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German Pages 139 [140] Year 1927
Krieg und Geist Das Mißtrauen in den Geist als Ursache unseres militärischen Versagens zu Beginn des Weltkrieges Von
Karl von Wachter Oberst a. D.
München und Berlin 1927
Druck und Verlag von R. Oldenbourg
Alle Rechte, einschließlich deS übersetzung-rechtes, vorbehalten. Copyright 1927 by N. Oldenbourg, München und Berlin.
Inhalt. Seite
Vorwort.........................................................................................................................
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Erster Teil. Der Ernstfall......................................................................................
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Zweiter Teil. Die Friedensschule..............................................................................71
Dritter Teil. Der Zeitgeist...................................................................................... 98 Schlußwort................................................................................................................... 125
Vorwort. Nach dem übereinstimmenden Urteil der Sachverständigen ist die Erfolglostgkeit des Feldznges, mit dem wir 1914 den Krieg
im Westen eröffneten, der unzulänglichen Führung, und diese wieder verschiedenen Mißgriffen bei der Stellenbesetzung zuzu schreiben. Man kann diese Kritik in ihrem Ergebnis unfruchtbar finden, ohne daß damit etwas gegen ihre Richtigkeit bewiesen
wäre. Die folgende Betrachtung will eine andere, weniger zufällige Ursache des Versagens der Führung ins Licht rücken und zu be
gründen versuchen. Zu diesem Zweck will ste zeigen, inwieferne die deutsche Führertätigkeit auf die Ausblldung der Führerschaft, damit zugleich auf die geistige Verfassung des Heeres zurückging, und beides wieder vom deutschen Geistesleben beeinflußt war. Ste muß hiezu von einer Würdigung der deutschen Führung ausgehen, die, der begrenzten Absicht entsprechend, nicht sowohl selbst kritische Kriegsgeschichtsschreibung ist, als vielmehr auf dieser
wetterbaut. (Als Karte genügt jedes Atlasblatt in i: 1 y» Millionen oder größerem Maßstabe.) — Das in Deutschland nicht eben seltene Vorurteil, daß jeder neue Versuch, den Dingen auf den Grund zu sehen, immer wieder und in jeder Hinficht von vorne anfangen müsse, hat schon öfter dazu beigetragen, daß allzulange Zeit verstrich, bis die Erkenntnis einen entschiedenen Schritt vor wärts machte. Obwohl aber unsere Würdigung nur hinter den schon fest gestellten ersten Ursachen die zweiten und dritten sucht, möchte es der Meinung gegenüber, daß nur Kriegstellnehmer zur Kritik
befähigt seien, doch nicht überflüssig sein, auch noch ausdrücklich zu bemerken, daß fich die Betrachtung auf Ereignisse beschränkt.
— 6 — die ihre Ursachen in den Friedensverhältnissen haben. — Alle
Bemerkungen und Annahmen, welche die Kriegführung, ihre Grundlagen und ihre Mittel, sowie den Gebrauch der letzteren, im allgemeinen betreffen, bejiehen sich auf den Stand der Dinge bei Beginn des Weltkrieges. Wenn der Zusammenhang, den diese Schrift nachweisen will, nämlich der Zusammenhang zwischen militärischem Versagen
und geistesgeschichtlicher Entwicklung — insoferne Geistesscheu Ursache des ersteren und Folge der letzteren war — wirklich be steht, dann ist das nicht Schuld des Verfassers. Weil aber unser Geistesleben im Zeichen des wissenschaftlichen Spezialismus steht, ist uns der Sinn für die großen Zusammenhänge immer mehr verloren gegangen. Die spezialisierenden Wissenschaften sind notwendig, nur sind sie letztlich gute Diener, aber schlechte Herrn. Gleichwohl gilt ein Denken, das sich nicht ausschließlich in den Dienst einer solchen Wissenschaft stellt, leicht von vornherein als ober flächlich und unwissenschaftlich. So begreift sich auch ein gewisser Argwohn gegenüber einer Schrift, deren Inhalt zwei verschiedene Gebiete des geistigen Lebens umfaßt. Ob er vorliegendenfalls berechtigt ist, mag der Leser entscheiden. Ihrem Ergebnis entsprechend zieht unsere Untersuchung die Nutzanwendung, nicht nur für die militärischen Führer, sondern für das ganze deutsche Volk, soweit es am Geistesleben teil hat. Deshalb wendet sie sich auch von vornherein an alle Geblldeten und ist in ihrem militärischen wie in ihrem geistesge
schichtlichen Teil gemeinverständlich abgefaßt, wenn sie auch Leser voraussetzt, die ernsterem Nachdenken nicht abgeneigt sind. — Sie ist keine Anklageschrift gegen bestimmte Einrichtungen, Körperschaften oder Berufsstände, sondern will dazu beitragen, unser Volk in seiner Gesamtheit von der Oberfläche wegzubringen, an der es, sich selbst untreu geworden, zu seinem Unheil haftete und noch heute, mehr denn je, zu haften scheint.
Erster Teil: Der Ernstfall. In seinem Buch „Erkenntnis" behauptet Ernst Horneffer, das Volk der Dichter und Denker sei im Weltkriege an der Geistlosigkeit seiner Diplomatie zugrunde gegangen. Er hat damit allgemeine Zustimmung gefunden. Gllt ähnliches vielleicht auch von der deutschen Kriegführung? Die Antwort dürfen wir natürlich nicht im Stellungskriege x) suchen, der wohl das Ringen in die Länge zog, für uns aber nur die unerwünschte Folge davon war, daß der Bewegungskrieg zu keinem entscheidenden Sieg geführt hatte. Sondern wir müssen die operative Kriegführung ins Auge fassen, die der Versumpfung der Kriegshandlung im Stellungskriege vorausging, und zwar die operative Kriegführung auf dem Hauptkriegsschauplatze. Denn hier, wo die Entscheidung gesucht, deshalb von Anfang an die Masse eingesetzt wurde, der eine gleiche feindliche Masse mit ebenbürtiger Führungstechnik gegenüberstand, hier war es vor nehmlich, wo sich die Kriegskunst auswirkte, die das deutsche Heer aus langer Friedenszeit in den Existenzkampf mitgebracht hatte, wo die im Frieden vorgebildeten Gedanken, Grundsätze und Methoden, die sich auf die Führung moderner Massenheere bezogen, in die Tat umgesetzt wurden. In einem Krieg mit zwei Fronten sollte nach der Absicht Schliessens zuerst der Westgegner niedergeworfen «erden, well im Osten schon die Räume zu groß waren, um eine Entscheidung *) Ermöglicht wurde die über den ganzen Kriegsschauplatz sich hinzieheade „Front" und damit die Herrschaft des Stellungskrieges durch eine nie dagewesene Massenhaftigkeit der Heere. Auch hier hat die Masse den Geist totgeschlagen: auf dem Spannbrett der durchlaufenden Stellung, die ein Höchstmaß von Kräfte verzettelung darstellt, lag das Heer im Starrkrampf. Nützlich kann der Stellungs krieg nur dem sein, der im Kriegszustand ruhig «eiterlebe» und den feindlichen Willen mit anderen Mitteln als mit Strategie und Taktik breche» kann. Hiezu schafft ihm der Stellungskrieg die nötige Zeit. In Deutschland aber gab es Toren, die der Meinung waren, daß die Zeit für uns arbeite.
— 8 — herbeiführen zu können. Denn hiezu muß die feindliche Hauptmacht, wenn irgendmöglich, gegen eine neutrale Grenze, ein Meer oder anderes Hindernis gedrängt «erden, weil die neuzeitlichen Heere zu groß sind, als daß man sie im freien Felde umzingeln könnte, zumal wenn sie auch noch die zahlenmäßige Überlegenheit be sitzen. Und ferner muß der Gegner womöglich gegen das nächste Hindernis gedrängt werden, damit er nicht, in die Tiefe seines Landes ausweichend, dessen Kräfte für sich nutzbar machen kann. Im Jahre 1870 hätte sich der Oberrhein als solches dargeboten, wenn nicht hier die französischen Festungen und die Vogesen hinderlich gewesen wären. Als zweitnächstes bot sich die Nord grenze an, über deren östlichsten Teil aber zugleich einmarschiert werden mußte, so daß eine völlige Kehrtschwenkung notwendig wurde, um den Gegner schließlich gegen diese Wand zu drücken. Mit solchen Möglichkeiten darf im voraus nie gerechnet werden; man kann darauf hoffen, auch Moltke mag darauf gehofft haben, gesprochen hat er nie davon, bis der abenteuerliche Marsch. Mac Mahons, an den man zuerst gar nicht glauben wollte, die Aussicht auf Erfüllung dieser Hoffnung brachte, nachdem allerdings ein nennenswerter TeU der feindlichen Kräfte schon durch die Ein schließung in Metz matt gesetzt war. In einem Zweifrontenkrieg mußte ferner die Entscheidung auf dem westlichen Kriegsschauplatz schnell fallen, ehe die russischen Massen wirksam werden konnten. Deshalb wollte Schliessen dem französischen Fesiungsgürtel gegen Deutschland ausweichen und durch Luxemburg und Belgien vorgehen, um den Feind sodann gegen seine Ostgrenze abzudrängen. Der Gedanke einer weitgehen den Entblößung der deutsch-französischen Grenze war nicht neu. Er war schon im Aufmarsch von 1870 verwirklicht — am Oberrhein — obwohl damals Deutschland politisch noch gar nicht geeint war. Wie denn überhaupt die von Schliessen geplante Kräftegruppierung nur das vergrößerte Abbild des Aufmarsches von 1870 war. Erst die Epigonen haben sich von diesem guten Beispiel losgesagt. Sie konnten es nicht über sich gewinnen, an der eigenen Grenze jeder entscheidungsuchenden Absicht entschlossen zu entsagen, wollten in der Lage bleiben, gewisse Möglichkeiten auszunützen.
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Besorgnis um den Besitz des Landes mit seinen Hilfsquellen, politische Bedenklichkeiten und Prestigegedanken mögen herein gespielt haben, die Hauptsache bleibt aber, daß auch die rein mili tärischen Erwägungen nicht ju voller Klarheit gediehen waren. Bis zum Kriegsausbruch hatte der Plan Schliessens eine Umgestaltung erfahren, zu der sich Generaloberst v. Moltke wie folgt ausgesprochen hat: „Der den (nach dem Fall von Lüttich) folgenden Operationen zugrundeliegende Gedanke «ar der, das belgische Heer, wenn irgend möglich, von Antwerpen, ebenso das französische Heer, das ich an der Maas und Sambre zu finden erwartete, unter Umfassung seines linken Flügels von Paris ab und nach Südosten zu drängen. Während die 1. bis 5. Armee mit dem Drehpunkt Metz-Diedenhofen eine Schwenkung nach Süden ausführten, sollten die 6. und 7. Armee zwischen Nancy und Epinal die Maas überschreiten, um südlich Verdun den An schluß an die 5. Armee wieder zu gewinnen... Ich hatte die 6. Armee, der die 7. unterstellt wurde, angewiesen, vor dem Vor marsch der Franzosen zunächst auszuweichen, es lag mir daran, den Gegner möglichst weit südlich Metz vorkommen zu lassen, um dann womöglich seine beiden Flügel von Norden und Süden her mit um so größerer Aussicht auf einen entscheidenden Erfolg anzugreifen. — Die Erklärung des Führers der 6. Armee, daß er seine Truppen nicht weiter zurückgehen lassen könne, ohne ihren inneren Halt zu gefährden, daß er angreifen müsse, ließen diese Absicht nicht zur Ausführung kommen. Die Schlacht in Lothringen wurde geschlagen, bevor die 7. Armee und die der 6. Armee zur Verfügung gestellten Ersatz-Divisionen vollzählig eingetroffen waren. Sie brachte einen vollen taktischen Erfolg, aber die Verfolgung kam an der Maas zum Stehen, und der ge plante Durchstoß zwischen Nancy und Epinal gelang nicht ... Bald wurde es klar, daß die von den Franzosen errichtete Verteidi gungslinie zwischen Nancy und Epinal nur durch den Vormarsch der 5. Armee geöffnet werden würde" x). *) Generaloberst Helmuth v. Moltke. „Erinnerungen — Briefe — Doku mente." Herausg. von seiner Frau. „Der kommende Tag", Stuttgart 1922. — „Moltke über den Rückzug an der Marne", S. 433s.
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Die feindlichen Gesamtkräfte sollten also nicht nur von einer, sondern von jwei Seiten umgangen und umfaßt werden, außer durch Luxemburg und Belgien auch durch die sog. Trouöe de Charmes, die Befestigungslücke zwischen Nancy-Toul und Epinal. Drang aber der Gegner selbst mit starken Kräften in DeutschLothringen ein, dann sollten erst diese geschlagen und dabei nach Möglichkeit umzingelt und vernichtet werden. Wie lebhaft der Generalstabschef von dem Wunsche beseelt war, diese Absicht zu verwirklichen, geht unter anderem aus dem Vermerk hervor, den er in die Aufmarschanweisung für die 5. Armee schrieb: sie müsse sich stets bereithalten nach Süden einzuschwenken. Ja, er dachte sogar daran, auch noch die 4. Armee zur Mitwirkung heranzuziehen. Es ist zuzugeben, daß bei gleicher Stärke die MitWirkung der Befestigungen wie im einen Fall auf französischer, so im anderen auf deutscher Seite eine Überlegenheit schaffen, ebenso, daß die Lücke von Charmes verhältnismäßig noch am leichtesten durchschritten werden konnte, vorausgesetzt, daß man dabei einem geschlagenen Feind auf dem Fuß folgte. Allein die doppelte Umfassung, wie sie im Hinblick auf die feindliche Ge samtmacht beabsichtigt war, auch wenn uns die Franzosen in Lothringen nicht entgegenkamen, ist das geeignetste Sieges mittel nur für den zahlenmäßig überlegenen, wie es die Deutschen im Jahre 1870 waren. Den Schwächeren bringt sie in Gefahr, flügelweise geschlagen zu werden, auch wenn er demonstrativ zu fechten versteht und von der Demonstrative*) Gebrauch machen kann, was indessen, wie wir sehen werden, nicht unter allen Um ständen möglich ist. Außer der feindlichen Überlegenheit hätte aber noch eine andere Erwägung vor einer Offensive über Meurthe und Mosel warnen müssen. Wir legen ihr die Lage zugrunde, wie sie von der Obersten Heeresleitung angenommen war, ohne Rücksicht darauf, daß die Franzosen tatsächlich die Lücke zwischen Nancy und Epinal durch provisorische Befestigungen geschlossen hatten, ehe die Deut schen davor erscheinen konnten, und von den hiefür getroffenen *) Demonstrative ist der festhalteode, krästebiadeade, Depsive der entscheid dungsuchende Kampf (bjw. die den Kampf vorbereitende Operation).
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Friedensvorbereitungen der Große Generalstab anscheinend nur
ungenügend unterrichtet war. Es wird also nur die Möglichkeit vorausgesetzt, mit der auch die O.H.L. rechnen mußte, daß man in der Lücke auf Derteidigungseinrichtungen stieß, wie sie unter Zuhilfenahme von Fesivngs-Materialbeständen in wenigen Tagen geschaffen werden können. Jeder Durchmarsch oder Durchbruch durch diese, jwischen den äußersten Forts gemessen allerdings 50 km breite Lücke war
Angriffen auf beide Flanken ausgesetzt; die „region fortiftee" von Nancy-Toul wie die große Lagerfestung Spinal boten geschützte Versammlungsräume für jede beliebige Truppenjahl. Die Fortsetzung der Operation aber erforderte besondere Maß nahmen zur Deckung des Rückens und hiezu erneuten Kräfte einsatz; sonst bedeutete sie Isolierung und Schwächung, um so mehr, je weiter der eingedrungene Heeresteil die Befestigungs linie hinter sich ließ. Die Offensive war also unter erschwerenden Umständen zu führen, gleichviel, ob sie die Entscheidung suchen oder Kräfte binden sollte. Ja gerade die Demonstrative mußte Schwierigkeiten besonderer Art begegnen, wenn sie in der Lücke selbst oder nahe dahinter auf ernsten Widerstand stieß. Denn hier war der Gegner hervorragend befähigt, einen überlegenen An greifer zum Stehen zu bringen und zugleich über die eigene Stärke zu täuschen, d. h. aus dem Bindenwollenden einen Gebundenen zu machen. Wenn aber schon die Befestigungslücke einem Vorgehen sowohl zum Zweck der Entscheidung wie des Fesihaltens so ernste Hindernisse in den Weg legte, dann bedeuteten die anschließenden
Befestigungslinien für das eine wie für das andere ein „ab solutes Hindernis" *). Für Demonstrativ-Unternehmungen des halb, weil ein Gegner, der jederzeit hinter eine Linie zurückzugehen in der Lage ist, über die der Demonstrierende nicht folgen kann — sobald er dieses wirklich tut, auch nicht mehr festgehalten werden kann.
*) In dem Sinne, daß seine Überwindung besondere Mittel und erhebliche Zeit erfordert. Die Befestigungen waren vielfach veraltet. Doch ist hier ihr Zu sammenwirken mit Feldkräftea vorausgesetzt, wie es auch für den Fall anzunehmen war, daß der Gegner die Entscheidung auf einem andern Kriegsschauplätze suchte.
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So war das deutsch-französische Grenzland für eine demon strative Kriegshandlung noch weniger geeignet als für eine dezisive — außer wenn der Gegner die Offensive ergriff. Welche Absicht für diesen Fall bestand, wurde schon erwähnt. Sie war einmal bei einer Schlieffenschen Generalstabsreise verwirklicht worden, und es wäre tragisch — man kann sich aber des Gedankens kaum erwehren — wenn diese Übung dazu beigetragen hätte, die Verwirklichung der andern Absicht, die sich Schliessen für den Ernstfall vorbehalten hatte, zv vereiteln. Für diesen Fall durfte das Lehrbeispiel niemals dem strategischen Aufmarsch (der ersten KräfteverteUung) zugrunde gelegt werden, es konnte hiefür nicht in Frage kommen, weil die Möglichkeit es hier zu verwirklichen vom Verhalten des Gegners abhing. Auf vorgefaßte Meinungen hin zu handeln gilt als der verhängnisvollste Fehler in der Krieg führung. Der Gedanke an einen entscheidenden Sieg in DentschLothringen, der das Auftreten starker feindlicher Kräfte dortselbst voraussetzte, war also dahin zu verweisen, wohin die frommen Wünsche gehören, und durfte unter keinen Umständen von vorn herein für das eigene Verhalten auf diesem möglichen Kriegs schauplätze und deshalb auch nicht für die Festsetzung des Kräfte einsatzes dortselbst bestimmend sein. Jeder aufkeimende Wunsch, neben der Entscheidung, die auf dem Wege über Belgien gesucht werden sollte, noch eine andere im deutschen Grenzland anzu streben, mußte als gefährliche Versuchung unterdrückt werden. Denn Eins zu «ollen, nicht Zweierlei, ist Grundbedingung für jeden Erfolg, ist es doppelt für den Kriegserfolg und dreifach, wenn er gegen eine Überlegenheit errungen werden muß. Und -och ist gerade hier auch die Verführung am stärksten, die uns anrät, zwei Eisen im Feuer zu haben, nicht alles auf eine Karte zu setzen u. dgl., wodurch das Wagnis scheinbar geringer, in Wirk lichkeit aber größer wird. Der Gedanke: glückt es hier nicht, dann glückt es vielleicht dort, dieses Mißtrauen in die eigene Kraft, das fich an den Zufall anklammert, dieses falsche Wagen ist der erste Sieg der feindlichen Überlegenheit. Weiters hätte man sich aber sagen müssen, daß mit dem Eindringen des Gegners ins deutsche Grenzland seine Der-
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nichtung durch das beabsichtigte Verfahren noch keineswegs ver bürgt sei. Er ist ja auch tatsächlich dort eingedrnngen, ohne um zingelt oder überhaupt entscheidend geschlagen zu werden, womit allerdings noch nichts bewiesen wäre, well sich die 6. Armee — anscheinend mit Recht — nicht so verhalten hat, wie es dem bei der einstigen Übungsreise vorgezeichneten Muster entsprochen hätte. Aber das Verhalten des Gegners hat den Beweis er bracht, insoferne dieser—es war die 1. und 2. französische Armee — tief gegliedert vorging und schon vor der Schlacht von Saarburg den ausweichenden deutschen Korps nur vorsichtig und zögernd folgte: Er wollte selbst nur Kräfte binden und die Entscheidung (vom 2i. August an) in Richtung Longwy—Msziöres suchen, er wollte Kräfte binden trotz seinem dezisiven Auftrag. Wir wollen davon absehen, daß dieses „trotz" falsch ist, insoferne dezisive Auftragstellung, wie im Zweiten Teil zu erörtern sein wird, überhaupt zur Demonstrative gehört. Aber der Auftrag konnte auch angesichts der Stärke des Gegners geändert, und die Ändederung nur nicht akten- oder wenigstens nicht geschichtskundig geworden, oder er konnte von Anfang an als Eventualauftrag er teilt sein unter der stillschweigenden oder mündlich beigefügten Voraussetzung eigener Überlegenheit. Dor allem aber sind die Franzosen zwar mit Recht als Theoretiker und Systematiker bekannt; indessen, beweglicher als wir, können sie auch anders. Wenn es sein muß, hindert sie ihre Begeisterung für Methoden nicht im geringsten, die Fessel der Grundsätzlichkeit abzuwerfen und das Segel nach dem Wind zu stellen. Und nicht allein den Grundsätzen, auch den Befehlen ihrer Vorgesetzten kündige» sie den Gehorsam auf, wenn sie ihrer Überzeugung von den Anforderungen des Einzelfalls widersprechen. Deshalb sind Dezistvaufträge dort nicht so gefährlich wie in Deutschland. Man ist unbefangener, geneigt, einem weitgehenden Naturalismus zu huldigen, den wir rühmen oder tadeln können, und legt sich dann nicht einmal von vornherein auf eine Absicht fest, sondern versucht eben zuerst einmal, wie es am besten geht — anscheinend recht stümperhaft und gar nicht kriegsgemäß. So dürften die praktischen Erwägungen in unserem Falle etwa dahin gelautet
— 14 — haben: Gelingt es gegen den Rhein und die untere Saar vorzu dringen, so ist damit für den Cntscheidungsschlag die Ausgangs lage wesentlich verbessert. Mehr ist aber nicht erreicht. Treffen wir daher zwischen den zwei deutschen Festungen unerwartet starken Widerstand, so werden wir uns nicht verbluten, sondern schon den ersten Erfolg in anderer Richtung suchen, wo er dann aber, wenn irgendmöglich, auch gleich die Entscheidung bringen soll; was um so leichter gelingen wird, je stärker die feindlichen Kräfte in Deutsch-Lothringen sind. Die Nachwirkung unseres dortigen Einsatzes wird verhindern, daß uns der Gegner ein zweites Mal zuvorkommt. Die Franzosen wären also nicht in die Falle gegangen, sie hatten eben auch von Schliessen gelernt und sein „Cannä" gelesen. Es hätte nichts geholfen, wenn die 6. Armee noch weiter zurückgegangen wäre; aber auch die mit dem Vorgehen ver bundene Absicht konnte aus den angeführten Gründen nicht im wünschenswerten Umfang erreicht werden. Denn die Kriegslage und das Verhalten des Hauptheeres erforderte ein Kräftebinden auf länger als drei bis vier Tage, und das war einer Offensive bet der Nähe der französischen Sperrlinie nicht möglich. Diese schloß aber ebenso den vollen Erfolg einer offensiven Dezisive aus: Nicht nur, wenn man den Feind umzingeln, sondern erst recht, wenn man ihn frontal schlagen wollte — schlagen, nicht bloß zurücktreiben — also die Früchte des Sieges in der Ver folgung ernten, mußte man den hiezu nötigen freien Raum vor sich haben. Und den Gegner absichtlich möglichst nahe vor seiner Festungslinie zu schlagen, um zugleich mit ihm durch diese Linie zu kommen, wäre doch ein etwas allzu kühner Gedanke gewesen, selbst der „Lücke" gegenüber, die man als wirkliche, hindernislose Lücke doch nie anzutreffen hoffen durfte. Etwas anderes ist, daß das Zurückgehen durch die Stärke der Armee ungeheuer erschwert, ja fast unmöglich gemacht war. Jedenfalls war es nur möglich, wenn die Armee nicht aufmarschiert und entwickelt, sondern in sehr tiefer Staffelung und in Marschkolonnen (bzw. Marschstaffeln) aufgestellt war. Nur dann war an ein Zurückgehen ohne materielle Einbuße zu denken, dann aber auch ohne die befürchtete moralische.
— 15 — vorausgesetzt allerdings, daß das Heer, und das heißt heute immer auch das Volk, über die Anforderungen eines Zweifrontenkrieges belehrt war: daß es sich nicht darum handeln konnte, möglichst schnell nach Paris zu kommen, sondern die Franzosen ehestens entscheidend zu schlagen, also möglichst nahe der Grenze, ja lieber im eigenen Land und früher als im feindlichen und später. Zeit ist auch hier Geld, d. h. Gewinn. — Wenn ferner die höchste In stanz, die mit der Mobilmachung nur den Namen gewechselt hatte, trotz dem im Aufmarschplan begründeten, dem weiteren Zurückgehen hinderlichen Übermaß der Kräfte und den erwähnten andern Gegengründen ein solches Zurückgehen für angezeigt hielt, hätte sie es befehlen sollen. Sie hat es aber nur anempfohlen, obwohl der Überbringer gebeten hatte, seinem Auftrag nötigen falls den Befehl anschließen zu dürfen. Als Februar 1871 Werder Bedenken trug, mit seinen schwachen Kräften und dem feindlichen Belfort im Rücken der überlegenen Armee Bourbakis entgegenzutreten, und dies «ach Versailles berichtete, riet Moltke dem König, dem mit dem Entschluß Ringenden durch einen Befehl die Ver antwortung abzunehmen und dadurch die moralische Stütze zu geben, die er beanspruchen könne. Man sei ihm dies in seiner schweren Lage schuldig. „Der Offizier muß die Gabe haben, große Anforderungen zu stellen. Der Mut dazu ist seltener als die Kraft, die gestellte Anforderung zu erfüllen." So hatte Clause witz gelehrt. In den ersten Tagen nach dem „vollen taktischen Erfolg" (dem sich gleiche Erfolge auf dem Nordflügel anreihten) mochte die irrtümliche Auffassung der Gesamtlage und der in ihr beschlosse nen Möglichkeiten »och anhalten, ja eine gewisse Steigerung er fahren. Nachdem man aber den Feind zurückgedrängt hatte und vor seiner Festungslinie angelangt war, da wurde die klare und alsbaldige Erkenntnis, welche Aufgabe den Kräften an der deutsch-französtschen Grenze in Anbetracht ihrer Lage und des Grundgedankens für die ganze Kriegführung auf dem westlichen Kriegsschauplätze noch gestellt sein konnte, und welche nicht mehr, von entscheidender Bedeutung. — An einem Manöver tag des Jahres 1906 wurde ein Infanterie-Regiment vom Partei-
— i6 — führer, der aus abwartender Haltung angreifen wollte, hinter einen Bach gestellt mit der widerspruchsvollen Weisung, dort zu bleiben und möglichst starke Kräfte auf fich zu ziehen. Da aber der Feind, obwohl alsbald drei Kompagnien über den Bach vorge schoben wurden, nicht angreifen wollte, schickte der Regiments kommandeur erst einige und schließlich die Mehrzahl seiner Kom pagnien auf den Entscheidnngsflügel, damit fie sich dort nützlich machen könnten. — Den im Reichslande bereitzustellenden Kräften konnte von Hause aus nur die Aufgabe zufallen, die Ver bindungen des Hauptheeres zu decken (wozu die von Schliessen vorgesehene Stärke ausreichte) nicht aber, deutsche Gebiete gegen Invasion zu schützen, weder die Reichslande selbst, noch die Rhein pfalz oder andere Teile Süddeutschlands. (Das Gsaß südlich von Straßburg hatte Schliessen von vornherein preisgeben wollen.) Das „blitzende Vergeltungsschwert" für solche feindliche Unternehmungen war das eigene Hauptheer. Anderseits lag es durchaus in ihrer Aufgabe, wenn die Truppen in Lothringen dem Feind zunächst entgegengingen, um Fühlung mit ihm zu nehmen. Dann aber war gegebenenfalls im Sinne defensiver Demonstrative schrittweise zurückzuweichen. Je weiter der Gegner vordrang, um so verderblicher mußte es ihm werden, wenn in zwischen der deutsche Nordflügel die feindlichen Hauptkräfte schlug oder schnelle Fortschritte in Richtung auf Paris und die Kanalhäfen machte. Freilich wären starke feindliche Kräfte den schwachen deutschen nur dann nachgegangen, wenn sie damit die Absicht verfolgten, unserem Hauptheer Flanken und Rücken abzugewinnen. Wenn wir aber Belgien und Nordfrankreich zum Hauptkriegsschauplatz machen wollten, dursten wir uns nicht durch den Ge danken irremachen lassen, daß der Gegner möglicherweise das selbe mit Deutsch-Lothringen und der Pfalz beabsichtigte. Bei wechselseitiger Bedrohung der Flanken kam es zunächst darauf an, wer schneller vorrückte; zuletzt aber entschied wie immer dir Schlacht, für die wir Truppen von höherem Gefechtswert mit brachten als die Franzosen, was die ersten Kriegswochen und ganz besonders der Marnefeldzug sehr deutlich bewiesen und die höchsten feindlichen Führer bestätigt haben. Über „die deutsche Armer
— 17 — vom Jahre 1914" urteilte Marschall Doch im Jahre 1920: „Sie «ar ein herrliches Werkzeug. Niemals hat Deutschland danach wieder eine solche stahlharte Armee gehabt." Von der französtschen aber sagte Joffre in seinem Bericht an den Kriegsminister über das „Scheitern der Offensive" unmittelbar vor dem Um schwung: „Unsere Armeekorps haben trotz der zahlenmäßigen Überlegenheit, die wir besaßen, im freien Felde nicht die offen siven Eigenschaften gezeigt, die wir nach den anfänglichen Teil erfolgen erwartet hatten. Wir sind daher zur Defensive gezwungen." Wenn es also Schliessen auf die Beschaffenheit des deutschen Heeres hin gewagt hatte, dem strategischen Aufmarsch die Absicht der Umgehung durch Belgien zugrundezulegen, so hat er sich auch in diesem Punkte nicht verrechnet, und das deutsche Heer, obgleich nach vielen Jahren, sein Vertrauen in vollstem Maße gerechtfertigt. Anderseits waren wir aber — und haben soeben auch ein Zeugnis aus Feindesmund dafür gehört — in der Minderzahl, und wer arm ist, darf nichts versäumen, um seine geringen Kräfte restlos nutzbar zu machen. Zu diesen Kräften gehörten auch die deutschen Festungen sowie die Gunst des natürlichen Geländes, wo es dem Anklammern am Boden irgendwie zustatten kam. Als naheliegendes Beispiel sei die von Metz über Seltne an Seille und Salinenfloßkanal gegen Saarburg hinziehende Linie samt der ihrem südlichen Teil vorgelagerten Waldzone genannt. Wenn aber der Gegner die Grenze oder vielleicht schon seine Befestigungslinie gar nicht überschritt, dann war der deutsche Einsatz mit seiner rein defensiven Aufgabe allerdings ein totes Kapital. Schon deshalb mußte er so schwach als möglich sein; und im übrigen war das eben der Preis, der für die Umgehung der deutsch-französischen Grenze bezahlt werden mußte. Wie die französische Sperrlinie die Umgehung nötig machte, so machte sie — durch ihre lähmende Einwirkung auf den zwar schwachen, aber unvermeidlichen Kräfteeinsatz im Reichslande — auch die Bezahlung dieses Preises nötig. Auf Demonstrative brauchte deshalb nicht verzichtet zu werden. Für den Anfang wäre die wirksamste Demonstrative ein ernster Angriff auf die Festung Wachter. Krieg und Geist
— i8 — Verdun gewesen, deren Wegnahme damals, solange noch die Überraschung des 42 cm-Geschützes vorhielt, keine größere Schwie rigkeit gemacht hätte als die der belgischen Festungen oder des Sperrforts Manonviller. Das hat auch der viel später ausgeführte
wirkliche Angriff gezeigt, der durchaus nicht an der Stärke der Festung gescheitert ist. Ihr Fall bei Kriegsbeginn hätte das spätere Vorgehen und die Sicherung der Verbindungen der 5. Armee, damit des ganzen Nordflügels wesentlich erleichtert und außerdem Kräfte ersparen helfen. Bei der in ihrer Lage be gründeten Bedeutung der Festung, richtiger der Gegend von
Verdun, war aber zu erwarten, daß der Gegner erhebliche Kräfte seines Feldheeres einsetzen werde, um stch ihren Besitz zu erhalten, m. a. W., daß die deutsche Demonstrative ihren Zweck erreichen werde. Sie hätte den Vorteil gehabt, den Gegner schon verhält nismäßig nahe an unserer Operationsbasis festzuhalten. Und je eher mit dem Operieren begonnen wurde, um so besser war es, gerade wenn so weit nach Westen ausgeholt werden sollte, daß der Gegner sicher nach Osten abgedrängt wurde. Lange Operations linien schwächen und sind um so mehr zu vermeiden, wenn man von Anfang an der schwächere ist, wie wir es 1914 waren — im Unterschied zu 1870. Deshalb mußte mit dem Operieren so früh als möglich begonnen werden. Denn operieren heißt ja so mar schieren, daß der Feind zum Schlagen gezwungen wird, und zwar unter Verhältnissen, die für ihn ungünstig sind, nicht nur hin sichtlich des Stärkeverhältnisses, sondern möglichst auch in dem Sinne, daß der Verlust der Schlacht den Verlust der Rückzugs linie nach sich zieht. Das deutsche Hauptheer mußte sich im Vor gehen durch Belgien erst zur Operation entfalten. Um die Ent faltung zu beschleunigen, hatte Schliessen mit dem rechten Flügel durch den Südzipfel von Holland einmarschieren «ollen. Er dachte ferner, den rechten deutschen Flügel westlich und südlich an Paris vorbeizuführen und den Feind schließlich gegen die Schweizer Grenze zu drängen oder an die deutsche Ostgrenze, die allerdings ein weniger vollkommenes Hindernis ist: es er fordert einen deutschen Einsatz auch von Osten her, und der Gegner findet einen gewissen Anhalt an seiner Sperrlinie. Da sich aber
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niemand freiwillig in eine Falle begibt, hätte sich die Entscheidungs schlacht mit verwandter Front, ans die es Schliessen abgesehen hatte, wohl noch ziemlich entfernt von der Ostgrenze, vielleicht schon nördlich von Paris abgespielt, was uns mit Rücksicht auf die kürzere Operationslinie nur erwünscht sein konnte. Mit der Absicht, den Feind allmählich nach Südost und Ost zu drängen, war es nicht getan. Frontales Nachdrängen, selbst überflügelndes, wird dem Gegner nie eine drehende Bewegung geben, ihn vielmehr daran hindern. Abdrängen erfordert Ein wirkung von der Seite her, die jedoch erst eintreten kann, wenn sich der Weichende stellt, und frontal festgehalten werden kann. Don da an ist er in der gleichen Lage, wie wenn er vormarschiert wäre oder abgewartet hättet. Gelingt dann seine Umgehung, so wird auch der Umgehende nach der Flanke schlagen und hiezu tief gegliedert sein müssen — das war der Sinn des Wortes, wenn Napoleon mit Bezug auf den Vormarsch von Bamberg nach Leipzig 1806 und Schliessen mit Bezug auf den deutschen Vor marsch durch Belgien nach Nordfrankreich von einem „Bataillonskarröe" sprach.
Wenn zum Abdrängen auch Festhalten gehört, so folgt daraus, daß auf dem Nordflügel ohne Demonstrative nicht auszu kommen war. Unabhängig davon, ob es dem Südflügel auf kürzere oder längere Zeit möglich war, feindliche Kräfte zu binden, mußte der Nordflügel in sich zur Erfüllung seiner dezisiven und demonstrativen Aufgabe gegliedert werden, wobei dem Schlieffenschen Grundgedanken entsprechend die dezisive Aufgabe nur dem i) Ähnlich kann der Durchbruch aus dem Sielluugskrieg nur dann einen ent scheidenden Erfolg anbahne», wenn er an einem vorspringenden Teil der Front unternommen wird und flankenbildend wirkt, und wenn ihm die Umfassung der anschlleßende« feindlichen Front durch hiezu bereitgehalteoe andere Truppen auf dem Fuße folgt. Dagegen muß jedem Durchbruch aus der Tiefe eines ein springenden Winkels (Gorlice-Tarnow, Verdun, Rumänien, Venetien), die höchste strategische Auswertung von vornherein versagt bleibe». Aber allerdings bedeutet er auch bas geringere Wagnis und stellt vor allem die geringere« Anforderungen an den Kräfteeinsatz, ist deshalb für den t»m Stellungskrieg Verurteilten — und das heißt immer, für einen Schwache« — im allgemeine« die einzige Möglichkeit, solange ihm nicht ei« Umschwung in den politischen Verhältnissen oder auf einem anderen Kriegsschauplatz neue Kräfte zuführt.
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äußeren (westlichen) Flügel jufallen konnte. (Zunächst wenigstens, insoferne im Lauf der Ereignisse, wie es häufig ju geschehen pflegt, so auch hier die Notwendigkeit eines Rollenwechsels eintreten konnte.) Die Aufgabe des Dejiflvflügels aber war letztlich keine andere als die „Einwirkung von der Seite her" (das eigentlicheAbdrängen), wozu er zuerst selbst zur Seite gehen mußte. Es war fehlerhaft, fich überhaupt darum zu kümmern, wie weit fich die feindliche Front nach Westen ausdehnte, statt von vornherein selber so weit dorthin auszuholen, daß ein überflügeltwerden ausgeschlossen war. Und die Deutschen konnten es um so unbesorgter tun, als sie sich doch immer wieder als Meister im frontalen Zurückwerfen zeigten. Wäre dem Entscheiduvgsflügel die von Schliessen be absichtigte Richtung gegeben worden, so hätte er nebenbei die Ver bindungen der französischen Kanalhäfen zum Binnenland durch schnitten und von Anfang an Paris bedroht. Der Besitz dieses einzigartigen Eisenbahnknotenpunktes, wie ihn kein anderes Land aufweist, war für die operativen Möglichkeiten des Gegners wesentlich mitbestimmend, ein Umstand, der den Gedanken mit dem demschen Heer daran vorbeizugehen ein für allemal aus schließen mußte. (Wenn Moltke in seinen „Erinnerungen" er zählt 1), daß während des Vormarsches durch Belgien die Nach richten stets dahin lauteten, Paris sei von Truppen so gut wie ent blößt, so deutet dies auf ein Verkennen des Umstandes hin, daß die Bedeutung von Paris nicht in den dort bereitgestellten Truppen, sondern in seiner Eigenschaft als Mittelpunkt des fran zösischen Eisenbahnnetzes lag. Ebendeshalb war aber auch den Meldungen kein allzugroßes Gewicht beizulegen: war der Platz auch gestern „vom Feind frei", so konnten doch schon morgen oder übermorgen starke Kräfte dort versammelt sein.) Ein An griff auf Paris bot um so mehr Aussicht auf Erfolg, je früher er angesetzt werden konnte.
