ringen um die Erhaltung seines JHWH-Glaubens und seines Volkstums gegen religiöse und völkische Überfremdung kämpfe. In diesem Sinne sei sein Kampf gegen Baal „ein Vorbild und eine Rechtfertigung für den Kampf des Nationalsozialismus gegen den Geist der nicht nur unserm innersten Wesen widersprechenden, sondern auch gottentfremdeten Kultur des Westens" 181 . Den Blick auf die Gefährdung des Volkstums durch innere Zersetzung lenkten jedoch Arnos und Jesaja. Mit ihnen seien die sozialen Forderungen als Forderungen Gottes zu verstehen. So könne mit den genannten Beispielen „das Wesentliche des nationalen Sozialismus behandelt und so dieser religiös vertieft werden"182. Werner schließt seinen Artikel deshalb mit dem Satz: „In einer Zeit, in der wir von einem extremen Individualismus zurückkehren wollen zu der gottgewollten Bindung an das Volk, geht es nicht an, das A.T. ausmerzen zu wollen, das unendlich viel mehr als das N.T., das in einer Zeit eines Völkerchaos entstanden ist, uns völkische Bindungen zeigt." 183 Die Diskussion um die Frage nach der Beibehaltung des Alten Testaments in den Erziehungskonzepten wurde jedoch auch über die fachspezifischen Organe hinaus geführt: In einer eigenen Broschüre untersuchte Friedrich Grüna-

178 POSSELT, aaO. 378. Posselt bemerkt hierzu, daß es besser gewesen wäre, wenn Luther sich schon dazu entschlossen hätte, die Texte wegzulassen. Denn schließlich sei er sich der Gefahr durchaus bewußt gewesen, wie seine Anmerkungen zu Gen 38 zeigten. 179 WERNER, Probleme, 384. 180

WERNER, aaO. 384f.

181

WERNER, aaO. 385.

182

WERNER, aaO. 386.

183

WERNER, ebd.

3. Die Auslegung des Alten Testaments im Streit der

Gegenwart

85

gel als Deutscher Christ 184 das Aergernis des Alten Testamentes, das für ihn der erste Teil des christlichen Kanons darstellte. Er belegt dies mit einer Gegenüberstellung der „sittlich bedenklichen Geschichten im Alten Testament" und neutestamentlichen Stellen185. Sein Ziel war nach seinen eigenen Worten eine Untersuchung dessen, „ob man heute angesichts der großen Ziele unserer Volkserziehung das Alte Testament als literarisches Produkt des Judentums tatsächlich entbehren kann, oder ob diesem Dokument eine über die Belange der Einzelvölker hinausreichende überragende Stellung zukommt" 186 . Grünagel sah den bleibenden Wert der alttestamentlichen Schriften in ihrer Aussage für die Gegenwart. Aus den Fehlern Israels könne man für die Gestaltung des eigenen Volkes lernen, denn „darin besitzen wir in dem Alten Testament ein unübertreffliches Geschichtswerk, das wie kein anderes rücksichtslos mit unbeschönigter Offenheit den Charakter des jüdischen Volkes aufdeckt. In ihm gibt sich das Judentum, wie es ist, mit seinen höchsten Tugenden und gefährlichsten Gemeinheiten" 187 . Zudem sei die Wertschätzung des Gesetzes, wie sie aus den alttestamentlichen Texten spreche, nach der gesetzlosen Zeit der Weimarer Republik wieder nachzuvollziehen188. So kommt Grünagel zu dem Schluß, daß derjenige, der „uns dazu rät, das Alte Testament gänzlich abzuschaffen, (...) zwar von gutem Willen für unser deutsches Volk beseelt sein (mag), er täuscht sich aber über den wirklichen Erfolg, der viel eher negativ als positiv ausfallen könnte"189. So besäßen die alttestamentlichen Schriften bleibenden Wert - auch in der Erziehung innerhalb der neuen Weltanschauung. Das Alte Testament sollte in der völkischen Ideologie eine besondere Wertschätzung erhalten, indem es auch als Quelle zur Erziehung im Sinne völkischer Ideale dienen konnte: Die Erziehung zur Volkssolidarität und die Erkenntnis über die vermeintlich negativen Eigenschaften des „jüdischen Volksfeindes", wie sie schon in den alttestamentlichen Texten zu erkennen seien, standen dabei im Mittelpunkt.

184

GRÜNAGEL (Klappentext zur Schriftenreihe: Kirche in Bewegung und Entscheidung, in: DERS., Das Aergernis) bezeichnet sich als Mitglied eines „Arbeitskreis(es) einiger Theologen und Laien des Rheinlandes, die in den Reihen der Deutschen Christen stehen" und die um das ernsthafte Ringen um eine Glaubensgemeinschaft, „die vor uns liegt", bemüht sind. 185 GRÜNAGEL (aaO. 9f.) führt in einer Tabelle vermeintliche alttestamentliche Beispiele für ,Handelssucht', .Rache und Grausamkeit', .bedenkliche sittliche Entgleisung' u.a. an, um sie neutestamentlichen Stellen gegenüberzustellen. 186

GRÜNAGEL, a a O . 11.

187

GRÜNAGEL, a a O . 2 3 .

188

GRÜNAGEL, a a O . 2 4 .

189

GRÜNAGEL, a a O . 3 2 .

86

III. ,Völkische Frage' und alttestamentliche

Exegese

4. Zusammenfassung: Das Alte Testament innerhalb völkischer Weltanschauung Angesichts des aktuellen politischen Zeitgeschehens, wie es für die alttestamentliche Wissenschaft in den Angriffen der völkischen Bewegung gegen das Alte Testament kulminierte, sahen sich Alttestamentier gezwungen, deutliche Aussagen zur Bindung an den Gegenstand ihrer Wissenschaft zu machen. Unter der radikalen Infragestellung, die von außen an sie herangetragen wurde, bemühten sie sich, Antworten auf lange geführte Streitigkeiten - wie diejenigen um die Stellung des Alten Testaments innerhalb des christlichen Kanons und um das rechte Verständnis ihrer Wissenschaft - zu finden. Nur so konnten sie hoffen, der gesellschaftlichen Ächtung der alttestamentlichen Texte überzeugend entgegenzutreten. Aber auch innerhalb völkischer Weltanschauung schien sich das Alte Testament nicht so eindeutig verwerfen zu lassen, wie anhand der dort vertretenen massiven Polemik gegen alles Jüdische zunächst zu vermuten gewesen wäre. Zu sehr herrschte unter den christlich geprägten Gruppierungen der völkischen Bewegung das Bewußtsein vor, daß gerade in den alttestamentlichen Schriften viele Aspekte zur ,völkischen Frage' enthalten seien. Alttestamentler unterstützten diese Wahrnehmung mit ihrem verstärkten Bemühen um den alttestamentlichen Volksbegriff. Sie hofften, die Argumente derjenigen, die für eine Abschaffung des Alten Testaments plädierten, aus den alttestamentlichen Schriften heraus entkräften zu können190. Innerhalb des christlich weiterhin gebundenen Teils der völkischen Bewegung wurde die Hebräische Bibel immer wieder als Argumentationshilfe für die eigenen politischen Ansichten benutzt. Andererseits versuchte man, im Rückgriff auf die biblischen Schriften Israel als verworfenes Volk darzustellen. Gegen Israel, das seinem göttlichen Auftrag nicht gerecht geworden sei, sollte nun das deutsche Volk das eigene Leben nach dem in der Bibel bezeugten göttlichen Willen gestalten. Um der Spannung zwischen dem ursprünglich erwählten und somit vorbildhaften Volk Israel und der Ablehnung alles Jüdischen gerecht werden zu können, wurde die bereits von Wellhausen formulierte Abgrenzung zwischen vorexilischem Israel und nachexilischem Judentum aufgegriffen 191 . Wellhausen hatte durch seine Spätdatierung des Gesetzes in die Zeit Esras und Nehe190 Vgl. hierzu die Vorwürfe von NICOLAISEN (Die Stellung, 219) an die Alttestamentler und von HALLER (Religion, 13) an die Religionswissenschaft, daß diese mit ihren Methoden und Ergebnissen der Ideologie der Gegner des Alten Testaments Hilfestellung geleistet hätten. 191

Diese, in der exegetischen Wissenschaft lange gepflegte Tradition, wird erst heute langsam überwunden, indem man mit Vertreterinnen und Vertretern der zeitgenössischen jüdischen Wissenschaft in einen Dialog über die gemeinsame Bibel eintritt.

4. Zusammenfassung

87

mias eine strikte Trennung zwischem dem vorexilischen Israel und dem nachexilischen Judentum gezogen. Das „alte Israel" verkörperte für ihn alle positiven Werte, nämlich „von der Religion inspiriertes nationales Leben und individuelle Religiosität" 192 . Das nachexilische Judentum sei dagegen ganz von der Herrschaft des Gesetzes geprägt, die Religion zu starrem Kult verkommen 193 . Für die alttestamentliche Wissenschaft begann mit Wellhausens Thesen zur Spätdatierung des Gesetzes eine neue Ära194. In seiner Nachfolge übernahmen viele Alttestamentler auch die strikte Trennung zwischen dem alten Israel und dem nachexilischen Judentum 195 . Dieser Schritt erleichterte vielen den Zugang zu den alttestamentlichen Texten, ohne damit auch das Judentum positiv werten zu müssen. Denn Vorbildcharakter und religiöser Wert wurden allein dem „alten Israel" zugeschrieben, während das nachexilische Judentum mit allen negativen Aspekten einer erstarrten, von Gott unter das Gericht gestellten Religionsform identifiziert wurde196. In dem beschriebenen .Streit um das Alte Testament' war die Diskussion infolge einer weitverbreiteten antijudaistischen Grundhaltung völlig abgelöst von einer etwaigen Stellungnahme zugunsten des Judentums. Die beteiligten Theologen vollzogen oftmals die zeitgenössische Kritik am Judentum nach und bezeugten dennoch eine positive Haltung gegenüber den alttestamentlichen Schriften. Hinsichtlich des Volksbegriffs wurde die Trennung parallel gezogen: Das ,alte und ursprüngliche Israel' verkörperte die von Gott eingesetzte Lebensform des Volkes, demütig gegenüber Gottes Willen, der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft verantwortlich handelnd. Im Laufe der Geschichte habe Israel jedoch durch sein eigenes Fehlverhalten jeglichen Anspruch auf die Erwählung verloren, und der langsame Abfall ende schließlich in der starren Form des sich nach dem Exil bildenden Judentums.

192

KUSCHE, Die unterlegene Religion, 62. Zu Wellhausens Sicht Israels und des Judentums vgl. KUSCHE, Die unterlegene Religion, 30-74; RENDTORFF, The Image, bes. 166ff.; SMEND, Wellhausen und SILBERMAN, Wellhausen. 194 Diese Phase bestimmt nach RENDTORFF (The Image, 166) die alttestamentliche Wissenschaft bis heute. 195 KUSCHE (aaO. 166) weist in diesem Zusammenhang z.B. auf Martin Noth hin. RENDTORFF (Das „Ende", 267-270) differenziert die Beurteilung Noths und spricht von unterschiedlichen Phasen, in denen Noth das Ende Israels zunächst mit dem babylonischen Exil ansetzte. In seiner Geschichte Israels von 1950 setze Noth das Ende der Geschichte Israels jedoch mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr. gleich. 196 Ygj a [ s Beispiel hierfür die Argumentation Hempels (s. unten 278). 193

IV. Alttestamentliche Wissenschaft und völkische Ideale zu Leben und Werk des Alttestamentiers Johannes Hempel Aus den im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Auseinandersetzungen wird deutlich, daß viele Alttestamentier in der Zeit der völkischen Angriffe auf das Alte Testament ihr exegetisches Interesse dem biblischen Volksbegriff widmeten. Es zeigte sich, daß auch Exegese in Abhängigkeit zu zeitbedingten Fragen gesehen werden muß. Im folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, wie weit politisches Interesse und Exegese sich gegenseitig beeinflussen: Am Beispiel des Alttestamentlers Johannes Hempel wird dargestellt, in welchem Ausmaß sich politische Biographie und wissenschaftliche Arbeit in der Zeit des Dritten Reichs wechselseitig bedingten.

1. Wissenschaftlicher Werdegang Johannes Julius Wilhelm Hempel wurde am 30.7.1891 in Bärenstein bei Dresden als Sohn des dortigen Ortspfarrers und späteren Geheimen Konsistorialrates Paul Hempel und dessen Frau Elisabeth, geb. Philipp, geboren 1 . Bereits der Großvater väterlicherseits war Pfarrer gewesen 2 . Hempel verlebte seine Kindheit in Kreischa und Dippoldiswalde. In seinen letzten Lebensjahren kam er immer wieder auf die Eindrücke, die das Leben im Pfarrhaus bei ihm als Kind hinterlassen hatten, zurück: die allabendliche Fürbitte der Pfarrerskinder 3 , der erste Unterricht im ABC und im kleinen Einmaleins durch den Nachbarn, der langsame Einzug der Technik in die dörflichen Umgebung 4 . Hempel besuchte die Volksschulen in Kreischa und Dippoldiswalde. 1

Vgl. FREIST/SEEBASS, Die Pastoren, 162. Sein Vater kam 1917 als Stellvertreter des Landesbischofs in das Landeskonsistorium nach Dresden und verstarb dort 1933 (vgl. Notiz in ChrW 47 [1933] 381). 2 ,Arierfragebogen' Hempels vom 21.1.1936, in: UK Göttingen, Bl. 1, in: UA der HUB, H 216. 3 Rundbrief Hempels vom 10.4.1963 (der Verf. von Prof. Weippert, Heidelberg, freundlicherweise zur Verfügung gestellt): „Ein naher Verwandter meines Vaters besuchte uns im Kreischaer Pfarrhaus und erkrankte so schwer, daß er in das am Ort befindliche Sanatorium eingeliefert werden mußte. Es war selbstverständlich, daß wir Kinder ihn in unser Abendgebet im Bett einschlössen." 4 Predigt Hempels zum 2. Advent 1963 in der Universitätskirche zu Göttingen, in: VA de Gruyter, Hempel. BZAW 67: „Da stand der Pastorsjunge im erzgebirgischen Dorf am Zaun des Pfarrgartens und wartete auf den Wagen ohne Pferd, der am Vormittag die Straße entlang

1. Wissenschaftlicher Werdegang

89

S e i n e G y m n a s i a l z e i t verbrachte er am G y m n a s i u m , Z u m H e i l i g e n Kreuz' in Dresden 5 . 1 9 1 0 legte er dort sein Abitur ab 6 . a) Studium

in Leipzig

(1910-1914)

In den Jahren z w i s c h e n 1 9 1 0 und 1 9 1 4 studierte H e m p e l in L e i p z i g T h e o l o gie, Orientalistik und Geschichte. A l s seine Lehrer hob er vor a l l e m den Alttestamentler R u d o l f Kittel und den Religionshistoriker Nathan Söderblom, für S e m i t i s c h e Sprachen den A s s y r i o l o g e n Heinrich Zimmern und für Geschichte den Profanhistoriker Karl Lamprecht hervor 7 . D a n e b e n hörte er bei d e m Phil o s o p h e n W i l h e l m Wundt die Vorlesung über Völkerpsychologie 8 . 1 9 1 4 wurde H e m p e l mit seiner Arbeit Die Schichten des Deuteronomiums z u m Dr. phil. promoviert 9 . D i e Dissertation enthält e i n e n literarkritischen D u r c h g a n g durch das D e u t e r o n o m i u m . H e m p e l will s e i n e E n t s t e h u n g beschreiben und die unterschiedlichen Schichten in ihrer literarischen und relig i ö s e n Eigenart analysieren 1 0 : D e m D e u t e r o n o m i u m l i e g e eine T e m p e l r e g e l aus der T e m p e l g r ü n d u n g s z e i t zugrunde. Unter d e m Eindruck der R e f o r m e n Hiskias sei diese überarbeitet worden 1 1 , u m d e m Volk zu e i n e m gottgefälligen gerollt sein und am Nachmittag wiederkommen sollte, da wurde er von seinem Vater zum Kaufmann mitgenommen, der einen Apparat - als einziger im Dorf! - hatte, durch den man mit Berlin sprechen konnte!" Weitere Erinnerungen Hempels an seine Kindheit finden sich in seiner Predigt vom 5.2.1961, in: DERS., Unterwegs, 11. 5 Dieselbe Schule besuchte später auch der elf Jahre jüngere Martin Noth (vgl. SMEND, Deutsche Alttestamentier, 255). 6 Hempel heiratet 1922 die Kaufmannstochter Maria Kolbe. Er hatte sie in Halle kennengelernt, als er dort in Vertretung für Gunkel las, und sie als Studentin an seinen Veranstaltungen teilnahm (s. hierzu HEMPEL, In memoriam). Aus der Ehe gehen sechs Kinder hervor, von denen jedoch zwei am Tage ihrer Geburt und eines im Alter von drei Jahren sterben (Personalbogen Hempels, in: UA der HUB, H 216, Bl. 91). BIRNBAUM (Zeuge, 217) beschreibt in seiner - sehr subjektiv gefärbten - Biographie seinen Kollegen Hempel folgendermaßen: „Der sonderbare, fast arabisch aussehende Mann war ein rechtes Original im Göttinger Straßenbild: unterm linken Arm eine pralle Büchertasche, am rechten hing der Stock, die Hand voller Bücher, die halbabgebrannte Zigarette im Mund." 7 Vgl. Lebenslauf Hempels in Kuratoriumsakte Halle, Bl. 4, in: UA der HUB, H 216. Zu Erinnerungen an seine Studienzeit s. DERS., Glückwunschschreiben, 82 und Predigt zum 7.5.1961, in: DERS., Unterwegs, 18. 8 Auf Wundts Ansatz kommt Hempel immer wieder zu sprechen: vgl. z.B. DERS., Das reformatorische Evangelium, 31; Altes Testament und Religionsgeschichte, 262 und in der Predigt am 2. Advent 1963 in der Universitätskirche zu Göttingen, S. 4, in: VA de Gruyter, Hempel. BZAW 67. Zu Wundts Einfluß auf die alttestamentliche Wissenschaft vgl. auch KRAUS, Geschichte, 321ff. 9 Referenten der Arbeit waren Prof. Heinrich Zimmern und Prof. August Fischer, vgl. Brief des Dekans der Theologischen Fakultät Leipzig an den Dekan der Theologischen Fakultät Göttingen vom 15.1.1964, in: UAG, ThFak Nr. 12. 10

HEMPEL, D i e S c h i c h t e n , 4 9 .

11

HEMPEL, a a O . 2 5 9 .

90

TV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Gottesdienst zu verhelfen. Darin aber liege, so Hempel, das nachmalige Ende des Volkes Israel und seine Verblendung mitverschuldet. Denn nun werde die Frömmigkeit an den äußeren Brauch gebunden 12 . Die weitere Entwicklung des Deuteronomiums gehe schließlich über die Wiederentdeckung durch Josia zur Einarbeitung in JE in exilischer und der Anfügung kleinerer Zusätze in nachexilischer Zeit 13 . Im Vorwort zu seiner Dissertation dankt Hempel neben seinem Doktorvater Zimmern 14 auch Kittel für die Anregungen zur Entstehung der Arbeit 15 . Kittel vertrat in Leipzig gemeinsam mit Söderblom das Fach der Religionsgeschichte. Die religionsgeschichtliche Tradition in Leipzig ging auf eine Initiative der Professoren Albert Hauck, Ludwig Ihmels und Rudolf Kittel zurück. Sie setzten die Errichtung einer neuen Professur für , Allgemeine Religionsgeschichte' durch 16 , unterstützt durch den Profanhistoriker Karl Lamprecht, der in Leipzig u.a. ein Institut für Kultur- und Universalgeschichte ins Leben gerufen hatte 17 . Als erster Lehrstuhlinhaber kam Nathan Söderblom 1912 (bis 1914) nach Leipzig18. 1914 wurde das .Staatliche Forschungsinstitut für vergleichende Religionsgeschichte', wie es bei seiner Gründung geheißen hatte, dem Religionsgeschichtlichen, Neutestamentlich- und Alttestamentlich-Exegetischen Seminar angegliedert und im jährlichen Wechsel einem der Direktoren dieser Seminare unterstellt19. In diesem Rahmen erhielt Hempel seine religionsgeschichtliche Ausbildung, die grundlegend für seine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Schriften des Alten Testaments wurde. Dabei entwickelte er sowohl zu Kittel als auch zu Söderblom ein enges Schüler-Lehrer-Verhältnis. In der sog. Kit12 Schon hier wird deutlich, wie Hempel den Bruch zwischen dem biblischen Volk Israel und dem späteren, „nach äußerer Frömmigkeit heischenden" Judentum vollzieht. Darin spiegelt sich insgesamt die forschungsgeschichtliche Bewegung der Trennung zwischen dem vorexilischen Israel und dem durch den Kult starrgewordenen nachexilischen ,Spätjudentum' wider (zu Wellhausen s. unten 86f. 252f.). 13

HEMPEL, aaO. 261ff. Zu Heinrich Zimmern, der aus einer jüdischen Familie aus dem badischen Graben stammte und zum Christentum konvertiert war, vgl. GOLDMANN, Art. Zimmern und HAHN, Erinnerungen, 290. 14

15

16

HEMPEL, aaO. I.

Vgl. G. Kittel, Kring Söderbloms Leipzigtid, deutsch in Auszügen bei EDSMAN, Nathan Söderblom, 343. 17 WARTENBERG, Art. Leipzig, 724. Hempel hebt Lamprecht als Lehrer besonders hervor, dem er in geschichtlichen Grundfragen näher gestanden habe als R. Kittel (vgl. HEMPEL, Rudolf Kittel, 89). 18 Zur Berufung Söderbloms nach Leipzig vgl. F. RENDTORFF, Nathan Söderblom, 385; EDSMAN, Nathan Söderblom, 343f.; KARLSTRÖM, Nathan Söderblom, 76-79; K. RUDOLPH, Geschichte, 328f. und SHAPE, Nathan Söderblom, 160f. 19 RUDOLPH, aaO. 353. Die Leitung fiel somit nacheinander an: Heinrici; Söderblom; Kittel; Haas; Leipoldt; Alt.

1. Wissenschaftlicher

Werdegang

91

tel-Bibel bearbeitete er das Buch Deuteronomium und stand mit seinem Lehrer auch über diese Zeit hinaus in intensivem Briefkontakt 20 . Besonders überzeugt habe ihn Kittels Verständnis der Religionsgeschichte, in der „der Glaube stets Sache persönlichen Lebens ist, in persönlichen Kämpfen sich bewährend und in persönlichen Erfahrungen sich durchsetzend" 21 . Denn damit verleihe er der Geschichte Israels eine „innere dramatische Bewegtheit" 22 , in der die einzelnen Propheten als gotterschütterte und von Gott begnadete Persönlichkeiten geschildert würden 23 . Hier läßt sich bereits eine Prägung auf die von Hempel in den nächsten Jahren erarbeitete „frömmigkeitsgeschichtliche Methode" erahnen, denn auch er sprach von Schwingungen, die den religiösen Israeliten durchzittern 24 . Kittel stellte Israel in den Raum des Alten Orients, um so die Eigenart Israels herauszuarbeiten. Und Hempel formulierte noch 40 Jahre später, daß nur im Vergleich mit anderen altorientalischen Religionen entschieden werden könne, was spezifisch alttestamentlich sei: „Ohne die Religionsgeschichte ist die alttestamentliche Forschung blind." 25 Das besondere Interesse Hempels an religionsgeschichtlichen Fragestellungen wurde auch durch die wissenschaftlich wie persönlich tiefe Verbundenheit mit seinem Lehrer Söderblom gefördert. Dankbar schrieb er diesem einige Jahre nach Abschluß des Studiums: „Sie waren ja für meine theologische Entwicklung stark bestimmend und haben die Richtung meines wissenschaftlichen Arbeitens entscheidend beeinflußt" 26 . So nahm Hempel neben Vorlesungen, die Söderblom in Leipzig hielt, über mehrere Semester auch an

20

HEMPEL, aaO. 84. Zur Entstehung und der Arbeit an der ,Kittel-Bibel' vgl. auch STANGE, Die Religionswissenschaft, 131-135. Hempels bleibende Verbundenheit mit Kittel zeigt sich u.a. in der Widmung der Chronik zur ZAW 62 (1949/50) 272: „Abgeschlossen am 20. Todestag meines Lehrers Rudolf Kittel, 20.10.49". 21

22

HEMPEL, aaO. 8 9 f .

HEMPEL, aaO. 90. Kritisch zur Rolle der Einzelpersönlichkeit in Kittels Werk äußert sich BERNHARDT, Art. Kittel, Rudolf, 226. 23 Vgl. hierzu auch: R. KITTEL, Die Zukunft, 93f. Der Vortrag, den Kittel 1921 auf dem ersten Deutschen Orientalistentag hielt (s. oben 55), enthält viele Überlegungen, die sich auch in Hempels Werk wieder auffinden lassen, so z.B. das Verständnis von alttestamentlicher Religionsgeschichte als theologischer Disziplin, die nach dem „spezifisch religiösen Gut" fragt und dabei den „Wahrheitsgehalt" der alttestamentlichen Religion begründen will (aaO. 95ff.). 24 Zur „frömmigkeitsgeschichtlichen Methode" Hempels s. unten 98. Zur besonderen Stellung der Propheten, die sich auch nach Hempel „von dem an und mit ihnen handelnden Gott angerührt und angesprochen wissen", vgl. DERS., Alttestamentliche Theologie, 208. 25 HEMPEL, Altes Testament und Religionsgeschichte, 278. Zum besonderen Verhältnis zwischen alttestamentlicher Wissenschaft und Religionsgeschichte, das Hempel immer wieder hervorhebt, s. unten Kap. V.l.c. 26 J. Hempel an N. Söderblom vom 6.12.1920, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling.

92

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

d e s s e n V e r a n s t a l t u n g z u , a u ß e r b i b l i s c h e n O f f e n b a r u n g s l e h r e n ' teil 2 7 . Innerh a l b d e s S e m i n a r s hatte s i c h H e m p e l z u n ä c h s t m i t b r a h m a n i s c h - b u d d h i s t i schen Streitschriften und i m darauffolgenden Semester mit A p o l l o n i u s v o n T y a n a b e s c h ä f t i g t 2 8 . A u s l e t z t e r e m entstand s c h l i e ß l i c h s e i n e P r o m o t i o n s a r beit z u m L i c . t h e o l 2 9 . B e s o n d e r s beeindrucken ließ sich H e m p e l von Söderbloms persönlicher A u s s t r a h l u n g u n d s e i n e r L e b e n s w e i s e in der V e r b i n d u n g v o n W i s s e n s c h a f t u n d b e w u ß t g e l e b t e m Christentum: „Wer Söderbloms Vorlesungen wirklich auf sich wirken ließ", so schrieb er 1932, „der war für immer von dem Wahn geheilt, als sei die religionsgeschichtliche Methode als solche ein Kind des Unglaubens und des Zweifels. Denn dem Eindruck konnte sich keiner entziehen, dass in Söderblom ein Mann sprach, der selbst ganz lebendig im Zusammenhang christlichlutherischen Glaubens lebte und für den die Behandlung der Welt des AusserchristlichReligiösen ein Stück Ringen um die Gotteswirklichkeit und von da aus ein Stück Glaubensnötigung war." 3 0 Hier, w i e a u c h b e i Kittel, g e l a n g t e H e m p e l z u s e i n e m Verständnis der R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t als n o t w e n d i g e m u n d innerlich d a z u g e h ö r e n d e m B e s t a n d t e i l der c h r i s t l i c h e n T h e o l o g i e u n d d e s c h r i s t l i c h e n G l a u b e n s . S o w u ß t e n s i c h H e m p e l u n d s e i n e K o m m i l i t o n e n b e i der B e s c h ä f t i g u n g m i t r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e n F r a g e s t e l l u n g e n „mit i h m (sc. S ö d e r b l o m ) i m E i n k l a n g m i t M o t i v e n der R e f o r m a t i o n " 3 1 u n d orientierten s i c h auch w e i t e r h i n an S ö d e r b l o m s Gedanken: „Wenn ich nach dem Kriege (sc. der Erste Weltkrieg) wiederholt versucht habe, der allgemeinen Religionsgeschichte ihre oft angefochtene und in der Gegenwart von einflußreichen Richtungen lebhaft bekämpfte Stelle im Gesamtaufbau der theologischen Wissenschaft dadurch zu sichern, dass ich sie (...) als notwendige Folge einer systematischen Durchdenkung des Glaubens an Gottes Liebe aufzuzeigen versuche, weiss ich mich gerade darin in Uebereinstimmung mit Söderbloms letzten Intentionen, auch wenn mir kein ausdrückliches Zeugnis aus seiner Feder dafür zu Gebote steht." 32

27

J. Hempel, Erzbischof Soederblom, in: UUB, Sven Thulin-Nachlaß, S. 5. Der Text entspricht dem deutschen Manuskript von Hempels Beitrag zur 1933 in Uppsala erschienen Gedenkschrift für Söderblom: Nathan Söderblom som professor i Leipzig, in: THULIN (Ed.), Hägkomster, 119-126 (hierzu auch EDSMAN, Nathan Söderblom, 344). 28 J. Hempel, Erzbischof Soederblom als Leipziger Professor (1933), S. 3, in: UUB, Sven Thulin-Nachlaß. 29 HEMPEL, Untersuchungen. 30 J. Hempel, Erzbischof Soederblom, S. 5, in: UUB, Sven Thulin-Nachlaß. 31 J. Hempel, Erzbischof Soederblom, S. 5, in: UUB, Sven Thulin-Nachlaß. 32 J. Hempel, Erzbischof Soederblom, S. 6, in: UUB, Sven Thulin-Nachlaß.

1. Wissenschaftlicher

Werdegang

93

Sein religionsgeschichtliches Interesse begleitete Hempel durch seine gesamte wissenschaftliche Laufbahn hindurch. Jedoch wurde diese durch den Beginn des Ersten Weltkriegs zunächst unterbrochen. b) Die Kriegszeit

(1914-1918)

Das Vorwort zu seiner im Herbst 1914 gedruckten philosophischen Dissertation beschloß Hempel noch mit dem Bedauern, „daß die Korrektur in ständiger - bisher zu meinem großen Kummer vergeblicher - Erwartung der Einberufung gelesen werden mußte" 33 . Doch diese kam schon zu Beginn des neuen Jahres. Begeistert schrieb Hempel an Söderblom: „Seit 11.1. bin ich hier in Breslau als Rekrut zur Ausbildung. In 6 Wochen werden wir wohl hoffentlich schon an die Front kommen. Natürlich hat dies ganz veränderte Leben manches Unbequeme, allein mir gefällt der - sehr stramme - Dienst ausgezeichnet, und ich bin dankbar, endlich auch beim Heer zu sein." 34 Die ersten Monate seines Soldateneinsatzes verbrachte Hempel an der Westfront 35 . Bereits im September 1915 geriet er in französische Gefangenschaft, galt zunächst aber als vermißt. In seinem Tornister wurde sein Notizbuch gefunden, das die Bitte enthielt, „außer den Eltern und drei anderen möchte Ew. Eminenz (sc. Söderblom) von seinem Ergehen benachrichtigt werden" 36 . Hempels Vater schrieb deshalb an Söderblom, der inzwischen Bischof in Uppsala geworden war, und bat ihn, sich nach dem Verbleib seines Sohnes zu erkundigen 37 . Wenige Tage später konnte er ihm jedoch mitteilen, daß sein Sohn lebe und sich in Kriegsgefangenschaft befinde 38 . Söderblom setzte sich für eine Entlassung Hempels aus der Gefangenschaft ein, um ihn

33

HEMPEL, Die Schichten, II. J. Hempel an Söderblom vom 21.1.1915, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 35 Den ersten Abend seines Einsatzes als Soldat beschrieb Hempel in einer Predigt zum Langemark-Gedenktag 1932 (DERS., Von der Gottesbegegnung, 356). In dieser Predigt nennt Hempel auch immer wieder das „Grauen und Entsetzen", das den modernen Krieg begleite. Anspielungen auf die Kriegszeit finden sich u.a. auch in: HEMPEL, Der alttestamentliche Gott, 17f.: „Wer es mit erlebt hat, wie die Leidenschaft der ersten Kriegsmonate und die Ahnung der kommenden Leiden den Haßgesang gegen England auflodern ließ, (...)". 36 P. Hempel an N. Söderblom vom 13.10.1915, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling (s. auch. P. Hempel an N. Söderblom vom 7.1.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling). Dieses Zeichen einer engen pesönlichen Verbundenheit Hempels mit seinem Lehrer Söderblom spiegelt das Vertrauen wider, das auch andere Schüler zu ihrem Lehrer Söderblom hegten (vgl. hierzu NYSTEDT, Nathan Söderblom, 118 u. ANDRAE, Nathan Söderblom, 149). 34

37

P. Hempel an N. Söderblom vom 13.10.1915, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsam-

ling. 38

ling.

P. Hempel an N. Söderblom vom 15.10.1915, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsam-

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

94

m ö g l i c h e r w e i s e nach S c h w e d e n zu holen 3 9 , und hielt außerdem Briefkontakt mit ihm 4 0 . In der G e f a n g e n s c h a f t diente H e m p e l seinen Kameraden nach e i g e n e n A n g a b e n durch das Halten von Gottesdiensten und die Feier des A b e n d m a h l s als Seelsorger 4 1 . Z u d e m erteilte er Unterricht in Hebräisch, Latein u n d Philosop h i e und bereitete Lehrer auf das z w e i t e E x a m e n vor 4 2 . I m R ü c k b l i c k beschrieb er diese Zeit in e i n e m Brief an Söderblom: „Es war für mich nicht leicht, als vollständiger Anfänger die seelsorgerische Tätigkeit an meinen Kameraden unter den an sich recht ungünstigen äußeren und auch inneren Verhältnissen zu übernehmen. Ich kann Gott nur danken, wie er es mich erleben ließ, daß unter der Notwendigkeit, anderen Lebensbrot zu geben, die Lebensschätze des Evangeliums mir selbst immer kräftiger und klarer heraustraten, und manches angelernte Dogma zu lebendigem Glauben sich gestaltete." 43 1 9 1 5 bestand er, während e i n e s Heimaturlaubs, die erste T h e o l o g i s c h e Prüf u n g in L e i p z i g , nach der Rückkehr aus französischer K r i e g s g e f a n g e n s c h a f t 1 9 1 9 die z w e i t e in Dresden 4 4 . Im Juli 1919 wurde H e m p e l in der Dresdener Garnisonskirche z u m Militärhilfsgeistlichen durch Oberkirchenrat Neuratmeister ordiniert. Hier hatte er e t w a 1 0 0 0 Verwundeten i m Lazarett als Seelsorger

39

Vgl. handschriftliche Notizen Söderbloms auf einem Brief von P. Hempel an N. Söderblom vom 7.1.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling und P. Hempel an N. Söderblom vom 15.3.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 40 Erhalten sind mehrere Briefe Hempels an Söderblom aus der Kriegszeit, die einen regen Austausch vermuten lassen (Briefe Hempels vom 26.12.1915; 2.7.1916; 4.12.1916; 15.9.1918, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling). Söderblom schickte Hempel eine wissenschaftliche Abhandlung nach Frankreich (vgl. hierzu P. Hempel an N. Söderblom vom 11.3.1917, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling). 41 Lebenslauf Hempels in Kuratoriumsakte Halle, Bl. 4, in: UA der HUB, H 216 und Hempel an N. Söderblom vom 26.12.1915 und vom 15.9.1918, in: UUB, Nathan Söderblom arkiv, brevsamling. Hempel schien wegen seinen Predigten einige Male „harte Strafen" erhalten zu haben. Vgl. hierzu P. Hempel an N. Söderblom vom 7.1.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. Nach Angaben seines Sohnes G. Hempel (Gespräch vom 6.9.98) befand sich Hempel hier in einem Repressalienlager bei Arles, in dem die Soldaten in einer Art Geiselhaft für französische Gefangene gehalten wurden. 42 P. Hempel an N. Söderblom vom 7.1.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 43 J. Hempel an N. Söderblom vom 20.4.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 44 Vgl. Lebenslauf Hempels vom 7.12.1948, in: Personalakte Hempel, LKA Braunschweig, H. Nr. 24 und Hempel an N. Söderblom vom 24.6.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling.

1. Wissenschaftlicher

Werdegang

95

zu dienen 45 . Aufgrand von Reduzierungsmaßnahmen im Heer behielt Hempel diese Stelle jedoch nur bis zum Januar 1920 bei 46 . Trotz seiner persönlichen Erfahrungen im Feld und in der Gefangenschaft hielt Hempel an seiner positiven Einschätzung des Krieges fest. In der bereits zitierten Predigt zum Langemark-Gedenktag aus dem Jahre 1932 äußerte er sich zwar auch zu dem „Grauen und Entsetzten", das der Krieg beinhalte, und zu dem Zerbrechen heldischer Ideale im Feld. Den Tod eines Soldaten interpretierte er aber als Gottesdienst: „Wo ein Mensch sich opfern kann, nein, sich opfern muß, sich opfern darf, ohne zu denken und ohne zu fragen, da ist Gott". In diesem Sinne fuhr Hempel fort: „Und so geschieht Gottesdienst dort, wo der Bruder für den Bruder sich hingibt" 47 . Durch die Erfahrungen im Feld war die anfängliche Kriegsbegeisterung einer gewissen Ernüchterung gewichen, in protestantisch-preußischer Tradition galt ihm der Soldatendienst jedoch als Dienst für Gott48. c) Habilitation und außerordentliche Professur in Halle (1920) Bereits während seiner Tätigkeit als Hilfsgeistlicher hatte Hempel - letztlich erfolglos - versucht, einen Ruf nach Rostock als Lektor für Hebräisch und Griechisch zu erhalten 49 . 1920 konnte er eine Assistentenstelle am Theologischen Seminar in Halle übernehmen, in dem Jahr, in dem auch Hermann Gunkel als Ordinarius an die Fakultät berufen wurde50. Noch im selben Jahr wurde er mit seiner Arbeit über Leben und Lehre des pytagoräischen Wanderpredigers Apollonius von Tyana zum Lic. theol. bei dem Neutestamentier Ernst von Dobschütz promoviert51. Diese Arbeit ging ursprünglich auf einen Vortrag Hempels in einem Seminar Söderbloms in Leipzig zurück. Söderblom hatte sich bereits vor Kriegsbeginn für eine Veröffentlichung der Arbeit ausgesprochen. Durch Einberufung und Gefangenschaft konnte Hempel diesen Plänen zunächst nicht nachkommen. Aus der Gefangenschaft entlassen, führte

45

J. Hempel an Söderblom vom 31.7. und 11.9.1919, in: UA Uppsala, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 46 Vgl. Lebenslauf Hempels vom 7.12.1948, in Personalakte Hempel, LKA Braunschweig, H. Nr. 24. 47 HEMPEL, Von der Gottesbegegnung, 359. 48 Vgl. hierzu auch Hempels Äußerungen zum Zweiten Weltkrieg, s. unten 158ff. 49 J. Hempel an Söderblom vom 11.9.1919 und vom 5.10.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 50 KLATT, Hermann Gunkel, 224. Gunkel blieb bis zu seinem Ruhestand 1927 in Halle. 51 Vgl. hierzu J. Hempel an N. Söderblom vom 15.5.1920, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. Hempels theologische Dissertation trägt den Titel: Untersuchungen zur Überlieferung des Apollonius von Tyana' und wurde 1921 in den von der Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm herausgegebenen .Beiträgen zur Religionswissenschaft' veröffenüicht.

96

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

er seine Untersuchung jedoch fort 52 . Im November 1919 war das Manuskript schließlich druckfertig 53 . Söderblom vermittelte den Druck der Arbeit durch die Religionsgeschichtliche Gesellschaft in Schweden54. In Halle mußte Hempel, neben einem Hebräisch-Anfängerkurs, auch Repititorien und Vorlesungen halten 55 , obwohl er sich erst im Laufe des Jahres an der dortigen Fakultät für Altes Testament und vergleichende Religionsgeschichte mit der Arbeit über Altisraels Gebetsleben, I.Teil: Gebet und Zauber habilitierte. Die Schrift „geht ja wieder religionsgeschichtlichen Problemen nach und sucht Fragestellungen, die die religiöse Entwicklung überhaupt betreffen, auf dem Boden des Alten Testaments zur Loesung zu bringen" 56 , so beschrieb Hempel sein eigenes Werk. Die Habilitationsschrift selbst wurde nie gedruckt. Jedoch nehmen seine Antrittsvorlesung, die er am 25.10.1920 unter dem Titel Die Bedeutung des Exils für die israelitische Frömmigkeit?1 hielt, und der 1921 vor sächsischen Geistlichen gehaltene Vortrag Aus dem Gebetsleben des Alten Israel die Thesen wieder auf und führen sie fort 58 . Beide Vorträge erschienen 1921 unter dem Titel Gebet und Frömmigkeit im Alten Testament59. 1923 beantragte die Fakultät die Übertragung der Vertretung der Allgemeinen Religionsgeschichte an Hempel 60 . Denn Albrecht Alt, der bisher das religionsgeschichtliche Kolleg gehalten hatte, war als Nachfolger Gustav Dalmans an das Institut für Altertumswissenschaften des Heiligen Landes nach Jerusalem berufen worden 61 . Hiermit entsprach man Hempels religionsgeschichtlicher Ausbildung und seinem Interesse an einer Verbindung von Religionsgeschichte und alttestamentlicher Wissenschaft. 1924 erhielt er eine außerordentliche Professur. Vor seinem Weggang nach Greifswald verlieh

52

J. Hempel an N. Söderblom vom 24.6.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsam-

ling. 53

J. Hempel an N. Söderblom vom 10.11.1919, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsam-

ling. 54

Vermerk Söderbloms auf Brief J. Hempels vom 10.11.1919 (R) und J. Hempel an Söderblom vom 28.2.1920, in: UA Uppsala, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 55 J. Hempel an N. Söderblom vom 15.5.1920, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 56 J. Hempel an N. Söderblom vom 6.12.1920, in: UA Uppsala, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 57 Anzeige zur Habilitationsvorlesung in Kuratoriumsakte Halle, Bl. 6, in: UA der HUB, H 216. 58 SMEND, Die älteren Herausgeber, 17. 59 HEMPEL, Gebet. 60 Anfrage des Dekans an Rektor, in: UA der HUB, H 216, darin: UK Halle, Bl. 25. 61 J. Hempel an N. Söderblom vom 31.12.1921, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling.

1. Wissenschaftlicher

Werdegang

97

ihm die Hallenser Fakultät als Anerkennung seiner geleisteten Arbeit die theologische Ehrendoktorwürde62. In Halle entstand Hempels Arbeit über die prophetischen Jahwegleichnisse 63 , in der er die prophetischen Bilder vom persönlichen Erleben und Erzittern des Propheten her interpretierte. In seinem Vortrag Mystik und Alkoholekstase galten die alttestamentlichen Propheten als Vorbild für Pfarrer und Laien aufgrund ihrer Enthaltsamkeit gegenüber dem Alkohol. In diesem Zusammenhang betonte er den hohen Stellenwert, den die Beschäftigung mit der Vergangenheit besitze, indem sie die Geschichte für Vergangenheit und Zukunft dienstbar mache 64 . In seinem Hallenser Abschiedsvortrag beschreibt Hempel die doppelte Ausrichtung von sittlicher und kultischer Religion: Die Volksreligion vertraue auf Gottes Segen, die Kultreligion diene der Abwehr des Fluches. Für ihn selbst liege das Interesse auf der sittlichen Religion, und ihrer Analyse gelte die Arbeit der vergleichenden Religionsgeschichte 65 . d) Professur in Greifswald

(1925-1928)

Im April 1925 übernahm Hempel die alttestamentliche Professur in Greifswald66. Zunächst stand man seiner Berufung dort kritisch gegenüber, da er sich nicht an einer lutherischen Fakultät habilitiert hatte. Er bat Söderblom deshalb um ein Gutachten, das auch über seine Stellung zu Luther Auskunft geben sollte 67 . Am 1.4.1925 erfolgte schließlich der Ruf als Ordinarius und Direktor des Theologischen Seminars in der Nachfolge von Otto Procksch nach Greifswald 68 . Hier betreute Hempel u.a. die Dissertation 69 von Martin 62

Mitteilung Hempels an Kurator in Greifswald vom 1.6.1925, in: UA der HUB, H 216, darin: UK Greifswald, Bl. 9. Im gleichen Jahr erhält auch Julius Schniewind die Ehrendoktorwürde in Halle (vgl. KRAUS, Julius Schniewind, 17). Dies entsprach einem durchaus üblichen Vorgang (vgl. hierzu KATTENBUSCH, Die Ehrenpromotionen). 63 HEMPEL, Die Jahwegleichnisse. 64 HEMPEL, Mystik, 23. Der Aufsatz entspricht einem Vortrag, den Hempel 1924 auf der 20. Jahresversammlung abstinenter Pastoren in Dresden gehalten hat, und eröffnete eine Reihe von Schriften zum Thema ,Die Alkoholfrage in der Religion', die von dem Gießener Alttestamentler Hans Schmidt und dem Osnabrücker Superintendenten Ernst Rolffs herausgegeben wurde. Zu Schmidts Engagement gegen den Alkoholismus vgl. WALLIS, Hans Schmidt, bes. 20f. (Wallis nennt den Beitrag Schmidts als ersten Beitrag der Reihe. Jedoch wurde Hempels Aufsatz zuerst veröffentlicht. Vgl. hierzu Beiblatt zu HEMPEL, Mystik). Eine Rezension zu beiden Schriften schrieb BAUMGARTNER, Die Alkoholfrage. 65

HEMPEL, Die israelitischen Anschauungen, 103. Noch auf seinem Sterbebett bezeichnete Hempel die Jahre in Greifswald als die menschlich glücklichste Zeit in seinem Leben (vgl. Zimmerli, Beerdigungsansprache vom 13.12.1964, S. 3; Kopie im Besitz der Verf.). 67 J. Hempel an Söderblom vom 9.1.1925, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 68 Ernennungsurkunde, in: UA der HUB, H 216, darin: UK Greifswald, Bl. 5. Um seine Berufung nach Greifswald hatte es allerdings im Dezember 1924 noch Streitigkeiten gegeben. Damals hatten sich Procksch, Kunze, Denner und Kittel gegen Hempel ausgesprochen und 66

98

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Noth sowie dessen Habilitation70. Weiterhin verfaßte er in dieser Zeit mehrere Schriften, die seinen Ruf als Wissenschaftler begründen sollten. So erschien 1925 in der von Friedrich Baumgärtel herausgegebenen Reihe der ,Einzelwörterbücher zum Alten Testament' der von Hempel erarbeitete Teil zu Jesaja 71 Im Jahr darauf folgte die Monographie Der Alttestamentliche Gott, die in den .Stimmen aus der christlichen Studentenbewegung' veröffentlicht wurde. In der gleichen Reihe war die Schrift seines Greifswalder Kollegen Gerhard Kittel über Jesus und die Juden erschienen. Insofern wurde Hempels Beitrag als der zweite innerhalb der Reihe angekündigt, „in dem vom Standpunkt des biblischen Christentums aus zur völkischen Frage Stellung genommen wird" 72 . Die Monographie gibt einen Vortrag wieder, den Hempel auf einer Herrenhuter Studientagung über die ,Judenfrage' gehalten hatte 73 . Auf diesem Hintergrund ist der Stil der Monographie zu verstehen: Es handelt sich um ein stark wertendes Buch, das vor allem dem Unterschied zwischen der alttestamentlichen Glaubenshoffnung, welche die besondere Beziehung zwischen JHWH und Israel in den Mittelpunkt stelle, und der in Israel gelebten Wirklichkeit nachgehen wolle 74 . Hempel zeichnet das Bild eines sündigen und dennoch selbstgerechten Israels, das an der gottgesetzten Aufgabe der Heiligung scheiterte. Für seine Zeitgenossen betont er deshalb immer wieder, daß die Schriften des Alten Testaments keineswegs eine Verherrlichung Israels bedeuteten, vielmehr zeigten gerade sie die Sündhaftigkeit Israels75. Eine zweite, wesentlich umfangreichere Monographie aus dem Jahr 1926 trägt den Titel Gott und Mensch im Alten Testament. Auch hier nennt Hempel im Vorwort diejenigen als erhofften Leserkreis, „denen die von dem Streit um das A.T. und um Offenbarung und Geschichte angeregten Fragen auf der Seele lasten"76. Zugleich benennt er die Grundaxiome seiner frömmigkeitsgeschichtlichen Methode: Es sollen „die inneren Schwingungen aufgewiesen statt dessen Franz Böhl aus Groningen auf den ersten Listenplatz gesetzt (vgl. Bericht vom 6.12.1924 in: U A der HUB, H 216, darin: UK Greifswald, Bl. 2f.). 69 NOTH, Gemeinsemitische Erscheinungen. 70

Vgl. SMEND, Deutsche Alttestamentler, 263. Vgl. den Dank Noths an Hempel im Vorwort zu: NOTH, Die israelitischen Personennamen, V. 71

HEMPEL, Hebräisches Wörterbuch.

72

Vorwort zu: HEMPEL, Der alttestamentliche Gott, 2. WENDEL (Der Kampf, 527) reiht die Schrift Hempels in eine Reihe von „antivölkischer Verteidigungsliteratur für das AT" ein. Zu Hempels Beitrag s. auch KRUMWIEDE, Göttinger Theologie, 148f. 73

HEMPEL, aaO. 3. Der Titel des Vortrags vom Juni 1925 lautete damals: „Die Einführung der Gemeinde in den Heilsratschluß Gottes über Israel". 74

HEMPEL, aaO. 32.

75

HEMPEL, aaO. 55. Diese These findet sich in Hempels Schriften immer wieder.

76

HEMPEL, Gott und Mensch, VI (hierzu eine eher positive Rezension von STAERK, eine eher kritische von MEINHOLD und DERS. zur 2. Auflage von Gott und Mensch [1936]).

1. Wissenschaftlicher

Werdegang

99

(werden), die bei den einzelnen Kultakten, Glaubensvorstellungen und Hoffnungsbildern die Seele des alten Israeliten durchzittern" 77 . Er beschreibt die israelitische Frömmigkeit in ihrer Prägung durch die doppelseitige Empfindung von Abstands- und Verbundenheitsgefühl 78 . So bestehe einerseits das Vertrauen auf eine heilbringende Verbundenheit von Gott und Volk79, andererseits aber auch das Wissen um den möglichen Zorn JHWHs als Volksgott 80 . Die sich aus diesem Wissen ergebende Volksethik von Lohn und Strafe habe sich, so Hempel, im Judentum zur völligen Starrheit verhärtet 81 . Im Jahre 1926 nahm Hempel am Lehrkurs des , Deutschen Evangelischen Institutes für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes' in Jerusalem teil82. Unter der Führung von Albrecht Alt beritt er verschiedene Orte in Palästina. Die viermonatige Reise führte ihn auch nach Ägypten, Griechenland und Kreta 83 . In seinem öffentlichen Vortrag im Muristan-Hospiz in Jerusalem, den er im Rahmen des Lehrkurses hielt, zeichnete er die unterschiedlichen Einflüsse, die Palästina im Laufe der Zeit bestimmten, nach: von einer ursprünglichen Einbeziehung in den westlichen Kulturkreis der ägäischen Inselwelt über eine ,Semitisierung' in der Frühbronzezeit bis hin zum Einfluß mykenisch-minoischer Elemente durch die Einwanderung der Hyksos. Somit besitze - und dies sei für den Theologen wichtig - das Alte Testament eine breite Schicht gemeinsamer Anschauungen mit dem Griechentum84. Allerdings habe Israel in einem großen Assimilierungsprozeß diese Motive gerade umgestellt und bekämpfe nun ihre ursprüngliche Form (wie z.B. den Baum- oder Steinkult). Dieser Prozeß gipfele in dem für die israelitische Frömmigkeit elementaren Abstandsgefühl zwischen Gott und Mensch, wie es sich in Ps 8 ausdrükke, und wie es sich z.B. von einer heldenhaften mykenischen Darstellung des Triumphes des Menschen über einen Stier deutlich unterscheide 85 . 1927 fuhr Hempel nach England, um dort auf einer Versammlung der , Society for Old Testament Study' über den Frömmigkeitstypus der alttestamentlichen Religion zu referieren. Hier benennt er das ,Doppelbewußtsein' von le-

77

HEMPEL, Gott und Mensch, V.

78

HEMPEL, aaO. 3.

79

HEMPEL, aaO. 5 8 .

80

HEMPEL, aaO. 104.

81

HEMPEL, aaO. 211. Zur Gegenüberstellung von vorexilischem Israel und nachexilischem Judentum in Hempels Schriften s. unten 278. 82 Lebenslauf Hempels vom 7.12.1948, in: Personalakte Hempel, in: LKA Braunschweig und Zuschussbewilligung vom 27.7.1926, in: UA der HUB, H 216, darin: UK Greifswald, Bl. 23 und ALT, Das Institut, 8. 83 J. Hempel an N. Söderblom vom 16.1.1927, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 84 Zur aktuellen Forschungslage s. BROWN, Israel. 85 HEMPEL, Westliche Kultureinflüsse, 92.

100

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

bendigem Abstandsgefühl und lebendigem Verbundenheitsgefühl, von Furcht und Vertrauen gegenüber Israels Gott, als die letzte, Propheten und Kultus umspannende Einheit 86 . Denn sowohl in der Verkündigung der Propheten als auch im Kultus drücke sich die doppelte Haltung von Furcht und Vertrauen gegenüber JHWH aus. So löse der Kult beim Menschen zum einen die Empfindung der Sehnsucht, zum anderen aber auch die des Schreckens aus. Noch im gleichen Jahr wurde Hempel als Ehrenmitglied in die Society for Old Testament Study aufgenommen 87 . Seine These des „doppelten Abstandsgefühls", das Hempel als prägendes Merkmal der israelitischen Religion herausgearbeitet hatte, führte er bei einem Vortrag auf dem ersten deutschen Theologentag in Eisenach im Oktober 192788 noch einmal aus. Hier sprach er von dem in der Geschichte handelnden und sich als mächtig erweisenden Volksgott, der für Israel zugleich der Schöpfergott sei. In diesem Sinne verstehe der Glaubende seine Kreatürlichkeit vor JHWH. Dabei könne es im Alten Testament nie darum gehen, Gott an Macht gleichzuwerden. Denn in seiner weltüberlegenen Herrlichkeit werde JHWH als der ganz andere erfahren. Wohl aber sei ein Gottgleichsein in sittlicher Vollkommenheit eine gottgesetzte Aufgabe, deren Verfehlung Schuld erbringe. Um dieser Schuld begegnen zu können, sei der Kultus die von Gott gesetzte Ordnung. JHWH als der Schöpfergott manifestiere sich gerade in der Geschichte, und in der Geschichte sei JHWH der nahe Gott, nahe durch die Worte des von ihm gesandten Propheten. Diese Formulierungen zeigen Grundsätze der theologischen Interpretation des Alten Testaments, auf die Hempel in seinem weiteren wissenschaftlichen Werk immer wieder zurückkommt.

2. Professur in Göttingen (1928-1937) Von 1928 bis 1937 hatte Johannes Hempel den Lehrstuhl für Altes Testament und Religionsgeschichte in Göttingen inne. Diese Jahren prägten sein wissenschaftliches Profil, das ihn in Deutschland wie auch im Ausland bekannt machte. Zudem erwarb er sich als Herausgeber der ZAW, die er 1927 übernommen hatte, einen Namen. Auch kirchenpolitisch betätigte sich Hempel in Göttingen und vollzog 1933 den Machtwechsel in Deutschland mit seinem

86

HEMPEL, Der Frömmigkeitstypus. Vgl. Bericht HEMPELs über den Kongreß in: Z A W 46 (1928) 61 und Bericht von EISSFELDT in: ThBl 6 (1927) 307-310. 87

H . H . Rowley an Hempel vom 10.6.1946, in: VA de Gruyter, Z A W 1 9 4 6 - 4 8 und ZlMMERLI, Nachruf, 2. 88 HEMPEL, Altes Testament und dialektische Theologie. Auf dem Theologentag ging es um eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

101

Übertritt vom Christlich-Sozialen Volksdienst zu den Deutschen Christen nach. a) Professor für Altes

Testament

a) Lehrstuhl für Altes Testament und vergleichende

Religionsgeschichte

Zum 1.4.1928 wurde Hempel nach Göttingen berufen. Hier hatte er in der Nachfolge Alfred Bertholets den Lehrstuhl für Altes Testament und vergleichende Religionsgeschichte inne, der seit 1914 der Theologischen und nicht länger der Philosophischen Fakultät zugeordnet war89. Sein Aufgabenbereich umfaßte auch die Leitung des alttestamentlichen Seminars90. Mit dem Ruf nach Göttingen begannen für Hempel zehn Jahre, in denen seine wissenschaftliche, aber auch seine politische Karriere ihren Höhepunkt erreichte. Hier, im Umfeld einer wissenschaftlich wie politisch profilierten Fakultät, entwickelte er seinen eigenen wissenschaftlichen Ansatz weiter. Die große Zahl seiner in der Göttinger Zeit entstandenen Publikationen legen hiervon Zeugnis ab. Als Wissenschaftler fand er in Deutschland und auch international großes Ansehen. So wird er in Beschreibungen durch Zeitgenossen als äußerst intelligent, fleißig und ehrgeizig geschildert. Er hatte den Ruf eines „ausgezeichnete(n) Gelehrte(n) vornehmen Charakters"91. Sein Kollege Emanuel Hirsch bezeichnete ihn als einen „rastlos fleißigen Mann, der außer seiner Arbeit keine Lebensfreude hat". Hirsch nannte ihn „den bedeutendsten Alttestamentler Deutschlands" 92 , der zudem stark auf die Studierenden wirke93.

89

Joh. MEYER, Geschichte, 79. Bei seiner Berufung hatte sich Hempel gegen Emil Balla aus Leipzig und gegen Otto Eißfeldt aus Halle durchgesetzt, vgl. Vorschlagsliste für die Wiederbesetzung des BertholetLehrstuhls vom 6.3.1928, in: UAG, ThFak Nr. 12 (Hempel). 91 Aufzeichnung Meisers vom 11.1.1934 über eine Besprechung mit Lütgert über eine mögliche Kandidatur Hempels als lutherischer Kirchenminister, in: BRAUN/NICOLAISEN (Hg.), Verantwortung, 195. 92 E. Hirsch an den Referenten für die Theologischen Fakultäten im Reichsministerium für Erziehung, Wissenschaft und Bildung, E. Mattiat, vom 30.7.1936, in: UAG, ThFak Nr. 12 (Hempel): „Professor Hempel hat sich in den langen Jahren, die er in Göttingen ist, zu dem bedeutendsten Alttestamentler Deutschlands entwickelt. Er hat zahlreiche ausländische Beziehungen und ein unbestrittenes internationales Ansehen." 93 Schreiben Hirschs an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 17.6.1937, in: UAG, ThFak Nr. 12 (Hempel). In Göttingen wird Walther Zimmerli 1931 mit seiner Arbeit .Geschichte und Tradition von Beersheba bis Bethel' bei Hempel promoviert. Von 1930 bis 1933 agierte Zimmerli als wissenschaftliche Hilfskraft am alttestamentlichen Seminar und war damit Hempel unterstellt. Nach SMEND (Deutsche Alttestamentler, 283) war dabei das Verhältnis nicht nur harmonisch, da Hempel die Neigung hatte, es seinen Studenten nicht unbedingt leicht zu machen. 90

102

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Die Vorlesungsankündigungen für seine Veranstaltungen weisen eine ungeheuere Breite und Vielfalt an Themen auf. Er las die klassischen Einleitungsfragen wie .Einführung in das Alte Testament', ,Geschichte Israels', .Propheten', ,Genesis', ,Psalmen' und ,Theologie des Alten Testaments'. Darüber hinaus stellte er sich aber auch biblisch-systematischen Fragestellungen wie dem ,Problem der Theodizee', dem ,Leidensproblem im Glauben' und archäologisch wie forschungsgeschichtlich relevanten neueren Erkenntnissen 94 . Aus einer Vorlesung im Sommersemester 1937 entstand schließlich sein Hauptwerk Das Ethos des Alten Testaments. Die Monographie, in der parallel zu seiner Untersuchung der alttestamentlichen Frömmigkeit in Gott und Mensch im Alten Testament nun die alttestamentliche Ethik behandelt werden sollte, hatte eine längere Vorgeschichte95: Erste Ausführungen zu dem Thema gab Hempel bereits auf einer Fahrt durch die USA im Jahre 1932 unter dem Titel The realism of the Old Testament. In Uppsala hielt Hempel 193397 eine achttägige Vorlesungsreihe zum Thema: ,Das Ethos des Alten Testaments' 98 . Die Veröffentlichung des Buches erfolgte jedoch erst im Anschluß an die in Göttingen gehaltene Vorlesung99. Von Rad beschrieb das Werk als weit über den thematischen Rahmen einer Darstellung der Normen des sittlichen Handelns hinausgehend. Es erstelle, unter Einbeziehung von einschlägiger altorientalischer Literatur und von Ausgrabungsergebnissen, ein umfassendes Bild der altisraelitischen Lebenssphäre100.

94

Vgl. hierzu Vorlesungsverzeichnisse der Georg August-Universität zu Göttingen aus den Jahren 1928-1937. 95 Die Anregungen hierzu hatte Hempel bereits 1926 von W. Lütgert bekommen. Vgl. Vorwort zu: HEMPEL, Das Ethos, V. Eine zweite Auflage, in der Hempel nach seinen eigenen Worten (Ethos f 2 1964], V) lediglich ein halbes Dutzend „zeitbedingter" Ausdrücke änderte, erschien 1964. Hempel änderte z.B. „rassische Gespaltenheit" in „volkliche Gespaltenheit" (S. 5); „germanisches Empfinden" in „politisches Empfinden" (S. 29); „eine Weltanschauung" in „eine Grundhaltung" (S. 78) um. Dennoch spricht Hempel auch 1964 von der „Rassemischung" (S. 8); davon, daß das „Unterchristliche" des Alten Testaments benannt werden müsse (S. 30) sowie von der „Rassemischung im Volkskörper" und der „seelischen Labilität" Israels (S.91). 96 Vgl. Liste der Veröffentlichungen Hempels in: VA de Gruyter, ZAW 1946-1948 und Vorwort zu: HEMPEL, Das Ethos, V. 97 S. unten 120. 98 Karteikarten über die Vortragenden und ihre Themen, in: UUB, Archiv der Olaus-PetriStiftung. 99 Vgl. Brief Hempels an den Verleger H. Cram vom 24.4.37, in: VA de Gruyter, Hempel, Ethos im AT. 100 VON RAD, Zur Arbeit, 259.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

103

ßj Wissenschaftliche Kontakte im In- und Ausland Durch seine Veröffentlichungen hatte sich Hempel in der alttestamentlichen Wissenschaft wie auch in der Altorientalistik einen Namen erworben. Im Inund Ausland hielt er in den 20er und 30er Jahren immer wieder Vorträge auf Kongressen und Versammlungen. So sprach er noch im Jahr seines Wechsels nach Göttingen auf dem Deutschen Orientalistentag in Bonn. Unter dem Thema Zur Bewertung hebräischer Bibelhandschriften forderte er eine genauere Beachtung des in manchen Handschriften erhaltenen vormasoretischen Gutes101. Im gleichen wie im folgenden Jahr unternahm Hempel Vortragsreisen nach Skandinavien. Er sprach an den Universitäten von Uppsala, Lund und Kopenhagen102. Seine guten Kontakte mit skandinavischen Wissenschaftlern, die sicherlich auf seine intensiven Beziehungen zu Nathan Söderblom zurückzuführen sind, die aber auch an der Göttinger Theologischen Fakultät bereits eine Tradition besaßen, führten ihn zu einem Vortrag über das Problem Hiobs auf dem schwedisch-deutschen Theologenkonvent im August 1928 in Uppsala103. Ein Jahr später organisierte die Göttinger Fakultät einen DänischDeutsch-Schwedischen Kursus für Theologie und Weltanschauung, zu der Studierende aus den skandinavischen Ländern eingeladen wurden. Hempel sprach hier über den Biblischen Begriff der Geschichtem. Im Herbst 1932 begab sich Hempel in die USA und nach Kanada, um hier bei akademischen und kirchengemeindlichen Veranstaltungen zu sprechen. Er hielt Gastvorlesungen an der Yale-Universität in New Häven, an der HarvardUniversität in Cambridge/Mas. und an den Universitäten und Seminaren von Philadelphia, Chicago, Evanston und Toronto105. Dabei blieb es nach seinen eigenen Worten meist nicht bei wissenschaftlichen Erörterungen:

101 Vgl. den Berichte über den Fünften Deutschen Orientalistentag in ZDMG 82 (1927) LXI und EISSFELDT, Orientalistentag, 305. Ein detailliertes Programm des Orientalistentages befindet sich im Nachlaß von Benno Jacob, Pittsburgh/USA (Kopie im Besitz der Verf.). Zum Beitrag Eichrodts auf dem Orientalistentag s. oben 57f. 102 Brief des Dekans Stolzenburg an den Rektor vom 5.2.1941, in: UA der HUB Nr. 46 (ThFak, Verschiedenes), Bl. 257 und Liste der Auslandsreisen als Anhang zum Entnazifizierungsbogen Hempels, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-1948. 103

Vgl. ThBl 7 (1928) 284. IM Vgl. Bericht in ThBl 8 (1929) 251 ff. Hempel hatte versucht, Söderblom für eine Teilnahme an dem Kursus zu gewinnen. Vgl. J. Hempel an N. Söderblom vom 2.12.1928, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. 105

Brief Stolzenburgs vom 5.2.1941, in: UA der HUB, Nr. 46 (ThFak, Verschiedenes), Bl. 257 und Liste der Auslandsreisen als Anhang zum Entnazifizierungsbogen Hempels in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Die Reise war auf Vermittlung von Prof. Fleming James, New Häven, zustande gekommen. Vgl. J. Hempel an Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 17.2.1931, in: UA der HUB, UK H 216, darin: UK Göttingen.