Wenn der deutsche Hauptangriff Räume bedrohte, deren Besitznahme den feindlichen Endsieg in Frage stellte, dann war *) S. 435.
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er zugleich geeignet, den Feind jnm Schlagen z« veranlassen; und eine frühzeitige Entscheidung konnte, wie schon erwähnt, mit Rücksicht auf die Länge der Operationslinie nur erwünscht sein. Der Versuch, den Gegner nach Osten abzudrängen, konnte ihm den Gedanken nahe legen. Gleiches mit Gleichem zu vergelten und die deutschen Hauptkräfte gegen das Meer zu drängen. Auch dieser Versuch wäre ein Entgegenkommen in doppeltem Sinne gewesen. Neben dem gewaltsamen Mittel, den Feind in die Enge zu treiben, um ihn zur Schlacht zu zwinge», steht also das andere, ihn um den Kriegsausgang besorgt zu machen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß hier der Bogen nicht überspannt werden darf, sondern dem Gegner eine gewisse Aussicht auf Erfolg bleiben muß: der sicheren Niederlage von morgen würde er die wahr scheinliche von übermorgen vorziehen. Tatsächlich ist ja der Um gehende immer zugleich der Umgangene, und erst die Schlacht ent scheidet darüber, wer die Früchte des Umgehens, und «er die des Umgangenseins erntet. Ze schwächer wir sind, um so eher wird sich der Feind umgehen lassen, um so stärker wird der Anreiz für ihn sein, uns dadurch zum Umgangenen zu machen. Also ein Vorteil der geringen Zahl? Allerdings — doch nur für die be wußte Kühnheit! Die (verhältnismäßig!) geringe Zahl bietet der Kühnheit sich selbst als Mittel an, kann aber auch der Kühn heit am wenigstens entraten. Nicht um eine Musterlösung zu geben, sondern nur, um zu zeigen, daß 1914 überhaupt nicht operiert wurde, soll ein Beispiel angeführt werden, wie etwa hätte operiert werden können, wobei allerdings der deutsche Einsatz zwischen Luxemburg und Schweiz in den von Schliessen gesetzten Grenzen, der für de» Entscheidungs flügel entsprechend größer, und die Ausdehnung dieses Flügels demgemäß etwa bis zur Linie Roermond—Mecheln—Lille reichend angenommen, seine Fünfgliederung aber, weil belanglos, bei behalten ist. Von diesen fünf Heeresteilen wären nun drei dezisiv avzusetzen gewesen (einer mit dem rechten Flügel auf die Sommeund Seinemündung, einer mit dem linken auf Paris, der dritte hinter der freien Mitte), ein vierter demonstrativ, in breiter Front
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durch die Champagne vorgehend *), der fünfte als^Reserve in
Richtung auf Laon, den Demonstrativflügel rechts überragendl2). Geschah es später, daß der Gegner in Linie Seinemündung—Paris Halt machte, um sich dort zu behaupten und östlich davon anzu greifen, so konnte ein Rollenwechsel stattfinden, und dem linken Flügel die Entscheidung übertragen werden, die dann im Sieges falle die feindlichen Hauptkräfte statt nach Osten nach Westen ab gedrängt hätte. Wenn aber das deutsche Heer dem Gegner einfach nach marschierte, ungegliedert, Zwischenräume oder Lücken (ein Offnen der „Zange") ängstlich vermeidend und damit mehr auf Schliessens Wort als in seinem Geist fortbauend, dann war nur die natür liche Folge, daß es in eine Lage kam, die der vollkommene Gegen satz zu der war, in die es sich nach dem Schlieffenschen Grundge danken von Anfang an hätte setzen und in der es sich andauernd hätte erhalten sollen: es kam in die Lage, daß es vom Gegner in der rechten Flanke angegriffen werden konnte, ohne die hinreichen den, d. h. in diesem Falle die großen Mittel zu besitzen, mit denen der drohenden Gefahr wirksam zu begegnen war, so daß nach Er schöpfung der kleinen nur der Rückzug übrig blieb. Nur deshalb freilich, weil ein Zweites hinzutrat, der Mangel an einer wirk lichen, festen, einheitlichen Führung. Daran war schon der große Schlag an der Maas und Sambre gescheitert (wie einst der erste l) Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Flügel nicht ju schwach sein dürfe, um nicht durchbrochen i« «erden. Hierauf ist tu erwidern: Die Leistungs fähigkeit der Truppe ist das Bargeld des Feldherrn, der wissen muß: was kann ich von ihr erwarten, wo ich dem Gegner meinen Willen aufzwingen will, und wie hoch kann ich sie belasten, wo er mir den seinen aufzwingen will, damit ich hier an die zulässige Grenze des Wagnisses gehe und hiedurch den eigenen Erfolg mög lichst groß mache. Im übrigen ist allerdings vorausgesetzt, daß der Unterführer demonstrativ zu fechten versteht, wovon im zweiten Teil zu sprechen sein wird. Trifft diese Voraussetzung zu, dann ist ei» Durchbruch ausgeschlossen, «eil nur eine starre Linie durchbrochen «erden kann. Ob der Gegner weiter vorwärts ober rückwärts gebunden wird, ist gleichgültig. Nicht darauf kommt es an, wo er ist, sonder», daß er an einem dritten Ort nicht ist, nämlich da, wo ich die Entscheidung suche. *) Truppen zweiter Linie «mßte» folgen, um in der ersten Zeil die rechte Flanke zu schützen, die feindlichen Festungen niederzukämpfea oder eiozuschließen und später die Verbindungen zu sichern.
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Schlag im Kriege von 1870, an dessen Stelle gleichfalls mehrere siegreiche Einzel-Einmarsch-Schlachten und -Gefechte getreten waren). Weder bei Namvr noch bei St. Quentin konnte von einer Leitung durch die oberste Stelle gesprochen werden. Bei Namur hätte die 5. französische Armee vernichtet werden können, wenn die drei deutschen Armeen von der O.H.L. geführt gewesen wären. So kam es trotz bester Absicht und Gelegenheit nicht einmal zur Umzingelung nennenswerter Teilkräfte. — Das Zurück werfen war unser Fluch im ganzen Kriege; wir haben uns zu Tode gesiegt und erobert und den Feind am Leben gelassen. Daß wir die Sieger feien, weise die Kriegskarte aus, erklärte der Reichskanzler — auch wieder Bewertung des Raumes, nicht der Zeit. Dagegen hatte Clausewitz gelehrt, daß jede Eroberung ohne vorausgegangene taktische Entscheidung ein „suspendiertes Urteil" sei. Er hat sich juristisch ausgedrückt, aber mllttärisch ge dacht, beim Reichskanzler war es umgekehrt. Als ob wir den wirk lichen Sieg an etwas anderem merken könnten als daran, daß dem Besiegten der Wille gebrochen ist, daß er unseren Willen tun muß — in allen Stücken, wohlgemerkt! Dazu wird ja Krieg ge führt. Das Schlimmste aber war, daß auch das deutsche Volk an den Sieg glaubte — auf Grund der Kriegskarte, d. h. der Eroberungen, und deshalb die weiteren Anstrengungen, die von ihm verlangt werden mußten, folgerichtigerweise nicht mehr nötig fand, sondern für die willkürlichen Forderungen einer nicht zu rechtfertigenden Unersättlichkeit hielt. Wiederum war eine feste Leitung besonders wichtig und ihr Fehlen besonders verderblich, als sich das deutsche Heer der Marne näherte, und mit dieser Annäherung ein feindlicher Gegen zug erwartet werden mußtet. Denn so viel war von vornherein klar gewesen: wenn es nicht gelang, dem Gegner in die Mauke zu gehen, ehe man in die Höhe von Paris kam, dann konnte er !) Der Verlauf im großen Ganzen, um ihn vorweg ins Gedächtnis zu rufen, war der: man wollte mit dem rechten Flügel zuerst westlich, dann östlich von Paris vorgehen, um den feindlichen linken zu umfassen. Dann wollte man diesen überhaupt nicht mehr umfassen, sondern nur noch den rechten, und zwar von der oberen Mosel her, während der eigene rechte Flügel nur noch gegen Paris decken sollte. Das vierte und letzte war der Rückzug.
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uns aus Paris heraus das Gleiche tun. Verhängnisvoll war das freilich nur, wenn nicht schon vorher die feindliche Front zertrümmert war. Und da ist nun allerdings zu sagen, daß die ganze, als ein Nachziehen in die Erscheinung getretene, deshalb auch nur als Nachzug im Spiel oder als Verzicht auf wirkliches Operieren zu bewertende Aktion eine gewisse Rechtfertigung erfuhr durch die siegreichen Schlachten und Gefechte, die sich nahe der belgisch-französischen Grenze abspielten und bei Truppen wie Führern, aus ähnlichen Gründen ähnliche Eindrücke hinterließen wie die erfolgreichen Lothringer Schlachten und Gefechte. Diese Eindrücke fanden ihren Niederschlag in einer Reihe überein stimmender Meldungen an die O.H.L. von „fluchtartigem Rück zug", von „beginnender Auflösung" des Gegners und sprachen wie derholt die Meinung der Oberkommandos aus, daß „rücksichts lose Verfolgung" die Vernichtung des Gegners vollenden würdet. Auch hier wurde bei der Auswertung der Beobachtungen für die Beurteilung der Gesamtverfassung des Gegners, der französi schen Tiefengliederung, wenn sie schon schwächer war als bet den vorfühlenden Armeen in Lothringen, zu wenig Rechnung getragen. Aber sicher war, weniger bei den Beobachtungen als bei den Meldungen, auch der Schatten zweier Tugenden, des Gehorsams und des Mutes, mit im Spiel. Als falsch aufgefaßte Dienstbeflissenheit ist der Gehorsam geneigt, zu übertreiben, was dem Vorgesetzten erfreulich, abzuschwächen oder zu ver schweigen, was ihm unerfreulich ist. Die Neigung wird gefördert, wenn man dem Untergebenen gelegentlich zu verstehen gibt, daß „Schwarzsehen" Mangel an eigenem Mut beweise. Der Soldat soll sich ja nicht bange machen lassen. Aber — und das gilt namentlich für den Offizier: er soll sich mutig zeigen nicht nur dem Feind, sondern auch dem Stirnrunzeln des Vorgesetzten gegenüber, versteht sich nur in dem Sinn, daß er den Mut be sitzt, den Vorgesetzten von Tatsachen in Kenntnis zu setzen, die dieser ungerne hört. Und weil dieser Mut, vielleicht infolge des avgedeuteten Erziehungsfehlers, nicht überall zu finden war, hätten fich weder die Oberkommandos noch die Oberste HeereS') A. a. £>. S. 435. — Reichs-Archiv, „Der Weltkrieg", I. S. 437—40.
— 25 — leitung auf die Meldungen allein verlassen dürfen, sondern durch Abordnung verlässiger Nachrichtenoffiziere den Stand der Dinge nachprüfen müssen. Als aber der Oberstleutnant von Dommes vorschlug, „zu den Armeeoberkommandos ältere Offiziere zu entsenden, die auf Grund eigener Anschauung über die Lage be richten sollten, lehnte der Generalstabschef den Vorschlag mit den Worten ab, ,daß weder die Oberbefehlshaber noch die Chefs ein solches Mißtrauen verdienten""). Als ob diese nicht' selbst wieder auf Berichterstatter angewiesen gewesen wären und die letzteren in den allermeisten Fällen ebenso! Die Schwäche, die hier zutage trat, nahm aber in den unteren Schichten, auf denen naturgesetzlich der höhere Druck liegt, nicht ab, sondern zu. Es handelte sich um eine Krankheitserscheinung des ganzen Körpers. Nur ist es verständlich, wenn der Erziehungsfehler von den Erziehern selbst nicht wahrgenommen wurde, weil sie ihn sonst schon früher er kannt und gemieden hätten. Hatte man aber einmal den erwähnten Eindruck in dem Maße, daß sogar der Glaube aufkommen konnte und wirklich aufgekommen ist, daß die Entscheidung schon gefallen sei, dann war es allerdings gerechtfertigt, überhaupt nicht mehr an Ope ration zu denken, sondern nur noch an Verfolgung. Bei alledem soll nicht übersehen sein, daß die französischen und englischen Truppen, die auf dem Rückzug vor dem deutschen Haupt heer an der Marne anlangten, moralisch schwer erschüttert waren im Unterschied zu den von Ost und Süd herbeigezogenen und im Gegensatz zu den „verfolgenden" deutschen. Die äußere Lage des deutschen Heeres an der Marne hätte, wie gesagt, für sich allein trotz ihrer Schwäche und Bedrohlichkeit noch nicht zum Rückzug führen müssen, das Unternehmen hätte nach wie vor gelingen können. Daß sich der Vorbeimarsch an Paris tatsächlich gerächt hat, lag am Hinzukommen gewisser Unzulänglichkeiten und ihrer Nichtüberwindung durch die oberste Führung, d. h. an der inneren Verfassung. Die Schwankungen, die dem Einsturz des Gebäudes vorausgingen, begannen damit, daß es der rechten Flügelarmee gelang, einen Vorsprung zu ge*) R.A. I. S. 605.
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Winnen, um ganj im Sinne des Feldjugplanes den Feind zn überholen und von Westen her zu umfassen. Es war eine Strategie der kleinen Mittel, nachdem die O.H.L. von den großen keinen Gebrauch gemacht hatte. An der Marne war es zu spät dazu. Deshalb war es gleichfalls nur ein kleines Mittel, womit die O.H.L. der von Paris her drohenden Umfassung begegnen wollte, als fle die Rückwärtsstaffelung der Flügelarmee just um die Zeit in Aussicht nahm, wo sich diese zwecks eigener Umfassung vor gestaffelt hatte. Wenn einmal behauptet wurde, seit Schlichting*) habe sich der Geist der deutschen Truppenführung im Gebrauch der Flankenstaffel erschöpft, so ist das die Übertreibung eines Urtells, dem eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden kann. „Wären der l. Armee etwa 3 Armeekorps als Flanken staffel gefolgt — tatsächlich hatte Kluck nur das I V. Res.K. gegen Paris herausgeschoben — so hätten wir die Marneschlacht ge wonnen, d. h. den Gegner trotz Paris nach Südosten abgedrängt oder statt dessen vielleicht auch seinen westlichen Heeresflügel etngekreist; denn Hausen war schon im erfolgreichen Vorgehen gegen Südwest." Das ist eine verbreitete Ansicht, die wir uns aber nur mit dem Zusätze zu eigen machen können: wir hätten gewonnen bei gleichem Verhallen des Gegners. Es ist indessen anzunehmen, daß sich dieser angesichts einer so starken Flanken staffel eben auch anders verhalten hätte, und dann wäre unser Hineingleiten in die Ausgangslage zur Marneschlacht noch weit empfindlicher gestraft worden. Allzu große Fügsamkeit gegenüber den wechselnden Verhältnissen war die Ursache des Hineingleitens. — „AushUfe" ist ein neues Mittel, um eine feststehende Absicht durchzuführen, nicht der Ersatz einer Absicht, deren Ausführung auf Schwierigkeiten stößt, durch eine andere — ein Meistern der Verhältnisse, nicht ein Sich-Richten danach. — Angesichts einer starken deutschen Flankenstaffel wäre der Gegner nicht schon nördlich von Paris, sondern erst später und mit stärkeren Kräften gegen unsere Flanke vorgebrochen und hätte unsere Staffel 1) P.euß. General der Vorkriegszeit, zuletzt Komm. General des XIV. A.K., bekannter Militärschriftsteller; führte wiederholt den Vorsitz in den Kommissionen für Neubearbeitung deS Jnf.-Ex.-Rglts.
— 27 — zum nächsten Angriffsziel genommen. Wäre diese aber nord, östlich von Paris stehen geblieben, so hätte sich der französische Hauptangriff — unter Festhaltung der Staffel — gegen unseren Flügelpunkt gerichtet. Deshalb war zum Schutz gegen Paris überhaupt nicht das Staffelschema, sondern die Ausscheidung einer Deckungstruppe das dem Zweck entsprechende Mittel. Aber gleichviel, ob Staffel ober Deckungstruppe, beide bedeuteten nicht nur einen Kräfte- sondern auch einen Raumbedarf, diesen letzteren jedenfalls auf Kosten des rechten Heeresflügels und damit der Aussichten auf ein Abdrängen des Feindes nach Süd ost, d. h. auf Verwirklichung des Schlieffenplanes. Nicht ohne Grund hatte dieser die Ausdehnung der Angriffsfront gegen Westen über Paris hinaus vorgesehen. Auf den Raum östlich von Paris beschränkt war und blieb die Durchführbarkeit des Schlieffengedankens eine höchst fragwürdige Sache, woran der Umstand nichts ändert, daß sie im geschichtlichen Verlauf durch das Verhalten des Gegners tatsächlich gegeben war, und das einfache Ausharren der 2. deutschen Armee bzw. der O.H.L. zum Ziel geführt hätte. Wenn aber Kluck, trotz dieser Fragwürdigkeit, östlich von Paris und ohne Rücksicht auf die von dort drohende Gefahr mit ganz oder nahezu unzulänglichen Mitteln denSchlieffen, gedanken zu verwirklichen suchte, bevor vielleicht die letzte Möglich keit dazu entschwand, so darf er das Wort für sich in Anspruch nehmen, mit dem Clausewitz der Überkühnheit ein rühmendes Denkmal gesetzt hat. Als er sich vorsiaffelte, war sein Handeln einseitig bestimmt. An sich war aber mindestens der eine Gedanke richtig: Je kürzer die deutsche Heeresfront östlich von Paris wird (auch durch den Raumbedarf für Flankenschutz), um so weniger kann die Umfassung gelingen, und um so mehr Kräfte kann der Gegner nach Paris befördern, um von dort aus anzugreifen. Einem nicht zu früh geführten Flankenangriff großen Stils gegen über — der wirklich ausgeführte war das nicht — hätte die Rückwärtsstaffelung der 1. Armee die Durchführbarkeit der ursprüng lichen operativen Absicht schwerlich gerettet. Daß diese Möglich keit fortbestand, ist also nicht das Verdienst der deutschen Führung; wohl aber hat diese es verschuldet, daß die Möglichkeit nicht aus-
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genutzt wurde. Die deutsche Führung hat die Katastrophe nicht nur vorbereitet, d. h. die Vorbedingungen dafür geschaffen, sie hat den Gegner auch der Mühe überhoben, sie herbeizuführen, die reife Frucht zu pflücken. Es ist für unsere Zwecke nicht nötig, den als eine Summe von Irrungen und Wirrungen bekannten unmittelbaren Anlaß jum Rückschlag in seinen Einjelheiten aufjuklären; hoch über allen andern Fragen steht die, wie das deutsche Heer überhaupt in eine Lage kommen konnte, in der es sich veranlaßt sah, von der weiteren Ver folgung seines Zieles abzustehen und den Rückzug anzutreten, ohne daß es zu einer Entscheidungs schlacht gekommen war. Was unser Interesse in erster Linie verdient, ist nicht die sog. Marneschlacht: wie es zum Rück schlag kam, nachdem das deutsche Heer in die Falle zwischen Paris und der französischen Ostsperre hineingeführt war, sondern wie es geschehen konnte, daß es in diese Falle hineingeführt wurde. — „Außen herum!" hatte Schliessen gemahnt. Nein, wir gingen innen vorbei. Die Strafe blieb nicht aus und traf uns tödlich. — Als Ursachen der Verirrung sind bis jetzt festgestellt worden: die Kräfteverteilung für den Westkriegsschauplatz, die Absichten mit dem Südflügel, im Zusammenhang damit der Verzicht auf Verselbständigung des Nordflügels durch operative Rollenverteilung innerhalb desselben, und wiederum, wenigstens zum Teil, als eine Folge dieses Verzichts eine nur geringe, im wesentlichen auf Nachhilfen sich beschränkende Einwirkung der O.H.L. auf ebendiesen Flügel während der Operation; endlich die Außerachtlassung der operativen Gemeingefährlichkeit von Paris (das allerdings auch als „der schwache Punkt im SchlieffenPlan" bezeichnet worden ist). Diese Feststellung bedarf aber noch der Ergänzung. „Nach der Anweisung der O.H.L. vom 27. August hätte der rechte Heeresflügel, die 1. Armee, auf die Seine unterhalb Paris vorgehen sollen. Es schien, als ob der Schlieffensche Plan in vollem Umfange ausgeführt werden sollte. Ein so weites Ausholen des rechten Flügels erwies sich aber bei der Kräfteverteilung, wie sie durch den Aufmarsch und die weiteren Maßnahmen der
— 29 — O.H.L. entstanden war, bald als unausführbar. Schon wenige Tage nach ihrem Erlaß war die Anweisung vom 27. August hivfällig. Ohne daß sie aufgehoben wurde, schob sich das Heer, einem natürlichen Zwange folgend, südwärts. Im Einverständnis mit der O.H.L?) und mit der 2. Armee schwenkte die 1. Armee am 30. August links gegen die Oise ein, um den Erfolg, den die 2. Armee bei St. Quentin errungen hatte, auszubeuten und den französischen linken Flügel zu um fassen. In der weiteren Durchführung dieses Gedankens ordnete die O.H.L. das Einschwenken des ganzen rechten Heeresflügels nach links an, um die Franzosen in südöstlicher Richtung von Paris abzudrängen. Man hoffte, den Feind, der nach Meldung der 2. Armee erneut und entscheidend geschlagen war, nicht nur rechts, sondern auch links über die obere Mosel zu umfassen und einzukreisen. Der rechte Flügel mußte hierbei östlich an Paris vorbeigehend, die Marne überschreiten. Er erwies sich zu schwach, die Deckung gegen Paris war ungenügend. Der linke Flügel vermochte die Mosel nicht zu überschreiten. Der Plan der O.H.L. mißlang". (Sperrungen von mir.)2) Der allgemeine Eindruck ist der, daß die O.H.L., am Grund gedanken festhaltend, nur die Mittel und Wege den Verhältnissen anzupassen suchte; daß sie das auch noch zu tun glaubte, als ihr die Maßnahmen schon mehr oder weniger von den Verhältnissen aufgezwungen, zugleich aber immer unwirksamer wurden; daß sie im weiteren Verlauf sich immer mehr von den Verhältnissen *) die sich mit der „Änderung des ursprünglichen Leitgedankens um so eher abfaab, als sie selbst diese« innerlich bereits preisgegeben hatte, indem sie am Abend des 30. August ihre Zustimmung zum Einschwenken der 3. Armee (aus süd westlicher Richtung) nach Süden erteilte." Um die hierdurch entstandene Lücke t« schließe», wies Moltk« die zwei rechten Flügelarmeen auf „Zusammenwirken mit der 3. Armee" hin und gab dem linken Flügel der 2. Armee die Richtung auf Reims. Somit traf er „aus eigener Erwägung, unbeeinflußt vo« de» seiner Ab sicht entgegenkommenden, ihm aber noch unbekannte» Maßnahmen der 1. Armee, die endgültige Entscheidung, daß der rechte tzeeresflügel aus der bisherige» süd westlichen Richtung abbiegeod engen Anschluß an die Mitte der Schwenkuogsfront gewinnen sollte." (R.A. I, ©. 514.) 2) „Warum mißlang der Marnefeldzug 1914?" Dom General d. Inf. von Kuhl (zur fragl. Zeit Generalstabschef der 1. Armee). Deutsches Offizier blatt Nr. 3 1921.
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fortziehen ließ, bis diese schließlich übermächtig wurden und ihr die Zügel aus der Hand nahmen: Der typische Verlauf beim Zusammenbrechen taktischer oder strategischer Abfichten, wenn sie daran scheitern, daß fie entweder nicht klar und einheitlich genug waren, oder der Führer von Anfang in der Wahl der Mittel sich vergriffen hat. In beiden Fällen teilt er das Los des Fischers: „Halb zog sie ihn, halb sank er hin". Wie schon erwähnt, konnte der Wunsch der O.H.L. den Gegner von Paris abzudrängen, nur erfüllt werden, solange man sich dem Breitegrad von Paris noch nicht zu sehr genähert hatte. Je mehr dies der Fall war, um so mehr mußte es an der zum Abdrängen nötigen Armfreiheit fehlen, auch wenn sich Paris nm als große Festung fühlbar machte. Wie hätte aber der Wunsch rechtzeitig in Erfüllung gehen sollen, nachdem man auf dem Nordflügel die Kräfte gleichmäßig verteilt hatte, so daß die linke Hälfte unnötig stark, die rechte unerwünscht schwach und kurz aus gefallen war — obwohl der Feind nach links gedreht werden sollte! Und obwohl deshalb Schliessen den Schwerpunkt der Operation auf den äußeren rechten Flügel gelegt und als Menschen kenner noch kurz vor seinem Tode gemahnt hatte: „Macht mir nm den rechten Flügel stark!" Womit er den Heeresteil meinte, der zwischen dem Meere und Mziöres vorgehen sollte. Denn diese Linie hatte er als den schwächsten Teil der „Enceinte" bezeichnet, durch den wir in die „Festung Frankreich" eindringen müßten. Eine gleichförmige Masse ist stets eine tote, „träge" Masse, die nm dem Trägheitsmoment und der Anziehungskraft der Massen folgt, oder, um mit Kuhl zu sprechen, dem „natürlichen Zwang". Indessen schöpfte die O.H.L. neue Hoffnung, das Unternehmen auch auf dem verengten Raum östlich von Paris doch noch zum Ziel führen zu können, zur selben Zeit, als eine in der feindlichen Kräfteverteilung eingetretene Änderung diese Aussicht erheblich vermindert und ei« Vorbeigehen an Paris gefährlicher denn je gemacht hatte. Die Durchführbarkeit des Schlieffenschen Planes mit den auf dem Nordflügel verfügbaren Mitteln war dadurch unwahrscheinlich, wenn auch, wie schon betont, nicht unmöglich geworden, insoferne solche Möglichkeiten vom
— 3i — Verhalten des Gegners wesentlich mitbedingt sind.'- Aber ab
gesehen davon, daß von der feindlichen Kräfteverschiebung zu nächst noch nichts bekannt war, wurde eben mit den Mitteln des Nordflügels allein überhaupt nicht gerechnet, weil ja nicht der Schlteffensche, sondern der verbesserte Schlieffenplan zur Durch führung kommen sollte, unter Mitwirkung des Südflügels, der jedoch aus einem entscheidenden oder mindestens festhaltenden Flügel, der er hätte werden sollen, inzwischen zu einem nichtent scheidenden und festgehaltenen geworden war. So lange konnte sich der Grundirrtum behaupten, der Glaube an die Möglichkeit eines Zusammenwirkens von Nord- und Süd flügel auf einem Kriegsschauplatz*) trotz dem französischen Festungsgürtel, der sie von Anfang an trennte, und solange er nicht durchbrochen war, den Franzosen alle Vorteile der inneren Linie gewährte, wozu ihnen auch die nötige Zeit zur Verfügung stand, well sie im Unterschiede zu den Deutschen nicht darauf an gewiesen waren, eine schnelle Entscheidung zu suchen. Je stärker der deutsche Einsatz gegen ihre Ostgrenze, um so besser war dies unter allen Umständen für die Franzosen. Dort konnten sie mit einer Minderheit standhalten und eine Einsparung machen, die um so größer war, je größere Teile der beiderseitigen Gesamtkräfte sich dort gegenüberstanden. Die deutsche Beharrlichkeit kam ihren Wünschen in denkbar vollkommenster Weise entgegen. Mit dem Übergang zur Defensive wurden Kräfte für andere Zwecke ver fügbar, die sich mit dem Fortschreiten der Geländeverstärkung noch vermehrten. „Erst in den letzten Augusttagen kamen Meldungen über Transporte französischer Truppen von Osten in Richtung Paris, der Gegner schien sie vor der Front der 6. u. 7. Armee herauszu ziehen. Der Abtransport der 7. Armee nach St. Quentin wurde nun angeordnet... Ein französischer Vorstoß von Paris aus gegen den rechten Flügel der l. Armee wurde jetzt wahrscheinlich"?). *) Weil mall die tieferen Ursache« des Rückschlages an der Marne bisher nicht erkannte, legte man «. a. der Abgabe von 2 Armeekorps an das Ostheer und der Gnteiluag von 6 neu ausgestellten Ersatzbivisionea beim Südflügel zu viel Gewicht bei. Es waren Fehler; aber verhältnismäßig kleine, nicht entscheidende. 2) Moltke, „Erinnerungen usw.", S. 435.
— 32 — Am 28. oder 29. August wurden die 1. und 2. Armee angewiesen, zwischen Oise und Marne bzw. zwischen Marne und Seine halt zumachen, zugleich die 1. Armee darauf hingewiesen, nicht näher an Paris heranzugehen, als es die Wahrung der Operationsfreiheit
gestatte*). Schon begann man, vom Feind das Gesetz anzunehmen durch Verstärkung und Verlängerung des Nordflügels auf Kosten des Südflügels und Übergang zur Defensive eben da, wo bisher, wenigstens der Absicht, wenn auch nicht dem Einsatz nach, der Schwerpunkt der Offensive liegen sollte. Trotzdem wurde der Ge danke an ein Zusammenwirken der beiden Heeresflügel auf einem Kriegsschauplatz nicht aufgegeben. „Noch in den frühen Morgen stunden des 5. ging", wie Dalck?) erzählt, „ein Heeresbefehl ein, der die Abschließung von Paris zwischen Oise und Seine der 1. und 2. Armee auftrug, während die 3., 4. und 5. Armee im An griff in südlicher Richtung bleiben, die beiden linken Flügelarmeen ihre nutzlosen Angriffe gegen die Befestigungen der oberen Mosel
fortsetzen sollten... ES war gut, daß dieser verspätet erlassene Befehl nicht ausgeführt werden konnte, da die Franzosen an griffen." Don der 1. Armee, die den rechten Flügel bildete und mit ihren Hauptteilen die Marne überschritten hatte, wurde er aber doch noch ausgeführt: sie sollte nördlich der Marne (die an schließende 2. südlich derselben) die Abwehrfront gegen Westen herstellen. In Befolgung dieses Befehls waren kaum die ersten Maßnahmen getroffen, als ein drohender Flankenangriff die
äußerste Beschleunigung und rücksichtsloseste Durchführung der ganzen Bewegung des Frontwechsels nahelegte. Die nächste Folge war, daß zwischen den beiden Armeen eine 20 km lange Lücke entstand. Ob eine Lücke in der Front vom Führer des Ganzen als Gewinn oder Verlust bringend empfunden wird, daran zeigt sich zunächst ganz allgemein, ob er sich stark oder schwach fühlt. Und für dieses Gefühl ist allerdings auch wieder mitbestimmend, aus welchem Anlaß und auf welche Art die Lücke entstanden ist. Je mehr sie eigener Absicht oder eigenem Siegen ihre Entstehung *) Ebenda. 2) Beilage jur Tägl. Rundschau Nr. 1311920. „Neues zur Marneschlacht."
— 33 — verdankt, um so ungefährlicher und erfolgverheißender wird sie erscheinen. In unserem Falle war sie aus der Not geboren, aus großer Not, aus der die 1. Armee, die im allgemeinen die Front nach Süden, ihre Masse über die allgemeine Heeresfront vorge schoben und starke Kräfte rechts gestaffelt hatte, keinen anderen Ausweg fand, als daß sie den rechten Flügelpunkt dieser Staffel zum linken Flügelpunkt einer neuen, nach Westen gerichteten Front machte, in der binnen dreier Tage fast die ganze Armee auf ging. Ob es einen andern Ausweg gab, mag die kriegsgeschicht liche Forschung entscheiden. Wenn sich aber die höchste Führung auf Grund dieses Ereignisses wie auch der Gesamtlage schwach fühlte, dann mit Recht. Die Flügelarmee war einer bedrohlichen Lage dadurch entgangen, daß sie den Nachbarn in eine kaum weniger bedrohliche Lage versetzt hatte. Denn wenn die Lücke vom Feind nicht ausgenützt wurde, so tut das nichts zur Sache, insoferne damit nicht gerechnet werden durfte.^Deshalb haben die für O.H.L. handelnden Personen von ihrem Standpunkt aus mit Recht das Spiel verloren gegeben und mit der An ordnung des allgemeinen Rückzuges die Folgerungen daraus gezogen 2). Und überdies gaben sie damit ja nur noch ein Unter nehmen auf, das durch die Weisung der O.H.L. vom 5. September schon geköpft^) und zu einem Rumpfunternehmen gemacht war. — Gleichzeitig mit dieser Entschlußfassung aber und bis zum Eintreffen des Rückzugsbefehls bei der Flügelarmee hat diese die Lage wieder hergesiellt, dem Feind den Sieg entrissen und an sich gebracht. Was jedoch fortwirkte, war nicht diese Wiederherx) Für den Krieg bedeutet der Erfolg alles, für die Kritik gar nichts. Wo die kritische Kriegsgeschichtschreibung das außer acht laßt, muß sie notwendiger weise Unheil stiften. 2) Die Lage, wie Bülow und Hentsch sie sahen, rechtfertigte ihren Entschluß. Die Ermittlung der Ursachen und Gründe, aus denen sie die Lage nicht so sahen, wie sie wirklich war, liegt'außerhalb des Rahmens unserer Betrachtung. Daß sie schon von Anbeginn des Marnefeldzuges an die Befürchtung gehegt haben sollten, das ganze Unternehmen werde zu keinem guten Ende führen, und da durch in ihrer Auffassung der Lage beeinflußt waren, ist möglich, mir aber nicht wahrscheinlich, so berechtigt die Befürchtung gewesen wäre. 3) Dgl. S. 32 den tzeeresbefehl nach Balck. Man hatte den Feind nach Süd ost und Ost abdrängen wollen. Deshalb war der rechte Flügel, die 1. und 2. Armee, der Teil des Heereskörpers, dem die wichtigste Aufgabe zusiel. Wachter, Krieg und Geist.
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— 34 — siellrmg, sondern die vermeintlich verlorene und deshalb aufgegebene Sache mit der darauf begründeten Anordnung. Jnsoferne hat als letzte, unmittelbare Ursache allerdings ein falscher Befehl den Rückschlag herbeigeführt. Es hat sich wieder einmal bewahrheitet, daß der besiegt ist, der sich dafür hält. Aber die Flügelarmee hatte sich und damit die Sache nur durch eine un erhörte Tat, die Schlacht am Ovrcq, gerettetT). Anders war es nimmer möglich gewesen. Mit unerhörten Taten darf man nicht rechnen, ein Unternehmen, das nur durch eine unerhörte Tat ge
rettet werden kann, war nicht gut angelegt. Es war die Unzulänglichkeit der deutschen Strategie (als Methode oder Schule), die den Rückzug verschuldet hat, nicht das „unbegreifliche Versagen bewährter Männer, eine Reihe von Fehlern, Reibungen und Unterlassungen in der deutschen Führung" oder was an ungenügen den Erklärungsgründen sonst noch ausfindig gemacht worden ist. Nach den neuesten Ergebnissen der Geschichtsforschung liegt die Ursache unseres Versagens vornehmlich in der Psyche des Generalstabschefs?), und es besteht kein Grund, an der Richtig keit dieser Feststellung zu zweifeln, die aber aus mehr als einem Grunde der Ergänzung bedarf. Die Psyche des Generalobersten von Moltke war wesentlich religiös bestimmt, und daß sie so und nicht anders durch die Religion beeinflußt war, muß auch wieder eine Ursache gehabt haben, wovon im dritten Teil zu reden sein wird. Dann aber ist zu bedenken, daß in Angelegenheiten wie den hier in Rede stehenden das Handeln doch stets ganz wesentlich mitbesiimmt wird durch den Geist. Da nun, wie man uns ver sichert, die geistige Befähigung des Generalstabschefs den An sprüchen seiner Stellung genügt hätte, die Leistungen aber,
wie man uns ebenso bestimmt versichert, durchaus ungenügend waren, kann es eben nicht der eigene Geist des Generalstabschefs gewesen sein, der sich im Marnefeldzug verkörpert hat (weil offen bar zu seiner Anwendung die Kraft des Willens fehlte), es muß vielmehr ein anderer Geist gewesen sein, unter dessen Einfluß er *) Von de» Marschleistungen ist mit Recht behauptet worden, daß man sie auf Generalstabsreisen und bei Kriegsspielen nicht zugestanden hätte.
-) R.A. I, III u. IV.
— 35 — handelte, und zwar, da die O.H.L. überragender Persönlichkeiten nach dem Urteil Mosers und anderer Forscher auch sonst ermangelte, ein universellerer, korporativer Geist, in dem eine herrschende Auf fassung oder Grundeinstellung, eine „Schule", wie wir sagten, ihren Ausdruck fand. Und die zeigte sich nun tatsächlich gerade auch in dem, was man die Selbstausschaltung der O.H.L. ge nannt hat. Denn auch Verzicht ist nie unbewußt, und auch bewußter Verzicht kann Schule und Methode sein. — Man muß also hinter dem Schuldigen das Schuldige suchen. Denn so gewiß der Mensch die Geschichte macht, so gewiß wird er durch die Geschichte gebildet. Und deshalb ist freilich auch das Schuldige menschliches Erzeugnis, aber unbewußtes; zugleich das Erzeugnis Vieler, zumeist längst Verstorbener, es ist der Zeitgeist als Er gebnis geistesgeschichtlicher Entwicklung. Weshalb auch der Titel dieser Abhandlung zuerst gelautet hat: „Deutsche Kriegskuust und deutsches Geistesleben zu Beginn des Weltkrieges." Ist nun ein Rückschluß von der Auswirkung jenes „universelleren Geistes" oder jener geistigen Richtung auf ihr Wesen und ihren Wert ge stattet? Er ist nicht nur gestattet, sondern geboten. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen." Hätte Moltke in einer anderen militärischen Geistesluft gelebt, dann hätte seine seelische Ver fassung allein nicht so viel Unheil anrichten können. Warum aber wurde an dem Gedanken einer Vereinigung der Gesamtkräfte auf einem Kriegsschauplatz solange festgehalten? Weil sich allem Anschein nach auch mit diesem Gedanken zwei Absichten verbanden, von denen man je nach dem die eine oder die andere verwirklichen zu können hoffte. Wie wir von Moltke hörten, hat er sich hinsichtlich der französischen Sperrlinie im Osten durch die Ereignisse schließlich dahin belehren lassen, daß „sie nur durch den Vormarsch der 5. Armee geöffnet werden würbe"1), was freilich voraussetzte, daß der Nordflügel das feindliche Feld heer aus eigener Kraft weit genug zurückwarf. Man wird aus dieser Äußerung des Generalstabschefs schließen dürfen, daß er auch schon vor der Belehrung durch die Ereignisse an die Möglich keit gedacht hatte, das Osttor von innen aufzuschließen. Auch die *) S.Y.