104

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

„Ich habe fast jeden Tag zu sprechen, meist mehrfach, da die Wißbegierde der guten Leute ebenso groß ist wie die Zuversicht, daß der deutsche Professor allwissend ist. An fast alle Vorträge schließen sich .Fragen' an, die meist eine zweite Stchgreifvorlesung notwendig machen. Die Stimmung für Deutschland ist ganz überwiegend freundlich, wird aber sicher umschlagen, wenn unsere Regierung die Versicherung, ihr Ziel sei die allgemeine Abrüstung, aufgeben würde" 106 .

Im Zusammenhang mit seiner Vortragsreise durch die USA wurde Hempel Ende des Jahres 1932 von der amerikanischen , Society of Biblical Literature and Exegesis' als Ehrenmitglied aufgenommen 107 . Sein Name stand nun neben denen der anderen deutschen Ehrenmitglieder Hermann Gunkel, Ernst Sellin und Alfred Bertholet 108 . Die persönlichen Kontakte, die Hempel zum Präsidenten der Society, Julian Morgenstern, geknüpft hatte, entwickelten sich dauerhaft und wurden von Morgenstern auch nach 1945 wieder aufgenommen 109 . y) Hempels Mitarbeit an der Bibelrevision

(1928-1933)

Ein weiterer Hinweis auf die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen war die Berufung Hempels in die Bibelkommission des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses in Berlin 110 . Seit März 1928 arbeiteten die Bibelkommissionen des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses und der Deutschen Bibelgesellschaften gemeinsam an einer Revision der deutschen Lutherbibel. Die Mitarbeiter der Bibelgesellschaften hatten bereits 1926 und 1928 .Probestücke' und .Probekapitel' veröffentlicht, die jetzt in gemeinsamer Arbeit mit dem Deutschen Kirchenausschuß überprüft und überarbeitet werden sollten. Mit der Prämisse, den Luthertext nur dort zu ändern, wo er den Urtext falsch oder ungenau wiedergebe, oder dort, wo er für den zeitgenössischen Bibelleser unverständlich sei 111 , ging man in verschiedenen Ausschüssen an die Arbeit. Bereits auf der ersten gemeinsamen Sitzung einigte man sich, daß zu der Arbeit ein Alttestamentier hinzugezogen werden sollte 112 . Denn nur ein alttestamentlicher Fachgelehrter könne nachprüfen, „ob die philologische Interpretation Luthers im masoretischen Text noch wissenschaftlich vertretbar ist" 113 . Hempel, der zu diesem Zwecke angefragt wurde, fühlte sich sichtlich 106 Brief J. Hempels an Geheimrat Schröder vom 29.10.1932, in: UAG, Abteilung für Handschriften und seltene Drucke. 107 Vgl. Bericht der Mitgliederversammlung, in: JBL 52 (1933) III. 108 Liste der .Honorary Members', in: JBL 53 (1934) XIV. 109 Rundbrief Hempels vom 10.4.1963, S. 4. 110 Dankesschreiben Hempels an Heckel vom 1.6.1928, in: EZA, 1/A2/121. 111 Vgl. hierzu G. KITTEL, Das Ergebnis, 67. 112 Protokoll der gemeinsamen Sitzung vom 28.2.-3.3.1928, in: EZA, 1/A2/121. 113 Protokoll der gemeinsamen Sitzung vom 28.2.-3.3.1928, in: EZA, 1/A2/121.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

105

geehrt: „Ich bin mir der sehr schweren Verantwortung gegenüber meiner Kirche bewußt, die die Berufung in die Bibelkommission des Kirchenbundes in sich schließt. Gott gebe seinen Segen zu dem Ringen um die Form, in der sein Wort in unserem Volk erklingen soll"114. So wurde Hempel Mitarbeiter in der von Willy Staerk geleiteten alttestamentlichen Kommission des Deutschen Kirchenausschusses 115 . Für die gemeinsame Arbeit einigte man sich auf folgenden Grundsatz: „Beim Alten Testament ist vom masoretischen Text auszugehen. Er ist an den verderbten Stellen mit Hilfe der Versionen oder durch einleuchtende Vermutungen zu emendieren. Wo aber der MT Sinn gibt, ist er beizubehalten, auch wenn sich durch die Änderung ein gefälligerer Text ergäbe. Nur das unbedingt Nötige ist einzutragen" 116 . Diese Richtlinien schienen jedoch keine ausreichende Klarheit zu schaffen, um Meinungsverschiedenheiten im Vorgehen der Revision ausschließen zu können. Als Hempel die Bearbeitung von 1 Kön von Staerk übertragen bekam, entbrannte zwischen beiden eine heftige Auseinandersetzung. In einem Begleitbrief zu den Revisionsbögen begründete Hempel seine Abweichungen gegenüber der Bearbeitung durch Staerk und warf diesem vor, sich zu weit vom Luthertext entfernt zu haben: „Nur sind die Eingriffe (sc. die Staerk vorgenommen hatte) in das Gefüge der Lutherbibel eben derartig stark, dass weder im Satzrhythmus noch im Sprachkolorit mehr als Anklänge an Luther auf längere Strecken hin erhalten geblieben sind."117 Emanuel Hirsch, der als Sprachverständiger ebenfalls der Kommission angehörte, bekräftigte Hempels Einwände. Er halte neunzig Prozent der Änderungen, die Staerk gegenüber dem Luthertext vorgeschlagen habe, für sprachlich und sachlich nicht geboten. Deshalb formulierte er in einem Schreiben: „Ich lehne den Entwurf Staerk als den in Berlin vereinbarten Grundsätzen entsprechend ab und erkläre ihn für eine ungeeignete Unterlage für die Verhandlungen der Kommission." 118 Staerk sah sich aufgrund dieser Meinungsverschiedenheiten veranlaßt, von seiner Arbeit in der Revisionsarbeit zurückzutreten119. In der Auseinanderset114

J. Hempel an Th. Heckel vom 1.6.1928, in: EZA, 1/A2/121. Der Kommission gehörten neben Staerk als Leiter und Hempel auch Baumgärtel, Hirsch, Risch, Engelhard und Schmoller an. Vgl. Liste im Bericht von der Sitzung am 31.7.-2.8.1928, in: EZA, 1/A2/121. 116 Bericht von der Sitzung am 31.7.-2.8.1928, in: EZA, 1/A2/121. 117 Schreiben Hempels vom 23.5.1929, in: EZA, 1/A2/121. Zu Hempels Anerkennung des Luhertextes s. DERS., Zum Deutsch. Hempel sieht Altes und Neues Testament und die Lutherbibel durch die Sprache analoger sozialer Schichten verbunden, „die Sprache von Menschen, die nicht über, sondern unter der Not des Alltags, oft auch unter der Sorge um das tägliche Brot standen und auch in solcher Not ihre Augen aufhoben zu dem rettenden Herrn" (aaO. 52). 115

118 119

E. Hirsch an W. Staerk vom 21.7.1929, in: EZA, 1/A2/121. W. Staerk an Prälat vom 5.9.1929, S. 3, in: EZA, 1/A2/121.

106

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

zung mit Hempel und Hirsch erkannte er eine grundsätzliche Standpunktverschiebung bezüglich der Ziele der Revision. Er selbst stehe hinter dem Anliegen der Bibelgesellschaften, „eine Lutherbibel zu schaffen, die ein für unsere Zeit verständliches Deutsch spricht, also eine Lutherbibel als Volksbuch" 120 , die auch Nichttheologen mit Freude läsen. Hinter den Angriffen sähe er jedoch das Bemühen des Berliner Ausschusses, mit der Revision eine „klassische Lutherbibel" zu erstellen, die „den alten Text bis zum Aeussersten" konserviere und damit „den Idealen der modernen Lutherrenaissance soweit als nur möglich" entgegenkomme 121 . Auf Vermittlung des Vizepräsidenten des Altpreußischen Evangelischen Oberkirchenrates Burghart, der die neutestamentliche Kommission der Revision leitete, wurde die Zusammenarbeit zwischen Hempel und Staerk jedoch aufrechterhalten 122 . So konnte Oberkonsistorialrat Heckel Hempel 1931 bitten, die Bearbeitung der geschichtlichen Bücher (Könige, Esra, Neh, 2 Chron) von Staerk zu übernehmen 123 . Mit Beginn des Kirchenkampfs war die Mitarbeit Hempels an der Revision erneut von Spannungen begleitet: „Es ist bei den Herren Baumgärtel und Hempel seit längerem eine sichtliche Mißstimmung vorhanden. Sie scheint gesteigert zu sein durch die derzeitige kirchliche Lage" 124 . Heckel, der die weitere Arbeit der Kommission bei Ausfall zweier so wesentlicher Mitarbeiter nicht mehr für sinnvoll hielt, schlug deshalb vor, die bereits geplante Arbeitstagung zunächst zu verschieben125. So schien trotz aller Schwierigkeiten, die sich durch Hempels Mitarbeit in der Revisionskommission in inhaltlicher und persönlicher Hinsicht ergeben hatten, sein Beitrag zum Gelingen des Revisionswerkes inzwischen unentbehrlich geworden zu sein. Zwar läßt sich aus den Akten nicht mehr eindeutig feststellen, inwieweit Hempel an der Erstellung des 1938 veröffentlichten Probetestaments, das die revidierte Fassung des Neuen Testaments und der Psalmen enthielt, noch beteiligt war 126 . Er selbst verstand seine Mitarbeit in der Revisionskommission jedoch auch im nachhinein als wichtigen Dienst an der Kirche, „der Kirche (...), der ich weit

120 121

W. Staerk an Prälat vom 5.9.1929, S. l,in:EZA, 1/A2/121.

Mit dieser Gegenüberstellung schien sich ein grundsätzliches Problem in der Erwartung an eine revidierte Lutherbibel abzuzeichnen. Vgl. hierzu: G. KITTEL, aaO. 75-78. 122 J. Hempel an Burghart vom 24.11.1929, in: E2A, 1/A2/121. 123 Th. Heckel an J. Hempel vom 30.7.1931, in: EZA, 1/A2/123. 124 W. Staerk an Th. Heckel vom Mai 1933, in: EZA, 1/A2/124. 125 Th. Heckel an W. Staerk vom 27.5.1933, in: EZA, 1/A2/124. 126 Hempel nahm auf jeden Fall weiterhin an der Revisionsarbeit teil. Vgl. Bericht E. Diehls an Lietzmann vom 23.2.1937 über bevorstehende Sitzung der Revisionskommission in Stuttgart am 25.2.1937, in: K. ALAND (Hg.), Glanz, Brief 986.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

107

über das geforderte Maß hinaus mit meiner Kraft gedient habe - ich erinnere nur an 10jährige Arbeit an der Bibelrevision"127. 8) Die internationale Tagung alttestamentlicher Forscher in Göttingen (1935) Im September 1935 organisierte Hempel, im Anschluß an die erste internationale Tagung alttestamentlicher Forscher in Oxford im August 1927, gemeinsam mit Paul Volz und Friedrich Stummer eine zweite Tagung in Göttingen. Dafür konnte er seine weiten Kontakte in wissenschaftlichen Kreisen nutzen. Der durch den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung geförderten Einladung folgten fast 90 Personen aus 13 Ländern, evangelische wie katholische Wissenschaftler 128 . Die Initiative zu dieser zweiten Tagung war ursprünglich vom Sekretär der Britischen , Society of Old Testament Study', Prof. Theodore H. Robinson, ausgegangen. Er hatte auf dem Bonner Orientalistenkongreß 1934 den Wunsch geäußert, für das darauffolgende Jahr möglichst in Göttingen zusammenzukommen 129 . In seiner Eröffnungsansprache betonte Paul Volz die Gemeinschaft der Teilnehmer als vornehmstes Ziel der Tagung. Hier hätten wissenschaftliche Tagungen ihre „wahrhaft internationale Kraft, als Friedensinseln inmitten einer vom Streit zerrissenen Völkerwelt" 130 . Entsprechend hob auch Hempel in seinem Tagungsbericht den „lebendige(n) menschliche(n) Kontakt (...), der sich zwischen den Teilnehmern herausbildete" 131 , als ein besonderes Kennzeichen des Kongresses hervor. Dabei hatte es im Vorfeld Befürchtungen gegeben, die politischen und kirchlichen Spannungen in und um Deutschland könnten in die wissenschaftlichen Diskussionen hineingetragen werden. In seiner Begrüßungsansprache betonte Hempel deshalb, daß niemand davon ausgehen dürfe, wissenschaftliche Arbeit könne voraussetzungslos betrieben werden. Deshalb sollten nicht die Unterschiede verwischt werden, sondern das Spezifische einer jeden Gruppe in ihrer Art, Wissenschaft zu treiben, zur Geltung kommen. Denn jegliche wissenschaftliche Erkenntnis sei zum einen durch die ,,bestimmte(...) volklich-geschichtliche(...) Prägung" des Forschers, zum anderen durch die „Mehrdeutigkeit der Geschichte", die oft ein

127

J. Hempel an den Dekan der Berliner Theologischen Fakultät vom 20.2.1948, in: UA der HUB, H 216, Bl. 67R. 128 Vgl. Teilnehmerliste in dem Tagungsband: VOLZ u.a. (Hg.), Werden, FVf. Zu der Tagung und dem im Anschluß erscheinenden Sammelband s. Besprechungen von EISSFELDT, Der zweite internationale Alttestamentlertag; HEMPEL, Chronik der ZAW 53 (1935); ABRAMOWSKI, V o m Streit, 8 4 f . ; GRÜNEWALD, W e r d e n . 129 130 131

Vgl. HEMPEL, Chronik der ZAW 53 (1935) 294. Vgl. HEMPEL, Chronik der ZAW 53 (1935) 295. HEMPEL, C h r o n i k d e r Z A W 5 3 ( 1 9 3 5 ) 3 0 8 .

108

TV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

eindeutiges Erkennen der Wahrheit letztlich an der Souveränität Gottes scheitern lasse, begrenzt132. Zu der Tagung in Göttingen, auf der insgesamt 22 Vorträge gehalten wurden133, fanden sich Wissenschaftler zusammen, deren politische wie kirchenpolitische Hintergründe sehr unterschiedlich waren. Einend wirkte der zeitgeschichtliche Umstand, der die alttestamentliche Wissenschaft selbst in Bedrängnis gebracht hatte134. In dieser Situation waren sich alle Teilnehmer einig, gemeinsam das Alte Testament als einen den Alttestamentlern „anvertraute^) Ewigkeitswert" 135 wahren und verteidigen zu wollen. Volz hatte dieses Ziel bereits in seiner Eröffnungsansprache formuliert: „Zur Zeit liegt uns Alttestamentlern vor allem die Aufgabe ob, den Sonderwert des AT neben dem NT in Publikation und Vorlesung darzustellen, die Tatsache, daß das AT eigenartige, einzigartige göttliche Mitteilung enthält, die im NT nicht wiederholt wird, und die doch für die Zeiten und Völker gilt."136 Vor allem Beiträge der deutschen Vortragenden nahmen auf die zeitbedingte Situation Bezug. Otto Eißfeldt betonte die Verankerung der Forschung am Alten Testament innerhalb von Theologie und Altertumswissenschaft 137 . Artur Weiser wies der alttestamentlichen Wissenschaft ihre Grundlage im christlichen Glauben zu. Zugleich hob er aber den Zusammenhang zwischen alttestamentlicher Geschichtserfahrung und nationaler Erhebung in Deutschland hervor: „Wenn uns z.B. heute in unserer Selbstbesinnung auf die Bedeutung von Volk, Blut und Boden im Rahmen der göttlichen Natur- und Geschichtsordnung gerade der alttestamentliche Schöpfungs- und Geschichtsglaube in ein neues Licht gerückt wird und uns neben dem Neuen Testament und über das Neue Testament hinaus Wesentliches zu sagen hat, so erkennen wir unschwer daran die unmittelbare Gegenwartsbezogenheit der biblischen Wahrheitserkenntnis." 138 Auch der Schwede Johannes Lindblom ging in seinem Beitrag auf die Angriffe gegen das Alte Testament ein, die dieses „in eine Krisis, wie sie es seit den Tagen Markions nicht erlebt hat" 139 , geführt hätten. Lindblom nannte hier explizit den Antisemitismus, der das Alte Testament so in Verruf gebracht habe.

132

Vgl. HEMPEL, Chronik der ZAW 53 (1935) 308f. Vgl. Inhaltsverzeichnis am Ende des Tagungsbandes, HEMPEL u.a. (Hg.), Werden. 134 Vgl. Kap. II. 135 So EISSFELDT (Der zweite internationale Alttestamentlertag, 238) in seinem Tagungsbericht. 136 Zitiert bei HEMPEL, Chronik ZAW 53 (1935) 296. 137 EISSFELDT, Altertumskunde. S. hierzu auch oben 58f. 138 WEISER, Die theologische Aufgabe, 220. S. hierzu auch oben 59. 133

139

LINDBLOM, Zur Frage, 128.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

109

Auf dem Hintergrand des Kirchenkampfs in Deutschland weist die Tagung in Göttingen eine erstaunliche Zusammensetzung der Teilnehmer auf: Wissenschaftler wie Gerhard von Rad und Joachim Begrich, die sich der Bekennenden Kirche zurechneten, traten unter die Schirmherrschaft des Deutschen Christen Johannes Hempel und trugen gemeinsam mit dem kirchenpolitisch ebenfalls anders ausgewiesenen, sich zunächst zu den Deutschen Christen und später zur NSDAP haltenden Artur Weiser 140 vor. Selbst aus dem Ausland reisten Personen wie der Leiter des römischen Bibelinstitutes und spätere Kardinal Bea an, der sich in späteren Jahren öffentlich gegen das nationalsozialistische Regime in Deutschland wandte. Allein: Jüdische Bibelwissenschaftler fehlen auf der Teilnehmerliste. Es bleibt zu fragen, inwieweit die gemeinsame Arbeit am Alten Testament politische und kirchenpolitische Differenzen hinter wissenschaftlichen Fragestellungen zurücktreten ließ bzw. inwieweit das gemeinsame Anliegen, das Alte Testament vor seinen Angreifern zu verteidigen, eine alles andere übergreifende Allianz bilden konnte. Eingerahmt wurden die Vorträge durch sich anschließende Diskussionen und ein Begleitprogramm, das Gottesdienste, Ausstellungsbesuche und Ausflüge beinhaltete 141 . Hempel wurde im Zusammenhang der Tagung zum ordentlichen Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften gewählt, wie es der Vertreter der Gesellschaft, der Archäologe Hermann Thiersch, in seiner Begrüßungsansprache auf der Tagung bekanntgab 142 . b) Die Theologische Fakultät in Göttingen In Göttingen gestaltete Hempel seine wissenschaftliche Karriere. Hier entschied er sich für ein politisch wie kirchenpolitisch engagiertes Dasein als Christ. Sein politischer Weg ist nicht ohne das theologisch und politisch profilierte Umfeld zu verstehen, in das er durch seine Berufung an die Göttinger Theologische Fakultät eintrat. a) Die Göttinger Universität im Nationalsozialismus In der Stadt Göttingen hatte sich die endgültige nationalsozialistische Machtübernahme schon vor 1933 angedeutet. Die NSDAP erlangte hier bereits bei den Reichstagswahlen 1931 die absolute Mehrheit 143 . Innerhalb der Universität versammelten die Nationalsozialisten schon vor 1933 einen großen Teil der Studierenden hinter sich. Die antisemitische Tradition der Verbindungen, die sich den Arier-Paragraphen bereits selbst auferlegt hatten, wurde von der

140 141

Zu Weiser s. unten 284-286. Vgl. Tagungsprogramm in: HEMPEL u.a. (Hg.), Werden, Ulf.

142

Vgl. ELSSFELDT, aaO. 234.

143

DAHMS, Einleitung, 16.

110

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Forderung des Nationalsozialistischen Studentenbundes, für die gesamte Universität einen ,rassischen' Numerus clausus aufzurichten 144 , noch übertroffen. Mit der Einführung des Führerprinzips an der Universität wurde 1933 mit dem Germanisten Friedrich Neumann ein überzeugter Nationalsozialist zum Rektor ernannt 145 . Die Rechte der Selbstverwaltung der einzelnen Fakultäten fielen einer straff kontrollierten Führung zum Opfer. Nun ernannte der Rektor die Dekane, Berufungen waren dem Wohlwollen des Berliner Wissenschaftsministeriums ausgesetzt 146 . In Göttingen gründete sich im Oktober 1933 die NS-Dozentenschaft, die in Rittmarshausen ein Schulungslager unterhielt 147 . Im November 1933 unterschrieben 51 Göttinger Professoren das „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat", in dem 700 deutsche Wissenschaftler das Ausland um Verständnis für das Ringen des von Adolf Hitler geführten deutschen Volkes aufriefen 148 . Im April 1937 entstand die ,Göttinger Akademie der Wissenschaften des NS-Dozentenbundes', eine Gegengründung zur traditionellen, seit 1751 existierenden Gesellschaft der Wissenschaften 149 . Mehr als 50 Professoren wurden im Laufe der ersten drei Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft aus der Dozentenschaft ausgeschlossen 150 . Die aufgrund des .Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' Entlassenen hatten hauptsächlich an den mathematisch-physikalischen Fakultäten gelehrt, auf die sich der Weltruf der Göttinger Universität gründete 151 . Im Gegenzug fanden zweifelhafte, eher politisch als fachlich motivierte Neuberufungen statt, so auch an der Theologischen Fakultät 152 und bei der Neuerrichtung des Lehrstuhles für religiöse Volkskunde im Jahre 1938153. Auf diese

144

V g l . DAHMS, a a O . 2 2 u n d KAMP, 1 9 3 7 , lOOf.

145

Vgl. Ausstellungskatalog zur Ausstellung: 250 Jahre Georg August-Universität, 38. 146 Vgl. VONDERACH, Der Rektor, 18. 147

Schilderung bei TRILLHAAS, Aufgehobene Vergangenheit, 164-169.

148

Das Bekenntnis und die Namen der Göttinger Unterzeichnenden sind abgedruckt in: Politikon Nr. 9 (1965) 27. 149 Vgl. DAHMS, aaO. 41 und KAMP, aaO. 110. 150 Liste, abgedruckt in: Politikon Nr. 9 (1965) 24 u. in: BECKER u.a. (Hg.), Die Universität Göttingen, 4 9 0 - 4 9 9 . 151 Vgl. SCHAPPACHER, Das mathematische Institut, 345f. und ROSENOW, Die Göttinger Physik, 374-376. 152 So die Berufung von Walter Birnbaum (1935) und diejenige von Otto Weber (1934). Vgl. hierzu DAHMS, aaO. 39. 153 Der Lehrstuhl wurde mit dem fachlich völlig unausgewiesenen ehemaligen Pfarrer und späteren Referenten für Theologische Fakultäten im Berliner Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Eugen Mattiat, besetzt. Vgl. hierzu: TRILLHAAS, Emanuel Hirsch, 48. Zu Mattiat s. ERICKSEN, Religion, 90-93.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

111

Weise erwarb sich Göttingen bald den zweifelhaften Ruf, Hochburg des universitären Nationalsozialismus zu sein 154 . ß) Die Göttinger Theologische Fakultät im

Nationalsozialismus

Die Theologische Fakultät in Göttingen wurde 1737 gegründet und berief sich von Anbeginn an auf ihre lutherische Tradition. Mit Karl Barth kam 1921 erstmals ein reformierter Honorarprofessor an die Fakultät, 1934 wurde der Lehrstuhl für reformierte Theologie eingerichtet 155 . Die Fachbereiche der alttestamentlichen Wissenschaft sowie der Orientalistik gehörten bis 1914 der Philosophischen Fakultät an. Paul de Lagarde (von 1869 bis 1891 in Göttingen), Julius Wellhausen (von 1892 bis 1918 in Göttingen) und die sich hier um Hermann Gunkel (von 1888 bis 1913 in Göttingen) bildende ,Religionsgeschichtliche Schule' prägten Entwicklung und Ausrichtung der alttestamentlichen Exegese in Göttingen. Als 1914 der alttestamentliche Zweig geteilt wurde, verblieb der Lehrstuhl Wellhausens an der Philosophischen Fakultät und wurde mit Orientalisten besetzt, die Nachfolger Rudolf Smends erhielten dagegen einen Lehrstuhl für Altes Testament und vergleichende Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät 156 . Dieser Zustand blieb bis 1941 erhalten, als nach dem Weggang Friedrich Baumgärtels vorerst kein alttestamentlicher Ordinarius mehr in Göttingen lehrte. Innerhalb der theologischen Wissenschaft in Deutschland besaß die Fakultät in Göttingen einen führenden Ruf. Zwar gehörte sie, gemessen an den Studierendenzahlen, eher zu den mittelgroßen Fakultäten (im Wintersemester 1932/33 studierten hier 400 Theologinnen und Theologen 157 ), sie konnte aber im Laufe der Geschichte bedeutende Wissenschaftler ihre Lehrer nennen 158 . In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft nahm dieser Ruf immer mehr Schaden. Sowohl Dozenten wie auch Studierende verließen deshalb Göttingen zugunsten anderer Fakultäten. 1933 wurde auch an der Theologischen Fakultät das Führerprinzip eingeführt. Das dauerhafte, vom Rektor der Universität bestimmte Amt des Dekans trat damit an die Stelle der früheren kollegialen Verwaltung. Emanuel Hirsch, der bereits seit dem 1.9.1932 Dekan gewesen war, wurde vom Rektor bis zum März 1939 in seinem Amt immer wieder bestätigt 159 . Hirsch hatte schon 1932 in einem öffentlichen Wahlaufruf die Nationalsozialisten unterstützt 160 . In 154

Vgl. BAETHGE, Die Georgia-Augusta, 23.

155

Vgl. Joh. MEYER, Geschichte, 83f.

156

Vgl. Joh. MEYER, aaO. 79.

157

Vgl. Tabelle bei MEISIEK, Evangelisches Theologiestudium, 419.

158

Zu den Namen s. SMEND, Art. Göttingen, 560-562.

159

Vgl. TRILLHAAS, aaO. 50. Aufruf: „Ich werde Hitler wählen", in: Göttinger Tageblatt vom 9./10.4.1932, zitiert bei ERICKSEN, Die Göttinger Theologische Fakultät, 62. 160

112

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

seiner Amtszeit geriet die Fakultät aufgrund kirchenpolitischer Spannungen immer weiter in Gegensatz zur Hannoverschen Landeskirche. Der größte Teil der Dozenten bekannte sich zur kirchenpolitischen Linie der Deutschen Christen161. Somit konnte das von Hirsch forcierte Ziel, in Göttingen einen Schwerpunkt für die ,neue deutsche Theologie' zu errichten, auf eine breite Basis der Mitarbeit zurückgreifen 162 . Die Vorlesungsverzeichnisse weisen z.B. für das Wintersemester 1933/34 eine rege Beteiligung von Theologiedozenten an der öffentlichen Vortragsreihe ,Rasse, Volk und Staat' auf163. Auch die internen Veranstaltungen der Fakultät wandten sich z.T. der neuen Situation im Staate zu 164 . Die Spannungen zwischen Theologischer Fakultät und Hannoverscher Landeskirche brachen schließlich in einem offenen Konflikt auf 165 . Er machte sich an der offiziellen Berufung des fachlich wenig ausgewiesenen Walter Birnbaum fest 166 und setzte sich im Streit um Prüfungszuständigkeiten zwischen der Fakultät auf der einen und den der Bekennenden Kirche nahestehenden Studierenden und dem Landeskirchenamt auf der anderen Seite fort. Birnbaum wurde der Göttinger Fakultät als Dozent für Praktische Theologie durch das Berliner Bildungsministerium zugewiesen. Die Studierenden reagierten auf seine Veranstaltungen, in denen er aus seiner Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen keinen Hehl machte, mit Boykott und Organisation von 161

Vgl. hierzu ERICKSEN, aaO. 61; MAGER, Göttinger theologische Promotionen, 349f.

u n d TRILLHAAS, e b d . 162

Vgl. MENKING/KOSTER, Theologische Fakultät, 242. Vgl. auch Hirschs Verteidigung einer „freie(n) deutsche(n) Forschung" in seinem Brief an den schwedischen Professor N. von Hoisten vom 10.12.1937, in: UAG, ThFak Nr. 141b, Bl. 62-67. Hier sagt Hirsch auch über die Göttinger Universität: „Ich persönlich kenne keinen Göttinger Gelehrten, bei dem nicht der Wille, seinem Volk zu dienen, mit dem Bewußtsein dieser geistigen Verpflichtung des Volkes gegenüber der ganzen Menschheit sich verbände." 163 Ygj Vorlesungsverzeichnis der Universität Göttingen für das Winterhalbjahr 1933/ 34: Der Kirchengeschichtler H. Dörries hielt in dieser Reihe einen Vortrag über ,Der deutsche Lebensraum in Mitteleuropa'; der Systematiker E. Hirsch referierte über .Deutsches Volk und christlicher Glaube'; der Systematiker G. Wobbermin über .Deutscher Staat und evangelische Kirche'. Der Alttestamentler H. Duhm hielt in diesem Semester eine öffentliche Vorlesung unter dem Titel .Altes Testament, germanische Religion und Christentum'. lw S o z.B. im Wintersemester 1933/34, in dem von Campenhausen eine Veranstaltung zu .Deutsches Volkstum und christliche Kirche', Hoffmann zu .Offenbarung und Volkstum im deutschen evangelischen Christentum' und von Lüpke zu .Die Aufgabe der Kirche im neuen deutschen Bauerntum' an der Theologischen Fakultät anboten (vgl. Vorlesungsverzeichnis der Georg August-Universität zu Göttingen, Winterhalbjahr 1933/34, 5f.). 165 Zum folgenden vgl. KLÜGEL, Die lutherische Landeskirche, 324-330. Weitere Literatur s. unten 114ff. 166 Zu den Vorgängen vgl. die Beschreibung bei MAGER, Das Verhältnis, 182-194. S. auch KLÜGEL, aaO. 324-330; ERICKSEN, Widerstand, 73-75 u. DERS., Theologen, 230-241 (u.U. aufgrund der Orientierung an Klügel's Dokumenten z.T. mit falschen Daten). Vgl. auch die Autobiographie von BIRNBAUM, Zeuge, 206ff.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

113

Ersatzveranstaltungen. Hirsch erreichte jedoch ein Verbot dieser Veranstaltungen, das Wilhelm Rust, der Berliner Minister für Wissenschaft, Volksbildung und Erziehung, im März 1936 aussprach 167 . Schließlich entschied auch das Landeskirchenamt der Hannoverschen Landeskirche, Birnbaum und andere Professoren, die sich offiziell zu den Deutschen Christen bekannten, nicht mehr als Prüfer zum theologischen Examen zuzulassen. Erst 1938 kam ein Kompromiß zustande, nach dem das Examen in einen wissenschaftlichen Teil vor der universitären Prüfungskommission und einen bekenntnismäßigen Teil vor dem Landeskirchenamt aufgeteilt wurde. Durch den Kompromiß wurde zwar eine Weiterarbeit an der Fakultät ermöglicht, Lehrende und Studierende waren durch die Konflikte inzwischen jedoch aufgerieben. Zudem verkleinerte sich mit Kriegsbeginn die Zahl der Studierenden rapide, die Einberufung von Studierenden und Dozenten ließ den Lehrbetrieb auf ein Minimum zurücksinken 168 . c) Hempel an der Theologischen Fakultät in Göttingen Als 1936 ein erster Ruf an Hempel aus Berlin erging, gratulierte ihm Emanuel Hirsch und bat ihn gleichzeitig, die Göttinger Theologische Fakultät nicht zu verlassen: „Es kommt mir beinahe unmöglich vor, mir Sie und Ihre Wirksamkeit aus unserer Göttinger Theologischen Fakultät wegzudenken. Sie gehören zu denjenigen von uns, die für die Fakultät nicht bloss auf dem wissenschaftlichen Gebiete etwas gearbeitet und geleistet haben. Das Sprachenkonvikt ist ganz Ihr Werk. Daß wir das Waisenhaus durch die Krise bisher haben durchretten können, verdanken wir gleichfalls Ihnen. (...) Von dem, was Sie mir in den letzten Jahren persönlich an Rat und Hilfe bei der Führung der Fakultätsgeschäfte gegeben haben, schweige ich in diesem Brief." 169

Hempel hatte sich in Göttingen nicht nur als Wissenschaftler einen Namen erworben, sondern auch durch die Führung der unterschiedlichen Ämter, die er im Laufe dieser Zeit innegehabt hatte. Im Jahre 1928 trat er in das Kollegium der Theologischen Fakultät ein. Mit seinem Beitritt zur Glaubensbewegung ,Deutsche Christen' im Herbst 1933 schloß er sich der Gruppe von Ordinarien an, die sich zur Position der Deutschen Christen bekannte. An der Fakultät waren dies, außer Hempel, Emanuel Hirsch, Georg Wobbermin und Johannes Behm, verstärkt durch die Neuberufungen von Otto Weber (1934), Walter Birnbaum (1935), Friedrich Gogarten und Martin Gerhardt (1937).

167

MAGER, aaO. 191.

168

ERICKSEN, Die Göttinger Theologische Fakultät, 76. E. Hirsch an J. Hempel vom 17.7.1936, in: UAG, ThFak Nr. 12 (Hempel).

169

114

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

a) Prodekan unter Emanuel Hirsch Mit dem Dekan der Theologischen Fakultät, Emanuel Hirsch, verband Hempel, neben einer ähnlich ausgerichteten politischen Haltung, eine persönliche Freundschaft, die auch nach Hempels Weggang aus Göttingen bestehen blieb 170 . So schickte Hempel Hirsch z.B. weiterhin seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen 171 und setzte sich 1959 für eine Emeritierung Hirschs ein 172 . In Fakultätsangelegenheiten arbeiteten die beiden eng zusammen, da Hempel das Amt des Prodekans während Hirschs Amtszeit innehatte. Greifbar wird seine Arbeit als Prodekan z.B. in den Streitigkeiten um die Berufung Walter Birnbaums auf den Lehrstuhl für Praktische Theologie. In dieser Zeit höchster Anspannung zwischen dem Landeskirchenamt in Hannover, der Fakultätsleitung in Göttingen und dem Berliner Wissenschaftsministerium fiel Hempel als Prodekan die Aufgabe zu, eine Vermittlung zwischen den Parteien zu suchen. Um eine Zustimmung des Landeskirchenamtes zur ordentlichen Berufung Birnbaums zu erreichen, reiste er wiederholt nach Hannover 173 . Dort versuchte er in Unterredungen, die Bedenken der Hannoverschen Kirchenleitung zu widerlegen. Diese hatte sich jedoch über Studierende eigene Informationen zu Birnbaum eingeholt 174 und ließ sich deshalb nicht umstimmen. Hempel unterrichtete den Wissenschaftsminister in Berlin über die Gespräche im Landeskirchenamt 175 und trat ihm gegenüber trotz aller Schwierigkeiten für eine Durchführung der Berufung Birnbaums ein. Denn Birnbaums „Befähigung zum akademischen Lehramt dürfte, soweit die Erfahrungen eines Semesters ein Urteil gestatten, damit außer Zweifel stehen. Im persönlichen

170 Nach Aussagen seines Sohnes G. Hempel war Hirschs Frau Patentante eines der Hempel-Kinder (Gespräch am 6.9.1998). 171 Vgl. Widmung Hempels für Hirsch: „Mit herzlichem Freundesgruß. Heil Hitler! Euer Spektabilität ergebenster Hempel" bei Übersendung des Gutachtens für die Beibehaltung des Hebräisch-Unterrichts vom 20.4.1938, in: UAG ThFak Nr. 159 (Th. Sprachenkonvikt), unpag. Zu dem Gutachten selbst s. unten 147. 172 Hempel an Dekan vom 13.2.1959 und an Kurator vom 2.5.1959, in: UAG, Personalakte Hirsch, 222, genannt bei ERICKSEN, Theologen, 262f. und Anm. 333f. 173 Reisekostenerstattungsantrag vom 27.7.1935 und Reisekostenrechnung vom 22.7.1935 für Hempels Fahrten Göttingen - Hannover, in: HUB, H 216, darin: UK Göttingen, Bl. 111 u. 114. Vgl. hierzu auch die Darstellung von BIRNBAUM in seiner Autobiographie: Zeuge, 220f.332f. 174 Vgl. Protokoll über Besprechung im LKA mit Prof. Hempel (undat.), in: LKA Hann., S1 H II 133 und Schreiben des Landeskirchenamtes an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung u. Volksbildung vom 13.8.1935, in: LKA Hann., Generalakte 22131, abgedruckt bei KLÜGEL, Die lutherische Landeskirche Hannovers, Dokumente, 145f. 175 Vgl. Schreiben des Landeskirchenamtes an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung u. Volksbildung vom 13.8.1935, in: LKA Hann., Generalakte 22131, abgedruckt bei

KLÜGEL, aaO. 1 4 5 f .

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

115

Verkehr und in der Arbeit des Fakultätsausschusses, dem er als Vertreter der Dozentenschaft angehört hat, sind keine Momente zu Tage gekommen, die Bedenken gegen seine Berufung nach Göttingen hervorrufen könnten" 176 . In seiner Stellung als Prodekan versuchte Hempel, zwischen der Fakultät und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und zugleich, von beiden dazu ermächtigt, gegenüber dem Landeskirchenamt in Hannover zu vermitteln. Auch an einem zweiten Konfliktfall zwischen Studierenden, Fakultät und Kirchenleitung war Hempel durch sein Amt unmittelbar beteiligt. Im Auslandsseminar Ilsenburg bei Wernigerode, in dem Theologiestudierende auf einen Dienst im Ausland vorbereitet wurden177, regte sich Widerstand der zur Bekennenden Kirche orientierten Studierenden gegen Eingriffe von außen in das Seminarleben. Der Leiter, Hermann Schlingensiepen, unterstellte das Seminar Ende 1934 dem preußischen Bruderrat der Bekennenden Kirche 178 . Im März 1935 wurde ihm deshalb die Lehrerlaubnis entzogen. Im März 1936 stellte die Kirchenleitung die Zahlungen für das Seminar ein. Bischof Heckel vom Kirchlichen Außenamt bemühte sich, die Ausbildung der Studierenden der Göttinger Fakultät anzugliedern. Nach seinen Vorstellungen sollte das Geld, das eigentlich dem Seminar in Ilsenburg zustand, für ein Wohnheim an der Fakultät verwendet werden, um die Ausbildung der Seminaristen an der Fakultät weiterführen zu können179. Die Studierenden, die sich z.T. mit Einschluß in die eigenen Zimmer gegen die Auflösung des Seminars wehrten, weigerten sich, nach Göttingen zu wechseln. Ihnen war bewußt, daß es sich bei der Weiterführung ihrer Ausbildung in Göttingen aufgrund der Ausrichtung der dortigen Fakultät „nicht nur um einen Wechsel in der Ausbildungsform handeln würde, sondern auch um ein Öffnen für eine andere Lehre. (Besuch vorwiegend Deutsch-Christlicher Vorlesungen!!)"180. Schließlich wurde das Seminargebäude in Ilsenburg im Juli 1937 an den Reichsarbeitsdienst abgetreten und dort ein Arbeitsdienstlager für die weibliche Jugend' und später ein Erholungsheim für Beamte eingerichtet181. Die Rolle Hempels in diesem Fall läßt sich aus den Akten nicht mehr eindeutig ermitteln. Jedoch ist davon auszugehen, daß er die Seite der Kirchen-

176 Hempel an Wissenschaftsminister vom 17.7. 1935, in: U A G Dekanatsakte Birnbaum I, Bl. 127R, zitiert bei MAGER, aaO. 187. 177 Zur Geschichte des Auslandsseminars Ilsenburg s. KUNZE, Theodor Heckel, 152-158. 178

KUNZE, aaO. 154.

179

Bericht über die Lage des kirchlichen Auslandsseminars in Ilsenburg (undat.), in: EZA, 7/1598. 180 Stud. theol. Reinhold Meyer, Ilsenburg, an Landeskirchenausschuß Berlin vom 11.10.1936, in: EZA 7/1598 (Auslandsseminar Ilsenburg Aug 35-Okt 36). 181

Vgl. Bericht aus dem Jahr 1938, in: EZA, 7/1600 (Auslandsseminar Ilsenburg Juni 37-Sept. 38).

116

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

leitung und der Fakultät gegen die der Bekennenden Kirche zugehörenden Studierenden und gegen den Leiter des Seminars vertrat. Seine Göttinger Kollegen Joachim Jeremias und Herrmann Dörries, die beide der Bekennenden Kirche nahestanden, weigerten sich deshalb, ihre Zustimmung zur Ernennung Hempels als Vorstandsmitglied und Ephorus des Sprachenkonvikts zu geben 182 . Hirsch hingegen legte auf Hempels Mitarbeit größten Wert und setzte ihn deshalb in weitere Ämter ein. ßj Kurator des Göttinger

Waisenhauses

Im Jahre 1935 wurde Hempel von Hirsch zum Kurator des zu der Theologischen Fakultät gehörenden Waisenhauses ernannt 183 . Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Haus allerdings schon wesentlich von seiner ursprünglichen Bestimmung entfernt. 1736 hatten in Göttingen Studierende, die aus der Erweckungsbewegung kamen, nach dem Vorbild des von August H. Francke Ende des 18. Jahrhunderts in Halle gegründeten Waisenhauses eine Armenschule ins Leben gerufen. Fünfzehn Jahre später war aus der Schule bereits ein Heim für 22 Waisenkinder geworden 184 . Da der Magistrat der Stadt Göttingen die Leitung des Hauses nicht übernehmen wollte, fiel diese an die Theologische Fakultät und deren jeweiligen Dekan. Um einen ständigen Wechsel vermeiden zu können, wurde jeweils ein Dozent der Theologischen Fakultät zum Kurator auf Lebenszeit bestellt 185 . Dieser hatte nun das Vermögen der ,Stiftung Waisenhaus' zu verwalten, das sich aus Spenden, dem Schulgeld und anderen Zuwendungen zusammensetzte. Mit 40 Kindern war das Heim an der Unteren Marsch ausgelastet. So wurde bis zum Jahre 1921 ein Neubau erstellt und bezogen 186 . Dieser beherbergte in den folgenden Jahren, neben der Unterbringung von etwa 60 Waisenkindern, auch ein Kinderklinikheim, eine Kinderpflegerinnenschule und ein Lehrlingsheim. Im Jahre 1935, in dem Hempel die Kuratorenschaft für das Waisenhaus übernahm, lebten nur noch einige wenige Waisenkinder in dem Haus. Die meisten von ihnen waren inzwischen in Pflegefamilien untergebracht worden. Aufgrund neuer pädagogischer Richtlinien wurde im nationalsozialistischen 182 J. Jeremias und H. Dörries, jeweils an E. Hirsch vom 25.2.1937, in: UAG, ThFak Nr. 159. Beide betonen jedoch, daß auch sie das Sprachenkonvikt als Werk Hempels ansehen, eine offizielle Stellungnahme für Hempel jedoch als „ein Urteil in der Frage Ilsenburg" gewertet werden könnte. 183 Nach Angaben seines Sohnes (Gespräch vom 6.9.1998) hatte Hempel auch eine persönliche Beziehung zu diesem Haus, da sein Vater eine Zeitlang Zögling des Heims gewesen war. 184 Zur Gründungsgeschichte des Waisenhauses s. MEUMANN, Findelkinder, 2 6 7 - 2 6 9 und pass. 185

Vgl. Joh. MEYER, Geschichte, 22f.

186

Vgl. EBEL, AUS der Geschichte, 7.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

117

Staat die Erziehung in einer Familie der Anstaltserziehung vorgezogen. Damit aber schien der Sinn eines Waisenhauses aufgrund völliger Unterbelegung in Frage gestellt. So hatten bereits Hempels Amtsvorgänger „begonnen, einzelne (...), von der Reichsjugendführung zugewiesene österreichische Flüchtlingsjungen in das Heim aufzunehmen" 187 . Nachdem auch die letzten zehn Waisenkinder bis zum Jahre 1937 in Pflegefamilien untergebracht waren 188 , wurde das Waisenhaus mit 120 jugendlichen Flüchtlingen aus Österreich belegt189. Hempel übernahm gemeinsam mit der SS die Betreuung der Flüchtlinge 190 und stellte das Haus nach eigenen Worten damit in den Dienst der „straffen nationalsozialistischen und beruflichen Erziehung der österreichischen jugendlichen Flüchtlinge" 191 . Damit sollte die Zeit sinnvoll genutzt werden, bis die politische Entwicklung die Rückkehr der Jugendlichen nach Österreich wieder möglich mache, d.h. wenn sich der erhoffte Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland vollzogen habe. Bis dahin jedoch, so Hempel, sollten die Jugendlichen schulisch und handwerklich auslernen und politisch straff erzogen werden, „damit später in Österreich eine beruflich und politisch gleich gut geschulte Gruppe der Bewegung zur Verfügung stehe"192. Als Kurator des Waisenhauses hielt sich Hempel auch „für verpflichtet, die Frage der zukünftigen Verwertung der Stiftung schon jetzt zu klären, da der von allen völkisch Denkenden so dringend ersehnte raschere Wandel der oesterreichischen Verhältnisse immerhin nicht ganz ausgeschlossen" sei193. So wurde auf seinen Vorschlag hin der Verkauf des ehemaligen Waisenhauses an die Universität eingeleitet. Denn es stand zu befürchten, die Stiftung könne das Haus auf Dauer wirtschaftlich nicht mehr tragen 194 . Im April 1938 kam der Verkauf des Gebäudes an die Universität Göttingen zustande, den Verkaufserlös erhielt das Stipendienwesen der ursprünglichen Waisenhausstiftung innerhalb der Theologischen Fakultät195.

187

Bericht Hempels vom 9.2.1937, in: UAG, Waisenhaus XVT.I.E. Nr. 8, Bl. 7.

188

Vgl. EBEL, e b d .

189

Diese waren nach dem mißglückten Putschversuch der österreichischen Nationalsozialisten im Juli 1934, bei dem der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ermordet worden war, geflohen (so EBEL, ebd.). 190 Kurator an den Hildesheimer Regierungsvizepräsidenten Bacmeister am 9.9.37, in: UAG, Waisenhaus XVI.I.E. Nr. 8, Bl. 30. 191 Bericht Hempels vom 9.2.1937, in: UAG, Waisenhaus XVI.I.E. Nr. 8, Bl. 7. 192 Bericht Hempels vom 9.2.1937, in: UAG, Waisenhaus XVI.I.E. Nr. 8, Bl. 8. 193 Bericht Hempels vom 9.2.1937, in: UAG, Waisenhaus XVI.I.E. Nr. 8, Bl. 8. w Hirsch an Rektor am 16.2.1937, in: UAG, Waisenhaus XVI.I.E., Nr. 8, Bl. 5. 195

V g l . h i e r z u EBEL, e b d .

118

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

j ) Ephorus des

Sprachenkonvikts

Von Anbeginn an war Hempel mit der Errichtung des Sprachenkonvikts der Theologischen Fakultät betraut. Das Konvikt wurde eingerichtet, um der mangelhaften sprachlichen Vorbildung der Theologiestudierenden begegnen zu können 196 . Hempel bekam bereits 1931 das Ephorat übertragen und hatte sich um den Erwerb eines geeigneten Grundstücks und um den Bau des Hauses zu kümmern 197 . Ostern 1932 konnte das theologische Sprachenkonvikt als Internat für etwa 40 Studienanfänger eröffnet werden198. Parallel zu den oben geschilderten Ereignissen um das Waisenhaus erfuhr auch das Sprachenkonvikt im Laufe der Zeit eine deutlich politisch motivierte Ausweitung seiner ursprünglichen Bestimmung. Aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland hatte Hempel als Ephorus veranlaßt, daß die Studierenden, neben dem Unterricht in den alten Sprachen, zugleich „im Rahmen einer christlichen Hausordnung und einer straffen geistigen und körperlichen Erziehung zur Wehrhaftigkeit und Staatsbejahung Wohnung und Unterhalt gegen billiges Entgelt erhalten" 199 sollten. Deshalb wurde die Erziehungsarbeit im Konvikt ab 1933 auf die „Kameradschaftserziehung im Sinne der Deutschen Studentenschaft umgestellt" 200 . Diese Form der repressiven Erziehung, wie sie im Dritten Reich vor allem in Verbindungshäusern eingeführt worden war, sollte der Erziehung zur Volksgemeinschaft dienen 201 . Das Gemeinschaftsleben umfaßte wissenschaftliche Arbeit ebenso wie körperliche Ertüchtigung und politische Erziehung. Ziel war die Ausbildung „einer besonders stark ausgeprägten Tüchtigkeit im Sinne des Nationalsozialismus" 202 . Unter der gemeinsamen Leitung von Hempel und der Deutschen Studentenschaft erreichte das Sprachenkonvikt im Sommer 1934 sogar die Anerkennung als ,Kameradschaftshaus' im Sinne der nationalsozialistischen Erziehungsformen 203 . Während die Deutsche Studentenschaft aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten aber auf die zwangsweise Durchführung der Kameradschaftserziehung in ihren Häusern bald wieder verzichtete, beschloß der

196

Hierzu Joh. MEYER, aaO. 85.

197

Hirsch an Wobbermin vom 31.3.1931, in UAG, ThFak 159 (Sprachenkonvikt).

198

J o h . MEYER, e b d .

199

Mitteilungen Hempels für die Chronik betr. des Sprachenkonvikts (undat.), in: UAG, ThFak 141 a, Bl. 78. 200 Mitteilungen Hempels für die Chronik betr. des Sprachenkonvikts (undat.), in: UAG, ThFak 141 a, Bl. 78. 201 Vgl. hierzu MEISIEK, Evangelisches Theologiestudium, 1 5 0 - 1 5 9 . Zur Kameradschaftserziehung s. auch STUCHLIK, Funktionäre, 66-70. 202

Franze, D i e Erlanger Studentenschaft von 1 9 1 8 - 1 9 3 4 (1972), 231, zitiert bei

STUCHLIK, a a O . 6 8 . 203 Mitteilungen Hempels für die Chronik betr. des Sprachenkonvikts (undat.), in: UAG, ThFak 141 a, Bl. 78.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

119

Vorstand, diese Erziehungsform für das Sprachenkonvikt aufrechtzuerhalten. Denn, so schrieb Hempel in seinem Jahresbericht über seine Ephorustätigkeit: „Wir glauben aber, auf dem von uns betretenen Wege eine Form gefunden zu haben, die eine straffe nationalsozialistische Erziehung unseres theologischen Nachwuchses und zugleich die volle Berücksichtigung der aus unserer sachlichen Zielsetzung sich ergebenden Notwendigkeiten gestattet" 204 . Die „gefundene Form" wurde auch die weiteren Jahre durchgehalten und das Wohlwollen der Deutschen Studentenschaft dadurch gesichert, „daß wir auch im nächsten Semester die Arbeit auf der bisherigen Grundlage fortsetzen, da man bei der Studentenschaft mit dem Betrieb bei uns von nationalsozialistischen Gesichtspunkten her durchaus einverstanden ist."205 Weiterhin fanden Sprachkurse in Griechisch und Latein am Sprachenkonvikt statt. Die Zahl der Theologiestudierenden ging jedoch seit 1934 stetig zurück. Als die Abiturienten im Reichsarbeitsdienst erfaßt wurden, verkleinerte sich auch die Zahl der Sprachschüler am Konvikt. So wurde ab dem Sommer 1934 ein Flur des Gebäudes an die Deutsche Christliche Studenten Vereinigung vermietet, die hier eine Wohnkameradschaft errichtete. Das hierdurch gegebene Zusammenleben der Konviktstudierenden mit Nicht-Theologen schien keine Schwierigkeiten hervorzubringen. In seiner Leitungsfunktion mußte Hempel auch versuchen, die kirchenpolitischen Streitigkeiten, die die Theologische Fakultät betrafen, vom Konvikt möglichst fernzuhalten 206 . So berichtet der Leiter des Studentenamtes der Vorläufigen Kirchenleitung der Bekennenden Kirche, Martin Fischer, der im Wintersemester 1936/37 verschiedene Theologische Fakultäten in Deutschland besuchte, von seinen Eindrücken in Göttingen: „Hirsch herrscht. Daneben Hempel. Hirsch hat das Studienhaus unter sich, Hempel das Sprachenkonvikt und damit die jungen Theologen. Am Sprachenkonvikt ist jede Besprechung kirchlicher Fragen untersagt, welches Verbot auch den Thür. DC gegenüber durchgeführt ist. Einen Konviktsinspektor, der zu Dahlem neigt, zu erleben, der sich Tag für Tag und dazu den anderen jede Äußerung zur kirchlichen Lage verboten sein lassen muß, gehört zum traurigen, aber für Göttingen typischen Bild." 207

Die Schilderung deutet darauf hin, wie rigoros und autoritär Hempel sein Amt als Ephorus verstand, und in welch festen Strukturen sich die Konviktsstudierenden und ihr Inspektor befanden. Hempels großes Engagement für das

204

Jahresbericht 1934/35, in: UAG, ThFakNr. 159 (Theol. Sprachenkonvikt). Hempel an Vorstandsmitglieder des Sprachenkonvikts am 20.2.1937, in: UAG, ThFak Nr. 159. 206 Jahresbericht 1934/35, in: UAG, ThFakNr. 159 (Theol. Sprachenkonvikt). 207 Reisebericht von M. Fischer, EZA 50/491, Bl. 57-80, zitiert bei: SCHERFFIG, Junge Theologen II, 238. 205

120

TV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Sprachenkonvikt erbrachte ihm dennoch von allen Seiten Anerkennung 208 . Das Konvikt war eng mit seinem Namen verbunden 209 , bis er am 11.9.1937 alle seine Göttinger Ehrenämter aufgrund des Rufes nach Berlin aufgab 210 . d) Die Skandinavienreise im September 1933 Im September 1933 reisten fünf Professoren der Göttinger Theologischen Fakultät mit ihren Frauen nach Uppsala in Schweden. Der Neutestamentier Walter Bauer, Johannes Hempel, der Kirchengeschichtler Emanuel Hirsch und die Systematiker Carl Stange 211 und Ernst Wobbermin folgten einer Einladung der Olaus-Petri-Stiftung, die ihnen der Leiter Professor Tor Andrae im Frühjahr 1932 bei seinem Aufenthalt in Göttingen ausgesprochen hatte 212 . Die 1908 an der Universität Uppsala gegründete Stiftung hatte es sich zum Ziel gesetzt, für das religiöse Leben und für die religiöse Bildung und Volkserziehung in Schweden zu wirken. Zu diesem Zweck vergab sie einerseits Stipendien für Auslandsaufenthalte schwedischer Theologiestudierender, andererseits lud sie Professoren aus dem In- und Ausland zu Vorlesungsreihen ,Über die Religion' nach Uppsala und Stockholm ein213. Die Einladung an die Göttinger Professoren war ein Zeichen für die besonderen Kontakte zwischen der Göttinger Fakultät und derjenigen in Uppsala 214 . Dort wollte man davon hören, wie in Göttingen der biblische Text ausgelegt werde. Die eingeladenen Professoren hielten für eine gesamte Woche eine Reihe wissenschaftlicher Vorträge: Hempel referierte an einem Abend über Palästinische Gottesbilder und hielt eine achttägige Vorlesung über Das Ethos des Alten Testaments, mit der er seine „Studien zur alttestamentlichen Ethik abschließen" 215 wollte. Hirsch stellte seine Gedanken über ,Die gegenwärtige Lage in Deutschland im Spiegel der Philiosophie und der Theologie' vor, die er später in seiner

208

D o m e s an Hirsch am 25.2.1937, in: UAG, ThFak Nr. 159.

209

Hirsch an Präsidenten des Landeskirchenamtes v. 18.7.1936, in: UAG, ThFak Nr. 12.

210 Hirsch an Martin Gerhardt, Hempels Nachfolger als Ephorus und Waisenhauskurator, am 30.8.1937, in: UAG, ThFak Nr. 159. 211 Stange war auch Leiter der 1932 gegründeten Luther-Akademie in Sondershausen. Hierzu MURTORINNE, Die Finnisch-deutschen Kirchenbeziehungen, 13. Murtorinne verdeutlicht auch die besondere Beziehung, die die skandinavischen Kirchen zu Deutschland als Mutterland der Reformation hatten (aaO. 9). 212 Hempel stand auch persönlich in engem Kontakt zu Andrae, wie der in Uppsala aufbewahrte Briefwechsel zwischen Hempel und Andrae aus den Jahren 1 9 2 9 - 1 9 4 6 zeigt (in: U U B , T 3aa29). Zudem war Andrae Patenonkel von Hempels Tochter (vgl. hierzu v.a. die Briefe von Maria Hempel an Andrae, UUB, T 3aa29). 213 Zur Olaus-Petri-Stiftung und ihrer Geschichte vgl. KARLSTRÖM, Nathan Söderblom, 57-61. 214 Hempel war in diesem Zusammenhang bereits 1928 in Uppsala gewesen. 215 J. Hempel an Andrae vom 24.2.1933, in: UUB, T 3aa29, Bl. 160. Die Monographie erschien 1938 unter dem Titel der Vorlesung (HEMPEL, Das Ethos). Vgl. oben 102.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

121

Schrift zum „deutschen Jahr 1933" Die gegenwärtige geistige Lage veröffentlichte 216 . Stange beschäftigte sich in seiner Vorlesung mit dem Einfluß des Gebetes auf die Gotteserkenntnis, sein Kollege Wobbermin mit der theologischen Linie von Luther zu Schleiermacher, während Bauer über Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum las217. Schon im Zusammenhang der Absprachen über die bevorstehende Reise war den Beteiligten deutlich geworden, daß an eine allein dem wissenschaftlichen Austausch dienende Fahrt unter den gegebenen politischen Umständen nicht mehr zu denken war. Hempel zeigte sich in einem Brief an Andrae „ausserordentlich erschrocken, am vergangenen Sonntag von einem dänischen Kollegen Aeusserungen über die deutsche politische Lage von einer Schärfe zu hören, wie sie seit dem Ende des Krieges mir selbst bei Engländern und Franzosen nicht entgegengetreten ist. (...) Immerhin habe ich Grund anzunehmen, dass es auch in Uppsala Kreise gibt, die im gegenwärtigen Augenblick Deutschland kritischer gegenüberstehen, als es für das Gelingen eines Freundschaftsbesuches nützlich ist."218

Hempel schlug deshalb vor, schon am ersten Tag des Aufenthaltes in Uppsala einen , Ausspracheabend' zu veranstalten, an dem diejenigen, die sich für politische und kirchliche Fragen interessierten, teilnehmen sollten. Als mögliche Gesprächspartner nannte er Hirsch und sich selbst, da sie „für derartige, in das Aktuell-Praktische hineingreifende Darlegungen am meisten (...) in Frage kämen". Hempel hoffte so, dem „Besuch eine freundschaftliche Atmosphäre (...) zu sichern." 219 Auf seiner Fahrt nach Uppsala hielt sich Hempel einige Tage in Kopenhagen auf und erfuhr nach seinen eigenen Worten auch dort, welch „ausserordentlich scharfer Gegensatz gegen die politische und noch mehr die kirchliche Entwicklung Deutschlands" 220 in der dänischen Kirche herrsche. Bei Gesprächen mit Mitgliedern der dortigen Theologischen Fakultät begegnete ihm vor allem die Besorgnis über die Anfang September beschlossene Einführung des Arierparagraphen in der Kirche der altpreußischen Union 221 . Hempel vertrat gegenüber seinen Gesprächspartnern den Standpunkt, daß „die deutsche Kir-

216

HIRSCH, Die gegenwärtige geistige Lage, 5. Titel und Daten der Vorlesungen im Olaus Petri-Stiftelsens arkiv, UUB. 218 J. Hempel an Andrae vom 9.8.1933, in: UUB, T 3aa29, Bl. 164f. 219 J. Hempel an Andrae vom 9.8.1933, in: UUB, T 3aa29, Bl. 165. Hempel bezeichnete Hirsch hier als „eine(n) unserer Radikalsten" und legte zur Beurteilung seiner eigenen Position eine Predigt bei. 220 Bericht J. Hempels an Heckel vom 8.11.33, S. 2f„ in: EZA, 5/805. 221 Zur Einführung des Arierparagraphen auf der Generalsynode der altpreußischen Lan217

d e s k i r c h e a m 6 . 9 . 1 9 3 3 s. ROHM/THIERFELDER, J u d e n 1, 2 0 3 - 2 0 6 . Z u r R e a k t i o n d e r a u s l ä n d i -

schen Kirchen auf die Einführung des Arierparagraphen im kirchlichen Zusammenhang vgl. auch GERLACH, Als die Zeugen, 111-113.

122

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

che (...) ihre Organisation in erster Linie so zu gestalten habe, dass ihre Gemeinden das Evangelium hören und unser Volk in seiner konkreten geistigen und politischen Lage von der kirchlichen Verkündigung wirklich erfasst werde" 222 . Der Forderung, die Einführung des Arierparagraphen für die Kirche zurückzunehmen, könne deshalb nicht entsprochen werden, auch wenn es hier zu einem Bruch der ökumenischen Beziehungen käme. Auf seiner Weiterfahrt nach Uppsala gab Hempel auf dem Stockholmer Bahnhof den Redakteuren des Svenska Dagbladet ein Interview, welches in der Zeitung unter dem Zitat „95 Prozent der Theologen Deutschlands sind Nazis" 223 wiedergegeben wurde. Darin malte Hempel das Bild einer religiösen Massenbekehrung in Deutschland hin zur christlichen Kirche, die durch „die Hitlerrevolution wie mit einem Zauberschlag" ausgelöst worden sei. Die Deutschen wendeten sich in großen Zahlen der Kirche zu, veranlaßt nicht durch äußeren Druck, sondern durch einen „innere(n) Drang in der Volksseele". Die Situation des Theologiestudiums in Deutschland schilderte Hempel anhand von eigenen Erfahrungen. Demnach seien nicht weniger als 95% der deutschen Theologiestudierenden Nationalsozialisten. Bei seiner eigenen Vorlesung im Sommersemester 1933 wären über die Hälfte des Auditoriums SA-Leute gewesen. Auch hier sei die religiöse Erhebung deutlich zu spüren. In Uppsala selbst führte Hempel, neben seinen wissenschaftlichen Vorträgen, Gespräche mit dem schwedischen Erzbischof Eidem und gestaltete Diskussionsabende zur kirchlichen und politischen Lage in Deutschland. Bei einem Abend in der deutschen Gemeinde in Stockholm trug er zum Thema Die evangelische Kirche in Deutschland und die nationale Revolution vor und legte dabei die Gründe für die „Umwälzung in Deutschland auf religiösem Gebiet" aus seiner Sicht dar. Auch hier unterstrich er die Verbundenheit der Kirche mit dem deutschen Volk. Die kirchliche Aufgabe beim Aufbau des neuen Staates müsse die Bildung einer wirklichen Bruderschaft mit Christus sein, die alle Menschen umfasse, auch diejenigen, die bisher abseits gestanden hätten224. Hierfür sei es z.B. notwendig, den Arierparagraphen auch in der Kirche geltend zu machen. Denn nur so könne der eigentliche Träger der nationalsozialistischen Bewegung, die SA, für das kirchliche Leben wiedergewonnen werden225. An den Vortrag vor der fast vollständig versammelten deutschen Gemeinde und vor ebenfalls anwesenden schwedischen Geistlichen und Laien schloß sich ein Gespräch zwischen Hempel, den schwedischen Geistlichen und einigen Gemeindemitgliedern im Haus des Pfarrers der deutschen Gemeinde an. Auch hier stand, wie schon bei Hempels Gesprächspartnern in Kopenhagen, 222

Bericht J. Hempels an Heckel vom 8.11.33, S. 2f„ in: EZA, 5/805.

223

„95 proc. av Tysklands teologer äro nazister", in: Svenska Dagbladet v. 18.9.1933, 9. Bericht über den Abend in: Svenska Dagbladet vom 3.10.1933, 15. Bericht des deutschen Botschafters Schubetz vom 6.10.1933, S.2, in: EZA, 5/805.

224 225

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

123

der Arierparagraph im Mittelpunkt. Die Schweden brachten dabei das von 2000 Pfarrern unterschriebene Protestschreiben des Pfarrernotbundes zur Sprache, in dem sich diese gegen die Gewaltmaßnahmen des Reichsbischofs und der Deutschen Christen und gegen die bevorstehende Einführung des Arierparagraphens im Raum der Kirche verwehrten 226 . Hempel verteidigte den Wunsch des Führers, an der Spitze der Kirche Männer seines Vertrauens zu sehen. Dafür habe dieser zugesagt, daß die Regierung nicht in das Wesen der Kirche, die religiöse Verkündigung, eingreifen werde 227 . Auf die Nachfrage, wie Christus, käme er in Person jetzt wieder, sich zu der deutschen evangelischen Kirche stellen würde, antwortete Hempel: Man sei unter den Deutschen Christen zu der Überzeugung gekommen, daß die sich jetzt bietende Möglichkeit, Millionen junger Deutscher dem lebendigen Evangelium zurückzugewinnen, vielleicht nie wiederkehre. Deshalb würde Christus das momentane Bemühen der Deutschen Christen sicherlich billigen. Im weiteren fuhr Hempel nach Finnland, um dort mit Vertretern der schwedischen Minderheit, deren Bischof Max von Bonsdorff sein Studienkollege gewesen war 228 , und mit Mitgliedern der deutschen Gemeinde in Helsinki 229 zusammenzutreffen. Hier schien er auf weit mehr Verständnis für die kirchenpolitischen Entwicklungen in Deutschland gestoßen zu sein als in Dänemark bzw. in Schweden 230 . Der Besuch der Göttinger Professoren in Schweden und die damit verbundene „offensichtliche Propaganda (...) für das neue deutsche Regime löste auf schwedischer Seite vielerorts Kritik und Einwände aus" 231 : In einem Artikel der Upsala Nya Tidning wurde das Vorgehen gegen die jüdische Bevölkerung in Deutschland kritisiert und an die positiven Formulierungen des jungen Luther „Daß unser Herr ein geborner Jude sei" mahnend erinnert. Man habe nicht erwartet, mit den eingeladenen Theologieprofessoren aktiven Unterstützern der „neuen deutschen christlichen Kirche" zu begegnen. Die Kluft zwischen Schweden und Deutschland als dem alten Mutterland der Reformation sei aufgrund der momentanen Lage in Deutschland groß 232 .

226

Zum Protest der Mitglieder des Pfarrernotbundes an die Nationalsynode in Wittenberg

v g l . ROHM/THIERFELDER, a a O . 2 1 5 f . 227

Hierzu und zum gesamten Verlauf des Gesprächs: Schubetz vom 6.10.1933, in: EZA,

5/805. 228

Vgl. Bericht J. Hempels an Heckel vom 8.11.33, S.4, in: EZA 5/805, und zu Bonsdorff vgl. MURTORINNE, Die Finnisch-deutschen Kirchenbeziehungen, 16. 229 Zur deutschen Gemeinde in Helsinki vgl. ebenfalls MURTORINNE, aaO. 18. 230 231 232

So J. Hempel in seinem Bericht an Heckel vom 8.11.33, S. 4f., in: EZA 5/805. So KARLSTRÖM, Kyrkan, 256. Artikel „Den unga Luther och det nya Tyskland", Upsala Nya Tiding vom 19.9.1933.

124

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Am 27.9.1933 erschien im Svenska Dagebladet ein Artikel des Sekretärs des schwedischen Erzbischofs, Nils Karlström, in dem dieser die kirchliche Entwicklung in Deutschland aus seiner Sicht darstellte und die auf kirchlichem Gebiet getroffenen Regelungen scharf kritisierte233. Der Artikel wurde bewußt während des Aufenthaltes der Göttinger Professoren in Schweden veröffentlicht. Aber auch Hempel selbst und der in Stockholm anwesende deutsche Botschafter Schubetz schienen sich dessen bewußt zu sein, daß der Besuch die bereits vorhandenen Ängste um die weitere Entwicklung der Kirche in Deutschland bei den schwedischen Partnern nicht völlig hatte entkräften können: „Angesichts der stark reservierten, wenn nicht geradezu ablehnenden Haltung der schwedischen Kirche zum neuen Deutschland ist das Auftreten Prof. Hempels und anderer Mitglieder der Göttinger theologischen Fakultät hier als ein Erfolg zu buchen. Er reicht allerdings bei weitem nicht aus, um eine tiefgreifende Wandlung herbeizuführen. (...) Diese Tatsachen (sc. die Reaktionen in Schweden) zeigen, dass eine unserer wichtigsten kulturpolitischen Positionen in Schweden, die traditionelle Verbundenheit der schwedischen Kirche mit dem deutschen Protestantismus nicht nur schwer erschüttert ist, sondern Gefahr läuft, verloren zu gehen." 234

Kernstück der Kritik sei dabei der Arierparagraph. Es bestehe von schwedischer Seite der Wunsch, dieser möge wenigstens nur in gemilderter Form (nach dem Vorbild der Hannoverschen Landeskirche) zum Zuge kommen. Nur dann könnten die alten Beziehungen wiederhergestellt werden. Auch Hempel sah in der Einführung des Arierparagraphen die größte Spannung zwischen den beiden Kirchen begründet: „Ich darf jedoch nicht verschweigen, dass gleichwohl rein stimmungsmässig von dem Arierparagraphen her Sorge um die innere Entwicklung der deutschen Kirche und ein starkes Sichfremdfühlen ihr gegenüber sehr weithin Platz gegriffen hat." Man habe ihn bei einer Unterredung in Stockholm gebeten, „der deutschen Kirche zu sagen, man fürchte (sc. in Schweden), dass sie sich durch ein Vorgehen wider die neuttestamentliche Bruderschaft aller Gläubigen der Möglichkeit, dass Gott ihre Arbeit segnen könne, selbst beraube." 235

Aufgrund seiner Erfahrungen und Gespräche auf dieser Reise formulierte Hempel in seinem Bericht an Theodor Heckel 236 drei Vorschläge, die zu einer Verbesserung des deutsch-schwedischen Verhältnisses auf kirchlichem Gebiet 233

Vgl. hierzu KARLSTRÖM, Kyrkan, 256 und Schubetz vom 6.10.1933, S.4, in: EZA,

5/805. 234

Schubetz vom 6.10.1933, S. 3f„ in: EZA, 5/805. J. Hempel an Heckel vom 8.11.1933, S. 3f., in: EZA, 5/805. 236 Heckel war bis 1934 im Kirchenbundesamt für die Auslandsdiaspora zuständig und ab 1934 Auslandsbischof im Kirchlichen Außenamt (vgl. hierzu KUNZE, Theodor Heckel, 91-109). 235

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(1928-1937)

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beitragen sollten: Zum einen müsse für eine zuverlässige Berichterstattung über die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland in der nordischen Presse gesorgt werden. Zum anderen sollte durch persönliche Kontakte auf sachlicher Ebene Vertrauen hergestellt werden. Und schließlich erhoffe er sich von Stipendien für skandinavische Theologiestudierende in Deutschland eine Katalysatorenfunktion zugunsten Deutschlands 237 . Auf dem Bericht in den Akten des kirchlichen Außenamtes finden sich Vermerke Heckeis, die den ersten und den letzten Vorschlag Hempels als „schwer durchführbar" klassifizieren. Für die persönlichen Kontakte sei jedoch ein Besuch durch Minister D. Schöffel 238 zu empfehlen. Ein weiterer Vermerk gibt an, daß ein für das Frühjahr 1934 geplanter offizieller Besuch von deutschen Kirchenvertreter in Schweden aus finanziellen Gründen „gegenwärtig nicht durchführbar" sei. So fanden Hempels Ratschläge letztlich wohl keine Umsetzung, seine Überlegungen waren dennoch ernsthaft erwogen worden. Durch die aufmerksame Berichterstattung bewegte die Reise der Göttinger Professoren weite Kreise in Schweden wie auch innerhalb der deutschen Kirchenleitungen. Der Rahmen des geplanten wissenschaftlichen Austauschs war bei weitem überschritten worden, die schwedischen Gesprächspartner blieben dementsprechend verunsichert zurück. Ihre Reaktionen wie auch die öffentliche Berichterstattung in der schwedischen Presse zeigen, daß die geplante inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorträgen durch die politischen Stellungnahmen der deutschen Professoren vollkommen überdeckt wurde. Aus einer Reise mit wissenschaftlicher Zielsetzung war ein ,Propagandafeldzug' für die neue deutsche Kirche und letztlich auch für die politische Entwicklung in Deutschland seit der Machtergreifung geworden. e) Mitgliedschaft in kirchlich-politischen

Organisationen

Das politische Engagement Hempels für den nationalsozialistischen Staat, wie es sich im universitären Bereich in seiner Arbeit als Prodekan und in der Umgestaltung des Waisenhauses und des Sprachenkonvikts gezeigt hatte, war Ausdruck einer politischen Entwicklung, die Hempel in den 30er Jahren genommen hatte. a) Christlich-Sozialer

Volksdienst

In den Jahren 1930 bis 1933 gehörte Hempel dem Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) an. Sein Name ist bereits im Winter 1930 auf einer Liste der hannoverschen Landesleitung des CSVD verzeichnet239. Als deren Landes237

J. Hempel an Heckel vom 8.11.1933, S.5-7, in: EZA, 5/805. Simon Schöffel war Hamburger Landesbischof und Mitglied des Geistlichen Ministeriums der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK). 239 Liste der Landesleitung des Christlich-Sozialen Volksdienstes vom 7.12.1930, in: LKA Hannover, Nachlaß Fratzscher (Bestand N 115). 238

126

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Vorsitzender will er nach eigenen Worten „Kämpfe" gegen den Nationalsozialismus ausgefochten haben 240 . Im November 1933 unterschrieb er jedoch bereits den Aufruf der 700 Professoren für Adolf Hitler 241 und trat schließlich bei Veranstaltungen der Thüringer ,Deutschen Christen', die unter dem Motto „Deutschland ist unsere Aufgabe, Christus unsere Kraft" 242 standen, für eine Verbindung von kirchlicher Erneuerung und nationalsozialistischer Staatsführung ein. Wie aber ist dieser Weg von einem vermeintlichen Widerstand gegen den erstarkenden Nationalsozialismus hin zu einer unterstützenden Arbeit für den nationalsozialistischen Staat zu verstehen? Die Zielsetzung des 1929 gegründeten CSVD lag in der Errichtung einer evangelischen Verfassungspartei, welche die Erneuerung des Volkslebens in den „Kräften eines lebendigen Christentums" suchte243. In ihm sammelten sich verschiedene Gruppierungen evangelischer Christen, die sich um eine Erneuerung der christlich-sozialen Idee bemühten. Da die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP), die bis dahin grundsätzlich „als die Wahrerin evangelischer Interessen par excellence" 244 gegolten hatte, sich immer weiter wirtschaftspolitischen Interessen zuwandte, hatte sich bereits 1924 der .Reichsverband der christlich-sozialen Gesinnungsgemeinschaften' gebildet. Hier sollten sich diejenigen wiederfinden können, denen daran lag, „den Willen Gottes im öffentlichen Leben entschlossen geltend zu machen und mit der Forderung Jesu vor unser Volk zu treten" 245 . Die Anhänger des Reichsverbandes kamen hauptsächlich aus den Landeskirchlichen Gemeinschaften und den Freikirchen und erhoben die ,Reich-Gottes-Vorstellung' zum Vorbild für die Gestaltung von Staat und Wirtschaft 246 . 1927 wurde aus dem Zusammenschluß der .Gesinnungsgemeinschaften' die feste Organisation des Christlichen Volksdienstes'. Der Dienst am Volk galt hier als eine biblische Forderung 247 . Man suchte eine demokratische Einstellung gegenüber der Weimarer Republik, wie es die Zentrumspartei für die Katholiken bereits praktizierte, für Protestanten aber keineswegs selbstverständlich war248. Vorrang besaß je240

Erklärung Hempels vom 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 54.

241

S. oben 110.

242

Rundbrief Hempels vom 10.4.1964, S. 2. Zu dem Motto s. Richtlinien der Kirchenbewegung .Deutsche Christen' in Thüringen vom 11.12.1933, abgedruckt in: SCHMIDT, Bekenntnisse 1933, 102. 243 Rede des Reichstagsabgeordneten P. Bausch am 18.10.1930, abgedruckt in: Tägliche Rundschau vom 23.10.1930 (in: EZA, 7/2067). Zu Paul BAUSCH s. auch dessen Lebenserinnerungen. 244 NOWAK, Evangelische Kirche, 144. 245 Wahlaufruf für die Gemeindewahlen am 21.3.1924, abgedruckt in: BUCHHEIM, Geschichte, 376. 246 NOWAK, aaO. 145. 247 HOHLWEIN, Art. Volksdienst, 1449. 248

BUCHHEIM, Geschichte, 391.400.

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doch der Gedanke der Theokratie: „Nicht das Volk, Gott herrschte - auch in einer Demokratie"249. Im Dezember 1929 schloß sich der Christliche Volksdienst mit der im August 1928 ins Leben gerufenen , Christlich-Sozialen Reichs Vereinigung' zusammen, in der sich die christlich-sozial orientierten Kräfte innerhalb der DNVP gesammelt hatten250. Der aus dem Zusammenschluß entstandene CSVD 251 verstand sich als eine Bewegung, in der „Menschen, die mit Ernst Christen sein wollen, im Geiste brüderlicher Liebe ringen um christliche Lösungen der uns im Volksleben gestellten Aufgaben" 252 . Seinen größten Erfolg erreichte die Gruppierung bei den Reichtagswahlen im September 1930. Dort konnte sie 14 Mandate (von insgesamt 577 Mandaten) erringen253. Die folgenden Jahre waren von der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Nationalsozialismus geprägt 254 . Öffentlich klagten die Vertreter des CSVD das nationalsozialistische Machtideal und das Herrenmenschentum an und forderten statt dessen das von Gott garantierte Recht auf Freiheit und Lebensraum sowie Gerechtigkeit gegenüber allen Völkern255. Ihr vornehmliches Ziel lag in der „Durchdringung des öffentlichen Lebens mit protestantischem Gedankengut"256. Über die konkrete Arbeit Hempels beim CSVD ist wenig bekannt, seine Mitgliedschaft bestand aber bis zu dessen Auflösung im Sommer 1933 257 . Noch

249

NOWAK, aaO. 149.

250

Z u m Z u s a m m e n s c h l u ß s. NOWAK, aaO. 2 6 2 - 2 6 4 .

251

RADE, Beiträge, 325. Punkt 4 der Leitsätze des .Christlich-Sozialen Volksdienstes', abgedruckt bei OPITZ, Der Christlich-soziale Volksdienst, 332. 253 MATTHIAS/MORSEY, Das Ende, 753. Hier auch zu den Wahlergebnissen des CSVD in den folgenden Wahlen 768.791. 254 SCHOLDER (Die Kirchen I, 176) schreibt zur Auseinandersetzung des CSVD mit dem Nationalsozialismus: „Zu den entschiedensten Gegnern des Nationalsozialismus im deutschen Protestantismus gehörten seit Anfang 1931 auch die Vertreter des Christlich-sozialen Volksdienstes". NOWAK (aaO. 268f.) hebt hingegen die ambivalente Haltung des CSVD gegenüber dem Nationalsozialismus hervor. 255 Rede des Abgeordneten Bausch am 18.10.1930, abgedruckt in: Tägliche Rundschau vom 23.10.1930 (in: EZA, 7/2067). Vgl. hierzu auch: WRIGHT, „Über den Parteien", 133f. 252

u n d SCHOLDER, ebd. 256 A. Depuhl, Volksdienst ist not, in: Niederdeutscher Volksdienst vom 20.5.1933, in: LKA Hann., N 124 (Nachlaß A. Depuhl), Bl. 153. 257 E. Hirsch an Rektor vom 28.2.1934 (UAG, ThFak Nr. 12 [Hempel]): „Herr Kollege Hempel hat bei den Gastvorlesungen in Uppsala und Helsingfors im vergangenen Herbst sich vorbehaltlos für den Staat Adolf Hitlers eingesetzt. Er hat dies in außerordentlich geschickter und eindrucksvoller Weise getan. Der Umstand, daß er bis zur Auflösung aller anderen Parteien im vergangenen Sommer der führende Mann im christlichen Volksdienst gewesen ist,

128

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

bei den Reichstags wählen im März 1933 wählte Hempel den CSVD 258 . In der Satzung des Landesvereins Hannover definierte sich der Volksdienst als „eine Gesinnungsgemeinschaft, die evangelische Männer und Frauen vereinigt, um die Kräfte des Evangeliums im öffentlichen Leben wirksam zu machen" 259 . Auch Hempel, der in der Schriftenreihe des CSVD einen Aufsatz unter dem Titel Vom Schöpferglauben und dem Staate veröffentlichte, sprach sich für eine Verbindung von Politik und Christentum aus: „Nur dann, wenn das sachliche Handeln in der Politik bewußt sich unter Gottes Willen beugt, aus der Politik die gottwidrigen Mittel ausschaltet, als sein Ziel die Erfüllung des göttlichen Liebesgebotes erkennt und hochhält, nur dann ist eine Politik davor bewahrt, sich zwangsläufig in widergöttlichen Kreisen zu bewegen" 260 . Hempel betonte, daß gerade die Staatsführung und auch der einzelne sich immer wieder „betend unter Gottes Wort zu stellen"261 hätten und gehorsam gegen das göttliche Wort sein müßten. Denn nur so werde der göttliche Schöpferwille erfüllt und nur so könne dem Volk gedient werden 262 . Die Politik müsse also aktiv aus dem christlichen Glauben heraus gestaltet werden. Hempel war überzeugt, „daß die letzte Lebenskraft eines Volkes, daß die letzte Lebenskraft auch einer ganzen Kultur verdorrt und abstirbt, wenn sie sich löst von dem Lebensstrome, der von dem lebendigen Gott her in seinem Worte in unsere Welt hineintritt" 263 . So betonte er den Zusammenhang „von Gottesgehorsam und Volksschicksal" 264 und erinnerte den Staat daran, daß dieser „nur im bewußten Gehorsam seinen Gottesdienst, Schutz und Schirm des ihm anvertrauten Volkstums zu sein, ausrichten" könne265. Mit seinen Worten entsprach Hempel ganz der Zielsetzung des CSVD, Politik christlich zu verantworten. Aufgrund ihres obrigkeitsstaatlichen Denkens verkannten die Vertreter des CSVD jedoch weitgehend die autoritäre Entwicklung, die der Staat in den letzten Jahren der Weimarer Republik nahm. Mit der endgültigen Machtübernahme der Nationalsozialisten waren dem hat den Eindruck seines Einsatzes für die neue Ordnung in Volk, Staat und Kirche nur gesteigert." 258

Entnazifizierungsbogen Hempels, S. 9, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-1948. A. Depuhl, Volksdienst ist not, in: Niederdeutscher Volksdienst vom 20.5.1933, in: LKA Hannover, N 124 (Nachlaß A. Depuhl), Bl. 152. 260 HEMPEL, Vom Schöpferglauben, 6. Mit seiner Schrift wehrte Hempel sich gegen Vorwürfe aus den Reihen der DNVP, der CSVD unterstelle sich nicht den göttlichen Schöpfungsordnungen, sondern richte den Willen seines eigenen christlichen Gewissens auf (vgl. hierzu EVANGELISCHER REICHSAUSSCHUSS, Die religiösen Grundanschauungen, 18). 259

261

HEMPEL, Vom Schöpferglauben, 11.

262

HEMPEL, aaO. 12.

263

HEMPEL, aaO. 13.

264

Vgl. hierzu seine Auslegung des alttestamentlichen Volksbegriffs, in der er genau diese Zusammenhänge im Alten Testament am Beispiel Israels dargelegt findet (s. unten 264). 265 HEMPEL, aaO. 14.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

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CSVD als eigenständiger Bewegung sehr enge Grenzen gesetzt. Deshalb bemühte man sich zunächst um eine Mitarbeit an den „notwendigen Reformen" in Staat und Kirche unter christlich-sozialen Aspekten. Voraussetzung war die Gewährung der Freiheit der Verkündigung und der Betätigung des biblischen Evangeliums 266 . Unter diesen Prämissen gab z.B. der Vorsitzende und Reichstagsabgeordnete des CSVD, Wilhelm Simpfendörfer, seine Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz 267 . Er unterstrich die gemeinsame Grundlage von NSDAP und CSVD, die er im sozialreformerischen Wollen und in der nationalen und völkischen Gesinnung der beiden Parteien gegeben sah 268 . In den einzelnen Landesverbänden entbrannten heftige Diskussionen um die Frage, ob man sich als Partei der NSDAP eingliedern 269 oder vielmehr als evangelische Christen auf eine eigene Vertretung beharren solle. In Hannover entschieden sich die Mitglieder für eine „Tat-Gleichschaltung", mit der man die eigene Zugehörigkeit zur nationalen Bewegung unterstrich. Eine „aufrichtige, ehrliche Gleichschaltung der Tat und nicht der Worte" 2 7 0 lag ihnen am Herzen. Lange konnte sich der CSVD jedoch nicht als eigenständige Gruppierung innerhalb des nationalsozialistischen Systems halten: Am 30.6.1933 wurde er, nach Absprachen zwischen Reichsinnenminister Frick und Simpfendörfer, offiziell aufgelöst 271 . ß) Deutsche Christen „Der Wunsch, ein Abgleiten der ,Bewegung' in das Antichristentum aufzuhalten" und die ,,lebendige(...) Sehnsucht, das [sie!] die Heimkehr zum Volk für viele zu einer Heimkehr zu Gott und nicht zu einer Abkehr von ihm werden möchte" 272 , führten Johannes Hempel nach eigenen Worten 1933 zur Mitarbeit bei den Deutschen Christen. 1963 bezeichnete er seinen damaligen Weg als eine Entscheidung für ein „Irrlicht". In den 30er Jahren hätte er jedoch eine loyale Mitarbeit bei den Deutschen Christen als Chance gesehen, zu verhindern, daß die im Nationalsozialismus „vorhandenen antichristlichen Tendenzen über die in ihm ebenso vorhandenen christlichen Elemente die Oberherrschaft gewannen" 273 . Woher nahm Hempel das Vertrauen auf die 266 Gustav Hülser, Christlich-sozial im Dritten Reich, in: Christlich-sozialer Volksdienst 17 (1933), vom 22.4.1933, in: EZA, 7/2067. Zu dem Artikel Hülsers s. auch OPITZ, aaO. 305 mit Anm. 75. 267

Hierzu OPITZ, aaO. 299. Hierzu OPITZ, aaO. 301. 269 Zum Anschluß verschiedener Landtagsabgeordneter an die NSDAP s. OPITZ, aaO. 305f. 270 A. Depuhl, Volksdienst ist not, in: Niederdeutscher Volksdienst vom 20.5.1933, in: LKA Hann., Nachlaß A. Depuhl, 153. 268

271

V g l . HOHLWEIN, a a O . 1 4 5 0 .

272

Rundbrief Hempels an Verwandte und Freunde vom 10.4.1963, S. 2. Erklärung Hempels vom 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 54.

273

130

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

christlichen Kräfte innerhalb der NSDAP, die er im Rahmen seiner Mitarbeit im CSVD noch bekämpft haben will 274 ? Wie ist es weiter zu erklären, daß er als differenzierter Wissenschaftler und renommierter Alttestamentler auch nach dem Desaster der Sportpalastkundgebung im November 1933 weiter an den Deutschen Christen festhielt, während viele seiner akademischen Kollegen wieder aus der Bewegung austraten 275 ? In seinem Beitrag zu dem 1932 von Leopold Klotz herausgegebenen Sammelband Die Kirche und das dritte Reich276 beschreibt Hempel die nationalsozialistische Bewegung seiner Zeit in dreifacher Weise: Das starke Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung sei das Gericht über die Kirche, die es nicht verstanden habe, eine christliche Lehre vom Volkstum zu schaffen 277 . Zudem habe sie versäumt, den „sozialen Gedanken" im Bürgertum durchzusetzen. Dieses Versagen führe der erstarkende Nationalsozialismus der Kirche deutlich vor Augen. Die Gefahr liege aber darin, daß die NSDAP zwar den Standpunkt eines „positiven Christentums" vertrete, das Rasseprinzip jedoch zum Kriterium z.B. für den Bibelkanon erhoben habe. Damit werde ein „fremdes Prinzip als Maßstab für die Geltung und Verpflichtungskraft der Schrift" 278 übergeordnet. Dennoch berge ein starker Nationalsozialismus aber auch eine „große Zukunftsmöglichkeit für die Kirche" 279 . Wenn die Kirche es erreiche, daß der soziale Gedanke in der NSDAP auf christlichem Boden gegründet werde, so könne die Kirche „für das Heil ihres Volkes (...) wirken" 280 . Ihre Aufgabe sei es, die nationalsozialistische Partei nicht im Neuheidentum versinken zu lassen. Denn an dem Schicksal der Partei, da ist sich Hempel 1932 bereits sicher, entscheide sich auch das weitere Schicksal Deutschlands 281 . Hempel sah also zu diesem Zeitpunkt noch deutlich Gefahren, die sich mit dem Machtgewinn der Nationalsozialisten verbanden. Im Gegensatz zu seinen Kollegen vom CSVD unterließ er aber eine offene Anklage der Partei 282 . Vielmehr schien ihm die Situation einer endgültigen nationalsozialistischen Machtübernahme im Staat bereits unausweichlich. Er hielt es deshalb für notwendig, sich mit der neuen Machtkonstellation zu arrangieren und sich

274

S. oben 126.

275

So z.B. die Professoren Fezer, Weiser, Gogarten u. H. Bornkamm. S. hierzu oben 64.

276

KLOTZ (Hg.), Die Kirche. Hempels Beitrag findet sich im ersten Band, S. 4 4 - 5 2 . Zu dem Sammelband vgl. SEGELE-WENSCHKEWITZ, Nationalsozialismus, 2 7 - 3 5 . Zu Hempels Beitrag s. auch WOLF, Volk, 177. 277 HEMPEL, in: Klotz, Die Kirche I, 48f. 278 279 280 281 282

HEMPEL, aaO. 45 (im Original gesperrt gedruckt). HEMPEL, aaO. 49. HEMPEL, aaO. 51. HEMPEL, aaO. 50f. S. oben 127.

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

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„ z u m W o h l e des Volkes" einzumischen. A u c h im Rückblick begründete er s o seine Entscheidungsfindung. E s sei ihm klar g e w e s e n , „daß er (sc. der Nationalsozialismus) sich die Macht durch kein parlamentarisches Manöver wieder würde entreißen lassen, sondern daß es sich um eine Entscheidung auf lange Sicht handelte, die zudem für unser Volk die Notwendigkeit in sich schloß, über kurz oder lang zum Kampf auf Leben und Tod anzutreten, ganz gleich, ob das der Wille der deutschen Regierung war oder nicht. (...) Zu gewinnen war solch Kampf nur bei vollkommener Geschlossenheit der Nation, vor allem nur dann, wenn die soziale Kluft sich schloß. (...) Diese Gefahr (sc. daß die antichristlichen Tendenzen die Oberherrschaft gewännen) war nach meinem Eindruck von der Bewegung nicht von außen her zu bannen, sondern nur dadurch, daß durch loyale Mitarbeit den Gutwilligen die Furcht und den Böswilligen der Vorwand genommen wurde, die Kirche sei und bliebe der Hort partikularistischer und sozialer Reaktion. Die Hoffnung, auf diesem Wege zu helfen, daß die Heimkehr zum Volk eine Heimkehr zu Christus werde, hat mich zu den Hannoverschen D.C. und mit ihnen aus der besonderen dortigen Lage zu der Thüringer Richtung geführt" 283 . S e i n e Entscheidung für eine „loyale Mitarbeit" innerhalb des nationalsozialistischen S y s t e m s führte H e m p e l schließlich zu den D e u t s c h e n Christen. A u f d i e s e m W e g h o f f t e er, daran mitzuarbeiten, daß die Staatsführung auf christlic h e n B o d e n gestellt werde. D i e Art und W e i s e , in der er das W a i s e n h a u s und das Sprachenkonvikt führte, zeigen deutlich sein Eingehen auf die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Ideologie. Zwar betonte er nach 1945 immer w i e d e r die Tatsache, daß er selbst nie der N S D A P beigetreten sei. Sein universitäts- und k i r c h e n p o l i t i s c h e s E n g a g e m e n t , aber auch s e i n e w i s s e n s c h a f t l i c h e n Vorträge und Schriften verdeutlichen j e d o c h , w i e w e i t er seine Kräfte in den D i e n s t des nationalsozialistischen Staates gestellt hatte. D i e s e r Eindruck wird durch Äußerungen H e m p e l s unterstützt, die seine H o f f n u n g auf Hitler und die nationalsozialistische Politik verdeutlichen. Im April 1933 schrieb er an seinen schwedischen K o l l e g e n Tor Andrae: „Ueberblickt man dass [sie!] in den letzten Wochen bei uns Geschehene, so kann man sich nur über eines wundern, nämlich über die außerordentliche Ruhe und Disziplin, mit der von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine ausserordentlich tiefgreifende Revolution sich abgespielt hat. (...) Das Günstige ist, dass der Kanzler selbst zu den gemäßigten Elementen gehört, die in kulturellen und religiösen und menschlichen Fragen stärker an die Tradition sich binden als andere" 284 . Von der Volksabstimmung über den Völkerbund-Austritt im November 1933, die mit einer „Scheinwahl" zum Reichstag verbunden war, erhoffte er sich, „daß die Abstimmung die Autorität der Regierung so entscheidend stärkt, dass sie nach außen ihre Politik des gleichen Rechtes und Friedens durchführen kann, ohne Kräfte in inneren Auseinandersetzungen verzetteln zu müssen. Nur eine nach innen absolut gesicherte Regierung kann nach aussen wirklich friedlich sein." 285

283

Erklärung Hempels vom 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 54. J. Hempel an Andrae vom 24.4.1933, in: UUB, T 3aa29, Bl. 161f. 285 J. Hempel an Andrae vom 4.11.1933, in: UUB, T 3aa29, Bl. 176. 284

132

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Hempels Sorge galt der Befürchtung, „dass wenn die jetzige Stunde versäumt wird, wir in wenig Jahren eine durchgängig germanisch heidnische Jugend haben" 286 . Deshalb litt er unter den Streitigkeiten des Kirchenkampfs: „Es ist meine sehr ernste Ueberzeugung, dass, wenn unsere Kirchenführer nicht in ganz kurzer Zeit sich zu energischer Arbeit zusammenfinden, dann so ziemlich alle Aussicht geschwunden ist, das Evangelium den nationalsozialistischen Formationen mit irgend einem Schein von Autorität zu sagen. Es ist entsetzlich, zu sehen, wie in dem sich konsolidierenden Staate die evangelische Kirche das Element des Streites geworden ist. Sie wird immer mehr zu einer lächerlichen Angelegenheit." 287

Seine Sympathie im Kirchenkampf galt den Deutschen Christen, denn, so Hempel 1936: „Als Religionshistoriker wüßte ich wirklich nicht, wo ich kirchenpolitisch sonst stehen sollte" 288 . Das genaue Datum seines Beitritts zu den Deutschen Christen ist nicht festzustellen. Im Göttinger Tageblatt von Mitte Mai 1933 wurden die Namen derjenigen Göttinger Universitätsprofessoren genannt, die sich zu jenem Zeitpunkt bereits zur Glaubensbewegung .Deutsche Christen' zählten289. Hempels Name ist hier nicht erwähnt. Auf der Reise nach Schweden im September 1933 bekannte er sich aber offen zu seiner Mitgliedschaft. Damit wäre Hempel bereits wenige Wochen nach Auflösung des CSVD den Deutschen Christen beigetreten 290 . Mit der besonderen Geschichte der hannoverschen Gruppierung entschied sich auch Hempel schließlich für die Mitarbeit bei der radikalen Kirchenbewegung ,Deutsche Christen'. Seit Januar 1935 distanzierten sich die Deutschen Christen in Hannover zunehmend von der Reichsleitung der Deutschen Christen, aber auch von der Landeskirchenleitung unter Bischof Marahrens 291 . Statt dessen suchte man engen Kontakt zu den Bremer Deutschen Christen unter Bischof Weidemann. Dieser hatte im Mai 1935 eine ,Arbeits-

286

J. Hempel an Andrae vom 24.1.1934, in: UUB, T 3aa29, Bl. 178. ™ J. Hempel an Andrae vom 24.1.1934, in: UUB, T 3aa29, Bl. 178. 288 J. Hempel an Andrae vom 31.1.1936, in: UUB, T 3aa29, Bl. 184R. 289 Göttinger Tageblatt vom 15.5.1933 (in: LKA Hannover, H I 201): „Es bedarf der besonderen Heraushebung, dass drei Universitätsprofessoren der Theologie sich zu unserer Bewegung gestellt und ihre volle Zustimmung und Mitarbeit zugesagt haben, es sind die Professoren Hirsch, Wobbermin und Duhm". In seinem Entnazifizierungsbogen (in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48) gibt Hempel für seine Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen die Jahre 1933-1945 an. 290 SCHOLDER (aaO. 402) weist darauf hin, daß Hempel bereits auf dem außerordentlichen Fakultätentag am 27.4.1933 zu der Gruppe der jüngeren Professoren gehörte, „die zum Teil leidenschaftlich die unbedingte Solidarität der Kirche mit dem neuen Staat forderten" und von denen sich viele bald darauf bei den Deutschen Christen befanden. 291 Zur speziellen Situation innerhalb der hannoverschen Landeskirche s. MEIER, Der evangelische Kirchenkampf I, 389-396; PERELS, Die Hannoversche Landeskirche; HEINONEN, Anpassung, 8 1 - 8 5 .

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

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gemeinschaft der niedersächsischen Deutschen Christen' gegründet, der auch die hannoversche Gruppierung beitrat. Bald jedoch wandten sich diese, von Weidemann enttäuscht, der radikalen ,Kirchenbewegung Deutschen Christen' in Thüringen zu. Zu einer Arbeitstagung im Juni 1935 292 , an der auch Hempel teilnahm, lud man noch Vertreter der niedersächsischen Arbeitsgemeinschaft Weidemanns und Vertreter der Thüringer Kirchenbewegung , Deutsche Christen' ein 293 . Auch an der ersten Reichskirchentagung für Niederdeutschland in Bremen im September 1935 beteiligten sich Vertreter der Hannoverschen Deutschen Christen 294 . Im April 1936 aber vollzog der Landesleiter, Gerhard Hahn, den offiziellen Anschluß der Hannoveraner an die radikale Thüringer Kirchenbewegung ,Deutsche Christen' 295 . Hempel verband sein Engagement für die Deutschen Christen mit seiner wissenschaftlichen Arbeit: Im September 1935 trug er in Bremen 2 9 6 zum Thema Luther und das Alte Testament vor. Unter Berufung auf Luther versucht er nachzuweisen, daß das alttestamentliche Gesetz nur Israel gegolten habe, die Christen dagegen, die ja von den Heiden abstammten, in keiner Weise daran gebunden seien297. Einen Monat später sprach Hempel auf der Theologischen Tagung der Reichsbewegung ,Deutsche Christen' in Wittenberg 298 . Unter dem Titel Altes Testament und völkische Idee beschrieb er den biblischen Volksbegriff in der von Gott eingesetzten Form und betonte gleichzeitig die Verwerfung Israels in den biblischen Texten 299 . Nach dem Eindruck eines Beobachters habe sich vor allem in der Debatte um Hempels Vortrag und um dessen Schlußwort „ein unzulässiger Einfluß der politischen Stimmung auf die theologische Lehrbildung" 300 gezeigt.

292

HEINONEN, aaO. 82.

293

Nach MEIER (Die Deutschen Christen, 188) findet auf dieser Reichstagung die Kontaktaufnahme zwischen der hannoverschen D C und der Thüringer KDC statt. 294

Zur Tagung s. MEER, aaO. 102f.

295

HEINONEN, a a O . 8 4 . Z u d e n g e s a m t e n V o r g ä n g e n v g l . HEINONEN ( a a O . 6 6 - 6 9 ) u.

MEIER, Der evangelische Kirchenkampf I, 389-396. Zu der Thüringer Kirchenbewegung .Deutsche Christen' und ihrer ideologischen Ausrichtung s. SONNE, Die politische Theologie, 5 6 - 1 0 0 und die Richtlinien der Kirchenbewegung .Deutsche Christen' in Thüringen vom 1 1 . 1 2 . 1 9 3 3 , a b g e d r u c k t in: SCHMIDT, B e k e n n t n i s s e 1 9 3 3 , 1 0 2 . 296

Z u d e r T a g u n g s . V o r a n k ü n d i g u n g in C h W 4 9 ( 1 9 3 5 ) 8 6 8 ; JK 3 ( 1 9 3 5 ) 9 3 3 u. HEINO-

NEN, aaO. 6 8 . 297

HEMPEL, Luther.

298

Zu der Tagung s. K. MÜLLER, Theologische Tagung, 1062f. und MEIER, Der evangelische Kirchenkampf I, 209 mit Anm. 740; II, 409 mit Anm. 179; DERS., Die Theologischen Fakultäten, 154f. 299

HEMPEL, Das Alte Testament und die völkische Idee.

300

K. MÜLLER, a a O . 1 0 6 3 .

134

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Auf dem Hintergrund seiner vielfältigen Aktivitäten ist die Eigeneinschätzung Hempels, mit der er 1946 auf sein Engagement bei den Deutschen Christen zurückblickt, doch bemerkenswert. In einem Schreiben an den Dekan der Berliner Theologischen Fakultät reagierte er äußerst distanziert auf dessen Beurteilung: „Besonders interessiert mich an Ihrem Brief die Neuigkeit, daß ich ,tätiges Mitglied' der Thüringer D.C. gewesen bin. Ich habe, was allgemein bekannt ist, der Thüringer Pfarrergemeinde angehört, mich aber mit voller Absicht jeder Tätigkeit, die nicht streng in das Gebiet meines Faches fiel - Vorträge u. dergl. - enthalten, da ich mir für die Katzbalgereien unter den verschiedenen ,Richtungen' und die Ehrgeizigkeiten der ,Personalpolitik' denn doch zu schade war" 301 .

Seine Mitarbeit bei den Deutschen Christen sollte Hempel nach 1945 schließlich zum Hindernis für eine weitere universitäre Laufbahn werden302. y) Die Heimkehr zum Volk als Heimkehr zu

Christus

Wie ist der politische Umschwung Hempels von einer distanzierten Haltung, wie sie der CSVD gegenüber dem Nationalsozialismus praktizierte, hin zu einer aktiven Mitgliedschaft bei den Deutschen Christen, die ihre Arbeit innerhalb von Theologie und Kirche in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellten, zu verstehen? Ausschlaggebend ist wohl Hempels Sorge um das ,Volkswohl', die ihn zunächst beim CSVD und später bei den Deutschen Christen aktiv werden ließ. Sein Ziel war die (Re-) Christianisierung des deutschen Volkes und dessen Ausrichtung auf den göttlichen Willen. Um dieses Ziel verwirklichen zu können, schloß er sich zunächst dem CSVD und später den Deutschen Christen an. Insbesondere die Dokumente aus der Übergangszeit der Jahre 1932/33 legen diese Vermutung nahe: Schon 1932, in seinem Beitrag für den Sammelband von Leopold Klotz, sah Hempel in der Bewegung des Nationalsozialismus eine große Zukunftsmöglichkeit für die Kirche303. Werde diese genutzt, so Hempel, könne letztlich, auf dem Wege eines christlichen Nationalsozialismus, eine Christianisierung des deutschen Volkes ermöglicht werden. In diesem Sinne habe die Kirche die Aufgabe, die „gegenwärtig stärkste(...) Partei" 304 , als die Hempel die NSDAP zu diesem Zeitpunkt bezeichnete, auf den Boden der „christlichen Bruderliebe" zu führen. Nicht die nationalsozialistische Bewegung als solche sei also das Positive, denn hier äußerte Hempel noch einige Kritik z.B. am ,Rassegedanken'. Aber durch eine Zusammenarbeit von Kirche und national301

J. Hempel an Dekan W. Eltester am 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 55. Vgl. unten 162ff. 303 HEMPEL, in: KLOTZ (Hg.), Die Kirche I, 49. 302

304

HEMPEL, aaO. 5 1 .

2. Professur in Göttingen

(1928-1937)

135

sozialistischer Bewegung sei der Kirche „noch einmal die Möglichkeit geschenkt (...), in entscheidender Weise für das Wohl ihres Volkes zu wirken, und zwar durch nichts anderes als dadurch, daß sie ihre eigenste Pflicht erfüllt, tapfere Zeugin des Evangeliums zu sein."305 Im Herbst 1933 schienen sich alle Hoffnungen zu erfüllen, denn Hempel sah mit der nationalsozialistischen Machtübernahme eine „religiöse Massenbekehrung" ausgelöst306, welche die Menschen der Kirche zuführe. Wiederum sprach er sich dafür aus, diese Chance, Millionen junger Deutscher zum Evangelium zurückzuführen, zu nutzen 307 . Die Kirche habe deshalb aktiv in den Aufbau des neuen deutschen Staates mit einzugreifen, um in ihm eine Bruderschaft mit Christus aufzurichten. Hatte Hempel also zunächst in der Zielrichtung des CSVD, „eine(r) Gesinnungsgemeinschaft, die evangelische Frauen und Männer vereinigt, um die Kräfte des Evangeliums im öffentlichen Leben wirksam zu machen" 308 , einen Weg gesehen, um das deutsche Volk auf eine christliche Grundlage zu stellen, so hoffte er 1933, dieses Ziel durch die kirchliche Zusammenarbeit mit der nationalsozialistischen Partei zu erreichen. Immer wieder betonte Hempel seine Überzeugung, daß deutsches Volkstum und Christentum eng zusammengehörten: „Deutschtum und Christentum gehören als geschichtlich gewordene Größen so eng zusammen, daß man sie nicht auseinanderreißen kann, ohne sie beide tödlich zu treffen. (...) Das ist das Kennzeichen deutscher Kultur und deutschen geistigen Lebens, daß sie ganz durchtränkt ist vom christlichen Glauben und ohne den christlichen Glauben nicht reden, nicht leben, nicht schaffen kann." 309

Die Zeit der Weimarer Republik empfand er deshalb als Zeit der „Not (...), unter der unser deutsches Volk zu verbluten droht, dieses Ferngehaltensein von Gott der organisierten Millionen deutscher arbeitender Menschen" 310 .

305 306

HEMPEL, ebd. (im Original gesperrt gedruckt).

So Hempel im Interview mit dem Svenska Dagbladet vom 18.9.1933, 9. Zu dem Interview s. oben 122. 307 So Hempel nach dem Bericht des deutschen Botschafters Schubetz vom 6.10.1933, S.3, in: EZA, 5/805. ^ A . Depuhl, Volksdienst ist not, in: Niederdeutscher Volksdienst vom 20.5.1933, in: LKA Hann., N 124 (Nachlaß A. Depuhl), Bl. 152. 309 HEMPEL, Meine Zeit, 6. Zu der in dieser Predigt, die Hempel am 2.7.1933 im akademischen Gottesdienst in Göttingen hielt, angeschnittenen Thematik des „Heliands" vgl. SCHROVEN, Theologie, 134f. 310 HEMPEL, aaO. 5. Eine Beschreibung der Not in der Zeit der Weimarer Republik findet sich auch in: DERS., Weihnachtspredigt, 109. In einer Predigt von 1930 zeichnet Hempel die Zeit der Weimarer Republik als Zeit, in der die alten Bindungen an Gemeinschaften und Glaubenssätze verlorengehen. Im neu erwachenden Nationalbewußtsein sieht er jedoch „Ausdrucksformen eines und desselben letzten inneren Vorganges, des neuerwachten Ahnens

136

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Ganz anders zeichnete Hempel dagegen in seiner Predigt vom 2. Juli 1933 die neue politische Lage in Deutschland. Dieser Tag war von der preußischen Kirchenregierung als Dank- und Fürbittgottesdienst ausgerufen worden, an dem „sämtliche Kirchen, Pfarr- und Gemeindehäuser (...) außer mit der Kirchenfahne mit der schwarzweißroten und der Hakenkreuzfahne zu beflaggen sind" 311 . Hempel nutzte dieses Datum, um seine Hoffnung auf einen Neuanfang, der durch die politischen Ereignisse ermöglicht worden sei, darzulegen: „Und seht, das wird nun ,unsere Zeit', die Möglichkeit, aus Gottes Hand über diese Kluft hinweg zu kommen! (...) Unsere Zeit ist in unseres Gottes Hand, die Möglichkeit, neu anzufangen, die Möglichkeit, ein neues Buch deutscher Geistesgeschichte, inneren religiösen Lebens unseres Volkes anzuheben" 312 . Gott selbst habe „dem Evangelium mitten in der nationalen, der nationalsozialistischen Bewegung eine Freistatt bereitet, daß Evangelium und deutsches Volksbewußtsein, Evangelium und nationaler Wille sich innerlich in erschütternden Zeugnissen hüben und drüben gefunden haben, daß eine Offenheit da ist für das Evangelium und eine Frage nach dem Evangelium." 313 Hempel sah in den politischen Ereignissen des Jahres 1933 Gottes Führung und hoffte, daß im nationalsozialistischen Staat das deutsche Volk wieder zu einem christlichen Volk werde. Ganz in diesem Sinne schloß er im August 1933 eine religionshistorische Untersuchung zur Geschichte des Hakenkreuzes mit folgenden Worten ab: „Möchte es dem Hakenkreuzbanner als staatlichem Symbol des Dritten Reiches beschieden sein, in fortschreitender Vertiefung seines Symbolgehalts zum Wahrzeichen eines nach außen freien, nach innen lebendigen, aus dem Glauben an das Evangelium seine Kraft schöpfenden neuen deutschen Volkes zu werden." 314 Seine Hoffnung lag auf einem deutschen Volk, das sich als Volksgemeinschaft unter Gottes Willen stellt und das aus dem Evangelium lebt. Die Verwirklichung einer solchen Gemeinschaft erhoffte er sich zunächst vom CSVD und später von den Deutschen Christen. Es bleibt aber die Frage, warum Hempel mit der Zeit auch die Kritik, die er 1932 gegenüber dem Nationalsozialismus noch deutlich formulieren konnte, nicht mehr ernstnahm. Statt dessen sah er auch nach der Sportpalastkundgebung keine Veranlassung, den Deutschen Christen den Rücken zu kehren, und wandte sich im Laufe der Jahre sogar immer weiter dem radikalen Flügel der Deutschen Christen zu. Zudem stellte er im Lauf der Zeit Wissenschaft und politisches Engagement - wie sich in der folgenden Betrach-

der Verbundenheit aller derer, denen Gott dasselbe Blut und dieselbe Sprache, dieselbe Geschichte und dieselbe Not gegeben hat" (HEMPEL, Die Erkenntnis, 9f.). 311 Anordnung der kommissarischen preußischen Kirchenregierung, abgedruckt bei GAUGER, Chronik 1,91. 312 HEMPEL, Meine Zeit, 5. 313 314

HEMPEL, aaO. 7. HEMPEL, Zur Geschichte, 479.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

137

tung seiner Berlin-Zeit zeigen wird - zunehmend in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie.

3. Professur in Berlin (1937-1940) Von 1937 bis 1940 lehrte Johannes Hempel in Berlin Altes Testament und Religionsgeschichte. Die Einberufung zum Militärseelsorger unterbrach 1940 seine dortige Lehrtätigkeit. Nach 1945 wurde ihm die Rückkehr an die Berliner Universität aufgrund seiner politischen Tätigkeiten während des Dritten Reichs untersagt. a) Professor für Altes Testament und Religionsgeschichte a) Berufung 1938 schrieb der Berliner Kirchengeschichtler Hans Lietzmann an Helmuth Kittel, Professor für Religionspädagogik in Münster. Dieser hatte ihn um eine Einschätzung der Situation an der Berliner Theologischen Fakultät gebeten: „Was Sie über die einstige Stellung der Berliner theologischen Fakultät schreiben, ist vollkommen richtig, und ich habe es bitter genug beklagt, daß diese Stellung der Vergangenheit angehört". Deshalb habe er bei Gesprächen mit dem Ministerium gefordert, „bei den künftigen Berufungen den Gesichtspunkt in den Vordergrund zu stellen, daß unsere Fakultät ihr wissenschaftliches Ansehen vor dem Inland und nicht minder vor dem Ausland wieder gewinnen muß, und daß man deshalb ohne politische Kleinlichkeit die besten Köpfe nach Berlin ziehen solle. Das fand durchaus Beifall. Unter diesem Gesichtspunkt ist es uns gelungen, Hempel zu bekommen." 3 1 5

Hempel wurde zum 1.10.1937 durch den Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung als Professor für Altes Testament und Religionsgeschichte und als Direktor des Alttestamentlichen Seminars an die Theologische Fakultät nach Berlin berufen 316 . Bereits Ende 1935 hatte es in Berlin einen einstimmigen Beschluß der Fakultät gegeben, Hempel für die Nachfolge Bertholets an die Theologische Fakultät zu holen 317 . Bertholet mußte damals aus Krankheitsgründen seine Professur aufgeben und wurde 1936 vorzeitig emeritiert. Im März 1936 schlug man deshalb dem Reichsminister Johannes Hempel und Albrecht Alt für die Neubesetzung der alttestamentlichen Professur vor. Denn, so machte der damalige Dekan der Theologischen Fakultät Stolzenburg dem Ministerium deutlich: „Berlin braucht frische, junge Kräfte, die durch frühzeitige Berufung auf längere Sicht arbeiten können. Hempel und Alt bieten nach Ansicht der 315

H. Lietzmann an H. Kittel vom 15.2.1938, in: ALAND (Hg.), Glanz, Brief Nr. 1041.

316

Berufungsurkunde zum 1.10.1937, in: U A der HUB, H 216, Bl. 1. Vertreter des Dekans an Rektor vom 21.9.1938, in: U A der HUB, ThFak 46, Bl. 219.

317

138

TV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Kommission deutlicher, als das sonst in der Regel der Fall ist, die einzig mögliche Lösung nach der Richtung." 318 Auf die Anfrage der Berufungskommission folgte eine längere Auseinandersetzung mit dem Reichsminister. Dieser beharrte zunächst darauf, Hempel nicht aus Göttingen wegzuberufen. Denn dort sei dessen Engagement in den Schwierigkeiten des Kirchenstreites vonnöten319. Als im Juli 1936 schließlich der Ruf nach Berlin erfolgte, bemühte sich vor allem Emanuel Hirsch als Dekan der Theologischen Fakultät, Hempel in Göttingen zu halten. In Briefen an Kollegen 320 , an das Landeskirchenamt 321 und an das Wissenschaftsministerium 322 bat er um eine Stellungnahme, die sich für den Verbleib Hempels in Göttingen aussprechen sollte. Das Landeskirchenamt lehnte jedoch ab: „Soweit ich die z.Zt. in Hannover anwesenden Herren der Behörde habe sprechen können, besteht großes Verständnis für das Bedauern der Fakultät, Herrn Professor D. Hempel von Göttingen voraussichtlich scheiden zu sehen. Es war aber einmütige Überzeugung, hinsichtlich der Berufung nach Berlin von einer ausdrücklichen Stellungnahme des Landeskirchenamtes absehen zu wollen. Angesichts der z.Zt. vorliegenden Verhältnisse und im Blick auf die von Euer Hochwürden erwähnten Schwierigkeiten bei den Berufungen 323 der letzten Jahre schien uns eine Zurückhaltung geboten zu sein." 324

Die Berliner Fakultät stellte schließlich ihren Antrag zurück, um den Schwierigkeiten, die in Göttingen auf Grund des Kirchenstreites herrschten, gerecht zu werden. Auch Hempel verzichtete vorerst auf Annahme des Rufs, „aus Gründen nationalsozialistischer Disziplin", wie es der Berliner Dekan im nachhinein auslegte325. Daß Hempel sich für die durch den Kirchenstreit geschüttelte Göttinger Theologische Fakultät verantwortlich fühlte, und die Sorge um ihr Wohl seine Entscheidung mit beeinflußt haben kann, zeigt sein Verzicht auf das ihm zustehende Urlaubssemester: „Zugleich teile ich mit, daß ich mich mit Rücksicht auf die an anderen Fakultäten außerordentlich gespannte Lage der Boykottbewegung entschlossen habe, von dem mir für das 318

Dekan an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 30.3.1936, in: UA der HUB, ThFak 46, Bl. 161. 319 Vgl. Dekan Stolzenburg an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.1.1937, in: UA der HUB, 176/1 (ThFak 1929-1934), Bl. 220. 320 E. Hirschan Kollegen vom 17.7.1936, in: UAG, ThFak 12 (Hempel). 321 E. Hirsch an Präsidenten des LKA Hannover vom 18.7.1936, in: UAG, ThFak 12 (Hempel). 322 E. Hirsch an den Referenten für die Theologischen Fakultäten E. Mattiat vom 30.7.1936, in: UAG, ThFak 12 (Hempel). 323 Zu Hempels Rolle bei der Berufung W. Birnbaums nach Göttingen s. oben 114. 324 Präsident des LKA Hannover an E. Hirsch vom 24.7.1936, in: UAG, ThFak 12 (Hempel). 325 Dekan Stolzenburg an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.1.1937, in: UA der HUB, ThFak 176/1, Bl. 220.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

139

kommende Wintersemester (...) bewilligten Urlaub keinen Gebrauch zu machen." 326 Im Januar 1937 bemühte sich Berlin jedoch erneut um Hempel. Neben dessen wissenschaftlichen Verdiensten stand wiederum die Sorge um das Ansehen der Berliner Fakultät im Vordergrund. Dekan Stolzenburg machte geltend, daß der Kirchenstreit in Göttingen sich auch durch die Anwesenheit Hempels nicht gelegt habe. Deshalb sei nun das Interesse Berlins am Prestige der eigenen Universität zu beachten. Es solle wieder an die große Tradition der Berliner Fakultät angeknüpft und diese zugunsten einer großen „kulturpolitische^) Wirkung der Fakultät im Sinne und Interesse des Dritten Reiches" 327 genutzt werden. In diesem Zusammenhang sei die Berufung Hempels nach Berlin unerläßlich, denn: „Eine solche überragende Bedeutung hat aber im Augenblick nur D. Hempel, der allein auch den Rückstand, in dem sich die religionsgeschichtliche Forschung in Deutschland augenblicklich Frankreich, England und Amerika gegenüber befindet, aufholen könnte". Deshalb, so Stolzenburg weiter, bäte die Fakultät darum, „diese Gelegenheit, der Fakultät die Möglichkeit zu weittragender kulturpolitischer Propaganda im Sinne des Dritten Reiches zu geben, nicht vorüber gehen zu lassen. (...) Die großen Aufgaben im Sinne des Dritten Reiches, die wir uns gestellt haben, kann nur D. Hempel erfüllen." 328

So schied Hempel zum 30.9.1937 aus der Göttinger Fakultät und aus den von ihm geführten Ehrenämtern aus 329 , um zum 1.10.1937 die Professur für Altes Testament und Religionsgeschichte in Berlin zu übernehmen. ß) Professur in Berlin und wissenschaftliche

Tätigkeiten

Wie schon in Göttingen besaß die Verbindung von Altem Testament und Religionsgeschichte auch an der Berliner Theologischen Fakultät Tradition. Ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte war hier, erstmalig an einer deutschen Universität, bereits 1910 eingerichtet worden. 1914 wurde dieser der Philosophischen Fakultät übertragen, aber auch dort hauptsächlich durch Theologen vertreten. So hatten bereits Hugo Greßmann und Alfred Bertholet als Alttestamentler hier gelesen 330 . Die Situation am Alttestamentlichen Seminar der Theologischen Fakultät hatte sich gegen Ende der 30er Jahre sehr verändert. Ernst Sellin war 1935 326

J. Hempel an E. Hirsch vom 25.10.1936, in: UAG, ThFak 12 (Hempel). Dekan Stolzenburg an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.1.1937, in: UA der HUB, ThFak 176/1, Bl. 221. 328 Dekan Stolzenburg an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25.1.1937, in: UA der HUB, ThFak 176/1, Bl. 221-223. 329 E. Hirsch an Fakultätsausschuß vom 9.10.1937, in: UAG, ThFak 12 (Hempel). 330 vgl hierzu TRÖGER, Zur Geschichte. Auch Hempel übernahm mit seinem Ruf nach Berlin die Vertretung des Religionsgeschichtlichen Lehrstuhls und kündigte noch 1940 ein Kolleg zum Thema Die Weltreligionen und die Weltgeschichte an. 327

140

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

vorzeitig emeritiert, eine weitere Vorlesungstätigkeit ihm unterbunden worden331. Alfred Bertholet mußte seinen Lehrstuhl 1936 aus Krankheitsgründen aufgeben und hielt bis 1939 lediglich noch einzelne Veranstaltungen332. Hempel kam damit als einziger Ordinarius für Altes Testament an die Fakultät. Aufgrund der Minimalbesetzung konnte er zunächst das Fach der Religionsgeschichte nicht selbst vertreten, sondern überließ dies dem emeritierten Bertholet333. Die alttestamentlichen Veranstaltungen Hempels, die er in seinen wenigen Berliner Semestern abhielt, weisen wiederum eine große Vielfalt an Themen auf. Neben Hebräisch-Kursen und Einleitungsfragen umfassen sie, wie schon in Göttingen, auch systematisch-theologische Fragestellungen wie das ,Theodizeeproblem' (SoSe 1939) und biblisch-theologische Probleme wie das ,Gebet im Alten Testament' (SoSe 1938) oder den .Sozialen Gedanken der Propheten' (1. Trim. 1940)334. Der Unterricht selbst konnte jedoch nur noch unter sich ständig erschwerenden Bedingungen stattfinden. Die finanziellen Mittel für die Ausstattung des Alttestamentlichen Seminars wurden gekürzt, und die ursprünglich der religionsgeschichtlichen Bibliothek zugedachten Mittel der an der Fakultät 1937 neu errichteten Abteilung für Religiöse Volkskunde zugeteilt 335 . Im Winter 1938 wurden auf Anweisung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und des Universitätskurators die Räume des Religionsgeschichtlichen und die des Missionswissenschaftlichen Seminars zugunsten der Rechtsphilosophischen Abteilung des Juristischen Seminars geräumt. Hempels Beschwerde gegen das eigenmächtige Vorgehen des Universitätskurators 336 hatte keinen Erfolg. Die bisher vom Institutum Judaicum genutzten Räume mußten der Religionsgeschichte und der Missionswissenschaft zur Verfügung gestellt werden. Die Bücher des Institutum Judaicum wurden in die Übungsräume des Alttestamentlichen Seminars ausgelagert 337 . Da Hempel ab dem Wintersemester 1939/40 das Alte Testament alleine vertrat 338 , fielen in seinen Aufgabenbereich - neben den Seminaren und Vorle-

331

Vgl. ROST, Alfred Bertholet, 114 (im Vorlesungsverzeichnis sind allerdings noch bis

S o S e 1939 Veranstaltungen Sellins angegeben). 332

Vgl. ROST, ebd. und Ph. MEYER, Art. Bertholet.

333

J. Hempel an Dekan vom 14.1.1939, in: U A der HUB, H 216, Bl. 17.

334

Vgl. Vorlesungsverzeichnisse der Universität Berlin ab dem Wintersemester 1937/38.

335

D e k a n an Reichsminister für W i s s e n s c h a f t , Erziehung und Volksbildung vom

22.10.1937, in: U A der HUB, ThFak 176/1, Bl. 12. 336

J. Hempel an Rektor vom 9.12.1938, in: U A der HUB, H 216, Bl. 138f. und Bl. 137.

337

Kurator an Rektor vom 19.12.1938, in: U A der HUB, H 216, Bl. 140.