— 36 — Schwerpunktslage und Vormarschrichtung des Nordheeres dürfte dafür sprechen, daß die Doppelabsicht von Anfang an bestanden hatte. Aber die Absicht, mit diesem Heer die feindlichen Haupt kräfte gegen ihre Ostgrenze zu drängen, und die andere, diese Grenze mit dem gleichen Nordheer zu öffnen, stellten Anforde rungen, die sich widersprachen. Zum ersten Zweck mußte man zu nächst von dieser Grenze weg halte», westlich ausholen und den Schwerpunkt auf den rechten Flügel nehmen, zum zweiten aber mit dem linken Flügel nahe der Ostgrenze hinstreichen und den Schwerpunkt mehr auf diesen Flügel legen, wobei man sich je doch von vornherein der Gefahr einer Umzingelung aussetzte. Auch durfte man hoffen, die Franzose» weiter westlich leichter zur Schlacht zu zwingen, weil sie dort andernfalls für den Kriegsbe darf wichtigeres Gebiet preisgeben mußten. Das mag mitge sprochen haben, wenn tatsächlich ein Mittelweg eingeschlagen wurde. Gelang eS aber, das Osttor von innen zu öffnen und auf diesem Wege die deutschen Kräfte zu vereinigen, dann war damit webet ein Abdrängen des Feindes gegen eine Grenze noch seine Umzingelung angebahnt. Das heißt, daß von den beiden Absichten: Abdrängen gegen Osten und Offnen der dortigen Sperrlinie von Osten und Westen her, eben doch nur die erste dem Grundgedanken Schliessens treu blieb, während die zweite nichts von ihm übrigließ, ohne einen anderen Vernichtungsgedanken an seine Stelle zu sehen. Es wäre grobes Mißverstehen, wollte man sich dem entgegen auf den Gedanken im letzten Schlieffen plan berufen, daß die östlich der Mosel verbliebenen deutschen Truppen, nach gelungener Schwenkungsoperation der Haupt kräfte, dazu berufen sein könnten, dem Feinde mit einem Durch stoß über die obere Mosel den Genickfang zu geben. Der Genick fang setzt den erfolgreichen Gebrauch der Schußwaffe voraus, sonst wird man mit dem Messer in der Hand den Rehbock nicht erlegen: Erst muß die Entscheidung gefallen sein, die aber an der Marne gegen den Jäger siel, weil er über dem Nachlaufen die Anwendung der Schußwaffe vergessen hatte — in der Meinung, sie bereits mit Erfolg gebraucht zu haben. Auf der Waldjagd pflegt das ja öfter vorzukommen. Hier freilich meinen wir mit
— 37 — dem Gebrauch der Schußwaffe die Herbeiführung der Entschei dungsschlacht. Schliessen hatte aber nie daran gedacht, die irgend wo im Westen der Sperrlinie zu erwartende Entscheidungsschlacht
durch Vereinigung der beiden Heeresflügel auf dem Schlachtfelde herbeizuführen in dem Sinne, daß eine solche Vereinigung das Mittel sein sollte, um den Feind zn stellen und zur Schlacht zu zwingen. Auch nicht etwa eine nur im Zusammen wirken sich aussprechende Vereinigung sollte dieses Mittel sein,
eine Vereinigung in der Form, daß sich die beiden Flügel gegen
überstanden und den Gegner in der Mitte hatten. — Auch die Vereinigung auf dem Schlachtfelde ist eine Form, die erst mit dem Geist erfüllt werden muß, der im Einzelfall das Individuum erkennt und seinen Anforderungen gerecht wird — um den Erfolg zu verbürgen. Kann man diesen Anforderungen nicht genügen — und das wird sehr oft der Fall sein, bezeichnet doch schon der ältere Moltke selbst die Vereinigung auf dem Schlachtfelde als das höchste erreichbare Ziel — dann muß eben auf dieses Sieges mittel verzichtet und ein anderes gewählt werden. Es ist aber ein großer Unterschied, ob zwei getrennte Heereskörper nur Teilkräfte zurückwerfen müssen, um sich zur Entscheidungsschlacht zusammenzuschließen, wie im Fall von Königgrätz, oder ob der eine die feindliche Hauptmacht selbst vor sich herschieben, der andere nicht unbeträchtliche Feldkräfte zurückwerfen und zugleich eine permanente Befestigungslinie durchbrechen soll. Die doppelte Umfassung, ob strategisch oder taktisch, ist eben, um es zu wieder holen, ein Siegesmittel für den zahlenmäßig Stärkeren, nicht für den Gleichstarken oder Schwächeren. Daß der „verbesserte" Schlieffen-Plan dem Nordflügel die nötigen Kräfte entzogen hat, war schlimm genug, seine schlimmste Wirkung war aber die Hoffnung, die man viel zu lange auf seine Durchführbarkeit setzte. Diese Hoffnung war der Flnch der bösen Tat, der den schnellen Sieg im Westen vereitelt hat. Im übrigen hat die O.H.L. selbst das Urteil über diesen Plan gesprochen: der Marnefeldzug endete damit, daß sie alle irgend entbehrlichen Kräfte des Südflügels auf den Nordflügel zog, hier also die Gesamtkraft vereinigte und damit gezwungen und
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zu spät dasselbe tat, was Schliessen von Anfang an hatte tun wollen. Zu dem besprochenen Grundirrtum und der durch ihn ver ursachten Zwiespältigkeit des Wollens war nun aber noch eine Zu rückhaltung der O.H.L. sowohl in der zielsetzenden, wie in der zum Ziel leitenden Führung getreten, die gleichfalls schon mehrfach erwähnt, jedoch noch nicht genügend erklärt ist. Sie ging weit über das Maß weiser Selbstbeschränkung hinaus, die vom Steuer grundsätzlich den sparsamsten Gebrauch macht, nie in die Befugnisse der Unterführer eingreift, ihnen volle Freiheit in der Wahl der Mittel läßt. Als Ursachen kennen wir die irrtümliche Einschätzung der dem Gegner nach seinen Niederlagen in Lothringen und Belgien verbliebenen Gesamtkraft und die Meinung, daß sich Nord- und Südflügel gegenseitig vorwärts helfen könnten, obwohl sie durch den französischen Festungsgürtel getrennt waren. Aber der erste Irrtum konnte sich doch erst nach den Einmarsch gefechten einstellen, die ja bereits unter dem Einfluß mangelnder Führung sich abspielten, und auch der zweite mochte wohl im späteren Verlauf der Operation Eingriffe der Oberleitung in bestimmten Lagen und zu bestimmten Zwecken überflüssig er scheinen lassen, schloß aber ein Operieren mit dem Nordheer beim Beginn des Feldzuges so wenig aus, daß ein solches Operieren vielmehr auf Grund der klaren und bestimmten Absicht, die Moltke mit diesem Flügel hatte (s. oben S. 3), unbedingt geboten war. Schwenken ist natürlich ebensowenig ein Operieren wie gerades Vor- oder Zurückgehen. Jede operative Absicht erfordert zu ihrer Durchführung eine Gliederung der verfügbaren Gesamtkraft und dann eine Rollenverteilung, die den einzelnen Gliedern ihre Aufgaben zuweist, sowie eine erneute Aufgabenstellung, sobald die ersten Aufträge erfüllt sind oder ein Wechsel in der Lage ihre Änderung erheischt. Wenn trotz alledem von Anfang an und in weitgehendem Maße auf Führung verzichtet wurde, so war dieser Verzicht grundsätzlichen Charakters. Es sprach sich der Zeitgeist darin aus, der die Bedeutung der Führung überhaupt unterschätzte, weil er das geistige Element im Kriege unterschätzte, das in der Führung
— 39 — seinen Ausdruck findet. Den Geist im Kriege gering achten heißt die Führung gering achten. Mit dieser Geringschätzung des Geistes, die flch auf allen Lebensgebieten äußerte, verband sich eine gewisse Schssu, die dem Geist mißtraute. Im Heere war sie ausschlaggebend. In einer der ersten deutschen Militärzeitschriften hat nicht lange vor dem Krieg ein Osstjier in hoher Stellung mit Entrüstung den Gedanken zurückgewiesen, daß, wenn einmal ein deutsches Heer die Grenze überschreite, seine einzelnen Armeen und Korps noch besonderer Aufträge bedürften (die für benachbarte Armeen oder Korps natürlich gleichlauten können). Da könne es nur noch eine, selbstverständliche Aufgabe geben, den Feind an zugreifen und zu schlagen, wo man ihn finde; diese sei aber jedem Führer schon bekannt, und mehr brauche er nicht zu wissen. Deshalb genüge die Zuweisung der Vormarschräume oder -Straßen. Wohin dieser Verzicht geführt hat, lehren die besprochenen Er eignisse *). An der Marne verhielt sich zwar die O.H.L. nicht rein passiv. Doch beschränkten sich ihre Anordnungen auf das Ver halten der Armeen im Falle des Rückzuges. Die Entscheidung darüber, ob zurückgegangen werden sollte, war den Oberkomman dos überlassen, die Unterführer entschieden über das Was, der höchste Führer über das Wie: verkehrte Welt im Geiste Schlichtings?). Mit Recht schließt Kuhl seine angeführte Darlegung mit dem Satz: „Wir sind an der Führung gescheitert." In einer Besprechung der Angriffe Delbrücks auf Luden dorff und die deutsche O.H.L. schrieb General Willes mit Bezug auf die deutsche Führung in der sog. Marneschlacht vom „über wuchern der Tatkraft durch die Wissenschaftlichkeit, das sich schon vor dem Kriege, z. B. in dem leichten Wechsel des Operationsge dankens und im Abbauen bei den Manövern äußerte." Dem „Abbauen" könnte man noch das im Weltkriege erfundene „Ab setzen vom Feinde" beifügen — Ausdrücke, die in Kriegsnachrichten angebracht sein mögen, aber gefährlich werden, wenn sie dazu x) Siehe S. 23—25*
2) Es kommt hier nur in Betracht, was Moltke gewollt hat, nicht was durch Mißverständnis aus seinem Auftrag geworben ist.
3) Schweizerische Monatshefte für Politik und Kultur.
Oktober 1922.
— 40 — dienen, sich selbst über den Ernst der Lage oder die Folgenschwere eines Entschlusses hinwegzutäuschen. Wichtiger ist aber der Vor
wurf, daß die deutsche Führung das Beharren auf dem Entschluß vermissen ließ — und leider auch berechtigt. Nur war die Wissen
schaftlichkeit ganz unschuldig daran. Denn die Preisgabe des Entschlusses, seine Auslieferung an den „natürlichen Zwang" der Ereignisse, wie er sich in den Eindrücken der Unterführer wider spiegelte, mit denen sich die O.H.L. in die Führung teilte, so daß abwechselnd von oben und von unten der Faden weitergesponnen wurde — diese Resignation hatte ihre Ursache im Verzicht auf
wirkliche Führung, der nicht sowohl auf eine zu hohe Bewertung des wissenschaftlichen oder sagen wir lieber des geistigen Elements im Kriege zurückging, als auf eine zu geringe. Das Gegenteil von dem, was Wille behauptet hat, ist das Zutreffende. Wir glaub ten durch die brutale Gewalt*) allein siegen zu können und zu sollen. Daher keine Staffelung, keine Reserven, kein Festhalten (Demonstrative), mit einem Wort, kein Operieren, sondern nur ein Drauflosschlagen in möglichst breiter Front. Soweit die Selbstbeschränkung der O.H.L. in der Einwirkung auf die Durchführung der Operation zutage trat, ist sie ja schon vielfach zum Gegenstand der Kritik gemacht worden. Es wurde auf das weite Zurückbleiben des Großen Hauptquartiers hinter den Oberkommandos htngewiesen, auf den Mangel einer ausreichenden, vorbereiteten Organisation der Leitung (Gliede rung in Heeresgruppen) wie auf die Unzulänglichkeit der tech nischen Verbindungen zwischen O.H.L. und den Armee-Ober kommandos. Allein dieser Schwächen war man sich doch schon vor dem Kriege nicht ganz unbewußt gewesen, hätte sie nur ver mutlich »och höher eingeschätzt, wenn man von der Bedeutung einer jede Willkür ausschließenden, die Untereinheiten fest und dauernd an einen Willen bindenden Leitung gleich tief durch
drungen gewesen wäre, wie Schliessen und andere Meister der Kriegs kunst vor ihm. Die Angst vor schädlichem Übermaß führte auch
hier wie in der Pflege des geistigen Elements der Kriegführung überhaupt zu einem nicht minder schädlichen Entsagen. Zum Teil
*) Vgl. R.A. IV, S. 135.
— 4i — hatte sich allerdings auch die Meinung festgesetzt, zu dieser samkeit durch das Anwachsen der Heere gezwungen zu sein; doch der größere Körper im Gegenteil nur einen um so und durchdringenderen Geist zu seiner Beherrschung und erfordert hätte.
Enthalt während stärkeren Lenkung
Wenn wir jetzt einen Blick in die aus dem Frieden in den Krieg herübergenommene Gedankenwerkstätte werfen, aus der das Handeln und Nichthandeln auf deutscher Seite hervorgegangen ist, so wird uns dieses zu einer Betrachtung führen, die im Gegen satz zur bisherigen von innen nach außen geht, deshalb manches in neuem Lichte zeigen, vor allem aber noch deutlicher machen wird: das geistige Versagen war nicht individuell, sondern die geistige Erziehung der Gesamtheit war unzulänglich gewesen. „Welches waren die operativen Ziele der O.H.L. bei der un mittelbar bevorstehenden Entscheidungsschlacht? (Die sog. Grenz schlachten vom 20. bis 2z. August in Lothringen, bei Longwy, Neufchäteau, Namur und Mons). Auf welchem Teile der deut schen Heeresfront und mit welchen Mitteln sollte die Entscheidung gesucht werden, wo und unter welchen Bedingungen sollte hin haltend gekämpft werden? Hierüber mußten die Armee-Ober kommandos spätestens an diesem Tage, dem 20. August mit klaren Weisungen versehen «erden, sollte die Einheitlichkeit des Handelns... sichergestellt werden. Alle diese Fragen hatte die O.H.L. eingehend erwogen; für die Schlachtenführung schwebten ihr klare und bestimmte Ziele vor. Wie beim Vormarsch, so sollte auch beim Angriff der deutsche rechte Heeresflügel das Zeitmaß angeben, ihm war der entscheidende Angriff und der Vortritt zugedacht, während die Mitte (4. und 5. Armee), wenn der Gegner hier vorging, sich zurückhalten und vorläufig sich verteidigen sollte; nur wenn der Gegner sie nicht angriff, mußte auch die Mitte, um ihn zu fesseln, zum Angriff übergehen, dabei jedoch den An schluß an den Drehpunkt der Schwenkung, Diedenhofen, fest halten. Der Schutz der linken Flanke des deutschen Wesiheeres blieb Aufgabe der Truppen in den Reichslanden. Diese klaren Gedanken wurden indes nicht in Form eines einheitlichen
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Heeresbefehls zur Kenntnis der Armee-Oberkommandos ge bracht T). Über die Gründe hiezv schreibt der jetzige Generalleutnant Tappen: „Die operativen Ziele der O.H.L. bei der bevorstehenden Entscheidungsschlacht waren die denkbar einfachsten: der Vor marsch als große Linksschwenkung um den Drehpunkt Metz— Diedenhofen sollte beim Zusammentreffen mit dem Feinde als einheitliche Handlung zum rechtsumfassenden großen Angriff führen. Dabei fiel dem rechten Flügel ohne weiteres die Aufgabe zu, unverzüglich rechts umfassend anzugreifen, während das Ver halten der inneren Armeen fich dem Angriffe des rechten Flügels anpassen mußte. Für die Armeen des inneren Schwenkungsfiügels kam dabei im allgemeinen zunächst Verteidigung in Frage, für die anderen Armeen war Zusammenhang des Ganzen, Ver halten des Feindes, Ausnutzen günstiger Lagen und Gelände bestimmend. So konnte für die eine Armee, wenn der Feind an griff, Verteidigung geboten sein, um den Gegner möglichst weit vorkommen und damit die Rechtsumfaffung um so wirksamer werden zu lassen, während an anderer Stelle Angriff der deutschen Truppen erforderlich wurde, um einen eventuell weichenden Gegner festzuhalten und ihn nicht aus der drohenden Umfassung entkommen zu lassen. Um die Einheitlichkeit des Ganzen zu gewährleisten, konnte mithin für die inneren Armeen kein einheitlicher Heeresbefehl gegeben werden, es mußten Gedankenaustausch und Einzel anordnungen durch Fernsprecher, die der täglich wechselnden Lage Rechnung trugen, an seine Stelle treten. Welche Rolle bei der zu erwartenden Schlacht jeder Armee zufiel, war in vielen Kriegsspielen und General*) Hiezu nach R.A. I S. 644: „Ein einheitlicher Befehl für die Füh rung der Schlacht (womit die sog. Grenzschlachten gemeint find) wurde zwar nicht erlassen, allein Generaloberst v. Moltke hatte, wie aus den in den folgenden Tagen ergangene« Cintelanweisungen deutlich hervorgehl, einen klaren und zweifellos Erfolg versprechenden Plan". (Sperrung von mir). — Der Verzicht auf einen einheitlichen Heeresbefehl erscheint aller dings, wenigstens zum Teil, auch durch die den Oberkommandos bereits bekannten Aufmarschanweisungen begründet.
— 43 — siabsreisen durchgesprochen. (Sperrung von mir, um auf den inneren Widerspruch hinjvweisen.) Bei diesen waren sogar, soweit möglich, die in Aussicht genommenen Armeechefs als Führer bei ihren Armeen eingeteilt. Irgendein Zweifel, wie sich jede Armee ju verhalten habe, konnte also meines Erachtens nicht be stehen. Mir gegenüber ist im August 1914 auch nie ein solcher geäußert worden. Im übrigen glaubte Generaloberst v. Moltke in absichtlich geübter Zurückhaltung und auch auf Grund unserer Friedens ansichten und Friedensausbildung die Selbständigkeit und Ver antwortlichkeit der unterstellten Armeeführer wahren zu müssen, in der Annahme, daß die vorne befindlichen Armeeführer die Ver hältnisse beim Feinde besser ju beurteilen imstande wären, als er selbst «eit hinter der Front in Koblenz'""). „Der Chef des Generalstabes hätte sich mithin in diesen Tagen (18. und 19. August) zu den Armee-Oberkommandos begeben können", erwartete jedoch wichtige Meldungen von Ost und West; „auch glaubte er annehmen zu dürfen, daß die Generalstabschefs der Armee-Oberkommandos durch die Teilnahme an den großen Generalstabsreisen und Kriegsspielen sowie durch den in den Aufmarschanweisungen eingehend dargelegten Operationsplan vollkommen mit den Absichten der O.H.L. vertraut waren'"). Dem älteren Moltke ging es wie Schliessen und wie allen Meistern. Jeder hat seine schwache Seite, die seiner Größe keinen Eintrag tut, aber seinen Schülern zum Fallstrick wird. Wir dürfen an Ranke erinnern, dem Moltke geistesverwandt «ar. Das Maßhalten, das Wohltemperierte war ein Grundzug ihres Wesens. Indessen kann es auch im Maßhalten ein Übermaß geben. Moltke hat sich als Führer zuweilen ausgeschwiegen und wurde miß verstanden, Schliessen in seiner manchmal ans Burschikose streifen den, aber immer herzerfrischenden Art lieble es als Lehrer, sich drastisch auszudrücken und wurde gleichfalls mißverstanden. So, wenn er mit Bezug auf Operationen vom Bataillonsexerzieren u. dgl. sprach, womit er aber nur die Notwendigkeit einer straffen *) R.A. I, S. 256—58. =) 91.91.1, S. 187.
— 44 — Zügelführung einerseits und einer verständnisvollen Ein- und Unterordnung anderseits betont haben wollte. Hatte schon Moltke selbst Anforderungen an das Gedanken lesen gestellt, die fich zuweilen, wie z. B. im Gefecht von Spichern rächten, so wurde es in der Folge zum Dogma, das erste Kriterium für die Güte eines Befehls in seiner Kürze, in der Zurückhaltung des Befehlenden zu sehen. Der Befehl muß jedoch, bei aller Kürze in der Form, auch erschöpfend sein. Die Nichtbeachtung dieser Notwendigkeit war freilich zugleich der Rückschlag auf eine frühere, mißbräuchliche Befehlsgebung, die den Unterführern in ihre Be fugnis eingriff, ihnen die Freiheit nahm, das Wie zu bestimmen. Statt aber die Abhllfe in einer verbesserten Befehlsmethodik zu suchen, geriet man auf die schiefe Ebene, die zur sog. „Anheimgebungsdisposition" führte. Wenn in den deutschen Einigungskriegen die Direktive — an Stelle des Befehls — ein durch die besonderen Umstände begründetes Mittel der operativen Führung war, so durfte doch dieses Mittel nicht zur Schablone werden. Im Weltkriege waren die Umstände entgegengesetzter Art, worauf im zweiten Teil zurückzukommen sein wird. Gleichwohl ist man dem bevor zugten Mittel der Direktive, der „losen Zügelführung" treu ge blieben. „Wahrung der Selbständigkeit der Unterführer und Förderung ihrer Initiative gelten als vornehmliche Aufgabe der Heeresleitung"*). Die Wahrung, zwar nicht der Selbständigkeit der Unterführer — die war nur durch den Wegfall der O.H.L. zu erreichen — aber des ihnen nötigen Spielraumes — war gewiß Pflicht der O.H.L., aber nicht ihre Aufgabe, die immer nur in einem positiven Moment liegen kann, nicht in dem negativen der Zurückhaltung, des Nichteingreifens. Die Übertreibung, die in dieser Auffassung liegt und wie jede Übertreibung einen Irrtum in sich schließt, hat die Selbsiausschaltung der O.H.L. mit ver schuldet. Aber weiter: „Die strategische Initiative mußte (nach Moltkes Ansicht) im Zukunftskriege in erster Linie von den vorne an der Front befehligenden Oberkommandos ausgehen. Ge legentlich einer Generalstabsreise führte er aus, daß selbst bei der *) R.A. I., S. 536.
— 45 — Armeeführung heute „die Ausgabe eines strikten Armeebefehls nicht ausführbar sein werde, und man stch auf allgemeine Direktieven werde beschränken müssen" .. . Moltke vertraute uner schütterlich auf die in jahrelangen, sorgfältigen Studien vertiefte Durchbildung der Oberbefehlshaber und ihrer Chefs" und war „der Meinung, daß durch geistige Zusammenarbeit Reibungen aller Art leichter ausgeglichen würden als durch Befehle der obersten Leitung." Man vergleiche damit, was a. a. O. S. 606 zu lesen: „Die am 27. August einlaufenden Meldungen konnten jedoch keinen Zweifel mehr darüber lassen, daß der Gegner ... im großen und ganzen kampfkräftig geblieben war, und daß er es vor dem rechten deutschen Flügel verstanden hatte, sich der ihm drohenden Verfolgung zu entziehen ... Anderseits hatte sich der Versuch, die Einheitlichkeit der Operationen durch Ver einbarungen zwischen den Armee-Oberkommandos oder durch Unterstellung der einen Armee unter die andere zu erreichen, nicht bewährt; das war deutlich zutage getreten." (Sperrung von mir.) Gleichwohl wurden die Folgerungen daraus nicht gezogen: Am 7. September beabsichtigte die 4. Armee ihren Gegner, rechts umfassend, anzugreifen, und die links an sie anschließende 5. Armee beabsichtigte dasselbe, womit sich also die beiden Armeen an ihren inneren Flügeln entgegengearbeitet hätten. Die 5. Armee wandte sich dann, nachdem der Versuch einer Verständigung mit dem Nachbarn nicht zum Ziel geführt hatte, an die O.H.L. mit der Bitte einzugreifen. Diese antwortete, daß „gegenseitiges Einvernehmen zwischen 4. und 5. Armee beim Kampfe geboten fei"1). Was würde ein Schüler Scherffs dazu sagen?: „Zum Kampf bedarf es zwar des Einvernehmens nicht; wohl aber, damit ein Gefecht daraus werde! Nur war es in allererster Linie Sache der übergeordneten Befehlsstelle, für die Gefechtsführung (d. i. für die Verbindung der Kämpfe zu einheitlichem Zweck) zu sorgen. Zum Kampf brauchen wir keine O.H.L., ja überhaupt keine höhere *) Kronprinz Wilhelm (einstiger Oberbefehlshaber der 5. Armee). „Der Marnefeldzug 1914." IV. „Deutscher Offizier-Bund." Nr. 25 1926, S. 1096. Vgl. R.A. IV, S. 142.
— 46 — Truppenführung." — „Nachdem am Abend des 6. September durch einen seltenen Glücksfall Joffres Angriffsbefehl bekannt geworden war, verfiel der verantwortliche Leiter der Gesamtope ration junächst in einen Zustand, der völliger Tatenlosigkeit nahezu gleichkam. Vergebens versucht der einstige Chef der Ope rationsabteilung dies damit zu entschuldigen, daß Generaloberst von Moltke geglaubt habe, „die Schlachtentscheidung auf Grund der Direktiven der O.H.L. den bewährten Armeeführern zu über lassen und nicht in den Gang der Kampfhandlung selbst einzu greifen, zumal Reserven der O.H.L. nicht zur Verfügung standen, und die deutsche Kampffront zunächst durch die feindlichen Angriffe, die voraussichtlich mit zahlenmäßiger Überlegenheit erfolgten, im wesentlichen gebunden war'""). Wenn die O.H.L. angesichts der feindlichen Angriffsabsicht den eigenen Angriff überhaupt für unsachgemäß hielt, dann hätte sie den beiden Armeen, die im Begriffe standen anzugreifen, erst recht ihren entgegenstehenden Willen kundtun müssen. — Auch zu diesen Beispielen wird im zweiten Teil noch mehr zu sagen sein. Nun ist aber die deutsche Führung mit Beginn des Welt krieges über die Direktive als Führungsmittel noch um einen Schritt hinausgegangen. — Immer wieder werden uns die Abstchten oder Pläne der O.H.L. als äußerst klar und einfach bezeichnet. Das sind sie, wenn man sie ausgeführt denkt und dann erzählt oder als lebende Bilder vorführt. Im Kriege ist alles einfach, sagt Clausewitz, aber das Einfache ist schwer; und nicht zum Einfachen, sondern zum Schweren, d. i. zur Verwirk lichung des Einfachen wäre der Feldherr nötig: um den Indikativ der Erzählung in den Imperativ des Befehls zu übersetzen (natür lich nicht im grammatikalischen Sinn; da war unsere Befehls sprache, die allen Anforderungen genügte, fast rein indikativisch). Zum Schweren gehört dagegen im allgemeinen nicht, was man den Feldzugsplan zu nennen pflegt, wenn er auch in unserem Fall vergleichsweise schwierig war. — Da er als Grundidee der ganzen Unternehmung wesentlich geometrisch-geographischer Natur *) A. a. O. S. 1097. Die Anführung im letzten Satz ist dem Werk des Reichs archivs (IV, S. 315) entnommen.
— 47 — ist, läßt er fich auch an die Schultafel jeichnen, von der schon Schlichting gesprochen hat, allerdings nur mit Bezug auf den tak tischen Elementarunterricht, dem der Exerzierplatz als Schul
tafel dienen soll. Der Anschauungsunterricht ist ja das pädagogische Schoßkind unserer Zeit, obschon geeignet, mit der Vorstellungs kraft den freien, schöpferischen Geist verkümmern zu lassen. (Daß im Feldzugsplan das zeitliche Moment schwerer wiegt als das rävmliche, die Bewertung beider den Zivilstrategen vom Fach
mann unterscheidet, sei hier nur nebenbei erwähnt.) Man ist nun auf den Gedanken gekommen, den Operations plan, richtiger den der eigenen Abstcht entsprechenden Verlauf, der Operation — bildlich gesprochen mit aller Genauigkeit an die Schultafel zu zeichnen und es dann den Unterführern zu über lassen, dieses Bild „im gegenseitigen Einvernehmen" zu verwirk lichen. Ein solches Ausmalen der Führungsabsichten als Füh
rungsmittel hat zur Voraussetzung, daß man den Verlauf der Handlung durchgedacht, dabei natürlich auch die Gegenpartei selbst gespielt hat. Sie wird sich aber kaum jemals genau so ver halten, wie von uns angenommen wurde; weshalb eine gewisse Gefahr darin liegt, von dem Ergebnis auszugehen, zu dem ein derart konstruierter oder bei Kriegsspielen und Übungsreisen gewonnener Verlauf geführt hat. Wir haben auch schon ein Bei spiel dafür kennengelernt, daß solche Friedevsübungen und
-studien schädlich wirken können. Die konkrete Kriegshandlung läßt sich nicht einüben wie ein Theaterstück, und der beste Regisseur ersetzt nicht den Feldherrn. In dieser Verwechslung des Kriegs theaters mit dem Theater liegt der entscheidende Denkfehler, der zwar nicht als die letzte, aber als eine der ersten Ursachen den
tveitgehenden Verzicht auf Führung, die sog. Selbsiausschaltung der O.L.H. erklärt. Diese intellektuelle Irrung hat der selbstlosen und deshalb wahrhaft vornehmen Gesinnung des Generalstabs chefs und seiner ebenso bekannten Derantwortungsfreudigkeit den schlimmsten Streich gespielt. Das neu entdeckte Führungs mittel, besser als Führungsersatz oder Führungsübertragung zu bezeichnen, wahrte wohl dem Unterführer seine „Selbständig keit" und überschüttete ihn überdies mit Vertrauen, belastete
- 48 ihn aber dafür mit der Verantwortung, die von der übergeordneten Stelle jn tragen gewesen wäre. Heute rühmt man die „klaren und bestimmten Gedanken", die der O.H.L. „vorschwebten" — und dann folgt der Stoßseufzer: „Aber die Ausführung!" Damit geschieht der Unterführung manches Unrecht. Mit der „vor schwebenden Idee" hört die Feldherrnkunst nicht auf, sondern damit fängt sie an.
Es kommt darauf an, diese Idee in operative Maßnahmen umzugießen, wobei von dem ihr anhaftenden geometrischen Element oft recht vieles abgestreift werden muß; es kann vielleicht in späteren Befehlen Verwendung finden. Denn auch die höchste Befehlsgebung kann nur schrittweise geschehen (wobei es von den Verhältnissen abhängt, ob der Schritt kurz oder lang ausfällt), während die Idee von Anfang an das letzte Ziel im Auge hat. Wenn sie zugleich auch schon den ganzen Weg bis dorthin fleht, so ist er ein subjektives Gebilde über den Punkt hinaus, bis zu dem auf einmal befohlen werden kann. Daß die Unterführer daneben über die ganze Absicht unterrichtet werden, ist selbstver ständlich; doch ist auch hier ein weises Maß zu halten.
Jn unserem Falle wurde nun die „einfache Idee" der höchsten Führung in das Wort gefaßt, daß es sich um eine Linksschwenkung und eine Rechtsumfassung handle. Nachdem der Feind links vorwärts anzunehmen war, erschien die Schwenkung zugleich notwendig und möglich. Eine andere Frage ist, ob nicht zuerst ein Stück weit frontal vorzurücken war, um zu verhüten, daß der Gegner nach der Schwenkung (wenn er inzwischen nach Süd westen ausgewichen war) rechts vorwärts stände*). Natürlich konnte er auch der Schwenkung entgegengehen. Sobald aber vor einem Teil des äußeren Flügels ein Feind auftrat, der dann zurückgeworfen und gegebenenfalls umfaßt werden, oder sobald vor dem inneren Flügel ein Feind auftrat, der angegriffen werden mußte, um ihn festzuhalten, hörte für diesen Teil der Schwenkungs front das Schwenken auf. Der letztgenannte Fall konnte von *) Nach dem Schlieffenplan hatte die südliche Gruppe des Schwenkungs flügels von Anfang an gegen die Linie Mözidres—Verdun (nicht Diedenhofen) vorzugehen. R.A. I, S. 57*
— 49 — allem Anfang an eintreten. Je weiter ferner die Schwenkung fortschritt, um so größer wurde die Gefahr, die daraus erwuchs, daß Linksschwenken und Rechtsumfaffen — operativ aufgefaßt — sich widersprechende Bewegungen sind. Denn daß der rechts umfassende Teil im Augenblick der Umfassung eine Links schwenkung ausführt, tut nichts jur Sache. Für das Ganje gilt: wer den Feind nach links werfen will, muß auf seine rechte Seite gehen; links schwenkend tut er das Gegenteil. Die Gefahr war also, daß man, sobald die Linksschwenkung zu lange fortgesetzt wurde, der überragenden Front, d. i. der Vorbedingung der Umfassung verlustig ging, und ebendiese Vorbedingung für den Gegner schuf. Obwohl und weil also die Schwenkung der Um fassung vorausgehen sollte, mußte der Umfassungsgedanke, die Absicht auszuholen und ju überholen, immer vorausstehen. Denn an sich wirkt, wie gesagt, die Linksschwenkung der Rechts umfassung entgegen. Don Schwenkung und Zeitmaß zu reden, erscheint in einer Denkschrift unbedenklich. Wo es sich um die Ausführung handelte, waren diese mechanisch-formalistischen Begriffe geeignet, das ent scheidende Moment des Ausholens und Überholens in den Hinter grund ju schieben. Mit der Schwenkung verbindet sich außerdem die Vorstellung einer mehr oder minder starren, geradlinigen Front. In der operativen Befehlsgebung, ja sogar in der „An weisung", sobald sie vom Grundgedanken der Gesamtoperation weiterschritt ju den für die Durchführung unerläßlich räumlich zeitlichen Teilanordnungen, war mit dem Begriff der Schwenkung wenig anzufangen. Sie mochte als Schlußergebnis in die Er scheinung treten, als Mittel und deshalb auch als Ausdrucksmittel der operativen Führung wurde sie besser vermieden. — Wie sollte denn aber sonst die Aufgabe gelöst werden? Das Angriffsheer von Aachen bis Diedenhofen wird in zwei sehr ungleiche Stücke geteilt, ein langes und sehr starkes nördliches, ein kürzeres und unverhältnismäßig schwaches südliches. Alles hat in rein westlicher Richtung vorjugehen, das lange Stück jum umfassenden entscheidenden Angriff, das kürzere demon strativ: um anzugreifen, wenn es nicht selbst angegriffen wird. Wachter, Krieg und Geist.
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Damit sind an die Stelle der mehr geometrisch formulierten Grundidee die Gedanken und Absichten getreten, in denen sich der Führerwille für den ersten Schritt verkörpert. Jetzt macht sich alles von selbst: Fesseln, wo es nötig ist, Abwehr, wo sie nötig wird, dazu Schwenkung und Umfassung! Aber gerade die Nichtachtung der Theorie führt jur Künstelei, wie die Füh rungsmaßnahmen des tatsächlichen Verlaufs deutlich erkennen lassen. Der Große Generalstab hätte auch der Pflege einer ge sunden Theorie sein Augenmerk zuwenden sollen, aber der Zug der Zeit ging in der entgegengesetzten Richtung. Natürlich war auch für den Schutz der linken Flanke des An griffsheeres zu sorgen ohne Rücksicht darauf, daß der Demon strativ-Flügel unter dem Druck feindlicher Übermacht von selbst zur nächsten Flankensiaffel oder zum Defensivhaken werden konnte. — Zum Fesseln genügt der Angriff nur, wenn der Gegner nicht ausweicht. Sonst gilt es, ihn zu reizen, zu locken, ihm Erfolgs aussichten zu eröffnen. Wenn ich ihn rechts umfassen will, mag er das gleiche tun; er darf es versuchen und begrenzten Erfolg haben. Damit kommt er mir entgegen; und wenn ich dieses wünsche, muß ich ihm auch entgegenkommen. Wir müssen einen Feldzug so eröffnen, daß unsere ersten Wünsche durch den Feind erfüllt werden. Zum geometrischen Begriff der Schwenkung gehört auch der des Drehpunktes. Die Linie Diedenhofen—Metz wurde von Schliessen als „Hauptstützpunkt der Flankendeckung") bezeichnet, Moltke sprach von ihr als von dem festen und festzuhaltenden „Drehpunkt für die große Schwenkung"). Natürlich dachte er bei seiner Forderung, daß die Angriffsfront mit diesem Punkt verbunden bleiben (oder Anschluß an ihn halten) soll, auch nur an den hiedurch bewirkten Flankenschutz, für den durch andere Mittel nicht gesorgt war. Der Umstand aber, daß der feste, weil befestigte, Punkt zugleich der Drehpunkt war und unter diesem Namen auch in den Anweisungen und Befehlen erschien, konnte die irrige Meinung aufkommen lassen, daß ihm an sich, d. h. als *) R.A. I, S. 56. 2) R.A. I, S. 64, 74 u. a.
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Drehpunkt eine Bedeutung zukomme. — Wichtiger ist, daß der 5. Armee neben dem Festhalten am Drehpunkt die andere Avfgäbe gestellt «ar, den vor ihrer Front auftretenden Feind ju fesseln, d. h. ihn anzugreifen, soferne er nicht selbst angriff. Die Erfüllung beider Aufgaben hätte früher oder später zu einer un zulässigen Dehnung oder zum Zerreißen der Armeefront führen müssen. Infolge der mechanischen Gliederung — statt einer den Bedürfnissen des Einzelfalls angepaßten organischen — waren einer Untereinheit Aufgaben übertragen, die auf zwei Unter einheiten zu vertellen gewesen wären, mochten sie dort immerhin mit andern, jedoch leichter zu vereinbarenden Aufträgen ver bunden sein. So aber macht die ganze Führung des inneren Schwenkungsflügels durch die O.H.L. den Eindruck des Ge zwungenen und Gequälten. Die 5. Armee hätte auseinander fallen müssen, wenn nicht die 6., früher als es der Absicht der O.H.L. entsprach, den Feind vor ihrer Front zurückgeworfen hätte, womit die Gefahr für die Flanke des Angriffsheeres ab gewandt schien: „Die Klärung der Lage in Lothringen erlaubte (am 23. August) der bisher mit ihrem linken Flügel an Diedenhofen gefesselten 5. Armee Bewegungsfreiheit zu geben" und sie — nördlich an Verdun vorbei — in westlicher Richtung antreten zu lassen1).2 3Aber schon am 24. und 25. August trat auf ihrem linken Flügel eine kritische Lage ein „durch die Preisgabe des Schwenkungspunktes Metz—Diedenhofen, ohne daß die O.H.L. für die Nachführung einer Heeresstaffel hinter diesem Flügel (sprich: dieser Flanke) der Schwenkungsfront Sorge getragen hatte"?). Diese schon erwähnte Unterlassung hatte ihren Grund in der gleichfalls schon erwähnten unzulänglichen Gliederung. Aber die wiederholten Bitten der 5. Armee, die fehlende Untereinheit aus dem entbehrlich gewordenen Überschuß der 6. Armee zu schaffen, fanden kein Gehör. Die 6. Armee sollte vielmehr den von ihr geschlagenen Feind mit allen Kräften nach Süden verfolgen?) — nicht bloß zum Zweck des Aufreibens und !) R.A. I, S. 436. 2) R.A. I, S. 6$6. Sperrung von mir. 3) R.A. I, S. 436.
— 52 — Festhaltens: die doppelte Umfassung jenseits der Sperrlinie lag dem Generalstabschef im Sinn — auf Kosten der einfachen; weshalb man nicht einmal sagen kann, daß hier das Bessere der Feind des Guten war. Nur nebenbei sei auch auf einen Auswuchs des geographi schen Denkens hingewiesen, wenn er auch mehr formaler Natur ist. Es ist natürlich und geboten, daß strategische Betrachtungen an die Linien der orohydrographischen Karte anknüpfen, vornehm lich an die der fließenden Gewässer, auch wo diese nur jur Orts bestimmung dienen müssen, ohne an sich von Bedeutung für die Kriegführung zu sein. Es ist jedoch zur Gepflogenheit geworden, auf solche Linien auch dann Bezug zu nehmen, wenn sie zur Be zeichnung der gedachten Linie unbrauchbar sind. „Die Nordund mittlere Gruppe der Franzosen und Engländer kann, nachdem die Maaslinie verloren ist, erneuten Widerstand hinter der Aisne leisten, äußerster linker Flügel vielleicht vorgeschoben bis St. Quentin—La Fere—Laon, rechter Flügel westlich der Argonnen, etwa bei St. Menehould*)". Was hat diese Linie noch mit der Aisne zu tun? Sie schneidet ihren Lauf Semuy—Soissons unter 45°, liegt mit dem rechten Flügel bis zu 30 km dahinter, mit dem linken bis zu 50 km davor. — Hier zeigt sich ein Mangel an diszipliniertem Denken, die Karrikatur einer Großzügigkeit, wie wir sie bei unsern Meistern fanden, die indessen auch in diesem Punkt Maß zu halten wußten. Und das schlechte Beispiel für die geistige Erziehung ist höher anzuschlagen als der Schaden, der etwa dadurch entsteht, daß die Neigung, den Geländeeinfluß auf die Kriegshandlung zu überschätzen, neue Nahrung findet.
Der Ansicht, daß Moltke in unbegründeter Abweichung von Schliessen den linken Flügel viel zu stark gemacht habe, wurde entgegengehalten?), daß diese Maßnahme durch eine einschneidende Änderung des französischen Operationsplanes veranlaßt worden sei: Ein weit stärkerer, an die Hälfte des französischen Heeres J) R.A. Hl, S. 5. 2) „Wissen unt> Wehr", 1. Heft 1925. Von Wehell. „Kritische Betrachtungen i»m I. Band" (des amtlichen Kriegswerkes).
53 — heranreichender Kräfteeinsatz war für den Angriff über die fran zösisch-deutsche Grenze in Aussicht genommen als zur Zeit der Operationsentwürfe Schliessens. „Moltke rechnete damit, daß die Franzosen aller Wahrscheinlichkeit nach den Krieg offensiv führen, und besonders damit, daß sie ihren Angriff alsbald — beiderseits von Metz — gegen die deutschen Reichslande richten würden"^. Dadurch war die Gefahr nahegerückt, daß die Ver bindungen des deutschen Nordflügels unterbrochen wurden, ehe dieser die feindlichen Hauptkräfte erreichte. Überdies war der deutsche Gesamteinsatz im Westen, im Vergleich zu dem von Schliessen angenommenen, vermehrt. Die Behauptung, daß der Schlieffenplan dem Nachfolger zu kühn war, ist deshalb unbe rechtigt; die Änderung war im GegenteU notwendig, damit der Schlieffenplan durchführbar blieb. Nun, die Verbindungen des deutschen Angriffsheeres mußten noch viel länger gesichert bleiben, als bis es die feindlichen Haupt kräfte erreicht hatte. Sollten diese doch um i8o° herumgewen det und schließlich gegen ihre Ostgrenze gedrückt werden. Ander seits hat aber Schliessen selbst die — damals noch — verfügbaren Gesamtkräfte als unzureichend bezeichnet; und wenn sie seitdem vermehrt waren, so „hatten in der gleichen Zeit auch die Fran zosen ihr Heer weiter ausgebaut, so daß das Stärkeverhältnis sich letzten Endes doch ungünstiger gestaltete, als es die Denk schrift von 1905 angenommen hatte"*2). — Aber war denn, wenn man die beiden Flügel, wie es doch allein zulässig ist, nach ihrer Aufgabe scheidet, der Südflügel im Jahre 1914 tatsächlich wesent lich stärker als in der Denkschrift von 1905? Da waren 5 Reserve korps in Anlehnung an Metz für die Deckung der linken Flanke gegen ein feindliches Vorgehen zwischen Maas und Mosel vorge sehen, die zuerst als Staffel dem Angriffsheer zu folgen, später mit einigen Landwehr-Brigaden Verdun einzuschließen und die Cöte Lorraine anzugreifen hatten, während eine Armee aus Neu formationen gegen die Mosel zwischen Nancy und Belfort vor*) R.A. 1, S. 62s.
2) R.A. I, S. 59, 61.
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gehen sollte — „alles Mittel jum Zweck" x) — nämlich jum Zweck des Kräftebindens (wie schon die Länge der ebengenannten An griffsfront erkennen läßt). Zum gleichen Zweck sollten von An fang an 3 Armeekorps und 1 Reservekorps einen Angriff gegen Nancy unternehmen, was freilich nur zum Ziel fuhren konnte, wenn die Franzosen angriffen: „je stärker, um so besser!" Nur wenn ste nicht zum Gegenangriff schritten, mußten 2 Armeekorps baldigst nach Belgien auf den äußersten rechten Flügel übergeführt werden. Endlich war die untere Mosel zu fichern, und die Strecke zwischen Maas und Mosel in der Höhe von Diedenhofen zu sperren*2).3 — Erst wenn man auf der anderen Seite (1914) nicht nur die nach Saarbrücken und Straßburg nachgeführten 6% Er satzdivisionen und die zur Besetzung der Niedstellung bestimmten 5 Landwehr-Brigaden der 5. Armee, sondern vor allem auch den Umstand in Rechnung zieht, daß diese ganze tiefgegliederte Armee neben anderem den „Drehpuntt" Diedenhofen—Metz festhalten sollte und dadurch in den Dienst des Flanken schutzes gestellt war2), kommt man zu dem Ergebnis, daß der Südflügel von 1914 doch erheblich stärker war als der von Schliessen vorgesehene. Trotzdem scheint uns der Unterschied der Truppen zahl nicht der wichtigste zu sein. Ein Unterschied besteht aber auch in der Truppenklasse, ein weiterer in der Truppenverteilung, insoferne Schliessen den Schwerpunkt viel weiter nach Norden legte als Moltke, und im Zusammenhänge damit steht der Unter schied in der Absicht. Schliessen kannte nur die Abficht der Flan kendeckung des Hauptheeres und die des Kräftebindens, der Ab lenkung des Feindes vom fernen Ort der Entscheidung, während Moltke gewillt war, diese unter Umständen in Deutsch-Loth ringen selbst herbeizuführen, und hoffte, daß derGegner diesem Wunsch entgegenkommen werde. Andernfalls wollte er gegen und über die Linie Toul—Epinal selbst die Offensive ergreifen. x) R.A. I, S. 57, 60. 2) R.A. I, S. 59s. 3) Für die Verteidigung der Linie zwischen Diedenhofen «nd Metz hatte die 5. Armee selbst zu sorge«. Besondere Kräfte waren nicht dafür berettgestellt, nur die beiden Festungen der Armee unmittelbar unterstellt worden. (R.A., S. 72s.)
55 — Diese Absichten führten jm Truppenanhäufung jwischen Metz und den Vogesen und bedeuteten nicht nur ein AbgeheU von Schliessen, sondern, wenigstens die längste Zeit hindurch, auch eine Meinungsverschiedenheit jwischen der O.H.L. und dem Oberkommando 6, insoferne dieses seine Aufgabe demonstrativ auffaßte, wenn es sie auch durch gleichzeitigen statt allmählichen Einsatz der Kräfte *) lösen wollte. Daß der Gesamteinsatz für die demonstrative Absicht ju stark und mit der französischen Sperrlinie vor der Front vor allem fehl am Ort war, war nicht Schuld des Oberkommandos. Es fragt sich nun, welches Verhalten für den Flankenschutz des Nordflügels und seiner Verbindungen das geeignetere war, und ob der von Schliessen hiefür in Aussicht genommene Kraft einsatz den neuen französischen Angriffsplänen gegenüber auch bei richtigstem Verhalten wirklich unzulänglich war. Voraus setzung bleibt, daß, wie eingangs erwähnt, der Schlieffenplan durchgeführt werden, die deutsche Hauptmacht über die Linie Aachen—Diedenhofen vorgehen sollte. — Wenn die Franzosen von Nancy her angriffen, war die Aufgabe der deutschen Truppen südöstlich von Metz nach Schliessens Ansicht: „Festhalten mit Hilfe des erweiterten Metz", womit ein zur Verteidigung vorbe reiteter, an die Linie Diedenhofen—Metz anschließender Raum jwischen Mosel, Saar und Ried gemeint twr2). Den in den Reichslanden südöstlich von Metz eingesetzten Kräften oblag somit das frontale Aushalten der feindlichen Übermacht, zunächst in der allgemeinen Linie Metz—Straßburg, dann nötigenfalls unter schrittweisem Zurückschwenken in eine solche jwischen Ried und Rhein. Unter Ausnützung der starken natürlichen Abschnitte, die auf diesem Wege lagen, waren durch Arbeitstruppen und Zivilkräfte Stellungen zu bauen. Die frontale Abwehr konnte nun aber durch Vorstöße gegen die linke Flanke und gegen die Ver bindungen des Eindringlings in wirksamster Weise unterstützt werden. Ganz allgemein hat Clausewitz die Besorgnis um die Flanke mit dem Hinweis abgetan, daß der Gegner auch Flanken *) Dgl. zweiten Teil. -) R.A. I. S. 60, 56.
— 56 — habe. In diesem Sinne war der Gedanke, den Moltke in der Lothringer Entscheidungsschlacht verwirklichen wollte, dem be schränkteren Zwecke nutzbar zu machen. Je stärkere Kräfte des Gegners südlich von Metz vorgingen (mithin an seinem linken Nägel ausfielen), um so mehr eigene Kräfte konnten dazu verwendet werden, die Verbindungen des Hauptheeres zu decken. Es kamen hiefür u. a. in Betracht die 8 Ersatzkorps, die Schliessen dem Entscheidungsflügel zugedacht hattet), vor allem aber die schon erwähnten Kräfte, mit denen er auf der Cüte Lorraine und vor der Linie Nancy—Belfort Feindes kräfte von der Hauptentscheidung ablenken wollte. Wenn fich der Gegner selbst ablenkte, machte er gerade damit die deutschen Kräfte frei, die seine etwaige Absicht vereiteln konnten, die Ver bindungen des Angriffsheeres zu unterbrechen. Auch die nach Saarbrücken und Straßburg nachgeführten 6% Ersatzdivisionen, die beim damaligen viel zu starken Frontaleinsatz im Reichslande besser dem rechten Nügel zugeführt worden wären, konnten zur Mitwirkung an der in Rede stehenden Aufgabe in Frage kommen. Fehlerhaft war nur, von vornherein Kräfte dafür auszugeben, statt sie nur so bereitzustellen, daß sie nach Bedarf dem Deckungs oder Entscheidungsflügel zugeführt werden konnten. Was dadurch erleichtert war, daß der Gegner den positiven Zweck ver folgte und hiezu vormarschieren mußte, dazu noch auf deutschem Boden, lauter Faktoren, die eine frühzeitige Ermittlung seiner Stärke begünstigten. Hier mußte man sich also vom Gegner das Gesetz diktieren lassen, um es an anderer Stelle ihm diktieren zu können. Wo man nicht entscheiden, sondern nur den Feind daran hindern will, ist Gebot, was sonst grundfalsch ist. Mit dem bewußten Einsatz einer Minderheit gegen eine Mehrheit geht es an. Wo sollten die Angriffskräfte bereitgestellt werden, die zu sammen mit den zwischen Metz und Straßburg sowie im Ober elsaß ausgestellten Truppen den Flankenschutz des Heeres und seiner Verbindungen zu übernehmen hatten — zwei Aufgaben, die im amtlichen Werk nie scharf auseinandergehalten werden, wenn auch zuzugeben ist, daß die Deckung der Verbindungen *) R.A. I, S. 59.
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zugleich als Flanken- und Rückendeckung des Heeres wirkte — die Kräfte also, die den, wie hier angenommen, mit großer Über
macht in Deutschland eindringenden Feind durch Angriffe gegen seine Flanken und gegen seinen Rücken aufhalten, im übrigen jedoch, soweit es und sobald es irgend möglich, dem Angriffs heere jvgeführt werden sollten? Nirgends anders als im „er weiterten Metz", zunächst als Reserve der O.H.L.! Don hier konnten sie nach West, Süd und Ost rechtzeitig eingreifen, selbst wenn es galt, einem über den Oberrhein eingedrungenen Feinde im weiteren Vorgehen gegen Norden Einhalt zu tun. — Selbst verständlich mußten für diese Aufgaben außer den schon genannten Truppen zweiter bis vierter Klasse noch weitere Reservekorps sowie aktive Korps bereitgehalten werden — durch Abstrich von mindestens 6 Korps bei der 5., 6. und 7. Armee, von denen die erste demonstrativ einzusetzen, die beiden anderen aber für die Aufgabe hinhaltender Abwehr unnötig stark waren. Das erweiterte Metz, dem eine eigene, auch für alle Zwischen linien ausreichende Besatzung zuzuweisen war, hatte unter dem Befehl der O.H.L. zu bleiben, die zeitgerecht aufzustellende Flanken staffel für das Angriffsheer unter den gleichen Befehl zu treten (nachdem dieses Heer als ganzes keinen Führer hatte) und alle andern mit besonderen Aufträgen (zu Offenstvstößen usw.) aus der „Festung" ausstrahlenden Einheiten hatten dem Führer der Hauptreserve als Heeresgruppenführer unterstellt zu bleiben — abgesehen natürlich von den zur Verstärkung des Angriffs flügels frei werdenden. — Daß diesem Flügel, der 1. bis 5. Armee, der Heeresgruppenführer fehlte, mußte fich schon dadurch rächen, daß es die Überlastung der O.H.L. vermehrte. Das Fehlen der Zwischeninstanzen überhaupt, die mechanische Gliederung an Stelle eines der Absicht entsprechenden organischen Aufbaues hat aber auch dazu beigetragen, daß in unserer Krieg führung der geistige Faktor nicht voll zu seinem Rechte kam. Wie der Gefechtsabsicht eine besondere Gefechtsgliederung ent
sprechen muß, so der strategischen Absicht eine individuelle ope rative Gliederung — nicht in jedem Falle, aber unter Umständen, und so auch unter denen, wie sie für den Kriegsbeginn im Westen
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gegeben waren. Daß z. B. eine strategische Reserve und für das eigentliche Angriffsheer (die sog. Schwenkungsfront) ein Demonstrativflügel notwendig war, hat schon die bisherige Be trachtung gezeigt. Im Unterschiede zum Universalmittel unserer mechanischen Kriegsgliederung dürfte die den Bedürfnissen des einzelnen Feldzuges entsprechende Gliederung wohl am besten als dynamische zu bezeichnen sein, weil sie den Willen zu einer be stimmten Verwendungsart der einzusetzenden Kraft zum Ausdruck bringt. Im organischen Aufbau des Instruments muß stch die Abficht, der logische Aufbau des Kalküls widerspiegeln. Dann verbürgen fich auch beide wechselseitig ihre Folgerichtigkeit. Diese höhere Technik der Truppenführung war bei uns verkümmert. Man kann allerdings der Meinung sein, daß sie entbehrlich, und statt mit einem dynamisch mit einem nur mechanisch gegliederten Instrument auszukommen sei, wenn man den Glauben hat, die operative Kriegshandlung wie ein Drama in Szene setzen zu können. Aber auf der Schaubühne ist eine fertige (wenn auch er fundene) Wirklichkeit nur nachzubilden, auf dem Kriegs schauplätze soll sie erst geboren werden, ja unter denkbar stärkstem Widerstand zum Dasein sich durchringen. Zwar erfordert das eine wie das andere ein Zusammenwirken, jedoch ein solches von sehr verschiedener Art, insoferne es bei der bloß bildhaften Wieder gabe eines Originals keiner Dynamik mehr bedarf; sie ist schon vorausgegangen — bei seiner Entstehung, erscheint nur noch im Ergebnis der Triebkräfte, deren Zusammenwirken die innere Einheit der einzelnen Handlungen schuf. Und der Beschauer des Bildes macht erst aus diesem Ergebnis den (unbewußten) Rück schluß auf das ursächliche Vorhandensein der Triebkräfte. Des halb liegt hier, wo es sich um Nachbildung handelt, die schöpfe rische Kraft in den Zusammenwirkenden, dann erst in ihrem Leiter. Anders, wo nicht ein Abbild, sondern ein Original ins Leben treten soll: niemals wird eine Mehrzahl von Geburtshelfern im gegenseitigen Einvernehmen die Höchstleistung erzielen, die Voraussetzung des Gelingens ist. Hier muß die schöpferische Kraft in der Spitze wirksam sein. So besteht zwischen der Notwendig keit einer organischen Gliederung und einer einheitlich-straffen
— 59 Führung und ebenso zwischen dem Erkennen oder Verkennen beider Notwendigkeiten ein enger Zusammenhang. Das Archivwerk spricht davon, daß bei Bülow „vor den Forderungen der Kampfführung in wohlgeordneter, nach ein heitlichen Gefechtsstreifen gegliederter Schlachtfront die ope rativen Erwägungen zunächst (?) mehr zmücktraten" (I. S. 648s.). Und der österreichische General Krauß gibt den Operations streifen (Marsch- und Angriffsräume») die Schuld am mangeln den Zusammenwirken benachbarter Verbände, so beim großen Verfolgungszug durch Oberitalien nach dem Sieg von Tolmein— Flitsch. Beide Arten von „Streifen" sind aber lediglich technische Hilfsmittel, die an stch noch keinen taktischen oder strategischen Gedanken ausdrücken. Je nach Lage und Absicht kann es das eine Mal geboten sein, sie einzuhalten, das andere Mal, herauszu gehen. In der Regel entspricht ersteres einem strategischen, also vergleichsweise höheren, letzteres einem taktischen Bedürfnis. In den deutschen Einmarsch- und Derfolgungsschlachten vom August 1914 wurden durch Herausgehen die folgenschwersten Fehler gemacht, weil es zum Zurückwerfen statt zum Abschneiden oder Einkreisen führte. Die Entscheidung, was in jedem Fall zu tun ist, muß dem gemeinsamen höheren Führer vorbehalten sein, der allein den nötigen Überblick über das Ganze besitzt und das der Endabsicht mit diesem Ganzen entsprechende Bedürfnis ermessen kann, und der nur als erste vorläufige und vorbereitende Maßnahme die Operationsstreifen festgesetzt hat — nebenbei ein neuer Beweis für die Unentbehrlichkeit einer einheitlichen höheren Führung! Unsere Betrachtung hat bis jetzt ergeben, daß wenn mit einer ernstgemeinten französischen Offensive durch ElsaßLothringen gerechnet werden mußte, eine Verstärkung des linken Flügels gegenüber dem Schlieffenplan allerdings notwendig war. Bei richtiger Kräfteverteilung war sie aber eine Anleihe beim Entscheidungsflügel, die zurückbezahlt werden konnte, so bald sich die eben gemachte Voraussetzung als unzutreffend er wies. Aber wäre nicht bei diesem Verfahren, also ohne frontalen Gegenangriff, der Gegner eben doch tiefer eingedrungen, und da-
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durch ein Wegjiehen von Kräften auf den rechten Flügel untun lich geworden? Das Verhalten der Franzosen im Jahre 1914 spricht nicht dafür; und der letzte Grund für eine räumlich-zeitliche Beschränkung ihres Vordringens im Süden blieb doch immer das unsere im Norden. Was war außerdem wertvoller als Operations basts: Belgien und Nordfrankreich oder gewisse Landstriche Süd westdeutschlands? Die letzte Frage ist nun aber, ob ein ernstgemeinter franzöfischer Angriff durch die Reichslavde mit Recht als wahrscheinlich angenommen wurde. — Auf das Wünschenswetteste, einen deutschen Frontalangriff durch die Linie Verdun—Belfort hin durch auf die dahinter aufgestellten eigenen Hauptkräfte hätten die Franzosen, wie fie sich selbst sagen mußten, wohl vergeblich gewattet, eben weil es das Wünschenswerteste gewesen wäre. Auf eine Entscheidung hinter der Linie Longwy—Mäziöres be stand schon mehr Aussicht, noch mehr auf eine solche weiter rückwätts, wo anderseits die Befestigungen immer noch einen ge wissen Kraftzuschuß bedeuteten. In allen Fällen aber waren diese in Verbindung mit Feldtruppen geeignet, ein feindliches Vor dringen erheblich zu verzögern und den Dordringenden zu schwächen. Die Verzögerung mußte eine weitere Schwächung mit sich bringen: je längere Zeit verstrich, um so mehr deutsche Kräfte mußten dem russischen Verbündeten entgegengestellt werden. Daß Schliessen in der Denkschrift vom Dezember 1905 seinen Operationsplan bis über Paris hinaus spann, kam daher, daß er von der Voraussetzung ausging, die Franzosen würden so handeln, wie es am klügsten war. Blieben sie mit ihrem Schwer punkt bei Verdun, oder stellten sie sich hinter der Linie Longwy— Mözieres zur Entscheidung bereit, dann hätte er sich gewiß recht gerne mit einem kleineren Bogen begnügt. Ja, er hätte es schon begrüßt, wenn der Gegner aus einer Linie links rückwärts von der letzterwähnten angriffsweise vorgegangen wäre, wagte aber auch dieses nicht zu hoffens. Er wußte genau, daß die langen Operationslinien Kräfte verzehren, und schließlich ging sein ans Abenteuerliche grenzender Plan auch über unsere Kraft, wenigstens ') R.A., I S. 57-
— 6i — über die damalige. Kein Wunder, daß Moltke eine Entscheidung in größerer Nähe von ganzem Herzen herbeisehnte. Nach wie vor war es also für die französische Kriegführung ein Gebot der Klugheit, die Entscheidung so lange hinauszuschieben, bis sie sich dafür die größtmögliche Überlegenheit ge sichert hatte, sei es durch Schwächung des Feindes im Innern ihrer „Festung und mit deren Hilfe, sei es durch Abwarten der russischen Massenwirkung. Soweit beides eine Zeitfrage war, war man berechtigt, auf beides zu hoffen, und die vorübergehende Preisgabe eigenen Landes findet ihre beste Begründung, wo mit Sicherheit auf Entsatz und Kraftzuwachs von anßen gerechnet werden darf. Im gleichen Maße, in den beides zu erwarten ist, kann auf die eigenen Hilfsmittel verzichtet werden. So lag zunächst kein Grund vor, aus der „Festung" hinauszugehen, um dort die Entscheidung zu suchen, und im übrigen wäre das befreundete Belgien mit seinen Festungen ein günstigerer Boden für die Entscheidungsschlacht gewesen als die deutschen Reichslande mit ihren feindlichen Festungen und dem Rhein und den Vogesen im nahen Hintergründe. Nur konnte nördlich von Verdun nie die französisch-englische Gesamt macht entfaltet aus der „Festung Frankreich" vorbrechen, weil hiefür nach dem Urteil Schliessens der Platz nicht auSreichte; ein Teil mußte immer auf den Raum südlich von Verdun verwiesen bleiben. Die französische Angriffsabsicht hatte ihren Ursprung in einem dem russischen Bundesgenossen gegebenen Versprechen, wobei zu dem Bedürfnis der Ermutigung des Verbündeten das nationale Bedürfnis der eigenen Ermutigung hinzutrat. Des halb wurde auch die Absicht in allen Tönen gepriesen, und in den Aufmarschentwürfen voller Ernst damit gemacht — nach deutschen Begriffen. Aber Angriff und Angriff ist nicht zweierlei, sondern vielerlei, besonders — nach französischen Begriffen, die von dem Napoleonischen Satze ausgehen: „On s’engage partout et puis on voit"; weshalb auch diese Auffassung wiederum gerade in den Aufmarschentwürfen sehr deutlich in die Erscheinung trat. — Man kann ja offensiv werden und wieder zurückgehen, zumal
— 62 — wenn man eine Ausnahmestellung wie die franjösische Sperrlinie hinter sich hat. Findet sich vor dieser eine außergewöhnlich günstige Gelegenheit, um ohne großes Risiko einen entscheidenden Schlag zu führen, dann wird sie natürlich ausgeuützt. Wir haben die französische Angriffsabsicht zu ernst genommen. Der Gedanke an eine Hauptentscheidung in Deutsch-Lothringen konnte nicht Wirklichkeit werden, weil er so schön war; er war viel zu schön, als daß es dem Gegner jemals in den Sinn kommen konnte, die Hand zu seiner Verwirklichung zu bieten. Der Wunsch war und blieb der Vater des Gedankens. Moltke war Idealist, Schliessen war Realist und verstand als solcher seinen Gegner, der gleichfalls Realist war und deshalb zunächst einen Kampf um Zeitgewinn führte. Es entspricht, wie nebenbei erwähnt sei, dieser Absicht, die Kräfte unter Ausscheidung starker Reserven gleichmäßig zu verteilen, unter Umständen wohl auch das Ganze in zwei gleiche Teile zu zerlegen.
Dem Generaloberst v. Moltke „war das wesentliche Ziel der Operationen, jede Gelegenheit auszunützen, um die Franzosen im freien Felde zu schlagen ... Er war dann (wenn die feindlichen Hauptkräfte z. B. im Reichslande eindrangen) ent schlossen, die Entscheidung anzunehmen, wo sie ihm angeboten wurde" *). Darf man aber watten, bis man sicher weiß, wo sich die feindlichen Hauptkräfte befinden; weiß man damit, ob sie dort auch stehen bleiben werden, oder wo man sie sonst trifft, ja ob man sie überhaupt trifft? Je früher man sich aber in Bewegung setzt, um so leichter wird es ihnen, auszuweichen. — Freilich galt es, die Hauptkräfte zu treffen, also mindestens die Hälfte der Ge samtheit; auch Schliessen wollte die feindlichen Hauptkräfte ab drängen, nicht nur die, denen er zuerst begegnete. Wie wollte man aber Gewißheit haben, ob nicht der Hauptteil immer noch weiter westlich oder südlich stand, solange er noch weiter westlich oder südlich stehen konnte? Deshalb sollte auch Paris um gangen werden „unter allen Umständen" und von mehr als *) R.A. I, S. 643, 184, 65.
— 63 — einem Dritteil der Gesamtkraft1). Trotz alledem: wollte der Gegner nnr Zeit gewinnen und schrittweise ausweichen — niemand vermochte ihn daran zu hindern. Der Weg nach Südfrankreich war und blieb ihm offen. Die Preisgabe des Landes wurde in ihren Folgen für die Erhaltung der Streitmacht durch das Bünd nis mit der englischen Seemacht gemildert. Solange ein Um schwung durch das russische Eingreifen in sicherer Aussicht stand, konnte «eit darin gegangen werden. Anderseits gebot aber ge rade die Rücksicht auf die Mitwirkung der Verbündeten, nicht r« weit darin zu gehen. Ihr Versagen, ja ihr Abfall und ein Friedensschluß auf Kosten Frankreichs konnten die Folge sein. — Aus diesen Gründen mochte aber auch schon der drohende Verlust Nordfrankreichs mit Paris und den Kanalhäfen die Franzosen veranlassen, den feindlichen Hauptkräften ihre eigenen entgegen zusetzen. Es war dies eine ungleich größere Wahrscheinlichkeit, als daß die französischen Hauptkräste tief und mit entscheidender Absicht in deutsches Land eindringen würden. Das Ergebnis ist: Die feindlichen Hauptkräfte finden wir nur dann mit Sicher heit, wenn wir sie nicht suchen, sondern so marschieren, daß sie uns aufsuchen müssen. Nach diesem Grundsatz pflegte Napoleon seine großen, tief ins Feindesland hineinführenden Feldzüge anzulegen. Ging der Gegner seitlich vor, dann kam es zu der dem Stärkeren willkommenen Schlacht mit verwandter Front. Daß der Feind an ihm vorbeimarschieren werde, um ihm die Ver bindungen abzuschneiden, hat er nie besorgt. Schliessen war der Meinung, daß bei Ausführung seiner Absicht „eine Gefahr für die auf dem rechten Mosel-Ufer abgetrennte Armee kaum entstehen könne", und „hielt den Einbruch der Fran zosen in Elsaß-Lothringen zwischen Metz und Straßburg für wenig wahrscheinlich: jedenfalls ist keine Gefahr darin zu erblicken"-). Er war durchdrungen von der Überzeugung, daß durch die Aus führung seiner Absicht der Feind zur Umkehr gezwungen würde, selbst wenn er das Schwergewicht seiner Offensive in die Reichs lande oder gar — durch Überschreitung des Oberrheins — auf das
*) R.A. I, S. 59. Vgl. oben S. 28 f. -) R.A. I, S. 60.
- 64 rechte Rheinufer legte2). Für dieses Unternehmen wäre aber höchstens die Hälfte des französtschen Heeres in Frage gekommen,
die andere Hälfte war für den Schutz der linken Flanke und der
französtschen Nordostgrenze benötigt. Eine Entscheidung gegen die über den Rhein zvrückgeführten deutschen Hauptkräfte hätte das feindliche Angriffsheer bis zum Wirksamwerden der
erhofften russischen Ablenkung vermieden. Auch abgesehen davon, winkte aber auf deutscher Seite der größere Erfolg, wenn man den Gegner beim Übergang über den Rhein anfiel, wobei man frei lich leicht zu spät kam — oder zu früh; und um nicht zu spät zu komme», rechtzeitig die Stärke und beabsichtigte Marschrichtung des Feindes erfahren mvßte. Einfacher war es, dem Überge
gangenen durch Vertreibung seiner linksrheinischen Deckungs truppe die Verbindungen samt dem Rückweg abzuschneiden, ihn damit zur Umkehr zu zwingen und dann beim Übergang über den Rhein anzugreifen. Voraussetzung blieb nur immer, daß der Argovautenzug überhaupt unternommen wurde, im Vergleich zu dem der Schlieffensche ein recht bescheidenes Abenteuer war. Und wir haben auch nur deshalb das Gebiet der Kombi nation betreten, um deutlich zu machen, was es im Zeitalter der Millionenheere auf fich hat, „jede Gelegenheit auszunützen, um die Franzosen im freien Felde zu schlagen" und „die Entscheidung anzunehmen, wo der Feind sie anbot". — Früher hatte man mehrere Aufmarschpläne zur Wahl bereitgehalten, zuletzt aber mit einem fich begnügt, weil der Apparat zu kompliziert geworden war und Verwirrung anzurichten drohte. War es mit dem aufmarschierten Heer viel anders? Und wurde nicht schon in der Vorzeit das „Beharren auf dem Entschluß" den künftigen Truppen führern als eine der wichtigsten Bedingungen des Erfolges ein geprägt? Was hieß den Feind im freien Felde angreifen? An sich ein unbezweifelt richtiger Gedanke; nur war ebendeshalb nicht darauf
zu rechnen, daß sich uns der Feind dort stellen werde, solange er nicht große Übermacht besaß oder von andern Umständen be
sonders begünstigt war. x) R.A. I, S. 60, 65 ,643.
Um ihn im freien Felde zu schlagen.
- 65 mußten wir vor allem weit weggehen und den Gegner weit weg locken, -ziehen oder -zwingen von seiner Sperrlinie gegen Deutsch
land, dieser für ihn durchlässigen, für uns aber undurchlässigen
Wand, die ihm bei jeder Begegnung in den beiderseits anschließen den Landstrichen große Vorteile bot, den allergrößten, wenn die zwei Parteien in süd-nördlicher Richtung (also mit den Fronten senkrecht zur Sperrlinie) aufeinander trafen. Ähnlich, nur viel schwächer war der Einfluß der Linie Longwy—Meziöres. — Man konnte also, um den Feind im freien Felde zu schlagen, von der nach Osten gerichteten Hauptwand entweder weit genug nach Osten weggehen, bzw. im Osten wegbleiben — oder weit genug nach
Westen. Weshalb das erstere Verfahren keine Ausstcht bot, mit Wahrscheinlichkeit, geschweige denn mit Sicherheit zum Ziel zu führen, wurde schon erörtert. Auch Schliessen wollte den Feind im freien Felde schlagen. Denn man wird doch nicht glauben wollen, daß sich dieser, der anfangs die Front nach Ost, Nordost und Norden hatte, unbesiegt so lange herumdrehen und zurückschieben ließ, bis er mit der Front nach Westen und mit dem Rücken vor seiner Ostgrenze („Mosel-Festungen—Jura—Schweiz"") stand. Um ihn aber zu schlagen und zu drehen, mußte (auch abgesehen von allen äußeren und inneren „Enceinten") von Hause aus weit nach Westen und später weit nach Süden ausgeholt werden, und immer lieber zu weit als zu nah — es war die conditio sine qua non. Wenn man also das Problem, den Feind im freien Felde zu schlagen, zu Ende dachte und nicht auf halbem Wege stehen blieb, führte es von selbst zum Schlieffenplan. Er «ar die Anwendung von Moltkes Grundgedanken auf den gegebenen Einzelfall oder die aus der allgemeinen Wahrheit für die besondere Lage ab geleitete Berfahrungsweise. — Freilich war eine lange Zeit ver strichen, bis die von Schliessen in seiner Denkschrift hinterlassene Absicht hätte zur Tat werden können. So gewiß es aber ist, daß die Änderung der Verhältnisse eine Änderung der Absicht notwendig machen kann, so gewiß hat im vorliegenden Fall der geschichtliche Verlauf die Änderung als unbegründet und unheilvoll erwiesen.
Schliessen selbst hat seine Meinung von dem Wege, der uns allein
*) R.A. I. S. 58. Wachter, Krieg und Getst.
— 66 — ans Ziel ändert.
bringen
könnte,
bis
zu
seinem Tode
nicht ge
Wenn wir in der Kriegsgeschichte den Entschlüssen nachgehen, die zu Mißerfolgen führten, so finden wir, daß es selten feinere Denkfehler, sondern zumeist grobe, augenfällige Verstöße waren, die fich dabei gerächt haben. Wir wundern uns, daß so klar zu tage liegende Fehler nicht vermieden wurden, und haben die Empfindung, wir hätten vielleicht andere Fehler gemacht, aber ganz gewiß entschuldbarere. Ziehen wir dann aber die eigene, sei es auch nur bei Friedensübungen gewonnene Erfahrung zu Rate, dann «erden wir schnell inne, daß es uns genau ebenso gegangen ist wie den geschlagenen Feldherrn. Man hat daraus mit Recht den Schluß gezogen, daß die folgenschweren Irrungen und Mißgriffe überhaupt nicht in einer Unzulänglichkeit der Ur teilskraft, sondern in Schwächen des Willens und Charakters ihren Sitz haben, die uns durch kleine, an fich berechtigte Wünsche ganz sachte und unvermerkt dazu verführen, daß wir den einfachsten, klarsten und richtigsten Gedanken beiseite schieben oder, nach dem wir ihn gefaßt haben, wieder fallen lassen. Das letzte ist vielleicht sogar der häufigere Fall. Auch die Kräfteverteilung beim deutschen Aufmarsch gegen Westen im Jahre 1914 erscheint uns jetzt als Unbegreiflichkeit. Man wollte der starken französischen Festungsfront gegen Deutschland ausweichen, deshalb durch Belgien angreifen. Dann kam der Versucher und spiegelte einen kriegsentscheidenden Sieg noch diesseits des Grenzwalles vor, und für alle Fälle in zweiter Linie eine doppelte Umfassung jenseits desselben! Herrliche Ausblicke — und einer davon mußte fich doch verwirklichen lassen! Wenn es nun aber wirklich weniger die Unzulänglichkeit des Denkens als des Wollens ist, die aus verheißungsvollen Absichten verhängnisvolle werden läßt, sollen wir trotzdem, wie eingangs behauptet wurde, aus Mangel an Geist unter legen sein? Die Behauptung bedarf zunächst einer Berichtigung auf Grund der letzten Ausführungen: nicht aus Mangel an Geist, sondern aus Angst vor dem Geist sind wir unterlegen; nicht Mangel
-67 an Begabung war es, der uns scheitern ließ, sonder» daß wir den Gebrauch einschränkten aus Furcht vor dem Mißbrauch. Und doch muß jedes Volk, das entschlossen ist, seine Freiheit nötigenfalls mit den Waffen zu verteidigen, darauf Bedacht nehmen, seine militärische Überlegenheit letztlich auf die nationale Eigenart ju begründen; d. h. auf eine Eigenschaft, die als ein Stück dieser Eigenart ihm allein zukommt, deshalb ein Mittel ist, das von keinem andern Volk nachgemacht werden kann. Aus diesem Grunde mußte unser Siegesmittel die Überlegenheit des deutschen Geistes und der deutschen Gründlichkeit sein. (Nur in diesem Sinne hat seinerzeit das Wort Berechtigung gehabt, daß der deutsche Schulmeister Königgrätz gewonnen habe: wenn man ihn als Repräsentanten der Geisteskultur nahm.) Um so verderblicher mußte eS dann wirken, wenn gerade die geistigen Kräfte nicht voll ausgenutzt wurden^), wie es schon in Befolgung des Grundsatzes hätte geschehen müssen, daß man im Kriege nie zu stark sein kann, sondern alles dazu heranzuziehen ist, was An spruch hat auf den Namen „Kraft". Dem berechtigten Mißtrauen in einseitig, auf Kosten der Willenskraft entwickelte Geisteskräfte entsprang ein weniger berechtigtes in diese Kräfte überhaupt und im weiteren eine ge wisse Scheu vor allem Prinzipiellen, aber auch vor allem Außerordentlichen, vor der schon Binder-Krieglstein^) gewarnt, und der gegenüber noch Schliessen immer wieder auf den Wert des Ideals für die Entschlußbildung hingewiesen hat, wie auf die Notwendig keit, das Ideale, d. i. das Vollkommene, Unbedingte, von allem Beiwerk rein Gehaltene und deshalb zwar Einseitige, aber auch Einheitliche in anschaulichen Bildern vor Augen zu stellen. Es ist *) Zur Zeit des Stellungskrieges sprach der hochgebildete Generalstabschef einer deutschen Armeeabteilung die Meinung aus: „Der Krieg muß mechanisiert werden". Aber darin waren uns die Feinde schon deshalb überlegen, weil sie allein die materiellen Mttel besaßen, die dazu nötig waren.