338

Nachdem Rost nach Greifswald übergesiedelt war, ThFak 46, Bl. 233 und KRAFFT,

D i e Theologische Fakultät, 588.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

141

sungen - auch Proseminare und der Hebräischunterricht 339 . Die zur Entlastung erbetene Vertretung wurde nicht genehmigt, da die Kosten im Vergleich zu den kleinen Studierendenzahlen viel zu hoch seien340. So wurde Lehre und Forschung im Fach Altes Testament an der Berliner Theologischen Fakultät zwar weiterhin aufrechterhalten. Durch die staatlichen Eingriffe gestaltete sich der Lehrbetrieb jedoch schwierig. Dennoch hatte Hempel weiterhin die Möglichkeit, seine internationalen wissenschaftlichen Kontakte zu pflegen. So nahm er im September 1938 an dem internationalen Orientalisten-Kongreß in Brüssel teil. Sein Vortrag widmete sich dem Thema Die Grenzen des Anthropomorphismus Jahwes im Alten Testament3*1. Im Vergleich zwischen dem orientalischen' und dem .griechischen Denken', mit dem er sich auch in den folgenden Jahren immer wieder beschäftigte, stellte er die „anthropomorphen Jahwevorstellungen" den „theomorphen Göttervorstellungen" im griechischen Denken gegenüber. Die Teilnahme an dem Kongreß war zuvor vom Reichsminister unter der Bedingung genehmigt worden, daß die deutschen Teilnehmer sich den Anordnungen des Auswärtigen Amtes unterstellten. Denn nur so sei ein „geschlossenes und wirkungsvolles Auftreten der deutschen Abordnung während des Kongresses gewährleistet" 342 . Im selben Monat reiste Hempel nach Oxford, um auf der Tagung zum 20jährigen Bestehen der ,Society for Old Testament Study' zu sprechen. Nachdem er dort bereits 1927 zu einem Vortrag eingeladen gewesen war, hatte man ihn als Fachmann und als „authority of international repute" 343 gebeten, zum Jubiläumsband der Gesellschaft Record and Revelation zwei Kapitel beizutragen 344 . Die schon im Januar 1938 beantragte Genehmigung für die Teilnahme an dem Meeting in Oxford war zunächst vom Wissenschaftsministerium mit der Rückfrage um Erklärung zurückgewiesen worden. Das Schreiben des Reichsministers an den Rektor der Berliner Universität verdeutlicht noch einmal, wie weit sich auch die theologische Wissenschaft dem Interesse des nationalsozialistischen Staates unterzuordnen hatte:

339

Bis 1938 noch durch den Assistenten Threde gehalten, U A der HUB, ThFak 176/1, Bl. 3 9 1 - 3 9 3 und U K N r . 803 (ThFak u. Seminare), Bl. 11.32f.84.86. 340 Schriftwechsel zwischen Dekan und Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15.9. und 18.10.1939, in: U A der HUB ThFak 176/1, Bl. 344f. 341 Abgedruckt in: ZAW 57 (1939) 75-85. 342

Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Abschrift an J. Hempel vom 23.7.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 151. 343

H. W. ROBINSON im Vorwort zu DERS. (Hg.), Record, VII.

344

HEMPEL, T h e Literature, 2 8 - 7 3 .

142

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

„Ich halte es für unerwünscht, daß von deutschen Hochschullehrern im Auslande religiöse Vorträge gehalten werden, die die weltanschaulichen Auseinandersetzungen in Deutschland betreffen oder berühren. Ich ersuche deshalb noch um Angabe des Vortragsthemas."345

Hempel verteidigte sich, daß für ihn „ein Thema, das ,die religiösen Auseinandersetzungen in Deutschland betreffen oder berühren' würde, keinesfalls in Frage kommen könnte" 346 . Seine Teilnahme an dem Kongreß und eine sich daran anschließende Vorlesung vor Studierenden in Birmingham wurde schließlich genehmigt. Jedoch hatte er die Auflage, sich sofort nach seinem Eintreffen in England mit der deutschen Auslandsvertretung und der örtlichen Auslandsorganisation der NSDAP in Verbindung zu setzen. Nach Abschluß seiner Reise war ein Reisebericht in zweifacher Ausfertigung abzuliefern347. Letztendlich fuhr Hempel zwar nach England, konnte aber aus persönlichen Gründen nicht an dem Oxforder Kongress teilnehmen. Sein Vortrag zum Thema Prophet and Poet348, in dem er wiederum das griechische Denken dem israelitischen gegenüberstellte und das Selbstbewußtsein der Propheten mit dem der griechischen Dichter verglich, wurde in seiner Abwesenheit vom Sekretär der Gesellschaft verlesen. Im nachhinein wertete der Dekan beide Auslandsreisen bzw. die damit verbundenen Vorträge als Zeichen der Lebendigkeit der Fakultät „in Bezug auf kulturpolitische Auslandspropaganda". Denn diese könne „bei der Stellung des Auslandes zur Frage Christentum gerade von der Theologie aus sehr wirksam betrieben werden" 349 . Von seiten der Universität war man sich sehr wohl bewußt, daß mit Hempel ein Mann an die Fakultät gekommen war, welcher der dort nach außen vertretenen offiziellen Linie, daß „Nationalsozialismus und Christentum, resp. seine theoretische Verarbeitung in der Theologie keine Gegensätze darstellen"350, mehr als gerecht werden konnte. b) Direktor des Institutum Judaicum Mit seiner Berufung nach Berlin wurde Hempel auch Direktor des Institutum Judaicum, das der Theologischen Fakultät zugeordnet war.

345 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an 8.2.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 154. 346 J. Hempel an Dekan vom 24.2.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 155. 347 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an 29.4.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 156. 348 HEMPEL, Prophet and Poet, deutsch in: DERS., Apoxysmata, 287-307. 349 Dekan im Beitrag für die Chronik am 18.7.1939, in: UA der HUB, ThFak 350 Dekan im Beitrag für die Chronik am 18.7.1939, in: UA der HUB, ThFak

Rektor vom

Rektor vom

46, Bl. 246. 46, Bl. 245.

3. Professur in Berlin (1937-1940) a) Zur Geschichte

des Institutum

143

Judaicum

D a s v o n Hermann L. Strack 1883 zur Ausbildung v o n Judenmissionaren g e gründete Institut 3 5 1 stand v o n j e h e r in enger B e z i e h u n g zur T h e o l o g i s c h e n Fakultät. N a c h d e m T o d e Stracks i m Jahre 1 9 2 2 übernahmen j e w e i l s die Inhaber der e x e g e t i s c h e n Lehrstühle die Leitung des Instituts. Vor a l l e m H u g o Greßmann setzte b e s o n d e r e Akzente 3 5 2 : Gegenüber der ursprünglichen A u s richtung auf die A u s b i l d u n g v o n Geistlichen zur M i s s i o n i e r u n g unter Jüdinnen u n d Juden stand nun eine w i s s e n s c h a f t l i c h e B e s c h ä f t i g u n g mit d e m Judentum - u m des Verständnisses der eigenen christlichen R e l i g i o n willen - i m Vordergrund 3 5 3 . In d i e s e m Z u s a m m e n h a n g ließ Greßmann vor a l l e m j ü d i s c h e W i s s e n s c h a f t l e r s e l b s t zu Wort k o m m e n u n d lud D o z e n t e n der Berliner . H o c h s c h u l e für die W i s s e n s c h a f t des J u d e n t u m s ' 3 5 4 zu G a s t v o r l e s u n g e n ein 3 5 5 . D a m i t sprachen z u m ersten M a l „an der Berliner Universität Juden

351 Zur Geschichte des Institutum Judaicum vgl. GOLLING, Das Institutum Judaicum; DERS., Das ehemalige Institutum Judaicum und DERS./VON DER OSTEN-SACKEN, Hermann L. Strack. 352 Greßmann erhielt am 1.12.1923 die Leitung des Seminars für nachbiblisches Judentum übertragen. Vgl. hierzu: UA der HUB, 795/2 (Akten betr. Seminar für nachbibl. Judentum), Bl. 1. Die Bezeichnung .Seminar für nachbiblisches Judentum' wurde seit 1919 parallel zu .Institutum Judaicum' geführt. 353 Vgl. hierzu GRESSMANN, Einführung zu: ders. (Hg.), Entwicklungsstufen, lf. 354 Zur Geschichte der 1872 in Berlin gegründeten ,Hochschule für die Wissenschaft des Judentums', der die staatliche Anerkennung des universitären Status von 1873-1922 versagt blieb und die in dieser Zeit zur „Lehranstalt" degradiert wurde, vgl. STRAUSS, Die letzten Jahre. Die Gastvorlesungen im Institutum Judaicum hielten der Historiker Ismar Elbogen (1874-1943) über ,Esra und das nachexilische Judentum'; Rabbiner Juda Bergmann (1874-1956) über ,Das Judentum in der hellenistisch-römischen Zeit'. Der ungarische Rabbiner und Professor für Talmud Michael Guttmann (1872-1942) sprach .Zur Entstehung des Talmuds'; der Philosophiehistoriker und Professor für Jüdische Philosophie Julius Guttmann (1880-1950) über .Die religiösen Motive in der Philosophie des Maimonides' und Rabbiner Leo Baeck (1873-1956) über .Ursprung und Anfänge der jüdischen Mystik'. 355 Die Vorlesungen wurden von Greßmann unter dem Titel Entwicklungsstufen der jüdischen Religion herausgegeben. Mit der Einladung zollte Greßmann jüdischen Wissenschaftlern deutlich Anerkennung. Die Regierungen der deutschen Länder verweigerten lange Zeit die Einrichtung eines Lehrstuhles für eine Disziplin .Wissenschaft des Judentums' an deutschen Universitäten, wie sie jüdische Wissenschaftler seit 1843 (Leopold Zunz) immer wieder gefordert hatten. Erst 1923 erhielt Martin Buber an der Frankfurter Universität einen Lehrstuhl für .Jüdische Religionsphilosophie'. S. hierzu M. MEYER, Jüdische Wissenschaft. In der Zeit der Weimarer Republik kam es zeitweise zu einem fruchtbaren Gespräch zwischen jüdischen und protestantischen Wissenschaftlern. Beispiel hierfür ist die Beteiligung von jüdischen Wissenschaftlern an der zweiten Auflage der RGG. S. hierzu SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Das Verhältnis. Zum Begriff der .Wissenschaft des Judentums' s. CARLEBACH, Art. Wissenschaft; kritisch zum Begriff: SCHOLEM, Wissenschaft.

144

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

über ihre Religion und Geisteswelt vor Nichtjuden" 356 . Greßmann bekannte sich zu seinem lutherischen Christentum und war dennoch davon überzeugt, daß auch in anderen Religionen Gottes Wort zu hören sei. Er zeigte „Verständnis dafür, daß auch der Jude seine Religion als absolute ansieht" 357 . In einer Zeit, „wo eine starke Welle des Antisemitismus über unser Volk dahingeht" 358 , suchte er bewußt den Kontakt zu jüdischen Kollegen. Von ihrer Darstellung des Judentums, die durch die Liebe zur eigenen Religion getragen werde, erhoffte er sich eine Korrektur des verzerrten Bildes, das vom Judentum in der christlichen Bevölkerung existierte. Die Arbeit des Institutes widmete sich der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Judentum der römisch-hellenistischen Epoche. Nur für Leonhard Rost, der als Privatdozent vom Wintersemester 1929/30 bis zum Sommersemester 1938 regelmäßig Veranstaltungen am Institutum Judaicum durchführte 359 , sind auch Übungen zum rabbinischen Judentum, wie z.B. zur Mischna, belegt. ß) Das Institutum Judaicum in der Zeit des

Nationalsozialismus

1937 übernahm Hempel die Leitung des Instituts von Alfred Bertholet, hielt dort selbst aber keine Veranstaltungen360. Als Direktor ließ er zunächst „sämtliche mit der Bibelwissenschaft nicht in Zusammenhang stehende Literatur des sogenannten Institutum Judaicum aus den den Studenten zugänglichen Räumen (...) entfernen und unter Verschluss nehmen" 361 . Ausdrücklich hatte er damit „einen Teil der Bücher, der seiner Tendenz nach vom nationalsozialistischen Denken her zu Bedenken Anlaß geben könnte, unter Verschluß genommen" 362 .

356

RADE, Hugo Greßmann f , 459. Greßmann verstarb am 7.4.1927 auf einer Vortragsreise durch die USA, zu der er vom Jewish Institute of Religion in New York eingeladen worden war. Vgl. hierzu die Würdigung Greßmanns durch seine jüdischen Kollegen: OBERMANN, Preface zu: Greßmann, The Tower und die verschiedenen Beiträge in der Greßmann-Gedächtnis-Ausgabe des Jewish Institute Quarterly 3 (1927). 357

So TlTIUS in seinem Nachruf auf Greßmann, IV. Vgl. auch: GRESSMANN, Einführung zu: ders. (Hg.), Entwicklungsstufen, 11. 358 GRESSMANN, aaO. 2. 359

Vgl. Vorlesungsverzeichnis der Universität Berlin für das SoSe 1938. Anders GOLLING in seinem Artikel (Das Institutum Judaicum, 537), nach dem Rost nur bis zum SoSe 1936 Veranstaltungen am Institutum Judaicum gehalten haben soll. In den Akten des U A der HUB findet sich eine Notiz zum Weggang von Rost aus Berlin jedoch erst im Februar 1939 (vgl. hierzu Dekan an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22.2.1939, in: UA der HUB, ThFak 46, BI. 233). 360

J. Hempel an Kurator vom 16.11.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 14.

361

J. Hempel an Kurator vom 4.11.1937, in: UA der HUB, 795/1, Bl. 44. J. Hempel an Kurator vom 16.11.1938, in: U A der HUB, H 216, Bl. 14.

362

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

145

Auf Anfrage des Universitätskurators363 entwarf Hempel im Jahr darauf ein neues Konzept für die Nutzung des Institutum Judaicum, das der politischen Lage im Deutschen Reich angemessen sein sollte. Schließlich habe sich die von „Prof. Strack beabsichtigte Zielsetzung judenmissionarischen Charakters mit dem grundlegenden Wandel der rassisch-politischen Anschauung erledigt"364. Die besondere Aufgabe des Instituts könne nun darin bestehen, „die religiöse Komponente des Judentums mit den Methoden protestantischer Religionsforschung zu untersuchen, den Wesensunterschied christlicher und Jüdischer Religion herauszustellen und ihn den Theologiestudenten einzuprägen." Denn, so Hempel weiter: „Die vielfach unter den älteren Theologen noch zu beobachtende Unsicherheit in der Anwendung rassischen Denkens auf religiösem Gebiete und in seiner Auswirkung im kirchlichen Handeln darf sich bei der jüngeren Generation nicht wiederholen." 365

Damit hätte das Institut über die wissenschaftliche Aufgabe hinaus zugleich eine politische im Sinne des Dienstes am Dritten Reich: Nur so könne vermieden werden, daß durch „die jüdische oder judenfreundliche" Wissenschaft im Ausland ein einseitiges Bild vom Werden des Judentums entworfen werde. Da er aus Zeitnot und aufgrund mangelnder Spezialisierung die Veranstaltungen nicht selbst übernehmen könne, schlug Hempel, allerdings ohne Erfolg, dem Kurator den Tübinger Neutestamentier Gerhard Kittel 366 als Vertreter vor. Denn dieser verfüge einerseits über umfassende Kenntnisse in Sprachen, Literatur und Archäologie und stehe zugleich auch fest in der nationalsozialistischen Bewegung 367 . Auf eine Anfrage des Leiters des Reichsinstitutes für das neue Deutschland, Walter Frank368, bezüglich einer Vernetzung der Forschungsergebnisse

363

Kurator an J. Hempel vom 11.11.1938. in: UA der HUB, 795/1, Bl. 46.

364

J. Hempel an Kurator vom 16.11.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 13.

365

J. Hempel an Kurator vom 16.11.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 13.

366

Zu G. Kittel und seiner Arbeit im Sinne des Nationalsozialismus s. SEGELE-

WENSCHKEWITZ, N e u t e s t a m e n t l i c h e W i s s e n s c h a f t ; DIES., M i t v e r a n t w o r t u n g , 1 7 5 - 1 8 2 ; DIES.,

Protestantische Universitätstheologie; ROHM/THIERFELDER, Juden 2/1, 311-322. 367 J. Hempel an Kurator vom 16.11.1938, in: UA der HUB, H 216, Bl. 15. Mit vergleichbaren Argumenten versuchte 1939 Dekan Stolzenburg noch einmal, Kittel als Professor für Neues Testament nach Berlin zu holen: „Für Herrn Kittel spricht vor allem, daß er sich seit längerer Zeit schon im Sinne des Nationalsozialismus mit der Judenfrage beschäftigt hat". Der Wissenschaftsminister lehnte einen Ruf Kittels nach Berlin allerdings ab. Vgl. Stolzenburg an Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 15.9.1939, in: U A der HUB, ThFak 176/1, Bl. 345 u. Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an Rektor vom 21.3.1929, in: UA der HUB, ThFak 46, Bl. 239. 368 Anfrage Franks an die Rektoren aller deutschen Hochschulen vom 10.1.1938, in: U A der H U B , ThFak 46, Bl. 227: „Im Interesse einer Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen dem Reichsinstitut und den deutschen Hochschulen, gerade auch auf dem Gebiet der Judenfrage, scheint es mir nunmehr gelegen, einen Überblick über sämtliche an deutschen Hoch-

146

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

zur , Judenfrage' führte Hempel seine Überlegungen zur Umgestaltung des Institutum Judaicum erneut aus. Er unterstrich, daß sich die Bibliothek des Institutum Judaicum „ausgezeichnet dazu eignen würde, eine bewußte nationalsozialistische Forschung zur antiken Judenfrage darauf aufzubauen" 369 . Wiederum nannte er dabei den Namen Kittels, durch den zusätzlich zu seinen Qualifikationen auch „eine organische Verbindung (...) mit dem Reichsinstitut hergestellt sei"370, da Kittel diesem als Mitglied angehöre371. Schließlich entwarf Hempel 1942, nachdem er bereits als Kriegspfarrer eingezogen worden war, im Rahmen eines projektierten „Instituts für vergleichende Glaubensgeschichte" eine Aufgabenbeschreibung für das Institutum Judaicum in der Zeit nach dem zu erwartenden Sieg Deutschlands. Nach seinen Vorstellungen solle die Erforschung des Spätjudentums „der Herausarbeitung des grundsätzlichen Unterschiedes zwischen ihm und dem Christentum (...) dienen". So könne z.B. an der Übernahme der Septuaginta im Christentum und deren Zurückweisung im Judentum das griechische Erbe des Christentums exakt dargestellt werden: „Der Weg des Christentums führt in das Abendland, der Weg in das Judentum in den Orient zurück" 372 . Eine Erklärung für diesen Tatbestand bilde angesichts der aktuellen Situation mehr als ein theoretisches Problem. Die methodische Schulung und die Sachkunde der Theologie sei in diesem Zusammenhang unentbehrlich. Deshalb liege hier, so Hempel, die Aufgabe eines Institutum Judaicum im siegreichen Deutschland. c) Ein .Institutfür vergleichende Glaubensgeschichte': Theologie im Dienst des Nationalsozialismus Die dargestellte Aufgabenbeschreibung für das Institutum Judaicum entstand 1942 im Rahmen von Überlegungen für die Arbeit des alttestamentlichen Fachbereichs nach dem Ende des Krieges. Denn auch nach seiner Einberufung als Militärseelsorger im Januar 1940373 blieb Hempel seinen eigentlichen Verpflichtungen an der Berliner Universität in Gedanken verbunden. So begann er, im Glauben an einen Sieg Deutschlands, „Vorbereitungen zur Fruchtbarmachung der beiden gegenwärtig nicht arbeitenden Seminare (sc. das missionswissenschaftliche Seminar und das Institutum Judaicum) unserer Fakultät für die Zeit nach dem siegreichen Ende des Krieges zu treffen" 374 . schulen fertiggestellte oder im Werden begriffene Forschungsarbeiten zur Judenfrage zu gewinnen". Zu W. Frank und seinem Reichsinstitut s. HEIBER, Walter Frank. 369 J. Hempel an Dekan vom 23.1.1939, in: UA der HUB, ThFak 46, Bl. 230. 370 J. Hempel an Dekan vom 23.1.1939, in: UA der HUB, ThFak 46, Bl. 230. 371 Vgl. hierzu ROHM/THIERFELDER, ebd. 372 J. Hempel an Dekan vom 16.2.1942, in: UA der HUB, H 216, Bl. 36. m S. unten 158ff. 374 J. Hempel an Dekan vom 16.2.1942, in: UA der HUB, H 216, Bl. 34.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

147

Dabei solle unter Zusammenlegung des alttestamentlichen mit dem missionswissenschaftlichen Seminar und dem Seminar zur Erforschung des nachbiblischen Judentums (sc. Institutum Judaicum) ein .Institut für vergleichende Glaubensgeschichte' gegründet werden. Ziel dieses Instituts sei die Erforschung des Werdegangs des Christentums, um zu erkunden, inwieweit sich das Christentum in das deutsche Wesen integriert habe: „Ist es ein Fremdkörper geblieben, der aus Gründen der rassischen Gesundheit des deutschen Geisteslebens aus der Seele unseres Volkes auszuscheiden ist, oder ist es mit ihr eine so schöpferische Synthese eingegangen, dass beide unscheidbar geworden sind? Theoretisch sind beide Möglichkeiten gegeben, und bei ihrer Erforschung wird die Sachkunde der Theologie nicht zu entbehren sein." 3 7 5

Nach den Entwürfen Hempels hätten die Einzelinstitute jeweils ihren eigenen Beitrag zu dem großen Ziel eines übergreifenden , Instituts für vergleichende Glaubensgeschichte' zu leisten: Das alttestamentliche Seminar habe zu erforschen, „was das Christentum aus dem Alten Testament entnommen hat" und inwieweit „das Christentum mit den religiösen Eigenschaften des Alten Testaments wurzelhaft verbunden und oder ob und wieweit es von ihnen überfremdet worden" sei. Dieser Frage, so Hempel, verdanke die alttestamentliche Forschung letztlich ihr Daseinsrecht innerhalb der Theologie 376 . Das Institutum Judaicum solle hingegen vor allem das griechische Erbe des Christentums herausarbeiten, während die Missionswissenschaft in praktischer Anschauung der Vorgänge in den „in naher Zukunft nach dem Siege" wiedererworbenen Kolonien den „Lebensprozeß des Christentums in Synthese und Abstoßung" zu untersuchen habe. Damit liefere die Missionswissenschaft einen „wertvollen Beitrag zur seelischen Rassenkunde", indem sie die „Bedeutung von Rasse und Kultur für die Aneignung des Glaubens" anhand von Mission in „verschieden gearteten Volkstumsgebieten" beobachten könne 377 . Hempel hoffte, so die weitere Existenzberechtigung einer wissenschaftlichen Arbeit am Alten Testament und der damit verbundenen Nebengebiete zu begründen und sie gleichzeitig für die nationalsozialistische Bewegung fruchtbar zu machen. Mit vergleichbaren Argumenten hatte Hempel bereits 1938 die Bedeutung des Hebräisch-Unterrichts für die Ausbildung von Theologen im nationalsozialistischen Sinne zu beweisen versucht: Durch die Kenntnis des Hebräischen erhalte der Theologiestudent Einblick in den - im Vergleich zu den anderen gelehrten Sprachen - grundverschiedenen Sprachbau des Hebräischen. So werde er „zugleich auf den Wesensunterschied seines eigenen arischen

375 376 377

J. Hempel an Dekan vom 16.2.1942, in: U A der HUB, H 216, Bl. 35. J. Hempel an Dekan vom 16.2.1942, in: U A der HUB, H 216, Bl. 35f. J. Hempel an Dekan vom 16.2.1942, in: U A der HUB, H 216, Bl. 35f.

148

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

und des semitischen Denkens aufmerksam" 378 . Damit sei der Student frei von jeder Irreführung durch eine Übersetzung, die u.a. die Unterschiede zwischen arischem und semitischem Denken verwische, indem sie den hebräischen Text ins Deutsche übertrage: „Es ist nicht nationalsozialistisch, ein semitisches Literaturdenkmal nur in arischer Uebermalung zu studieren wie es nicht reformatorisch ist, den geschichtlichen Charakter der Offenbarung, das volle Eingehen des Wortes in die Geschichte zu verwischen. So paradox es klingen mag: Indem das Erlernen des Hebräischen zur Erkenntnis der geschichtlichen Eigenart des A T verhilft, indem es die Sachlichkeit geschichtlicher Erkenntnis ermöglicht, ist es nationalsozialistischer als eine Beschäftigung allein mit einem eingedeutschten und verchristlichten AT." 3 7 9

Deshalb sei trotz der Mehrbelastung der Studierenden durch Arbeits- und Wehrdienst unbedingt an einem verpflichtenden Hebräisch-Unterricht festzuhalten380. Die apologetischen Tendenzen, mit denen Hempel seine Zukunftsvorstellungen und seine Verteidigung des Hebräischen entwickelte, sind nicht zu verkennen. Aber auch seine Annäherung an die nationalsozialistische Ideologie ist nicht zu leugnen. Dennoch war er nicht bereit, das Alte Testament völlig zu verwerfen. Sein Bestreben lag eher darin, die alttestamentliche Forschung als unentbehrlich für die nationalsozialistische Ideologie zu propagieren. In diesem Sinne unterstellte er seine wissenschaftliche Arbeit auch den Zielen des .Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben'. d) Mitarbeit im , Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben' Das von Hempel 1942 in Gedanken konzipierte , Institut für vergleichende Glaubensgeschichte' sollte nach seinen Vorstellungen „mit dem Eisenacher Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" zusammenarbeiten 381 .

378 J. Hempel an Vorsitzenden des Fakultätentages vom 20.4.1938, hier in Abschrift an Hirsch, S . l , in: UAG, ThFak 159. 379 J. Hempel an den Vorsitzenden des Fakultätentags vom 20.4.1938, hier in Abschrift an Hirsch, S. 1R und 2, in: UAG, ThFak 159. 380

Daß dies nicht selbstverständlich war, zeigt z.B. die vollständige Abschaffung des Hebräisch-Unterrichts in Jena 1939. Vgl. hierzu: SMEND, Deutsche Alttestamentier, 236; HESCHEL, Theologen, 132 und KOENEN, Unter dem Dröhnen, 24f. 381 J. Hempel an Dekan vom 16.2.1942, in: U A der HUB, H 216, Bl. 36.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

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a) Zur Geschichte des Institutes Das , Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben' 3 8 2 wurde am 6. Mai 1939 auf der Wartburg mit einem Festakt eröffnet 383 . Der Gründung war ein Jahr mit Planungen zur Errichtung eines ,Kirchlichen Amtes zur Entjudung der Kirche' innerhalb der Arbeitsgemeinschaft deutsch-christlicher Kirchenleitungen vorausgegangen. Ein solches Amt sollte nach den von dem Jenaer Professor für Neues Testament und völkische Theologie, Walter Grundmann 384 , im November 1938 dargelegten Plänen mehrere Aufgabenfelder umschreiben: den Betrieb eines wissenschaftlichen Forschungsinstitutes, eine Bibelgesellschaft zur Vorbereitung einer ,entjudeten Volksbibel' und eine Weiterbildungsstätte für Pfarrer, Lehrer und Kirchenvertreter 385 . In einer mehrseitigen Konzeption werden die Ziele des Institutes folgendermaßen festgelegt: Einerseits müsse sich die Kirche Rechenschaft geben über die möglichen jüdischen Einflüsse in der sie tragenden Geschichte. Andererseits solle die wissenschaftliche Arbeit dazu dienen, das religiöse Leben dem jüdischen Einfluß zu entziehen und somit „Einsatzpunkt für die Erkenntnis und Förderung eines deutschgeprägten Christentums und einer deutschen Frömmigkeit" zu sein386. Die vorgetragenen Vorschläge flössen in die am 26. März 1939 verabschiedete ,Godesberger Erklärung' ein. Sie stellte einen erneuten Versuch dar, verschiedene kirchliche Kräfte zu einen, um gemeinsam über einen Neuaufbau der zerstrittenen evangelischen Kirche nachzudenken. Zu diesem Zweck hatten sich in Godesberg Vertreter der radikalen Nationalkirchlichen Einung ,Deutsche Christen' 387 mit Vertretern der kirchlichen Mitte und Repräsentanten des Reichskirchenministeriums getroffen. Die dort erstellte Erklärung wurde schließlich von Vertretern verschiedener Landeskirchen unterschrieben 388 . Der Text enthielt zum einen eine religiöse Verklärung des nationalsozialistischen Staates, denn „der Nationalsozialismus führt das Werk Martin 382 Zur Diskussion um den Namen ,Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses' bzw. .Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses' vgl. RÖHM/THIERFELDER, Juden 3/II, 43 mit Anm. 54. 383 Ein Programm der Eröffnungsfeier ist bei PROLINGHEUER, Wir sind, 149, abgedruckt. Hier findet sich auch eine Liste der Institutsmitarbeiter, aaO. 150f. 384 Zu W. Grundmann s. ADAM, Der theologische Werdegang; HESCHEL, Nazifying Christian Theology, bes. 591-594; SEGELE-WENSCHKEWITZ, Mitverantwortung, 182-187. 385

W. Grundmann, Planung vom 21.11.1938, in: L K A Thüringen, A 921, zitiert bei HESCHEL, Theologen, 133f. 386 Konzeption für die Arbeit des Instituts (undat.), in: EZA, 7/4166, Bl. 17. 387

Zur Nationalkirchlichen Einung ,Deutsche Christen', die aus der Thüringer Kirchenbewegung .Deutsche Christen' hervorgegangen war, s. BECKMANN, Kirchliches Jahrbuch, 467ff. 388 Zur Geschichte der Godesberger Erklärung s. SIEGELE-WENSCHKEWITZ, Politische Versuche, bes. 133-136; RÖHM/THIERFELDER, aaO. 26-38.

150

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Luthers nach der weltanschaulich-politischen Seite fort". Zum anderen wurde der „unüberbrückbare religiöse Gegensatz" des christlichen Glaubens zum Judentum betont 389 . Als Konsequenz dieser Erkenntnis sollte das .Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das kirchliche Leben des deutschen Volkes' zur gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit gegründet werden. Bereits im Mai 1939 begann man, die dargelegten Pläne zu verwirklichen 390 . Schon der Ort für die Gründungsfeier auf der Wartburg stand symbolisch für das Ziel des Instituts: Im Sinne der Überwindung des Katholizismus durch Luther sollte jetzt das Judentum für den Protestantismus überwunden werden 391 . Susannah Heschel umschreibt die Zielsetzung folgendermaßen: „Wenn Hitler ein ,judenreines' Deutschland wollte, war das Institut bereit, ein Judenreines' Christentum zu schaffen" 392 . Unter dem Motto: „Jetzt und allezeit dem Reich und seinem Führer" verstand man die Forschung als eine Form des Kriegseinsatzes der deutschen Religionswissenschaft 393 . Unter der Trägerschaft von elf Leitern deutsch-christlicher Kirchen und deren Landeskirchen wurde das Institut von Siegfried Leffler geführt, dem Walter Grundmann als wissenschaftlicher Leiter zur Seite stand394. Zu der konkreten Arbeit gehörten mehrere Arbeitsgemeinschaften, die unter dem Schirm des Eisenacher Instituts zu unterschiedlichen Themenstellungen und mit unterschiedlichen Teilnehmern arbeiteten. Übergreifende Tagungen sollten die Ergebnisse aus den einzelnen Arbeitsgruppen verbinden. ßj Alttestamentliche Wissenschaft und Religionsgeschichte als Beitrag zur „ Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses " Der Name Hempels findet sich in den Institutsakten in unterschiedlichen Zusammenhängen: So tagte unter seiner Beteiligung die religionsgeschichtliche Forschungsgemeinschaft des Instituts am 9. und 10. Juni 1939 in Berlin 395 . Die Arbeitsgruppe hatte sich die „Untersuchung und Herausarbeitung des ty389

BECKMANN, a a O . 2 8 5 .

390

Zum Institut und seiner Arbeit s. RÖHM/THEERFELDER, aaO. 4 3 - 5 4 ; GUTTERIDGE, Open Thy Mouth, 196-201; HESCHEL, Theologen; DIES., Transforming Jesus; JERKE, Wie wurde das Neue Testament. Eine Rezension von Martin BERTHEAU ZU dem von dem Institut 1941 herausgegebenen Gesangbuch .Großer Gott wir loben dich' findet sich in ThBl 21 (1942). 391 Vgl. den Vortrag Grundmanns zur Gründung des Instituts: Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche (1939), zitiert bei SLEGELEWENSCHKEWITZ, Mitverantwortung, 185. 392

HESCHEL, Theologen, 138.

393

So GRUNDMANN in seinem Vorwort zu: DERS. (Hg.), Germanentum, o.S.

394

JERKE, aaO. 201. Zu S. Leffler s. RINNEN, Kirchenmann.

395

Zum folgenden vgl. Planungen und Niederschriften aus der Institutsarbeit, S. 3f., in: EZA, 1/C3/174.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

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pischen Gegensatzes zwischen arischer und semitischer Religiosität unter besonderer Berücksichtigung der germanisch-deutschen Lebens- und Glaubenshaltung einerseits und der jüdischen andererseits" vorgenommen. Die Leitung oblag dem Geschäftsführer des Instituts, Dr. Heinz Hunger aus Eisenach 396 . Im Rahmen dieses Arbeitstreffens hielt Hempel einen Vortrag über Das Verhältnis des Griechentums zum Orient397 und führte die Gruppe durch das vorderasiatische Museum in Berlin. Im Anschluß an einen Vortrag Hungers über Grundsätzliches zu einer rassendifferenziellen Religionstypologie beschloß man, sich im weiteren mit Geburt und Tod im Volksglauben bei Germanen und Israeliten zu beschäftigen. Hieraus sollten Vorarbeiten zu einer umfassenden rassedifferenziellen religiösen Anthropologie entstehen. Außerdem wollte man die Themen „Das Ethos der Arier und Semiten" und „Die Stellung zur Welt im arischen und semitischen Religionskreis" bearbeiten. Die religionsgeschichtliche Forschung sollte damit der Differenzierung der arischen Vorstellungswelt von allem Semitischen dienen. In dem zitierten Bericht findet sich auch die Konzeption für eine von Hempel selbst zu leitende Arbeitsgemeinschaft zum Thema „Das grundsätzliche und religionsgeschichtliche Problem des Alten Testaments" 398 . Mit dieser Themenstellung befand sich die Arbeitsgruppe an der schwierigen Frage nach der Stellung des Instituts bzw. der deutsch-christlichen Kirchen zur Hebräischen Bibel: Walter Grundmann hatte sich bereits 1933 in seinen Thesen für die sächsische Volkskirche für die Überwindung der jüdischen Volkssittlichkeit und Volksreligion ausgesprochen. Dennoch legte er Wert darauf, am Alten Testament festzuhalten 399 , da es Geschichte und Verfall eines ungehorsamen Volkes überliefere und somit verdeutliche, daß die Stellung einer Nation zu Gott entscheidend für ihr Schicksal in der Geschichte sei400. Seine Anerkennung des Alten Testaments, wie er sie 1933 noch im Rahmen eines Paradigmas für die Beziehung zwischen Gott und Volk sehen konnte, schränkte Grundmann in seinem Vortrag zur Gründung des Eisenacher Instituts weiter ein. Jetzt bestritt er dem Alten Testament eine heilsgeschichtliche Sonderstellung. Vielmehr sei auch „etwa in der germanischen Vorgeschichte (sc. des 396 Nicht Hempel, den HESCHEL (ebd.) und RÖHM/THIERFELDER (aaO. 44) fälschlicherweise als Leiter der Arbeitsgruppe angeben. 197 Der Text des Vortrags scheint nicht erhalten zu sein. 398 Als weitere Mitarbeiter werden der Kieler Alttestamentier H. Schmökel, der Gießener Alttestamentler K. Euler, der Wiener Alttestamentler F. Wilke (zu Wilke s. K. W. SCHWARZ, Grenzburg) und der Heidelberger Alttestamentler G. Beer genannt, vgl. Planungen und Niederschriften, S. 2, in: EZA, 1/C3/174. 399 NICOLAISEN (Die Auseinandersetzungen, 90) bezeichnet Grundmann als Ausnahmeerscheinung unter den Thüringer Deutschen Christen, da er ein echtes theologisches Bemühen um das Alte Testament zeige. 400

These 12 der „28 Thesen der sächsischen Volkskirche zum inneren Aufbau der Deutschen Evangelischen Kirche", abgedruckt in: K. D. SCHMIDT, Bekenntnisse 1933, 100.

152

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

deutschen Volkes) ein Stück heilsgeschichtlichen Wirkens Gottes, das in der Erscheinung Jesu Christ Antwort, Erfüllung findet wie die religiöse Geschichte jedes anderen Volkes auch" zu erkennen 401 . Eine besondere Bindung der Christen an das Alte Testament, die sich allein auf die Beziehung zum Neuen stütze, werde somit hinfällig. Vergleichbar argumentierte der Jenaer Systematiker Heinz Erich Eisenhuth auf einer Tagung des Instituts im Juli 1939. In seinem Vortrag über Die Bedeutung der Bibel für den Glauben nennt er das Alte Testament „Ausdruck einer fremden Rassenseele und damit auch einer fremden religiösen Haltung" 402 . Das Alte Testament dürfe deshalb nur dort Gültigkeit beanspruchen, wo sich auch in ihm Spuren des Glaubens Christi an Gott als den Vater fänden. Aber, so fährt Eisenhuth fort: „Da wir aber Spuren dieser Erkenntnis Gottes auch in den Urkunden der germanischen Religionsgeschichte finden, muß das Alte Testament für uns religiös und pädagogisch abgelöst werden durch das Gotteserlebnis germanisch-religiöser Art" 403 . Deshalb könne das Alte Testament nicht mehr Grundlage der kirchlichen Verkündigung sein. In diesem Spannungsfeld, das den sog. ,Streit um das Alte Testament' in jener Zeit prägte, sollte die von Hempel zu leitende Arbeitsgruppe folgende Themen bearbeiten: ,,a) Die rassische Zusammensetzung Israels in ihrem Einfluss auf die israelitische Geschichte (Unfähigkeit der Staatbildung als Wirkung der Rassemischung) und Religionsgeschichte (Wurzel der religiösen Untreue?) b) Die Stellung der israelitischen Religion im Rahmen der altorientalisch-semitischen: 1.) Die primitive Schicht, die auch in späteren Schichten wieder durchschlägt 2.) Die arischen Einflüsse in der älteren (sehr gering) und in der späteren Zeit (Einfluss des Persischen, des Griechischen) 3.) Die Stellung des A.T. in der Theologiegeschichte des Protestantismus und in der politischen Geschichte des Abendlandes (englisches Nationalbewußtsein). Als Grundlage wäre die Frage der Konzeption des A.T. in der Alten Kirche heranzuziehen." 404

Die wissenschaftliche Erforschung des Alten Testaments wurde rassebiologischen Kriterien unterstellt. Man hoffte, so eine Antwort auf die grundsätzliche Fragestellung der Kritiker zu finden, inwieweit die alttestamentlichen Schriften auch unabhängig von einer „jüdischen Überlagerung" gelesen und wahrgenommen werden könnten. Bezogen auf die Zielsetzung des Instituts durften 401 W. Grundmann, Die Entjudung des religiösen Lebens als Aufgabe deutscher Theologie und Kirche, Weimar 1939, 15f., zitiert bei SIEGELE-WENSCHKEWITZ, aaO. 186. 402 Zitiert nach JK 7 (1939) 690. 403 Zitiert nach JK 7 (1939) 690. Zu dem Vortrag vgl. auch Hugo Pich, Bericht über die Tagung der landeskirchlichen Referenten zum „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben" am 6. und 7. Juli 1939 in Eisenach, in: EZA, 7/4166, Bl. 45f. 404 Protokoll vom 3.8.1939 (S. 2), in: EZA, 1/C3/174.

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

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die alttestamentlichen Schriften innerhalb des Christentums nur dann eine Bedeutung bewahren, wenn sie unabhängig vom Judentum und frei von aller „jüdischen Prägung" gelesen werden konnten. Auch Hempel selbst integrierte diese Maßstäbe in die eigene wissenschaftliche Arbeit. So suchte er in einer 1940 „im Felde" geschriebenen und im Rahmen einer Aufsatzsammlung des Eisenacher Instituts veröffentlichen Schrift über Dekalog und Sittlichkeit eine innere Übereinstimmung zwischen dem „völkischen Ethos" von Ehre und Tapferkeit der deutschen Soldaten und dem Wesensgehalt des Dekalogs, zumindest in Luthers Verdeutschung, aufzuzeigen. Hempel ist davon überzeugt, daß das Alte Testament keinen übergeschichtlichen Offenbarungsbegriff besitzt, sondern sich „an den .wirklichen' Menschen, wie er in Volkstum und Geschichte lebt und kämpft", richtet405. Gerade in den Geboten des Dekalogs zeige sich die zentrale Bedeutung der Gemeinschaft, denn sie richteten sich nicht an den einzelnen, sondern an die Gemeinschaft. Hempel nennt den Dekalog auch das „Grundgesetz" des israelitischen Volkes. Luther habe nun eine „Großtat" vollbracht, indem er den Dekalog aus seiner israelitischen Umwelt herausgehoben und ihn an die deutsche Wirklichkeit angebunden habe. Solches war möglich, da der größere Teil der zehn Gebote „kein spezifisch alttestamentliches Gepräge trägt, sondern in der Schöpfungsordnung selbst verankert ist". Damit handle es sich beim Dekalog im wesentlichen nicht um das, „was uns sonst als alttestamentliches Gesetz entgegentritt", sondern „um eine Zusammenstellung von Vorschriften, ohne die ein geordnetes Zusammenleben einer menschlichen Gemeinschaft nicht möglich ist" 406 . Durch Luther sei der Dekalog „seit vierhundert Jahren grundlegend für das Sittlichkeitsbewußtsein der germanischen Rasse geworden", durch ihn werde „die deutsche Sittlichkeit nicht Jüdisch' infiziert, sondern im Rückgriff auf göttliche Grundsetzungen geheiligt"407. Mit dieser Wertschätzung des Dekalogs und seiner Verbindung mit völkischen Idealen stellte sich Hempel außerhalb der sonst von Mitarbeitern des Eisenacher Instituts propagierten Einstellung, das Alte Testament sei „das heilige Buch des Jahvismus, der in jeder Weise als Religionsform für deut-

405 HEMPEL, Dekalog, 98. Der von ELSENHUTH herausgegebene Sammelband Die Bedeutung der Bibel flir den Glauben, in dem dieser Aufsatz Hempels integriert ist, scheint letztlich nicht erschienen zu sein. So findet sich in einem Exemplar des Buches in der Münchner Theologischen Fakultät ein Vermerk Birnbaums: „Das Buch ist ein Dokument für die Theologie führender Deutscher Christen. Nach Fertigstellung des Satzes wurde im letzten Augenblick der Druck ,wegen Papiermangel' verboten. Der Verlag stellte Abzüge für die Mitarbeiter her". 406 HEMPEL, Dekalog, 106. 407 HEMPEL, aaO. 108.

154

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

sehe Menschen durch das Christentum überwunden worden ist"408. In politischen Fragen ging er durchaus mit der Einstellung der Institutsmitarbeiter konform, die im Judentum und allem, was von diesem beeinflußt sein könnte, das Grundübel sahen. So hielt er auf der Arbeitstagung des Instituts vom 3. bis 5. März 1941 in Eisenach 409 einen Vortrag zum Thema Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen410. Zu dieser Tagung reiste Hempel von seiner Arbeit als Feldseelsorger in Frankreich411 an. Ursprünglich war der Beitrag als Teil des Kameradschaftsabends der Tagung unter dem Titel ,Das religiöse Problem im heutigen Krieg' angekündigt worden 412 . So nahm Hempel in seinen Ausführungen auch weniger zu den religiösen Problemen der Soldaten Stellung als vielmehr zu den aktuellen Kriegszielen. Der Kampf Deutschlands gegen England, so seine Überzeugung, sei letztendlich ein notwendiger Kampf gegen das verfälschte englische Christentum. Denn der Glaube Englands „an das Alleinseligmachende seiner Ausformung des Christentums" entspreche einer Übertragung des alttestamentlichen Erwählungsgedankens von Israel auf England413. England gehe davon aus, daß seine Weltherrschaft der gerechte Lohn für das gerechte englische Volk sei und nehme damit letztlich den wurzelhaft jüdischen Vergeltungsglauben auf. Durch seine Ausführungen verband Hempel die Kriegsführung Deutschlands mit einem Kampf für das Christentum414. Er hoffte, daß der nationalso-

408 So heißt es in der Zusammenfassung der Ergebnisse des Sammelbandes, in dem auch Hempels Artikel erschienen war, von H. E. Eisenhuth, Die Bedeutung der Bibel für den Glauben, in: Verbandsmitteilungen Nr. 2/3 (1940), 53, in: EZA, 7/4166. 409 Zu der Tagung, bei der zeitweise 600 Personen anwesend waren, und den sonstigen Vortragenden s. WEINREICH, Hitler's Professors, 64f. Außerdem Tagungsbericht von PAUL, Zweite Hauptarbeitstagung, 112f. Ein Reisebericht und „Notizen: Versuch einer Stellungnahme", die die Tagung schildern, finden sich in: EZA 7/4167. 410 HEMPEL, Die Aufgabe, erschien als Sonderdruck des offiziellen Tagungsbandes (GRUNDMANN [Hg.], Germanentum) in einer Auflage von 10.000 Exemplaren (vgl. Vorwort zum Tagungsband). 411 S. unten 158. 4,2 Programmankündigung für die Tagung in EZA, 7/4166. 413 HEMPEL, aaO. 4. Hempel geht davon aus, daß diese „Übertragung" der alttestamentlichen Erwählungsvorstellung im Psalmengesang der anglikanischen Kirche geschieht: „Denn dieser Glaube beruht ja auf nichts anderem als auf der im Psalmengesang immer erneuerten Uebertragung des alttestamentlichen Erwählungsgedankens auf England" (ebd.). Zum ,British-Israelite-Movement' s. KOENEN, Unter dem Dröhnen, 12. 414 Zugleich aber zeige der Krieg, in dem sich Deutschland auch gegen die immer übermächtiger werdenden amerikanisch-jüdischen Konzerne wehre, daß die Kirche an der Gestaltung des kommenden deutschen sozialen Ethos in positiver Weise mitwirken solle (HEMPEL, aaO. 8). Und schließlich habe die Kirche sich vom Gesamtleben der Nation her bestimmen zu lassen. Denn die Einheit der Nation gehe durch die Einheit im Glauben. Und somit erscheine die Einheit des Reichs, des Volkes und im Glauben zwar noch als weit entferntes, jedoch nicht mehr unerreichbares Ziel (aaO. 19).

3. Professur in Berlin

(1937-1940)

155

zialistische Staat sich die christlichen Grundsätze zu eigen mache und verteidige. Der Krieg, den Deutschland gegen England führe, sei deshalb ein Kampf für die gerechte Sache und für die Wahrheit des Christentums. Auch in anderen Veröffentlichungen des Institutes wurde der Krieg Deutschlands gegen England in dieser Form legitimiert. Der Praktische Theologe Wolf Meyer-Erlach aus Jena spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von einer vermeintlichen „jüdischen Verfälschung" des Christentums in England, sondern schreibt die Wurzeln der „Verfälschung" direkt den Texten des Alten Testaments zu: „Tatsache ist, daß Luthers Kampf gegen das Alte Testament, seine Warnung vor den Juden, in England nicht den geringsten Widerhall fand, daß im Gegenteil das Alte Testament und damit der Judaismus Geist und Gesicht des englischen Christentums entscheidend prägte."415 Diesen letzten Schritt, die Wurzel allen Übels in den alttestamentlichen Schriften selbst anzusiedeln, vollzog Hempel nicht mit. Schon in der von ihm 1940 herausgegebenen und von anderen Institutsmitarbeitern mitgestalteten Weihnachtsgabe für die Frontsoldaten 416 hatte er sich auf die Auseinandersetzung mit England bezogen und auch dort dem Krieg Deutschlands gegen England seine Berechtigung gegeben 417 . Jedoch zog er positive Verbindungslinien von der christlichen Theologie zum Alten Testament und schrieb der christlichen Hoffnung auf das ewige Gottesreich ihre Wurzel im Alten Testament zu. Zwar gebe es auch im „arischen Denken" die Suche nach der Einheit in der Vielfalt, die z.B. die christliche Interpretation, geschichtliche Not als direkte Folge von Verschuldung anzusehen, mitbestimmt habe. Die andere Wurzel liege aber in den alttestamentlichen Texten begründet. Ihr „einheitliches Drama der Heilsgeschichte" sei im Neuen Testament ausgebaut und so zum grundlegenden christlichen Erbgut geworden418. Das Alte Testament enthielt für Hempel durchaus positive Werte, die im Neuen Testament und in der christlichen Tradition aufgenommen worden seien. Diese Prämisse seiner Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel vertrat er auch im Rahmen der Arbeit des , Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben'. Offenbleiben muß jedoch, inwieweit Hempel die Urteile der anderen Institutsmitarbeiter bezüglich ihrer Ablehnung der alttestamentlichen Texte noch mitvollziehen 4,5

MEYER-ERLACH, Der Einfluß, 10.

416

HEMPEL (Hg.), Glaube und Freiheit.

417

HEMPEL, Die Gottesliebe.

418

HEMPEL, aaO. 98. Betont hatte Hempel jedoch den Unterschied zwischen der politischen Natur der prophetischen Enderwartung, die das kommende Friedensreich an Israel binde, und der unpolitischen, jenseitig ausgerichteten Erlösungshoffnung der Christen. Allein England habe durch sein Nationalbewußtsein die „Heilsgemeinde" wiederum mit einer politischen Größe, dem englischen Empire, identifiziert und somit nach Hempels Meinung den christlichen Glauben verfälscht (aaO. 96f.). Zu den Verbindungslinien, die Hempel zwischen Altem und Neuem Testament gegeben sieht, s. unten 197ff.

156

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

konnte. Auch über die konkrete Arbeit der von ihm geleiteten Institutsgruppe ist nichts zu erfahren. Tatsache ist jedoch, daß die politische Zielrichtung des Institutes Hempel wichtiger gewesen sein muß als die dort gängigen Aussagen zum Alten Testament. Denn schließlich hielt er an der Mitarbeit fest und wäre bereit gewesen, seine universitären und wissenschaftlichen Interessen nach dem Krieg völlig mit dem Anliegen des Eisenacher Institutes in Einklang zu bringen 419 . Im Entnazifizierungsverfahren vor der landeskirchlichen Spruchkammer der Braunschweigischen Landeskirche blieb Hempel eine vollständige Entnazifizierung auch aufgrund seiner Mitarbeit im Grundmann-Institut versagt. In der Urteilsbegründung vom September 1949 hieß es: „Durch seine Mitarbeit am Institutum Judaicum (sc. das Grundmann-Institut) hat er der Partei für ihren Kampf für den Antisemitismus das wissenschaftliche Rüstzeug gegeben und somit den Nationalsozialismus ohne Zweifel gefördert" 420 . Hempel selbst widersprach den Vorwürfen und nahm dabei auch auf den zitierten Zusammenhang Bezug: „Die Behauptung, ich hätte der Partei durch meine Mitarbeit am Institutum Judaicum ,das wissenschaftliche Rüstzeug für ihren Kampf für den Antisemitismus geliefert', ist objektiv unwahr. Sie erweckt den Anschein, als handele es sich um ein Institut der Partei, während in Wirklichkeit das von einer Reihe von Landeskirchen, auch solchen nicht deutsch-christlicher Prägung, gegründete .Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben' gemeint ist. In diesem Institut habe ich einen Vortrag über die .Aufgabe der Theologie und der Kirche von der Front her gesehen' im März 1941 gehalten. Dieser Vortrag hatte im Gegensatz zu der Behauptung des Urteils den ausgesprochenen Zweck, nachzuweisen, daß der Grundsatz des deutschen Luthertums .Allein aus Gnaden - allein aus dem Glauben' gerade im Gegensatz zu allem Jüdischen steht, suchte also das Luthertum vor allen antisemitischen Angriffen sicherzustellen." 421

Selbst aus diesen späten Worten wird Hempels Anliegen deutlich, mit dem er in der Zeit des Dritten Reichs seine Wissenschaft einsetzte: In seinem Bemühen um die Anerkennung der protestantischen Theologie distanzierte er sich deutlich vom Judentum und arbeitete zugleich mit Institutionen wie z.B. dem Eisenacher Institut zusammen. Denn dieses verstand seine eigene Zielsetzung im Miteinander von Kirche und Nationalsozialismus: „In allem will die Arbeit nur eines: Dienst an der Erneuerung des frommen Lebens im Großdeutschen

419

Vgl. Hempels Planungen für ein .Institut für vergleichende Glaubensgeschichte', s. oben 146ff. 420 Abschrift des Urteils vom 19.9.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. Zu den Entnazifizierungsverfahren Hempels s. unten 164ff. 421 Hempel an den öffentlichen Kläger beim Entnazifizierungs-Sonderausschuß für die geistigen Berufe, Braunschweig, vom 7.11.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418.

4. Feldseelsorge und Gefangenschaft

(1940-1946)

157

R e i c h des siegreichen Führers" 4 2 2 . S e i n e e i g e n e w i s s e n s c h a f t l i c h e Arbeit a m A l t e n Testament und in der R e l i g i o n s g e s c h i c h t e sah H e m p e l auch als Beitrag zur „Erforschung und B e s e i t i g u n g des jüdischen E i n f l u s s e s auf das deutsche kirchliche Leben" 4 2 3 .

4. Feldseelsorge und Gefangenschaft (1940-1946) Mit der Einberufung z u m Militärpfarrdienst i m Januar 1 9 4 0 4 2 4 mußte H e m p e l seine Tätigkeit als Universitätslehrer für mehrere Jahre niederlegen. Durfte er nach d e m E n d e des Z w e i t e n Weltkriegs zunächst nicht mehr an die Universität zurückkehren, s o hatte er in der Kriegszeit den Kontakt zu D e k a n , K o l l e g e n und Assistenten an der Berliner T h e o l o g i s c h e n Fakultät gepflegt 4 2 5 .

422 W. Grundmann, Arbeitsbericht, in: Verbandsmitteilungen 2/3 vom 31.12.1940, S.37, in: EZA, 7/4166. 423 Zur Diskussion um die Frage, wie die Zielsetzung des Grundmann-Institutes zu beurteilen sei, s. HESCHEL, Nazifying Christian Theology, 590. Sie setzt sich hier von MEIER (Kreuz, 166) ab, der in der Institutsarbeit „eine unverkennbar apologetische Note gegenüber den völkisch-antichristlichen Angriffen" gegen die christliche Kirche und die Theologie sehen will. HESCHEL (aaO. 594) sieht dagegen folgende Ziele von Anbeginn an in der Institutsarbeit angelegt: „the eradication of Judaism and the creation of an Aryan Christianity". Für die Institutionspublikationen kommt sie zu dem Schluß: „Finally, the content of Institute publications leave no doubt that its goal was eradicating Judaism, not simply studying it", und beurteilt schließlich die gesamte Arbeit zusammenfassend: „The Institute made effective use of traditional Christian anti-Judaism to support Nazi policy, offering theologians for the service of the regime" (aaO. 604). M.E. stellen die beiden Ansätze zur Beurteilung der Institutsarbeit keine sich ausschließenden Gegensätze dar. Denn selbst wenn Hempel zum Mitarbeiter des Instituts wurde, um die alttestamentliche Wissenschaft vor Angriffen aus der völkischen Ideologie zu rechtfertigen - und dies spielte in seiner Arbeit sicherlich immer eine Rolle - , so rechtfertigt dies in keiner Weise z.B. seine Äußerungen gegenüber dem Judentum oder auch gegenüber England, durch die er die nationalsozialistische Propaganda mit seiner wissenschaftlichen Arbeit deutlich unterstützte. 424 Hempel an Rektor am 25.1.1940, Nachricht über Einstellungsbefehl vom 23./ 24.1.1940, in: UA der HUB, H 216, Bl. 141. 425 Im Sommer 1940 war Hempel zudem als ein Vertreter der Universitätsprofessoren für den zu bildenden ,Geistlichen Vertrauensrat' innerhalb der Altpreußischen Union (APU) im Gespräch gewesen. Parallel zum Vertrauensrat auf der Ebene der Deutschen Evangelischen Kirche (vgl. hierzu die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche vom 14.7.1933, abgedruckt in: GAUGER, Chronik I, 69-75) sollte auch die APU ein Gremium erhalten, das über die Kirchenparteien hinaus die geistlichen Angelegenheiten der Landeskirche übergreifend regeln sollte. Auf Einspruch Görings wurde das Projekt im August 1940 jedoch unterbunden (vgl. hierzu MEIER, Der evangelische Kirchenkampf III, 199f. und MELZER, Der Geistliche Vertrauensrat, 140-147).

158

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

a) Militärgeistlicher (1940-1945)

in Frankreich, Norwegen, Rußland und Holland

Für den Dienst im Militärpfarramt konnte Hempel auf seine Kriegserfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg und der sich daran anschließenden Ausbildung zum Militärhilfsgeistlichen 426 aufbauen 427 . In späteren Beurteilungen über seine Zeit als Feldseelsorger werden immer wieder die Hingabe und der Ernst hervorgehoben, mit denen Hempel sein Amt ausführte 428 . Sein Weg führte ihn von einem Einsatz beim Frankreichfeldzug über Norwegen nach Rußland. Ab 1943 arbeitete er als Lazarettseelsorger beim deutschen Heer in Frankreich und Holland. Nur wenige Dokumente sind aus jener Zeit erhalten. Aus nächster Nähe erlebte er die teilweise Einnahme Frankreichs und die Auseinandersetzungen mit England mit. So schrieb er am 19.6.1940, zwei Tage nach der Besetzung von Paris durch deutsche Truppen, an seinen Wanderfreund Schroeder in Göttingen: „An dem Tage, an dem das Hakenkreuz über dem Straßburger Münster flattert, muß ich Ihnen aus dankerfülltem Herzen einen besonderen Gruß senden" 429 . Ein dreiviertel Jahr später erhielt Hempel Fronturlaub vom Einsatz in Calais. Diesen verbrachte er u.a. auf der bereits erwähnten Tagung des Grundmann-Institutes in Eisenach 430 . In dem dort gehaltenen Vortrag Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen bezog er sich auch auf eigene Kriegserlebnisse: „Wenn man auf einer Beobachtungsstelle bei Calais am Scherenfernrohr steht und einen deutschen Flugzeugangriff auf einen englischen Hafen verfolgt, oder wenn man sich nachts in einer Flakstellung aufhält, die bereit ist, einen englischen Bombenangriff abzuwehren (...)" 431 . Zugleich schilderte er seine Erfahrungen als Feldseelsorger: „Der Feldseelsorger ist ja nur in den allerseltensten Fällen im Stande, helfend einzugreifen. Wenn man über 15 000 Mann, in einem weitem Raum verstreut zu betreuen hat, ist man kaum je zur Stelle, wenn der Einzelne der Aussprache besonders bedarf' 4 3 2 .

426

S. oben 94.

427

Seit Kriegsbeginn wurden nur noch Pfarrer als Militärgeistliche berufen, die selbst schon Heeresdienst geleistet hatten. Den Vorschlag zur Ernennung hatten die militärischen Vorgesetzten, nicht etwa die kirchlichen Behörden des betreffenden Soldaten zu machen (vgl. MÜNCHMEYER, Erinnerungen, 68). 428 Vgl. Gutachten von Bischof Dohrmann, Pfarrer Höhnke, Missionsdirektor Zimmermann, Pfarrer Hoene für Hempels Entnazifizierungsprozeß, in: LKA Braunschweig, Personalakte Joh. Hempel. 429 Hempel an Geheimrat Schroeder vom 19.6.1940, in: UBG, Abtlg. für Handschriften und seltene Drucke. 430 S. oben 154. 431 HEMPEL, Die Aufgabe, 3. 432

HEMPEL, aaO. 11.

4. Feldseelsorge

und Gefangenschaft

(1940-1946)

159

Die Begegnungen, die Hempel mit den Soldaten bei Gottesdiensten, Kasernenabenden und bei Besuchen im Lazarett hatte, mögen ihn sehr geprägt haben. Er spricht von der Auseinandersetzung verwundeter Soldaten mit der Todesfurcht 433 und der Frage nach der Gerechtigkeit, die unter den Kameraden z.B. in bezug auf das wirtschaftliche Auskommen gestellt werde 434 . Vor allem aber berichtet er von einem „unüberhörbare(n) Fragen nach einem Geborgenseinwollen, einem tieferen ,Geborgenseinwollen' als es das natürliche Leben darbietet" 435. Von diesen Erfahrungen ließ er sich in seinen weiteren theologischen Überlegungen leiten. So formuliert er in seinem Vortrag „die eine große Aufgabe der Theologie und der Kirche von der Front her gesehen: das, was in unseren Männern draußen an der Front lebendig ist, ihnen zu deuten als das, was christlicher Glaube im letzten von Gott sagen darf: Das Wort von dem Vater, in dessen Hand wir geborgen sind in allem, was uns im Leben wie im Sterben als unser ,Schicksal' begegnet, das Wort von dem Gott in uns, der uns ,heiligt' in lebendigem Gutseinwollen, und das Wort vom Kreuze des Herrn als dem Zeugnis der Liebe Gottes zu den Brüdern und als Entschleierung des Wesens des Gutseins." 436

Die christliche Heilsbotschaft habe damit an das Sehnen des Soldaten nach Geborgenheit anzuknüpfen und sie ihm als „ein letztes Sehnen nach dem Vater über ihm und nach dem Kreuz Jesu Christi, an dem ihm sein Opferwille bestätigt und verklärt wird: ,Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde'" 437 , zu deuten. In einem weiteren Aufsatz finden sich authentische Beschreibungen seiner Begegnungen mit den Soldaten und den Verwundeten. Dabei sei ihm immer wieder die Tatsache aufgefallen, daß bei den Soldaten die konfessionellen Motive ganz in den Hintergrund träten. Vielmehr bilde sich unter den Kameraden ein überkonfessionelles „religiöses Mannschaftserlebnis" 438 heraus. In seiner Funktion als Seelsorger habe er versucht, dieses Mannschaftserlebnis zu pflegen: „Einmal etwa durch halbstündige Andachten, die ich jeden Sonntag auf den vier großen Sälen (sc. des Lazaretts) gehalten habe. (...) Die andere Gelegenheit zur Pflege des Mannschaftserlebnisses ist das Gebet mit dem Sterbenden" 439 . Dabei habe er die anderen Kameraden gebeten, mit dem Sterbenden das Vaterunser mitzusprechen: „Es bildet sich dann so etwas wie eine Gemeinschaft (...). Wieweit dann wirklich die Mannschaft zur betenden Ge-

433

HEMPEL, aaO. 16.

434

HEMPEL, aaO. 10.

435

HEMPEL, aaO. 17.

436

HEMPEL, aaO. 18.

437

HEMPEL, ebd.

438

HEMPEL, Zur seelischen Haltung, 240.

439

HEMPEL, ebd.

160

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

meinde und der Saal zur Stätte christlicher Kirche deutscher Nation wird, steht bei aller Klarheit der Verkündigung freilich nicht in unserer Hand." 4 4 0

Seine weiteren Einsätze führten Hempel 1942 nach Norwegen und 1943 nach Rußland in die Gegend der Wolchow-Sümpfe. Daran anschließend wirkte er als Lazarettseelsorger in Holland. Obwohl er zu dieser Zeit bereits der älteste Divisionspfarrer und gesundheitlich stark angeschlagen war, wird in späteren Beurteilungen immer wieder seine hohe Einsatzbereitschaft für die Soldaten hervorgehoben 441 . Schließlich mußte er seine Arbeit jedoch aufgeben, da ihn eine in Rußland zugezogene Ruhr arbeitsunfähig machte. Bis März 1947 blieb er selbst in Lazarett-Behandlung 442 . In den Berichten, die auf die Zeit Hempels als Militärseelsorger zurückblicken, wird immer wieder betont, daß es ihm in seiner Arbeit allein um die Verkündigung des Evangeliums unter den Soldaten gegangen sei. Bei seinen gut besuchten Gottesdiensten, den Begräbnisfeiern und den ausgedehnten Gesprächen im Kameradenkreis hätten politische Äußerungen keinen Raum gehabt. Auch auf kirchenpolitische Fragen sei er nicht eingegangen, um den „Kameraden allein mit der frohen Botschaft fern zu dienen." 443 Dort, wo Hempel selbst von seinen Aufgaben als Militärseelsorger spricht, stehen nicht Ideologie oder Aufrüstung zum Kampf im Vordergrund, sondern der Zuspruch für und die Sorge um die deutschen Soldaten 444 . Ganz anders wirken jedoch seine Äußerungen in dem bereits zitierten Vortrag Die Aufgabe von Theologie und Kirche von der Front her gesehen 445. Gerade hier zeigt sich, wie Hempel politische Belange in seine theologischen Äußerungen integrierte. Er machte sich das Bestreben des nationalsozialistischen Staates zu eigen, den Kampf gegen das Judentum zu führen. Deshalb solle man sich „um so radikaler (...) auf die deutsche, die germanisch-nordische Ausprägung des

440

HEMPEL, aaO. 241. Zu seinen Aufgaben gehörte auch der Briefwechsel mit den Angehörigen der Verwundeten und Gefallenen sowie Hilfestellung in Eheangelegenheiten, vgl. J. Hempel, Bericht über meine Tätigkeit als Kriegspfarrer 1940/45, S. 2 (Kopie in Besitz der Verf.). 441 Vgl. Berichte der Pfarrer Höhnke, Zimmermann, Hoene, in: LKA Braunschweig, Personalakte Joh. Hempel. Hempel erhielt in seiner Dienstzeit im Dez 1941 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse für Treue im Dienst, im April 1943 das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse, ebenfalls für Treue im Dienst (vgl. hierzu Entnazifizierungsbogen Johannes Hempel, S.5, in: VA de Gruyter, Z A W 1946-48). 442 Merkblatt zur Besoldung vom 12.10.59, in: UAG, UK Personalakte J. Hempel, Bl. 94. 443 444

J. Hempel, Erklärung vom 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 54R.

Zum schwierigen Verhältnis zwischen Militärseelsorge und Wehrmacht, in dem einerseits „die Feldseelsorge (...) ein wichtiges Mittel zur Stärkung der Schlagkraft des Heeres" angesehen wurde und andererseits die Geistlichen in ihrer Loyalität gegenüber dem Staat kaum überprüfbar waren, vgl. BEESE, Evangelische Kirche, bes. 204.208. 445 Vgl. auch die Chronik der ZAW von 1942/43. Hierzu s. unten 182f.