2) Osten., später preuß. Artillerie-Offizier, zuletzt in der kriegsgeschichtlichen Abteilung des Gr. Generalstabes. Hervorragender kriegsgeschichtlicher Forscher und Kritiker. Im Hinblick auf seine Befähigung aus der Kriegsgeschichte all gemeine Wahrheiten abzuleiten vielleicht die bedeutendste Erscheinung in der Mlitärliteratur seit Clausewitz. s1
— 68 — aber einleuchtend, daß da, wo eine Abneigung gegen das Generelle herrscht, auch die Neigung bestehen wird, stch über Bedenklichkeiten hinwegzusetzen, wenn es stch darum handelt, sekundären Er wägungen und Absichten Eingang in einen leitenden Grundge danken zu gewähren. Zu gleichmäßige Verteilung, welche die eingesetzten Kräfte nirgends zu durchschlagender Wirkung kommen läßt, ist wohl die häufigste Ursache der taktischen, vielleicht auch der strategischen Mißerfolge. Und wiederum liegt die Ursache der gleichmäßigen Kräfteverteilung fast immer darin, daß der Führer außer dem Sieg noch andere Ziele verfolgt, oft nur solche negativer Art, wie Ab minderung der Folgen einer möglichen Niederlage oder dgl. Denn der Schuldige in erster Instanz ist hier zumeist der Mangel an moralischem Mut: man wagt es nicht, sich irgendwo wirklich schwach zu machen. Nur weiß sich dieser Schuldige stets hinter Verstandesgründen zu verstecken, so daß sich der Geist auch hier wenigstens der Beihllfe schuldig macht. Denken wir aber im be sonderen an den deutschen Truppenführer, dann ist dieser in dividuellen Verschuldung schon eine allgemeine Unterlassungs sünde vorausgegangen. Denn die Scheu, sich irgendwo in dem Maße zu schwächen, daß man dezisiven Anforderungen — auch solchen defensiver Art — nicht mehr gewachsen ist, wäre weniger allgemein gewesen, wenn die Dunkelheit (in der sich bekanntlich am leichtesten die Angst einstellt) weniger allgemein gewesen wäre, die Dunkelheit nämlich über das Wesen der Demonstrative, von dem der deutsche Truppenführer im allgemeinen nur eine sehr unklare Vorstellung hatte. Man hielt es nicht für geboten, kaum für geraten, sich mit diesem Gegenstand eingehender zu befassen, weil man ein Stück der gefürchteten grauen Theorie darin sah. In positiver Weise wurde der Neigung, einfache, groß zügige Entschlüsse zu „erweitern", dadurch Vorschub geleistet, daß man ein solches Erweitern oder Ausbauen irrtümlich mit einer unbezweifelt richtigen Erwägung in Verbindung brachte und dann wie immer auch vermengte und verwechselte, mit dem Gedanken nämlich, daß im Kriege nicht nach Grundsätzen, sondern nach Umständen zu handeln sei, und deshalb die Strategie in
— 69 — ihrer Anwendung ju einer Art des Handelns werde, die sich wohl auch als ein „System der Aushilfen" bezeichnen lasse. Wobei man übersah, daß diese gelegentliche Bezeichnung von Moltke niemals als Definition gemeint war1), sondern nur eine einzelne Eigenschaft hervorheben, nicht das Wesen der Sache erklären sollte. Die Folgerung, daß es nun keine Lehre, keine Grundsätze und Regeln mehr geben solle (die man, um sie in Verruf zu bringen, Rezepte nannte), sondern nur noch Aushilfen, war grundfalsch, obschon ungeheuer bequem. Als Beispiel für eine richtig ver standene Aushilfe sei der Rollenwechsel zwischen entscheidendem und festhaltendem Flügel angeführt, von dem auf S. 20 und 22 die Rede war. (Eine ähnlich verhängnisvolle Wirkung hat im weiteren Kriegsverlauf ein anderes Moltke-Wort ausgeübt: jeder taktische Erfolg — auch wenn er ohne die im Hinblick auf die operative Absicht wünschenswerte strategische Auswirkung bleibt — müsse dankbar angenommen werden. Es bezog sich auf die Schlacht von Spichern, wird aber schwerlich so gemeint gewesen sein, daß es auf den Rahmen und Zusammenhang überhaupt nicht ankomme, womit der operative Gedanke aus der Feldherrnkunst ausscheiden würde. In Raum und Zeit zerstreute taktische Siege sind nicht nur nicht geeignet, einen entscheidenden Erfolg herbeizu führen, sie wirken auf die Dauer schwächend und lassen schließlich von den beiden Gegnern den im Vorteil, der mehr Zeit hat, weil er nicht militärisch der stärkere ist. Das englische Urteil war nur zu berechtigt: die Deutschen gewinnen die Schlachten, aber wir gewinnen den Krieg.) Der Geist bleibt also insoferne der Schuldige, als er, statt sich als Warner aufzupflanzen und den Nebenabsichten, die sich zum Schaden der entscheidenden Havptabsicht vordrängten, die Tür zu weisen, in seiner Schwachheit diese öffnete, und überdies auch noch zum Verführer wurde dadurch, daß er in seiner Un*) Wörtlich schrieb Moltke: „Die Strategie läßt sich in kein anderes System bringen als in das der der Lage angepaßten Aushilfen." Damit wollte er aber nur sagen, baß es für die Strategie ei» System überhaupt nicht gebe noch geben könne. Ein „System" von Aushilfen ist eben kein System. Dem Mißverstehen wäre vorgebeugt gewesen, wenn Moltke gesagt hätte: Die Strategie ist ein Handeln nach Umständen.
— 7o — klarheit das militärische Denken von heilsamen Wahrheiten weg auf die Jrrpfade einer halben und deshalb falschen Theorie leitete, weil er vor einer ganjen jurückscheute. Geleitet hatte, muß es aber heißen, und geöffnet hatte; denn als der Krieg aus brach, wurde nur geerntet, was gesäet war. Im Kriege ist die Geistlosigkeit offenbar geworden, sie hat von Anfang an den kriegsentscheidenden Erfolg im Westen vereitelt — großgezogen und wirksam geworden war sie schon vorher; und anderes kann auch nie offenbar werden, als was im Verborgenen schon vorhanden war.
Zweiter Teil: Die Friedensschule. In der Kriegführung sind wir die Lehrmeister der ganzen Welt gewesen und nun haben wir die letzte Prüfung selbst nicht bestanden. Wie war das möglich? Von Rückschritt und Ver fall war nach außen nichts sichtbar geworden, ja kaum nach innen. Schliessen lebte bis zum Anfang des Jahres 1913 und hatte nicht viel früher seine schriftstellerische Tätigkeit eingestellt. Auch nach seinem Ausscheiden als Generalstabschef im Jahre 1906 blieb sein Einfluß auf die deutsche Führerschaft — und sicherlich auch auf die feindliche — bedeutend. Trotzdem waren schon lange vorher zugleich destruktive Geistesmächte am Werk, die sich auch hier für die fortschrittlichen hielten, aber nicht er kannt und deshalb nicht bekämpft wurden. Nur unter der Ober fläche vollzog sich auch die Fortentwicklung der deutschen Kriegs kunst als ein Kampf zwischen Licht und Finsternis, das Zünglein an der Wage ging hin und her und schlug nach der negativen Seite aus, als der Krieg ausbrach. Es darf aber auch hier nicht verschwiegen werden, daß sich diese Schuld nur deshalb so fürch terlich gerächt hat, weil wir zugleich ganz mangelhaft gerüstet waren. Auf gewisse Unzulänglichkeiten und Einseitigkeiten in den Grundgedanken über die Erfordernisse der Kriegführung ist schon im ersten Teil hingewiesen worden. Sie beeinflußten die Vorstellung, die man sich von der Bedeutung der Führung und damit von den Zielen der Führerausbildung machte. Je höher die Führung bewertet wird, um so höhere Anforderungen müssen an diese Ausbildung gestellt werden. Nicht als ob die deutsche Führerschaft ohne gründliche Ausbildung geblieben wäre, aber ausschlaggebend war, in welchem Geiste diese Schulung sich vollzog. Ihm müssen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Die
— 72 — geistige Gesamtverfassung, das Geistesleben im Heere ist der Boden, dem nicht nur alle Vorschriften und Lehren als Grundlagen des Handelns, sondern auch die Handelnden selbst entwachsen bis hinauf zum Feldherrn, der das Heeresinstrument als Ganzes zu handhaben berufen ist. Da der Feldherr geboren wird, handelt es sich freilich weniger um seine Heranbildung als um seine Auf findung, und es ist immer nur ein kleiner Kreis, aus dem sich der Oberste Kriegsherr seinen Feldherrn wählen kann. Aber dieser kleine Kreis ist das Endergebnis einer vielfachen Auslese unter
Mitwirkung einer großen Zahl von Auslesenden. Es hängt des halb vom geistigen Höhenstand der Gesamtheit ab, ob das Genie früher, später oder gar nicht dahin kommt, wo es gefunden werden
kann und schließlich wirklich gefunden wird. Einen Einblick in das Geistesleben im deutschen Heere ge währt uns die Lehre von der Feuerüberlegenheit, die geraume Zeit hindurch zum Hauptschlagwort der taktischen Kritik geworden war. Vordem hatte man das Wesen des Jnfanterie-AngriffS in der Verbindung von Feuer und Bewegung gesehen, nunmehr wurde dieser Grundgedanke durch den andern ersetzt, daß der Infanterie-Angriff nur möglich sei, wenn es vorher (!) gelungen wäre, die Feuerüberlegenheit zu erringen. Damit «ar zunächst ein Schritt rückwärts gemacht, insoferne man mit dem Wort „Angriff" nicht mehr den ganzen Annäherungsakt innerhalb des feindlichen Wirkungsbereichs bezeichnete, sondern nur noch seinen letzten Teil, den mehr oder minder feuerlosen Nahangriff. Den Begriff der Feuerüberlegenheit aber hatte man von der Artillerie übernommen, das Ganze «ar artilleristisch gedacht, «nd nicht nur artilleristisch, sondern auch materialistisch oder mechanistisch, d. h. ohne Berücksichtigung des seelischen Moments, das beim Infanterie-Angriff den Ausschlag gab. Natürlich war im offenen Gelände ohne Feuer keine Annäherung möglich, aber nicht allein das Feuer, auch die Annäherung brachte dem Verteidiger Verluste, wenn schon nur moralische, die jedoch auch seine Feuerwirkung dämpften — und dem Angreifer moralischen Gewinn. Die Schlacht war aber „mehr ein Totschlägen des feindlichen Mutes als der feindlichen Krieges. — Einmütig betonten alle Vorschriften
— 73 — die conditio sine qua non der Feuerüberlegenheit für die Durch führbarkeit des Infanterie-Angriffes und ebenso einmütig schwie gen sie sich darüber aus, wie sie zu erlangen sei. Aber Schlichting trat für sie ein1) und gab den gewünschten Aufschluß an schließend an die Feststellung, daß „bei Anwendung eines Visiers mannshohe Ziele auf eine Strecke von 500 m der Geschoßwirkung unterliegen": „Wir haben aus dieser Tatsache bereits gefolgert, daß völlig unbedeckte Räume für den Angriff so lange durchaus unbetretbar sind, bis er die Feuerüberlegenheit durch entsprechende Führungsmittel (!) erworben hat. Worin dieselben bestehen, werden allemal die operativen (!) Umstände zu entscheiden haben. Ganz allgemein seien sie genannt: Bedrohung der Flanke, durch welche die Front an Stärke einbüßt, überlegene Artillerie-Ver wendung, Herbeiführung konzentrischer Feuerwirkungen, Zu hilfenahme der Nacht und in ihr des Spatens." Ist es Über treibung, wenn man angesichts solcher Sätze geistige Verwilde rung, ja geistigen Sansculottismus fesistellt? Nebenbei zeigen sie mit aller Deutlichkeit, daß es für den Angreifer gar nicht mög lich war, die infanteristische Feuerüberlegenheit zu erlangen, auch mit „Führungsmitteln" nicht — denn daß es mit Kampfmitteln nicht gelingen konnte, wird mit Recht vorausgesetzt. „Konzen trische Feuerwirkung" war gegen längere Frontstücke nicht mög lich, gegen kurze wertlos. Was sonst noch vorgeschlagen wird, sind nicht Mittel, um die infanteristische Feuerüberlegenheit her beizuführen, sondern um sie überflüssig zu machen. Schlamperei wirkt immer unheilvoll, auch als Attribut der Genia lität, als das sie manchmal vorkommt, manchmal angenommen wird. Sie wirkt unheilvoll schon durch das schlechte Beispiel, das sie ganz im allgemeinen gibt. Wie die Friedensschule in den Krieg ausmündet, so kann sie auch ihren Ursprung nur im Krieg haben, wobei die Haupt quellen immer die neuesten und unter diesen wieder die selbst geführten Kriege sind. Da aber die Erfahrungen des letzten selbstgeführten Krieges als Erfahrungen am eigenen Leibe am *) „Taktische und strategische Grundsätze der Gegenwart". Mittler & Sohn, Berlin 1896. S. 68.
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unmittelbarsten und lebhaftesten empfunden werden und jum Teil rein gefühlsmäßig sich auswirken, so besteht die Gefahr, daß ihnen eine überragende Bedeutung vor fremden Erfahrungen jvgemessen wird, die sachlich nicht gerechtfertigt ist. Daß die Österreicher im Jahre 1866 nicht zuletzt den falschen Schlußfolge rungen erlegen sind, die sie aus dem Kriege von 1859 gezogen hatten, ist nur eines der bekanntesten Beispiele dafür. Dabei «ar 1859 ein verlorener Krieg. Über die verderblichen Folgen siegreicher Kriege könnten Bände geschrieben werden mit dem Motto: Erfahrung macht klug, aber nur der Kluge macht Er fahrung. Die jüngste Kriegsgeschichte ist nicht nur die lehr reichste, sondern auch die gefährlichste. Unter dem Einflüsse Schlichtings sprachen sich unsere Vor schriften zur Gefechtsentwicklung dahin aus, daß die kleineren infanteristischen Verbände, insonderheit die Bataillone, ihre Untereinheiten „nach Bedarf", also nacheinander einsetzen sollten. In der Regel sei diesem Verfahren vor dem gleichzeitigen Aus einanderziehen der Vorzug zu geben. Als Regel galt das Be gegnungsgefecht, und für diesen Fall «ar die Anweisung zweifellos richtig, im Hinblick auf gewisse Neigungen zu schematischem Ver halten auch wohl begründet. Vom sukzessiven Einsatz sagte Schlichting selbst*), daß er „für die Mehrzahl aller Gefechte und Schlachten unserer letzten Kriege und in ihnen für die überwiegende Mehrzahl der Bataillone das zutreffende gewesen sei." Auch hierin wird ihm beizupflichten sein; nur durfte, je länger der Friede wähtte, um so weniger die allgemeinste Lehre der Kriegsgeschichte übersehen werden, daß kein Krieg dem letzten gleicht, zumal im Zeitalter der Technik, deren Fortschritte gerade an die Kampf führung, und an diese in erster Linie, stets neue Anforderungen stellen. Die Betonung der Ausbildung zum Begegnungsgefecht barg noch eine andere Gefahr: Die an den Führer zu stellende allgemeine Forderung, daß er sich baldigst eine bestimmte Ge fechtsabsicht bildet, die in einer ebensolchen Gefechtsanlage ihren Ausdruck findet, wird in den Hintergrund geschoben. Bleibt sie dort im Einzelfall zu lange, so kann sie leicht vergessen, oder die *) a. a. O.
— 75 Zeit versäumt werden, in der sie noch erfüllbar ist. Die Versuchung, länger als nötig von der Hand in den Mund zu leben, den Er eignissen ihren Lauf ju lassen, kann übermächtig werden und schließ lich dazu führen, vom Gegner das Gesetz anzunehmen, bestenfalls mit dem Ergebnis gleichmäßiger Kräfteverteilung. Die Führung ist dann ein Opfer der Zwangsläufigkeit geworden. Die deutsche Operationsmethode, die allerdings nicht diesen Namen führte und den weiteren Kreisen erst durch Schlichting bekannt wurde, setzte für die Offensive grundsätzlich alle Korps nebeneinander, mit Zwischenräumen, die etwa das Drei- bis Vierfache ihrer Gefechtsbreite betrugen. Dieses Verfahren, das dem Armeeführer die Möglichkeit bot, seine Kräfte für die Schlacht je nach dem taktischen Bedürfnis zusammenzuziehen und den Schwerpunkt dahin oder dorthin ju verlegen, war in den Kriegen von 1866 und 1870 durch die Verhältnisse nahegelegt gewesen. Als deutsche Operationsmethode aber, als die es Ende 1912 offiziell bestätigt wurde *), war es zu einer Versteinerung der in jenen Kriegen mit Recht bevorzugten Form geworden. — Es bestand ferner ein gewisser Zusammenhang zwischen dieser histo rischen Form und der Geneigtheit ihres Schöpfers, des damaligen Generalsiabschefs, die nächsten Untereinheiten, also die Armeen, am langen Zügel gehen zu lassen, ja ihnen gegen seine Überzeugung nachzugeben; wenn er sich auch anderseits nicht scheute, gelegentlich über einzelne Korps zu verfügen. Und ebenso bestand ein gewisser Zusammenhang zwischen der von Schliessen immer wieder be tonten Notwendigkeit unbedingter Ein- und Unterordnung auch der Armeeführer (Heeresgruppenführer) nicht nur unter die Ab sichten, sondern unter die Befehle der Heeresleitung, und der nach seiner Überzeugung bestehenden Notwendigkeit, im kommenden Kriege unter Umständen auch andere als die von Moltke über kommenen operativen Formen und Methoden anzuwenden. 1914 wurde aber wie an diesen letzteren, so im allgemeinen auch ') „Einige Bemerkungen, ju denen das letzte Kaisermanöver Anlaß gegeben hat", ans Befehl des Kaisers vom Generalstabschef der Arme« bekannt gegeben «ater Nr. 18090 vom 5. Dezember 1912. Der einschlägige Wortlaut folgt weiter unten.
— 76 — an der von dem älteren Moltke bevorzugten Art der Einwirkung auf die nächsten Unterführer durch Direktiven festgehalten, wofür wir schon S. 9 das erste Beispiel kennengelernt haben. Der O.H.L. gegenüber ist der Oberbefehlshaber als Führer einer Armee oder Heeresgruppe Unterführer im vollen Sinne des Wortes ohne jede Einschränkung, wenn schon in der Vorkriegszeit wie auch im Kriege dieses Verhältnis zeitweilig in Frage gestellt wurde, und eine weniger strenge, d. h. präzise Auffassung sich durchsetzen konnte. Anderseits muß aber der Oberbefehlshaber wie der höhere Truppenführer überhaupt strategisches Verständnis besitzen, um die Aufträge, die ihm gestellt werden, unter allen Umständen sinngemäß ausführen zu können; abgesehen davon, daß jeder Unterführer in die Lage kommen kann, selbständig handeln zu müssen, also je nachdem auch sein eigener Oberbefehlshaber oder seine eigene O.H.L. zu sein. Von dem in der Vorkriegszeit zur Abwehr unziemlicher Gedankenflüge beliebten Wort: „Seine Majestät braucht nur einen Strategen, und der sind weder Sie noch ich" war der erste Teil zweifellos falsch. — Die Verhältnisse, nicht irgendeine theoretische Überzeugung, haben Friedrich d. Gr. zum Meister im Gebrauch der Minderzahl und ihres Siegesmittels, des Flankenangriffs, gemacht und Moltke zum Meister im Ge brauch der Überzahl und ihres Siegesmittels, der doppelten Umfassung. In der Vernichtungsschlacht soll dem Feind der Rück zug abgeschnitten werden. Wenn seine Front nicht zu lang ist, kann sie hiezu ohne weiteres umzingelt werden (Cannä, Sedan). Sonst muß dem Gegner durch den Marsch in seine Flanke erst eine kürzere Front abgewonnen werden (Leuthen, Roßbach). Taktisch will auch der Flankenangriff nichts anderes als die Um zingelung — nur daß sie erst im zweiten Akt geschieht *); er will x) Der Verfasser von „Cannä" vertrat die Ansicht, daß die Fesselung der Front für eine wirksame Umfassung unerläßlich sei, Bernhardt — in der „Taktik und Ausbildung der Infanterie" — behauptete das Gegenteil unter Berufung auf Roßbach und Leuthen. Der Widerspruch war aber nur scheinbar, tatsächlich hatten beide recht: Schliessen hatte mit Bezug auf Leuthen den zweiten, eigent lichen, Schlachtenakt im Auge, wo gleichzeitig mit der Umfassung auch erst die Fesselung der neuen, kürzeren feindlichen Front in die Erscheinung tritt, wäh rend Bernhardi an den ersten, vorbereitenden oder einleitenden Akt dachte. Nur hätte er eine Schlachtanlage nach dem Beispiel von Leuthen vielleicht besser als
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sie möglich machen für einen an Zahl Schwächeren; der Stärkere braucht diesen Umweg nicht, weil er von Hanse ans die längere Front hat, er braucht nur gerade auf den Feind loszugehen, um
ihn auf einer oder auch auf beiden Seiten zu umfassen. Was
folgt daraus? Daß der Stärkere selbst für die doppelte Umfassung mit dem kunstloseren Verfahren auskommt, und der Flanken angriff — wenn dieser Ausdruck gestattet ist — an das strategische Evolutionieren oder Exerzieren die höheren Anforderungen stellt, damit aber auch an die Exaktheit, Straffheit und strenge Bündig keit der Befehlsgebung. Schliessen rechnete damit, als der zahlen mäßig Schwächere siegen zu müssen. — Im Jahre 1866 gelang die Vereinigung der Kräfte in der Entscheidungsschlacht, ohne daß Moltke mit dieser Möglichkeit von Anfang an gerechnet hatte, wenn ihm auch eine solche Vereinigung als das höchste erreichbare Ziel vorschwebte. Angestrebt hat er es erst, nachdem es durch den Lauf der Ereignisse in greifbare Nähe gerückt war, und vier Jahre später lag ihm die Vereinigung von Hause aus so sehr am Herzen, daß er sogar räumliche Einbuße dafür in Kauf zu nehmen gewillt war (durch teilweises Zurückverlegen des strategischen Aufmarsches hinter den Rhein). Das Wort vom „getrennt Marschieren, vereint Schlagen" lebte aber fort, und ob es nicht auch noch im Jahre 1914 die Absicht beeinflußt hat, die beiden deutschen Flügel hinter der französischen Sperrlinie zu vereinigen T), mag dahin gestellt bleiben. Die letzten Ausführungen (von S. 74) an lassen erkennen, daß gleichzeitig die Neigung aufkam, auf dem Gebiet der Taktik, und zwar besonders der niederen oder Kampftaktik, den Führern immer mehr Spielraum zu lassen, und die Strategie an gewisse Formen zu binden, beides unter Berufung auf den Verlauf der zwei letzten deutschen Kriege. Für den Kampf, für den eine gewisse Gesetzlichkeit unerläßlich ist, scheute man sich, feste Anweisungen zu geben mit dem Erfolg, daß die Meinungen der Vorgesetzten
Flankenangriff statt als Umfassung bezeichnet, woraus sich wieder einmal das Bedürfnis fester Begriffsbestimmungen erweist, die nach Clausewitz allein schon eine Theorie notwendig machen oder vielmehr eine solche notwendige Theorie bereits sind. *) Dgl. S. zi.
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zu Richtlinien wurden, deren Auseinanderlaufen dem Zusammen arbeiten benachbarter oder ineinander eingeschobener Verbände wenig förderlich war. Dagegen zeigte sich schon bei der Ausbildung in der Gefechtstaktik die Neigung, den Nachdruck auf die Führungs technik zu legen. Diese Neigung entsprang hauptsächlich der bewußten Ablehnung der Unterscheidung von Kampf und Ge fecht, daneben allerdings auch einer Besorgnis, die an sich nicht unbegründet ist: Die Betonung des Umstandes, daß die Ge fechtsführung in der freien Verwendung der Kräfte gipfelt, kann den Anfänger dazu verleiten, das technische Moment (im weitesten Sinne) zu vernachlässigen, womit die Freiheit in Zügel losigkeit und schädlichen Dilletantismus ausartet. In der ope rativen Kriegführung endlich hing man einem Methodismus an, den man für etwas Natürliches oder Alleinmögliches hielt. — Das Umgekehrte wäre das Richtige gewesen. Feste Regeln für den Kampf, Grundsätze für das Gefecht, volle Freiheit für die Operation. So hatte auch Clausewitz gelehrt: „Die Methode wird mehr in der Taktik als in der Strategie zu Hause sein. Die Taktik ist derjenige Teil der Kriegführung, in dem die Theorie am meisten zur positiven Lehre gelangen kann ... sie wird der Theorie viel weniger Schwierigkeiten machen als die Strategie." Indem man diese Wahrheit auf den Kopf stellte, wurde auf beiden Gebieten eine gewisse geistige Bedürfnislosigkeit großgezogen und hinter führungstechnischen Gedankengängen verborgen, die an sich nicht ohne Berechtigung waren und durch ihre Wasser klarheit auf die weitesten Kreise anziehend wirkten. Und diese Bedürfnislosigkeit hatte schädliche Verallgemeinerungen zur Folge, auch in der Taktik. Nur waren es hier schädliche Verallgemeine rungen, die, wie schon angedeutet, nützlichen im Wege standen. Zu den letzteren gehörte im weiteren Sinne auch die grund legende Unterscheidung zwischen Dezisive und Demonstrative wie die schon erwähnte zwischen Kampf und Gefecht. Die Notwendig keit, zu klaren Vorstellungen zu kommen und sich über Namen und Begriffe zu verständigen, besteht, wie Clausewitz meint, nicht so sehr für das Handeln des einzelnen, sondern weil es im Rahmen der Truppenführung immer wieder auch darauf an-
— 79 — kommt, sich mit anderen tu verständigen und andere zn über zeugen J). Wir möchten indessen glauben, daß klare allgemeine Vorstellungen und Begriffe doch auch für die Entschlußfassung des einzelnen eine kaum zu entbehrende Grundlage und ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel sind, selbst wenn es früher anders gewesen sein sollte. Dagegen gilt zweifellos jetzt noch, daß man „den untersten Führern mit dem Methodismus entgegenkommen" muß, und zu den Vorbedingungen eines brauchbaren Methodis mus auch klare Begriffe gehören, die somit in mehr als einer Richtung unentbehrlich sind. Als aber Scherff3*)* den Männern der Tat solche feste Begriffe für die von ihnen zu leistende Gedanken arbeit anbot, wurden sie ebenso belächelt und überflüssig befunden, wie vorher der — von seinen Gegnern so genannte — Normal angriff. Man wollte sich in alledem lieber auf den gesunden Menschenverstand verlassen, der bekanntlich „das am gleichmäßig sten verteilte Gut" ist: es hat sich noch keiner darüber beklagt, bei der Verteilung zu kurz gekommen zu sein. Diese Geringschätzung war mit schuld, daß der von Schlichtingischen Wassersuppen kümmerlich genährte Geist der deutschen Truppenführung die Belastungsprobe des Weltkrieges nicht bestanden hat. Zwar hielt auch Schlichting eine Theorie für „dauernd nicht entbehrlich" — das soll nicht verschwiegen sein. Aber „wehe der Theorie, die sich mit dem Geist in Opposition setzt! Sie kann diesen Wider spruch durch keine Demut gutmachen, und je demütiger sie ist, um so mehr wird Spott und Verachtung sie aus dem wirklichen Leben verdrängen"3). Das letzte war nun freilich nicht geschehen. Dafür hat der Weltkrieg mittelbar die Gedanken Scherffs gerecht fertigt. Da man der Unterscheidung von Kampf und Gefecht keine praktische Bedeutung beimaß, hielt man auch die Ausbildung und Führerschulung für beides nicht auseinander und dies führte *) Dgl. S. 76 Fußnote. *) Preuß. General und hervorragender Militärschriftsteller namentlich auf taktischem Gebiet. Forderte bestimmte Begriffe (Dezifive, Demonstrative, Kampf und Gefecht) als Unterlage für die Erwägungen im Einzelfall und feste Normen für die Kampfführung. 3) Clausewitz. „Dom Kriege". 2. Buch, 2. Kap., Ziff. 13, Schlußsatz.
— 8o zu einer Gepflogenheit, die zusammen mit der typischen Be schaffenheit des alten Exerzierplatzes das taktische Denken unvor teilhaft beeinflußt hat. Es war die unter dem Zwang leitungs technischer Schwierigkeiten entstandene Gewohnheit, in der Auf gabestellung kleine und kleinste Einheiten als allein dastehende, also selbständig auftretende Truppenkörper anzunehmen, ohne aus dieser Isolierung die Konsequenzen für die Ge fechtsführung zu ziehen — um Kampfführung im Sinne Scherffs, wozu diese Einheiten im Kriege fast ausnahmslos be rufen sind, konnte es sich infolge ihrer Vereinzelung von vorn herein nicht handeln. Aus der richtigen Empfindung, daß solche Verbände eigentlich Wichtigeres zu lernen hätten, erwuchs die Neigung, ein Auge zuzudrücken, wenn sie sich trotz ihrer Verlassen heit von den Grundsätzen leiten ließen, die das Reglement für den eingerahmten Kampf aufstellte, leider ohne sie als solche überall ausdrücklich hervorzuheben *). Die Gefahr lag um so näher, je kleiner die Einheit war. Immer wieder war die Kom pagnie auf sich allein gestellt und immer wieder griff sie an, wie wenn sie im Verband stünde, ohne deshalb getadelt zu werden. Mit schuld war, wie gesagt der nackte, von „ungangbarem" Ge lände umschlossene Exerzierplatz, der dem Führer gar keine andere Wahl ließ als dem Feind, mit dem er auf dieser kahlen Insel zu sammengesperrt war, geradewegs auf den Leib zu rücken. Was hatte aber die Inkonsequenz, Gefechtsaufgaben zu stellen und sich mit Kampflösungen zu begnügen, für Folgen? Sie hat ganz allgemein dazu beigetragen, daß uns die Formen der Vernichtungsschlacht etwas Fernliegendes und Fremdes blieben, und mit den Vernichtungsformen im allgemeinen die Demonstrative im besonderen.
Wenn Clausewitz sagte, die Lehre vom Gefecht (der Schlacht) sei die Lehre von den Flanken, so konnte man hundert Jahre später wohl mit gleichem Recht behaupten, die Lehre vom Gefecht sei die Lehre von der Demonstrative. Clausewitz sprach von der T) Dgl. S. 73. Es ist kein Zufall, wenn wir der wenig präzisen Ausdrucks weise, die in den Ausführungen Schlichtings festzustellen war, ab und zu auch im Jnf.-Ex.-Rglt. aus der damaligen Zeit begegnen.
— 8i — „Demonstration" noch nicht viel: sie soll den Feind „beschäftigen", oder „zu falschen Maßnahmen verleiten, mit anderen Worten ihm ein Scheingefecht liefern, wo er einen Punkt nicht verlassen oder auf einen andern sich wenden soll. Daß sich dieser Zweck nur offensiv denken läßt, liegt in der Natur der Sache". Zum Vollbegriff der Demonstrative, wie er später von Scherff und an deren entwickelt wurde, ohne Gemeingut der Führerschaft zu werden, war er noch nicht durchgedrungen, weil sie ju seiner Zeit eine untergeordnete Rolle spielte; dem Wesen und der Ab sicht nach ist sie freilich immer dagewesen, so oft die primitiven Zustände einer Übergangszeit einer neuen Kultur gewichen waren; es braucht nur an Cannä, Leuthen und Austerlitz erinnert zu werden. Aber erst mit der neuzeitlichen Waffenwirkung und den verlängerten Kampflinien reifte sie zu dem heran, was sie zu Beginn des Weltkrieges war oder doch hätte sein können, und ge wann die charakteristischen Merkmale, die im Swiepwald und in Bazeilles aus örtlichen Gründen nur wenig, bei VionvilleMars-la-Tour aber schon deutlicher hervortraten. Die ganze Krieg führung in Ostafrika von 1914—1918 war bewußte und klar er faßte Demonstrative. Nur in der Heimat wagte man sich nicht daran — schon vor dem Kriege. In Kriegsspielen u. dgl. kam sie nur selten zu ihrem Recht, bei Truppenübungen war sie fast ganz gemieden. Warum? Weil man sich nicht darauf verstand; weil man — es klingt unglaubhaft — von dem Mittel der Demon strative keine Kenntnis hatte. Man sah es — und leider hatte dieser Irrtum auch Eingang in die Dienstvorschriften gefunden — in einem künstlich verhaltenen oder verzögerten Herangehen an den Feind, in einem sog. Scheinkampf, von dem man nicht mit Unrecht einen schädlichen Einfluß auf die Truppe befürchtete. Der Begriff der Demonstrative steckt aber allein in der Absicht (die ein höherer Führer damit verbindet) und gar nicht im Ver halten der eingesetzten Truppe. Und das Mittel der Demon strative ist sukzessiver Kräfteeinsatz bei dezisiver Aufgabestellung, so daß immer nur der Führer „demonstriert", nie die Truppe, die vielmehr stets Ernst macht. Für den Führer aber ist Demonstrative der bewußte Einsatz einer Minderheit gegen eine Mehrheit. Wachter, Krieg und Geist.
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Damit von ihr im großen wie im kleinen wirksamer Gebrauch gemacht werden konnte, mußte sie den Truppenführern ebenso vertraut sein wie die Dezisive, und zwar auch den unteren schon deshalb, damit sie nicht aus Unkenntnis das Vertrauen zu ihren Vorgesetzten verloren. Im Gegenteil mußten sie befähigt sein, nötigenfalls auch schädlichen Eindrücken auf die Truppe zu begegnen durch Aufklärung darüber, daß ihr Kampf kein aus sichtsloses Unternehmen, sondern ein überlegtes Siegesmittel sei. In den schon erwähnten „Bemerkungen" des Generalstabs chefs der Armee vom Dezember 1912 finden sich folgende Sätze: „Wo die Entscheidung gesucht wird, müssen die stärksten Kräfte eingesetzt werden; ohne Rücksicht auf Hilferufe von anderer Stelle, an der gegen Überlegenheit gekämpft wird. Dort muß jeder wissen: „Je mehr Feinde er durch seinen Angriff festhält, desto mehr trägt er zum Gesamterfolge bei" ... Armeen marschieren in breiter Front. Die Umstände werden ergeben, ob die Entscheidung durch Angriff in dieser Breite oder durch Zusammenfassen der Kräfte gegen einen feindlichen Flügel zu suchen ist. In jedem Falle muß das Armee-Oberkommando den Unterführern unbedingt seine Kampfabsicht aussprechen ... Das Armee-Ober kommando findet in der Zuteilung verschieden breiter Gefechts streifen das Mittel, die Durchführung des Kampfes in seinem Sinne zu beeinflussen." Damit ist klar ausgesprochen, daß keine Gefechtsanlage der Demonstrative entbehren kann, vielmehr der wesentliche In halt jeder Gefechtsdisposttion eine Ausscheidung der Kräfte ist, die dem einen Teil die Entscheidung, dem andern das Kräfte binden überträgt (ohne daß diese zwei Teile immer in fich zusammen hängen müßten). Mit Recht wird von jedem, der zum Festhalten berufen ist, gefordert, daß er wisse, warum es sich handelt. Wird sich aber gerade diese Einsicht in den Stunden der Entscheidung überall durchsetzen, wenn sonst in der Behandlung des Gegen standes allgemein und namentlich auch im Anschauungsunterricht der Übungspraxis so große Zurückhaltung geübt wird, wie es tatsächlich der Fall war; und wenn der Anschauungsunterricht nicht auch durch eingehende Belehrung unterstützt wird? Kann
-Sa rnau sich überhaupt mit Aussicht auf Erfolg auf einen Grund gedanken stützen, der nur ausnahmsweise erwähnt und auch dann nicht mit Namen genannt wird, nur deshalb, weil er eben Grundgedanke ist, d. h. eine allgemeine Wahrheit ausspricht? — Die Anweisung für Anmarsch und Gefechtsführung der Armeen unterscheidet nicht zwischen Armeen, die allein auftreten, wie es in den Kaisermanövern die ausnahmslose Regel bildete, und solchen die mit andern zusammen operieren, wie es fast ebenso ausnahms lose Regel im Ernstfall ist. Die Fassung dürfte aber keinen Zweifel lassen, daß die Anweisung für beide Fälle gelten soll. Solche Zusammenfassung geht jedoch immer auf Kosten der Klarheit und birgt gegebenenfalls noch besondere Gefahren: Es wird der Unterschied verwischt, den es für die Gefechtsführung ausmacht, ob ein Verband als Teil eines Ganzen handelt oder selbst das Ganze ist, ein Unterschied von grundlegender Bedeutung, der nie genug betont werden kann. Weiterhin ist die Zusammenfassung ge eignet, den Umstand zu verdunkeln, daß es auch für die Armee das wichtigste ist, darüber klar zu sein, wie sie als Teil eines Ganzen zu handeln hat, wenn auch der Fall des Alleinseins die höheren Anforderungen stellt. Und endlich wird durch die Zusammen fassung die Einsicht in den Hintergrund gerückt, daß eine Armee, die mit anderen zusammen operiert, Untereinheit ist. In diesem Falle wird in der Regel ganzen Armeen entweder die Aufgabe der Entscheidung oder des Festhaltens zufallen, womit nicht gesagt ist, daß sie hiezu in sich ihre Kräfte stets gleichmäßig ver teilen muß. Absurd wäre nur, wenn sich jede Armee ohne Rück sicht auf das Ganze in einen Dezisiv- und DemonstrativFlügel gliedern wollte; aber auch nicht absurder, als wenn ein gerahmte Verbände in der „schiefen Schlachtordnung" Friedrichs d. Gr. avgreifev, wie es im Jahre 1806 tatsächlich geschehen ist. Es gibt aber Selbstverständlichkeiten, die dennoch ausgesprochen, ja immer wieder gesagt werden müssen, weil die Selbstverständlich keit für jeden andere Grenzen hat, je nach der Selbständigkeit seines Urteils. Den Ausgleich muß die Lehre schaffen. — Wer diese Ausführungen übertrieben oder unbegründet findet, der sei auf das Beispiel im ersten Teil (S. 45) verwiesen, wo sich
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von jwei Nachbararmeen zuerst eine jede so verhalten wollte, wie wenn fle allein ans der Welt wäre. Jede wollte rechts um# fassen, jede in einen entscheidenden und fesihaltenden Flügel sich gliedern, ins Lineartaktische übersetzt: jede wollte für sich allein „in der schiefen Schlachtordnung" angreifen. Und als sich auf der einen Seite das Bedürfnis des gemeinsamen Handelns fühlbar machte, wurde es durch die Verhältnisse sofort darüber hinausgeführt zum Bedürfnis eines gemeinsamen Führers. Könnte es ein schöneres Beispiel dafür geben, daß es die zwingende Macht der Tatsachen ist, die hinter diesem Bedürfnis steht, m. a. W. daß Führung eine naturgesetzliche Notwendigkeit ist und durch Einvernehmen nicht ersetzt werden kann (in den größten Verhältnissen — schon wegen der größeren Verantwortung — noch weniger als in den kleineren)? Viel mehr gllt auch hier, daß Einigung nur durch gemeinsame Unter werfung unter ein Drittes, Höheres, zustande kommen kann, sei es ein inneres oder ein äußeres. Wo aber zu äußeren Zwecken Einigung sein muß, da muß, solange Irren menschlich ist, das höhere Dritte auch ein äußeres, ein Machtspruch sein, kein bloßer Überzeugungsgrund — zumal in der Kriegführung, die aus der Nacht in den Tag arbeitet, weil erst die Tat daS Licht bringt. Da im Kriege nach Umständen und nicht nach Grundsätzen zu handeln ist, müssen gerade die einleuchtendsten, fundamentalsten Grundsätze bei falscher Einschätzung der Lage am gefährlichsten werden. Der unbestrittene Satz, -aß es im Kriege zuerst darauf ankommt, die lebenden Streitkräfte des Gegners unschädlich zu machen und nicht Gelände in Besitz zu nehmen, hat im letzten Kriege ans deutscher Seite gewiß keine übermäßige Beachtung gefunden. Sollte er in einem Einzelfall gleichwohl zum Verführer geworden sein und den Entschluß erleichtert haben, an der „Festung" Paris vorbeizugehen? Grundsätze sind schätzbare Werkzeuge für die vom Truppen führer anzustellenden Erwägungen, brauchbares Material und Gerüste für den eigenen Gedankenbau; sie bieten eine feste Unter lage, sind das Sprungbrett, von dem man sich leichter zur Höhe der Situation aufschwingt. Es ist etwas anderes, bewußt von
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Grundsätzen abweichen und solche gar nicht zu Rat jiehen. Das erstere gibt der Entschlußfassung die größere Sicherheit. „Nur der Besitz (der Regel) gibt die Freiheit". Grundsätze sind also gute Diener, aber schlechte Herren. Das muß auch die Kritik beachten, sie darf Grundsätze niemals, wie Clausewitz sagt, „als Gesetze und Normen jum Maßstab gebrauchen, sondern nur als das, was sie auch dem Handelnden sein sollen, als Anhalt für das Urteil". Gegen diese gute Lehre ist in den letzten drei Jahrzehnten vielleicht mehr gesündigt worden als gegen irgendeine andere. Es war weithin zur Gewohnheit geworden, den Grundsatz als einzigen Maßstab an den Entschluß anzulegen. Statt zu prüfen, warum von einem Grundsatz abgewichen worden war, begnügte man sich mit der Feststellung, daß dies geschehen sei, und begründete darauf die Ablehnung des Entschlusses. Mit der Feststellung der Abweichung vom Grundsatz hätte die Kritik aber nicht auf hören, sondern anfangen müssen. Der Feststellung mußte die Frage nach den Gründen der Abweichung folgen, und die Prüfung der Gründe den eigentlichen Inhalt der Kritik bilden. Für das fehlsame Verfahren seien drei Beispiele aus den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Weltkrieg angeführt und folgendes vorausgeschickt. Von den Beurteilten war einer Regiments kommandeur, der zweite im Generalstab gewesen, der dritte hatte die Kriegsakademie besucht: es durfte angenommen werden, daß ihnen die wichtigsten taktischen Grundsätze nicht unbekannt waren. Es ist aber keiner gefragt worden, warum er sie nicht be folgt habe. Die Kritiker waren durch den Generalstab gegangen und beschlossen ihre militärische Laufbahn in Stellungen, die vom Divisionskommandeur bis zum Oberbefehlshaber reichten. Eine von Osten gekommene, rastende Vorhut hat 1 Kom pagnie an den Westfuß eines Hügels vorausgeschickt, um Artillerie zu sichern, die auf dem Hügel auffahren soll. Beim Eintreffen an seinem Bestimmungsort sieht der Kompagnieführer, daß ihm gegen West und Südwest, von wo feindliche Infanterie im An marsch gemeldet ist, auf 6—800 m zwei Wäldchen gegenüberliegen, und das Gelände zwischen beiden auch nur bis 1000, höchstens i2oo m offen ist. Als Stellungen findet er zwei kurze, aber über-
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mannshohe Dämme vor, die durch einen nach vorne unersteiglichen, aber gleichfalls volle Deckung bietenden, 200 m langen Einschnitt miteinander verbunden sind, und von denen der nörd liche Schußrichtung gegen Westen, der südliche Schußrichtung gegen Südwesten hat. Zusammen reichen sie eben für die Schützenentwicklung der ganjen Kompagnie aus, und nur wenn beide zugleich besetzt werden, ist es möglich, einen Gegner sofort unter Feuer zu nehmen, mag er im Westen oder Südwesten sichtbar werden. — Der Führer entwickelte sofort die ganze Kom pagnie in den beiden Stellungen. Man hätte dieser Schützen entwicklung ebensogut den Namen einer gedeckten Aufstellung oder Bereitstellung geben können. Kein Teil der Kompagnie wäre als „Unterstützung" besser zu decken gewesen. — Der Leitende war nicht einverstanden, well in der Verteidigung grundsätzlich Reserven auszuscheiden, und Entwicklungen, ehe die Angriffs richtung erkannt ist, zu vermeiden sind. (Es gab Vorgesetzte, die erklärten, „grundsätzlich" sei gleichbedeutend mit „immer". Dann hätte aber das Wort in den Vorschriften füglich ganz wegbleiben können; es war auch nicht gesagt, daß auf „Marsch"! immer anzutreten sei.) An einem Herbst-Nachmittag marschiert eine Brigade zu 5 Bataillonen durch ausgedehntes Waldgelände, um in ein Gefecht einzugreifen, das in einer Entfernung von etwa 1 Melle im Gange ist. Gleichlaufend mit der Marschstraße und 2—300 m rechts derselben zieht sich der Rand einer steil eingeschnittenen und dicht bewaldeten Talschlucht hin, deren Sohle von dem Bett eines Flusses mit Hindernischarakter ausgefüllt ist. Das Vorhut bataillon hat eine Waldblöße erreicht, die sich vom oberen Schlucht rand nach links hin auf 1800 m ausdehnt, in der Marschrichtung i2oo m tief und in der Mitte, quer zur Straße, von einer flachen, 3 m hohen, 50 m breiten Bodenwelle, mit Gehöft an der Straße, durchzogen ist. Hier ist der Vortrupp aus dem gegenüberliegenden Waldrand angeschossen, deshalb angehalten und entwickelt worden, ebenso die übrigen Kompagnien des Vorhutbataillons. Die feind liche Schützenlinie dehnt sich von der Straße nach rechts und links anscheinend nicht weiter als auf 2—300 m aus. Das Gros
-97fyit den Waldausgang erreicht. (Die reglementäre Gefechtsbreite eines eingerahmten Bataillons beträgt im Angriff 450 m). — Der Brigadeführer gab dem Anfang des Gros die Richtung halb links auf den Anschlußpunkt der Welle an den dortigen Waldrand und befahl die Entwicklung der drei vorderen Bataillone nach rechts heraus in der Weise, daß das vorderste an den linken Flügel kam und das hinterste an die Vorhut anschloß. Dieses hinterste Bataillon sollte, ohne haltzumachen, die Geländewelle über schreiten und angreifen, die zwei vorderen, die ein wenig früher die Deckung erreichen konnten, von dort aus stch anschließen, ebenso das Dorhutbataillon; endlich das fünfte Bataillon an der Straße bis hinter das Gehöft rücken. — Der Leitende hätte vor gezogen, zuerst die ganze Brigade zu entwickeln und dann mit starkem linken Flügel in die Tiefe zu stoßen, das Vorhut bataillon aber bis dahin stch eingraben zu lassen. Ihm waren die örtlichen Verhältnisse die wichtigeren, dem Führer die zeitlichen. Aus zwei Gründen stellte dieser die Schnelligkeit des Handelns über alles andere: weil stch der Feind am Waldrande leicht noch verstärken konnte, und weil jeder Aufenthalt die Möglichkeit ver größerte, zu spät auf das Gefechtsfeld zu kommen. Eine Armee steht mit Front nach Norden hinter einem von West nach Ost streichenden, flach eingesenkten, etwa y, km breiten Bachabschnitt im Feuerkampf mit einem Gegner jenseits des Ab schnittes. Hinter dem linken Flügel stnd Verstärkungen im An marsch, nach deren Eintreffen angegriffen und mit eben diesem Flügel die Entscheidung gesucht werden soll. Der Abschnitt bietet hier kein Hindernis, während er vor dem rechten Flügel und weiter unterhalb, des weichen Grundes wegen, von Pferden und Fahrzeugen nur auf den Wegen und Brücken durchschritten werden kann. Das rechte Flügelkorps erhält den Auftrag, Kräfte zu binden und schiebt hiezu die innere Division unter wachsendem Widerstand des Feindes über den Abschnitt vor, wo sie sich zu nächst behaupten kann, da die zurückgebliebene äußere Division ihre Flanke deckt. Nun aber nähern sich stärkere feindliche Kräfte dem Abschnitt unterhalb des Flügelkorps und beginnen, auf das Südufer vorzufühlen. — Der Führer dieses Korps entschließt
— 88 — sich, im Anschluß an die Flügeldivision aus den noch verfügbaren 4 Bataillonen und 3 Batterien einen Defensivhaken mit Front nach Osten zu bilden und hinter den Bruchpunkt auch 4 schwere Batterien zu ziehen, die im Lauf der nächsten Stunde eintreffen müssen. Gründe: Die am linken Armeeflügel ermatteten Ver stärkungen können in 2—3 St. dort bereitstehen. Für den De fensivhaken bietet sich eine gute natürliche Stellung, weit nach Süden reichend, den Bachabschnitt auf 3—4 km beherrschend, so daß ein Übergehen von Fahrzeugen innerhalb dieser Entfernung ausgeschlossen ist, solange Artillerie in der Flankenstellung zur Wirkung kommen kann. Die Flankierung dieser Stellung von Norden ist dadurch erschwert, daß das Südgelände überhöht. Die nach Norden wie nach Osten verwendbare Schwere Artillerie be deutet einen Zuwachs an Feuerkraft, der (unter den damaligen Verhältnissen) schwer ins Gewicht fällt und zu der Annahme be rechtigt, daß ein Niederkämpfen der Flankenstellung von Norden her für die nächsten Stunden ebenso ausgeschlossen ist wie ein Auftreten feindlicher Artillerie im Osten, südlich des Abschnittes. Die zurückgebogene Stellung zwingt den Gegner zu weit aus holenden Bewegungen und bringt dadurch den Zeitgewinn, den das Armeekorps erkämpfen soll. — Urteil des Leitenden: Gegen Umfassung oder Umgehung ist das beste Mittel die Flanken staffel. Es kommt nicht darauf an, ob die drei Führer recht hatten. Aber jedenfalls hatten sie Gründe, die sich hören lassen konnten und nicht gehört wurden. Indem sich die Kritik darauf beschränkte, auf den Grundsatz hinzuweiseo, von dem jeweils abgewichen war, somit „den Grundsatz als einzigen Maßstab an den Entschluß anlegte", machte sie ihn zum Schema oder zum Schlagwort, mit dem die Begründung des Handelns nach Umständen tot geschlagen wurde, damit aber auch die Neigung zu solchem Han deln. Gewiß nicht mit Absicht. Die Kritiker wollten das Gegenteil, und kein Wort war ihnen geläufiger als: „Meine Herren, nur kein Schema!" Aber wie sie die Entschließungen anderer nach Grundsätzen beurteilten, so handelten sie auch selbst nach Grund sätzen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Sie glaubten nach Um-
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ständen jn handeln, well sie den jeweils ju befolgenden Grundsatz nach den Umständen des Einjelfalls wählten. Womit aber doch nur der typischen Seite des individuellen Falles, keineswegs allen seinen Erfordernissen Rechnung getragen wurde. Es ist dann schon ein Zufall, wenn wenigstens der wichtigsten Anforde rung des Einzelfalls entsprochen wird, obwohl es die Regel sein mag. — Durch diesen Mißbrauch waren die Grundsätze zum höheren Schema geworden, und die freie Lehre zum Doktrinarismus. Die alte Wahrheit, daß im Kriege vor allem andern der unbeugsame Wille, die rücksichtslose Tatkraft den Erfolg an sich reißt, nebst dem kühnen Zugriff, der den Feind in Verwirrung setzt, war durch die deutschen Kriege der Jahre 1864—1871 neu bestätigt. Wie oft hatte „der" preußische Schneid nicht nur tak tische Mißgriffe, sondern auch grobe Unvorsichtigkeiten wieder gut gemacht! Man lese das Gefecht bei Montoir in der ersten Einzelschrift des Großen Generalstabes zum Deutsch-Französischen Krieg: Verwegenheit täuscht Kräfte vor, die nicht da sind, und bringt den alten Satz zu Ehren: in omni proelio oculi primi vincuntur. Dreistes Auftreten, anmaßende Haltung, im Frieden unbeliebt, sind kriegerische Tugenden. Jn seiner Schrift vom „Geist und Stoff im Kriegs wurde Binder-Krieglstein nicht müde, an der Kriegsgeschichte aller Zeiten und ganz besonders an der von Bona parte eröffneten des 19. Jahrhunderts die „bloße, bare, plumpe, rohe Energie" als entscheidendes Siegesmittel nachzuweisen. — Im Krieg muß nach Umständen, d. h. auf Grund der jeweiligen Lage gehandelt werden. Wie diese aber augenblicklich ist — auch beim Gegner — weiß man nie, sondern immer nur, wie sie vor kürzerer oder längerer Zeit war. Daraus folgt, daß Bewegung an sich ein Vorteil ist, insoferne sie die Grundlage für das feindliche Handeln verschiebt; und daß dies auch von der früheren Be wegung im Vergleich zur späteren gilt oder vom Zuvorkommen. Für einen Truppenführer, der keinen starken Willen hat, ist es besser, wenn auch sein Geist nicht allzu hoch entwickelt ist; sonst sieht er zu viele Möglichkeiten und kommt nicht zum Entschluß. Aus dem gleichen Grunde macht die Ausgeglichenheit eines starken Willens mit einem ebensolchen Geist den Feldherrn aus. (Die
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höchste Veranlagung ist zugleich die differenzierteste. Es mag damit zusammenhängen, daß in Deutschland, wo dazu noch die geistige Höchstbegabung zu Hause ist, große Feldherren vielleicht seltener waren als anderwärts, und das Feldherrntum als Zu sammenschluß von Wille und Geist stch zu wiederholten Malen erst in zwei Persönlichkeiten verkörpert hat. Bekanntestes Bei spiel: Blücher und Gneisenau.) Freilich bleibt bei der Auswahl und Heranbildung des Truppenführers zu beachten, daß Entschluß kraft nie in Reinkultur gezüchtet werden kann, sondern immer nur gebunden an körperliche oder — wie auf dem in Rede stehenden Gebiet — an geistige Betätigung, weil sie auch nur als solche in die Erscheinung treten kann. Wenn nun schon die geistige Befähigung im Kriege durch Mangel an Entschlossenheit unfruchtbar, ja gefährlich werden kann, so daß ihre zu mißtrauischer Scheu gesteigerte Geringschätzung verständlich wird, um wieviel mehr muß dieses vom bloßen Wissen oder gar von der Gelehrsamkeit gelten, die namentlich in Deutschland mit Verstand und Urteilskraft so oft verwechselt oder doch vermengt wird! In der Tat hat schon Clausewitz darauf hingewtesen, daß die Feldherren „niemals aus der Klasse der viel wissenden oder gar gelehrten Össtjiere hervorgegangen" seien, und Freytag-Loringhoven schrieb: „Wir brauchen keine Gelehrten, aber geschulte Köpfe". Er hat damit sicher nicht bloß die Selbst verständlichkeit der Nichtidentität von -Gelehrsamkeit und geistiger Befähigung wiederholen, aber ebensowenig allen Gelehrten die Entschlossenheit oder gar die Urteilskraft absprechen, sondern nur zum Ausdruck bringen wollen, daß dem Truppenführer Ge lehrsamkeit nicht nötig sei und gefährlich werden könne. Die Angst vor der Gelehrsamkeit war immer groß gewesen. In der „Neuen Freien Presse" vom 24. Februar 1877 erzählte ein ehe maliger bayerischer Leutnant — und hatte dabei anscheinend die Zeit vor 1866 im Auge: „So entsprachen wir denn fast vollständig jenem alten Mahnwort, das — es ist noch nicht hundert Jahre her — in den churbayerischen Dienstesvorschristen zu lesen war: „Derjenige Offizier, der außer seinen Reglements noch andere Bücher liest, soll mit dem Namen eines ekelhaften Philosophen
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belegt werden"". Wörtlich wurde diese Mahnung im neuen Deutschen Reich allerdings nicht mehr genommen, von ihrem Geist war aber viel zurückgeblieben. Die Ablehnung der Gelehr samkeit war berechtigt, aber die Gefahr von der anderen Seite war eben auch immer dieselbe: die Routine hat das frischere Aussehen als die Gründlichkeit, die uns manchmal etwas klebrig vor kommt, und Brunnenwasser ist immer noch klarer als Fleisch brühe. Deshalb gab es Kreise, auch maßgebende, die in guter Abflcht einem Kultus der Oberflächlichkeit huldigten. Nicht nur zügelloses, gefährliches Denken wurde hier gebrandmarkt, sondern jedes Denken außerhalb gewisser konventioneller Schranken machte sich verdächtig. Wie schon das Wort vom einen Strategen erkennen ließ, war das dienstliche Geistesleben von dem an stch beherzigens werten Satz beherrscht: Quod licet Jovi, non licet bovi. Unter seinem Einfluß war auch die — verhältnismäßig doch nur kleine — Oberschicht herangewachsen, von der im Kriege die entscheidenden Entschlüsse ausgingen. Und zeitweilig vergaß man, daß die Gültigkeit des Satzes nach oben nicht unbegrenzt sein kann, und der an höchster Stelle zum Handeln Berufene nicht mehr den Tugenden des Unterführers nachjagen darf, vielmehr bedenken muß, daß der Spruch auch umgekehrt gilt: Quod licet bovi, non licet Jovi. Sonst kann es geschehen, daß er auch noch den Feldherrn in seinem Bann hält, sei es auch nur als Mahner zur Bescheiden heit, zu frommer Scheu vor dem „Ungeziemenden", deren Ver letzung stch z. B. Hannibal bei Cannä zuschulden kommen ließ — wie Schliessen meinte1). Wir leisteten alles Erforderliche in der Niederhaltung der Gefahr, die darin liegt, daß stch, um mit Clausewitz zu sprechen, „ausschweifende, ganz verkehrte Ansichten in die Praxis umsetzen, Ansichten, die man in einem Gebiet vor züglich zu fürchten hat, wo die Erfahrung so kostbar ist". Aber wir dürfen anderseits die Tugend nicht überschätzen, die in der bloßen Abwesenheit von Phantastereien liegt. Tatsächlich neigten wir zu einer solchen Überschätzung, wozu allerdings noch ein an*) Man wird übrigens Hannibal milder beurteilen, wenn man bedenkt, daß seine Rückzugslinie — nach vorwärts ging.
— 92 — derer Umstand beitrug, den Binder--Krieglstein mit folgenden Worten gekennjeichnet hatT): „Meist bleiben die Operations entwürfe beim Mediocren stehen, nicht so sehr aus persönlicher Indolenz der Verfertiger, als deshalb, weil ja die Vorschrift, das Reglement, das über die Erhaltung von Mann und Ma terial so sorgsam wacht, die Grenzen des Möglichen enger umzirkt, als sie in Wirklichkeit gezogen finb*2).3 4 Ein Sichhineinleben in das, was als zulässig gilt im Kriege2), ist unseres Erachtens gerade entgegengesetzt den Bedürfnissen des Krieges, der durch das Hinausgehen über das Bekannte und Gewohnte so außerordentlich gefördert wird." Graf Waldersee klagte in seinen „Denkwürdigkeiten"*) über die „Schusterei", die im Heere großgezogen würde. Ob er dabei von ähnlichen Gedankengängen geleitet war, muß dahingestellt bleiben. — Aber allzu oft trat die an stch berechtigte Warnung vor Überheblichkeit und Ermahnung zur Bescheidenheit an die Stelle der gebotenen sachlichen Wider legung, wodurch die Widersprechenden nur eingeschüchtert statt überzeugt wurden. Daß wir von dieser Neigung zu einer zwar ungewollten Unterdrückung der Freiheit des Geistes auch heute noch nicht ganz frei find, lehren unsere Militärzeitschriften. Klärung kommt aus Gärung, es sei denn, daß es stch um Wasserklarheit handelt. Die Gärung zeigt um so stärkere Trübung und dauert um so länger, je mehr Stoff dabei verarbeitet wird. Deshalb dauert sie beim Deutschen am längsten. Diesem Umstand ist nicht immer genügende Beachtung geschenkt worden. Es ist ja richtig, daß er für die Heranbildung der höheren Truppenführer einen Nachteil bedeutet, weil auch an die körperliche Leistungs fähigkeit hohe Anforderungen zu stellen sind; und richtig ist auch, daß viele Deutsche mit der Gärung zeitlebens nicht fertig werden, was damit zusammenhängt, daß Tiefe und Schiefe leicht beix) „Geist und Stoff im Kriege". S. 597s.
2) Statt „Vorschrift" und „Reglement" würden wir lieber sagen: eine an sich berechtigte erzieherische Absicht. 3) Dgl. S. 28 Fußnote 1. Außerdem sei an die in den unbezweifelt großen Nachschubschwierigkeiten begründeten Bedenken erinnert, die dem Vormarsch zweier Armeen hintereinander entgegenstanden.
4) Deutsche Derlagsanstalt, Stuttgart u. Berlin 1902.
— 93 — sammen wohnen. Wenn aber ein junger Hauptmann als Brigade führer im Kriegsspiel künstelte, weil er noch nicht konnte und auf eigenes Denken trotzdem nicht verzichten wollte, so war das Vater land noch nicht in Gefahr, er konnte noch lange und rechtzeitig genug unschädlich gemacht werden — wenn es dann noch nötig war. Aber das Selberdenkenwollen durfte ihm nicht verleidet oder abgewöhnt werden. Dann konnte ihm die bittere Erfahrung, die er mit seinem Künsteln machen mußte, nur heilsam sein. Wenn nun hinsichtlich der Bewertung, Heranbildung und Nutzbarmachung der Urteilskraft des Truppenführers auf ge wisse Irrungen, Unzulänglichkeiten und Unterlassungen hin gewiesen wurde, so geschah dies nicht, um die Meinung zu be gründen, daß in diesen Unvollkommenheiten eine Hauptursache des im ersten Teil besprochenen kriegerischen Mißerfolges zu suchen sei. Trotz allem Argwohn und allen Vorbehalten war es nicht die Bedeutung des individuellen Geistes für das Handeln im Kriege, die zum Schaden der Sache verkannt wurde, sondern die Bedeutung allgemeiner Wahrheiten, m. a. W. die Be deutung der Theorie. Ich erinnere mich während meiner langen Dienstzeit ein einziges Mal bei der Besprechung einer Gefechtsübung gehört zu haben, daß dieser wie jeder andere Einzelfall nie wiederkehre, und daß es deshalb immer darauf an komme, aus der Betrachtung des Verlaufs allgemeine Wahr heiten abzuleiten. Wie dieses aber im kleinen von der applikatorischen Methode gilt, so im großen von der Kriegserfahrung und der Kriegsgeschichte. Wie die einzelnen Übungsbeispiele in Merksätze auszumünzen stnd, so die Massenbeispiele des Ernst falles in eine Lehre oder Theorie. Daß die Merksprüche keine Rezepte sein sollen, und die Theorie kein Kochbuch, darüber dürfte schon alles Nötige gesagt sein. Sind doch die sog. Grundsätze nichts anderes als die jeweils ältesten, bewährtesten und allgemein gültigsten Erfahrungssätze. Gleichwohl machten hochbegabte Osstziere aus ihrer Verachtung aller Theorie kein Hehl. Allmählich wurde diese Denkart zum Prin zip. Und doch hatte schon Kant in einer eigenen kleinen Schrift
— 94 nachgewiesen, daß der Satz: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nichts für die Praxis" einen lächerlichen und eines denkenden Menschen unwürdigen Widersinn enthalte. Nur eine schlechte Theorie kann mit einer guten Praxis im Widerspruch stehen oder umgekehrt. An sich ist eine Theorie ohne Praxis ebenso schlecht wie eine Praxis ohne Theorie. Sie können nur zusammen bestehen, sind die Glieder einer Kette, die im Wechsel aneinander schließen. Der gewöhnliche Sprachgebrauch versieht auch unter dem Wort „erfahren" eben nur diese Konkretheit der Theorie und der Praxis. Man muß ebenso eine Kunstregel ablehnen, die keine Genialität aufkommen läßt, wie eine Genialität, die sich von der Autorität der Kunstregel lossagen will. Ein klassisches Kunstwerk ist nie zum bloßen Nachahmen ausgestellt, sondern hat eine doppelte Aufgabe zu erfüllen, eine negative, beschränkende und eine positive, befreiende. Die negative ist die Zügelung der schlechten Subjektivität (der Manier), die positive die im gleichen Verhältnis bewirkte Befreiung und Bekräftigung der wahrhaften Individualität, d. i. der Genialität. Das Gesetz ist überall der Zuchtmeister zur Freiheit, und ein Gesetz, das diese Befreiung nicht bezweckt, wäre verwerflich, weil es den Menschen nur einer anderen, gleich schlechten Subjektivität preisgeben würde. Nur eine gute Theorie kann uns von der Herrschaft des Dok trinarismus oder Schematismus frei machen. So urteilte auch der Begründer der deutschen Kriegstheorie in seinem Buch „Vom Kriege": „Vorurteile zu zerstören, die sich in mancher Zeit wie ein Miasma bilden und verbreiten, ist eine dringende Pflicht der Theorie; denn was menschlicher Verstand fälschlich erzeugt, kann auch bloßer Verstand wieder vernichten ... Die Theorie soll auch durch Kritik verhindern, daß aus dem einzelnen Fall (einem ein zelnen Krieg) hervorgegangene Manieren, die sich überlebt haben, bestehen bleiben: Als tot Jahre 1806 die preußischen Generale, Prinz Louis bei Saalfeld, Tauenzien auf dem Dornberge bei Jena, Gravert vor und Rüche! hinter Kappeldorf, sämtlich mit der schiefen Schlachtordnung Friedrichs d. Gr., sich in den offenen Schlund des Verderbens warfen, war es nicht bloß eine Manier, die sich überlebt hatte, sondern die entschiedenste Geistesarmut,
— 95 — zu der je des Methodismus geführt hat, womit sie es zustande brachten, die Hohenlohische Armee zugrunde zu richten, wie nie eine Armee auf dem Schlachtfelde zugrunde gerichtet worden ist." — Aber „die vielen sehr schlechten Versuche, die in einem theoreti schen Ausbau der Kriegskunst gemacht sind, haben die Meinung aufkommen lassen, daß eine solche Theorie nicht möglich sei." Und ferner stand ihr im Wege der Glaube an den „widersinnigen Unterschied zwischen Theorie und Praxis, den oft eine unver nünftige Theorie hervorgerufen, womit sie sich von dem gesunden Menschenverstand losgesagt hat, den aber ebenso oft Beschränkt heit des Geistes und Unwissenheit zum Vorwand gebraucht hat, um sich in der angeborenen Ungeschicklichkeit recht gehen zu lassen." Den Zweifel an der Möglichkeit und Notwendigkeit der Theorie hat Clansewitz zurückgedämmt, aber nicht für immer über wunden. Ein reges geistiges Leben in breiten Schichten des Heeres bis zum Beginn des letzten Krieges kann so wenig in Abrede gestellt werden wie einzelne bedeutende Leistungen auf dem Ge biet der Militärliteratur. Von einer Neigung, dem von Clause witz gegebenen Beispiel zu folgen, war zwar wenig oder nichts zu spüren, die Ansätze in dieser Richtung blieben vereinzelt. Das hätte indessen für sich allein noch keinen Rückgang bedeutet. Der schöpferische Geist hat sich selten im System offenbart; (wie Foliantenliteratur noch keinen Blütenstand der Wissenschaft bezeichnet); auch ist Theorie nicht gleichbedeutend mit System. Aber in den letzten drei Jahrzehnten vor dem Weltkriege hatte die Ablehnung oder doch Geringbewertung aller Theorie, wofür das tadelnde Wort „theoretisieren" bezeichnend war, im deutschen Heer immer mehr Boden gewonnen. Und je geringer die Zahl derer wurde, die sich mit der Fortbildung der Theorie befaßte, um so größer wurde allerdings die Gefahr, daß sie in ihrer Vereinzelung auf Abwege gerieten und dadurch der Sache mehr schadeten als nützten. Man bewegte sich jedoch in einem Circulus vitiosus und gab sich einer Selbsttäuschung hin, wenn man in dieser selbstverschuldeten Gefahr eine Bestätigung des allgemeinen Werturteils über die Theorie fand. Dieses allgemeine Urteil
- 96 war nun aber schließlich zugleich das offizielle. Die oben angeführ ten „Bemerkungen" des Generalstabschefs vom Dezember 1912 find ein lehrreiches Beispiel für die Zurückhaltung der Theorie gegenüber, man darf wohl sagen für die Angst vor ihr auch an maßgebendster Stelle, zugleich aber auch ein Beweis für die von Clausewitz betonte Notwendigkeit, fich zuerst über Namen und Begriffe zu verständigen, d. i. für die Unentbehrlichkeit der Theorie. So uneingeschränkt die Notwendigkeit der Demonstrative für die Gefechtsführung in den „Bemerkungen" erkannt und anerkannt ist, so strenge ist jede Andeutung von Name und Begriff ver mieden. Der Verzicht mußte dazu beitragen, daß beides als ent behrlich angesehen wurde, und das Verständnis ungenügend blieb. Ähnliches gilt von der Vermengung des taktischenVerhaltens im Verband und in der Isolierung oder, was dasselbe ist, der Kampf- und Gefechtsführung im Sinne Scherffs. Wenn viel leicht nicht auf jedem Gebiet, so doch auf dem taktischen sind klare Grundgedanken Vorbedingung für klares Denken im be sonderen Fall. — Gewiß kommt es wesentlich darauf an, daß der Truppenführer instinktiv das Richtige trifft. Aber Intuition setzt befruchteten Boden voraus. Der Schritt vom Wissen zum Können ist freilich ein großer. Aber vom Nichtwissen zum Können gibt es überhaupt keinen Schritt. Die Ursachen für die tatsächliche Ablehnung der Theorie lagen aber letztlich nicht auf militärischem Gebiet, diesem wurde nur die Begründung entnommen, indem man an die schlechten Theorien erinnerte, die Clausewitz gegeißelt hatte (und seine eigene vergaß), oder auch — und dies mit größerem Recht — an die allgemeine, für alle Zeiten gültige Wahrheit, die gleichfalls Clausewitz ins Licht gestellt hatte: daß falsche Theorien nirgends so zu fürchten sind wie auf einem Gebiet, wo die Erfahrung so selten ist und so teuer bezahlt werden muß, wie in der Krieg führung. War also die Überzeugung von der Entbehrlichkeit und Schädlichkeit der Theorie ein Irrtum, so war er doch wie jeder Irrtum die Karrikatur einer Wahrheit und lebte wie jeder Irrtum von dem Körnchen Wahrheit, das ihm geblieben war. Man wird sogar sagen dürfen, daß es hier ein recht großes Wahrheitskorn
— 97 «ar. Die Angst vor dem Geist, die fich angesichts seiner geschicht lich erwiesenen Verirrungen allenthalben zeigte, war im Heer am verzeihlichsten, und die Gefahr, mit diesen bösen Geistern den Geist selbst auszutreiben, deshalb am größten. Unter diesen Um ständen kann es nicht befremden, daß auch der Satz von der „grauen Theorie" im Heere besonders verheerend gewirkt hat. Er ist zum Ruhekissen der Denkfaulheit geworden. Nicht alle Theorie ist grau, nicht alles Spekulieren ein Grasen „auf öder Haide". Es ist Mephisto, der so spricht. Aber im Selbstgespräch, wo er die Wahrheit redet, legt ihm Goethe die Warnung in den Mund: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, Des Menschen allerhöchste Kraft, ♦
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So hab ich dich schon unbedingt."
Dritter Teil: Der Zeitgeist. Der iweite Teil Hal gezeigt, daß man gar nicht die Wahl hat, ob man mit oder ohne Theorie handel», sondern nur, ob man sich von einer guten oder von einer schlechten Theorie leiten lassen will. Und der erste Teil hat gezeigt, daß es im Marnefeldzug das Prinzipielle war, was versagt hat, mehr noch als die angewandte Führungskunst (vgl. S. 28 f. u. 34). Freilich war es Moltke selbst gewesen, der schon im Frieden nicht allein den Schlieffen plan geändert, sondern auch die hernach im Ernstfall befolgte Methodik der Kriegführung ausgebildet, vielleicht richtiger ge sagt, geduldet hatte. Aber eben schon im Frieden, weshalb es bei dem Tatbestand bleibt, daß die von Hause mitgebrachte Schule oder Theorie ausschlaggebend geworden ist, obwohl und weil ihr eine entscheidende Bedeutung gar nicht beigemeffen worden war. Schlechte Theorien hatten die Theorie um ihr Ansehen ge bracht, Clausewitz hat diese schlechten Theorien durch eine gute ersetzt. Er hat die Gefahr der Theorie ebenso klar erkannt wie ihre Notwendigkeit; ja eine gute Theorie schien ihm gerade des halb unentbehrlich, weil sich Empirie und Routine allein gegen eine aufgekommene schlechte und destruktive Theorie nicht zu halten vermögen, wofür der zweite Teil mehrfache Beispiele auf weist. Auch unmittelbar hat Clausewitz das Unkraut der falschen Theorien bekämpft und durch Aufdecken seiner Wurzeln zum Ab sterben gebracht. Er hat endlich vor den Jrrpfaden der Theorie Warnungstafeln ausgestellt, von denen man meinen sollte, sie hätten genügen müssen, das Betreten dieses Waldes für alle Zeiten ungefährlich zu machen. Wie konnte sich dann später die Gespensterfurcht neuerdings einstellen? Neue falsche Theorien
— 99 — waren wenigstens im großen, als Systeme, nicht wiedergekehrt. Es müssen also Einwirkungen von anßen stattgefunden haben. So war es in der Tat, und ein Irrtum war es, wenn die Soldaten glaubten, auf einem Jsolierschemel zu sitzen, weil sie am Geistes leben im allgemeinen wenig Anteil nahmen. Sie waren seinem Einfluß unterworfen und wurden in sein Schicksal mit hinein gezogen so gut wie alle andern. Weshalb jetzt noch die Frage zu beantworten ist, inwieferne der Zeitgeist dazu beigetragen hat, das von Clausewitz bekämpfte Vorurteil gegen die Theorie wieder aufleben zu lassen und zu verstärken. Zuerst aber sind die Gründe für die schon erwähnte Tatsache nachzuholen, daß die militärische Abneigung gegen die Theorie überhaupt nie ganz getllgt war. In seinem Werk „Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende" kommt Lütgert*) auch auf Clausewitz zu sprechen: „Er stand dem Idealismus mit selbständiger Kritik gegenüber. ... „Groß, unbeschreiblich groß" — so schrieb er — „ist die Zeit; von wenigen Menschen wird sie begriffen; selbst den vorzüglichsten Gelehrten und Weisen unter uns ist sie selten mehr als ein Werk zeug, um irgendein dünkelvolles System durch sie darzustelle«; alles das ist eitles Spiel von Kindern und Toren. Mit dem Gemüt will die Zeit aufgefaßt sein... in sieter Berührung muß es sein mit Gegenwart und Vergangenheit und unverloren in philosophischen Träumen." Der Ernst der Geschichte, den er er lebt hatte, riß ihn von den spekulativen Träumen des Idealismus fort" 2). Von Fichte urteilt Clausewitz, daß er in seinen Reden, die „bloße Abstraktionen und nicht sehr praktisch" seien, „die Ver gleiche der Geschichte und der Erfahrungswelt sichtlich sehr ge fürchtet" habe^. Die hiemit angedeutete Gefahr, den festen Boden unter den Füßen zu verlieren, hat Clausewitz selbst streng gemieden. Wohl war auch er „ein Mensch, der spekuliert", doch ohne dem „Tier auf öder Heide" zu gleichen und ohne Luftschlösser zu bauen. Im übrigen jedoch war sein Buch vom Kriege „ganz ein Erzeugnis J) Bei C. Bertelsmann, Gütersloh 1923* 2) 2. Bd., S. 236s. 3) 2. Bd. S. 156.