4. Feldseelsorge

und Gefangenschaft

(1940-1946)

161

Glaubens in ihrer inneren Legitimität" 446 besinnen. Die völkische Forderung der .Arisierung' übertrug er auf Kirche und Christentum. Der Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland gegen das ,Weltjudentum' und gegen England führe, solle letztlich der Ausbreitung des wahren Christentums dienen. Zugleich sprach sich Hempel für die Notwendigkeit „neuer Formungen des Sozial-Körpers und vor allem einer ganz neuen Sozial-Gesinnung, wie sie im Nationalsozialismus sich durchringt" 447 , aus. Das pastoraltheologische Thema seines Vortrags verband Hempel so mit politischer Meinungsäußerung. b) Gefangenschaft und Lazarettaufenthalt

(1945-1947)

Hatte Hempel die letzten Monate des Kriegs als Seelsorger im Wehrmachtslazarett in Apeldoorn verbracht, so geriet er in Holland schließlich in kanadische Gefangenschaft 448 . Den Sommer 1945 verbrachte er im englischen Kriegsgefangenenlager Wilhelmshaven, in dem 200 Pfarrer gemeinsam interniert waren. Hempel selbst beschreibt das „enge Zusammenleben mit hervorragenden Vertretern der westlichen Bruderräte" 449 , die ihm im nachhinein die Augen für die genuin christlichen Kräfte innerhalb der Bekennenden Kirche geöffnet hätten. Mitgefangene bestätigen wiederum seinen unermüdlichen Einsatz für die Kranken und die anderen Kameraden: „Ich habe ihn dabei als einen aufrichtigen frommen und auf das Wohl der Kirche bedachten Mann kennengelernt. Seine uns gehaltenen Andachten und wissenschaftlichen Vorträge zeugten von einer klaren christlichen Haltung und sehr umfassendem Wissen. Er hat seelsorgerlich stark auf die Gemeinschaft der gefangenen Theologen gewirkt und wir waren alle dankbar für seine Arbeit." 450

Die weiteren Monate bis zu seiner Entlassung im März 1947 mußte Hempel dann aufgrund seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten, die von seiner Erkrankung in Rußland und von einem schweren Autounfall herrührten 451 , im

446

HEMPEL, Die Aufgabe, 7.

447

HEMPEL, aaO. 8.

448

J. Hempel an A. Soederblom vom 24.4.1946, in: UUB, A. Söderblom arkiv, brevsam-

ling. 449

J. Hempel, Erklärung vom 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 53. Pfarrer Eitel (Vorsitzender des Bezirksbruderrates Oberhessen) am 9.12.1946, in: LKA Braunschweig, Personalakte Joh. Hempel. Vgl. auch Bescheinigung über Hempel von Pfarrer H. Lützen vom 11.10.1948 (ebd.). 451 J. Hempel an A. Söderblom vom 24.4.1946, in: UUB, A. Söderblom arkiv, brevsamling. 450

162

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Lazarett des Kriegsgefangenenlagers Hage in Ostfriesland und nach dessen Schließung im dortigen Hospital verbringen 452 .

5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität (1947-1964) Noch aus dem Kriegsgefangenenlager heraus bemühte sich Hempel um eine Wiederaufnahme in den Lehrkörper der Berliner Theologischen Fakultät. Die ablehnende Haltung, mit der man auf sein Ersuchen reagierte, war ein erstes Anzeichen für die Schwierigkeiten, die ihn in den darauffolgenden Jahren bei der Suche nach einem Arbeitsplatz begleiteten. a) Bewerbung um Wiederaufnahme an der Berliner Universität In seinem Bestreben, an die Berliner Universität zurückzukehren, fand Hempel in dem im Oktober 1945 zum Dekan der Theologischen Fakultät eingesetzten Walther Eltester einen Fürsprecher seiner Interessen. Doch auch dieser konnte eine Wiedereinsetzung Hempels ins Professorenamt nicht erwirken. So hatte eine Anfrage bei der zentralen Verwaltung für Volksbildung ergeben, daß seine Aufnahme in den Lehrkörper unerwünscht sei 453 . Eltester wandte sich daraufhin an die Fakultätsmitglieder und an die Kirchenleitung und bat um Unterstützung. Aber der Widerstand gegen eine Wiedereinstellung Hempels war in Fakultätskreisen und vor allem in den Kreisen der obersten Kirchenleitung zu groß. Bischof Otto Dibelius äußerte in einem Telephongespräch mit Eltester, daß er aus „kirchliche(n) Bedenken" gegen eine Rückkehr Hempels nach Berlin und gegen eine Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit sei 454 .

452

J. Hempel, Lebenslauf für Gemeindebewerbung vom 7.12.1948, in: LKA Braunschweig, Personalakte Joh. Hempel u. Merkblatt zur Besoldung vom 12.10.1959, in: UAG, Personalakte Joh. Hempel, Bl. 94. 453 W. Eltester an J. Hempel vom 11.1.46, in: UA der HUB, H 216, Bl. 45. 454 Aktennotiz über Telephongespräch W. Eltester mit O. Dibelius vom 10.1.46, in: UA der HUB, H 216, Bl. 50. In einer schriftlichen Aussage vor britischen Intelligence Officers vom Juli 1947 äußerte sich Dibelius gemäßigter zur Person Hempels: „Die jetzige Leitung der Evangelischen Kirche hat grundsätzlich den Standpunkt einnehmen müssen, dass hervorragende Vertreter dieser Thüringer Deutschen Christen nicht mehr geeignet sind, im Dienst der Kirche zu wirken. Den Vertretern der alttestamentlichen Wissenschaft wird man insofern mildernde Umstände zubilligen müssen, als sie wegen ihres Faches besonderen Angriffen der Nationalsozialisten ausgesetzt waren und infolge dessen in der Versuchung standen, sich durch eine besondere nationalsozialistische Haltung ein Alibi zu schaffen. Es ist auch zuzugeben, dass Prof. Hempel als Gelehrter einen internationalen Ruf geniesst. Er ist gegenwärtig der einzige deutsche Alttestamentler, von dem das gesagt werden kann." (O. Dibelius am 7.7.1947, Abschrift in: NStA, 3 Nds 92/1 Nr. 37418).

5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität

(1947-1964)

163

Der Dekan riet daraufhin, den Antrag auf Wiederaufnahme zunächst für ein halbes Jahr ruhen zu lassen. In diesen Monaten beantragte Eltester für Hempel einen Forschungsauftrag 455 . Im Gegensatz zu seinem Kollegen Johannes Behm wurde ihm ein solcher Auftrag jedoch verweigert. Eltester versuchte, es folgendermaßen zu erklären: „Aber gerade für Ihre Person wollte der Rektor nicht heran, um Sie nicht von vorneherein zu belasten, weil eben diese Forschungsaufträge nur an nicht wieder zugelassene Dozenten vergeben werden. Sie mögen aus dieser Tatsache wenigstens den Trost schöpfen, dass der Rektor Ihren Fall nicht für aussichtslos hält" 456 . Doch auch ein halbes Jahr später konnte Eltester bei der Kirchenleitung und beim Universitätsrektor nichts erreichen: „Ich habe sekundiert von dem Rektor Ihre Bedeutung als Vertreter der Wissenschaft und Ihren internationalen anerkannten Ruf hervorgehoben, habe aber damit nicht den Widerstand der politischen und kirchlichen Instanzen überwinden können. Auch innerhalb unserer Fakultät ist eine namhafte Minorität geneigt, Ihre Rückkehr für unmöglich zu erklären, doch bin ich immerhin von der Majorität ermächtigt worden, Ihnen zu erklären, dass die Fakultät noch einmal bei einer sich bietenden günstigen Gelegenheit zu Ihren Gunsten eintreten wird. Vorläufig aber ist, wie ich sagen muss, der Sturm abgeschlagen." 457

Selbst der Berliner Generalsuperintendent Friedrich Wilhelm Krummacher konnte Hempel die Rückkehr in ein universitäres Lehramt nicht ermöglichen. Deshalb riet er ihm, da „kein geeigneter Lehrstuhl hier vorhanden" sei, sich um ein festes Pfarramt zu bemühen 458 . Hempel zog gegenüber Eltester schließlich resigniert Resümee: „Rebus in standibus muß ich mit der Möglichkeit rechnen, daß böswilliger Klatsch genügt hat, mir die Fortsetzung meines wissenschaftlichen Lebenswerkes von der Kirche her, der ich weit über das geforderte Maß hinaus mit meiner Kraft gedient habe - ich erinnere nur an 10jährige Arbeit an der Bibelrevision - zu zerschlagen." 459 Um seine Familie ernähren zu können, übersetzte Hempel zwischen 1946 und 1947 im Auftrag der Westfälischen Landeskirche theologische Literatur aus dem Englischen 460 . Seine Familie hatte den Krieg überlebt, der älteste Sohn war für vier Jahre als Soldat im Osten gewesen, während Hempels Frau und die beiden jüngeren Kinder im Mai 1945 von Berlin gen Westen fliehen

455

Aktennotiz W. Eltester vom 11.3.46, in: UA der HUB, H 216, Bl. 57. W. Eltester an J. Hempel vom 29.3.46, in: UA der HUB, H 216, Bl. 58. 457 W. Eltester an J. Hempel vom 2.10.46, in: UA der HUB, H 216, Bl. 62. 458 F.-W. Krummacher an J. Hempel vom 14.2.48, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 456

459

J. Hempel an Spektabilität vom 20.2.48, in: UA der HUB, H 216, Bl. 67R. Entnazifizierungsbogen J. Hempel, S. 4, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48 und J. Hempel an A. Soederblom vom 24.4.1946, in: UUB, Anna Söderblom arkiv, brevsamling. 460

164

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

mußten461. Das Berliner Domizil der Familie und der wissenschaftliche Apparat Hempels mit seinen Büchern, Manuskripten und Sammlungen war 1944 durch Bomben restlos zerstört worden 462 . Neben den Übersetzungsarbeiten hielt Hempel mit Genehmigung der Militärbehörde in Aurich Vorträge im Volksbildungswerk Norden zum Thema Hauptepochen menschlicher Kulturgeschichte463. b)

Entnazifizierungsverfahren

In dieser Zeit bemühte sich Hempel auch, eine Anstellung als Religionslehrer zu erhalten. Voraussetzung für die Übernahme in den Schuldienst war die Überprüfung seiner Person durch die Besatzungsbehörden und durch den staatlichen Entnazifizierungsausschuß 464 . Der deutsche EntnazifizierungsHauptausschuß in Aurich verweigerte Hempel zunächst die Betätigung als Religionslehrer. In der Begründung wurde auf die fördernde Mitgliedschaft bei der SS, die Hempel für ein halbes Jahr innegehabt hatte465, und auf seine zwölfjährige Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen verwiesen. Hempel legte gegen diese Entscheidung Berufung ein. Diesem gab der deutsche Entnazifizierungs-Berufungsausschuß in Aurich auch statt. Die englischen Behörden schlössen sich dem Urteil der deutschen Behörden zunächst nicht an, unterstützten jedoch im Mai 1947 - nach Beratungen des Berufungskomitees (Regional Appeals Advisory Commitee) - das Urteil des deutschen Berufungsausschusses 466 . So erhielt Hempel im Juni 1947 die Erlaubnis, als Reli461

J. Hempel an A. Soederblom vom 24.4.1946, in: UUB, A. Söderblom arkiv, brevsam-

ling. 462 Entnazifizierungsbogen J. Hempel, S.10, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Vgl. auch Dekan Käsemann an Niedersächsischen Kultusminister vom 8.10.1954, in: UAG, ThFak Nr. 12, und Hempel an A. Söderblom vom 24.4.1946, in: UUB, A. Söderblom arkiv, brevsamling. 463 Entnazifizierungsbogen (ausgefüllt am 13.9.1946, ergänzt am 8.11.1949), beigelegte Liste der Veröffentlichungen, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. 464 Zu den Entnazifizierungsverfahren durch die Besatzungsmächte s. THIERFELDER, Die Kirchenpolitik; VOLLNHALS, Entnazifizierung; DERS., Evangelische Kirche und DERS., Die Hypothek. Die genannten Untersuchungen beziehen sich hauptsächlich auf die Entnazifizierung im kirchlichen Raum bzw. die Reaktionen kirchlicher Vertreter auf das Vorgehen der Besatzungsbehörden (hierzu auch STERN, Evangelische Kirche). Zu den Entnazifizierungsverfahren von Hochschullehrern s. SCHNEIDER, Zur Entnazifizierung, und ERICKSEN, Religion, der u.a. die Entnazifizierungsverfahren der Göttinger Professoren E. Hirsch, W. Birnbaum und E. Mattiat darstellt. 465 Von Febr.-Sept. 1934 (Entnazifizierungsbogen [ausgefüllt am 15.7.1947], S. 6, in: VA de Gruyter, ZAW 1946^18). 466 A. F. Thompson, Deputy Inspector General. Public Safety, Hannover, an den Minister für die Entnazifizierung, Hannover, vom 14.5.1948, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. Mit seinem Brief leitet Thompson die Wiederaufnahme des Falls Hempel durch die deutschen Entnazifizierungsstellen ein. Denn inzwischen hätten die englischen Behörden „gewisse an-

5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität

(1947-1964)

165

gionslehrer zu arbeiten467. Im Sommer 1948 wurde das Verfahren auf Drängen der englischen Behörden jedoch erneut aufgenommen und den deutschen Entnazifizierungsbehörden zugestellt. Der Überprüfungsausschuß bestätigte die schon 1947 ausgesprochene Entnazifizierung468. Inzwischen hatte Hempel Arbeit in der Braunschweigischen Landeskirche gefunden 469 . Nach seiner Genesung und Entlassung aus dem Lazarett im März 1947 hatte er sich der braunschweigischen Landeskirche zur Verfügung gestellt 470 . Hier wurde er zunächst zu einzelnen Dienstleistungen herangezogen und sollte aus Geldern von Kirchenkollekten bezahlt werden471. Um eine ordentliche Anstellung als Pfarrer bewarb sich Hempel mehrere Male beim Landeskirchenamt in Wolfenbüttel. Voraussetzung für eine Übernahme in den kirchlichen Dienst war jedoch die Zustimmung der landeskirchlichen Spruchkammer. So wurde das kirchliche Entnazifizierungsverfahren vor der Spruchkammer der braunschweigischen Landeskirche 472 eröffnet und im November 1948 „trotz mancherlei Bedenken 473 (...) die grundsätzliche Anstellung des früheren Universitätsprofessors D. Hempel als Pfarrer der braunschweigischen Landeskirche"474 freigegeben: „Die Bedingungen für die Einstellung sind folgende: 1) Der Genannte ist von einem städtischen Pfarramt bis auf Weiteres auszuschließen. Gegen eine Verwendung im Pfarramt ländlicher Art, wo er seinen wissenschaftlichen Studien obliegen kann, bestehen keine Bedenken. dere Informationen erhalten (...), die eine weitere Prüfung des Falles angebracht erscheinen lassen". Bei Interviews durch Intelligence Officers in Berlin gaben Prof. Eltester, Prof. Rost und Herr Dr. Meyer und seine Frau an, daß „Hempel den Nazis sehr freundlich gesinnt (war) und (...) ihnen gegenüber eine sympathisierende und mitarbeitende Einstellung zum Ausdruck" brachte (ebd.). Zum Verhältnis zwischen den britischen Militärbehörden und den deutschen Entnazifizierungsausschüssen s. SCHNEIDER, aaO. 333f. 461 Englische Entnazifizierungsbescheinigung vom 21.6.47, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 468 J. Hempel an LKA Wolfenbüttel vom 10.8.48, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 469 Hempel hatte sich auch in der hannoverschen Landeskirche um Aufnahme bemüht. Sein Antrag war dort jedoch abgelehnt worden. S. hierzu W. Eltester an J. Hempel vom 29.3.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 58. 470 W. Rehbock vom 20.7.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. 471 Schreiben an Hempel vom 5.12.46, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 472 Zu den Entnazifizierungsverfahren im Bereich der Braunschweigischen Landeskirche s. POLLMANN, Die Entnazifizierung. Hier auch zur Errichtung der landeskirchlichen Spruchkammer innerhalb der braunschweigischen Landeskirche(aaO. 47f.). 473 Hier wird seine Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen und seine Mitarbeit im Grundmann-Institut (in dem Brief der Landeskirchlichen Spruchkammer irrtümlich als ,Institutum Judaicum' bezeichnet) angeführt. 474 Landeskirchliche Spruchkammer, Buttler (Vorsitzender der Spruchkammer der braunschweigischen Landeskirche), an Niedersächsischen Minister für Entnazifizierung, Hannover, vom 22.11.1948, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. Zu Hans Buttler s. POLLMANN, aaO. 48f.

166

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

2) Von der Führung eines Aufsichtsamtes ist der Genannte auf mindestens 6 Jahre auszuschließen. 3) Infolge der schweren Belastung konnte die Spruchkammer nur auf Kategorie III 4 7 5 mit Beschäftigung anerkennen." 476

Der Ausschluß Hempels von einer Beförderung innerhalb der Kirche wurde im September 1949 durch den Hauptausschuß für die Entnazifizierung innerhalb der Braunschweigischen Landeskirche bestätigt 477 . Der schriftliche Entnazifizierungsbescheid stufte ihn als früheren Nazi-Aktivisten (Kategorie IV 478 ) ein, unter Betonung der Tatsache, daß der Bescheid nur für den Raum der Braunschweigischen Landeskirche, nicht jedoch für die Tätigkeit an deutschen Universitäten gelte 479 . In der beiliegenden Urteilsbegründung heißt es: „Pfarrverweser Hempel war zwar nicht Mitglied der Partei, aber führendes Mitglied der deutschen Christen von 1935 bis 1945. (...) Durch seine Mitarbeit am Institutum Judaicum hat er der Partei für ihren Kampf für den Antisemitismus das wissenschaftliche Rüstzeug gegeben und somit den Nationalsozialismus ohne Zweifel gefördert. Die von dem Genannten eingereichten Zeugnisse haben jedoch erkennen lassen, daß der Betroffene kein Nutznießer des Nationalsozialismus gewesen ist. (...) Der Genannte hat somit den Nationalsozialismus unterstützt, ohne daß eine wesentliche Förderung vorliegt." 480

Da er außerdem nicht gegen den Auftrag der Kirche verstoßen habe, sondern „stets für das Bekenntnis des gekreuzigten und auferstandenen Herrn eingetreten" sei, sprach sich die Spruchkammer für eine weitere Beschäftigung aus 481 . Hempel selbst beantragte nach dem kirchlichen Urteil im November 1949 die Entnazifizierung bei den allgemeinen Entnazifizierungsbehörden482. Diese

475

Kategorie III der Entnazifizierungskategorien stufte Hempel als ,minderbelastet' ein. Zu den Kategorien vgl. u.a. SCHNEIDER, aaO. 335. 476 Landeskirchliche Spruchkammer an Oberkirchenrat Röpke vom 22.11.48, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 477 Abschrift des Urteils vom 19.9.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. Vgl. auch Dr. Herbst (Öffentlicher Kläger) an Braunschweigischen Landesbischof vom 22.12.49, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 478 Zur Einordnung Hempels in Kategorie IV s. auch die Liste der politisch überprüften Pfarrer seit dem öffentlichen Kläger (1.10.1948), in: LKA Braunschweig, Entnazifizierungsakten 2. 479 Entnazifizierungsentscheidung im schriftlichen Verfahren, gez. Buttler, am 6.5.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. 480 Abschrift des Urteils und der Begründung vom 19.9.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. 481 Abschrift des Urteils und der Begründung vom 19.9.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. 482 J. Hempel an Dr. Spott (Hauptkläger beim Entnazifizierungshauptausschuß, Braunschweig) vom 8.11.1949 und Dr. Spott an Öffentlichen Kläger beim Hauptausschuß für die braunschweigische Landeskirche vom 11.11.1949, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418.

5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität

(1947-1964)

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b e s c h e i n i g t e n i h m i m Januar 1950, daß er „ v o m Entnazifizierungsrecht nicht betroffen ist" 483 . A l s B e g r ü n d u n g für die A b w e i c h u n g v o m Urteil der kirchlic h e n Entnazifizierungsbehörden wird die ausschließliche Gültigkeit v o n politischen Gesichtspunkten für die Entscheidung angeführt 4 8 4 : „Der Betroffene ist nicht Mitglied der NSDAP oder einer Gliederung gewesen. In der deutschen Christenbewegung hat er kein Amt innegehabt. Betroffen ist nur derjenige, der der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen angehört hat oder den Nationalsozialismus gefördert und unterstützt hat". Nach der Aktenlage habe „sich der Betroffene nie irgendwo politisch, sondern immer nur wissenschaftlich betätigt". Aus diesem Grund schließt die interne Urteilsbegründung mit den Sätzen: „Prof. Hempel ist daher als ,Nichtbetroffen' zu kategorisieren, mag er für die seelsorgerliche Tätigkeit auch als belastet gelten. Das Ergebnis ist auch zutreffend, da vom hiesigen Standpunkt aus Prof. Hempel die Möglichkeit, seinen internationalen Weltruf als Wissenschaftler weiter zu festigen, nicht genommen werden kann." 485 D i e Rückkehr in den universitären Wissenschaftsbetrieb blieb H e m p e l j e d o c h n o c h für e i n i g e w e i t e r e Jahre versagt 4 8 6 . S o w i d m e t e er sich zunächst d e m k i r c h l i c h e n D i e n s t , der i h m durch die o f f i z i e l l e A u f n a h m e in d i e Brauns c h w e i g i s c h e Landeskirche ermöglicht worden war. c) Pfarrdienst

in Salzgitter-Lebenstedt

(1949-1957)

Mit der E i n s t u f u n g durch die kirchlichen Entnazifizierungsbehörden in die K a t e g o r i e III mit B e s c h ä f t i g u n g , die später auf Kategorie I V zurückgestuft wurde, konnte H e m p e l ein ordentliches Pfarramt übernehmen. A m 9. Februar 1 9 4 9 b e g a n n er mit s e i n e m D i e n s t auf der Pfarrstelle in Salzgitter-Lebenstedt II 4 8 7 . D i e G e m e i n d e in Gebhardshagen, in der H e m p e l fast z w e i Jahre vertret u n g s w e i s e und mit B e s c h ä f t i g u n g s a u f t r a g gearbeitet hatte 4 8 8 , b e m ü h t e sich v e r g e b l i c h , ihn in ihrer G e m e i n d e zu halten u n d zu d i e s e m Z w e c k d i e Dienstleistungsstelle in ein ordentliches Pfarramt umändern zu lassen: 48:1

Bescheid durch öffentlichen Kläger beim Entnazifizierungshauptausschuß im Verwaltungsbezirk Braunschweig, Kopp, vom 23.1.1950, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. Zur Übertragung der Verantwortung für die Entnazifizierung von den britischen auf die deutschen Behörden 1947/48 s. BESIER, Evangelische Kirche, 267 und JACOBMEYER, handover. 484 Zur Unterscheidung der kirchlichen und der staatlichen Entnazifizierungsverfahren, die mit den Stichworten .Selbstreinigung' im kirchlichen Bereich bzw. .Entnazifizierung' im politischen Bereich umschrieben werden können, s. VÖLLNHALS, Entnazifizierung. 485 Dr. Spott, Aktenvermerk vom 5.1.1950, in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418. 486 Hempel scheint jedoch mehrere Anfragen von Universitäten erhalten zu haben. Vgl. hierzu W. Rehbock an Dr. Nullmeyer (Rechtsreferent des niedersächsischen Entnazifizierungsreferates) vom 20.7.1949 (in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418): „Heidelberg und Münster haben ihm eine Professur in jüngster Zeit angeboten. Weil sein Entnaz. Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, konnte H. den Rufen nicht folgen. Jetzt liegt auf seinem Schreibtisch ein verlockendes Angebot aus Kanada." (Zu Nullmeyer s. JACOBMEYER, aaO. 477). 487 Schreiben vom 19.2.49, in: LKA Braunschweig, Personalakte J. Hempel. 488 Vgl. Entnazifizierungsbogen Hempels in: NStA, 3 Nds 92/1, Nr. 37418.

168

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

„Herr Professor D. Dr. Hempel ist vor 1 1/2 Jahren vom Landeskirchenamt zur Dienstleistung nach Gebhardshagen beordert worden. Er amtiert seit dieser Zeit in dieser Siedlung u. hat sich nicht nur eine weitgehende Kenntnis dieses Bezirkes, sondern auch das Vertrauen seiner Gemeindeglieder erworben. Um der Stetigkeit der Gemeindearbeit willen scheint es dem Kirchenvorstand nicht richtig, Herrn Professor Hempel jetzt aus dieser Arbeit zu berufen." 4 8 9 D a s Landeskirchenamt versetzte ihn j e d o c h nach Salzgitter-Lebenstedt. Dort b l i e b er bis 1 9 5 7 als Pfarrer tätig 4 9 0 . Walther Zimmerli schrieb nachträglich über die Zeit seines Doktorvaters im Gemeindepfarramt: „Bis zum Jahre 1958 hat HEMPEL in der Gemeindearbeit gestanden. Mit der ihm eigenen Energie hat er, der sich ja immer auch in seinem wissenschaftlichen Arbeiten als Theologe gewußt hatte, sich in diese Arbeit hineingegeben. Wer, wie der Sprechende, Zeuge der Einweihung der durch seine Energie gebauten Martin-Luther-Kirche in Salzgitter-Lebenstedt mitten in dem zuvor kirchlich unstrukturierten, durch Demontagen betroffenen Industriegebiet - hat sein können und dort die Hochachtung der Männer dieser Gemeinde vor der Arbeit ihres Pfarrers aus deren Worten hat klingen hören, der beugt sich ehrerbietig, auch wo er zuvor den politischen Wegen seines Lehrers nicht hatte folgen können, vor der demütigen Treue, die hier in Armut und Not Menschen Dienst zu tun versucht hat." 491 d) Honorarprofessur

(1955)

und Emeritierung

(1958)

in

Göttingen

Trotz der A u f g a b e n , die er als Gemeindepfarrer zu bewältigen hatte, w i d m e t e sich H e m p e l auch weiterhin der alttestamentlichen W i s s e n s c h a f t . N o c h i m Lazarett ( 1 9 4 6 / 4 7 ) entstand sein B u c h Worte der Propheten, das er o h n e j e g l i c h e Hilfsmittel schreiben mußte 4 9 2 . Er veröffentlichte weiterhin Artikel in v e r s c h i e d e n e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n Organen 4 9 3 und b l i e b bis 1 9 5 9 selbst i m Herausgeberkreis der Z A W tätig 4 9 4 . O b w o h l i m m e r wieder bestätigt wird, w i e sehr er sich als Pfarrer für seine G e m e i n d e einsetzte, war e s d o c h sein eigentlicher W u n s c h , w i e d e r an die Universität zurückzukehren. N a c h d e m i h m dieser W e g in den Nachkriegsjah-

489

Brief vom 13.12.48, in: LKA Braunschweig, Gebhardshagen Pfairbestellung I. 1952 beschreibt Hempel die Situation im Salzgittergebiet: „Wer in unserem Demontagegebiet an der Zonengrenze lebt, (...) weiß um das Fragen nach einer Gottesgerechtigkeit in Arbeitslosigkeit, Wohnungselend und Verlust der Heimat, das mit dem Hinweis auf Schuldfragen nicht mehr zu bewältigen ist" (DERS., Das Alte Testament im Religionsunterricht, 326). Zur Einweihung der Martin-Luther-Kirche in Lebenstedt s. DERS., Also hat Gott. 491 ZIMMERLI, Johannes Hempel, VIII. Zum Engagement seiner Frau für das Salzgittergebiet und im Stadtrat s. HEMPEL, In memoriam, 1 lf. 492 HEMPEL, Worte. Vgl. hierzu ZIMMERLI, aaO. IXf. 493 Vgl. hierzu die Bibliographie in ThLZ 87 (1962) 395-398. Im April 1955 nahm HEMPEL an dem internationalen Kongreß für Religionsgeschichte in Rom teil und hielt dort einen Vortrag zu Herrschaftsform und Ichbewußtsein (abgedruckt im Tagungsband: La Regalita Sacra). 494 S. unten 192. 490

5. Pfarramt und Rückkehr an die Universität

(1947-1964)

169

ren zunächst versperrt blieb, bot sich die Möglichkeit schließlich an der Theologischen Fakultät in Göttingen. Dort wurde 1954 ein Extraordinariat für Altes Testament eingerichtet. Die Theologische Fakultät beantragte beim Kultusministerium, das Ordinariat Hempel in der Stellung eines entpflichteten Hochschullehrers zuzuerkennen. In der Begründung für den Antrag führte der damalige Dekan Ernst Käsemann die wissenschaftlichen Leistungen Hempels und vor allem sein internationales Ansehen an. Käsemann war sich bewußt, daß Hempel die wissenschaftliche Arbeit durch die Belastungen im Pfarramt sehr erschwert werde. Deshalb forderte er, daß ihm durch eine Berufung als Emeritus die Rückkehr an die Universität ermöglicht werde. Denn, so Käsemann weiter: „Angesichts des durch die Zeitereignisse stark reduzierten Bestandes alttestamentlicher Forscher (könne es sich) die deutsche alttestamentliche Wissenschaft (...) nicht leisten, seine (sc. Hempels) Kraft ungenutzt liegen zu lassen." 495 Die Verhandlungen über eine mögliche Emeritierung zogen sich jedoch noch einige Jahre hin. Inzwischen ernannte man ihn zum Honorarprofessor der Göttinger Georg August-Universität und beauftragte ihn, mit dem Sommersemester 1955 an der Theologischen Fakultät das Fachgebiet „, Altorientalische Religionsgeschichte' in Vorlesungen und Übungen zu vertreten" 496 . In dieser Zeit übte Hempel in Lebenstedt weiterhin sein Pfarramt aus und wurde dort durch einen Vikar unterstützt497. Allerdings konnte er die Doppelbelastung auf Dauer gesundheitlich nicht mehr tragen und bat deshalb im Januar 1957 um die Entlassung aus dem Pfarrdienst498. Schließlich wurde dem Antrag der Theologischen Fakultät, Hempel zu emeritieren, vom Kultusministerium 1958 stattgegeben 499 . Hempel zog daraufhin alleine nach Göttingen, nachdem seine Frau 1956 verstorben war500, und bot an der Theologischen Fakultät verschiedene Veranstaltungen an. Nach Auskunft von Manfred Weippert, der in diesen Jahren als wissenschaftliche Hilfskraft für Hempel arbeitete, fand sich hier ein kleiner, aber interessierter Kreis von Studierenden zusammen 501 . Soweit es seine angegriffene Gesundheit erlaubte, nahm Hempel auch wieder an den Fakultätsgeschäften teil, organisierte Gastvorlesungen, leitete 1961 die alttestamentliche Sektion des Deutschen Orientalistentages in Göttingen und veröffentlichte einige Aufsätze. Als Festgabe zu seinem 70sten Geburts495 496

E. Käsemann an Niedersächsischen Kultusminister v. 8.10.54, in: UAG, ThFak Nr. 12.

Niedersächsischer Kultusminister an J. Hempel vom 24.3.55, in: UAG, ThFak Nr. 12. LKA Braunschweig an Kollegiaten Nebel vom März 1955, in: UAG, ThFak Nr. 12. 498 J. Hempel an LKA Braunschweig vom 28.1.57, in: LKA Braunschweig, Personalakte Hempel. 499 Niedersächsischer Kultusminister an J. Hempel vom 27.6.58, in: UAG, ThFak Nr. 12. 500 S. HEMPEL, In memoriam. 501 Gespräch der Verf. mit Professor Weippert im Nov. 1993 in Heidelberg. 497

170

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

tag g a b der Herausgeberkreis der Z A W unter d e m Titel Apoxysmata eine S a m m l u n g seiner Aufsätze heraus. D e r Sammelband trägt den Untertitel V o r arbeiten z u e i n e r R e l i g i o n s g e s c h i c h t e u n d T h e o l o g i e d e s A l t e n Testaments'502. D e n n o c h bedeutete seine Rückkehr an die Göttinger Fakultät nicht das Ende der S c h w i e r i g k e i t e n , die sich aus s e i n e m Verhalten während d e s Dritten R e i c h s ergaben. H e m p e l z e i g t e sich sehr gekränkt, als die Fakultät i h m eine Ehrung in F o r m einer tabula gratulatoria zu s e i n e m 7 0 s t e n Geburtstag verweigerte 5 0 3 : „Ich habe es gut verstanden, daß der Order, nachdem er ein Jahrzehnt und mehr gegen meine Wiedereingliederung gekämpft hat, sich jetzt nicht in der Form einer tabula gratulatoria äußern konnte. (...) Immerhin erleichtert mir diese Tatsache den Entschluß, (...) meine Teilnahme an den Fakultätsgeschäften nunmehr einzustellen. Vor allem die letzte Sitzung, an der ich teilnahm, stellte in der Schroffheit gewisser Stellungnahmen eine nervöse Belastung dar, der ich leider nicht mehr ohne Schaden gewachsen bin." 504 A u c h die Erneuerung seines Doktordiploms, w i e es z u m 50jährigen Jubiläum ü b l i c h g e w e s e n wäre, wurde H e m p e l zunächst verweigert. D e r D e k a n der Leipziger Fakultät begründete die Ablehnung: „Die Fakultät sieht sich leider außerstande, anläßlich des 50-jährigen Doktor-Jubiläums Herrn Prof. D. Dr. Hempel das Diplom zu erneuern, da er sich in der Nazizeit in einer Weise verhalten hat, die uns eine Ehrung nicht ratsam erscheinen läßt. Aus einer gutachterlichen Äußerung wurde entnommen, daß er 1945 seinen Lehrstuhl in Berlin im Zuge der Entnazifizierung aufgeben mußte. Er hat sich u.a. besonders durch seine militaristischen Äußerungen in der .Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft' während des Krieges, besonders im Ausland, unbeliebt gemacht, so daß er nach dem Kriege als Herausgeber dieser Zeitschrift nicht mehr tragbar war. Aufgrund dieser Tatsache hat der Rat der Fakultät beschlossen, von der Erneuerung des Doktor-Diploms für Herrn Prof. D. Dr. Hempel Abstand zu nehmen." 505 I m D e z e m b e r 1 9 6 4 entschloß sich die Leipziger Fakultät aber doch, das D i p l o m v o n 1 9 1 4 zu erneuern 5 0 6 . H e m p e l erfuhr noch v o n dieser auf schwierig e n W e g e n z u s t a n d e g e k o m m e n e n Ehrung 5 0 7 . Einen T a g nach der o f f i z i e l l e n

502

HEMPEL, Apoxysmata, I. In der ThLZ 87 ([1962] 365ff.) erschien zu Hempels 70sten Geburtstag eine Bibliographie seiner Werke von 1951 an, jedoch keine tabula gratulatoria, wie sie für andere Kollegen im gleichen Heft abgedruckt ist. 504 J. Hempel an Dekan vom 4.8.61, in: UAG, ThFak Nr. 12. 505 Dekan Steinmetz (Leipzig) an Dekan Andresen (Göttingen) vom 15.4.64, in: UAG, ThFak Nr. 12. 506 Dekan Steinmetz an J. Hempel vom 8.12.1964, in: UAG, ThFak Nr. 12. 507 So die Auskunft seines Sohnes im Gespräch mit der Verf. am 6.9.1998. 503

6. Hempel als Herausgeber der ZAW (1927-1959)

171

A u s s t e l l u n g der U r k u n d e in L e i p z i g , a m 9 . 1 2 . 1 9 6 4 , verstarb er in Göttingen 5 0 8 .

6. Hempel als Herausgeber der ZAW (1927-1959) Ü b e r drei Jahrzehnte h i n w e g hatte sich H e m p e l als Herausgeber der Z A W national w i e international einen N a m e n erworben. 1927 übertrug man ihm die .Zeitschrift für die alttestamentliche W i s s e n s c h a f t und die K u n d e des nachbib l i s c h e n J u d e n t u m s ' . H u g o Greßmann, der auf einer Vortragsreise in den U S A 5 0 9 a m 7. April 1927 verstorben war, hatte ihn zu s e i n e m N a c h f o l g e r bestimmt 5 1 0 . D a m i t übernahm H e m p e l diejenige Zeitschrift, die zu jener Zeit innerhalb der nationalen w i e internationalen alttestamentlichen W i s s e n s c h a f t führend war, und begleitete diese als Herausgeber bis 1959 5 1 1 . a) Zur Geschichte a) Die Anfänge

der - Stades

ZAW Zeitschrift

Im Jahre 1881 erschien der erste B a n d der ,Zeitschrift für die Alttestamentliche W i s s e n s c h a f t ' unter der Herausgeberschaft des Gießener Alttestamentiers Bernhard Stade ( 1 8 4 8 - 1 9 0 6 ) 5 1 2 . Erst w e n i g e Jahre zuvor hatte Julius W e l l hausen seine Geschichte Israels513 veröffentlicht, in der er die Quellenkritik zu einer Geschichte der israelitischen Religion weiterentwickelt und in d i e s e m 508

An einigen wenigen Stellen formuliert HEMPEL in seinen Nachkriegsschriften , Schuldgeständnisse', die sich allerdings nicht auf seine Person, sondern auf das Verhalten Deutschlands im Dritten Reich beziehen: DERS., Das Alte Testament im Religionsunterricht, 326; Unterwegs, 16.22f. Anders in seinem persönlichen Rundbrief vom 10.4.1963. Hier spricht er explizit von der persönlichen Schuld, „daß ich zu einer Zeit, als die Schleier gefallen waren, nicht die innere Entschlußkraft gefunden habe, mich von dem, was ich nun als Irrtum erkennen muß und damals hätte erkennen können, zu lösen". Bezüge zu der Zeit des Dritten Reichs finden sich auch in DERS., 1848-1948, 281 und DERS., Geschichten und Geschichte, 97.230. 509

Vgl. SMEND, Die älteren Herausgeber, 15. So HEMPEL in seinen Gedächtnisworten auf Greßmann, XXIII. Vergleichbar mit der Aufnahme in die Kommission der Bibelrevision (vgl. oben 104ff.) zeigt die Übergabe der Herausgeberschaft an Hempel deutlich die wissenschaftliche Anerkennung, die er bereits in jenen Jahren genoß. 511 Zu den folgenden Ausführungen s. auch C. WEBER, Die Zeitschrift. 512 Zu Bernhard Stade s. VON GALL, Bernhard Stade; GUNKEL, Bernhard Stade; KRAUS, Geschichte, 283-288; SMEND, Die älteren Herausgeber, 2 - 5 und DERS., Deutsche Alttestamentler, 129-142. 513 WELLHAUSEN hatte diesen Band ursprünglich als ersten Band einer zweiteiligen Geschichte Israels geschrieben und 1878 zunächst als .Geschichte Israels in zwei Bänden. Erster Band' (1878), veröffentlicht. Die zweite Auflage trug den Titel: Prolegomena zur Geschichte Israels. 2. Auflage der Geschichte Israels (1883). Vgl. hierzu SMEND, Julius Wellhausen und 510

KRAUS, a a O . 2 6 0 - 2 6 9 .

172

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Zusammenhang die Priesterschrift als jüngste Pentateuchquelle datiert hatte. Die alttestamentliche Wissenschaft erhielt mit Wellhausens Thesen eine völlig neue Ausrichtung: Die bisherige konservative Orientierung an der biblischen Schilderung hatte ihre Berechtigung für die Darstellung der Geschichte Israels verloren. Stade, selbst Weggefährte Wellhausens, gab mit der ZAW quellenkritischen Untersuchungen alttestamentlicher Texte ein Publikationsforum 514 . Die Zeitschrift nahm damit von Anbeginn an der neuen Entwicklung teil, die mit den Thesen Wellhausens eingeläutet worden war. Nach Stades Tod im Jahre 1906 übernahm der in Bern lehrende Karl Marti (1855-1925) die Herausgeberschaft und hatte diese für 18 Jahre inne 515 . Marti konnte die Zeitschrift durch die Zeit des Ersten Weltkriegs hindurchführen, mußte jedoch erhebliche Einbußen „an Umfang und an Gehalt" 516 hinnehmen. Diese bewegten ihn schließlich zum Rücktritt als Herausgeber517. Das Erscheinen des hundertsten Heftes im Jahre 1921 nahm Marti zum Anlaß, auf den bisherigen Beitrag der ZAW zum Fortschritt in der alttestamentlichen Wissenschaft zurückzublicken. Seiner Ansicht nach hatte die Zeitschrift von Anbeginn an die durch Wellhausen propagierte historische Auffassung des Alten Testaments zur Grundlage gehabt. Ihr Verdienst läge vor allem in den auf dieser Grundlage basierenden Detailforschungen 518 . So sei die ZAW in den vierzig Jahren seit ihrer Gründung zu einem grundlegenden Organ für die alttestamentliche Wissenschaft geworden: „Die Zeitschrift hat mit solchen Darbietungen den Beweis für ihr Daseinsrecht vollauf erbracht, aber damit auch ihre Unentbehrlichkeit für jeden, der sich um die at. Wissenschaft bemüht, unfraglich erwiesen" 519 . Gleichzeitig gab Marti einen Ausblick auf

514 Vgl. VON GALL, Bernhard Stade, X. Hierzu auch SMEND, Die älteren Herausgeber, 3. GUNKEL (Bernhard Stade, 3f.) schildert, wie Stade als Mitglied der neuen Generation, die mit Wellhausen und anderen nach einem wissenschaftlichen Verständnis des Alten Testaments suchte, seine Arbeit ganz in den Dienst der neuen Schule stellte. 515 Zu Karl Marti vgl. SMEND, aaO. 5 - 8 ; DERS., Deutsche Alttestamentler, 143-147; KUSCHE, Die unterlegene Religion, 27-29; MATHYS, Karl Marti. 516 MARTI, Zur Einführung, 1 und DERS., Zum Wechsel, VI. Marti beschreibt hier die Schwierigkeiten der Zeitschrift durch den kriegsbedingten Rückgang der Abnehmer und durch die gestiegenen Papier- und Druckkosten. Vgl. auch ELSSFELDT in seinem biographisch orientierten Aufsatz: Sechs Jahrzehnte Alttestamentlicher Wissenschaft, 10. Außerordentlich positiv beurteilt BUDDE (Vom Alten Testament, V) die Rolle Maitis als Herausgeber: „(...) der sämtlichen Fachgenossen, über alle sonst trennenden Grenzen hinaus, in der ZATW das gastliche Heim geboten hatte, dazu den Bürger eines neutralen Volkes, dessen Beziehungen zu der ganzen Welt durch den furchtbaren Krieg nicht einen Augenblick unterbrochen gewesen war". 517 MARTI, Zum Wechsel, V. 518 MARTI, Zum hundertsten Heft, 100-107. 519

MARTI, aaO. 104.

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(1927-1959)

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zukünftige Aufgaben der alttestamentlichen Forschung 520 . Denn diese komme mit ihrer grundlegenden Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments und damit letztlich auch für das Christentum 521 „der gesamten Theologie zugute". Den Stimmen, die „das AT und die at. Wissenschaft aus dem theologischen Studienplan streichen wollen"522, trat Marti entschieden entgegen. Gemeinsam mit dem im gleichen Jahrgang der ZAW erscheinenden Vortrag Rudolf Kittels über Die Zukunft der Alttestamentlichen Wissenschaft?23 waren die Worte Maitis Zeichen für eine notwendig gewordene Umorientierung innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft. Die bis dahin fast ausschließlich vollzogene Erschließung alttestamentlicher Texte mit Hilfe literarkritischer Methoden hatte ihre Einseitigkeit offenbart 524 . Um die alttestamentliche Wissenschaft als Bestandteil der Theologie erhalten zu können, bedurfte es einer neuen Schwerpunktsetzung. ß) „ The turning point" - die ZAW unter Hugo Greßmann Als Hugo Greßmann (1877-1927) mit dem Jahrgang 1924 die Zeitschrift übernahm 525 , setzte dieser neue Akzente. Die Intention Martis, die ZAW international und überkonfessionell zu gestalten, führte er weiter 526 . Dennoch veränderte sich die Zeitschrift unter ihrem neuen Herausgeber maßgeblich. Mit Greßmann kam für die ZAW wie auch für die alttestamentliche Wissenschaft überhaupt ein „turning point", wie es der damalige Sekretär der britischen Society for Old Testament Study, Theodore H. Robinson, beschrieb 527 . 520

In seiner Rektoratsrede von 1911 (Stand und Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft in der Gegenwart [1912]), die in Auszügen bei KRAUS (aaO. 314) zitiert wird, nennt Marti zusätzlich den Erweis der Originalität Israels als Aufgabe der alttestamentlichen Wissenschaft. 521 MARTI (aaO. 105f.) zählt hier, neben der allgemeinen Feststellung, drei spezielle Bereiche auf, in denen die christliche Theologie auf die Erkenntnisse der alttestamentlichen Forschung angewiesen sei: in der Frage nach der Eschatologie, nach der Rechtfertigung und nach der Entstehung des Christentums. 522

523

MARTI, a a O . 1 0 7 .

S. oben 55. 524 S. oben 56. 525 Greßmann übernahm die Herausgeberschaft auf Bitten Martis und des Verlegers Alfred Töpelmann. Vgl. hierzu GRESSMANN, Zum Wechsel, VII. Zu Greßmann s. RADE, Hugo Greßmann t ; Gedächtnisworte von Arthur Titius, Theodore H. Robinson, Ernst Sellin und Johannes Hempel in: ZAW 45 (1927) III-XXIV; SMEND, Deutsche Alttestamentler, 173-181. 526 HEMPEL (Rez. zu H. Greßmann, Die Aufgaben der Alttestamentlichen Forschung, 105) hebt hervor, daß schon „die ersten unter seiner Leitung erschienenen Hefte mit ihren Beiträgen aus allen Lagern des In- und Auslandes (...) den ehrlichen Willen, alle Richtungen' und Problemstellungen bis zu den jüngsten, frömmigkeitsgeschichtlichen, zu Worte kommen zu lassen", zeigten. 527 TH. H. ROBINSON, Karl Budde, 301.

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IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

In den wenigen Jahren, in denen Greßmann die Herausgeberschaft innehatte (1924-1927), begann er mit einer Neuen Folge der ZAW, welche die Zeitschrift aus ihrem bisherigen „Dornröschenschlaf 5 2 8 befreite. Er selbst bezeichnete in einem programmatischen Aufsatz die Einführung einer Neuen Folge als „ein mit voller Absicht gewähltes Symbol" 529 , mit dem er die Zeitschrift unter ein von ihm formuliertes Arbeitsprogramm stellte. Die Literarkritik verwies er in ihre Schranken, um dagegen nun die Religionsgeschichte zu ihrem Recht kommen zu lassen: „Auf das literarkritische ist das vorderorientalische Zeitalter gefolgt" 530 . Denn „Israel (ist) ein Teil des vorderen Orients gewesen" 531 . Der Forscher sei deshalb gezwungen, „erst die Welt des alten Orients zu durchwandern, ehe er sich Kanaan und Israel zuwendet" 532 . y) „... und die Kunde des nachbiblischen Judentums " — der erweiterte Name als Programm Mit dem ersten Heft, das unter Greßmanns Herausgeberschaft erschien, wurde auch der Titel der Zeitschrift erweitert: Für zwölf Jahre 533 trug sie nun den Namen Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft und die Kunde des nachbiblischen Judentums'. In dem Aufsatz, mit dem Greßmann sich wie oben dargelegt als Herausgeber einführte, findet sich keine Begründung für die Erweiterung. Den darauffolgenden Jahrgang begann er jedoch mit einem Artikel über die Aufgaben der Wissenschaft des nachbiblischen Judentums. Aus ihm geht hervor, daß eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum für Greßmann Grundvoraussetzung für die Frage nach „Ursprung und Anfänge(n) des Christentums" war534. „Die Religion Israels vor dem babylonischen Exil und die Religion des Judentums nach ihm" bildeten für ihn „trotz aller Verschiedenheit eine Einheit" 535 . Der „religiöse Genius", der das biblische Israel ausgezeichnet habe, erweise sich von Mose an sowohl in Jesus als

528 So Sellin in seiner Gedächtnisrede auf Greßmann, XVII. Sellin spricht davon, daß die Z A W unter Marti immer mehr in einen Dornröschenschlaf gefallen sei. Denn obwohl noch einige gute Artikel erschienen, sei die Zeitschrift in jener Zeit aber nicht mehr Brennpunkt der alttestamentlichen Forschung gewesen. Auch HEMPEL spricht in seinen Gedächtnisworten (Gedächtnisworte, XXI.XXIII) davon, daß Greßmann die ZAW „aus der Zeit des Niederganges" errettet und sie wieder zu der Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft gemacht habe. 529 GRESSMANN, Die Aufgaben der alttestamentlichen Forschung, 1. 530

GRESSMANN, a a O . 8f.

531

GRESSMANN, aaO. 9.

532

GRESSMANN, aaO. 17.

533

Von ZAW 42 (1924) bis einschl. ZAW 53 (1935).

534

GRESSMANN, Die Aufgaben der Wissenschaft, 1. GRESSMANN, aaO. 2.

535

6. Hempel als Herausgeber der ZAW

(1927-1959)

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auch in Persönlichkeiten des orthodoxen Judentums und des „Halbjudentums" wirksam 536 . Mit Betonung der Einheit von biblischem Israel und nachbiblischem Judentum widersprach Greßmann einer lange gepflegten Tradition innerhalb christlicher Theologie, die im Gefolge Wellhausens streng zwischen einem ursprünglich erwählten und vorbildhaften biblischen Israel und einem starren, angeblich ganz von der Herrschaft des Gesetzes geprägten nachbiblischen Judentum schied 537 . Greßmann hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Leitung des ,Institutum Judaicum' an der Berliner Universität übernommen und auch dieses deutlich anders akzentuiert als seine Vorgänger. Mit der Namenserweiterung der ZAW formulierte er ein Programm, das seinem eigenem Wissenschaftsverständnis entsprach: Wer die Urgeschichte des Christentums verstehen wolle, müsse sich mit dem nachbiblischen Judentum beschäftigen. So konnte der Austausch mit jüdischen Wissenschaftlern für das Verständnis der eigenen christlichen Religion fruchtbar werden und besaß zugleich Zeichencharakter für die politische Gegenwart und Geisteshaltung. Insofern sollte die ZAW unter seiner Herausgeberschaft auch der , Kunde des nachbiblischen Judentums' offenstehen. b) Die ZAW unter Hempel Hempel übernahm nach dem Tode Greßmanns im Jahr 1927 die Herausgeberschaft und behielt diese für 32 Jahre inne. Diese Zeit war von heftigen Angriffen gegen das Alte Testament geprägt. Zu den großen Schwierigkeiten, welche die christliche Theologie mit dem alttestamentlichen Teil ihres Kanons hatte, kam die erstarkende völkische Bewegung hinzu, die in ihrer Propagierung des „Deutschen und Artgemäßen" das Alte Testament bekämpfte. Eine Zeitschrift für die Alttestamentliche Wissenschaft' mußte also weiterhin ihr Daseinsrecht gegenüber dem Zeitgeist verteidigen. Hempel war sich dieser Aufgabe und der damit verbundenen Spannungen durchaus bewußt. Für die ZAW hatte er sich deshalb zur Aufgabe gesetzt, sie im Geiste Greßmanns als ein allen Richtungen offenstehendes Organ zu führen, „das die Abzielung auf die Erkenntnis des Waltens Gottes in der Geschichte der Religion Israels nie vermissen läßt" 538 . Ganz im Sinne dessen, wie er auch seine eigene Arbeit am Alten Testament verstand, sollte die ZAW der alttestamentlichen Wissenschaft Raum geben, die „als notwendiges Glied 536 GRESSMANN, aaO. 32. Unter „Halbjudentum" versteht Greßmann denjenigen Teil des Judentums, der sich nach der Zerstörung Jerusalems 70 n.Chr. dem Heidentum zugewandt habe und somit Botschafter des jüdischen Glaubens bei den Heiden geworden sei (vgl. hierzu aaO. 10). 537 Ygj hierzu R. RENDTORFF, The Image und die Dissertation von KUSCHE , Die unterlegene Religion. 538 HEMPEL, Gedächtnisworte, XXII.

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TV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

der Theologie geschichtliche Arbeit leistet und zugleich im Dienste systematischer Wahrheitserkenntnis steht"539. Eine entsprechende Selbstverpflichtungsformel findet sich auch in einem Entwurf zu einem Prospekt, das anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der ZAW im Jahre 1931 erstellt wurde. Auch hier heißt es, es sei Aufgabe der ZAW, „jeder ernsthaften Forschung auf dem Gebiete des Alten Testamentes, seine [sie!] Hilfswissenschaften und seiner Umwelt, unabhängig von jeder konfessionellen oder nationalen Schranke eine Heimstätte zu bereiten, (...) der internationalen Zusammenarbeit zu dienen, in lebendigem Zusammenhang mit den grossen geistigen und theologischen Prägungen aller Konfessionen eine Verengung und Erstarrung der alttestamentlichen Wissenschaft, sowie ihre Isolierung zu bekämpfen." 540

In diesem Sinne wollte Hempel das Erbe Greßmanns bewahren. Nach seinen eigenen Worten, mit denen er 1959 auf seine Zeit als Herausgeber der ZAW zurückblickte, hatte er dieses Versprechen auch eingehalten 541 . Die Möglichkeiten, die sich ihm als Herausgeber der ZAW boten, nahm Hempel offensiv wahr. Bereits mit dem ersten Heft führte er die Rubrik der ,Chronik' ein. Hier bezog er als Herausgeber zu verschiedenen Themen Stellung. Die Funktion, welche die von seinem Vorgänger eingeführten Bemerkungen des Herausgebers' innegehabt hatten, war damit bei weitem überschritten. Hatte Greßmann die Bemerkungen' dazu genutzt, die Leserinnen und Leser der ZAW auf Neuerscheinungen und Ausgrabungsergebnisse aufmerksam zu machen, so gab Hempel in den Chroniken oft auch seinen eigenen Standpunkt zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Entwicklungen sowie zu politischen Vorgängen ausführlich zur Kenntnis542.

539

540

HEMPEL, a a O . X X I I f .

Entwurf für das Jubiläumsprospekt (undat.) in: VA de Gruyter, ZAW 1930-36. 541 HEMPEL (Wechsel, 278f.) schreibt: „Nicht minder dankbar bin ich denen, die mir ihre Kritik an zu .erbaulichen' oder zu .liberalen' Aufsätzen nicht vorenthielten. Daß sich darunter keine Klage über konfessionelle Einseitigkeit der Berichterstattung befand, war mir angesichts meines Versprechens von 1927 eine besondere Freude." 542 So z.B. in der Chronik der ZAW 49 (1931) bes. 151-156, in der Hempel, angehängt an eine kurze Rezension über den Jesaja-Kommentar von Otto Procksch, seine Gedanken zu einer Berechtigung der historischen Exegese auch innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft als theologischer Wissenschaft darlegt. Oder in der Chronik der ZAW 54 (1936) 293-309, in der Hempel in Auseinandersetzung mit Emanuel Hirsch und Wilhelm Vischer seinen eigenen Standpunkt der Beziehung des Christentums zu den alttestamentlichen Texten entwickelt. In der Chronik der ZAW 61 (1945^18) 231f., entschuldigt sich Hempel für seine Äußerungen in der Chronik der ZAW 59 (1942/43), in der er ausdrücklich die nationalsozialistische Regierung in ihrem Kampf gegen das Judentum und gegen England unterstützt hatte (s. unten 188).

6. Hempel als Herausgeber der ZAW

(1927-1959)

III

Mit der ,Chronik' gestaltete Hempel die ZAW zu seiner Zeitschrift. Die vornehme Zurückhaltung, mit der seine Vorgänger ihre Aufgabe als Herausgeber ausgeführt hatten, schien ihm nur bedingt Vorbild gewesen zu sein. c) Die ZAW in der Zeit des Dritten Reichs Hempels Bemühungen, seine wissenschaftliche Arbeit an den alttestamentlichen Texten mit seinem Engagement für die Deutschen Christen und die durch diese vertretene Ideologie zu vereinen, spiegeln sich deutlich in Form und Inhalt wider, mit denen er die ZAW als Herausgeber gestaltete. Die Zeitschrift geriet schließlich in Gefahr, ihre wissenschaftliche Neutralität und internationale Anerkennung zu verlieren. a) Die Namensänderung der ZAW im Jahre 1936 Hatte Greßmann 1924 den Titel der ZAW bewußt um die , Kunde des nachbiblischen Judentums' erweitert, so fällt die rückläufige Reduzierung auf den uns auch heute noch geläufigen Titel in die Zeit von Hempels Herausgeberschaft. Mit dem Jahrgang 1936 erscheint nur noch der Name auf dem Titelblatt, unter dem die ZAW ins Leben gerufen worden war: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft'. Eine Begründung für die Verkürzung des Titels findet sich weder im Jahrgang 1936 noch in einem der folgenden Hefte. Aus den Akten des Walter de Gruyter-Verlages geht hervor, daß die Namensänderung auf Antrag Hempels geschah. In seinem Antwortschreiben bestätigte ihm der Verleger Herbert Cram 543 : „Auf Ihre Anfrage erkläre ich mich einverstanden, dass wir die Zeilen ,und die Kunde des nachbiblischen Judentums' fortlassen, halte es aber für möglich, dass dadurch einzelne Abnehmer abspringen könnten"544. Hempel begründete daraufhin sein Anliegen: „Ich hatte die Frage der Titeländerung mit Rücksicht auf die Notgemeinschaft aufgeworfen, weil ich mich frage, ob der jetzige Text dort vielleicht zu Bedenken Anlaß geben könnte" 545 . Anhaltspunkte für diese Befürchtung habe er allerdings nicht. Deshalb bitte er für den Fall, daß eine wirtschaftliche Schädigung der ZAW durch die Titeländerung zu befürchten sei, diesen Schritt nochmals zu erwägen. Denn: „Ich meinerseits bestehe auf der Aenderung nicht."546

543

Im Jahr 1935 wurde der Verlag Alfred Töpelmann an den Verlag Walter de Gruyter mit Herbert Cram als Verlagsinhaber verkauft. Vgl. hierzu HENZE, Art. Gruyter, Walter de, 295 und H E M P E L , Wechsel, 278f. 544

H. Cram an J. Hempel vom 4.3.1937, in: VA de Gruyter, ZAW 1937-39. J. Hempel an H. Cram vom 8.3.1937, in: VA de Gruyter, ZAW 1937-39. 546 J. Hempel an H. Cram vom 8.3.1937, in: VA de Gruyter, ZAW 1937-39. Der Verlag erhielt den Zuschuß der Forschungsgemeinschaft, wenn auch leicht gekürzt. Vgl. hierzu das Schreiben der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft) an J. Hempel vom 21.5.1937, in: VA de Gruyter, ZAW 1937-39. 545

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IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Vorausgegangen waren finanzielle Schwierigkeiten des Verlages. Da das Erscheinen der ZAW von dem jährlich zu beantragenden Druckkostenzuschuß der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft) abhing 547 und dieser laufend gekürzt wurde, sah sich der Verlag gezwungen, Überlegungen bezüglich einer Fortführung der ZAW anzustellen. Hempel vermutete daraufhin, der Verlag mache „das Weiterbestehen der Zeitschrift von der Haltung der Notgemeinschaft abhängig", und bemühte sich deshalb, die Bedeutung der ZAW zu unterstreichen: „Ein Wegfall der Zeitschrift dürfte aber sowohl aus wissenschaftlichen als aus politischen Gründen keineswegs erfolgen. Ein Aufhören der Zeitschrift würde in kirchlichen Kreisen des Auslandes einen besonders verheerenden Eindruck machen und eine ziemlich fühlbare politische Belastung in sich schließen."548 Der Verlag beteuerte daraufhin sein grundsätzliches Interesse, die ZAW weitererscheinen zu lassen 549 . Dennoch stand die Befürchtung, die Deutsche Forschungsgemeinschaft werde den Druckkostenzuschuß gänzlich streichen, weiterhin im Raum. Hempel versuchte, diesen Schritt durch die Titeländerung zu verhindern. Mit der präventiven Streichung der .Kunde des nachbiblischen Judentums' aus dem Titel sollte vermieden werden, daß die Geldgeber an der Ausrichtung der Zeitschrift Anstoß nähmen und durch Kürzung der Zuwendungen das Erscheinen der ZAW gefährdeten. So ist davon auszugehen, daß die mit Erscheinen des Jahrgangs 1936 vollzogene Titeländerung aufgrund finanzieller Abhängigkeiten des Verlags von den jährlichen Zuwendungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft vollzogen wurde 550 . Der Verlag stimmte dem Vorschlag Hempels, den Titel der Zeitschrift zu ändern, in der Hoffnung zu, Schwierigkeiten von vornherein zu vermeiden. Die Bereitschaft, auf ,die Kunde des nachbiblischen Judentums' als Themengebiet der ZAW zu verzichten, verdeutlicht jedoch, daß Hempel 547 So findet sich in den Verlagsakten zu jedem Jahrgang der ZAW ein Antrag auf Druckkostenzuschuß an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die 1920 mit Sitz in Berlin als ,Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft' gegründet worden war und von 1930 bis 1945 den Namen .Deutsche Forschungsgemeinschaft' geführt hatte. Zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich s. HAMMERSTEIN, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft. 548 J. Hempel an H. Cram vom 2.5.1936, in: VA de Gruyter, ZAW 1930-36. 549 Handschriftlicher Vermerk des Verlags auf dem Brief J. Hempels an H. Cram vom 2.5.1936, in: VA de Gruyter, ZAW 1930-36. 550 HÜBINGER (Kulturprotestantismus, 193) bezeichnet das Verhalten des Verlegers in der Zeit des Dritten Reichs, bezogen auf seine Untersuchung des Mohr-Siebeck-Verlages, als Rückzug auf eine „defensive Geschäftsmaxime". So hatte Oskar SIEBECK 1934 einen Vortrag (Die Aufgabe, I) mit den Worten begonnen: „Ein wissenschaftlicher Verlag ist ein kaufmännisches Unternehmen. Er wird daher auch in Zeiten wirtschaftlicher oder politischer Krisen vor allem nach gesunden kaufmännischen Grundsätzen geführt werden müssen."

6. Hempel als Herausgeber

der ZAW

(1927-1959)

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und der Verlag hierin keinen Schwerpunkt ihrer Arbeit sahen. Die Tatsache, daß man der Leserschaft das Vorgehen mit keinem Wort erläuterte, sondern erstmals 1993 zu diesem Vorgang von Seiten der Herausgeber Stellung genommen wurde 551 , bleibt bemerkenswert. ß) Die Verdrängung jüdischer Wissenschaftler aus der Autorenreihe Die Titelkürzung ist Zeichen dafür, wie auch die ZAW allmählich und von außen vorerst kaum merklich, dem politischen Zeitgeist angeglichen wurde 552 . Dieser Weg läßt sich anhand der Hefte, die in der Zeit des Dritten Reichs erschienen, auch im Hinblick auf Beiträge jüdischer Autoren nachzeichnen. In den dreißiger Jahren vollzog sich eine fortschreitende Verdrängung jüdischer Bibelwissenschaftler aus der Autorenreihe der ZAW: Nachdem in den Jahrgängen 1931 und 1932 jeweils mehrere Beiträge von jüdischen Wissenschaftlern veröffentlicht worden waren, erschienen im Jahrgang 1933 mit den Aufsätzen von Jecheskiel Kaufmann 553 und Elias Auerbach 554 die vorerst letzten größeren Artikel jüdischer Bibelwissenschaftler in der ZAW. Allein eine kurze Abhandlung des späteren Professors für Bibel am Jewish Theological Seminary in New York, Harold Louis Ginsberg 555 , findet sich unter der Rubrik .Mitteilungen' noch in der ZAW von 1937. In der Zeitschriftenschau, die Hugo Greßmann mit dem Jahrgang 1924 eingeführt und ab 1925 in die Rubriken: A. Allgemeine und theologische Zeitschriften B. Archäologische und philologische Zeitschriften C. Jüdische Zeitschriften aufgeteilt hatte, wurden unter Hempels Herausgeberschaft jüdische Zeitschriften nur noch bis einschließlich 1938 erwähnt. Ihr Anteil verringerte sich jedoch im Laufe der Jahre 556 ebenso wie die Vorstellung ausländischer Zeit-

551 Ein Hinweis auf die aufgegebene erweiterte Benennung findet sich erst im Geleitwort der Herausgeber zur Z A W 105 (1993) lf. 552 Nur an wenigen Stellen sticht die Anpassung an den Zeitgeist sofort ins Auge, wie z.B. mit dem Titel des Artikels von WALZ, Die rassenpsychologische Deutung prophetischer Berufungserlebnisse (1942/43). Walz versucht hier, die Unterschiede in den Berufungsberichten Jeremias bzw. Jesajas mit der Zuordnung der Propheten zu verschiedenen Rassen zu begründen. Zu dem Artikel s. KOENEN, Unter dem Dröhnen, 53-55. 553 KAUFMANN, Probleme II. 554 555

AUERBACH, Untersuchungen II.

Zu Harold Louis Ginsberg s. GREENBERG, Art. Ginsberg, 580. CRÜSEMANN (Tendenzen, 99), der Kaufmanns Beitrag 1933 als den vorerst letzten jüdischen Beitrag sieht, scheint diese .Mitteilung' Ginsbergs übersehen zu haben. So auch KUSCHE (aaO. 165), der zudem Kaufmanns Beitrag fälschlicherweise auf das Jahr 1934 datiert. 556 In der ZAW 56 (1938) 165f., werden nur noch sechs jüdische Zeitschriften vorgestellt. Die Verringerung geht natürlich damit einher, daß viele jüdische Zeitschriften und Verlage in

180

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Schriften557. Vom Jahrgang 1939 an fanden jüdische Zeitschriften keine Beachtung mehr 558 . Ausgehend von der Tatsache, daß Hempel in der Nachkriegszeit bald wieder in Kontakt zu jüdischen Kollegen stand 559 , läßt sich von einer Entwicklung sprechen, in der sich Hempel in der Zeit des Dritten Reichs deutlich dem Zeitgeist angepaßt und in diesem Sinne auch die ZAW geführt hatte. Diesen Eindruck bestärken Beobachtungen hinsichtlich seines Verhaltens gegenüber einzelnen jüdischen Autoren. Auch hier veränderte sich der Ton in der Zeit des Dritten Reichs grundlegend: Jecheskiel Kaufmann, der 1928 von Berlin nach Haifa ausgewandert war 560 , führte zu Beginn der 30er Jahre eine längere Korrespondenz mit Johannes Hempel, bevor sein Artikel in der ZAW von 1933 veröffentlicht wurde561. Hempel hatte ein zweites Manuskript, das ihm von Kaufmann zugesandt worden war, mit dem Verweis auf die fehlende Beachtung der neueren Forschungsdiskussion zurückgesandt, gleichzeitig aber ausdrücklich darauf verwiesen, daß dies nicht einer grundsätzlichen Ablehnung der Beiträge gleichkäme 562 . Daß der Aufsatz letztlich erst 1933 erschien, mag an den verzögerten Korrekturen gelegen haben, deren Empfang Hempel erst im Februar 1933 bestätigte 563 . Somit ist davon auszugehen, daß jüdische Bibelwissenschaftler bis Anfang des Jahres 1933 die Möglichkeit besaßen, in der ZAW zu veröffentlichen 564 , und Hempel als Herausgeber der ZAW bis zu diesem Zeitpunkt durchaus Kontakte zu jüdischen Wissenschaftlern pflegte. jenen Jahren in Deutschland ihr Erscheinen einstellen mußten. S. hierzu DAHM, Das jüdische Buch I. 557 HEMPEL schreibt in einem Vorspann zur Zeitschriftenschau (ZAW 57 [1939] 269), daß durch den Krieg viele ausländische Zeitschriften ausblieben. 558

Die Zeitschriften wurden nur noch nach A. und B. unterschieden, seit 1942/43 fallen diese Kategorien vollständig weg. 559 In seinem Rundbrief an Verwandte und Freunde vom 10.4.1963 beschreibt Hempel, daß nach dem Kriege „zwei jüdische Freunde (Präsident J. Morgenstern und Dr. D. Daube) mich dadurch beschämt haben, daß sie nach dem Kriege die alten Beziehungen wie selbstverständlich wieder aufgenommen haben". 560 Zu Leben und Werk von Jecheskiel Kaufmann s. KRAPF, Yehezkel Kaufmann und DERS., Die Priesterschrift. 561 Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Hempel und Kaufmann aus den Jahren 1931-1933, in: JNUL, Are. 4° 1217, Kaufmann-Archive Nr. 76 und Nr. 115 'n. 562 J. Hempel an J. Kaufmann vom 10.11.1931, in: JNUL, Are. 4° 1217, Kaufmann Archive Nr. 115 'n. 563 J. Hempel an J. Kaufmann vom 14.2.1933, in: JNUL, Are. 4° 1217, KaufmannArchive Nr. 115 'n. 564

Gegen Krapf, der in seiner Biographie Kaufmanns die These aufstellt, Hempel habe Kaufmanns weitere Beiträge (Teil III u. IV) 1931/32 bereits aufgrund seiner „antijüdische(n), antizionistische(n) Einstellung" abgelehnt (vgl. KRAPF, Yehezkel Kaufmann, 72). Dagegen

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A u c h die w a r m e n Worte, mit d e n e n er den Lesern und L e s e r i n n e n der Z A W n o c h 1933 das B u c h Wüste und gelobtes Land des 1 9 0 9 v o n Berlin nach Palästina emigrierten Bibelwissenschaftlers Elias Auerbach 5 6 5 ans Herz legte 5 6 6 , bestätigen die B e o b a c h t u n g , daß H e m p e l Forschungen jüdischer B i b e l w i s s e n s c h a f t sehr w o h l zur Kenntnis nahm und als Beitrag z u m Fortschritt der alttestamentlichen W i s s e n s c h a f t achtete. D i e weitere Geschichte der Z A W z e i g t j e d o c h , w i e er die Zeitschrift ab 1933 z u n e h m e n d in Konformität zur v ö l k i s c h e n I d e o l o g i e gestaltete und sie jüdischen W i s s e n s c h a f t l e r n als Publikationsforum entzog. In den A k t e n d e s Verlags Walter de Gruyter findet sich ein Brief v o m D e z e m b e r 1933, in d e m H e m p e l d e m Verleger die Dissertation des jüdischen Juristen und B i b e l w i s s e n s c h a f t l e r s D a v i d Daube 5 6 7 vorlegt, die dieser als B e i heft zur Z A W veröffentlichen wollte. Daube, der in Freiburg und in Göttingen studiert hatte 5 6 8 , arbeitete über mehrere S e m e s t e r in H e m p e l s S e m i n a r und s c h l o ß in Göttingen 1932 seine Dissertation über alttestamentliches Recht ab. 1 9 3 3 b e f a n d er sich bereits in Cambridge, hielt aber zu H e m p e l weiterhin Kontakt 5 6 9 . H e m p e l schreibt in s e i n e m B e g l e i t b r i e f an den Verleger über Daube: „Es erhebt sich aber die grundlegende Frage, ob wir bei der jetzigen Lage die Arbeit eines im Ausland lebenden deutschen Juden bringen können. Mir selbst tut der Mann persönlich wirklich leid, denn er gehört zu denen, die menschlich und wissenschaftlich sehr erfreuliche Typen sind. Man darf ja aber wenn es sich um grundsätzliche Entscheidungen handelt, nicht solche weisse Raben zum Maßstab nehmen, und man kann ja auch nicht jedem eine Charaktespricht auch, daß gerade in den ZAW-Jahrgängen 1931 und 1932 mehrere Beiträge jüdischer Bibelwissenschaftler erschienen. Richtig ist allerdings, daß sich HEMPEL zu diesem Zeitpunkt bereits öffentlich mit antijudaistischen Vorurteilen geäußert hatte. So will er in seinem Artikel Altes Testament und völkische Frage, 178, das deutsche Volk mahnen, sein Nationalbewußtsein „von den innerlich jüdischen' Zügen" freizuhalten, und meint damit „Überheblichkeit" und „Selbststolz" des jüdischen Volkes, das auserwählte Volk zu sein. Um so erstaunlicher ist dann die Tatsache, daß Hempel im wissenschaftlichen Zusammenhang zu dieser Zeit durchaus mit jüdischen Kollegen im Austausch stand. 565 Zu Elias Auerbach vgl. den Artikel in EJ 3, 846. 566 Anm. 1 zu Elias Auerbach, Untersuchungen zum Richterbuch II, in: ZAW 51 (1933) 47. Hier schreibt HEMPEL: „Der folgende Aufsatz ist (...) ein Stück Vorbereitung auf das schöne Buch des Herrn AUERBACH: Wüste und Gelobtes Land (...), auf das ich gern hinweise." 567 Zu David Daube s. den Artikel in EJ 5, 1313f. und im International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945 II. 1, 204; JACKSON, Introduction, in DERS., Studies, 2-5; WATSON, Daube Noster, VII-IX; Kurzbiographie in: DAUBE, Die Geburt, 37f. und HALFMANN, Eine Pflanzstätte, zu Daube bes. 96.118f. 568 Vgl. hierzu DAUBE, Studies, Vllf. Hier nennt er Hempel denjenigen, der ihn in die Bibelkritik eingeführt habe. 569 So kündigt Hempel in seinem Brief einen Besuch Daubes bei ihm für Anfang 1934 an, J. Hempel an Dr. Töpelmann vom 28.12.1933, S. 3, in: VA de Gruyter, ZAW 1930-1936.

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IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

ristik des betreffenden Mannes mit allen Leumundszeugen, in die Hand drücken. Ich muss es auch hier Ihnen völlig überlassen, sich grundsätzlich zu entscheiden." 570

Wirkt das persönliche Eintreten für Daube noch differenzierend, so findet sich ein halbes Jahr später ein Brief, in dem Hempel wissenschaftliche Entscheidungen mit Argumenten begründet, die völkischer Ideologie entsprachen: „Ein mir persönlich unbekannter Dr. Spinner 571 , Wien, schreibt mir den beiliegenden Brief (...). Nach dem, was ich von dem Manne weiß, ist er ein ziemlicher Phantast, an dessen Mitarbeit wir kein sonderliches Interesse haben, zumal in der gegenwärtigen Situation. Ich vermute, dass das S. des Vornamens als Salomo oder Samuel aufzulösen ist" 572 .

Jeglicher Differenzierung entbehren jedoch Hempels Äußerungen in der ZAW von 1942/43, in denen er pauschal von dem „Gegensatz zwischen dem Dritten Reiche und dem Judentum" spricht573. Hatte Hempel in einer Anmerkung zur Chronik von 1933 noch von dem „Kampf um das moderne Judentum, zu dem Stellung zu nehmen nicht Aufgabe dieser Zeitschrift ist" 574 , geschrieben, so beeinflußte dieser „Kampf" hinter den Kulissen schon längst seine Arbeit als Herausgeber. Mit der Chronik 1942/43 schienen die letzten Hürden gefallen zu sein, die ZAW auch sichtbar der völkischen Ideologie der Nationalsozialisten und ihrem Vokabular anzugleichen. Obwohl Hempel sich am Ende dieser Chronik vehement zu einer bleibenden Bedeutung alttestamentlicher Texte für das Christentum äußert575, drückt er Verständnis für diejenigen aus, die „Worte des Buches, das ihnen als ihre .heilige Schrift' in die Hand gelegt wird, weil es ihren Vätern ,heilig' war und ihrer Kirche heilig ist, als gegen ihr eigenes Dasein als Menschen des deutschen Volkes und Reiches gerichtet" 576 ansehen. Diese, seiner Meinung nach berechtigten Einwände, seien auch mit dem wissenschaftlichen Hinweis, „es handle sich beim Israel des AT ja gar nicht um das Judentum der nachchristlichen Zeit", nicht mehr zu entkräften. In der gleichen Chronik zeigte Hempel offen seine Unterstützung für die nationalsozialistische Propaganda gegenüber dem Judentum. Dies belegen vor allem seine in der Chronik enthaltenen Formulierungen wie: „Je stärker das m J. Hempel an Dr. Töpelmann vom 28.12.1933, S. 3, in: VA de Gruyter, ZAW 1930-1936. 571 Von S. Spinner erschien 1933 das Buch: Herkunft, Entstehung und antike Umwelt des Hebräischen Volkes. Neu dargestellt im Lichte der alten Urkunden, Neuausgrabungen und der allgemeinen Geschichte des Altertums. Ein neuer Beitrag zur Geschichte der Volker Vorderasiens. 572 J. Hempel an Dr. Töpelmann vom 6.6.1934, S. lf„ in: VA de Gruyter, ZAW 1930-36. 573 HEMPEL, Chronik der ZAW 59 (1942/43) 212. 574 HEMPEL, Chronik der ZAW 51 (1933) 294 mit Anm. 5. 575 HEMPEL, Chronik der ZAW 59 (1942/43) 214f. 576 Alle weiteren Zitate: HEMPEL, Chronik der ZAW 59 (1942/43) 212f.

6. Hempel als Herausgeber der ZAW

(1927-1959)

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rassische und völkische Erwachen sich durchsetzt und je energischer in der politischen Lage der Gegensatz zwischen dem Dritten Reich und dem Judentum als ein Kampf auf Leben und Tod hervortritt", desto schärfer werde das Bewußtsein für den politischen Gehalt des Alten Testaments. Darüber hinaus weist er auf die angeblich im Alten Testament enthaltenen „anstößigen und vor allem für die Jugenderziehung ungeeigneten Stellen" hin. Schließlich spricht er von den vermeintlichen Nöten seiner Zeitgenossen beim Umgang mit alttestamentlichen Texten: „Wem der Zusammenhang von Ps 46 mit der Verschonung Jerusalems im Jahre 701 deutlich ist, kann auch bei der gottesdienstlichen Lesung nur schwer vergessen, daß das ,mit uns' 5 7 7 von einem Volk gesagt ist, dessen Nachfahren sich auf eben dieses Wort in ihrem Kampf gegen das Reich berufen". Die Chronik, die sich Hempel als Herausgeber selbst zum Sprachorgan gesetzt hatte, verband somit die alttestamentliche Wissenschaft und die ihr gewidmete Zeitschrift mit der Ausgrenzungspolitik Deutschlands gegenüber dem Judentum 578 . j ) Die ZAW vor und während des Zweiten Weltkriegs Die problematische Situation, die sich für die Herausgabe der ZAW als einer Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland stellte, verschärfte sich durch die allgemeine Papier- und Geldknappheit seit Mitte der 30er Jahre. Herausgeber und Verlagsleitung waren gezwungen, eindeutige Entscheidungen über Inhalt und Umfang der Zeitschrift zu fällen. Der Versuch, die Deutsche Forschungsgemeinschaft durch die Titeländerung positiv zu stimmen, gelang nur beschränkt. Trotz des Verzichts auf die ,Kunde des nachbiblischen Judentums' wurden die Zuschüsse für die ZAW gekürzt 579 . So begann man von Seiten des Verlags, über Umfangsminderungen nachzudenken 580 . Mit Kriegsbeginn forderte auch die Forschungsgemeinschaft den Verlag auf, Vorschläge für eine Umfangskürzung der ZAW zu unterbreiten 581 . Hinzu kamen bald kriegsbedingte Einschränkungen. Der Absatz der ZAW ins Ausland war durch den Krieg äußerst schwierig geworden. Zusätzlich mußte der Verlag eine größere Anzahl seines Druckereipersonals an

577

Hempel bezieht sich hier auf Ps. 46,2: Tin nono tf? crrf?«. Nach Aussagen seines Sohnes (Gespräch vom 6.9.1998) war Hempel davon überzeugt, daß sich der Krieg letztlich auf einen Krieg zwischen Deutschland und dem Judentum zuspitzen werde. 579 S. oben 177 mit Anm. 546. 580 Vgl. Brief des Verlages an Hempel vom 24.5.1937, in: VA de Gruyter, ZAW 1937-39. 581 Deutsche Forschungsgemeinschaft an Verlag A. Töpelmann vom 1.11.1939 und Antwort des Verlags vom 18.11.1939, in: VA de Gruyter, ZAW 1937-39. 578

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IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

die Rüstungsindustrie abgeben, ein regelmäßiges Erscheinen der ZAW konnte nicht mehr garantiert werden 582 . Hempel, der im Januar 1940 als Kriegspfarrer eingezogen worden war, nahm soweit als möglich seine Aufgaben als Herausgeber auch von seinen verschiedenen Einsatzorten aus bzw. im Fronturlaub wahr. Der Verlag sandte ihm weiterhin die Artikel zur Durchsicht und die Druckfahnen zur Korrektur583. Als dies aus technischen Gründen kaum noch möglich war, übernahm Martin Noth in Königsberg teilweise das Korrekturenlesen584. Zu den beschriebenen Schwierigkeiten kamen weitere hinzu: Verlag und Herausgeber war es trotz ihrer Bemühungen kaum noch möglich, qualifizierte Artikel in ausreichender Zahl für eine Veröffentlichung in der ZAW zusammenzustellen 585 . Schließlich konnte die ZAW laut eines Beschlusses der Reichspressekammer zum 1. April 1943 nur noch halbjährlich statt bisher vierteljährlich erscheinen 586 . Zu Beginn des Jahres 1945 wurde das Erscheinen der ZAW von offizieller Seite, wie bei vielen anderen Zeitschriften auch, gänzlich eingestellt587. d) Die ZAW in der

Nachkriegszeit

Mit Beginn des Jahres 1946 unternahm der Verlag Walter de Gruyter einen ersten Versuch, die Verlagsgeschäfte wieder in Gang zu bringen. Aus diesem Grunde schrieb man an Hempel:

582

Brill an J. Hempel vom 4.4.1940, in: VA de Gruyter, ZAW 1940-41. Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Hempel und dem Verlag, in: VA de Gruyter, ZAW 1940-41 und ZAW 1942-45. 584 Brill an M. Noth vom 5.12.1942, in: VA de Gruyter, ZAW 1942-45. 585 Z.B. J. Hempel an Brill vom 17.4.1943: „Prof. Ungnad bot mir dieser Tage eine Miszelle von rund vier Seiten an. Ich bitte ihn, sie Ihnen zugehen zu lassen: Wir haben dann noch etwas zum Füllen", in: VA de Gruyter, ZAW 1942-45. 586 Reichspressekammer/Papierwirtschaftsstelle an Verlag A. Töpelmann vom 19.3.1943, in: VA de Gruyter, ZAW 1942-45. 587 H. Cram an J. Hempel vom 30.1.1945, in: VA de Gruyter, ZAW 1942-45. Cram drückt in diesem Brief seine Hoffnung aus, daß die ZAW bald wieder aufleben werde: „Nun ist die ZAW fürher [sie!] ein starker Exportträger gewesen; vom Export ist aber nur noch Schweiz und Schweden übriggeblieben. Sicher ist aber, dass der übrige Export nach dem Kriege wieder auflebt und dass die im Kriege erschienenen Hefte nach dem Krieg einewertvolle [sie!] Devisenquelle darstellen. Wenn es uns nun gelänge, auch von der wissenschaftlichen Seite gewichtige Befürworter zu finden, die das Thema vielleicht von der philologischen oder von der aussenpolitischen Seite anfassen könnten, würden wir unserem Ziele näherkommen". In seinem Antwortbrief vom 22.2.1945 (in: VA de Gruyter, ZAW 1942-45) bietet Hempel seine Mithilfe und seine Kontakte an, um sich für das Wiedererscheinen der ZAW einzusetzen. 583

6. Hempel als Herausgeber der ZAW (1927-1959)

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„Wir haben diese Zeit leidig überstanden und dürfen in ausgebombten Räumen mit erhaltener Lizenz durch die Militärbehörde langsam wieder an die Ankurbelung des Betriebes herangehen. Auch die ZAW möchte ich wieder erscheinen lassen. Man muss das Manuskript für ein Heft der Zensurbehörde vorlegen. Nun geht mein Ruf an Sie in die unbekannte Welt: wo mögen Sie stecken? Was haben Sie erlebt? Können Sie wieder die Arbeiten an der ZAW übernehmen?" 588

Hempel, der sich aufgrund seiner angegriffenen Gesundheit noch im Lazarett befand 589 , war sofort bereit, wieder als Herausgeber zu fungieren. Er teilte dem Verlag umgehend mit, er habe im Ausland bereits Kontakte für die ZAW aufgenommen 590 . Bald wurde jedoch deutlich, daß mit seiner Rückkehr als Herausgeber für die Zukunft der ZAW große Schwierigkeiten verbunden waren. a) „Animositäten" gegen Hempel - Belastungen durch den Herausgeber In den Jahren nach Kriegsende versuchte Johannes Hempel, sich als politisch ,unbelastet' darzustellen, und das Mißtrauen, das gegen seine Person im Zusammenhang mit seinem Verhalten in der Zeit des Dritten Reichs in den Kreisen der Wissenschaftler und der ZAW-Leserinnen und Leser entstanden war, zu zerstreuen. Für sein Entnazifizierungsverfahren vor der englischen Militärbehörde 591 hatte Hempel bereits seine internationalen Kontakte wieder aufgenommen und um Gutachten zu seiner Person und seiner wissenschaftlichen Arbeit gebeten. Diese Gutachten übergab Hempel auch der Verlagsleitung 592 , damit man dort gegenüber den Behörden seine Unbedenklichkeit begründen könne, denn: „Herausgeber wie Mitarbeiter müssen sich heute noch die politische Unbedenklichkeit bestätigen lassen." 593 . Aus den Gutachten spricht deutlich das Interesse der Kollegen an Hempels wissenschaftlicher Tätigkeit: „I hope, too, you will soon be back in a chair. It is ludicrous to me for a man of your eminence scholarship to be getting a li-

588 Verlag an J. Hempel vom 9.1.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Erneute Anfrage an Hempel durch H. Cram vom 20.6.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 589 S. oben 162. 590 J. Hempel an H. Cram vom 29.6.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Mit einem Brief vom 12.7.1946 (in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48) schickte Hempel mehrere Auszüge aus Briefen von Kollegen, die ihn zur Weiterarbeit und zur Wiederaufnahme der ZAW auffordern. Außerdem berichtet er über seine Anfragen an verschiedene Wissenschaftler bezüglich eines Beitrages für die ZAW. In einem weiteren Brief vom 30.8.1946 (in: VA de Gruyter, ZAW 1 9 4 6 ^ 8 ) gibt Hempel Autorenzusagen von Rowley/Manchester und Bea/Rom an, während Lindblom/Kopenhagen abgesagt habe. 591 S. oben 164f. 592 J. Hempel an H. Cram vom 29.6.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 593 H. Cram an J. Hempel vom 20.6.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48.

186

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

ving by hack-work in translation 594 , when he could be contributing so much to scholarship"595, wie ihnen auch das Wiedererscheinen der ZAW am Herzen lag: „Übrigens will ich schon gleich bemerken, daß ich gern bereit bin, Ihnen beim Wiederaufbau der ZAW behilflich zu sein und meine Freunde dafür zu gewinnen." 596 Dennoch zeigte sich bald, daß eine Wiederaufnahme der ZAW unter der Herausgeberschaft von Hempel gerade unter ausländischen Wissenschaftlern nicht unumstritten war. So schrieb Hempel selbst an den Verlag: „Wie ich höre, hat Prof. Bentzen - Kopenhagen gegen die .Chronik' 1942/3 Sturm gelaufen und einige Leute verrückt gemacht. Ich werde nach eingehender Korrespondenz für das erste Heft eine Erklärung loslassen, die die Gemüter, hoffe ich beruhigen wird" 597 . Die Angelegenheit entwickelte sich aber komplizierter, als Hempel dies zunächst erwartet hatte. Zu der kritischen Stimme des Kopenhagener Professors Aage Bentzen traten andere hinzu. Hempel selbst zählt sie in der Chronik des ersten Nachkriegsheftes auf: „Ich danke den Herren Kollegen Albright, Bentzen, Daube, Kahle und Rowley 598 , die mir in aller Offenheit ihre Bedenken gegen die Chronik 1942/43 mitgeteilt haben." 599 Paul Kahle, der - von der Bonner Universität entlassen - 1939 nach England emigriert war 600 , hatte Hempel in einem Brief von seinen Gesprächen im Ausland berichtet. Er selbst wie auch der neue Sekretär der , Society for Old Testament Study' hätten von verschiedenen Seiten starke Kritik an der Person Hempels erfahren:

594 Hier spielt Rowley auf die Übersetzungsarbeiten für die westfälische Landeskirche an, mit denen Hempel für sich und seine Familie nach Kriegsende Geld verdiente (s. oben 163). 595 Abschrift eines Briefs des Sekretärs der englischen Society for Old Testament Studies, H. H. Rowley, an J. Hempel vom 11.5.1945, Anlage zum Brief J. Hempels an H. Cram vom 29.6.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 596 Abschrift eines Briefes von D. Daube an J. Hempel vom 5.8.1946, Anlage zum Brief J. Hempels an H. Cram vom 29.6.1946, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 597 J. Hempel an Brill vom 2.1.1947, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 598 Unklar bleibt, ob Hempel sich hier bei Daube und Rowley auf die von ihm in Abschrift auszugsweise wiedergegebenen Briefe bezieht (und Hempel die Kritik dem Verlag dann vorenthalten hätte) oder ob die Genannten jeweils weitere Briefe, mit kritischeren Tönen, geschrieben hatten. Die gleiche Frage stellt sich für Paul Kahle. Denn Hempel zitiert in seiner Anlage an den Verlag den Ausschnitt eines Briefes von Kahle vom 24.11.1946, in dem es heißt: „Es wäre sehr zu wünschen, daß man Ihnen die ZAW und Sie der ZAW erhalten könnte". Der im weiteren zitierte Brief Kahles trägt das Datum vom 10.9.1948, während Hempel die Chronik auf den 8.5.1948 datiert. Der Band der ZAW 1945/48 erschien jedoch erst im März 1949. 599 HEMPEL, Chronik ZAW 61 (1945-48) 231 (abgeschlossen am 8.5.1948). 600 Zu Paul Kahle s. REINIGER, Art. Kahle, Paul und in: International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933-1945, II. 1, 58 If. S. auch ELSSFELDT, Paul Kahle.

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„Rowley ist bei seiner Reise nach Skandinavien in diesem Jahre (...) eine derartige Animosität gegen Sie, besonders in Schweden, entgegengetreten, dass es ihm nicht möglich war, die Leute darüber hinwegzubringen. Und ich muß gestehn, dass mir Ähnliches auf dem Internationalen Orientalistenkongress in Paris bei Angehörigen verschiedener Nationen entgegengetreten ist. (...) Sie (sc. die Animosität gegenüber Hempel) wird dazu führen, daß eine von Ihnen herausgegebene Zeitschrift in weiten Kreisen boykottiert werden wird." 601

Kahle, der diesen Brief auch an den Verleger sandte, schlug deshalb zunächst vor, Hempel zumindest einen Mitherausgeber an die Seite zu stellen. Im weiteren Verlauf des Briefs weist er aber auf Überlegungen hin, die bei einer Tagung der Society for Old Testament Study in Manchester laut geworden waren, eine ,,neue(...) internationale^..) ZAW" ins Leben zu rufen. Um die ZAW zu retten, riet Kahle, „dass die Zeitschrift von dem Internationalen Gremium übernommen würde", und wandte sich in diesem Sinn an Hempel: „Wie die Dinge nun einmal liegen, würde Ihr Name dabei ein Hinderungsgrund sein, es erscheint mir undenkbar, Sie in der nächsten Zeit zum Mitglied eines internationalen Redaktionsausschusses zu machen". Kahle bat ihn deshalb, von sich aus von der Redaktion zurückzutreten. Dies würde „der alttestamentlichen Forschung in Deutschland eine Chance geben, sich aus der Lage, in die sie durch die Hitlerzeit und den verlorenen Krieg gekommen ist, wieder emporzuarbeiten." 602 In seiner Antwort weist Hempel auf Stimmen hin, die ihn ausdrücklich gebeten hätten, die ZAW weiterzuführen 603 . Er sei deshalb nicht bereit, ohne die konkreten Vorwürfe gegen seine Person zu kennen, von der Herausgeberschaft zurückzutreten. ß) Die Frage eines Mitherausgebers - Entlastung für die ZAW Die von Kahle aufgeworfene Frage eines Mitherausgebers hatte auch den Verlag schon längere Zeit beschäftigt. Denn auch dort war längst deutlich geworden, daß die Rückkehr Hempels als Herausgeber vor allem im Ausland auf großes Unverständnis stoßen werde. Man wollte ihm deshalb eine unbedenkliche Person an die Seite stellen: „Es tut sich nun die Frage auf, ob wir zur Mitarbeit evtl. Prof. Zimmerli (...) und Prof. Eißfeldt (...) in Erwägung ziehen sollen."604 Hempel mußte sich dem Anliegen des Verlags fügen und schrieb deshalb an den Verleger: „Auch die Frage eines Mit-Herausgebers - so ist das Wort .Mitarbeit' in Ihrem Briefe doch wohl zu verstehen - , habe ich reiflich erwo-

601

P. Kahle an J. Hempel vom 10.9.1948, in: VA de Gruyter, Briefsammlung: Kahle. P. Kahle an J. Hempel vom 10.9.1948, in: VA de Gruyter, Briefsammlung: Kahle. 603 Hempel zitiert ein (nicht erhaltenes) Antwortschreiben an Kahle in einem Brief an H. Cram vom 15.9.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 604 H. Cram an J. Hempel vom 15.7.1947, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48 602

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IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

gen" 605 . In die Suche nach geeigneten Wissenschaftlern mischte er sich aber kräftig ein. Gegen Eißfeldt sprach in seinen Augen, daß dieser bereits eine andere Zeitschrift herausgebe 606 , seinen ehemaligen Assistenten Walther Zimmerli könne er dagegen sehr befürworten. Als der Verlag sich, zunächst ohne Wissen Hempels, an den Basler Walter Baumgartner wandte, führte er auch gegen diesen eine Reihe von Argumenten an607. Schließlich wurde der Hallenser Alttestamentier Otto Eißfeldt offiziell von Seiten des Verlags um die Mitherausgeberschaft der ZAW angefragt 608 . Hierfür war vor allem Zimmerli eingetreten, wie aus einer Aktennotiz des Verlegers Herbert Cram hervorgeht: „Mit Prof. Zimmerli-Basel habe ich die Fortführung der ZAW besprochen, er rät mir dringend, neben Hempel als Herausgeber Prof. Eißfeldt zu nennen, da dadurch die Mitarbeit der deutschen Theologen wesentlich erleichtert wird." 609 Eißfeldt erklärte sich sofort bereit, die ZAW mit Hempel zusammen herauszugeben 610 . So erschien vom ersten Nachkriegsjahrgang an Eißfeldt als Mitherausgeber^11 neben dem Namen Hempels auf dem Titelblatt. Darüber hinaus bemühte sich der Verlag, durch Bildung eines erweiterten Herausgeberkreises 612 die Internationalität der ZAW zu unterstreichen und gleichzeitig die Bedenken gegen die Zeitschrift, die sich mit dem Namen Hempels verbanden, zu minimieren. y) „ Totengräber der alttestamentlichen Wissenschaft" -weitere gegen Hempel

Vorwürfe

Im ersten Nachkriegsband, der 1948 erschien, versuchte Hempel den Unmut, der gegen seine Person und gegen sein Verhalten in der Zeit des Dritten Reichs geäußert wurde, mit einer Erkärung zu beenden: „Ich hätte jene, mir damals um der Zukunft der ZAW willen notwendig erscheinenden Sätze nicht geschrieben (sc. in der Chronik der ZAW 1942/43), wenn ich gewußt hätte, was bereits geschehen war, und bis zu welchen Dingen sich der Antisemitismus mit Verschärfung der Kriegslage steigern würde. Es war an sich falsch, in der ZAW als einer internationalen Zeitschrift zu einer Frage der deutschen Politik irgendwie das Wort zu nehmen. Wenn man aber damals das jüdische Problem überhaupt anrührte, wäre eine Warnung vor den Auswüch-

605

J. Hempel an H. Cram vom 19.7.1947, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Hempel bezieht sich hier auf die ThStKr. 607 J. Hempel an H. Cram vom 21.8.1947, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 608 Brill an O. Eißfeldt vom 5.5.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 609 Aktennotiz vom 8.3.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 610 O. Eißfeldt an Verlag vom 23.5.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 611 O. Eißfeldt sollte nach Absprache mit Hempel ein unbedingtes Vetorecht erhalten. Vgl. Brief Hempels an Brill vom 22.7.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 612 Vgl. Titelblatt der ZAW 61 (1945^18), das für den Herausgeberkreis 13 weitere Namen aufführt. 606

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sen des Antisemitismus erforderlich gewesen, der sich durch seine Konsequenzen als Geisteshaltung abendländischer und erst recht christlicher Menschen unmöglich gemacht hat. Ich hoffe, durch dieses offene Wort des Bedauerns und der Zurücknahme die Bahn wieder freigemacht zu haben für die übernationale und überkonfessionelle Zusammenarbeit an ZAW." 6 1 3

Aber auch mit dieser als Einleitung der Chronik abgedruckten Entschuldigung waren die Streitigkeiten um Hempels Person noch nicht beseitigt: Unter den deutschen Alttestamentlern blieb die ZAW aufgrund ihrer Geschichte in der Zeit des Dritten Reiches kein unumstrittenes Organ. Martin Noth und Albrecht Alt zögerten, ihre Mitarbeit bei der ZAW wieder aufzunehmen 614 . Im Ausland lebende Wissenschaftler wie der 1943 aus Berlin in die Schweiz geflohene Ernst Ludwig Ehrlich 615 weigerten sich, ihre Manuskripte von Hempel beurteilen zu lassen. So heißt es in einem Brief des Verlags an Eißfeldt: „Herr Dr. E. hat uns gebeten, das Manuskript nach erfolgter Kalkulation an das Theologische Dekanat zurückzugeben, ohne es vorher Prof. Hempel zu zeigen, gegen den er etwas hat."616 Auch in Holland regte sich heftige Kritik an der bleibenden Herausgeberschaft Hempels. Im Februar 1950 erschien im Organ des Niederländischen Protestantenbundes ein scharfer Artikel des Alttestamentlers Martinus Adrianus Beek 617 , in dem dieser auf die ZAW in der Zeit des Dritten Reichs und besonders auf die Worte Hempels in der Chronik von 1942/43 einging. Auch wenn er sich grundsätzlich über die Rückkehr der ZAW freue, so äußerte sich Beek entrüstet über die Tatsache, daß gerade Hempel trotz seines Verhaltens während des Dritten Reichs nun wieder die Herausgeberschaft der ZAW übernommen habe. Beek bezeichnet dessen Äußerungen in der Chronik von 1942/43 als ,Goebbelsche Losungen' und wirft Hempel vor, als Professor für Altes Testament einerseits am jüdischen Volk sein tägliches Brot verdient, andererseits jedoch das antisemitische Feuer mit seinen Äußerungen geschürt zu haben. Völlig disqualifiziert habe er sich aber durch seine gleichgültig wirkende Entschuldigung im ersten Nachkriegsheft der ZAW. Für Beek hätte Hempel zur Einsicht kommen können, „dat zijn schuld groter was dan die van

613 614 615

Hempel, Chronik ZAW 61 (1945-48) 23lf. Aktennotiz vom 8.3.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48.

Zu Ehrlich s. die biographisch-bibliographischen Artikel in: KDGK16 I, 694 und in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 I, 146f. S. auch VOGEL (Hg.), Ernst Ludwig Ehrlich und KÖNIG/EHRLICH, Juden. 616 Verlag de Gruyter an O. Eißfeldt vom 23.11.1951, in: VA de Gruyter, ZAW 1950Febr. 1952. In einem Brief an die Verf. vom 2.7.1997 erklärt Prof. Ehrlich, daß sich seine Vorbehalte gegenüber Hempel v.a. auf die Chronik der ZAW 1942/43 und auf die im ersten Nachkriegsband der ZAW veröffentlichte Erklärung bezogen. 617 Zu Beek s. VAN REYENDAM-BEEK, Martinus Adrianus Beek.

190

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de lakeien", die in Auschwitz die Drecksarbeit gemacht hätten und die von den Amerikanern ohne Prozeß niedergeschossen worden waren618. In den Verlagsakten findet sich weiterhin ein offenes Schreiben von Juda Ari Wohlgemuth aus Utrecht619, in dem auch dieser schwere Vorwürfe gegen Hempel erhebt. Ausgehend von allgemeinen Erläuterungen zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik wendet sich Wohlgemuth der Nachkriegserklärung Hempels zu und wirft ihm vor, mit seinen Formulierungen die Kritik an seinem Verhalten während des Dritten Reichs „mit der Kritik an einem gesellschaftlichen lapsus oder einer unhaltbaren wissenschaftlichen These" 620 gleichzusetzen. Zugleich habe Hempel Leben und Lehre auseinandergerissen und die Verpflichtung zu „exegetisch religionserzieherischer Lehrarbeit"621, der ein Alttestamentler in besonderem Maße unterstehe, vernachlässigt. Wohlgemuth bezeichnet Hempel deshalb als ,,Totengräber(...) der alttestamentlichen Wissenschaft" und schließt sein Schreiben mit einem zynisch formulierten Glückwunsch für Hempel: „Sie sind als Alttestamentler ausgesprochener Antisemit. Viel Glück zu dieser Existenz als Widerpart all derer, die Gott dienen und danken alle Tage!"622 Auch wenn der Brief Wohlgemuths und der Artikel von Beek polemische Formulierungen enthalten, so zeigen sie doch deutlich, wie Hempels Verhalten im Dritten Reich auch international zur Kenntnis genommen worden war

618

BEEK, Herr Hempel. Juda Ari Wohlgemuth war der Sohn von Joseph Wohlgemuth, der zu Beginn des Jahrhunderts zu den Dozenten am orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin gehört und 1914 die jüdisch-orthodoxe Zeitschrift Jeshurun gegründet hatte. Zu Juda Ari Wohlgemuth und seinem Vater s. den Artikel Wohlgemuth, Joseph, in: EJ 16, 600. 620 Offenes Schreiben von Juda Ari Wohlgemuth an J. Hempel vom Januar 1952, VA de Gruyter, ZAW 1952-55, 8 S. mit Begleitbrief, hier: 4 (im Original einzelne Begriffe unterstrichen). 621 J. A. Wohlgemuth an J. Hempel v. Januar 1952, in: VA de Gruyter, ZAW 1952-55, 7. 622 J. A. Wohlgemuth an J. Hempel vom Januar 1952, in: VA de Gruyter, ZAW 1952-55, 8. Das ganze Schreiben ist als Neujahrsglückwunsch an Hempel stilisiert. In einem beigelegten offenen Brief fordert Wohlgemuth dazu auf, „sich für eine religiös und moralisch einwandfreie, volkserzieherische Einwirkung der alttestamentlichen Forschungsarbeit auf die gebildete Welt einzusetzen", und bittet in diesem Zusammenhang „zwecks Koordinierung evtl. Massnahmen" um eine „Meinungsäußerung im Zusammenhang mit diesem offenen Schreiben" (im Original z.T. unterstrichen). Dieser Aufforderung scheint in der Öffentlichkeit jedoch kaum Folge geleistet worden zu sein. So schreibt WOHLGEMUTH in seinem Buch: Fragt immer, 447 mit Anm. 5, daß sein Brief in der Presse nicht veröffentlicht worden sei. Er bedaure zudem, „dass sogar jüdische Wissenschaftler Hempel nicht den Laufpass gaben". Aus den Akten des Verlages De Gruyter geht hervor, daß auch die Verlagsleitung keinen Anlaß zu einer Stellungnahme gesehen hatte (vgl. eine dem Schreiben beigeheftete Notiz von Cram, datiert auf den 25.2.1952). 619

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und wie wenig er für die Aufgabe des Herausgebers der ZAW als unbelastet gelten konnte. 8) Die holländische Konkurrenz - Existenznöte der ZAW Der Verlag Walter de Gruyter, der die ZAW wiedererscheinen lassen wollte, sah sich mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert. Zu den Streitigkeiten um die Person Hempels kamen Erschwernisse durch den Geld- und Papiermangel der Nachkriegszeit hinzu. Obgleich erste Überlegungen für eine Wiederaufnahme von seiten des Verlages bereits 1946 unternommen worden waren, konnte das erste Nachkriegsheft der ZAW doch erst 1948 erscheinen. Vorangetrieben wurde der Wiederbeginn vor allem durch die Angst vor einer Konkurrenzgründung. Bereits im Frühjahr 1948 drängte Hempel immer wieder darauf, „daß wir nun die Sache beschleunigen. Vor allem aus Amerika werde ich sehr gedrängt, one of the great indispensable journals of the scholarly world endlich wieder in Gang zu bringen. Ich fürchte, wenn wir lange zögern, kommt eine Gegengründung draußen irgendwo heraus" 623 . Der Verlag versuchte, den Beginn der Drucklegung zu ermöglichen, und telegrafierte der Druckerei, „dass der Satz der ZAW im Oktober vollendet sein muss und die Zeitschrift anzukündigen ist, wenn nicht nicht wiedergutzumachender Schaden für die alttestamentliche Wissenschaft u. Deutschland entstehen soll." 624 Mit Fertigstellung des Nachkriegsbandes Ende 1948 war die ZAW jedoch noch nicht zu einer regelmäßigen Erscheinungsform zurückgekehrt. Zu den Schwierigkeiten von seiten der Behörden und der Druckerei trat nun die bereits befürchtete Konkurrenzgründung auf internationalem Boden hinzu. Paul Kahle hatte Hempel und den Verlag bereits 1948 informiert, daß auf der Tagung der ,Society for Old Testament Study' in Manchester im September 1948 ein schriftlicher Antrag gestellt worden war, „die OTS solle Schritte zur Begründung einer neuen internationalen ZAW unternehmen. Der bisherigen Zeitschrift wurde auch nicht mit einem Worte gedacht" 625 . Auf dem internationalen Alttestamentlerkongreß in Leiden im Jahre 1950 wurde schließlich beschlossen, neben einer internationalen Organisation für die alttestamentliche Wissenschaft auch ein internationales Organ ins Leben zu rufen 626 . Dadurch wollten die Gründer von Vetus Testamentum (VT) die „true

623

J. Hempel an H. Cram vom 16.4.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Vgl. auch Karte Hempels an Brill vom 12.5.1948 und Brief an Brill vom 22.7.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. 624 H. Cram an J. Hempel vom 20.9.1948, in: VA de Gruyter, ZAW 1946-48. Die kursiv gesetzten Worte sind in dem Brief handschriftlich eingefügt. 625 P. Kahle an J. Hempel vom 10.9.1948, in: VA de Gruyter, Briefsammlung Kahle. 626 Vorwort zu VT 1 (1950) 1. Vgl. auch BAUMGARTNER, Internationale Alttestamentlertagung, 394 und ANDERSON, P. A. H. De Boer , 2.

192

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

international Cooperation in the study of the Old Testament" unterstützen. In diesem Sinne sollten alle wissenschaftlichen Richtungen in VT zu Wort kommen können, mit einer einzigen Grundbedingung: „the journal must be true to its name" 627 . Der Tenor des Gründungsaufrufs und die Betonung der Internationalität und der Verpflichtung auf die Wahrheit verrät, daß durch das neue Organ die bisherige Monopolstellung der ZAW beendet werden sollte. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, daß zu den Gründern von VT u.a. der Hempel-Kritiker Aage Bentzen gehörte. Die ZAW und ihre Herausgeber kamen durch die Gründung von VT immer mehr in Bedrängnis: „Wir kommen gegenüber der holländischen Konkurrenz immer mehr in Rückstand und es wird bald soweit sein, daß die Autoren uns keine Aufsätze mehr anbieten, weil sie dort mit pünktlichem Erscheinen rechnen können und bei uns nicht" 628 . Aus der Liste der Autoren, die gerade in den ersten Jahrgängen in VT publizierten, wird deutlich, daß das neugeschaffene Organ eine große Internationalität erreichen konnte. Auch für deutsche Wissenschaftler schien VT eine willkommene Alternative zur ZAW zu sein. Albrecht Alt, der emigrierte Paul Kahle, Hans-Joachim Kraus und Martin Noth veröffentlichten ihre Artikel in VT. Die Zeitschrift VT ist deshalb nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als politisch zu interpretierende Konkurrenzgründung zur ZAW zu verstehen, die eng mit dem Mißbrauch der ZAW durch ihren Herausgeber Johannes Hempel zusammenhing. Trotz aller Schwierigkeiten konnte sich die ZAW durch die „mageren Jahre" hindurchretten und bildete nun, gemeinsam mit VT, eines der konkurrenzfähigen Organe für die alttestamentliche Wissenschaft. Hempel führte die Schriftleitung, gemeinsam mit Otto Eißfeldt, bis 1959, als er auf ärztlichen Rat seine Funktion als Herausgeber niederlegen mußte 629 . Georg Fohrer trat an seine Stelle, Hempel blieb der ZAW als beratender Mitherausgeber bis zu seinem Tode verbunden 630 . Die Geschichte der ZAW, die diese unter ihrem Herausgeber Johannes Hempel genommen hatte, geriet jedoch nicht in Vergessenheit. Als 1976 Abraham Malamat in den Herausgeberkreis der ZAW mit eintrat, nahm der damalige Herausgeber Georg Fohrer noch einmal Rekurs auf die Vorkommnisse im Dritten Reich: „Ich bedaure zutiefst die Äußerungen während der un-

627

Vorwort zu VT 2 (1951) 1. J. Hempel an Brill vom 3.6.1951, in: VA de Gruyter, ZAW 1950-Febr. 1952. Vgl. im gleichen Sinne H. Cram an Druckerei Kutscher vom 4.7.1951, in: VA de Gruyter, ZAW 1950-Febr. 1952. 629 Vgl. Hempels Mitteilung: DERS., Wechsel, 278. 628

630

HEMPEL, aaO. 2 7 8 f .

7. Zusammenfassung

193

seligen Zeit einer verbrecherischen Herrschaft, die dies (sc. den Beitritt eines jüdischen Gelehrten zum Herausgeberkreis) so lange verhindert hat." 631 Hans-Christoph Schmitt und Gunther Wanke stellten sich als neue Herausgeber im Jahre 1993 erstmals öffentlich der Frage, ob der unter der Herausgeberschaft Hempels 1936 gekürzte Titel der ZAW wieder seine volle Formulierung: .Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft und die Kunde des nachbiblischen Judentums' erhalten solle. Sie beantworten die Frage mit dem Verweis auf das Vorhandensein verschiedener judaistischer Fachzeitschriften, die ihres Erachtens eine (erneute) Ausweitung der ZAW auf ,die Kunde des nachbiblischen Judentums' unnötig machten632.

7. Zusammenfassung: Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik Mit der Biographie Hempels entfaltet sich der Lebensweg eines Wissenschaftlers, der sich durch seine Forschungen am Alten Testament und durch sein (kirchen-)politisches Engagement hervortat. Hempel genoß seinerzeit als Alttestamentier großes Ansehen und prägte in seiner universitären Laufbahn sowie als Herausgeber der ZAW die deutsche alttestamentliche Wissenschaft der 30er und 40er Jahre maßgeblich. Zugleich versuchte er, durch seinen Beitritt bei den Deutschen Christen dem Ziel seiner religiösen Hoffnungen näher zu kommen, das deutsche Volk zum Christentum zu führen. Seine wissenschaftlichen Arbeiten entstanden zum größten Teil in einer Zeit, in der die alttestamentliche Wissenschaft ihre Selbstverständlichkeit im theologischen Fächerkanon weitgehend eingebüßt hatte. Hempel setzte sich deshalb in seinen Aufsätzen immer wieder mit dem , Streit um das Alte Testament' auseinander und beharrte auf einer bleibenden Bedeutung der alttestamentlichen Schriften für die christliche Theologie. Von diesem Grundsatz ausgehend bemühte er sich auch, die von der völkischen Ideologie an die alttestamentliche Wissenschaft herangetragenen Vorwürfe zu entkräften, der Gegenstand ihrer Wissenschaft sei dem deutschen Volk nicht „artgemäß". Hempel versuchte, seine Forschung in die politische Situation des nationalsozialistischen Deutschlands zu integrieren. Die Rechtfertigung hierfür entnahm er seiner Überzeugung, daß das Volk eine von Gott geschaffene Größe sei, in der sich dann Gottes Segen verwirklichen werde, wenn es nach Gottes Willen lebe. Die zentrale Stellung, die der Volksbegriff innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie besaß, führte Hempel zu den Deutschen Christen.

01

FOHRER, Vorwort, 1.

632

SCHMITT/WANKE, Z u m G e l e i t , l f .

194

IV. Zu Leben und Werk von J. Hempel

Im weiteren wird sich zeigen, wie sehr sich Hempels politisches Engagement und sein wissenschaftliches Arbeiten in der Frage nach dem Volksbegriff treffen. Wissenschaftlich wie politisch war er bemüht, die zentrale Stellung des Volkes und die damit einhergehende Verpflichtung gegenüber Gottes Willen herauszustellen. Damit begründete er die bleibende Bedeutung der alttestamentlichen Texte und integrierte zugleich seine Wissenschaft in die völkische Ideologie, welche die Grundlage des nationalsozialistischen Staates bildete.

V. „Altes Testament und völkische Frage" die Auslegung des biblischen Volksbegriffs im Werk von Johannes Hempel Die vorangehenden Kapitel haben den zeitgeschichtlichen und biographischen Hintergrund umrissen, auf dem Hempels wissenschaftliche Arbeiten zum Alten Testament entstanden. Dabei wurde deutlich, daß Hempel immer wieder versuchte, die politischen Anfragen seiner Zeit mit seinem wissenschaftlichen Interesse für das Alte Testament zu verbinden. Eine zentrale Frage der betreffenden Jahre lag in der Diskussion um den politischen Volksbegriff. Dieser war durch die ,völkische Bewegung' und die daraus hervorgegangene nationalsozialistische Ideologie zum obersten Maßstab allen politischen Handelns in Deutschland erhoben worden. In diesem Zusammenhang sollte das Alte Testament verworfen werden, da es der „Art" des deutschen Volkes nicht entspreche. Verschiedene Alttestamentler versuchten jedoch, den biblischen Volksbegriff in die politische Diskussion zu integrieren, um so dem Alten Testament eine bleibende Bedeutung zu gewährleisten. Auch Hempel beschäftigte sich in den 30er und 40er Jahren intensiv mit dem alttestamentlichen Volksbegriff. Zu keiner Zeit war er bereit gewesen, das Alte Testament zu verwerfen. Statt dessen fand er im biblischen Volksbegriff die Möglichkeit, die völkische Ideologie seiner Zeit theologisch-kritisch zu rechtfertigen.

1. Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung 1934 veröffentlichte Hempel einen Aufsatz unter dem Titel Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung, in dem er zu den Anfragen seiner Zeit Stellung nimmt. Der Kirche will er das Recht zusprechen, am Alten Testament festzuhalten, „wenn hier nicht nur Menschen vergangener Tage und fremden Volkstums von Gott reden, sondern durch ihr Menschentum hindurch Gott handelt und spricht und die Christusoffenbarung vorbereitet" 1 . Die Fragestellung, inwiefern die alttestamentlichen Texte auch Bedeutung für die Gegenwart beanspruchen können, durchzieht Hempels gesamtes wissenschaftliches Werk.

1

HEMPEL, Gegenwartsaufgaben, 368.

196

V. Altes Testament und völkische

Frage

a) „Die übergeschichtliche Wirklichkeit des Alten Testaments" Immer wieder betont Hempel in seinen exegetischen Arbeiten seine Grundüberzeugung, daß das Alte Testament unaufgebbarer Bestandteil der christlichen Tradition sei. Unter verschiedenen Aspekten definiert er die Beziehung vom Alten Testament zum Neuen und zum Christentum: et) Lutherische Tradition und Wertschätzung des Alten Testaments „Meine Theologie ist primär von Luther her bestimmt", so erklärte Hempel 1946, warum er sich der Barmer Erklärung niemals hätte anschließen können. Denn diese habe in reformierter Tradition Gott und Geschichte auseinandergerissen2. Seine lutherische Prägung, in die er als Pfarrerssohn hineingewachsen war, spiegelt sich auch in seiner Einschätzung der alttestamentlichen Schriften wider. Hempel bezeichnet das Alte Testament als „die letzte Wurzel des reformatorischen Evangeliums" 3 , denn der „sola fides an das erlösende Handeln des ,Wortes'" zeige sich bereits im Alten Testament 4 . Der besondere Offenbarungscharakter des Alten Testaments gründe darin, daß auch die alttestamentlichen Texte vom göttlichen Heilswillen zeugten. An dieser grundlegenden Erkenntnis hielt Hempel fest, obwohl auch er von einem Überwiegen der gesetzlichen Teile im Alten Testament spricht5. Er verweist in diesem Zusammenhang auf Luther, demgemäß auch das Gesetz im Alten Testament bereits unter der übergeordneten göttlichen Heilsveranstaltung stehe, indem es die Sünde aufdecke und somit Sehnsucht nach Gnade erwecke 6 . Die Spannung bezüglich einer christlichen Anerkennung der alttestamentlichen Texte liege deshalb nicht in der Problematik des Gesetzes, sondern vielmehr in der Frage, ob und inwieweit das Alte Testament von dem gleichen Heilswillen wie das Neue Testament Zeugnis gebe. Für Hempel selbst war diese Übereinstimmung eindeutig. So konnte er eine dreifache Parallelität zwischen Altem Testament und dem Evangelium in reformatorischer Auslegung, auf das sich die Verkündigung der evangelischen Kirche stützt, begrün2 3 4

HEMPEL, Erklärung vom 6.2.1946, in: UA der HUB, H 216, Bl. 54R. HEMPEL, Das reformatorische Evangelium, 28. HEMPEL, a a O . 2 9 .

5

Vgl. auch HEMPEL, Altes Testament und Geschichte, 80. Hier betont er, daß das Alte Testament „stark gesetzlichen Charakter trägt, im Gegensatz zu der Gnadenanerbietung des Neuen". 6 HEMPEL, Das reformatorische Evangelium, 10. Schon mit diesen Sätzen stellt sich Hempel weit außerhalb der theologischen Anliegen seiner Fachkollegen, die sich einer positiven Interpretation des alttestamentlichen Gesetzes verwehrten (vgl. hierzu auch Hempels Auseinandersetzung mit E. Hirsch in: Chronik ZAW 54 [1936] 296ff.). 1935 betonte Hempel jedoch auf einer Tagung der Deutschen Christen (zu der Tagung s. oben 133) die partikulare Geltung des alttestamentlichen Gesetzesanspruchs. So habe das Gesetz allein dem Volk Israel gegolten, nicht mehr den Heidenchristen und damit auch nicht dem deutschen Volk (DERS., Luther, 6f.).

1. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen Forschung

197

den: „In der Setzung der geschichtlichen Menschheit als der Offenbarungssphäre Gottes kraft seiner Schöpfung, in der Setzung der Gemeinde als der Trägerin des Gotteswortes und in der Setzung der Erlösung als des Zieles der geschichtlichen Wege Gottes (stehen) das Alte Testament und das reformatorische Evangelium in einer letzten Glaubenseinheit beieinander." 7 Hempel war überzeugt, daß die reformatorische Verkündigung der Menschwerdung Gottes das Alte Testament überbiete und vollende. Dennoch liege in dem Bekenntnis Jesu zum Gott des Alten Testaments als seinem Vater der Grund für einen Lebenszusammenhang zwischen Altem Testament und reformatorischem Evangelium 8 . Auf diese Weise nimmt er das Anliegen Luthers auf, die Einheit der beiden Testamente in Jesus Christus zu begründen. Er interpretiert diese Einheit jedoch nicht nach dem lutherischen Schema (Altes Testament als Verheißung auf Jesus Christus - Neues Testament als Erfüllung in Jesus Christus), sondern sieht im Alten Testament eine eigenständige Größe, die Zeugnis vom göttlichen Heilswillen gebe und zu der sich Jesus selbst bekannt habe. ß) Das Alte Testament in seiner Beziehung zum Christentum In seinen Stellungnahmen spiegeln sich deutlich die Pole wider, die Hempels Leben bestimmten: Als Alttestamentier hält er grundsätzlich an der Gegenwartsbedeutung der alttestamentlichen Schriften für das Christentum fest. Als dezidiert christlicher und politisch engagierter Theologe greift er immer wieder auf Argumente zurück, die seinerzeit den ,Streit um das Alte Testament' innerhalb der christlichen Kirche bestimmten. Mit zunehmender Verschärfung der politischen Lage in Deutschland änderte sich deutlich der Ton, in dem er seine grundsätzliche Einschätzung des Alten Testaments und des biblischen Israels beschrieb. Er blieb jedoch bei seinem Grundsatz, daß das Alte Testament Teil des christlichen Glaubens sei. Das Alte Testament als „ Wegbereiter zu Jesus " Eindringlich erinnert Hempel an die enge Bindung des Neuen Testaments an das Alte: So ziele das Alte Testament, indem es den Schöpfer in seiner Humanität und in seinen humanen Forderungen bestimme, „in all seiner religiösen und ethischen Begrenztheit im letzten hin auf die Inkarnation des ,Vaters* in dem ,Christus' als dem ,Bruder', als dem Bringer des ,neuen Gebotes' der Liebe untereinander'" 9 . Das Alte Testament sei die innerlich notwendige Vorbereitung auf das Neue gewesen und bleibe „noch heute der große Wegbereiter zu Jesus. Zentrale Gedanken Jesu haben hier ihre Wurzel, und immer

7 8 9

HEMPEL, Das reformatorische Evangelium, 22. HEMPEL, aaO. 32. HEMPEL, Das Ethos, 203.

198

V. Altes Testament

und völkische

Frage

wieder kommen wir in die Gefahr, ihn mißzuverstehen, wenn wir nicht auf diese Verwurzelung achten" 10 Neben den Gemeinsamkeiten betonte Hempel aber auch die Unterschiede zwischen Altem und Neuem Testament: Er war davon überzeugt, daß der Reich-Gottes-Gedanke Jesu Ernst mache mit dem Glaubensgedanken, wie er im Alten Testament angelegt sei11. Während dort jedoch das Gotteswort politischen Charakter trage und geschichtsgestaltendes Prinzip sei, löse Jesus die Vorstellung vom Reich Gottes aus ihrer politischen Bindung und betone ihren überweltlichen und unpolitischen Charakter. Denn „das Ziel des geschichtlichen Gotteswaltens" nach dem Zeugnis des Neuen Testaments sei „nicht ein empirisches Volk als gottgesetzte Größe, sondern die durch den Geist gebaute Gemeinde der aus Gnaden Lebenden" 12 . Der große Unterschied liege also darin, daß im Alten Testament das empirische Volk Israel Träger der Verheißung bleibe, während das Neue Testament diese Volkszugehörigkeit zu Israel ganz abstreife 13 . 1940 beschrieb Hempel erneut das Verhältnis von alttestamentlicher und neutestamentlicher Endzeitvorstellung in einer Schrift, die aus seiner Mitarbeit im , Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben' 14 enstanden war. Hier fällt der wesentlich schärfere Ton auf, in dem Hempel seine These darstellt: Hatte er 1926 noch geschrieben, daß das Neue Testament die Erfüllung der alttestamentlichen Enderwartung der Königsherrschaft Gottes sei15, so kommt er 1940 zu dem Schluß, das Christentum habe mit der politischen Endzeitvorstellung des Alten Testaments und des Judentums gebrochen. Vielmehr binde es die Weltvollendung an Jesus von Nazareth, den das Judentum ans Kreuz geschlagen habe. Damit aber entreiße das Christentum dem Judentum die Zukunftshoffnung und versetze ihm einen entscheidenden Schlag 16 . Die politische Sprache, die Hempel hier benutzt, um das Verhältnis der beiden Testamente darzustellen, verläßt die Ebene der wissenschaftlichen Sachlichkeit. Dennoch verwarf er auch zu dieser Zeit die alttestamentlichen Texte nicht, sondern betonte die Wurzel, die die neutestamentliche Vorstellung vom ewigen Gottesreich in

10 11

HEMPEL, Fort, 26. HEMPEL, Politische Absicht, 46.

12

HEMPEL, ebd.

13

HEMPEL, Das Ethos, 83f.

14

S. oben 155.

15

HEMPEL, Der alttestamentliche Gott, 6. HEMPEL, Die Gottesliebe, 96.