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der deutschen Spekulation, in deduktiver Methode ausgehend vom Wesen des Krieges ... ein merkwürdiges Dokument deutschen Geistes" *). Und daß er sich als „ein echtes Kind seiner literarischen Zeit" spekulativem Denken hingab, ist uns wichtig als Beweis für unsere Behauptung vom Einfluß der Außenwelt. In einer Zeit, wo alle Welt spekulierte (nur in anderem Sinn als heute), spekulierte auch der Soldat. Aber Clausewitz blieb nur scheinbar das letzte Beispiel für diesen Einfluß des geistigen Lebens der Umwelt auf das militärische Denken, was deshalb leicht über sehen werden kann, weil dieser Einfluß auf Clausewitz positiv, antreibend, auf die Männer vor dem Weltkrieg aber hemmend gewirkt hat. „Der deutsche Idealismus", „die Philosophie der Freiheit" (des Geistes) war aus der Aufklärung hervorgegangen, beide wurzelten im Glauben an die (intakte) menschliche Vernunft und in der Überzeugung, daß ihre Isolierung, ihr Derlassensein von Gott und Menschen, von Vergangenheit und Gegenwart die alleinige Bedingung ihrer Freiheit wie des Reichtums ihrer Ent wicklung sei, ja daß ste durch den Verzicht auf Kapital, Vorschuß und Kredit am schnellsten zu solidem Reichtum gelangen werde. Seit Cartesius sagte es einer dem andern nach, daß nicht der Glaube, sondern der Zweifel an allem der Punkt sei, von dem man aus gehen müsse um zur Erkenntnis der Wahrheit zu kommens. Das Ergebnis entsprach genau dem Ausgangspunkt, man brachte es weit in der Erkenntnis des Erkennens, -es Selbstbewußtseins, des Geistes — der Vernunft. Es erhob sich der stolze Bau der Begriffsphilosophie und der absoluten Methode. Ihre für die Geisteswissenschaften bahnbrechenden Leistungen sind unbestritten; wie stand es aber mit der Erkenntnis von Welt und Mensch? Hier blieb der Wissensdurst ungestillt. Die Philosophie aller Zeiten, meint Hilty°), „antwortet eigentlich dem sie Fragenden gar nicht auf das, was er von ihr erfahren will, sondern überschüttet ihn statt dessen mit einer Fülle von Definitionen, von denen er die x) 2. Bd. S. 236. 2) Baader. Säuttl. W. 8 Bd. Bethmann, Leipzig 1855. S. 202s. 3) „Glück". Von Prof. Dr. C. Hilty. 4. Aufl. Hinrichs, Leipzig 1893, S. 219.
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größere Hälfte nicht versteht und die kleinere ju nichts Rechtem brauchen kann ... es bedurfte nur der Übersetzung einer will kürlich erfundenen Terminologie, die ste wie ein undurchdringlicher Zann von dem Gebiet des gewöhnlichen Menschen- und Sprach verstandes abschloß, in die gewöhnliche Sprechweise des Tages, in der das Wort die Bezeichnung für ein bestimmtes Etwas und nicht auch für ein Nichts ist, um der verschleierten Göttin den Schleier abzuheben, in welchem mitunter ihre ganze Kraft und Hoheit steckte." Aber nicht nur das Erkenntnisbedürfnis war unbefriedigt geblieben, auch die Männer der Tat hatte der „Idealismus" gegen sich aufgebracht, wie wir von Clausewitz selbst schon wissen. Sie sahen in ihm ein Hindernis für die Wiedererlangung der staatlichen Macht und Freiheit. Denn zu den Erbstücken der Auf klärung gehörte auch die Weltbürgerlichkeit, die zugleich eine moralische Gefahr bedeutete, insoferne sie die „Ausländerei" förderte. Arndt erklärte den Mangel an Vaterlandsliebe aus der klassischen Bildung: was diese übriggelassen hatte, zerstörte die französische. Die von dort übernommene reine Derstandeskultur und Dernunftreligion, die „Geistigkeit", wie er sie hassend nannte, machte Arndt für die innerliche Zerrüttung Europas verantwort lich, wie die von ihr befruchtete deutsche Wissenschaft und besonders die Philosophie für die Vaterlandslosigkeit. Diese „hochgebildeten, vergeistigten" Menschen sind ihm „ein wunderliches Volk von Träumern und Schwärmern ohne Kraft und Tat und Zorn, ohne Volks und Vaterland". Mit vielen andern trat ihm Stein zur Seite: „Eure Konstruktionen a priori sind leere Worte, armseliges Schulgeschwätz und recht eigentlich dazu gemacht, alle Taten zu lähmen". Er fand „die deutsche Jugend von dieser leeren speku lativen Krankheit angesteckt" und meinte im Hinblick auf die idea listische Philosophie: „Der Deutsche hat einen unglücklichen Hang zur Grübelei" *). So standen die Männer der Tat dem „Idealismus" feind lich gegenüber. Ebenso der „Realismus", der sich zugleich mit ihm entwickelt und in Goethe seinen bekanntesten Vertreter hatte. *) külgert. A. a. O. S. 148 ff.
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Dieser „Realismus" nahm die Natur und die Geschichte ju Aus gangspunkten seines spekulativen Denkens, so daß der Vernunft philosophie die Natur- und Geschichtsphilosophie jur Seite traten, ohne indessen in ihren Ergebnissen wesentlich über jene hinauszukommen. Die Naturphilosophie mußte den exakten Naturwissen schaften weichen, und die von Kant und Herder begründete, von Hegel vollendete Geschichtsphilosophie, auf die sich der liberale Fortschrittsglaube stützte, wurde von den großen Historikern der Folgezeit als wissenschaftlich zu leicht gebaut befunden und gleich falls abgelehnt. Bei dieser ganzen Entwicklung konnte es nicht ohne Er schütterung des Ansehens abgehen. Neben grundlegenden Er kenntnissen von unvergänglichem Wert hatte der „Idealismus" (der als Name der geistesgeschichtlichen Epoche auch den „Realis mus" in sich schließt) doch auch nicht Weniges von jener wirklich grauen Theorie zutage gefördert, die als unfruchtbarer Formalis mus und dialektisches Gedankenspiel geeignet war, die Geistes wissenschaften, mit ihnen auch alle Theorie in Mißkredit zu bringen. Auf Hochschätzung und Überschätzung folgte Geringschätzung und Befehdung des Geistes, es kam zu einer Sinnesart, die dem spekulativen Denken mehr Abneigung als Zuneigung entgegen brachte, und diese Sinnesart mußte, wie für diesen ersten Teil unserer Betrachtung als Schlußergebnis festzustellen ist, von vornherein auch mitbestimmend sein für die Aufnahme, die das Buch „Dom Kriege" fand. Clausewitz hat selbst an der Be kämpfung der Auswüchse des Geisteslebens teilnehmen, damit aber — ein tragisches Geschick und doch nur die Folge der ebenso unausrottbaren wie gemeinschädlichen Verallgemeinerung — auch selbst dazu beitragen müssen, daß sich seine Theorie der Krieg führung von Anfang an nicht so durchsetzen konnte, wie sie ver dient hätte. Die Herrschaft der Philosophie über das Bewußtsein des deutschen Volkes dauerte noch keine fünfzig Jahre. Schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts war ihr Zauber erloschen. Ohne daß die Systeme widerlegt worden waren, hatten sie ihre Macht
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verloren. Um so stolzer erhoben jetzt die Naturwissenschaften ihr Haupt. Du Bois-Reymond schrieb von den für die deutsche Wissenschaft beschämenden Zuständen, daß zu der Zeit, wo in Frankreich und England die Naturwissenschaft längst ihre stegende Stellung eingenommen hatte, in Deutschland „die Phyfik Gegen stand spöttischer Herabsetzung seitens einer ... philosophischen Schule war, die bei der Masse der Gebildeten Glauben fand, weil ste mit der Zuversicht der Beschränktheit sich für die höchste Entwicklungsstufe des Menschengeistes hielt." Don der fort schreitenden Erkenntnis und Beherrschung der Natur erwartete der gleiche Forscher den nahen Anbruch eines paradiesischen Zeit alters! — Die Vernunft, der zielbewußte Wille und die auf beiden beruhende moderne Technik galten den Fortschrittsgläubigen als die wahren Heilsbringer und die einzigen Mächte, denen sie unbedingt vertrauten. Im Zusammenhang mit dieser Über zeugung, deren Heimat die angelsächsischen Länder waren, stand eine hohe Wertschätzung des Nützlichen, und in dem, was die Natur wissenschaft für die Erreichung praktischer Ziele zu leisten versprach, war vornehmlich ihr Ansehen begründet. Was leistete sie aber für die Erkenntnis von Welt und Mensch, was weiß sie zu sagen von ihrem Ursprung, ihrem Sein und Werden, von der Entstehung des Lebens, vom Wesen des Geistes? Wir antworten auf diese Fragen mit dem bekanntesten Wort Du Bois-Reymonds: „Ignoramus, ignorabimus!“ Dennoch blieb er dabei: „Es gibt kein anderes Erkennen als das mechanische, ein wie kümmerliches Surrogat für wahres Erkennen es auch sei, und dem gemäß nur eine wahrhaft wissenschaftliche Denkform, die physikalisch-mathematische/") Und kein ernster Vertreter der heutigen Naturforschung wird „das kümmerliche Surrogat" leugnen, das uns auch nur zu einer kümmerlichen, d. i. sehr bedingten und ein seitigen Erfassung des Weltbildes kommen läßt, so daß von einem die Gesamtwirklichkeit umspannenden Erkennen keine Rede sein kann. So hätte die Naturforschung allen Anlaß, bescheiden zu sein und sollte sich vor allem hüten, auf ihre Ergebnisse eine Weltx) „Reden von Emil Du Bois-Reymond." (Veit & Cie., Leipzig 1886). i. Folge. „Darwin versus Galiani“, Juli 1876, S. 267.
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anschauuvg aufzubauen. Sie sollte auch bedenken, daß die For schungsergebnisse von heute mit den vor fünfzig oder gar vor hundert Jahren erreichten im Widerspruch stehen. Wer wagte aber zu behaupten, daß dies künftig anders sein werde? Wenn wir uns jetzt der Geschichtsforschung zuwenden, so können wir einer Persönlichkeit das Wort geben, die einen her vorragenden Vertreter der deutschen Kriegskunst mit einem solchen des deutschen Geisteslebens in flch vereint, somit zugleich die Einwirkung des Zeitgeistes auf den „militärisch geschulten Kopf" anschaulich macht — nämlich dem General d. Inf. Dr. Frhrn. von Freytag-Loringhoven. In einer Abhandlung, betitelt „Will kür in der geschichtlichen Auffassung"T), tritt er den „schematischen Vorstellungen" und „willkürlich erdachten Theoremen" entgegen, „die man der Geschichte anzupassen bemüht ist", und schließt sich dem Satz an, den Theodor Lindner in seiner „Geschichtsphilosopie" ausspricht: „Menschen- und Dölkerschicksal wird niemals in eine einzige, es erklärende Formel gepreßt werden können." Er beruft sich auf Bismarcks grundsätzliche Grundsatzlosigkeit: wenn ich »ach Grundsätzen handeln müßte, käme ich mir vor wie einer, der mit einer Stange im Munde durch einen dichten Wald gehen soll; spricht von den „selbstgefälligen Theorien, wie sie die Deut schen mit Vorliebe im Munde tragen", während die Größe eines Ranke auf seiner Objektivität beruhe, die „darauf verzichtet, geist reich sein zu wollen"; und zitiert Erich Marcks in seiner Antritts rede an der Freiburger Universität, wonach „alle Versuche, Syste matik in die Geschichtswissenschaft hineinzubringen, zum Scheitern verurteilt seien." Man wird diesen Ausführungen, die an Clause witz erinnerns, im allgemeinen zustimmen können, und militärischen Lesern gegenüber mochte es wohl auch nicht überflüssig erscheinen, noch einmal eine Attacke gegen die letzten Nachhuten der Geschichtsphilosophie zu reiten. Denn alle Wirkungen, die geistige Bewegungen auf die Außenwelt, zumal auch auf den Offizier ausüben, der sich oft geflissentlich von ihnen fernhält, sind Nachwirkungen. x) „Deutscher Offijierbund", Nr. 3/1922. 2) S. 99.
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Wenn aber Freytag-Loringhoven fortfährt: „Rätselhaft ist und bleibt das Leben des einzelnen wie der Völker nach Sinn und Wert. Damit sollen wir uns bescheiden und uns nicht anmaßen, mit Hilfe armseliger Theorien von diesem Leben Vorstellungen zu erwecken, die der ernsten Sprache, die es zu uns redet, nicht entsprechen" — dann ist zuerst zu den „armseligen Theorien" zu bemerken: was Worte anrichten, hängt nicht davon ab, wie sie gemeint sind, sondern, wie sie aufgefaßt und leider nur zu oft verallgemeinert werden. Und sodann zum Ganzen: Das Leben redet also eine ernste Sprache zu uns, bleibt uns aber nach Sinn und Wert rätselhaft; d. h. die ernste Sprache ist uns unverständlich. Was kann sie uns dann aber sagen, und woher wissen wir über haupt, daß sie ernst ist, wenn wir ste nicht verstehen? Die Haupt sache ist uns indessen das Geständnis, daß Sinn und Wert des Lebens rätselhaft sind und bleiben. Es ist das „Ignoramus, ignorabimus" der Geschichtsforschung. Mit dem Satze: „Damit sollen wir uns bescheiden" ist das kritische Nichtwissen als End ergebnis festgestellt und als erreichbar höchstes Ziel der Forschung, als der Weisheit letzter Schluß auch hier zum Dogma erhoben. Baader spricht davon, daß man vom Dualismus des Idealen und Realen nicht loskomme, obschon das sog. ideale (bloß imaginierende) und das sog. reale Wirken als Inneres und Äußeres nur wechselseitig sich vollenden: Wie denn in der Imagination Unruhe und Ungenügen eintritt, sowie die Ausführung ihr nicht entspricht... und der Bildner die Idee nur in der Ausführung des Werkes wirklich (d. i. wirkend) besitzt. „Diese Rückkehr alles Lebens in sich — als ein physiologisch nachweisbares Gesetz — macht die Armseligkeit jener Vorstellung sichtbar (Baader ge braucht dieselben Wörter wie Freytag), die von dem Leben, das freilich in der Zeit als bloße Geschichte sich darstellt und als solche auch von seinen Geschichtsschreibern (den Historikern) aufgefaßt werden soll, bloß diese Historie oder den Progreß, nichts aber von seinem Regreß wissen will, was eigentlich so viel heißt, als daß man das Leben nicht soll begreifen und verstehen «ollen. (Sperrungen von mir.) Wogegen doch schon Kant lehrte, -aß das in einer geraden Linie ablaufende (mechanische)
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Kausalitätsgesetz im organischen Wirken kreisend in sich zurückgeht../") Und nun noch zur Einwirkung des Zeitgeistes auf den Soldaten: In einer Betrachtung „Über den Wert geschichtlicher Erfahrungen"?) knüpft Freytag-Loringhoven an die von großen Staatsmännern wie Pitt und Bismarck gemachte und bestätigte Erfahrung an, daß auf menschliches Rechnen kein Verlaß ist, um zur Bescheidenheit im Urteil zu mahnen: „Verurteilung ist etwas anderes als Beurteilung. Diese sucht zu verstehen, die Dinge aus sich heraus zu erklären, jene aber wird niemals der Wirklichkeit nahekommen." Das ist in der Allgemeinheit, in der es hier ausgesprochen ist, mindestens mißverständlich; sonst wäre schlechthin jede Verurteilung zu verpönen, und alles Wirk liche berechtigt. Auch die Behauptung, daß die Dinge aus sich heraus zu erklären sind, ist von allgemeiner Gültigkeit nur dann, wenn das Wort „Dinge" im weitesten Sinn genommen, und dem alten Satz sein Recht gelassen wird, daß die Dinge aus dem Men schen, nicht der Mensch aus den Dingen zu erklären ist. Freytag weiß natürlich, daß seine Forderung: nur beurteilen, nicht verurteilen einen Widerspruch bedeutet, so berechtigt und wohlbegründet sie sein mag als Warnung vor Oberflächlichkeit, Leichtfertigkeit und Überheblichkeit, und so gewiß es ist, daß ein Verurteilen a priori nie zur Erkenntnis der Wahrheit führen kann. Aber die Sache liegt doch wohl so, daß zwischen und über dem Beurteilen und Verurteilen das Urteilen als Zweck und Ziel der Beurteilung steht. Im Urteil vollendet sich auch erst Verstehen und Verständnis. Don einem freien Urteil könnte aber nie die Rede sein, wenn es nicht auch auf Ablehnung oder Verwerfung lauten, m. a. W. auch Verurteilung sein dürfte. In der Krieg führung gibt es falsche Entschüsse, die den Entschlußfassenden überhaupt nicht belasten, und andere, die seine Urteilskraft nicht belasten. Beide sind aber lehrreich. Eine Verurteilung der Urteils kraft ist nie möglich, weil die inneren (physischen oder psychischen) Hemmungen nie ganz bekannt sind, und bietet überdies keine *) Sämtliche Werke, 9. Bd. S. 303, 412s. 2) „Deutscher OffiLierbund" Nr. 18/1924.
— io7 — Belehrung. Ähnliches gilt von der Willenskraft, wenn auch in geringerem Maße, weil hier nur noch die physischen Hemmungen in Frage kommen. Aber die unbeschränkte Forderung, überhaupt nichts zu verurteilen, würde die Gefahr heraufbeschwören, in allen Geschehnissen nur das Produkt einer unabänderlichen Not wendigkeit zu sehen und schließlich mit diesem Fatalismus auch an das heranzugehen, was erst geschehen soll. Dadurch würde die Neigung gefördert, den Dingen ihren Lauf zu lassen, sich auf den Boden der gegebenen Tatsachen zu stellen, dem „natürlichen Zwang" zu folgen, den wir schon im ersten Teil«als unheilvollen Gesetzgeber am Werk gesehen haben (S. 29). Die Geschichte wird uns ja dann nie verurteilen, nie richten, sie wird uns nur ver stehen können. Am Positivismus, der als lucus a non lucendo heute in der Welt umgeht, findet diese Geistesverfassung die denkbar beste Unterlage. Als sich im Weltkriege wieder einmal die Lage geändert hatte, und ich in einem Brief an einen Stabsoffizier einer gewissen Beunruhigung durch die Frage Ausdruck gab, welche operativen Ziele sich jetzt wohl die O.H.L. stecken würde, erhielt ich zur Antwort, daß es solche Ziele überhaupt nicht gebe, nämlich Ziele, die man sich erst selber wählen müsse, weil sie sich in jedem Falle aus der Lage ergäben. Also dazu hatten wir uns zeitlebens in der Entschlußfassung üben müssen! Weil man immer gemeint hatte, daß auf Grund einer bestimmten Lage mehrere Entschlüsse möglich seien, nicht nur der eine, den uns jeweils die Lage nahelegt oder anbietet, ja sehr oft muß man sagen: den sie uns aufdrängen oder aufzwingen will. Und für die Bereit willigkeit, dieser Einladung zu folgen, für die Nachgiebigkeit gegenüber dem „natürlichen Zwang" der Verhältnisse war sogar der verständnislose und häßliche Ausdruck gebräuchlich: sich vom Gegner das Gesetz diktieren lassen. Dies nur zum Beispiel, wie sich eine gewisse Geistesrichtung nach unten auswirkte und manch mal leider auch schon oben! Als „Politik des geringsten Wider standes" ist sie uns auch im Staatsleben nur allznwohl bekannt geworden. Aus der zuletzt besprochenen Mahnung Freytags klingt der Zmiefel an der Möglichkeit heraus, aus Erfahrungen allgemeine
— io8 — Wahrheiten abzuleiten. An Ranke rühmt er, daß er darauf verzichtet habe, geistreich zu sein. Gewiß sah Ranke in weiser Selbstbeschränknng die Voraussetzung, um in der Geschichts forschung überhaupt zu einem, wenn auch bescheidenen, Erfolg zu kommen. Man kann sich aber beim Lesen seiner eigenen Äuße rungen hiezu des Eindrucks nicht ganz erwehren, daß er selbst schon über diese Forderung noch hinausging, und jedenfalls taten es seine Schüler. Für diese handelte es sich vielfach nicht mehr um bloße Zügelung des Geistes, sondern um seine Zurückdämmung, wobei sie aus der Not eine Tugend machten, für ihr Entsagen mit einer Begeisterung eintraten, als ob es sich nicht um die Erkenntnis einer bedauerlichen Unzulänglich keit, sondern um eine positive Errungenschaft handle, und im Bestreben, nur ja nicht geistreich zu sein, eine Geistesarmut auf kommen ließen, die sich immer leichter darein fand, auf Erkennen und Verstehen zu verzichten und damit auf das Wissen wenigstens des Wissenswertesten. Die Geschichtsphilosophie, in welche der „Idealismus" ausmündete, wollte ohne das genügende Tatsachenwissen zum Ziel kommen. Ranke wies auf letzteres als Vorbedingung des Erkennens hin. In der Folge wagte man dann aber über das Tatsachenwissen überhaupt nicht mehr hinauszugehen, es kam zu einer Hypertrophie des Wissens auf Kosten des Denkens. Gelehrsamkeit trat an die Stelle von Geist und Erkenntnis*). Ja, wer fich Zeit zum Denken nahm, machte sich bereits verdächtig, daß er zu wenig wisse. „Die menschliche Vernunft ist wie ein betrunkener Bauer. Wenn man ihm von der einen Seite auf den Gaul hilft, fällt er auf der anderen wieder herunter." (Luther?) *) Nur von diesem Gesichtspunkt aus hat Langbeh» recht, wenn er in „Rem brandt als Erzieher" sagt: Die deutsche Nationalkrankheit ist der Professor, und die deutsche Jugeodbilduog der bethlehemitische Kindermord.—Ein mildernder Umstand liegt darin, daß hier der Stoff auch geistiger Natur ist, wodurch die Verwechselung nahegelegt wird. Ebendeshalb ist der Jurist vielleicht noch mehr der Gefahr ausgesetzt, über der Masse des Stoffes den Geist zu vergessen und damit als Mensch zu verdorren. Bismarck hat die Juristen dementsprechend beurteilt, wobei allerdings zu bedenken ist, daß die Schwäche derer, die der Gefahr erliege», erst zutage tritt, wenn sie zu einer freieren Tätigkeit (wie z. D. zur Diplomatie) berufen werden.
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Die mit Recht verabschiedete Geschichtsphilosophie, deren Leistungen ungenügend bleiben mußten, weil die Grundlagen ungenügend waren, hatte doch eigentlich nur das gewollt, was auch schon die Geschichtswissenschaft leisten müßte, wenn sie ihr Werk krönen wollte, statt verschämt von der „jedem Verstehen spottenden Irrationalität des geschichtlichen Lebens" ju reden. Freilich muß sie zuerst fesistellen und darstellen, „wie es eigentlich gewesen ist", und diese reine Geschichtswissenschaft wird stets notwendig und nützlich bleiben. Nur dürfte Troeltsch nicht so unrecht haben, wenn er sie auf dieser Stufe ein Handwerk nennt. („Zu manchem gelehrten Werk bedarf es weiter nichts als eine Art höheren Holzhackertalents, Fleiß und Gedächtnis, um zu halten, und Scharfsinn, um zu spalten.") In den letzten Jahren hat nun freilich in der historischen Wissenschaft eine Wandlung eingesetzt, die aber nur deshalb nicht übergangen werden darf, weil sie den noch nicht abge schlossenen, geschweige denn in seinen Wirkungen überwundenen Historismus beleuchtet, mit dem wir es hier zu tun haben. Sein Interesse beschränkte sich noch ganz vorzugsweise auf die genaue, aktenmäßige Erhebung und Darstellung des Herganges, die wohl unerläßliche Vorbedingung des historischen Erkennens und Ur teilens ist und bleibt, aber eben doch nur die Voraussetzung. Und nun regt sich von neuem das alte Verlangen, über diesen stofflichen Historismus, der vielfach in eine Wissenschaft des nicht Wissenswerten ausgeartet war, hinauszukommen, zum wirk lichen historischen Erkennen vorzudringen, den Stoff geistesge schichtlich und psychologisch zu durchleuchten und unter höheren und höchsten Gesichtspunkten zu verstehen, kurz hinter den Er scheinungen den Sinn zu erfassen. Diesen jüngsten Umschwung lassen die Ausführungen Freytag-Loringhovens unberührt. Sie fußen durchaus auf dem Historismus des 19. Jahrhunderts und sind gerade deshalb für uns wertvoll. Denn unter dem gleichen Einfluß stand das deutsche Heer vor dem Weltkrieg, stand auch schon der ältere Moltke. Für sein Handeln als Führer war das freilich nicht von Belang, wohl aber für seine Auffassung von der Heranbildung
iio — künftiger Führer und den geistigen Lebensbedürfnissen des Heeres überhaupt. Nicht daß er ein Lehrgebäude oder ein System hätte hinterlassen sollen — das Erschöpfend-Systematische bewerten wir nicht höher als Freytag-Loringhoven. Aber ein Hinweis auf die Unentbehrlichkeit einer jwar an die Erfahrung anknüpfen den, aber mit der Zeit fortjubildenden Theorie — denn in der Zeit erhält stch nur, was mit ihr fortwächst — ein solcher Hinweis hätte vielleicht genügt, um ju verhindern, daß die Lehre, die Moltke in seinen Taten hinterlassen hatte, zum Petrefakt erstarren und als solcher Unheil anrichten konnte. Für das Wachstum der Erkenntnis ist die Erfahrung (die Geschichte) so unentbehrlich wie die Speise für das körperliche Wachstum. Aber hier wie dort kommt es auch auf die Auswirkung an, ohne welche die Er fahrung jur Schranke des Erkennens wird. Die Auswirkung soll den Erkennenden durch das Gesetz, das die Erfahrung auf stellt, zum gesetzgebenden Prinzip durchdringen und dieses in stch aufnehmen lassen. Das allein schützt ihn vor einer mechanischen Anwendung des Gesetzes, und das allein ist es auch, was eine gute Theorie leisten soll. Wie aber der Historismus die Theorie be wertet hat, wie fremd er dem wahrhaft spekulativen Denken gegen überstand (welches das empirische und theoretische vermittelt, deshalb beide überragt), das hat stch in den Sätzen FreytagLoringhovens so klar und deutlich abgespiegelt, daß nichts mehr darüber zu sagen bleibt. Der ältere Moltke war noch ein Rankeschüler im guten Sinn, obschon natürlich auch mit der Einseitigkeit dieser Schule belastet. Unter seinen Epigonen wurde aber der Gelehrtenhabitus, die vornehme Zurückhaltung und Ausgeglichenheit als Merkmal abgeklärter Sachlichkeit und Objektivität, immer mehr zum Deck mantel der Geistlosigkeit. „Wie er räuspert und wie er spuckt..." (Vgl. S. 43-45 u. 52). Wer wollte aber leugnen, daß ein seelisch geistiger Zusammenhang besteht zwischen dem „Einerseits-Anderseits" (dem „Immerhin" Bethmanns) im Erkennen, und dem „alles gehen lassen, wie's Gott gefällt" im Handeln, richtiger Nichthandeln! Die Betrachtung des Historismus hat uns Dreierlei erkennen lassen: sein negatives Ergebnis, die Warnung seiner Vertreter,
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mehr erreichen, gegen das ignorabimus verstoßen ju wollen, und die Verherrlichung dieser Selbstgenügsamkeit. Das negative Ergebnis wird zusammen mit dem der Naturwissenschaften zu würdigen sein. Aus dem Verzicht sind die unmittelbaren Folge rungen schon gezogen, ebenso aus seiner Verherrlichung, die aber mittelbar noch etwas anderes zur Folge hat: Von einer Denk art, die schon aus dem Verzicht auf das „Geistreich-sein-wollen" einen Ruhmestitel macht, ist der Weg nicht weit zu der, die eine gewisse Geistlosigkeit unter die Vorbedingungen praktischer Be fähigung aufnimmt. Von der voraussetzungslosen Geschichtsforschung galt das selbe, wie von der voraussetzungslosen Naturwissenschaft: daß sie auf die letzten Fragen die Antwort schuldig bleiben mußte und dieses Unvermögen auch eingestand, ohne sich dadurch an der Voraussetzungslosigkeit irremachen zu lassen. Eine achtenswerte Ehrlichkeit, aber die Bankerotterklärung der auf sich selbst gestellten menschlichen Vernunft. So weit hatten es die Philosophen auch gebracht. Das Endergebnis war hier wie dort das kritische Nicht wissen, von dem Franz v. Baader behauptete, daß sich mit den Philosophen auch die Physiker und Theologen nicht wenig darauf zugute täten, womit sie aber unsere Geistesflachheit nur recht gründlich machten *). Das Versagen der abstrakten wie der Natur- und Geschichts philosophie hatte aber seinen letzten Grund nicht da, wo Du BoiSReymond mit den Naturwissenschaftlern ihn suchte: in „einem Fehler der deutschen Uranlage, der in der Tiefe freilich mit großen Eigenschaften zusammenhängt," nämlich im „Hang zur Deduktion gegenüber der Induktion, und zur Spekulation, deren zu stark ge’) Sämil. W. Bethmana, Leipzig 1852.2. Bd. S. 340,324. Den Theologen warf Baader vor, daß sie mit der Behauptung, die Religion sei bloße Herzenssache, ihren Gegnern in die Hände arbeiteten und der voraussetzuagslosen Wissenschaft das Feld räumten, indem sie die Pflege ihrer eigene» Wissenschaft erst vernach lässigt „und endlich ganz eingestellt hätten, um sich, wie sie sagten, mit um so größe rem Nachdruck auf das Praktische zu verlegen, wobei die Feigenblätter des kritischen Nichtwissens die Blößen ihrer Intelligenz bedecken sollten." Die Ursache des Ver zichts «ar jedoch weniger der Mangel an Befähigung als der Umstand, daß auch die Theologen bei der Begriffsphilosophie in die Schule gegangen waren und sich dort bas Bedürfnis substanziellen Erkennens abgewöhnt hatten.
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schwelltet Luftball leicht im Steigen platzt gegenüber der auf sicherem Grund weilenden Empirie. Damit der deutsche Denket — fährt Du Bois fort — „auf der dürren Heide der Spekulation bleibt, ist es meist gar nicht nötig, daß ein böser Geist ihn im Kreis herumführt: er blickt verachtend auf die schöne grüne Weide der Wirklichkeit rings um ihn her""). Als Warnung vor den auch vo« uns gewürdigten Gefahren der Eigenart des deutschen Geistes mögen Du Bois" Worte wohl berechtigt sein — abgesehen von dem Glauben an die „schöne" Wirklichkeit, den er mit Mephisto teilt; aber die Ursache für die Unfruchtbarkeit des deutschen Denkens lag anderswo: die Erkenntnis von Welt und Mensch ist an die Erkenntnis Gottes geknüpft, die jedoch dem Menschen verschlossen bleibt, wenn er sich nicht Gott zum Führer nimmt. Das mußte die voraussetzungslose Wissenschaft selbstverständlich ablehnen; vom „geliehenen Licht"", von dem noch Leibniz an Peter d. Gr. schrieb, durfte sie nichts wissen. „Nachdem die doktrinäre Schlange"", wie Baader meint, „unseren ersten Eltern das Kunststück lehrte, ohne Gott, ja gegen seinen Willen sich Gott gleichmachen, kann es nicht befremden, wenn so viele Philosophen uns im Grund die selbe Wissenschaft lehren, nämlich Gott ohne ihn kennenzulernen, wie sie denn in ihren Konstruktionen immer mit etwas, was nicht Gott ist, anfangen und dann uns am Ende doch zu Gott führen wollen." Da aber „beweisen" auf Früheres zurückführen heißt, und Gott begriffsgemäß das Früheste ist, kann hier die Induktion sowenig zum Ziel führen wie die Deduktion, und den praktischen Nachweis dieser Unmöglichkeit liefern die vergeblichen Versuche, in denen sich die deutsche Geistesgeschichte erschöpft hat. — Selbst verschuldetes Unvermögen setzte die Grenzen des Erkennens fest und erhob den mit dem Nichtwissenkönnen begründeten Verzicht zum Kriterium des gereiften, wahrhaft wissenschaftlichen Geistes. Unter diesem Panier, das aus der Not eine Tugend machte, voll zog sich unsere geistige Entwicklung in den letzten hundert Jahren. Don den Ursachen der unzulänglichen Forschungsergebnisse wenden wir uns zu ihren Folgen. Wie zu Clausewitzens Zeit eine unfruchtbare Spekulation dem Ansehen des geistigen Lebens *) Reden von Emil Du Bois-Reymond. i. Folge. ©. 431.
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und Strebens Abbruch getan hatte, so geschah es in der folgenden Epoche durch die exakten Wissenschaften zum zweitenmal. Frei lich nicht allein dadurch, daß sie das Erkenntnisbedürfnis unbe friedigt ließen (während sie für die Beherrschung der Natur Großes leisteten): Die Naturforscher vertrauten wohl dem Geist als Werkzeug, erkannten ihm aber nicht die gleiche Wirklichkeit zu wie der Materie, erklärten ihn vielmehr als eine Auswirkung derselben. „Der wissenschaftliche Versuch, die Welt des Geistes zu vergewaltigen, indem man sie teils mit der Natur identifizierte, teils in das Prokrustesbett der naturwissenschaftlichen Betrach tung einzwängte", konnte nicht ohne Einfluß auf den Zeitgeist bleiben. Denn nach außen wirkt der wissenschaftliche Irrtum ebenso stark wie die wissenschaftliche Wahrheit. Wir wissen ferner, wie die Vertreter der exakten Wissenschaften über das spekulative Denken der alten Wissenschaft, der idealistischen Philosophie, urteilten, und vom Standpunkt dieser alten Wissenschaft gesehen, war wiederum die neue Naturwissenschaft nur „höhere Rechen-, Meß- und Experimentierkunsi" und die neue Geschichtswissenschaft nur höhere Chronistenkunst. Auch diese Gegensätzlichkeit war dazu angetan, das Vertrauen in den Geist zu untergraben. Im übrigen kommt es hier nicht darauf an, für die abstrakte Spekulation oder eine nicht minder abstrakte (d. h. vom Denken abgelöste und des halb blinde) Empirie, für Deduktion oder Induktion sich zu ent scheiden, sondern allein auf die Feststellung, daß die alte Wissen schaft dem Geist die größere Freiheit und den höheren Rang zu sprach als die neue. Dazu das „Ignoramus, ignorabimus“ und das „nach Sinn und Wert" ewig „rätselhafte Leben", das Herabsehen auf die „selbstgefälligen, armseligen Theorien" und die eigene Jmpotenzerklärung! Woher hätte das Vertrauen zum Geist kommen sollen, wenn er sich selbst in seinen hervorragendsten Vertretern ein solches Zeugnis aus stellte? Mildem Vertrauen war aber auch derMut ver loren gegangen, sich von ihm führen zu lassen, d. h. der Mut zum Denken. Die Negativität war in der Wissenschaft zuerst ausgebrochen und wurde zum Hindernis, das der Forschung, eingestandenerWachter, Krieg und Geist.