16

1. Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung

199

der im Alten Testament geschilderten „Anschauungsform des einheitlichen Dramas der Heilsgeschichte" 17 besitze. Der „Erdenrest" des Alten Testaments Neben den Verbindungslinien benannte Hempel in seinen Schriften auch vermeintliche Defizite, welche die alttestamentlichen Schriften seiner Meinung nach gegenüber dem Neuen Testament enthalten. An verschiedenen Stellen bezeichnet er einzelne alttestamentliche Texte als „unterchristlich" 18 , da diese nicht von der Liebe Gottes durchglüht seien. Als Beispiele führt er die Fluchworte Israels gegen andere Völker 19 an oder eine „dem Christen unerträgliche(...) Selbstgerechtigkeit" 20 , die sich in einigen Klagepsalmen zeige und mit der die Betenden das eigene Wohlverhalten JHWHs Treuebruch gegenüberstellten. Ausgehend von einem Vergleich des Gebetslebens des Alten Testaments mit dem des Neuen kommt Hempel zu dem Schluß, daß das Gebet in Israel auch auf dem Höhepunkt ein Ringen mit Gott bleibe, dem ein „Erdenrest" anhafte 21 . Es fehle die vollständige Beugung unter Gottes Willen, wie sie Jesus in Gethsemane vollzogen habe. Damit aber umfasse das Alte Testament die Verheißung, daß Gott diese Ströme einst läutern und reinigen werde 22 . In einer eher an Laien gerichteten Schrift, in der er explizit zum , Streit um das Alte Testament' Stellung nahm, umschreibt er den „Erdenrest" folgendermaßen: Das Alte Testament trete hinter den Geist Jesu zurück. Es dürfe deshalb nicht verabsolutiert werden, da man hier noch nicht auf der letzten Höhe der Offenbarung sei, denn die letzte Tiefe göttlichen Erbarmens habe sich im Alten Testament noch nicht erschlossen 23 . Hempel war überzeugt, daß Jesus nicht gekommen ist, weil Israel schon alle Tiefen göttlichen Erbarmens geschenkt waren. Vielmehr werde in Leben und Sterben Christi den Menschen ein neues Bild der Gotteswirklichkeit vor

17 HEMPEL, aaO. 98. Neben der alttestamentlichen Wurzel nennt Hempel an dieser Stelle auch das der Einheit verpflichtete „arische Denken" als die beiden Pole, die die Tradition des ewigen Gottesreichs in der christlichen Tradition geformt hätten (aaO. 98f.). 18 So fordert HEMPEL (Das Ethos, 30) die Christen ausdrücklich auf, das „Unterchristliche" im Alten Testament zu benennen, denn „nur eine solche Ehrlichkeit hat Anspruch darauf, auch dort gehört zu werden, wo sie die religiösen Werte des ATs und seinen Offenbarungsanspruch betont". Zum Begriff des „Unterchristlichen" s. auch DERS., Der alttestamentliche Gott, 18. 19

HEMPEL, aaO. 17.

20

HEMPEL, aaO. 19f.

21

HEMPEL, Aus dem Gebetsleben, 28. HEMPEL, aaO. 28f. Als Erfüllung nennt Hempel den Moment, in dem Jesus die Seinen zu beten lehrte: „Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden" (ebd.). 23 HEMPEL, Altes Testament und völkische Frage, 14. 22

200

V. Altes Testament und völkische

Frage

Augen gestellt 24 . Der Geist des Alten Testaments sei noch nicht der des Neuen Testaments. Gott selbst setze der Gottesoffenbarung im Alten Testament noch Schranken. Die alttestamentlichen Schriften blieben deutlich zeit- und volksgebunden 25. 1932 betonte er, daß das Christentum auf das Neue Testament ausgerichtet sei: „Wer am Alten Testament zunächst die Hemmungen empfindet und seinen Weg zu Gott durch dieses Buch erschwert sieht, der lasse es getrost beiseite und nehme sein Neues Testament und forsche darin" 26 . Dennoch bleibe auch das Alte Testament, trotz seiner geschichtlichen Gebundenheit, Bestandteil der christlichen Tradition. Diese Doppelseitigkeit bringt Hempel in einem abschließenden Satz zum Ausdruck: „Wir danken unserm Gott, daß wir mehr haben als das Alte Testament. Aber wir danken ihm, daß wir das Alte Testament auch haben!" 27 Das bleibende „Heimatrecht" des Alten Testaments In seinem Anliegen, das Alte Testament innerhalb der christlichen Theologie zu verankern, mußte sich Hempel auch der Frage stellen, mit welchem Recht die christliche Gemeinde die alttestamentlichen Verheißungen für sich in Anspruch genommen habe und nehme. Hempel selbst bezeichnete die Übertragung der Verheißungen als einen „in dieser Form unerhörten historischen Vorgang" 28 , der aber „nicht nur ein geschichtlich bedingter, sondern zugleich ein innerlich sachlich notwendiger" Prozeß 29 gewesen sei. Zur Begründung führt er das ,,Organisch-Geschichtliche(...) in Altisraels Leben" 30 an. Dieses habe den Übertragungsprozeß notwendig gemacht und gebe der christlichen Gemeinde das Recht, die alttestamentlichen Verheißungen auf sich zu beziehen. Hempel betont bei dieser Gelegenheit, daß das Christentum so den Bruch mit dem Judentum verewigt habe 31 . Hierzu gäben die alttestamentlichen Texte der urchristlichen Gemeinde das Recht, denn schon die prophetische Erwartung spreche nicht vom empirischen Israel, sondern vom ,Rest'. So sei die christliche Gemeinde berechtigt, „nach der in der Kreuzigung Jesu für die-

24

HEMPEL, Fort, 25 und DERS., Das reformatorische Evangelium, 30.

25

Vgl. auch HEMPEL, Der Gestaltwandel, 23f.

26

HEMPEL, Fort, 27.

27

HEMPEL, ebd.

28

HEMPEL, Das Gottesvolk, 8.

29

HEMPEL, aaO. 9. Schon in seiner Schrift Die Bedeutung des Exils für die Frömmigkeit, 45f., hatte Hempel geschrieben, daß es eine innere Notwendigkeit mit sich gebracht habe, „daß, als in Jesus gerade die tiefsten, die übernationalen und die ganz persönlichen Verheissungen der alten Propheten sich erfüllten, die Antwort seines Volkes eine Ablehnung war." 30

HEMPEL, Das Gottesvolk, 8.

31

HEMPEL, aaO. 8f.

1. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen

Forschung

201

se Weltzeit endgültigen Scheidung Israels von Gott die Heilsverheißung auf die neue Gemeinde zu übertragen" 32 Trotz des Bruchs, den das Christentum gegenüber dem Judentum vollzogen habe, will Hempel die alttestamentlichen Schriften nicht verwerfen. Denn für Jesus selbst besitze das Alte Testament den Stellenwert einer heiligen Urkunde und Autorität 33 . Aber auch in diesem Zusammenhang weist Hempel auf die neue Dimension hin, die sich mit dem Christusgeschehen gegenüber dem Alten Testament ergebe: Jesu Anspruch, lebendige Offenbarung zu sein, trete in Widerstreit zum Offenbarungsanspruch der Propheten 34 . Zudem zeigten Judentum und Christentum, die sich beide auf den gleichen Kanon beriefen, ein unterschiedliches Gottesbild: Im Judentum habe das Gesetz in seiner hebräischen Gestalt gesiegt, verbunden mit der unerbittlichen Herbheit seiner heilig fordernden Gottespersönlichkeit. Im Christentum aber erscheine „der persönliche Gott als der verheißende, die letzte Zeit gestaltende Herr, nicht der Gott des Mose und des Esra, vielmehr Jesajas Gott und der, auf den sein Prophet hofft" 35 . Zu der Frage, inwiefern bei allen Unterschieden das Alte Testament dennoch Teil des christlichen Kanons bleiben könne, schreibt Hempel: „Heimatrecht" habe das Alte Testament in der christlichen Kirche „nicht als eine altorientalische Religionsurkunde oder als Zeugnis des altisraelitischen Geistes" - denn dann wäre „seine Abschaffung angesichts der rassischen Verschiedenheit zwischen uns und seinem Ursprungsvolk unausweichlich" 36 sondern Heimatrecht könne das Alte Testament nur beanspruchen, wenn in ihm Gott selbst durch sein Handeln und Reden die Christusoffenbarung vorbereite37. In dieser „übergeschichtlichen Wirklichkeit", die über das in den alttestamentlichen Texten Geschilderte hinausweise, sah Hempel die Verbindung von Altem Testament und Christentum gegeben. Denn das Alte Testament sei eine nicht nur zufällige Hinleitung auf die Botschaft Jesu und beanspruche deshalb, gehört zu werden. Aber nur derjenige, der die alttestamentlichen Texte mit den Augen Jesu lese, laufe nicht in Gefahr, von „rassemäßig" befangenen, „fremden Zügen" des Alten Testaments geärgert zu werden: „Der Weg zum Verständnis der Schrift führt nicht vom Alten zum Neuen Testament, sondern allein von dem Neuen, von dem lebendigen Eindruck von der Person Jesu, zum Alten Testament" 38 . 32 HEMPEL, Altes Testament und völkische Idee, 8. Auch durch Mission oder Bekehrung könne die Verwerfung Israels als Gottesurteil nicht aufgehoben werden (aaO. 9). 33 HEMPEL, Der synoptische Jesus, 3. 34 HEMPEL, aaO. lOf. 35 36 37 38

HEMPEL, HEMPEL, HEMPEL, HEMPEL,

Althebräische Literatur, 193. Gegenwartsaufgaben, 368. ebd. Der synoptische Jesus, 34.

202

V. Altes Testament und völkische Frage

H e m p e l g i n g d a v o n aus, d a ß Jesus u n d d i e in i h m g e s c h e h e n e C h r i s t u s o f f e n b a r u n g d e m A l t e n T e s t a m e n t e i n e n u n w i d e r r u f l i c h e n Platz i m C h r i s t e n t u m z u w e i s e . G l e i c h z e i t i g e r h o b er d i e C h r i s t u s o f f e n b a r u n g u n d d a s N e u e T e s t a m e n t z u m M a ß s t a b , w i e alttestamentliche T e x t e zu l e s e n s e i e n 3 9 . b) , Christologisierung' die Ansätze

oder,

von W. Vischer

Christianisierung' und J. Hempel

des Alten im

Testaments

-

Vergleich

A l s A l t t e s t a m e n t i e r setzte s i c h H e m p e l auch mit d e m 1 9 3 4 e r s c h i e n e n e n B u c h v o n W i l h e l m V i s c h e r Das

Christuszeugnis

des Alten

Testaments

auseinan-

der 4 0 . In A b g r e n z u n g hierzu präzisierte H e m p e l sein e i g e n e s c h r i s t l i c h e s Verständnis: I h m l a g daran, d a s A l t e T e s t a m e n t in d i e christliche Tradition z u int e g r i e r e n u n d für d i e K i r c h e v e r b i n d l i c h z u erhalten. H i e r i n sah er s i c h durcha u s in Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t V i s c h e r . J e d o c h w a r f er d i e s e m vor, d e m E i g e n a n l i e g e n der a l t t e s t a m e n t l i c h e n T e x t e n m i t seiner c h r i s t o l o g i s c h e n A u s l e g u n g nicht g e r e c h t w e r d e n z u k ö n n e n . a) „Genossen

Einer

Verheißung"

- der Entwurf

A l s 1 9 3 4 der erste B a n d d e s Christuszeugnis

von W. des Alten

Vischer Testaments

erschien,

s p a l t e t e d a s B u c h „die T h e o l o g e n in e i n L a g e r v o n E m p ö r u n g aus d e n F a c h k r e i s e n u n d e i n e s v o n B e g e i s t e r t e n a u s der S c h u l e Karl Barths" 4 1 . V i s c h e r 39 1952 äußerte sich HEMPEL (Das Alte Testament im Religionsunterricht, 323ff.) noch einmal explizit zu der Frage nach einer bleibenden Gegenwartsbedeutung der alttestamentlichen Schriften innerhalb des Christentums. Positiv beantwortet er die Frage mit dem Verweis darauf, daß das Gottesgesetz wie im Alten Testament auch heute der einzige Weg zum Frieden innerhalb der menschlichen Gemeinschaft sei (aaO. 323). Zudem gebe es ,analogia fidei' zwischen den beiden Testamenten, so z.B. in dem Satz Jakobs: „Ich bin zu gering". Dennoch aber bleibe das Alte Testament das Alte. Denn im Zentrum seines Glaubens stehe der fordernde Gott, der sein Friedensangebot an seinen zu erfüllenden Willen binde. Gefordert werde Gehorsam nicht aus rationalen Gründen, sondern als blinder Gehorsam. Die Gegenwart aber, so Hempel, habe große Probleme mit dem alttestamentlichen Bild eines fordernden Gottes. Der christliche Religionsunterricht solle deshalb nicht den fordernden, sondern den sich selbst schenkenden Gott in den Mittelpunkt stellen. Damit aber schlägt Hempel eine eklektische Behandlung derjenigen alttestamentlichen Texte vor, die in der Rolle des Zuchtmeisters auf Christus hin stehen (aaO. 324-327). 40 Vgl. z.B. HEMPEL, Chronik der ZAW 54 (1936) 305 und DERS., Chronik der ZAW 59 (1942/43) 209-215. 41 BETHGE, Dietrich Bonhoeffer, 598. WÜRTHWEIN (Bemerkungen, 259) stellt fest: „Unter all den Büchern, die erschienen sind, hat in der theologischen Welt kaum eines so viel Aufsehen erregt wie das Wilhelm Vischers." ABRAMOWSKI (Vom Streit, 93) spricht von einem „Streit um Vischer". VON RAD (Das Christuszeugnis, 250) hebt das begeisterte Echo, das Vischer gerade unter der Jugend fand, hervor. KRAUS (Geschichte, 426) faßt die Reaktionen so zusammen: „Dieses Buch von Wilhelm Vischer hat in der gesamten theologischen Wissenschaft Alarm geschlagen" (im Original kursiv). BAKER (TWO Testaments, 94) bezeichnet den Entwurf Vischers als „turning point" in der Geschichte der Auslegung des Alten Testaments. Vgl. hierzu auch R. RENDTORFF, Christologische Auslegung, 82f.

1. Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung

203

hatte zu diesem Zeitpunkt seinen Lehrstuhl für Altes Testament in Bethel bereits verloren42 und war inzwischen Pfarrer der deutschen Gemeinde in Lugano geworden 43 . Als Theologe stand er ganz in der Tradition der Bekennenden Kirche, die das einheitliche Zeugnis von Altem und Neuem Testament betonte 44 . In diesem Sinne erkannte er das Christuszeugnis auch in den alttestamentlichen Schriften 45 . Er versuchte, dem Alten Testament wieder eine theologische Deutung zu geben, die die christliche Bibelwissenschaft so lange hatte vermissen lassen 46 . Für Vischer stand fest, daß die gesamte Schrift Jesus von Nazareth als den Christus bezeuge 47 . Beide Teile der Schrift besäßen jedoch eine eigene Funktion: „Das Alte Testament sagt, was der Christus ist, das Neue wer er ist"48. Das Neue Testament bezeuge die alttestamentlichen Verheißungen als in Christus erfüllt49. Die Erfüllung sei aber nicht als deren Ab- bzw. Auflösung zu interpretieren50, denn sowohl die Christen wie auch die alttestamentliche Gemeinde harrten auf die Wiederkunft des Messias: „Erst wenn Jesus in Herrlichkeit erscheint, ist das Ziel aller Wege, die die Menschen des Alten Bundes gegangen sind, erreicht. Bis dahin wandern wir mit ihnen als Genossen Einer Verheißung, im Glauben, noch nicht im Schauen"51.

42 Zu den Vorgängen s. BÖDECKER, Das Sommersemester 1933; FRICK, Der „Fall Vischer". 43 Zu Vischers Lebenslauf vgl. MICHAELIS, Der „Fall Vischer". S. auch HARDMEIER, Worte des Gedenkens; WILLI, Wilhelm Vischer und SCHROVEN, Theologie, 174-180. Eine Bibliographie der Schriften Vischers findet sich in: Bethel 30 (1985) 106-112. Vischer ging 1936 von Lugano an die Kirche St. Jakob in Basel und als Privatdozent an die dortige Theologische Fakultät, bevor er 1946 als Professor für Altes Testament an die reformierte Theologische Fakultät in Montpellier berufen wurde. 44 S. oben 66f. 45 Vischer bereitete die Grundgedanken seines Entwurfs bereits in einem Vortrag Das Alte Testament und die Verkündigung vor. 46 Zu den Forschungsstreitigkeiten um die theologische Bedeutung des Alten Testaments s.oben Kap. III, passim. BAKER (Two Testaments, 104) weist darauf hin, daß Vischer mit seinem Entwurf „the traditional Christian approach to the Old Testament, apart from that of Marcion and his followers, until the rise of historical criticism in the eighteenth and nineteenth centuries" aufnahm. 47 Hier zeigt sich Vischers Nähe zu Karl Barth. Für Barth ist die Schrift darum Wort Gottes, weil sie Christuszeugnis ist - und zwar als gesamte Schrift. „Sie hat Autorität nicht sofern, sondern weil sie .Christum treibet'" (JOEST, Dogmatik I, 65). VISCHER (Christuszeugnis I, 35) beruft sich selbst ausdrücklich auf Barth. 48

VISCHER, a a O . 7.

49

VISCHER, aaO. 26. So sei Christus als Abrahams Sohn Erfüllung des Versprechens an Abraham (aaO. 21). 50

VISCHER, a a O . 2 6 f .

31

VISCHER, a a O . 2 9 .

204

V. Altes Testament und völkische Frage

Seine christlichen Glaubensgeschwister erinnerte Vischer deshalb immer wieder daran, daß das Christentum tief mit den alttestamentlichen Schriften verbunden bleibe: „Christentum heißt doch das Bekenntnis, Jesus sei der Christus in dem Sinne, wie das Alte Testament den Messias Israels bestimmt" 52 . Aus der Entfaltung seines Entwurfs wird deutlich, wie Vischer diese Grundvoraussetzungen in einzelnen alttestamentlichen Texten konkretisiert sieht: Schon das im Alten Testament geschilderte Schöpfungsgeschehen verortet er in Christus, durch den die Schöpfung letztlich erst ihren Sinn erhalte: Christus sei das Wort, das im Anfang bei Gott war, er sei Wurzel, Sinn und Wahrheit der Schöpfung 53 . Erst in ihm und durch ihn werde Erkennen und Verstehen möglich, denn: „Jesus ist der ,Exeget' Gottes, durch den allein der Ewige sich ausspricht"54. So postuliert Vischer für Gen 1: „Alles, was in diesem Kapitel steht, ist Christusverkündigung" 55 , und bindet den christlichen Glauben unverbrüchlich an die Anerkennung des alttestamentlichen Zeugnisses: „Wer an einen Jesus glaubt, der mit diesem Kapitel entweder nichts zu tun hat, oder nur insofern als er ein Glied, vielleicht sogar das vornehmste Glied der geschaffenen Welt ist, der glaubt nicht wirklich an den Christus Jesus" 56 . Die mit der Auslegung von Gen 1 aufgezeigte grundlegende Position Vischers spiegelt sich auch in seiner theologischen Arbeitsweise wider, mit der er die einzelnen Texte interpretiert. Seine Methode zeichnet sich über weite Strecken durch eine meditativ-exegetische Auslegung der alttestamentlichen Texte aus57: In der biblischen Urgeschichte findet er die Fragen seiner Zeitgenossen bereits abgebildet, denn in ihr erkennt er das Paradigma menschlicher Probleme, Ängste und Nöte. Das Christusgeschehen sei nicht der totale Einbruch einer neuen Dimension, sondern in ihm werde das erneuert und bestätigt, was Gott bereits in dem Bund mit Kain in seiner Bindung an den sündigen Menschen gezeigt habe58. 52

VISCHER, a a O . 3 1 .

53

VISCHER, a a O . 6 5 .

54

VISCHER, a a O . 6 6 .

55

VISCHER, a a O . 6 4 .

56

VISCHER, a a O . 6 5 .

57

KRAUS (Geschichte, 428) umreißt Vischers Methode folgendermaßen: „In zumeist genialen Intuitionen spürt Vischer die Assoziationen des alttestamentlichen Kerygmas zur neutestamentlichen Christusbotschaft auf. Eine hohe künstlerische Fähigkeit läßt ihn die hebräischen Urworte und den fremden Sinnzusammenhang eines Textes geheimnisvoll erahnen. Aber es fehlt überall die geschichtliche und textliche Differenzierung und damit auch die sachgerechte Nuancierung der alttestamentlichen Botschaft". Dabei erhebt Vischer durchaus den Anspruch, Ergebnisse der neueren alttestamentlichen Forschung miteinzubeziehen (so z.B. in: Christuszeugnis I, 35). Zur Verteidigung von Vischers Selbstanspruch vgl. BAKER, Two Testaments, lOOf. 58

VISCHER, a a O . 9 4 .

1. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen Forschung

205

Vischer spricht auch davon, daß Geschehnisse, die im Alten Testament berichtet werden, Vorbild für das Christusgeschehen seien: Die Rettung Noahs und seiner Familie „in der Arche durchs Wasser hindurch (wurde) das Vorbild der Rettung durch die Taufe in der Kirche"59. Zugleich findet er Hinweise auf das, was in Jesus Christus zur Vollendung gebracht werden wird. So interpretiert er z.B. die Heilsverheißung in Hos 1 l,8f. als „Hinweis" auf die letzte Begnadigung, die in der „Menschwerdung und Passion des Menschensohnes" geschieht 60 .

59 VISCHER, aaO. 116. Vischer formuliert diese Sätze in Anlehnung an das neutestamentliche Zeugnis in Hebr 11,7; 1 Petr 3,20f.; 2 Petr 2,5. Eine Prolepse erkennt Vischer (aaO. 166) aber auch innerhalb des Alten Testaments in der Rauchsäule aus Gen 15, welche die Wolkenund Rauchsäule beim Exodus antizipiere. Die Geburt Jesu in einer Krippe findet Vischer (aaO. 205) in dem Kästchen, in das Mose gelegt wird (Ex 2), vorgebildet. Der Tod Simsons am Opferfest Dagons sei wiederum ein Vorzeichen für den Opfertod Jesu Christi am Passahfest (DERS., Christuszeugnis II, 101). Die zwölf Richter gehen für Vischer dem Gesalbten des Herrn, dem König voraus. Entsprechend bezeugten die zwölf Apostel das zukünftige Königtum des Gekreuzigten (aaO. 144). Die Errettung Israels durch den Hirten David zeuge von der Rettung der Herde Gottes durch den Hirten Jesus Christus (aaO. 209). Ebenso entsprechen für Vischer die Vertrauten Davids den Aposteln (aaO. 257) wie auch die Volkszählung unter David (Gen 24) die Zählung unter Augustus, mit der die Wanderschaft der Eltern Jesu beginnt, vorwegnehme (aaO. 258). Das Verhältnis Elia - Elisa spiegele sich in der Konstellation Johannes - Jesus wider (aaO. 443).

Obwohl die Kritik Vischers Ansatz oft so darstellt, als sei es sein einziges Anliegen gewesen, Christus direkt aus den alttestamentlichen Schriften heraus- und in sie hineinzulesen, finden sich in seinem Buch nur wenige Stellen, die diesen Vorwurf rechtfertigen. Ein Beispiel hierfür ist seine Auslegung des Kampfs Jakobs am Jabbok. Unter Berufung auf Luther sieht Vischer in Jakobs Gegenüber nicht einen Engel, sondern Jesus Christus selbst, der „in jener Nacht, da er den Patriarchen in der Einsamkeit überfiel, eine ,Larve', eine Maske angelegt" hatte (DERS., Christuszeugnis I, 189). Auf dem Berge Sinai hat Mose nach Vischer (aaO. 258) bereits einen Schattenriss des Leibes Jesu gesehen. In dem von den Babyloniern eingesetzten Exilskönig Jojachin erscheine Israel in der Verbannung der Eine, der „Knecht des Herrn", und in der Erhöhung Jojachins durch Nebukadnezar werde die endgültige Erhöhung Jesu Christi vorangekündigt (DERS., Christuszeugnis II, 555f.). Nach CHILDS (Old Testament, 239) kann Vischers Auslegung des Kampfs am Jabbok, wie auch die von Gen 14 und der Aqedah, als Allegorie bezeichnet werden. Gegen den Vorwurf der Allegorisierung wendet sich BAKER, Two Testaments, 101. 60 VISCHER, Christuszeugnis I, 119. Hinweise sieht er auch im Darbringen von Brot und Wein durch Melchisedek (Gen 14) auf das Sakrament des Neuen Bundes (aaO. 164). In der Opferung Isaaks erkennt er einen Hinweis auf Karfreitag und Ostern (aaO. 176). Die täglichen Opfer im Tempel und das Opfer am Versöhnungstag weisen nach Vischer über sich selbst hinaus auf die „einmalige alles deckende Opfergabe" Jesu Christi (aaO. 266f.). In der Passage über die Rote Kuh, an der kein Makel haften darf und die Verunreinigung entsühnt, sieht Vischer einen Hinweis auf Jesus Christus: „Das ist das Evangelium, das uns im Abschnitt von der roten Kuh verkündigt und durch die Sakramente der Taufe und des Abendmahls bestätigt wird" (aaO. 278). Jeremias Worte vom Untergang Jerusalems und der Zerstörung des Tempels (Jer 45) gäben Zeugnis dafür, „daß Jerusalem in der Absicht, sich selbst zu

206

V. Altes Testament und völkische Frage

Immer wieder verwendet er das Schema ,Verheißung - Erfüllung', um das Verhältnis von Altem und Neuem Testament darzustellen 61 : So besäßen die Bundesschlüsse im Alten Testament eine besondere Relevanz, der neue Bund in Jesus Christus aber sei die „Erfüllung aller Gottesbünde" 62 . Auch hier betont Vischer jedoch, daß die Erfüllung im Neuen Testament nicht die Aufhebung der alttestamentlichen Zusagen bedeute. Mit dem Neuen Bund würden nicht etwa die alten Bundesschlüsse entwertet, sondern das Christusgeschehen bestätige die zuvor geschlossenen Bünde: „Christus Jesus ist das Ja und Amen auf den noachitischen Bund" 63 . Denn auch dieser sei zu seiner Zeit bereits auf den Mittelpunkt Jesus Christus hin geschlossen worden64. Die Eindeutigkeit, mit der Vischer den alttestamentlichen Texten einen besonderen Stellenwert innerhalb der christlichen Theologie zusprach, zeichnet seine Position auf dem Hintergrund der angefochtenen Lage aus, in der sich die alttestamentliche Wissenschaft zur Zeit des Erscheinens des Christuszeugnis befand. Vischer bemühte sich zu zeigen, daß auch Christen den alttestamentlichen Texten positiv gegenübertreten und sie in ihrer theologischen Aussage ernstnehmen können. Sein Anliegen war nicht die Profilierung der positiven, leuchtenden christlichen Botschaft vor dem Hintergrund des dunklen Alten Testaments. Vielmehr sah er die Menschen des Alten Testaments parallel zu den Aussagen des Hebräerbriefes 65 als Zeugen auf Christus hin. In seiner christologischen Interpretation des Alten Testaments setzte sich Vischer auch mit dem jüdischen Zugang zur Hebräischen Bibel auseinander. Er war sich bewußt, daß aus der Schrift nicht bewiesen werden kann, daß Jesus der Messias ist. Zwar weise der neutestamentliche Schriftbeweis in diese Richtung, den letztendlichen Beweis habe aber der Heilige Geist selbst zu führen 66 . Die Tatsache, daß viele Jüdinnen und Juden in Jesus nicht den vererhalten, das lebendige Wort Gottes, den Christus Jesus, verwerfen und den Heiden ausliefern wird" (DERS., Christuszeugnis II, 549). 61 So sieht VISCHER (Christuszeugnis I, 200) z.B. den Judasegen (Gen 38) in Jesus Christus als dem Messias erfüllt. 62

VISCHER, a a O . 139.

63

VISCHER, aaO. 140. S. hierzu auch DERS., Der noachitische Bund, 25. VISCHER, Christuszeugnis I, 127. So auch DERS., aaO. 225: Die neutestamentlichen Zeugen bezeugten, daß „durch den gekreuzigten und auferweckten Messias die ewige Gültigkeit des Alten Bundes bestätigt ist". Auch das Gesetz, das nach Vischer die Liebe Gottes zu den Menschen bezeugt, werde durch Jesus Christus nicht aufgehoben, sondern erfüllt, indem es aufgenommen und ausgeweitet werde (aaO. 309). Anders wirkt allerdings Vischers Auslegung des Passahfestes. Hier betont er, daß in Christus das Passahfest „aufgehoben und erfüllt" ist (aaO. 215). 65 S. z.B. in: VISCHER, aaO. 163f. (Priestertum Melchisedeks) und 175f. (Glaube Abrahams). Zur neueren Diskussion um die Interpretation der „Wolke der Zeugen" aus Hebr l l f . vgl. die Kontroverse zwischen KLAPPERT (Bibelarbeit) und GRÄSSER (Exegese). Hierzu auch 64

HAACKER, D e r G l a u b e . 66

VISCHER, a a O . 4 0 .

I. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen

Forschung

101

heißenen Messias erkennen, nahm er wahr und ernst. Aber er war davon überzeugt, daß auch der im jüdischen Glauben erwartete Messias Christus ist. Insofern sei die Heilsverheißung auch für die jüdische Glaubensgemeinde an Jesus Christus gebunden. Die christliche Kirche habe nicht den Anspruch, den Juden die alttestamentlichen Verheißungen zu rauben. Aber sie müßten „das Eine anerkennen, daß Jesus, den sie verworfen haben 67 , von Gott zum Herrn und Christus gemacht ist; diese Metanoia, dieses Umsinnen ist die einzige Bedingung, dann können auch sie aus dem Reichtum des göttlichen Testaments schöpfen." 68 Während sich Vischer im Warten auf den gemeinsamen Messias mit dem Judentum als „Genossen Einer Verheißung"69 verbunden fühlte, war er einer der wenigen Alttestamentler seiner Zeit, die auch jüdische Bibelauslegungen in die eigene Arbeit miteinfließen ließen. Die in seinem Entwurf zitierten jüdischen Werke umfassen nicht nur Midrash und Talmud, sondern auch zeitgenössische jüdische Bibelwissenschaftler und Gelehrte wie Martin Buber, Arnold Ehrlich und Leo Baeck. Ausdrücklich betonte Vischer, wie viel er von der Lektüre Bubers für seine eigene Arbeit gelernt habe70. Er nennt Buber neben Luther und Calvin als eine Autorität, an der er seine eigene Auslegung reflektieren wolle, denn „die Gefahr, daß wir den biblischen Schriften unseren eigenen Sinn unterschieben, ist groß" 71 . Er war jedoch überzeugt, daß der Christus des Neuen Testaments auch der im Alten Testament verkündete und somit der im jüdischen Glauben erwartete Messias sei. Deshalb sprach er den Juden einen von der Anerkennung Jesu Christi unabhängigen Zugang zum

67

An anderer Stelle klagt VISCHER (Christuszeugnis I, 143) Israel an, Christus ans Kreuz und damit in den Tod ausgeliefert zu haben. 68 VISCHER, aaO. 32. Vgl. auch DERS., Christuszeugnis II, 45.49. 69

VISCHER, aaO. 2 9 .

70

Vgl. hierzu auch VISCHERS Bericht (Antwort, 73) über seine Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Studentengruppe in Bethel, die ihm u.a. seine positive Äußerungen zu Buber zum Vorwurf machten. In seinem zweiten Band des Christuszeugnisses, der im Jahre 1942 erschien, zitiert Vischer die Kinderbeilage der Jüdischen Rundschau von 1938 (DERS., Christuszeugnis II, 279). Damit gibt er deutlich zu erkennen, daß er trotz der Propaganda des Dritten Reichs jüdisches Leben wahr- und ernstnahm. Vgl. hierzu auch den Beitrag Vischers zum Erstentwurf des Betheler Bekenntnisses: Die Kirche und die Juden. Hier wehrt sich Vischer besonders gegen den Ausschluß von Judenchristinnen und Judenchristen aus der Kirche, spricht aber auch von der bleibenden Treue Gottes gegenüber „Israel nach dem Fleische" (Erstentwurf zum Betheler Bekenntnis, abgedruckt bei ROHM/THIERFELDER, Juden 1, 195f.). Zur Diskussion um die abschwächenden Veränderungen von Vischers Entwurf und seinen enttäuschten Rückzug vgl. BETHGE, Dietrich Bonhoeffer II, bes. 86ff.; VAN DER Kooi, Das Betheler Bekenntnis, 13 und SCHROVEN, Theologie, 216-222. 71 VISCHER, Christuszeugnis I, 38. Trotz aller Übereinstimmung, die Vischer für seinen eigenen Ansatz mit Bubers Werken aufzeigt, weist er ausdrücklich auf die Tatsache hin, daß Buber frommer Jude geblieben ist (aaO. 39).

208

V. Altes Testament und völkische Frage

göttlichen Heil ab72. Denn der rechte Zugang zum Alten Testament konnte für Vischer nur im Christusgeschehen liegen. Mit seiner einseitigen Deutung der alttestamentlichen Schriften auf das , Christuszeugnis' hin erntete Vischer schon seinerzeit umfassende Kritik von seinen Fachkollegen. In Frage gestellt wurde jedoch nicht das grundsätzliche Anliegen einer auf Christus bezogenen Auslegung der alttestamentlichen Texte 73 , sondern das methodische Vorgehen: Von Rad warf Vischer vor, den biblischen Text unter Ausschaltung der literarkritischen Forschungsergebnisse willkürlich zu vereinheitlichen und damit den „Chor der Stimmen, die Gottes Gericht und Heil bezeugen", in seinem Reichtum zu verkennen 74 . Auch Herntrich kritisierte Vischer, die geschichtliche Frage der Heilsgeschichte außer acht gelassen zu haben 75 . So komme er nicht aufgrund exegetischer Arbeit an den alttestamentlichen Texten zu dem „Christuszeugnis im Alten Testament", sondern dadurch, daß er das neutestamentliche Zeugnis unmittelbar neben das alttestamentliche Wort stelle76. Für Herntrich steht jedoch fest, daß nur die Exegese zeigen könne, „inwiefern die geschichtliche Begegnung und Einmaligkeit nun doch den Rahmen der Geschichte sprengt und über sich hinausweist" 77 . Würthwein sah in diesem Mangel an exakter exegetischer Arbeit „eine tiefe Resignation, die der wissenschaftlichen Forschung keine Relevanz für die alttestamentliche Wissenschaft zuerkennt" 78 . Er wies deshalb die L ö sung' Vischers, die dieser für die Frage der Heilsgeschichte anbiete, zurück:

72

R. RENDTORFF (Die jüdische Bibel, 105) hebt in seiner Kritik an Vischer hervor, daß Vischer das Alte Testament für die christliche Kirche „um den Preis einer ausdrücklichen Bestreitung des jüdischen Anspruchs auf das Alte Testament" gerettet habe. Rendtorff spricht sogar davon, daß zwar die christliche Auslegung des Alten Testaments, wie sie Vischer vertreten habe, eine der wenigen positiven Zugänge zum Alten Testament in der Zeit des Dritten Reichs darstelle, sich aber dadurch auszeichne, daß sie „ihren eigenen neugewonnenen Zugang zum Alten Testament polemisch gegenüber dem Judentum" abgrenze. Zur Auseinandersetzung zwischen Vischer und Rendtorff s. VISCHER, A propos. 73 Vgl. hierzu VON RAD (Das Christuszeugnis, 251): „Gerade weil wir glauben, daß Christus schon in der Geschichte des alten Bundes zu finden ist", und BAUMGÄRTEL (Zur Frage, 161): „Das theologische Deutungsprinzip des Alten Testaments ist (...) Jesus Christus. Das Ja zu dem in ihm gesetzten Heilswerk Gottes ist die Grundlage aller theologischen Arbeit an der Schrift." 74 VON RAD, aaO. 252. Auch BAUMGÄRTEL (Das Christuszeugnis, 316) wirft Vischer eine unzulässige Verkürzung des Zeugnisgehaltes des Alten Testaments vor, da Vischer sich in der Nachprüfung des Schriftbeweises erschöpfe. Zu Baumgärtels Auseinandersetzung mit Vischer s. auch DERS., Zur Frage. 75 HERNTRICH, Theologische Auslegung, 182. 76

HERNTRICH, a a O . 186.

77

HERNTRICH, e b d .

78

WÜRTHWEIN, Bemerkungen, 266.

1. Gegenwartsaufgaben der alttestamentlichen Forschung

209

„Sie entbehrt der nötigen Bindung an den Text und der wissenschaftlichen Sorgfalt und Umsicht in seiner Herausarbeitung" 79 . ß) Das Alte Testament im christlichen Glauben In der Chronik der ZAW von 1936 geht Hempel auf den ersten Band des Christuszeugnis ein. Wie Vischer ist auch er von einer starken inneren Verbundenheit der beiden Testamente überzeugt. Wo jener jedoch im ,Christuszeugnis' das die Einheit der Schrift begründende Element sieht, hebt Hempel den göttlichen Heilswillen als das Herzstück der biblischen Texte hervor: „In dem, was das AT von diesem Heilswillen als dem innersten Walten Gottes zu sagen weiß, ist es , Weissagung' auf den Christus" 80 . Inwiefern ist aber das Alte Testament .Weissagung'? Für Hempel bereitet der Glaube des Alten Testaments an einen „Heilswillen Gottes aus Gottes eigenstem innersten Wesen" 81 die Enthüllung des göttlichen Heilswillens vor, der dann in Jesus Christus Wirklichkeit in menschlicher Gestalt werde. Mit dieser .Enthüllung' führe Gott sein Heilswerk über das Alte Testament hinaus. In dieser Perspektive liege die tiefste .Weissagung' im Alten Testament, „das ,heimliche' Regen des Geistes Jesu Christi durch die Besonderheit des geschichtlichen Standpunktes hindurch" 82 . Hempel ist davon überzeugt, daß die alttestamentlichen Texte nur dann richtig zu verstehen seien, wenn in ihnen die auf Christus hinführende Gottesabsicht geschaut werde. Dann aber lasse sich z.B. der bereits in den alttestamentlichen Texten angelegte Gegensatz zur jüdischen ,Leistungsreligion' erkennen. Hempel postuliert hiermit, daß nicht etwa das Judentum das Alte Testament richtig verstehe, wenn es die Thora als Gesetz interpretiere, sondern eben das Christentum, das allein diesen bereits in den alttestamentlichen Texten angelegten Gegensatz erkennen könne. In diesem Sinne formuliert er: „Es (sc. das Alte Testament) hat seine legitime Stelle allein als - nicht zum Ziel gekommene - Vorbereitung auf den Christus, den die Synagoge tötete, nicht als Vorbereitung auf die Synagoge, die ihn ans Kreuz schlug." 83 Hempel war davon überzeugt, daß das Alte Testament seinen Ort in der christlichen Verkündigung habe. Er erkennt in den alttestamentlichen Texten 79

WÜRTHWEIN, aaO. 2 7 2 .

80

HEMPEL, Chronik der ZAW 54 (1936) 305.

81

HEMPEL, e b d .

82

Hempel zitiert hier Hirsch, Luthers Deutsche Bibel (1928), 50. 83 HEMPEL, Chronik der ZAW 54 (1936) 306. Werden andere Schriften Hempels zum Vergleich herangezogen, so fällt auch hier die Suche nach einem Altes und Neues Testament verbindenden Begriff auf. Im Jahre 1942 beschreibt HEMPEL (Chronik der ZAW 59 [1942/43] 214) die doppelte Bindung, die die beiden Testamente im Begriff der „Verheißung" erführen: „Das Bindeglied aber, das die Bibel als Einheit zusammenschließt, ist der Begriff der Verheißung, der das AT auf das NT ausgerichtet sein läßt und die Stellung des NT im Gesamtorganismus der Offenbarungs- und Heilsgeschichte vom AT her ihr Licht erhalten läßt".

210

V. Altes Testament und völkische

Frage

„Weissagung", „Hinweis" und „Vorbereitung" auf das Christusgeschehen, nicht jedoch das Evangelium selbst. Mit diesen Grundkoordinaten wollte er dem Eigenanliegen der alttestamentlichen Schriften gerecht werden. Hingegen warf er Vischer vor, den Text nicht aus sich selbst heraus zu interpretieren. Vielmehr gehe dieser mit der dogmatischen Vorentscheidung, daß Altes und Neues Testament ein einheitliches Zeugnis ablegten, an die Texte heran 84 und deute so das Alte zu stark vom Neuen her. Damit werde aber „die Geschichte (...) um den Ernst ihrer Einmaligkeit gebracht" und „dem Text Gedanken untergeschoben', die in ihm keinesfalls enthalten" seien85. Der Vergleich zwischen Vischers Entwurf und Hempels Aussagen zur Wertung der alttestamentlichen Texte innerhalb des christlichen Glaubens zeigt die Differenzen, die zwischen beiden herrschten: Für Vischer ist das Christuszeugnis im Alten Testament allgegenwärtig. Als Beleg nennt er immer wieder einzelne alttestamentliche Geschichten und Gestalten, die das Zeugnis Christi trügen. Diese hätten ihren Wert als Christuszeugnis und als Vorbild für die christliche Gemeinde 86 . Ebenso bildeten verschiedene alttestamentliche Texte das Christusgeschehen bereits ab. Auch er benennt einige wenige Passagen, die er als abstoßend empfindet wie z.B. die Geschichte von Noahs Trunkenheit. Im ganzen jedoch erhält das Alte Testament eine positive Stellung im christlichen Glauben 87 . Denn diesen kann es ohne eine tiefe Bindung an das Alte Testament nicht geben - eine Verwerfung der alttestamentlichen Texte widerspräche dem Christusglauben88. Hempel gewinnt dagegen den einzelnen alttestamentlichen Erzählungen und Gestalten wenig ab. Er ist vielmehr auf der Suche nach Grundaussagen des Alten Testaments. Nur in ihnen sieht er eine bleibende Bedeutung für das 84 HEMPEL (aaO. 211) spricht vom „Panbiblizismus" Vischers, da dieser das Alte Testament nur in Einheit mit dem Neuen interpretiere. Im Vergleich zum „Panbabylonismus", der das Alte Testament auf dem Hintergrund der gesamten altorientalischen Weltanschauung deute, besitze der „Panbiblizismus Vischers zweifellos den Vorzug größerer Sachgemäßheit", da der Glaube des Neuen Testaments dem des Alten näherstehe als Babylon. 85 HEMPEL, Chronik der ZAW 54 (1936) 305. Vgl. auch DERS., Chronik der Z A W 59 (1942/43)210. 86 So sollten sich Christen in ihrer Fürbitte an dem Beispiel Abrahams orientieren, wie dieser in seinem Bitten für die Menschen von Sodom und Gomorrah vor Gott getreten sei (VISCHER, Christuszeugnis I, 156). 87 Neben den aufgeführten Beispielen ist hier besonders Vischers positive Deutung des alttestamentlichen Gesetzes als Teil des Bundesgeschehens hervorzuheben (DERS., Das Alte Testament, 9f.). 88

Aus diesem Grund galt Vischers Entwurf als der innovative Ansatz für einen neuen Zugang zu der Hebräischen Bibel in der Zeit des Dritten Reichs in Deutschland. Durch seine unbedingte Bindung des christlichen Glaubens an die alttestamentlichen Texte war eine eindeutig positive Stellung gegenüber dem Alten Testament in der christlichen Theologie gefunden.

1. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen

Forschung

211

Christentum. Trotz seiner ausdrücklichen Wertschätzung des Alten Testaments für die christliche Theologie kann er so auch von der „Unterchristlichkeit" einzelner alttestamentlicher Figuren und Texte sprechen89. Wie Vischer ist Hempel davon überzeugt, daß sich im Alten Testament der Geist Christi rege. Hempel sieht ihn jedoch dort, wo sich bereits in den alttestamentlichen Schriften ein Widerspruch gegen die „jüdische Leistungsreligion" zeige. Vischer erkennt Christus nicht im Widerspruch, sondern im zentralen Geschehen selbst. Beide sehen das Christentum als legitimen Erben der alttestamentlichen Verheißungen, für beide hat das Judentum den eigentlichen Sinn des Alten Testaments verfehlt. Hempel erkennt hierin einen endgültigen Zustand, denn das Judentum sei aufgrund seines Fehlverhaltens von Gott verworfen. Vischer hält dagegen an der Hoffnung auf eine Bekehrung der Juden zu Christus fest und fühlt sich mit ihnen in diesem Sinne im Warten auf den Messias verbunden. Für Hempel wie für Vischer gilt, daß sie eine zweckgebundene Auslegung des Alten Testaments betreiben, indem sie es für Christen und Christinnen lesbar machen wollen: Hempels christliche Annäherung an das Alte Testament nimmt das christliche Gewissen als Maßstab für eine Entscheidung über Wert und Unwert alttestamentlicher Texte. Nur dort, wo das im Alten Testament Geschilderte christlichem Gedankengut entspreche und somit zum „Hinweis" auf das Christusgeschehen werde, könne es auch für Christen Bedeutung beanspruchen. Unchristliche Gedanken, die sich durchaus im Alten Testament fänden, besäßen keine Relevanz für den christlichen Glauben. Mit der Rückbindung an christliche Glaubensinhalte als Maßstab über Wert und Unwert einzelner alttestamentlicher Texte wird das Alte Testament im Entwurf Hempels christianisiert'. Vischer will hingegen das gesamte Alte Testament als Zeugnis dessen, was der Christus ist, verstanden wissen. Denn bereits in den alttestamentlichen Texten zeichne sich der „Christus Jesus" ab. Seine Methode ist somit als ,christologische Auslegung' des Alten Testaments zu bezeichnen, denn ihm geht es darum, das Christusgeschehen in den alttestamentlichen Texten wiederzuentdecken. In der Gegenüberstellung der beiden Ansätze wurde deutlich, wie unterschiedlich die beiden Alttestamentier die Texte des Alten Testaments interpretierten. Während Vischer im Alten Testament das Christusgeschehen selbst verankerte, hob Hempel die geschichtliche Gebundenheit und Einmaligkeit des im Alten Testament geschilderten Geschehens hervor. Hempel weiß sich 89 Grundsätzlich formulierte HEMPEL 1930 (Altes Testament und Geschichte, 82): „So liegt die Schwierigkeit einer theologischen Erfassung des A.T. nicht in der zeitgeschichtlichen Bedingtheit in allen ihren Ausprägungen, sondern darin, daß sich uns nicht das Ganze des A.T. als lebendiges Gotteswort bezeugt."

212

V. Altes Testament und völkische

Frage

in der Betonung der Einheit der beiden Testamente mit Vischer verbunden und wirft ihm dennoch vor, die „geschichtliche Begrenztheit" 90 der alttestamentlichen Texte zu vernachlässigen. In Auseinandersetzung mit Vischers Ansatz beansprucht Hempel für sich „eine(n) theologischen Arbeitsweg(...), der die letzte Einheit der Schrift ebenso ernstzunehmen bereit ist wie ihre Verschiedenheit, ihre Verbindlichkeit wie ihren historischen' Charakter, die Bindung des Glaubens an das sich ihm bezeugende Wort wie seine Freiheit von Worten, die sich ihm nicht bezeugen" 91 . c) Religionsgeschichte

in christlicher

Verantwortung

Hempels großes Anliegen bestand darin, das Alte Testament in seiner Eigenaussage ernstzunehmen und die alttestamentlichen Texte in der christlichen Tradition zu verankern. In diesem Bestreben galt sein Augenmerk besonders der Religionsgeschichte. Er bemühte sich, die alttestamentliche Wissenschaft mit der religionsgeschichtlichen Forschung zu verknüpfen. In einem kleinen Aufsatz aus dem Jahre 1926 äußerte sich Hempel als Alttestamentler in der Orientalistischen Literaturzeitung, und damit vor einem nicht vornehmlich theologisch interessierten Publikum, zum Verhältnis zwischen alttestamentlicher Wissenschaft und Religionsforschung. Hier stellte er die grundlegende These auf, daß Israel trotz all der Fremdeinflüsse „ein außergewöhnliches Maß von Selbständigkeit bewahrt" 92 habe. Mit dem zitierten Satz verdeutlichte er das Ziel religionsgeschichtlicher Forschung innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft: Ohne die religionsgeschichtliche Betrachtung wäre die Zugehörigkeit Israels zur Welt des Alten Orients nicht zu erweisen. Zugleich könne nur im Vergleich die Eigenart der israelitischen Religion gegenüber den anderen altorientalischen Religionen herausgearbeitet werden. Um den Eigenwert der alttestamentlichen Texte erfassen zu können, bedürfe es religionsgeschichtlicher Erkenntnisse. In diesem Zusammenhang erhält die alttestamentliche Wissenschaft eine besondere Aufgabe: Nur sie könne erforschen, inwiefern die Eigenart der israelitischen Religion in der „Ausgestaltung überkommenen und übernommenen Gutes" bestehe 93 . Der religionsgeschichtliche Zugang dürfe deshalb bei der Betrachtung der alttestamentlichen Texte nicht alleine stehen. In diesem Sinne versuchte Hempel den Leserinnen und Lesern der Orientalistischen Literaturzeitung nahezulegen, daß die alttestamentliche Wissenschaft gerade als theologische Disziplin ein wertvolles Glied der Orientalistik sei: „Getrieben von ihrem (sc. der alttestamentlichen Wissenschaft) Interesse an der Eigenart und dem Eigenwert des AT., das ihr als Glied der Theologie innewohnt, drängt sie zur Ausbildung 90

HEMPEL, Chronik der ZAW 59 (1942/43) 215.

91

HEMPEL, ebd.

92

HEMPEL, Probleme, 773.

93

HEMPEL, ebd.

1. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen

Forschung

213

und Bewährung geisteswissenschaftlicher Methoden, die auch die Erforschung der übrigen Orient. Religionen und Kulturen zu fördern und zu vertiefen geeignet sind." 94 Alttestamentliche Theologie und Religionswissenschaft könnten und müßten sich also gegenseitig bereichern und seien deshalb aufeinander angewiesen95. In diesem Sinne setzte sich Hempel in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg dafür ein, „der allgemeinen Religionsgeschichte ihre oft angefochtene und in der Gegenwart von einflußreichen Richtungen lebhaft bekämpfte Stelle im Gesamtaufbau der theologischen Wissenschaft (...) zu sichern" 96 . Dennoch verstand er sich dezidiert als christlicher Theologe und betrieb die religionshistorische Erforschung des Alten Testaments im Hinblick auf ein besseres Verstehen der eigenen christlichen Religion. a) „ Ohne die Religionsgeschichte

ist die alttestamentliche Forschung blind"

Hempel, der an vielen Stellen Gemeinsamkeiten zwischen dem biblischen Israel und seiner altorientalischen Umwelt herausarbeitete, nannte als Ziel der alttestamentlichen Wissenschaft die „Wesenserfassung der alttestamentlichen Religion selbst" 97 . Der Weg lag für ihn in der religionsgeschichtlichen Methode: „Religionsgeschichte treiben heißt ja nicht, wie vielfach in kirchlichen Kreisen auf Grund einzelner nicht immer glücklicher Formulierungen aus den Anfangszeiten der neuen Arbeitsweise, aber ohne zureichende sachliche Begründung geargwöhnt wird, nivellieren, sondern vielmehr gerade auf der Grundlage einer Kenntnis des allen oder doch vielen Religionen Gemeinsamen die Individualität der einzelnen Religion klar erfassen" 98 . Von Anbeginn an verfolgte er dieses Ziel in seiner wissenschaftlichen Arbeit. Geprägt durch seine Lehrer Rudolf Kittel und Nathan Söderblom 99 versuchte er, „Fragestellungen, die die religiöse Entwicklung überhaupt betreffen, auf dem Boden des ATs zur Loesung zu bringen" 100 . Insofern verstand er seine Arbeit über die 94

95

HEMPEL, aaO. 7 7 5 .

Dem Leserkreis der Orientalistischen Literaturzeitung (OLZ) schien Hempel verdeutlichen zu wollen, daß auch die Orientalistik der alttestamentlichen Wissenschaft bedürfe, sie also nicht verwerfen könne. Vielmehr sei die Wissenschaft vom Alten Testament auch in der Altorientalistik als eigenständige Wissenschaft anzuerkennen und in ihren Methoden und Forschungsergebnissen für die Kenntnis des Alten Orients ernstzunehmen. 96 J. Hempel, Erzbischof Soederblom als Leipziger Professor (1933), S. 6, in: UUB, Sven Thulin-Nachlaß. 97 HEMPEL, Gegenwartsaufgaben, 367 (im Original gesperrt gedruckt). 98 H E M P E L , A U S dem Gebetsleben, 5 . 99 Vgl. hierzu oben 90ff. Schon sein Lehrer K I T T E L (Die Zukunft, 95) hatte es sich zum Anliegen gemacht, nach dem „spezifisch religiösen Gut" in der Religion Israels - im Vergleich zu anderen Religionen - zu fragen (s. hierzu oben 55). 100 J. Hempel an N. Söderblom vom 6.12.1920, in: UUB, N. Söderblom arkiv, brevsamling. Hempels besonderes Interesse galt der ,frömmigkeitsgeschichtlichen Methode', mit Hil-

214

V. Altes Testament und völkische Frage

allgemeinen Methoden der Orientalistik hinausgehend: Neben historischen Fragestellungen eröffneten sich auch religionspsychologische und systematische Aspekte, so z.B. in der Untersuchung, wie Übernommenes ausgestaltet werde 101 , und in der Frage „nach der Werthöhe und der religiösen Reinheit des geschilderten Erlebens"102. Hempel war davon überzeugt, daß das Alte Testament als altorientalische Religionsurkunde anzusehen sei, deren literarische Zeugnisse weitgehend von denen der Umwelt abhingen 103 . Dennoch hebe sich die israelitische Religion deutlich von den sie umgebenden Religionen ab104. Die Besonderheiten Israels gegenüber seiner Umwelt führte Hempel auf ein „innerliches Anderssein" Israels zurück105. Deshalb gelange der literargeschichtliche und religionsgeschichtliche Vergleich nicht „zur Nivellierung und Einebnung, sondern zu stärkerer Differenzierung" 106 . Denn im „religionsgeschichtlichen Vergleich (werde) immer wieder das Anderssein des Alten Testaments gegenüber den Religionen und Literaturen seiner Umwelt aufgezeigt" 107 . 1956 faßte Hempel in einem Aufsatz Altes Testament und Religionsgeschichte seine Arbeitsweise nochmals zusammen: „Woran mir lag, ist dieses: zu zeigen (...), daß ohne religionsgeschichtliche Forschung eine Kenntnis der Eigenart der alttestamentlichen Religion unmöglich ist. Nur sie enthebt uns der Gefahr, Züge, die auch im Alten Testament begegnen, für spezifisch ,alttestamentlich' zu halten und damit falsch zu bewerten. Die Grundstruktur der alttestamentlichen Religion erschließt sich uns nur im Vergleich mit den trotz weithin bestehender Gleichheiten in ihrem Kern anders strukturierten Umweltreligionen" 108 .

fe derer er die „inneren Schwingungen, die die Seele des alten Israeliten durchzittern" aufweisen wollte (HEMPEL, Gott und Mensch, V). Zum Begriff der ,frömmigkeitsgeschichtlichen Methode' s. auch DERS., Probleme, 774 und oben 98. 101

102

HEMPEL, a a O . 7 7 3 .

HEMPEL, Gott und Mensch, V. Zur Frage nach der ,Werthöhe' s. auch DERS., Probleme, 774. 103 HEMPEL, Fort, 6f. 104 HEMPEL, aaO. 10-16. Mit ihr werde ein Kampf gegen heidnische Unsitten geführt, JHWH werde als Weltenherr und nicht nur als Nationalgott verehrt, die ganze Geschichte als Folge des göttlichen Gerichts interpretiert. 105 HEMPEL, aaO. 8 (im Original gesperrt gedruckt). 106 HEMPEL, Gegenwartsaufgaben, 366. 107 HEMPEL, aaO. 369. In den 40er Jahren führte Hempel religiöse Eigenheiten auf volkliche Eigenart zurück. Die Religionsgeschichte erhielt damit die Aufgabe, ein besonderes Augenmerk auf die Eigentümlichkeiten der Religionen zu richten und diese „aus den besonderen Bedingungen ihres Werdens und aus der Eigenart der Völker abzulesen" (DERS., Die Gottesliebe, 104f.). Gegenüber den Eigenarten gehe es aber auch um das „Rätsel der Ähnlichkeit der Religionen bei allen rassischen und kulturellen Unterschieden" (aaO. 104). 108 HEMPEL, Altes Testament und Religionsgeschichte, 277f.

1. Gegenwartsaufgaben

der alttestamentlichen Forschung

215

Wie schon Greßmann und Kittel ihrerzeit die Religionsgeschichte als Möglichkeit sahen, die alttestamentliche Religion in ihrer Eigenheit zu erfassen, so ging es auch Hempel im religionsgeschichtlichen Vergleich um die Erkenntnis der alttestamentlichen Religion selbst. Damit aber wurde die religionsgeschichtliche Methodik integraler Bestandteil der theologischen Forschung. ß) „Ohne die Theologie ist die Religionsgeschichte

blind"

In dem zuletzt zitierten Aufsatz setzt Hempel die israelitische Religion noch einmal in den, wie er es nennt: „Weltanschauungsbereich, der sich um das östliche Mittelmeer gebildet hat" 109 , um von dieser gemeinsamen Ebene die Besonderheit der israelitischen Religion herauszuarbeiten. Dieser Aufsatz wirkt fast wie ein Resümee seiner Arbeit: Hempel erklärt, daß der Weg, die Eigenart Israels in Einzelzügen zu suchen, den Kern der Sache verfehle. Vielmehr sei nach der Grundstruktur der israelitischen Religion zu fragen 110 . Diese erschließe sich jedoch nicht ohne die religionsgeschichtliche Forschung: „Ohne religionsgeschichtliche Forschung (ist) die Kenntnis der Eigenart der alttestamentlichen Religion unmöglich". Dennoch hält er die Erkenntnisse der Religionsgeschichte nicht für ausreichend. Nur im Zusammenhang mit der christlichen Theologie können die Ergebnisse der religionsgeschichtlichen Forschung den alttestamentlichen Texten gerecht werden: „Ohne die Theologie in dem Sinne einer aus christlicher Glaubensüberzeugung und christlicher Verantwortung getriebenen Wissenschaft ist die Religionsgeschichte blind" 111 . Denn der durch seinen christlichen Glauben geprägte Wissenschaftler trete den alttestamentlichen Texten nicht als ,,Sammler(...) von Kuriositäten, menschlicher Narrheiten oder sozialer Böswilligkeiten" 112 gegenüber, sondern in Ehrfurcht. In seinem 1958 veröffentlichten Aufsatz Alttestamentliche Theologie in protestantischer Sicht heute kehrt Hempel noch einmal zur Thematik einer christlichen Bindung an das Alte Testament zurück. Die Herausnahme der israelitischen Religion aus der altorientalischen Umwelt geschehe nicht nur aufgrund der Erkenntnisse, welche die religionsgeschichtliche Forschung erbringe, sondern auch durch die besondere christliche Bindung an die Texte des Alten Testaments. Dadurch ergebe sich eine direkte Beziehung der Christen zur Hebräischen Bibel, denn die leitenden Glaubenswahrheiten der christlichen Lehre seien bereits im Alten Testament angelegt: Die Einzigkeit und humane Moralität Gottes wie auch die göttliche Liebesoffenbarung in Jesus würden hier vorbereitet 113 . Auch in diesem Sinne unterscheide sich des109

HEMPEL, aaO. 264. HEMPEL, aaO. 267. 111 HEMPEL, aaO. 278. 112 HEMPEL, ebd. 113 HEMPEL, Alttestamentliche Theologie, 208. 110

216

V. Altes Testament und völkische Frage

halb das Alte Testament von allen anderen altorientalischen Religionsurkunden. Werden diese beiden Artikel als das Ergebnis einer lebenslangen Arbeit am Alten Testament angesehen, so verdeutlichen sie die beiden Pole, die Hempels wissenschaftlichen Ansatz prägten: die religionsgeschichtliche Forschung, welche die Eigenständigkeit der israelitischen Religion verdeutlichen und nicht verwischen sollte, und die christliche Prägung, die den Forscher Hempel in eine besondere Beziehung zu seinem Forschungsgegenstand brachte.

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel in der neueren exegetischen Forschung Wie wir gezeigt hatten, beschäftigten sich Alttestamentler in Deutschland in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts intensiv mit dem biblischen Volksbegriff. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe einer erstarkenden völkischen Bewegung und der zunehmenden Tendenz einer völligen Abwertung der alttestamentlichen Schriften forderten die Wissenschaftler heraus. Die Alttestamentler nutzten die zentrale Stellung des Volksbegriffs in der Hebräischen Bibel, um die Legitimität ihrer Wissenschaft auch angesichts der Gegenwartsfragen begründen zu können. Hempel bemühte sich in besonderer Weise, das Alte Testament vor den Angriffen der völkischen Bewegung zu bewahren. Er hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Bedeutung des Alten Testaments gerade für die völkische Bewegung hervorzuheben. Seine Schriften zeigen bestimmte, immer wiederkehrende Grundkategorien, mit denen er die israelitische Frömmigkeit beschreibt. Einen besonderen Stellenwert besitzt dabei die geschichtliche Bindung des Glaubens, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch nicht außerhalb der geschichtlichen Bedingtheiten denken kann. Ein zentrales Thema seiner Veröffentlichungen ist deshalb der biblische Volksbegriff. Hempel sieht in dem Volk die von Gott gestiftete und gewollte Form der menschlichen Lebensgemeinschaft. Zugleich besitze das Volk in seinem Gegenüber zu Gott eine besondere Stellung. Denn durch die Völker greife Gott in die Geschichte ein. In diesem Sinne hätten die alttestamentlichen Texte, die das Volk Israel beschrieben, eine aktuelle Funktion. Denn auch für seine Zeit sah Hempel im Volk die von Gott gesetzte Lebensform. Seine Auslegung der biblischen Texte und seine Interpretation des biblischen Volksbegriffs führen deshalb immer wieder in zeitgeschichtlich aktuelle Fragestellungen hinein. Im folgenden wird dargestellt, wie Hempel den Volksbegriff der Hebräischen Bibel versteht und wie er diesen mit den Fragestellungen seiner Zeit

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen

Bibel

217

verknüpft. Um der Besonderheit seiner Interpretation gerecht zu werden und um die zeitgeschichtliche Bedingtheit seiner Auslegung erfassen zu können, wird zunächst die gegenwärtige Forschungsdiskussion dargestellt, die sich um das Verständnis des Volksbegriffs der Hebräischen Bibel rankt. a) Lexikalische und etymologische Aspekte Die Hebräische Bibel kennt hauptsächlich zwei Begriffe, deren lexikalische Bedeutung im Deutschen mit ,Volk' wiederzugeben ist: Di? und 1l2114. Die Septuaginta unterscheidet zwischen Xaoq und eövot;. Steht im hebräischen Text 'iä, so wird dies in LXX fast immer mit EÖvoq wiedergegeben 115 . Die Übersetzungen von Di? in LXX zeigen dagegen eine größere Vielfalt, die aus dem jeweiligen Textzusammenhang heraus zu verstehen ist. An den Stellen, an denen sich Di? auf das Volk Israel bezieht, setzt LXX Xaöq116, denn charakteristisch für die Verwendung des Ausdrucks Xaöq in der LXX ist der Bezug auf das Volk Israel 117 . So steht dort, wo Israel in seiner besonderen Beziehung zu JHWH gemeint ist, Xaoc,, während andere Völker bzw. Israel im Vergleich mit anderen Völkern meist als e8vr| bzw. e0voq bezeichnet werden118. Aaöq wäre demnach der Begriff, der in LXX Israel zugeordnet ist, während E8VO nur in Ri 20,2 und 2 Sam 14,13 vorkommt. Vgl. hierzu auch MACHOLZ, Das Verständnis, 150f. Niemals aber findet sich der Ausdruck ,nin' '13'.

V. Altes Testament und völkische Frage

234

über Israel als vielmehr in die Dialogsituation zwischen JHWH und seinem Volk 226 . Vom Gottesvolk, vom Hin1 DD, ist schon im Deborah-Lied die Rede (Ri 5.11.13) 227 . Hier bezeichnet der Ausdruck diejenigen Stämme, die in den Krieg für JHWH 2 2 8 oder mit JHWH 2 2 9 auszogen. Wie alles, was mit der Theorie des JHWH-Krieges 230 zu tun hat, sind auch hier die Erklärungen für den Begriff breit gestreut. Schon Wellhausen sprach vom Kriegslager als der Wiege der Nation 2 3 1 und erklärte seine These folgendermaßen: „Die vornehmste Äußerung des Lebens der Nation war damals und auf Jahrhunderte hinaus der Krieg. Der Krieg ist es, was die Völker macht" 2 3 2 . Auch von Rad sah in der Heeresversammlung ein erstes Kollektivhandeln der Stämme: „Wenn auch nicht in idealer Vollständigkeit, so war in der Schlacht doch .Israel' aufgestanden und nicht nur ein Stamm oder eine Stämmegruppe". In dem gemeinsamen Kriegshandeln hätten sich die Stämme „als .Israel', d.h. als eine von Jahwe geführte und geschützte Einheit erlebt", und hierin sei der Beginn der Volkswerdung Israels zu verorten 233 . Nach von Rad heißt das im Lager zusammengekommene Heer, das sich heiligen soll, m/P QD234. Albertz interpretiert den Ausdruck nirr U'J als ursprüngliche Bezeichnung einer einzelnen Truppe, die mit und für JHWH kämpfte. Durch die Institutionalisierung des Heerbanns in der frühen Königszeit, der nun das gesamte Volk miteinbezog, sei dieser Begriff dann auf ganz Israel übertragen worden 235 . An anderer Stelle betont Albertz den verwandtschaftlichen Aspekt des DJJ-Begriffs: ,,'amist eigentlich ein Verwandtschaftsbegriff und bezeichnet den Bereich, in dem die durch Blutsverwandtschaft begründete Solidarität zu gelten

226

LOHFINK, B e o b a c h t u n g e n , 2 8 0 .

227

FRITZ (Die Entstehung, 122) schreibt zur Einordnung des Deborahliedes: „Das Deborah-Lied spiegelt somit vermutlich die Verhältnisse des 11. Jh., ohne daß eine genauere Datierung des Textes und des in ihm besungenen Ereignisses möglich ist". SOGGIN (Bemerkungen, 636) ordnet das Deborahlied dem „ursprüngliche(n), strikt heroische(n) und säkularein) Teil" der frühen Königszeit zu. Kurz vor der josianischen Reform sei jedoch eine Überarbeitung des Textes geschehen. 228 VON RAD (Der Heilige Krieg, 9) schreibt: „Die Kriege sind Jahwes Kriege (...). Die Feinde sind Jahwes Feinde (...). Der Handelnde ist vor allem Jahwe." 229

FRITZ, a a O . 127.

230

Vgl. hierzu SOGGIN, Art. Krieg II., 19-25; FRITZ, aaO. 126-128 und zu Ri 5: 179-184. 231 WELLHAUSEN, Israelitische und Jüdische Geschichte, 24: „Das Kriegslager, die Wiege der Nation, war auch das älteste Heiligtum. Da war Israel und da war Jahve". FRITZ (aaO. 122) geht hingegen davon aus, daß die Verpflichtung zum gemeinsamen Feldzug bereits eine Gemeinsamkeit zur Voraussetzung hat (nach Fritz muß dieses Zusammengehörigkeitsbewußtsein sozial und religiös verwurzelt gewesen sein - z.B. durch die gleiche soziale Struktur der Dorfgemeinschaft und die gleiche Gebundenheit an eine Religionsform außerhalb des kanaanäischen Pantheons). 232 WELLHAUSEN, aaO. 23. S. hierzu auch OTTO, Das Kriegslager, 359f. und zu seinem eigenen ,.Neuansatz" aaO. 363ff. 233 VON R A D , aaO. 2 0 . 234 VON RAD, aaO. 7: „Das nunmehr im Lager versammelte Heer heisst .Volk Jahwes' (...). Der Ausdruck meint wohl allgemein das amphiktyonische Aufgebot der Männer, aber doch sonderlich das zum Krieg versammelte". Zu von Rads Theorie des Heiligen Kriegs vgl. auch M. WEIPPERT, „Heiliger Krieg". 235

ALBERTZ, A r t . I s r a e l I, 3 7 7 .

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

235

hat. Mit der Begriffsbildung 'am jhwh wird diese partikulare natürliche Sippensolidarität in Richtung auf eine religiös fundierte Solidarität für das Ganze erweitert. Auch dieser Ehrentitel hat motivierende Funktion: Nur wer bereit war, die familiären Solidaritätsverpflichtungen hintanzustellen und das Risiko des Befreiungskampfes für und mit Jahwe auf sich zu nehmen, trat damit in ein enges Verwandtschaftsverhältnis zu Jahwe ein" 236 . In jedem Falle aber bezeichnet Hin; DJ) im Richterbuch eine kämpfende Kriegerschar.

Der Begriff des Gottesvolkes, wie er in der prophetischen Gerichtsverkündigung verwendet wird, entzieht sich hingegen weitgehend dem politischmilitärischen Zusammenhang. Vielmehr wird hier die theologische Konnotation des Begriffs als Korrektiv zur politisch-sozialen Wirklichkeit herangezogen. Mit der Bindung des Volksbegriffs an JHWH wird der einzelne an die Verantwortung vor Gott und die auf ihn rückbezogene Gemeinschaft erinnert. Die Propheten setzen sich deshalb in ihrer Verkündigung nicht mit der politischen Realität eines in zwei Reiche geteilten Volkes auseinander, sondern appellieren an eine Einheit, die aus der Bindung JHWHs an sein Volk entsteht. So kommt Jesper H0genhaven in seiner Untersuchung zu Jesaja zu dem Schluß, daß derOpBegriff bei Jesaja, abhängig vom jeweiligen Zusammenhang und der Determination, unterschiedliche Gruppierungen bezeichnen kann, die sich auf verwandtschaftlicher oder politischer Ebene verbinden 237 . Im Unterschied dazu umgreife der Begriff des Gottesvolkes jedoch Judäer wie Israeliten. Ihr Sein als Volk Gottes trage dabei „überall den Charakter des schlechthin Gegebenen" 238 , über den Zeitpunkt der Bildung des Gottesvolkes werde bei Jesaja nicht reflektiert.

Auch Hanson betont das Ideal der „frühen Jahwegemeinde", an der sich die Verkündigung Jesajas orientiere239. Zielgruppe sei nicht ein politisches Volk, das „wie andere Völker seine Sicherheit in starker Bewaffnung und in militärischen Bündnissen" suche 240 , sondern die Glaubensgemeinde, die im Vertrauen auf JHWH Gerechtigkeit und Barmherzigkeit übe. Die theologische Implikation des Volksbegriffs, welche die Propheten als Korrektiv zur Wirklichkeit einforderten, erfährt im Begriff des Gottesvolkes in Dtn und in der Priesterschrift ihre Weiterführung241.

236

ALBERTZ, Die Religionsgeschichte Israels in vorexilischer Zeit, 307. Auch LLPINSKL (Art. DJ), 192) begründet die Verwendung von DJ) im militärischen Kontext mit der Verpflichtung der Verwandten zur kriegerischen Unterstützung. 237 H0GENHAVEN, Gott und Volk, 24-30. 238 H0GENHAVEN, aaO. 36f. H0genhaven (aaO. 37) will den Ursprung des Ausdrucks nicht im „heiligen Krieg" suchen, sondern als eine Ableitung aus dem allgemeinen Volksbegriff verstehen. 239

S. h i e r z u HANSON, D a s b e r u f e n e Volk, 1 8 3 - 1 9 6 .

240

HANSON, a a O . 190.

241

S. unten 239ff. Zum Gottesvolk-Begriff im Neuen Testament s. W. KRAUS, Das Volk; DERS., „Volk Gottes"; W. H. SCHMIDT, .Volk', 22lf.

236

V. Altes Testament und völkische Frage

Späte Königszeit — zur Diskussion um die josianische Reform Während die prophetische Botschaft das gesamte Volk Israel als Einheit anspricht, zeigen Texte wie 1 Kön 12, daß mit der Einführung des Königtums noch keine soziale und kulturelle Einheit geschaffen war 242 . Zu den hier zum Ausdruck kommenden inneren Spannungen tritt die Geschichte der beiden Staaten hinzu, die von der Abhängigkeit der sie beherrschenden Großmächte geprägt ist. Die besondere Situation, die die assyrische Herrschaft für Juda erbrachte, spiegelt sich in der sog. assyrischen Krise der israelitischen Religion' wider: Die Abhängigkeit Judas vom neuassyrischen Großreich fand ihren Ausdruck in der Überfremdung des JHWH-Kultes durch assyrische Kultformen und -Objekte (vgl. 2 Kön 23,4). Vor diesem Hintergrund zeichnen die biblischen Texte Josia als denjenigen, der das Schwächerwerden der assyrischen Macht ausnutzte und der den JHWH-Kult von der assyrischen Überfremdung befreite. Zugleich wird er als religiöser Erneuerer geschildert, der in einer ,konstruktiven Restauration' 243 das Volk auf die ausschließliche Verehrung JHWHs verpflichtete und ein Programm von Reformmaßnahmen mit dem Ziel der Kultuseinheit und der Kultusreinheit durchführte. Die von Josia eingeleitete ,Reform' beendete in diesem Sinne auch die Assur-ergebene Religionspolitik seiner Vorgänger 244 und stellte die Frage nach der eigenen Identität. Im Gefolge der josianischen Reform, die gemeinsam mit der Kultreform auch nationale und soziale Ziele verfolgte, wurde das Volk auf die ausschließliche und einheitliche Verehrung JHWHs verpflichtet 245 . In der neueren Forschung bleiben jedoch Anlaß und Reichweite der Maßnahmen Josias umstritten. Dabei steht ein inneres Reformverständnis, welches das Ziel einer religiösen Erneuerung verfolge, einer politischen Interpretation der Maßnahmen gegenüber, die die Auseinandersetzung mit den assyrischen Machthabern in den Vordergrund stellt: Hermann Spieckermann sieht die Motivation der josianischen Kultreform in theologischen Überlegungen: „Die nach der Gesetzespromulgation eingeleitete Kultreform (...) war also nicht primär politisches Signal für die Befreiung vom ass. Joch, sondern theologisches Signal für den Anbruch einer neuen Ära der Jahweverehrung, in der religiöse Kompromisse (...) keinen Platz mehr hatten. Der politische Bruch mit Assur war eine notwendige Folge des

242 243

BRETT, Nationalism, 145f.

Zum Begriff vgl. HERRMANN, Die konstruktive Restauration. 244 NlEHR (Die Reform, 39) widerspricht einem Zusammenhang zwischen der angeblichen assyrischen Krise der israelitischen Religion und der Reform des Josia (s. unten 238). 245 Zur Bedeutung dieses Schritts für die Entwicklung des Monojahwismus/ Monotheismus in Israel vgl. LANG, Die Jahwe-allem Bewegung, 70-73. S. auch ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels I, 321f. BRETT (Nationalism, 148) bezeichnet das Programm Josias als „programme of social unification and homogenization", das durch das Dtn inspiriert worden sei. Zum Neben- bzw. Miteinander der politisch-nationalen Interessen Josias und den theologischsozialen Interessen der dtn Reformbewegung vgl. ALBERTZ, aaO. 304-360.

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

237

theologischen Bruches mit jeder halbherzigen Form der Jahweverehrung" 246 . In einer Rezension des Buches von Spieckermann widerspricht Erich Zenger dessen These. Die Kultreform Josias sei nicht religiös, sondern vielmehr als politisches Signal gegen Assur zu verstehen: Wie seinerzeit schon Hiskia, „so beendete auch Joschija seine Abhängigkeit von Assur demonstrativ mit seinen ,kultpolitischen' Aktionen. Erst in einem zweiten und späteren (!) Akt, der von der dt .Untergrundbewegung' theologisch und literarisch vorbereitet und getragen war, erhielt die Befreiung von Assur bzw. von der assyrischen Religionsrepression ihre theologische Innenseite: mit der Promulgation des um das Hauptgebot (Dtn 6,4) zentrierten .joschijanischen Urdeuteronomiums'." 247 U n a b h ä n g i g von den inneren Gründen, w e l c h e die R e f o r m g e d a n k e n vorangetrieben haben m ö g e n , bleibt zu fragen, inwieweit das Reformprogramm Josias in der B e v ö l k e r u n g w o h l w o l l e n d a u f g e n o m m e n werden konnte 2 4 8 . Schließlich handelte e s sich bei den R e f o r m e n u m g e w i c h t i g e Einschnitte b z w . M a ß r e g e lungen b e z ü g l i c h der praktizierten Volksfrömmigkeit 2 4 9 . A l s e i n e als R e v o lution v o n o b e n ' 2 5 0 gesteuerte E i n h e i t s b e w e g u n g entsprach die j o s i a n i s c h e R e f o r m nicht unbedingt d e m W i l l e n der B e v ö l k e r u n g . Fraglich ist also, o b hier w i r k l i c h v o n einer nationalen E i n h e i t s b e w e g u n g g e s p r o c h e n w e r d e n kann, die das g e s a m t e Land und die gesamte B e v ö l k e r u n g umfaßte. Niemann verdeutlicht in seiner Untersuchung zum Israel der Königszeit den Aspekt, daß mit der josianischen Reform erstmals in der Geschichte Israels der Versuch unternommen wurde, den davidischen Residenzkult in Kultfragen und Gerichtsorganisation landesweit zu institutionalisieren 251 . In Auseinandersetzung mit den Thesen von Gösta W. Ahlström, der bereits mit Einführung des Königtums landesweit eine „intimate relationship between military defense and national religion" 252 erkennt und die Durchsetzung einer nationalen Religion als Mittel zur Stärkung der königlichen Macht ansieht, streicht Niemann die Bedeutung der josianischen Reform für die Entwicklung einer landesweiten Religionsform heraus. Für das Südreich kommt er zu dem Schluß, „daß der von Ahlström umfassend und überall vermutete enge Zusammenhang zwischen Kult/Religion und königlicher Administration überhaupt nur in der Residenz Jerusalem, dort aber massiv und eng, nachzuweisen ist. Erst z.Zt. Josias wird der Zusammenhang nahezu schlagartig als Anspruch und Programm im Landesrahmen deutlich und vom König politisch instrumentalisiert (...) durch den Versuch ausschließlicher Re-

246

SPECKERMANN, Juda, 379.

247

ZENGER, D e r Gott, 447.

248

BRETT, Nationalism, 150. SPIECKERMANN (ebd.) spricht hier von einer .„Revolution von oben', denn die radikale Abschaffung lieb gewordener religiöser Gewohnheiten war nicht Sache der Volksfrömmigkeit, sondern priesterlicher, .wissenschaftlicher' Theologie". ALBERTZ (aaO. 329) verweist in diesem Zusammenhang auf die rigide Bestimmung von Dtn 13,7-12, aus der die Schwierigkeiten der Durchsetzung einer ausschließlichen JHWH-Verehrung deutlich würden. 250 SPIECKERMANN, ebd. ALBERTZ, aaO. 315: „Die dtn Reform war eine Reform von oben". 251 NIEMANN, Herrschaft, 225f. 252 AHLSTRÖM, Royal Administration, 42f. 249

238

V. Altes Testament und völkische Frage

sidenzkonzentration" 253 . Da Niemann den königlichen Einfluß in Kultfragen auch für das Nordreich auf die Hauptheiligtümer in Bethel und Dan beschränken will 254 , kommt er zu dem Schluß, daß es „einen königlich administrierten ,Nationalkult' bzw. eine .Nationalreligion' (...) in der Königszeit nicht gegeben" 255 habe. Erst mit der josianischen Reform lasse sich eine solche Entwicklung erkennen. In diesem Sinne problematisiert Niemann den Begriff einer .Nationalreligion' für die Zeit des Königtums zumindest vor dem 7. Jahrhundert. Damit aber könne eine etwaige Nationalreligion nicht als Versuch gelten, die verschiedenen politischen und religiösen Ebenen zu einen. Erst die politischen und ökonomischen Zwänge, die den Auslöser für die josianische Reform gebildet hätten und durch die Aufnahme der dtn Schultheologie schließlich theologisch untermauert worden wären, veranlaßten eine wahre Zentralisations- und Einheitsbewegung.

Sieht Niemann in der josianischen Reform' den Beginn einer sich ausbildenden, das gesamte Königreich umfassenden Nationalreligion und der Institutionierung von Gerichts- und Kultfragen am Königshof, so bleibt diese Interpretation nicht unumstritten. Die Frage, ob mit der josianischen Reform eine „nationale Einigung" verortet werden kann, und die Frage nach dem Umfang der von Josia eingeleiteten Maßnahmen wird in der neueren Forschung erneut diskutiert. Herbert Niehr versteht die Verunreinigung der Ortsheiligtümer nicht als Teil einer Kultreform, sondern als eine unter anderen Maßnahmen, die Josia zur Stabilisierung seiner Herrschaft unternahm 256 . Aus diesem Grunde berichteten die biblischen Texte nicht von einer veränderten Kultpraxis nach Josia, vielmehr betrieben die exilischen und nachexilischen Propheten weiterhin Kultkritik 257 . Aus dem Eingriff Josias in die Autonomie der nichtköniglichen Heiligtümer habe man in exilisch-nachexilischer Zeit eine Kultzentralisation und eine Kultreinigung stilisiert, um den Anspruch der Jerusalemer Tempelschaft des Zweiten Tempels zu begründen 258 . Die Kultreform selbst sei somit aber „historisch unwahrscheinlich" 259 . In seiner Entgegnung wehrt sich Christoph Uehlinger gegen den minimalistischen Ansatz Niehrs, der, so Uehlingers Vorwurf, statt biblische Quellen erklären zu wollen, lieber auf sie verzichte. Auch Uehlinger will das Ausmaß der sog. josianischen Reform geringer ansetzen als bisher in der Forschung vertreten: „Man sollte sie m.E. - historisch betrachtet - nicht zur politisch-religiösen Unabhängigkeitserklärung, erst recht nicht zu einer anti-assyrischen Demonstration hochstilisieren" 260 . Ausgehend von der Beobachtung einer Verschiebung inner253 NIEMANN, aaO. 232 (anders UEHLINGER, der auch die Maßnahmen Josias allein auf den Jerusalemer Tempel beschränkt sieht. 254

NIEMANN, a a O . 2 3 3 .

255

NIEMANN, aaO. 234. ALBERTZ (Persönliche Frömmigkeit, 1 lf.) spricht dagegen für die Königszeit von einem Nebeneinander von individueller, auf die Familie bezogener Frömmigkeit und der offiziellen, auf eine Großgruppe wie Stamm oder Volk bezogenen Religion. 256 NLEHR, Die Reform, 49. Weitere Maßnahmen Josias waren nach Niehr die Einsetzung königlicher Beamter zur Rechtssprechung und die Aufteilung des Landes in Verwaltungsbezirke. 257

NIEHR, a a O . 5 0 .

258

NIEHR, a a O . 5 1 f .

259

NIEHR, a a O . 5 1 .

260

UEHLINGER, G a b es, 7 7 .

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

239

halb judäischer Glyptik, die mit Funden aus dem 7. Jahrhundert eine auffällige Astralisierung der Siegelsymbole zeige, die im 6. Jahrhundert nicht mehr fortgeführt werde, und der Interpretation der Silberamulette aus Ketef Hinom 261 als Beleg für einen vertieften Glauben an JHWHs Wirkmächtigkeit, sieht Uehlinger das ausgehende 7. Jahrhundert als .Achsenzeit' 262 . Schon Niehr hatte darauf hingewiesen, daß das neuassyrische Reich seit dem Tod Assurbanipals um 630 v.Chr. immer weiter an Macht verlor und statt dessen Ägypten die Oberhoheit über die Provinzen Syrien-Palästina gewann 263 . In diesem Sinne seien die den Kult betreffenden Maßnahmen Josias nicht als anti-assyrische Demonstration zu verstehen, sondern vielmehr als „eine konjunkturell bedingte Neuorientierung der am Jerusalemer Residenzheiligtum praktizierten Kulte' 264 . Uehlinger führt als Beispiele die Entfernung der Pferde und der Streitwagen des Sonnengottes aus dem Jerusalemer Tempel, die Abschaffung der kemarim und der Dachaltäre an, in denen er nicht ein ausgeprägtes Reformprogramm, sondern eine „Purgierung des Jerusalemer Staatskults bzw. Residenzheiligtums von obsolet gewordenen Ritualen" 265 sieht. So sei nicht von einer Kultreform zu reden, wohl aber von Maßnahmen, die sich auf den Jerusalemer Staatskult bezögen. D i e historischen Hintergründe lassen somit den R ü c k s c h l u ß auf e i n e u m f a s sende, das ganze Volk auf den einen Gott und den einen Ort der Kultausübung verpflichtende R e f o r m nicht zu, sondern w e i s e n eher auf lokal begrenzte, aus der Gunst der Stunde geborene M a ß n a h m e n hin. A u c h hier zeigt sich j e d o c h , daß der religiöse Anspruch, w i e ihn das Dtn als Grundschrift der josianischen R e f o r m vertritt, g e g e n ü b e r der politischen Realität auf die Einheit des V o l k e s dringt. y) „Damit du dem Herrn, deinem Gott, ein heiliges das Volk Israel in Dtn und DtrG

Volk seist" (Dtn 26,19)

-

D a s D e u t e r o n o m i u m , das in einer Vorform als ,Programmschrift' der josianis c h e n ( R e f o r m - ) M a ß n a h m e n a n g e s e h e n wird 2 6 6 , betrachtet Israel ausdrücklich als Einheit: D a s eine Volk Israel steht d e m einen Gott J H W H gegenüber. D a seit der Abspaltung des Nordreichs dieses Ideal in der Realität nicht mehr zu verwirklichen war, wurde „das Bild der Vergangenheit Israels ( . . . ) der Idee angeglichen" 2 6 7 . E s entstand ein Geschichtsentwurf, nach d e m Israel von A n b e g i n n an, auch vor der Landnahme, einheitlich existiert und gehandelt habe. D e r A n f a n g der einen, ganz Israel g e m e i n s a m e n Geschichte z w i s c h e n J H W H und s e i n e m Volk wird in die Herausführung Israels aus Ä g y p t e n gelegt. 261

Zu den Amuletten s. BARKAY, Excavations.

262

UEHLINGER, a a O . 80.

263

NIEHR, a a O . 4 2 .

264

UEHLINGER, a a O . 7 7 .

265

UEHLINGER, a a O . 80.

266

Zur Diskussion um die Verbindung zwischen Dtn und Josia vgl. schon DE WETTE, Dissertatio; weiterhin: LOHFINK, Das Deuteronomium, 21-23; MCBRIDE, Art. Deuteronomium, 539; BRAULIK, Das Buch, 82. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick zu dieser Frage findet sich bei OTTO, Theologische Ethik, 177f. 267 HERRMANN, Die konstruktive Restauration, 162.

240

V. Altes Testament

und völkische

Frage

In der dtn/dtr Tradition ist die Idee des (Gottes-)Volkes eng mit der Bundesformel verknüpft, deren Doppelseitigkeit in der Paraphrase ,JHWH ist Israels Gott, Israel ist JHWHs Volk' zum Ausdruck kommt 268 . Ganz Israel wird als Einheit angesprochen269, Nord- und Südreich sind miteingeschlossen. Israel als umfassende Größe wird mit dem Bundesschluß am Horeb zum Gottesvolk erwählt. Texte wie Dtn 26,16-19 spielen in diesem Zusammenhang mit den Begriffen: tÖ^-Di? / D'W"'?? ^ / rf?20 Di? rnn ,i ? 270 , sprechen vom Gottesvolk in bezug auf JHWH in „erb- oder besitzrechtliche(n) Kategorien" 271 . JHWH erwählt sich aus allen Völkern das eine Volk Israel als sein Volk. Israel wird so zum Gottesvolk, zum Di?, und verpflichtet sich selbst, der geschehenen Heiligung zu entsprechen 272 . Israel verkörpert für das Deuteronomium das Idealbild einer Gemeinde, „whose great privileges have great responsibilities as their consequence" 273 . Erwartet wird die Hingabe an JHWH von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft (Dtn 6,5). Untereinander verbunden ist das Volk durch die gemeinsame Geschichte mit JHWH, die im geschichtlichen Credo (Dtn 6,20-25; 26,5-9) den zukünftigen Generationen als Teil ihrer eigenen Erfahrung vermittelt wird. Als Volk Gottes bildet Israel eine Einheit, die alle politischen Spannungen und Trennungen seiner Geschichte in den Hintergrund drängt274. Der Einheit des Volkes entspricht die starke Verbundenheit der einzelnen Mitglieder untereinander. Mit der Erwählung Israels durch JHWH ist die Verpflichtung auf die göttlichen Satzungen verbunden, die gerade im Dtn unter dem Ziel der sozialen Gerechtigkeit stehen.

268

Schon WELLHAUSEN (Israelitische und Jüdische Geschichte, 23) formulierte: „Jahve, der Gott Israels, Israel das Volk Jahves: das ist der Anfang und das bleibende Prinzip der folgenden politisch-religiösen Geschichte." 269

Vgl. Dtn 1,1, wonach das Dtn als Rede an ganz Israel gestaltet ist. BRAULIK (Deuteronomium II, 198f.) schreibt zu Dtn 26,18f.: „18f enthalten ein kleines S u m m a r i u m ,ekklesiologischer' Titel, das die höchsten W ü r d e n a m e n Israels im Blick auf Jahwe und auf die Völker zusammenfaßt. Ist Israel aufgrund seiner Erwählung das , Volk, das Jahwe persönlich gehört' und ,das ihm heilig ist' (...), so nimmt es durch seine Erhebung zu ,Lob, R u h m und Z i e r d e ' unter ,allen Völkern, die Jahwe geschaffen hat', auch schöpfungstheologisch den höchsten Platz ein". LOHFINK (Dt 26,17-19, 252) bezeichnet die Segullahund die Heiligkeitsaussagen als „sekundären Zustand" gegenüber der Bundesformel selbst, d.h. als Überarbeitung der Bundesformel mit deuteronomischer Theologie. Z u m SegullahBegriff s. SCHREINER, Volk Gottes, 247f. 270

271

FREVEL, Die gespaltene Einheit, 85.

272

KRAUS, Das heilige Volk, 3 8 - 4 0 .

273

DEARMAN, Religion, 129.

274

DEARMAN, a a O . 133f.

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

241

Emest Nicholson stellt Zentralisation und Desakralisierung z.B. der Feste auf die gemeinsame Basis eines Wechsels „from ,exterior' to ,interior' in religious action" 275 , mit dem eine Ethisierung der Religion einhergehe. Die Einheit Israels beziehe sich nicht nur auf die politische Situation, sondern auch auf die soziale Zerklüftung innerhalb der Gesellschaft. Gegen den sozialen Verfall, wie ihn auch die Propheten des 8. und 7. Jahrhunderts schilderten, setze das Deuteronomium das Ideal des „heiligen Volkes", die Idee des einen Israel als Gemeinschaft von gleichberechtigten Brüdern - ohne zentrale Machtstrukturen des Kultes oder des Königtums 276 . In der G e m e i n s c h a f t s e t h i k , die das D t n prägt, ist der e i n z e l n e s e i n e m Volksg e n o s s e n als e i n e m Bruder (PIK) gegenüber verantwortlich. Von der Herrschaft Gottes wird ein „soziale(s) Bruderethos" 2 7 7 abgeleitet, das sich nicht auf den n ä c h s t e n V e r w a n d t e n beschränkt, sondern j e d e V o l k s g e n o s s i n und j e d e n V o l k s g e n o s s e n miteinbezieht. Eckart Otto faßt diesen Vorgang f o l g e n d e r m a ßen z u s a m m e n : „ D e m Zerfall der Sippen und Großfamilien und der daraus resultierenden Krise des naturwüchsigen Bruderethos setzt das Dtn e i n theolog i s c h begründetes Solidarethos e n t g e g e n , das sich v o n den F e s s e l n der G e n e a l o g i e zu l ö s e n v e r m a g und j e d e n Judäer zu e i n e m Bruder und einer S c h w e s t e r werden läßt." 278 Auch Georg Braulik betont die zentrale Bedeutung der Gemeinschaftsethik im Dtn. Er zählt drei Aspekte auf, die im Dtn den theologischen Entwurf einer Gemeinde bestimmen: „Das Gottesvolk des Dtn verwirklicht sich vor allem (1) beim gemeinsamen Lernen des Glaubens, (2) in der Freude des Festes ,vor JHWH' und (3) durch die Ethik der Geschwisterlichkeit" 279 . Das Ideal der Geschwisterlichkeit, das auf die durch verwandtschaftliche Strukturen geprägte vorstaatliche Gesellschaft zurückgreife, mache „aus ganz Israel einen Raum, in dem jenes Verhalten gilt, das eigentlich nur im Innenraum einer Familie zu Hause ist" 280 . Die durch die Monarchie zerstörte egalitäre Struktur des vorstaatlichen Israels solle wieder zur Grundlage der Gesellschaft werden. Der einzelne Israelit wie auch der König würden deshalb an ihre Verpflichtung gegenüber dem Bruder erinnert 281 . Auch Lothar Perlitt hebt die Zentralität der Bruder-Ethik in den dtn Haupttexten hervor. Er sieht in dem ntJ-Begriff jedoch nicht einen Rückgriff auf die ursprünglichen Verwandtschaftsstrukturen innerhalb Israels, sondern ein auf die Zukunft gerichtetes Programm. Der Ausdruck ,dein Bruder' sei als „eine religiös zentrale und durchaus emotional gefärbte Näherbestimmung" des Traditionsausdrucks f[jri zu verstehen, die nicht ethnischer oder nationalistischer Motivation entspringe, sondern dem Willen zur Vertiefung der Mitmenschlich-

275

NICHOLSON, Deuteronomy's Vision, 193.197. NICHOLSON (aaO. 202) betont die Gegenwartskritik, die diese Texte des Deuteronomiums an dem Verfall der Sozialstrukturen in der Königszeit übten. 277 Vgl. hierzu OTTO, aaO. 186. 276

278

OTTO, aaO. 192.

279

BRAULIK, D a s B u c h , 86.

280

BRAULIK, a a O . 87.

281

BRAULIK, Deuteronomium 1-16,17, 16f. Braulik weist hier ausdrücklich darauf hin, daß der Bruder-Begriff im Dtn „keinen geschlechtlich spezifischen Klang" besitzt, sondern auch die Frauen miteinschließt.

242

V. Altes Testament und völkische

Frage

keit 2 8 2 . Grundlage der Verwendung sei also nicht der Rückgriff auf die Vorzeit, sondern die Erfahrung der Befreiung zur Bruderschaft 283 : „Nicht weil Israel ein ,Volk von Brüdern' immer (und gleichsam von Natur aus) schon war und ist, sondern weil es ein solches werden und sein soll, wird dem einzelnen sein schutzbedürftiger Bruder so dringlich anempfohlen." 2 8 4

Die Texte des Dtn verbinden die Geschwisterethik mit dem Exodusgeschehen. Das Halten der Gebote wird als Antwort der Menschen auf die erfahrene Befreiung durch JHWH interpretiert285. In der Herausführung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft zeigt sich die besondere Beziehung JHWHs zu seinem Volk286. Im Exodusgeschehen wird die Grundlage für die Gemeinschaftsgestaltung innerhalb des Volkes als Gemeinschaft befreiter Brüder und Schwestern gelegt287, deren Verwirklichung Dtn einfordert. Das Deuteronomium kann als „erste große theologische Synthese in Israel" 288 bezeichnet werden. Der Zusage Gottes im Bund korrespondiert die Verpflichtung Israels auf die ausschließliche Verehrung JHWHs. Mit der ,Bundestheologie' geschieht eine ,,umfassende(...) theologische(...) Systematisierung und Stilisierung des Glaubens Israels' 289 . Das deuteronomistische Geschichtswerk, das auf der Grundlage der dtn Traditionen entstanden ist, greift die dtn Bundestheologie auf und nimmt sie zum Maßstab seiner Beurteilung von Geschichte: Israel hat sich am Bund vergangen und somit das Unheil selbst verschuldet. Es hat den Auschließlichkeitsanspruch JHWHs mißachtet und ist ihm gegenüber schuldig geworden (Dtn 29,24—27). Auch die Zerstörungen des Tempels und der Stadt Jerusalem werden auf den Ungehorsam Israels zurückgeführt 290 . Zwar mißt das DtrG die einzelnen Könige an ihrem Beitrag zur Einheit und Reinheit des Kultes, letztendlich liegt die Schuld aber beim ganzen Volk, das bewußt die Einsetzung eines Königs gefordert habe (1 Sam 8,7-9) 291 . 282

PERLITT, Ein einzig Volk, 64.

283

PERLITT, aaO. 6 2 .

284

PERLITT, aaO. 7 2 .

285

Vgl. h i e r z u OTTO, aaO. 2 0 7 .

286

SCHREINER, Volk Gottes, 245.

287

BRAULIK, aaO. 16

288

BRAULIK, aaO. 86.

289

LOHFINK, Das Deuteronomium, 22.

290

Hierin sieht schon NOTH (in seinem grundlegenden Werk zum DtrG: Überlieferungsgeschichtliche Studien, 3 - 6 . 1 0 0 - 1 1 0 ) das Proprium der Geschichtsauffassung von DtrG. 291 KNOPPERS (The Deuteronomist, 334) will bezüglich der Beurteilung der Könige zwischen dtn und dtr Tradition unterscheiden. Während die Verfasser des Deuteronomiums die Macht der Monarchen deutlich beschränken wollten (vgl. Königsgesetz in Dtn 17, 14-20) und das Königsamt als ein Amt unter anderen (Priester und Propheten) ansahen, favorisiere der Deuteronomist das Königtum als Lösung für das kranke Israel. Hier gelte gerade nicht das Ideal der Beschränkung wie es Dtn 17 formuliere, sondern der Reichtum Salomos z.B. sei

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

243

Wird die Frage, aus w e l c h e n und w i e vielen Schichten das DtrG entstanden ist, in der neueren Forschung weiterhin diskutiert 2 9 2 , s o scheint b e z ü g l i c h der Datierung der Endgestalt Einigkeit zu bestehen 2 9 3 : D i e e x i l i s c h - n a c h e x i l i s c h e Zeit hat d e m DtrG seine Form g e g e b e n . D i e Erfahrung des E x i l s aber bringt eine n e u e D i m e n s i o n und Zukunftsperspektive in die A u s s a g e d e s DtrG g e genüber der ursprünglichen Intention des Dtn: Der Bund, den J H W H mit Israel g e s c h l o s s e n hatte, basiert nicht mehr auf einer beidseitigen Verpflichtung z w i s c h e n J H W H und Israel. Israel hatte seinen Teil g e b r o c h e n . D e r B u n d gründet jetzt allein in J H W H s Verheißung und Zusage. S e i n e B u n d e s t r e u e bleibt auch über Israels Versagen hinaus bestehen, Israel erhält s o trotz seiner S c h u l d eine Zukunftshoffnung 2 9 4 . Siegfried Herrmann faßt die Zielsetzung des DtrG folgendermaßen zusammen: „Die Idee des ,ganzen Israel' war im ethnisch-politischen Sinne nicht mehr zu verwirklichen. Was aber zu leisten war, ist im Gefolge der deuteronomischen Grundsätze in auffallender Konsequenz geschehen: Das Bild der Vergangenheit Israels wurde der Idee angeglichen. In Gestalt einer durchgreifenden Revision judäisch-israelitischen Traditionsgutes entstand ein Geschichtswerk, das unter der Voraussetzung konzipiert wurde, Israel habe von allem Anfang an einheitlich existiert und gehandelt, es habe seit seinem Auszug aus Ägypten unter der Führung Jahwes eine einzige gemeinsame Geschichte durch Höhen und Tiefen hindurch gehabt" 295 . Das DtrG, so Herrmann, verdanke seine Entstehung „dem Wunsche, Israel in Vergangenheit und Gegenwart als das seinem Gotte verpflichtete Volk zu verstehen, dessen gemeinsame Verfehlungen Grund gemeinsamen Schicksals wurden, dessen Erwählung aber auch Erwählung und Verheißung für das ganze Israel sein und bleiben sollte." 296 In d i e s e m Sinne entwirft die dtn/dtr Tradition ein Idealbild, in d e m sie Israel als ein V o l k zeichnet, das seine Einheit aus seiner B e z i e h u n g zu J H W H heraus versteht. D i e s e s religiöse Volksverständnis fordert einerseits das Solidare t h o s innerhalb der G e m e i n s c h a f t und andererseits die ausschließliche Verehrung J H W H s . Werden diese K o m p o n e n t e n mißachtet, so lädt das Volk Schuld auf sich und bestimmt damit nach DtrG die e i g e n e unheilvolle Geschichte.

Zeichen für „Israel's golden age" (aaO. 342). Der Maßstab der dtr Beurteilung der Könige sei nicht das Königsgesetz in Dtn 17, sondern vielmehr ihr Beitrag zur Verwirklichung von Kultuseinheit und Kultusreinheit (aaO. 346). Knoppers widerspricht hier der These von NOTH (The Deuteronomistic History, 80), dergemäß das dtn Königsgesetz Meßlatte der dtr Königskritik gewesen sei. 292 Zu den verschiedenen Modellen s. ROTH, Art. Deuteronomistisches Geschichtswerk; ALBERTZ, Die Intentionen; BRAULIK, Die Theorien; PREUSS, Zum deuteronomistischen Geschichtswerk, 250-254. 293 Neuerdings stellt jedoch KNAUF (L' «Historiographie Deutéronomiste») die Existenz eines DtrG grundsätzlich in Frage. 294 Vgl. hierzu BRAULIK, Das Buch, 85f. 295 HERRMANN, Die konstruktive Restauration, 162. 296

HERRMANN, e b d .

244

V. Altes Testament und völkische Frage

8) „Ich will euch annehmen zu meinem Volk" (Ex 6,7) die priesterschriftliche Überlieferung Die Priesterschrift versucht, die Krise des 6. Jahrhunderts theologisch zu reflektieren. Vor allem P g ist als „theologische Antwort auf den Zusammenbruch der vorexilischen Staatsgeschichte zu begreifen" 297 . Ihr Entwurf verbindet die Schöpfungs- und Urgeschichte mit der Geschichte Israels 298 , indem sie die Geschichte von der Urgeschichte über die Erzväter und ihre Nachkommen bis hin zu den ^NTD' in Ägypten gliedert299. „Die ,Urgeschichte Israels' gründet in der ,Urgeschichte der Welt'" 300 , schon hier wird die Perspektive auf Israel hin geöffnet. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Verheißung an Abraham. Sie enthält bereits die Zusage, zum CPia (Gen 17,5) zu werden, und wird in der Verheißung an Jakob: 'ia ¡"QU n~lS W i r •^K'pna DO'pqi ^ O r r r r D ' i a ^ n p p i (Gen 3 5 , 1 1 ) 3 0 1 wieder aufgenommen. Durch die Einbindung in die Genealogie302 und mit dem Plural EHa wird die Geschichte Israels zusätzlich mit der Geschichte der anderen Völker verknüpft 303 . Die Verheißung der großen Schar erfüllt sich schließlich in Ägypten: AN« 304

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(Ex

1,7) . Die Gründungsgeschichte des Volkes wird in die krisenfreie vorstaatliche Zeit gelegt. JHWH selbst gründet sein Volk im Exodusgeschehen und läßt sich in ihm nieder 305 . Im Gegensatz zu der zweiseitigen Bundesformel des Dtn basiert die Volkswerdung nach P allein auf Gottes Handeln 306 : Denn

297 ZENGER, Gottes Bogen, 44. S. hier auch zu den Veränderungen in P s gegenüber Pg (aaO. 4 8 ) . 298 Vgl. hierzu ZENGER, aaO. 167-177. Zu Stichwortverknüpfungen zwischen Gen 1 und Ex 1 z.B. durch die Fruchtbarkeitsformel: aaO. 38. 299 ALBERTZ (Art. Israel I., 370) bezeichnet die Wendung ^tniiT '33 als nachträgliche Individualisierung des Kollektivbegriffs "Ttnfcr 'H OB. HOSSFELD (Volk Gottes, 136f.) interpretiert ^tnü'' '33 als das „verbindende Element zwischen der Patriarchengeschichte und der Volksgeschichte in Ägypten": Aus den Söhnen Jakobs wird eine große Gruppe, ein Volk. 300 ZENGER, Die priesterschriftlichen Schichten, 98. 301

Sei fruchtbar und mehre dich! Ein Volk, ja eine Schar von Völkern soll von dir kommen, und Könige sollen aus deinen Lenden hervorgehen (Ubersetzung: WESTERMANN, Genesis, 666). 302 BLUM, Die Komposition, 341f. 303 BLUM, aaO. 340. Zudem wird mit •'ia ]iorr3K eine Etymologie für die Umbenennung Abrams in AbraHam gegeben. Vgl. hierzu WESTERMANN, aaO. 314. 304 Die Israeliten aber waren fruchtbar und nahmen überhand, mehrten sich und wurden äußerst stark, so daß sich das Land mit ihnen füllte (Übersetzung: W. H. SCHMIDT, Exodus, 2). 305

Zur Bedeutung des ,Wohnen Gottes inmitten der Israeliten' innerhalb des priesterschriftlichen Entwurfes vgl. JANOWSKI, Ich will; DERS., Tempel; WEIMAR, Sinai. 306 Vgl. hierzu ZENGER, Gottes Bogen, 34.

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

245

nach 5 8 7 v.Chr. war Israels E x i s t e n z nicht mehr auf d e m am Sinai g e s c h l o s s e n e n und durch Israel g e b r o c h e n e n B u n d zu gründen. D a s G e s c h e h e n am Sinai galt jetzt ausschließlich als Gnadenerweis JHWHs: J H W H gedenkt seines B u n d e s mit A b r a h a m und w e n d e t sich Israel zu (Ex 2 , 2 4 f . ) . M i t der B e freiung aus der ägyptischen Knechtschaft werden die Israeliten z u m G o t t e s volk 3 0 7 . Erst hier erweist J H W H sein innerstes W e s e n 3 0 8 , das sich in der B i n d u n g an Israel verdeutlicht (Ex 6,6f.) 3 0 9 . D i e verwandtschaftliche B i n d u n g J H W H s an das Di? Israel wird in der Gottesrede durch das Personalpronomen ausgedrückt ( E x 6,7). D a b e i ist aber deutlich, daß e s sich nicht u m die S u g g e s t i o n einer Blutsverwandtschaft handeln kann, sondern u m eine W a h l verwandtschaft', mit der J H W H in B e z i e h u n g zu s e i n e m Volk tritt. Bernd Janowski 310 und Walter Groß 311 weisen darauf hin, daß die Ankündigung in Ex 6,7b nach P ihre Erfüllung im Wohnen JHWHs inmitten seines Volkes Israel erhält, wie es in Ex 29,45 beschrieben ist. Denn hierdurch werde Israel zum nirp DB. Für Janowski wird die Welt somit in einen Raum erfahrbarer Gottesnähe verwandelt: „An Israel wird damit exemplarisch Wirklichkeit, was für die Welt insgesamt noch aussteht - dies ist die Hoffnung der Priesterschrift für die nachexilische JHWH-Gemeinde" 312 . Groß hebt im Gegensatz zu Janowski die politische Dimension von P hervor: Nicht das Wohnen JHWHs inmitten von Israel sei das Gesamtziel von P, sondern vielmehr Israel als nirr DJ), aber als 'iJ in seinem eigenen Land 313 . D e n M e n s c h e n i m Exil wird mit der Verankerung ihrer V o l k s g e s c h i c h t e i m E x o d u s g e s c h e h e n Grund zur H o f f n u n g gegeben: Israels Sein als Volk gründet nicht in der politischen und i n z w i s c h e n zerschlagenen Institution des K ö n i g tums, sondern letztlich in Gottes S e g e n für die S c h ö p f u n g , der i m S e g e n an

307

LOHFINK, Gottesvolk, 121 und DERS., Beobachtungen, 305. Hier spricht Lohfink davon, daß der Exodus für P eine der heilsgeschichtlichen Setzungen JHWHs darstellt, durch die das geschlossene Verhältnis zwischen JHWH und Israel unaufhebbar wird. Die Intention liege im Hoffnungszuspruch für die Exilszeit. 308 Vgl. ZENGER, aaO. 155. 309 Ex 6,6f.: Deshalb sprich zu den Israeliten: Ich bin Jahwe. Ich werde euch aus den Frondiensten fiir die Ägypter herausführen und euch aus der von ihnen auferlegten Sklavenarbeit erretten und euch mit ausgestrecktem Arm sowie in großen Gerichten erlösen. 7 Ich werde euch als mein Volk annehmen und euer Gott sein, und ihr sollt erkennen, daß ich Jahwe, euer Gott, bin, der euch aus den Frondiensten für die Ägypter herausfuhrt (Übersetzung: W. H. SCHMIDT, Exodus, 268). 310 JANOWSKI, Ich will, 139 und DERS., Tempel, 229-231. Hier sieht JANOWSKI (aaO. 243f.) das Ziel der dynamischen Geschichtsschau der Priesterschrift „im ,Wohnen' des Schöpfergottes inmitten der Israeliten (Ex 25,8/29,45f)". 311 GROSS, Israels Hoffnung, 98. 312

JANOWSKI, a a O . 2 4 4 .

313

GROSS, a a O . 102.

246

V. Altes Testament und völkische Frage

A b r a h a m für Israel e x p l i z i e r t wird 3 1 4 . D a s n a c h s t a a t l i c h e Israel der E x i l s z e i t erhält s e i n F u n d a m e n t in der v o r s t a a t l i c h e n G e s e l l s c h a f t . J H W H hat s i c h in s e i n e r Herrlichkeit a m S i n a i i m V o l k Israel n i e d e r g e l a s s e n . D i e H o f f n u n g auf G o t t e s M i t s e i n ist nicht an p o l i t i s c h e Realitäten g e b u n d e n , s o n d e r n gilt in ihrer G r u n d s ä t z l i c h k e i t a u c h in der Z e i t der s c h w e r e n äußeren Krise: „In der K a t a s t r o p h e d e s 6.Jh. darf Israel h o f f e n , d a ß J H W H d a s Ja z u s e i n e m V o l k u n d z u m L a n d Israel als , L e b e n s h a u s ' für s e i n V o l k n i c h t z u r ü c k n i m m t , s o l a n g e d i e S c h ö p f u n g lebt." 3 1 5 D i e Priesterschrift b e z e i c h n e t Israel n e b e n 'PtnET 'IQ a u c h m i t d e n B e g r i f f e n ^ n p 3 1 6 u n d rni? u n d b e s c h r e i b t e s damit als r e l i g i ö s e G e m e i n s c h a f t . D i s kutiert w i r d j e d o c h d i e Frage, o b der priesterschriftliche E n t w u r f d i e Z u k u n f t Israels a u s s c h l i e ß l i c h als G l a u b e n s g e m e i n d e s e h e . W ä h r e n d W e l l h a u s e n d i e Priesterschrift als g e w a l t i g e R ü c k p r o j e k t i o n der bereits b e s t e h e n d e n K u l t g e m e i n d e interpretierte 3 1 7 , w i r d in der n e u e r e n F o r s c h u n g d i e u t o p i s c h e A u s richtung v o n P h e r v o r g e h o b e n : Lohfink 3 1 8 und Zenger 3 1 9 plädieren für einen Zukunftsentwurf ohne Staatlichkeit. Blum und Groß gehen dagegen davon aus, daß P nicht das Ideal einer theokratisch verfaßten Kultgemeinde entwerfe. Vielmehr implizierten die Patriarchenverheißungen für P ein Defizit der Gegenwart 3 2 0 und malten gegenüber der politischen Realität der Exilszeit für die Zukunft ein Bild, nach dem Israel, das rrjrp Dl), als 'ia in seinem Land leben werde 321 . In diesem Sinne interpretiert Groß 'ia als „international anerkannten Status" 322 . Die Besonderheit Israels läge somit darin, daß es ein als 'ia verfaßtes Gottesvolk sei, d.h. seine Besonderheit bezieht sich auf Lebensordnung und Gottesbezug. Hierin unterscheide sich Israel als '12 von den anderen cna. In dieser Diskussion formuliert Frank-Lothar Hossfeld einen Kompromiß: „Die geschichtlich ältere Patriarchenverheißung bezieht sich auf eine noch ferne, ausstehende Zu-

314

ZENGER, aaO. 164. BLUM (Die Komposition, 346f.) schreibt hierzu: „So ist die Bedeutung der Mehrungsverheißung und einer auf einer Verheißung gegründeten Ursprungsgeschichte Israels für eine Situation, in welcher dessen Existenz als Volk auf dem Spiele stand, unmittelbar evident. Gerade dieser Rückgriff auf die Anfänge konnte die ungewisse Frage beantworten, ob Israel als Volk noch eine Zukunft hat." 315 ZENGER, Die priesterschriftlichen Schichten, 107. 316 Zur Etymologie von "prip s., neben den einschlägigen Lexikonartikeln, BARR, Bibelexegese, 123-133. 317 Zu Wellhausens Beurteilung des nachexilischen Israel s. oben 86 und unten 252. 318 LOHFINK, Die Schichten, 92 und DERS., Der Begriff, 42.7 lff. 319 ZENGER, Gottes Bogen, 46f.: „P g sieht Israels Zukunft nicht im autonomen Staat, sondern in einer nach-staatlichen Lebensform". 320 BLUM, Die Komposition, 458. 321 GROSS, Israels Hoffnung, 102. Groß postuliert, daß P hier „dem überwiegenden alttestamentlichen Sprachgebrauch, der König und gwy einander zuordnet", folge (aaO. 96). 322 GROSS, aaO. 120.

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen

Bibel

247

kunft, wohingegen die Gemeindetheologie das zur Zeit der P«, aktuelle in der Diaspora lebende Israel anspricht" 323 . Thomas Pola hebt in seiner Untersuchung des priesterlichen Volksbegriffs die Unterscheidung zwischen einem vorexilischem, ethnisch bestimmten Volk und dem Israel teata irvefina der Exilszeit hervor. Auf dem traditionsgeschichtlichen Hintergrund von Jes und Ez meide P „den als ethnische Größe mißverständlich gewordenen Begriff DB"324- Statt dessen verwende P die Begriffe 'B 3 2 5 : „Aus der impliziten Definition eines Israel Kaxä 7WE-Ö|j.a in Gen 17 resultiert in P® (gewissermaßen als Ausführung) die Darstellung der Volksgeschichte als einer Sammlung von Individuen" 326 . Allerdings sei im Laufe der Literargeschichte von P eine „Rückkehr zu einem quantitativen Volksverständnis" geschehen, die an dem (sekundären) Gebrauch der Volksbegriffe in Verbindung mit zu erkennen sei 3 2 7 .

In der Exilszeit greift die Priesterschrift auf den Volksbegriff zurück, um der besonderen Beziehung zwischen JHWH und Israel Ausdruck zu verleihen: JHWH erwählte Israel als sein Volk, er ließ sich in ihm nieder und führte es aus der Gefangenschaft. Diese Geschehnisse sollten Grund zur Hoffnung geben, denn sie gründeten in einer Zeit, die noch nicht von der Existenz eines eigenen Staates geprägt gewesen war. E) „ Tröstet, tröstet mein Volk!" (Jes 40,1) - das Volk und die Völker in der Verkündigung der exilischen und nachexilischen Prophetie Die prophetischen Visionen entwerfen das Bild einer hoffnungsvollen Zukunft für das Volk Israel: In der Exilszeit steht die Erwartung im Vordergrund, daß Israel aus allen Himmelsrichtungen versammelt (Jes 43,5-7) und, nachdem seine Schuld abgetragen ist, wiederhergestellt werde (Jes 40,1 ff.) 328 . Zugleich aber treten andere Völker ins Blickfeld. Im Zusammenhang „einer kämpferischen Monolatrie, eines aggressiven und ausgrenzenden Monotheismus"329 entwerfen die prophetischen Texte deshalb partikularistische Heilshoffnungen für Israel oder beziehen die Völker in einen universalistischen Zukunftsentwurf mit ein, in dem auch jene Anteil an dem Heil JHWHs bekommen werden330.

323

HOSSFELD, Volk Gottes, 142. 324 p o l a , Die ursprüngliche Priesterschrift, 167. Die Aufnahme in das Volk durch den Ritus der Beschneidung wertet Pola als Beweis dafür, daß die Zugehörigkeit zum Volk nicht schon durch verwandtschaftliche Strukturen gegeben sei. 325 Als Ausnahmen, in denen auch P den DB-Begriff verwende, nennt POLA (aaO. 172) vorgeprägte Formeln . 326

POLA, a a O . 170.

327

POLA, aaO. 171f.

328

Weitere Stellen bei W. H. SCHMIDT, Volk, 29-32.

329

GROSS, Y H W H , 34.

330

GROSS (YHWH, 35f.) zählt die unterschiedlichen Positionen auf, mit denen in biblischen Texten die Volker in einen heilvollen Bezug zu JHWH gesetzt werden.

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V. Altes Testament und völkische Frage

So entwirft Sacharja in diesem Zusammenhang eine universale Vorstellung des einen Gottesvolkes, das viele Völker mit einbeziehen wird (Sach 2,15)331. Dennoch wird die Vorstellung des Gottesvolkes nicht vollständig von seiner Bindung an Israel gelöst. Weder Sach 2,15 noch Texte wie Jes 2,2^4- oder Mi 4,1-3, die von der Wallfahrt der Völker zum Zion 332 handeln, beschreiben eine uneingeschränkte Öffnung Israels bzw. des Begriffs des Gottesvolkes. Hier wenden sich die Heiden dem Zion zu. Er bleibt Mittelpunkt und mit ihm Israel in seiner besonderen Beziehung zu JHWH. Indem die Völker zum Zion kommen, erkennen sie diese besondere Beziehung an und werden sich um die Lehre JHWHs bemühen (Jes 2,3; 56,6). So sprechen sie: „Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch" (Sach 8,23) 333 . Israel bleibt auch in der Heilsankündigung der Propheten der eigentliche Heilsempfänger: „Es gibt kein Heil für die Völker an Israel vorbei oder ohne Israel" 334 . Die Tendenz der exilisch-nachexilischen Texte ist deutlich: In der geschichtlichen Situation der Diaspora wendet sich der Blick Israels den anderen Völkern zu. Der Glaube erhält universalistische Züge und kreist dennoch weiterhin um Israel: JHWH gilt als universaler Schöpfer und Herrscher der Welt und aller Völker, sein Volk aber ist Israel. Es ist so von einer „Korrespondenz von Jahwes Welt- und Völkerherrschaft einerseits und seiner IsraelLiebe andererseits" 335 auszugehen. Gerade Texte aus dem Jesajabuch, die weithin als Anknüpfungspunkt der These einer weltumspannenden Öffnung des Gottesvolkes gelten, müssen sich in ihrer Interpretation mit der Frage nach der bleibenden Prärogative Israels konfrontieren lassen: Die Spannung zwischen Universalismus einerseits und Israelbezogenheit andererseits bezieht Blum auch auf die Interpretation von Jes 56,1-8. Er unterscheidet für die nachexilische Zeit zwischen der .Gemeinde der JHWH-Verehrer' und .Israel': Während die religiöse Gemeinschaft all denen offenstehe, die JHWH als den einen Gott verehren, definiere sich Israel

331

Sach 2,15: Und es werden sich versammeln viele Völker zu Jahwe an jenem Tage und werden mein Volk sein: Ich werde wohnen in deiner Mitte und du wirst erkennen, daß Jahwe der Heerscharen mich zu dir gesandt hat (Übersetzung: HAHNHART, Sacharija, 115). 332 Zum Motiv der Völkerwallfahrt zum Zion s. W. H. SCHMIDT, Alttestamentlicher Glaube, 257f. 333 Zur Übersetzung s. DEISSLER, Zwölf Propheten, 293. 334 PREUSS, Theologie II, 321. 335 PERLITT, Bundestheologie, 172. In diesem Sinne resümiert ORLINSKY (Nationalism, 231), Ziel der gesamten Hebräischen Bibel sei es zu zeigen, „that God is Israel's God alone, and that he is the only God in the universe; in short, a national-universal God". Vgl. auch DERS., aaO. 225: „There are, literally, hundreds, not just tens and scores, of passages in the Hebrew Bible, from Genesis through II Chronicles, that assert positively or at least reflect the relationship of God and Israel as being purely nationalistic."

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

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weiterhin über die gemeinsame Abstammung 336 . In Jes 56 gehe es in diesem Sinne nicht um die Öffnung Israels für Fremde und Eunuchen, wohl aber um ihre Zulassung zum gemeinsamen Tempelkult mit Israel: „Mein Tempel soll ein Bethaus heißen für alle Völker" (Jes 56,7). Blum betont jedoch: Niemals ist diese endzeitliche Bekehrung der Völker aber als Eintritt ins Judentum vorgestellt. Es geht vielmehr um die Verehrung des einen Gottes gemeinsam mit Israel." 337

Auch in der Diskussion um das Verständnis von Jes 19,18-25, wo explizit Ägypten und Assur, gemeinsam mit Israel, der Segen JHWHs zugesprochen wird 338 , stellt sich die Frage, ob die nachexilische Prophetie eine universalistische oder eine partikularistische, allein Israel vorbehaltene Zukunftsperspektive entwirft: Für Otto Kaiser stehen in Jes 19,25 die Ägypter als Volk JHWHs und die Syrer als ,Werk meiner Hände' zusammen mit Israel „als das eine, neue und bleibende Gottesvolk nebeneinander" 339 . Der Universalismus hätte somit die besondere Stellung Israels zugunsten eines alle Völker umfassenden Gottesvolkes abgelöst. Anders versteht Harry M. Orlinsky die Stelle nicht als universalistische Auflösung des bis dahin auf Israel bezogenen Gottesvolksbegriffs, sondern als einen ersten Markstein für ein internationales Denken in Israel. In einer Situation, in der Tausende von Judäern in den verschiedenen Ländern der Diaspora lebten, sei die „nationalistic-territorial-universaltic attitude of the prophets and of the pre-exilic period generally" 340 aufgeweicht. Die ausschließliche Bindung an Jerusalem und den Zion sei zugunsten der Möglichkeit, daß JHWH auch in Ägypten und anderswo verehrt werden könne, aufgegeben worden. Jutta Hausmann bezieht in ihrer Untersuchung von Jes 19,18-25 den Text hingegen nicht auf die jüdische Diaspora. Vielmehr werde hier „mit einer kühnen Sicht das eigentliche Ägypten unter die künftigen JHWH-Verehrer" 341 gerechnet. Dabei würden in den folgenden Versen die Völker mit Israel auf eine Ebene gestellt, denn JHWH nenne auch Ägypten sein Volk ('DJ?) und bezeichne Assur als Werk seiner Hände ('"T nfflüQ). Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt Gross. Auch er spricht von einer Gleichberechtigung der Völker Ägyptens und Assurs mit Israel. Dennoch sei das Thema des Textes nicht die Aufweichung des Gottesvolkes, sondern Ägypten trete als eigenständiges Gottesvolk neben Israel 342 . Die Identität liege

336 BLUM, Volk, 29f. Blum spricht dabei von .Abstammung' als primär sozialer, nicht genetischer Realität. 337

BLUM, aaO. 32.

338

Vgl. Jes 19,25: T ^ m i i m « n ; rrtDDni o n s a 'B? I i i ? löt*1? niiax rnn; to-p - \ m (...) die Jahwe der Heere segnet, indem er spricht: Gesegnet sei mein Volk, Ägypten, und das Werk meiner Hände, Assur, und mein Erbbesitz, Israel! (Übersetzung: WLLDBERGER, Jesaja, 728). 339 KAISER, Jesaja, 91. 340

ORLINSKY, Nationalism, 224.

341

HAUSMANN, Israel, 63. GROSS, Wer soll, 21. Vgl. hierzu BAUER, Israel, 151f.

342

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V. Altes Testament und völkische Frage

also nicht in der Zugehörigkeit zu einem großen, alle umfassenden Gottesvolk, sondern die Identität sei allein von JHWH her zu denken 343 .

So spricht Jes 19,18—25344 von einer Dekonstruktion der Zentralität des Zions und geht damit über die meisten der universalistisch ausgerichteten Texte der Hebräischen Bibel weit hinaus. Schon Septuaginta und Targum hatten deshalb den Text nicht auf die Fremdvölker Ägypten und Assur bezogen, sondern auf die in ihrem Bereich lebenden Diasporajuden 345 . Die zentrale Aussage des Textes liegt jedoch in der Verehrung JHWHs durch alle Völker und in der Rede von der bleibenden Segens- und Heilsfunktion Israels (Jes 19,24) 346 . Hausmann weitet diese Erkenntnis noch aus: „Dieses primäre Interesse an Israel und an seiner dauerhaften Existenz gilt nicht nur für Jes 19,18ff., sondern grundsätzlich für alle universalistisch ausgerichteten Texte des Alten Testaments." 347 'Q

- ganz Israel" - Israel in den Chronikbüchern und in Esr/Neh

Die Errichtung einer eigenständigen Provinz Jehud innerhalb des Perserreichs geht einher mit der Suche nach Identität und Selbstverständnis des jüdischen Volkes in nachexilischer Zeit. Die Zeit der Deportation und des Exils gelten nicht als endgültiger Bruch, und dennoch tritt mit der eigenständigen Provinz eine neue Situation ein. Die Schriften, die diese Zeit beschreiben, setzen unterschiedliche Schwerpunkte, um einerseits der Situation eines Neuanfangs und andererseits der Verbundenheit mit der Tradition Ausdruck geben zu können. Die Chronikbücher Die Chronikbücher erzählen die Geschichte Israels bis zum Ende der Exilszeit nach 348 . Sie nehmen dabei eine gesamtisraelitische Perspektive ein. Immer 343

Eine andere Lösung zeichnet nach GROSS (aaO. 27-31) Jes 66. Hier sei nicht von verschiedenen JHWH-Völkern die Rede, sondern von einer neuen Größe „alles Fleisch" (Jes 66,16), welche die dem Gericht über Israel Entronnenen, die aus der Diaspora Heimgeführten und die dem Völkergericht Entronnenen umfasse. 344 Ein Text, den BRETT (Nationalism, 157) in die hellenistische Zeit einordnet. Hierzu auch KILIAN, Jesaja, 123. 345 Jes 19,25b (LXX): EiiXoynnevoi; ö Xaöq (iov 6 ev AiYÜ7ttcp Kai 6 ev 'Aatrupioi? Kai f| KVnpovo|iia |xo-u IapariX. Vgl. hierzu GROSS, YHWH, 39. Vgl. auch Targum zur Stelle (SPERBER [Hg.], Targum, 39). 346

KILIAN, a a O . 1 2 5 . A u c h WILDBERGER, J e s 1 3 - 2 7 , 7 4 5 .

347

HAUSMANN,

Israel,

70. So bleibt Israel auch in Jes 19,24: p»n

RONA

(dazu auch

DIES., a a O . 6 6 ) . 348 WILLI (Juda, 36) weist auf den Unterschied hin, der mit der Literatur der späten Perserzeit eingetreten sei: Ihr Interesse gelte nicht mehr der Fortschreibung und damit der Wiederanknüpfung an die vorexilische Tradition (wie noch Hag/Sach), sondern die Tradition werde nun nacherzählt, erforscht und ausgelegt.

2. Zur Diskussion um den Volksbegriff der Hebräischen Bibel

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wieder sprechen die Texte von i?K"]tö,'~'73349 und erweitern damit oftmals ihre Vorlage aus dem Pentateuch und den Geschichtsbüchern 350 . Schon in den Anfangskapiteln 1 Chr 1 - 1 0 , der sog. genealogischen Vorhalle', greift die Chronik in ihrer Geschichtsdarstellung auf das Zwölf-Stämme-Schema zurück. Eingebettet in die Geschichte der gesamten Menschheit steht im Zentrum Israel 351 . Die Bedeutung der einleitenden Kapitel geht so über die einer ,Vorhalle' hinaus: „Weit entfernt davon, nur Anknüpfung an die frühere Geschichte Israels oder Vorhalle zu sein, handelt es sich in 1 Chr 1 - 1 0 vielmehr um eine eigentliche ävaKesemi-iudaeus