— ii4 — maßen noch weitab von ihren durch die Erscheinungswelt ge gebenen Zielen, Halt gebot; und nur die Aufrichtigkeit, mit der
das Unvermögen erkannt und anerkannt wurde, bleibt neben den hohen Verdiensten um das technische Wissen der unvergängliche
Ruhmestitel der voraussetzungslosen Wissenschaft. Soweit aber ihre Ergebnisse negativ waren und der Grundeinstellung ent
sprechend negativ sein mußten, haben sie eine fortschreitende Min derung der Achtung vor dem Geistesleben überhaupt jur Folge gehabt. Dieser Verlauf war frellich bei allen Kulturvölkern der gleiche, wirkte aber nach außen hin bei keinem so verderblich wie beim deutschen, dessen geistige Höchsibegabung, wie schon im ersten
Teil erwähnt, recht eigentlich und um so mehr sein Siegesmittel sein und bleiben mußte, als sie zugleich die Hauptquelle einzigartiger Mängel und Schwächen des politischen Charakters ist. Die Wissenschaft war aber freilich nur im selben Verhältnis irreligiös geworden, in dem die Religion unwissenschaftlich und
geistlos geworden war. Auch hier bewährte sich das Wort des Sozialdemokraten Proudhon: „Es ist merkwürdig, bei allen großen Fragen, sowie man in die Tiefe geht, stößt man auf die Theologie." Die voraussetzungslose Wissenschaft mit ihren schäd lichen Einwirkungen auf das Ansehen des Geistigen wäre eine weniger beherrschende Macht geworden, wenn eine religiös be gründete, vornehmlich in Deutschland (von Jak. Böhme und seinen Nachfolgern) ausgebildete Philosophie die gebührende Beachtung seitens der protestantischen Theologie gefunden hätte, die sich aber
statt dessen der Begriffsphilosophie zuwandte, auf diesem Wege gleichfalls beim kritischen Nichtwissen anlangte und darum des zum Kampfe mit der voraussetzungslosen Wissenschaft nötigen Rüstzeuges ermangelte. Wozu freilich auch der weitere Um stand beitrug, daß die Theologen wie übrigens die allermeisten
Leute, aus denen sich in Deutschland die führenden Kreise zusammensetzten, eine rein literale Bildung genossen, nur im dis kursiven Denken geschult wurden, während ihnen das intuitiv begründete mathematisch-physikalische Erkennen fremd blieb. — Auch die Theologie der sog. positiven Richtung wandelte trotz
— 115 — ihrem religiösen Purismus auf den Wegen Hegels, wodurch sie immer tiefer in den Zauberkreis einer spiritualistisch-formalisti schen Bewußtseinswelt hineingeriet, und überhörte die unzünftigen Vertreter der erwähnten christlichen Philosophie. Ebendeshalb brachte sie es auch zu keiner tieferen Erfassung und innerlicheren Begründung der christlichen Wahrheit, als schon die Reformation gekannt hatte, und die weitere Folge war die Betonung des ir rationalen Charakters dieser Wahrheit, die Flucht zur Paradoxie, in der sich hier das kritische Nichtwissen auswirkte. So hat die Theologie dem wissenschaftlichen Atheismus nicht nur das Feld geräumt, sondern ihm durch ihr Bekenntnis zur Irrationalität auch noch ausdrücklich die Waffe des Geistes zum Alleinbesitz ausgeliefert. Den Nutzen daraus zogen die Feinde, wie ihn andere Feinde aus dem Dogma gezogen haben, zu dem man das Wort von der Strategie als einem System der Aushilfen gemacht hatte. Über die Unzulänglichkeit der Theologie gegenüber dem Ansturm einer glaubensfeindlichen Wissenschaft hat sich auch Schlatter ausgesprochen: „Es hat eine lange Zeit gebraucht, bis sich die theologische Arbeit einigermaßen auf die veränderte Situation eingerichtet hat, und das Urteil wäre schwerlich un begründet oder übertrieben, daß die Theologie auch heute noch die Veränderung der Situation nicht vollständig begriffen hat^). — Und Baader vertrat die Ansicht, daß „der Mißbrauch der Intelligenz durch die Religionsfeinde seine Stärke hauptsächlich in ihrem Nichtgebrauch seitens ihrer berufenen Verteidiger finde." Am 2g. Dezember 1825 schloß er eine Rede in der bayerischen Akademie der Wissenschaften mit folgenden Worten: „Ich meine das Problem der Restauration der Wissenschaft durch die Religion sowie der Religionslehre durch die Wissenschaft ... weil wir nämlich überall teils nur jenen Mißbrauch der Wissenschaft zur Destruktion der Religion gewahren... teils eine Wissensscheu, welche der Sache der Religion nicht minder schädlich ist, indem sie die Sache des Lichts mit den Waffen des Obskurantismus verteidigen zu müssen wähnt, uneingedenk jenes Spruches der
*) „Die philosophische Arbeit seit Cartesins usw." Bertelsmann, Gütersloh 1910. 2. Anfl. ©. 93—96.
— n6 — Schrift, daß wo der Geist des Herrn ist, auch Freiheit (somit auch jene der Intelligent) ist." Glaube und Wissen können nur zusammen bestehen, und „wo sie einander zu widerstreiten scheinen, ist es nur ein Glaube, der einem andern Glauben widerspricht." In der „Eintracht oder Zwietracht des religiösen Glaubens und Wissens, damit der Stärke oder Schwäche beides sieht Baader „den wahren Lebensmesser für ein Volk." Der Generalleutnant und spätere Generaloberst von Moltke klagte in einem Brief an seine Frau vom Jahre 1903x), anknüpfend an eine Predigt, die ihm „wie selten eine zu Herzen gegangen" war und „die Erhabenheit des christlichen Glaubens zum Bewußt sein gebracht" hatte, daß ihm trotz allem Ringen die christliche Glaubensgewißheit versagt geblieben sei: „Wenn ich meinen sog. Verstand ausschalten könnte, würde es mir vielleicht gelingen, den Frieden zu erringen, der höher ist als alle Vernunft. Aber das Dogma der Erlösung steht vor mir unverständlich und unfaßbar. Ich kann es nicht begreifen, weshalb es für einen Gott, der die Liebe sein soll, nötig war, ein blutiges Opfer des Unschuldigen zu verlangen, um sich mit den Schuldigen zu versöhnen, und wie es möglich sein soll, daß mir meine Schuld erlassen wird, weil ein anderer gelitten hat. Aus diesem Konflikt komme ich nicht heraus, und da ich somit die Erlösung nicht begreifen und daher nicht für mich beanspruchen kann, kann ich auch nicht auf den Felsengrund des Glaubens kommen und wate weiter in dem Triebsand der grübelnden Zweifel. Ich hoffe aber, daß Gott mir helfen werde, und wenn nicht in diesem, dann in einem andern Leben einen Lichtstrahl schenken werde, dem ich folgen kann." Nach diesem Geständnis überrascht es nicht, wenn sich der grübelnde Zweifler zunächst, wie wir aus dem gleichen Briefe erfahren, einem Ent wicklungsglauben hingab und später vom ungestillten Verlangen nach Erkenntnis den Lehren Rudolf Steiners zugeführt wurde. Es ist eben ganz ungenügend, im Sündenfall ohne Rück sicht auf den Inhalt des Verbotes nur einen formalen Ungehor sam zn sehen (womit man, wie Jak. Böhme sagt, aus Gott einen zornigen, boshaftigen Teufel macht), statt eine Infizierung der
x) A. a. O. S. 281.
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menschlichen Natur; und dementsprechend in der Erlösung nur einen Rechtsprozeß statt einen Lebensprozeß, insoferne der Mensch zur Neubegründung seines ethischen Lebens der göttlichen Natur teilhaftig werden muß. Denn Gott ist freilich Geist, hat aber Natur, ist naturfrei, nicht naturlos. Die Ablehnung des katho lischen Naturalismus, später aber auch der Einfluß der Vernunfts philosophie hat diese Wahrheit in der Reformationsdogmatik so sehr in den Hintergrund geschoben, daß man schließlich Gott seine ewige Natur überhaupt abstritt. „Wir liegen im Banne der durch und durch unbiblischen Vorstellungen, welche wir mit dem Worte Geist verbinden. Geist ist für uns der ausschließende Gegensatz zu allem, was in irgendeinem Sinne Natur heißt" *). — Beim Menschen aber hat die Theologie wie nur von einer ver dorbenen Vernunft, so auch nur von einer verdorbenen Natur Kenntnis genommen und sah flch dann um so weniger veranlaßt, auch selber in die Tiefe wahrer Naturerkenntnis einzugehen, wozu sie allerdings auch außerstande war. Was ihr auch hier den Weg versperrte, war aber dasselbe, was Theologie und Wissen schaft auseinanderhielt, der beiden gemeinsame Irrtum, der Natur und Materie gleichsetzte. Deshalb war auch die Theo logie „sowenig imstande, die Unzulänglichkeit ihres Eindringens in die Tiefe der göttlichen Dinge hinter ihrem immer mehr sich anhäufenden historisch-philologisch kritischen Apparat zu verbergen, wie die Naturkunde ihr Nichteindringen in das Wesen der Natur durch die sich wie Berge auftürmenden Ergebnisse, die sie als Beobachtungs- und Cxperimentierkunst gewann; so daß Schriftund Naturkunde miteinander verdorrten"-). Während letztere in der Materie auf und unter ging, glaubte sich die erstere vor dem Materialismus nur durch die Flucht zu einem (schlechten) Spiri tualismus retten zu könnens. Damit mußte aber das „Er lösungsdogma" notwendig juristisch-formalistisch und deshalb — nicht allein dem General von Moltke — unverständlich werden. *) Pechmann im „Protestantismus der Gegenwart." (Bohenberger, Stutt gart 1926.) S. 217. 2) Baader. 10. Bd. S. 60 ff. 3) Wenn das Leben entflieht, hinterläßt es den Leichnam und das Gespenst. Mau kann sich nur an eines von beiden halten.
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Mit der Ablehnung nicht nur der falschen, sondern auch der wahren Spekulation verkümmerte das religiöse Wissen. Und doch kann und soll dieses Wissen, dessen Gegenstand ewiger Natur ist, jv keiner Zeit stillstehen, sondern nur im Fortwachsen stch er halten und behaupten. Die Rückwirkung des Stillstandes be schränkte stch nicht auf die Theologie, sie äußerte stch auch darin, daß eine Wissenschaft auf christlicher Grundlage, die zugleich zum Angriff auf die voraussetzungslose Wissenschaft befähigt gewesen wäre, überhaupt nicht mehr aufkommen konnte. Beides aber, die unmittelbare wie die mittelbare Leistung, die Förderung der Religions- wie der Profanwissenschaft, wäre auch dem An sehen des Wissens oder des geistigen Lebens überhaupt zugute gekommen. Und wir haben es hier allein mit der Bedeutung der Theologie für das Geistesleben zu tun, von dem die Be wertung des Geistes im Volksbewußtsein abhängt. — Wiederum aus dem gleichen Grunde konnte schließlich auch die bloße Abwehr nicht zum Ziel führen. Weil die Theologie nur von einer Weltweisheit der von Gott abgesonderten Vernunft Notiz nahm, nicht aber von einer Erkenntnis — auch der Welt und des Menschen — durch eine von Gott geleitete, konnte sie ihren Standpunkt dem deutschen Geistesleben gegenüber, das sich seit der Aufklärung von den christlichen Erkenntniskräften und -quellen losgesagt hatte, nicht wissenschaftlich begründen, deshalb ebendiese Abkehr auch nicht wirksam bekämpfen. Von einem andern Gesichtspunkte aus, deshalb auf einem andern Wege kam Lütgert*) im wesentlichen zu den gleichen Er gebnissen wie die vorstehende Betrachtung: „Bei dem tiefen Ver fall der Philosophie war eine Herrschaft des Stoffes und ein Spe zialismus an den Universitäten eingerissen, der die Einheit der Wissenschaft auflöste. Die Wissenschaft gab Kenntnisse aber keine Erkenntnis, Wahrheiten aber keine Wahrheit. Sie verbreiteten damit die äußere Zivllisation aber nicht die innere Kultur ... Das Versinken in Einzelheiten?) machte die Gelehrten einseitig x) A. a. O. S. 359s.
2) Wenn jur spezialisierten und spezialisierenden Wissenschaft, die in die Breite gehen muß, nicht eine Wissenschaft hinzutritt, die in die Tiefe geht, schädigt sie
— IIY — und borniert. Die Krisis wurde durch den Materialismus der fünfziger Jahre noch bedeutend verschärft ... Theologie und Philosophie waren ju „Fächern" geworden im Gegensatz ju ihrer ursprünglichen Bestimmung. In dem Konflikt zwischen Speku lation und Religion ... litt nicht nur die Kirche, sondern ohne daß ste es bemerkten, ganz ebenso auch die Universttäten ... Ernst Curtius erkannte in der Trennung von Philosophie und Religion den Grund der geistigen Zerrüttung ... und stellte die Forderung auf: Die Philosophie „muß sich an die Religion an schließen und christlich werden" *)... Der Kampf, in dem Idealis mus und Erweckungsbewegung einander feindlich gegenüber getreten waren, schwächte das Ansehen ... der Wissenschaft wie der Religion, denn der Zerfall der Wissenschaft in eine Unzahl von einzelnen Fächern, die nicht mehr durch ein gemeinsames geistiges Band zusammengehalten waren, war doch nur die Folge davon, daß die religiösen Motive aus der wissenschaftlichen Arbeit ausgeschaltet wurden, daß damit die Metaphysik verschwand und mit dem Gottesbewußtsein das einigende Band der Wissenschaft verloren ging. Indem die religiösen Interessen zurücktraten, entleerte sich und ermattete das geistige Leben überhaupt2*).1 Es war von seiner Wurzel abgeschnitten und damit geriet es in die Gefahr zu verdorre». Der Zersetzungsprozeß, der die Religion auflöste, ergriff schließlich auch die Wissenschaft an ihrem innersten Kern." — Die Beeinflussung von Philosophie und Theologie war also immer eine wechselseitige, der Zusammenschluß mußte auf Gegenseitigkeit beruhen. Das Verhängnisvolle aber war, daß auch die Theologie der sog. positiven Richtung den Anschluß an das Ansehen des Geistes, weil sie, wie oben gesagt ist, nur di« Kenntnis von Wahr heiten, aber nicht die Erkenntnis der Wahrheit vermittelt »nd insoferne das Er kenntnisbedürfnis «nbefriedigt läßt. 1) Auch Tholuck, ein Schüler Jakobis und des (von Baader beeinflußten) Schelling in seiner späteren Entwicklung, „ließ keine Trennung zwischen Philo sophie «nd Theologie gelten". (Lütgert a. a. O. 3. Dd. S. 156.) 2) In einem Aufsatz der „Neuen Pädagogik" sagt Max Wandt: „Alle wahre Bildung muß auf dem Grunde der Religion befestigt werde», «eil nur die Religion einen wirklichen, unbedingten Wert bietet ... Religion aber bedeutet für «ns Christentum ... Verlieren wir das Christentum, so versinken wir, wie die Lage bei uns einmal ist, hoffnungslos in die westeuropäische Aufklärung."
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die Philosophie der autonomen Vernunft nahm statt an die christliche Philosophie, die immer da war, aber keine oder eine
ganz ungenügende Beachtung fand. Erst hat man ste übersehen und dann nicht nur ihr Dasein, sondern auch ihre Möglichkeit geleugnet.
Eingangs war davon die Rede, daß das militärische Denken in das Schicksal des deutschen Geisteslebens mit hineinverflochten
war, und dieses Schicksal vollendete sich damit, daß Deutschland in der gekennzeichneten geistigen Verfassung zu guterletzt auch noch
von außen her durch eine Woge der Geistlostgkeit überflutet wurde. Sie kam von Westen und hat im Lauf der letzten fünfzig Jahre den mit der „Aufklärung" begonnenen Abschnitt deutscher Geistes geschichte zum Abschluß gebracht. Das Ungenügende der geistigen Kultur dieses Zeitraumes ist schon so unzählige Male abgehandelt worden, daß es überflüssig erscheint, aufs neue darauf einzugehen. Auch die angelsächsische Geistlostgkeit beruhte aber auf einer Geistes scheu, auf Angst vor dem Geiste. In seinen „Kriegs aufsätzen" hat sich Chamberlain *) über die bildungsfeindliche Richtung und die „grundsätzliche Ablehnung jeder intellektuellen Betätigung, die in England vorherrscht" ausgesprochen: „Schon vor Jahren bemerkte der Schwede Steffens mit Recht (in seinem vortrefflichen Buche „England als Weltmacht und Kuliurstaat"), es handle sich bei den Engländern um eine abergläubische Furcht vor der Mitarbeit des Geistes an menschlichen Angelegenheiten". — Es war wohl immer so, aber sicher seit der Zeit der „Aufklärung", daß in Deutschland der Nachdruck auf die Ausbildung des Ver standes, in England auf die des Willens gelegt wurde. Darauf beruhte die deutsche Überlegenheit auf dem kulturellen, die eng lische auf dem politischen Gebiet. So hatte jedes der beiden Völker
seine schwache und seine starke Seite. In den letzten fünfzig Jahren hat sich aber der Deutsche mehr und mehr die schwache Seite des Angelsachsen zu eigen gemacht — statt die starke. Seit -er Reichsgründung haben wir uns nicht nur immer mehr zum 2) H. St. Chamberlain, „Kriegsaufsätze", F. Bruckmann, München 1915, S. i8f.
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Industrie, und Handelsvolk entwickelt, sondern sind auch in unserer ganzen Lebensauffassung und Lebensführung *) mehr und mehr verengländert mit dem Erfolg, daß der Pulsschlag unseres Geisteslebens immer schwächer und schwächer wurde, und das Volk der Dichter und Denker in der Betriebssamkeit des Er, werbslebens langsam dahinsiechte. Mittelmäßigkeit, Oberfläch, lichkeit, Abwesenheit geistiger Interessen, besonders aber gründ, liche Verachtung aller grauen Theorie — und eine andere gab es nicht — wurden empfehlende Eigenschaften im öffentlichen Leben wie im Staatsdienst. Sehr kluge Leute wurden deshalb schweigsam, weil sie wußten, daß sich hinter der Verschlossenheit seltener der Geist als der Mangel an solchem versteckt. Mit einer übermäßigen Betonung des gesellschaftlichen Lebens und der damit zusammenhängenden Veräußerlichung der Lebensführung überhaupt ging die Austrocknung des Geisteslebens Hand in Hand. Auch die Wehrmacht und ihre Führerschaft blieb von alle dem nicht unberührt. Mit der Unterschätzung des Geistigen sind wir uns selber untreu geworden und haben den Kernpunkt deutschen Wesens verleugnet. Nicht zum erstenmal ist dem äußeren Fall ein inner, licher Abfall von der eigenen Art durch Anpassung an fremde Art und Unart vorausgegangen. Dieses Mal durch Derengländerung. Die intuitive Veranlagung, die der Angelsachse, wie auch der Romane, vor dem Deutschen voraus hat, sein höher entwickelter Instinkt für das Zweckmäßige, macht ihm das wissenschaftliche Denken für die Aufgaben des praktischen Lebens entbehrlicher und läßt es ihn dementsprechend geringer bewerten. Für den Deutschen aber bedeutete es einen Verzicht auf Unentbehrliches, wenn er sich dieser Denkart anschloß. Zugleich übersah er, daß die Auswertung seiner besonderen Veranlagung ihm nicht nur die Ebenbürtigkeit gesichert, sondern ihn sogar zur Erreichung höherer !) Die Unfähigkeit, eine neudeutsche Lebenskultur zu schaffen, ließ den Empor, kömmling in hergebrachter Weise eine fremde nachäffen, die nicht an sich schlecht, aber deutschem Wesen unaogemessea «ar. Das Ergebnis war eine Mischung, die wie jeder Bastard mehr die schlechten als die guten Eigenschaften der Er, teuger zum Erbteil hatte; wobei insonderheit der Mammonsgeist nicht englischer, sondern deutscher (und jüdischer) Herkunft «ar.
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Ziele befähigt hätte. In diesem Sinne ist es zu verstehen, daß wir zuerst dem angelsächsischen Geist erlegen sind und dann der angel sächsischen Macht. — Es ist der unzerstörbare Ruhm des deutschen Volkes, daß es das Führervolk auf dem Gebiete der Geistes wissenschaften war. Aber die Angst vor der eigenen Tiefe hat uns dazu gebracht, den Gipfel der Weisheit — nicht immer und überall, aber doch öfter und auf weiteren Gebieten, als uns heilsam war — im Verzicht auf das Denken zu erblicken. So hat es uns schließlich am Geist gefehlt, nicht weil er uns ausgegangen, sondern «eil er von uns ausgeschlossen war. Auch in der Kriegführung haben wir vom deutschen Geist einen ungenügenden Gebrauch gemacht. Zur Strafe müssen wir jetzt unseren Feinden ausliefern, was sie für ihre Zwecke davon brauchen können — und reden uns ein, damit „der Menschheit zu dienen" (als Fortschrittsgläubige die Sprache unserer Feinde redend). Weil aber der deutsche Geist zugleich das einzige ist, was unsere Feinde in Wahrheit noch fürchten, soll er ausge rottet werden, soweit er stch nicht dienstbar machen läßt. Und auch dazu soll er selbst mithelfen, zu seiner eigenen Zerstörung — der deutsche Volkscharakter schafft die Möglichkeit dazu. Und der deutsche Geist hilft auch tatsächlich schon dazu mit, wie er mit hilft, die deutsche Dolkskraft überhaupt zu zerstören. Das Ende ist, daß der Deutsche der Fremdherrschaft von Völkern unter worfen bleibt, die er an geistiger Begabung überragt. Der Ver anlagung entsprechend waren wir von Hause aus die geistigen Sünder par exellence, die andern die materiellen und po litischen; nur beides zusammen erklärt unser Schicksal. Und wenn zuletzt von einer westlichen Welle der Geistlosigkeit die Rede war, so darf uns das nicht verführen, in dem Zeitgeist, auf den die Nutzanwendung aus diesem dritten Teil zu ziehen ist, etwas anderes als das Ergebnis unserer eigenen geistigen Entwicklung zu sehen. Hätte diese den richtigen Verlauf genommen, so wären wir nicht dazu gekommen, die Geistlosigkeit zum Schluß auch noch von außen einzuführen. Mit Recht ist zu Beginn des Krieges darauf hingewiesen worden, daß diese Prüfung, im Unterschied zur letztvorausge-
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gangenen, ohne Mitwirkung des Genies vom deutschen Volk bestanden werden müsse, nur aus der Kraft, die der Gesamtheit eigne; ebendarin liege ihre Eigenart wie ihre Größe. Damit war ausgesprochen, was es eigentlich sei, das im beginnenden Kampf um Sein oder Nichtsein entweder sich bewähren oder — versagen werde. Die vorliegende Schrift ist von der Behauptung ausgegangen, Deutschland sei an der Geistlosigkeit seiner Diplo matie zugrunde gegangen, woran die Frage geknüpft war, ob ähnliches vielleicht auch von der Kriegführung gelte. Die Frage mußte bejaht werden: was hier wie dort versagt hat, war nicht die Gesinnung, nicht der Wille, sondern der Geist; insonderheit war sein Versagen die Ursache, daß der gebotene schnelle Sieg im Westen ausblieb. Aber letztlich war hier wie dort weder der individuelle Geist noch jener der beiden Berufsstände der Schuldige, sondern sobald und so oft das staatsmännische und militärische Wirken nicht mehr von der Genialität einzelner großer Männer getragen war, erlagen die Handelnden dem beherrschenden Ein fluß des Zeitgeistes: die Richtung, welche die Entwicklung des deutschen Geistes genommen hatte, wurde zum Verhängnis des deutschen Volkes. Nur diese Ursache steht auch im richtigen Ver hältnis zur Größe der Katastrophe. Wir fassen zusammen: Im Jahre 1914 ist uns der Sieg ver sagt geblieben, weil wir dem geistigen Element der Kriegführung zu wenig Beachtung geschenkt hatten. Das Mißtrauen in die Mitwirkung des Geistes war aber keine militärische Eigentüm lichkeit, es war ziemlich allgemein und wurzelte in unserer geistes geschichtlichen Entwicklung: Hatte der „Deutsche Idealismus" das Erkenntnisbedürfnis unbefriedigt gelassen, so fügten die exakten Wissenschaften das Geständnis der Unmöglichkeit seiner Befriedigung hinzu. Die voraussetzungslose Wissenschaft konnte zu keinem andern Ergebnis kommen, weil sie mit der Ablehnung der christlichen Erkenntnis angefangen hatte. Daß sie dieses tun und gleichwohl solange das Feld behaupten konnte, war mit verschuldet durch ein Versagen der Theologie. — Und die Lehre aus der Fabel? Mit Gott wollten die Deutschen nicht denken (und ihre Frommen glaubten nicht an solche Möglichkeit). Ohne
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Gott blieb ihr Denken unfruchtbar: trotz außerordentlichen Leistungen in gewissen Richtungen ließ es den Erkenntnishunger ungestillt (Goethes „Faust" bezeugt uns seinen verzehrenden Brand wie überhaupt die ganze negative Seite des Christen glaubens, den Unglauben an die Welt und ihr Vermögen, den Menschen satt zu machen). Das eingestandene Unvermögen er schütterte in zunehmendem Maße das Vertrauen in die Denk kraft überhaupt, auch wo fie in den Dienst der äußeren Lebens aufgaben, d. h. in den Dienst des Könnens (nicht nur des Wissens) treten sollte; und die Versuchung, daraus verderbliche Folgerungen für ihren Gebrauch oder vielmehr Nichtgebravch zu ziehen, lag auf keinem Gebiete näher als auf dem der Kriegführung. — Aufs Ganze gesehen, ist also unsere Geisilofigkeit die Folge unserer Gottlofigkeit, und diese Ursächlichkeit bleibt bestehen, auch wenn die Geistloflgkeit nur auf argwöhnischer Zurückhaltung beruht. Wie anderseits auch ihre Wirkung bestehen bleibt, an der gerade das Schlimmste ist, daß uns mit der Verleugnung des Geistes der in allen Tönen gepriesene Wille um so verderblicher wird, je stärker er ist. — Schließlich hat die Unterschätzung des Wertes wissenschaftlichen Denkens im praktischen Leben — nicht nur in der Technik — durch das schlechte Beispiel des Auslandes noch eine Steigerung erfahren. Das Schicksal des geistigsten Volkes konnte fich nur im Reiche des Geistes entscheiden, und das deutsche Volk wird die wichtigste Lehre aus dem Weltkriege erst dann ge zogen haben, wenn es sich zu der Einsicht hat führen lassen, daß es selbst anders werden muß, anders werden auf seinem eigensten Gebiet, im Geistesleben.
Schlußwort. Im vorstehenden ist unsere Ansicht über die tieferen und tief sten Ursachen des Versagens der deutschen Heerführung bei Be ginn des Weltkrieges entwickelt worden. Es «urde nun die Ein wendung erhoben, daß in den siegreichen Kriegen von 1813—15 und von 1864—71 dem geistigen Element auch kein größerer Einfluß auf die Kriegführung eingeräumt worden sei als im Jahre 1914, und daß nicht die Scheu vor der Mitarbeit des Geistes uns im letztgenannten Jahr um den Erfolg gebracht habe, sondern nur der Umstand, daß wir keinen Feldherrn hatten. Darauf ist zu erwidern, daß die geistige Überlegenheit nur als ein Siegesmittel bezeichnet wurde, allerdings als ein spezifisch deutsches, auf die nationale Eigenart begründetes und deshalb besonders geeignetes, um unter sonst gleichen Verhältnissen den Ausschlag zu geben (S. 67). Es folgt daraus, daß sich sein Nichtgebrauch nicht immer verderblich zeigen wird, jedoch um so schwerer rächen muß, je geringer die eigene Überlegenheit an andern Siegesmitteln ist. In den erwähnten früheren Kriegen war nun auch die Über legenheit an andern Siegesmitteln im allgemeinen auf preußisch deutscher Seite, während im Jahre 1914 die Gegner zahlenmäßig weit überlegen, der Krieg schon vor seinem Beginn politisch ver loren, und die deutsche Kriegführung nicht sowohl, wie namentlich zur Zeit Bismarcks, von der Politik getragen als vielmehr von ihr gehemmt war. Zu alledem haben dann aber in den siegreichen Kriegen des 19. Jahrhunderts von Anfang an auch die Methoden unserer Kriegführung den Anforderungen der Zeit und der je weiligen besonderen Lage besser entsprochen als im Jahre 1914 oder — 1806, mit welchem Jahr nicht nur in dieser Hinsicht,
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sondern überhaupt das erste Weltkriegsjahr immer zuerst in Ver gleich gestellt werden muß. In beiden Jahren fehlte uns freilich auch der Feldherr. — Der Schrei nach dem Feldherrn ist zugleich der Schrei nach dem Geist. Wenn nns der Himmel das fertige Genie beschert, könnte die Pflege des geistigen Elements mehr oder minder überflüssig erscheinen. Man müßte aber erst Gewißheit haben, daß sich die Hoffnung ans den Feldherrn nicht als trügerisch erweist, und hier darf vielleicht daran erinnert werden, daß fast alle großen preußi schen Staatsmänner und Feldherren des vorigen Jahrhunderts keine Preußen waren. Sie fanden nur im Preußenvolk und seinen Herrschern ein nicht minder seltenes, unvergleichliches Werkzeug, um ihre Gedanken zu verwirklichen. Angenommen aber, daß die Hoffnung auf den Feldherrn sich erfüllt, wird dann der Genius von denen, die dem Geist mit Vorsicht gegenüberstehen, gefunden werden? Denn das ist der springende Punkt. 1914 war er nicht gefunden. Noch eine Frage drängt sich auf — unter der Annahme eines freien Staates, der befähigt und gewillt ist, seine Freiheit nötigenfalls mit den Waffen zu verteidigen. Wird ihm überhaupt zu allen Zeilen und in jedem Augenblick ein Feldherr zur Ver fügung stehen? Kann und darf er seine Existenz auf diese eine Karte setzen? Oder muß er darauf Bedacht nehmen, sein Schwert nötigenfalls dem Talent anzuvertrauen statt dem Genie und dementsprechend geeignete Führer auch für die Aufgabe des Feld herrn vorzubilden? Die Frage dürfte zu bejahen sein. Die Hoff nung auf das vom Himmel fallende Genie muß durch Sicher stellung eines tüchtigen Handwerkers ergänzt werden, sonst be deutet sie ein Glücksspiel, das sich, wenn es um die Freiheit eines Volkes geht, nicht verantworten läßt. Hier gilt der Spruch vom Sperling in der Hand und der Taube auf dem Dache, und die Schule wird um so wichtiger, je weniger man sich auf das Erscheinen des Genies allein verlassen will. Feldherren kann man so wenig machen wie Bäume oder, um dies nebenbei zu sagen, wie Staats verfassungen. Wenn sie nicht bloß Versatz- (und Ersatz-) Stücke bleiben sollen, müssen sie gewachsen sein. Aber eines kann man
— 127 — allerdings tun, man kann ihnen den Boden bereiten: dem Feldherrn durch Pflege des geistigen Elements der Krieg
führung. Was folgt aus alledem für die Selbstkritik, in der uns Fried rich d. Gr. mit seiner Schonungslosigkeit gegen sich selbst das unerreichte Vorbild ist? Wenn auf den Feldherrn nie mit Sicher heit gerechnet werden kann, dann hat die deutsche Selbstkritik im Hinblick auf das Jahr 1914 ihre Pflicht nicht ganz erfüllt, solange sie bei der Festsiellung Haltmacht, daß uns der Feldherr versagt geblieben sei. Sie darf den letzten Schritt nicht scheuen, der jvm Geständnis führt, daß auch nicht alles geschehen war, um die verderblichen Folgen eines solchen Mangels durch Be gründung und Fortbildung einer den höchsten Anforderungen genügenden Lehre und Schule abzuschwächen, soweit es in mensch lichen Kräften liegt. „Ein fauler Baum kann keine guten Früchte bringen." Soll der Rückschluß aus den Früchten, die der Sommer 1914 am Baume der deutschen Truppenführung gezeitigt hat, auf die Beschaffenheit des Baumes dadurch verhindert werden, daß man den geborenen Feldherrn als die conditio sine qua non alles kriegerischen Erfolges erklärt und daraus das Recht ableitet, das Schicksal, den Neid der Götter allein auf die Anklagebank zu setzen, statt auch in diesem Falle dem Beispiel des großen Königs zu folgen und die Schuld zuerst bei sich selbst zu suchen? Gewiß nicht das Bequemere und gewiß nicht möglich ohne ein gewisses Maß von Selbstverleugnung! Aber ebenso gewiß das Verheißungsvollere und Fruchtbarere. Es gibt keinen Weg zur Tüchtigkeit ohne Selbsterkenntnis und keine Selbsterkenntnis ohne Selbstkritik, die nie ein Zeichen von Schwäche ist. Wird aber die hier geübte Selbstkritik nicht dem Ansehen des alten Heeres, damit der deutsche» Wehrfähigkeit überhaupt schaden? Nun, die Männer, auf die sie sich beruft, haben durchweg selbst dem alten Heere angehört, wenn auch ihre Lehren nicht die gebührende Beachtung fanden; und das Ansehen der deutschen Wehrfähig keit wird nicht gemindert werden durch eine Selbstkritik, die Zeug nis von dem nicht erloschenen Bestreben gibt, diese Fähigkeit nicht weniger als auf den deutschen Willen auf den deutschen
— 128 — Geist zu begründen, das einzige, was unsere Feinde, wie schon et# wähnt, zur Zeit noch fürchten. Die unbegründete Einwendung, von der bisher die Reibe war, läßt es gerechtfertigt erscheinen, ihr zum Schluffe noch eime besser begründete gegenüberzustellen: Ganz allein hat das deutsche Geistesleben nicht die (mittelbare) Schuld am militärischen Miß erfolg des Jahres 1914. Das Pochen auf die Willenskraft allein, die bewußte und gewollte Ablehnung einer weitergehenden Jmanspruchnahme des logischen Denkens war schon auch die um mittelbare Folge einer gewissen Entartung, so daß man in dieser Hinsicht sagen könnte: die preußische Tatkraft hat uns auf d>ie Höhe geführt, die preußische Oberflächlichkeit als Auswuchs dieser Tatkraft wieder hinabgestürzt. Und manchmal gewinnt man den Eindrnck, als ob damit auch jetzt noch Schule gemacht werden sollte. Solange wir aber das Denken einschränken aus Angst vor mög licher Verirrung oder weil wir für Erkenntnis halten, was nur Vorbedingung dafür ist, wird es uns nichts helfen, wenn wir noch so viele weitere kriegsgeschichtliche Funde und Fündlein mache«. Die sind nur Anfang und Voraussetzung, wichtiger ist das Ver ständnis ihrer Lehren. Aber auch hier gilt, daß die Grenzen deS Erkennens nicht unveränderlich sind; und wie es einen geistigen Hochmut gibt, der sie nicht erweitern, sondern überspringen will, so einen Hochmut der Beschränktheit (als Selbsibeschränkung), der sie zum Dogma macht, d. h. erstarren läßt und jeden, der an diesem Dogma rüttelt, als Abenteurer und Revolutionär brand markt oder als „Klugsprecher" verhöhnt. Mit dem eben Gesagten erweitert sich nun auch das Schluß ergebnis der ganzen Abhandlung: die tiefere Ursache des Ver sagens der Führung bei Kriegsbeginn lag darin, daß schon die Friedensschule dem Geist ein Übermaß von Vorsicht entgegen gebracht hatte, womit aber der Soldat nur dem Zug der Zeit gefolgt war (vgl. S. 100, Z. 11). Das Volk der Dichter und Denker ist einer grundsätzlichen Zurücksetzung des Geistes erlegen, die drei Wurzeln hatte, die geistesgeschichtliche, das angelsächsische Bei spiel und die Entartung der eigenen Tatkraft. Im Kriege ist der rücksichtslose Wille das wirksamste Mittel und deshalb das erste
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Erfordernis. Der Glanz dieser Wahrheit hat übersehen lassen, daß das erste Erfordernis weder das einzige noch das letzte ist. Es gibt aber Verhältnisse, die den Einsatz aller, auch der letzten Mittel notwendig machen — im Jahre 1914 war es die große feindliche Übermacht — und der Geist läßt sich im Bedarfsfälle nicht so schnell aufbringen wie der Wille, wenn nicht schon vorher das Nötige dafür geschehen ist. Das Höchstmaß von Befähigung zum Wägen und zum Wagen, zum Raten und zum Taten ist selten im einzelnen Menschen vereint, nie in einem Dolksstamm. Da steht dem höheren Maß der Begabung nach der einen Seite stets ein entsprechend geringeres nach der anderen Seite gegenüber. Es gllt, die positive Veranlagung zu nützen und die negative zu überwinden. Hier schon entscheidet die Führung. Weshalb auch die erste Entscheidung des Weltkrieges schon im Frieden fiel als eine Entscheidung, wenn man so will, zwischen zwei Richtungen im Geistesleben des Heeres.
Die vorstehende Studie einschließlich des Schlußwortes war geschrieben, bevor der Verfasser mit den einschlägigen Schriften Gleichs, Mosers und Leinvebers bekannt wurde. Sie enthalten unbeabsichtigte und deshalb um so wertvollere Bestätigungen der Richtigkeit des Grundgedankens: Das Mißtrauen in den Geist, das die Geistesarmut unserer Kriegführung zur Folge hatte, «ar nicht individueller Herkunft, sondern Geistesrichtung, Denk art, Schule. Ebendeshalb ist die allgemeine Scheu vor einem (nicht nur rein elementaren) grundlegenden Wissen auch auf das Denken der genannten Schriftsteller selbst nicht ohne Einfluß geblieben. Gleichwohl machen fie die Feststellung, daß sich die Zurückhaltung gegenüber dem geistigen Element der Kriegführung nicht nur bei der O.H.L. zeigte, sondern ebenso bei der überwiegen den Mehrzahl der selbständig handelnden Führer, wovon die Schlachten im Elsaß, in Belgien und in Nordfraakreich von Longwy bis zur Marne Zeugnis geben. Wir folgen dem Vörbilde der alten Meister, wenn wir unserer Zeit genug tun, wie sie der ihrige» genug getan haben, d. h. wen» Wachter, Krieg und Geist.
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wir — anders sind als sie. Dann bleiben wir in ihrem Geist. — Clausewitz war der Meinung, daß man sich im Hinblick auf die Kriegführung juersi über Name« und Begriffe verständigen müsse, und hat die für seine Zeit nötigen Begriffe festgestellt. Sie sind von Scherff zeitgemäß ergänzt worden. So waren wir über Clausewitz hinausgekommen, der u. a., wie es in den Zeitverhält nissen begründet war, der Demonstrative nur sehr geringe Be achtung geschenkt hatte. Aber nur zu bald wurden die verheißungs vollen Ansätze von dem die Zeit beherrschenden Mißtrauen in den Geist beargwohnt und unter dem Mehltau der Routine wieder erstickt. Es genügt indessen nicht, die Clausewitz-Lehre zu bewahren, sie muß fortgebildet werden, Geist ist Same, und in der Zeit er hält sich nur, was mit ihr fortwächst, so daß wahre Erhaltung mit wahrem Fortschritt zusammenfällt. — Das Dämmerlicht, das sich seit geraumer Zeit auf die Theorie herabgesenkt hatte, mag wohl auch die Ursache gewesen sein, daß der Verfasser der höchst be achtenswerten Schrift über Clausewitz und den Weltkriegs) mehr mit der historischen Lehre als mit dem lebendigen Geiste seines Meisters an die Erklärung der Weltkriegsrätsel herangetreten ist, daß er seine Betrachtungen an jene Lehren zu unmittelbar an geknüpft und außer acht gelassen hat, was in der Zwischenzeit von Scherff und andern zu ihrem Ausbau geleistet worden war. In Verkennung des erwähnten Gesetzes für die Erhaltung alles organischen, erst recht alles geistigen Lebens glaubte er es seinem Meister schuldig zu sein, vom Gebrauch jedes später, wenn auch in dessen Sinne geschmiedeten Werkzeuges für die Denkarbeit des Truppenführers abzustehen — so vom Gebrauch der Begriffe Kampf und Gefecht, Dezisive und Demonstrative. Möglicherweise tat er es zugleich als überzeugter Anhänger unserer Vorschriften. Die Folgen dieser Enthaltsamkeit zeigt u. a. seine Aufgaben stellung für die 4. und 5. Armee zur Fesselung feindlicher Kräfte