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German Pages 368 Year 2016
Alexander Simmeth Krautrock transnational
Histoire | Band 88
Alexander Simmeth, geb. 1973, lebt in Detroit, Michigan. Als Stipendiat der Hans Böckler Stiftung hat er in Geschichte promoviert und lehrt seit 2013 an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).
Alexander Simmeth
Krautrock transnational Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD, 1968–1978
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
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Inhalt
Vorwort | 7 Erstes Kapitel: Rahmen
Einleitung | 9 Konsum und Wandel | 19 Krautrock transnational | 28 Popmusik | 37 Authentizität | 47 Krautrock | 53 Zweites Kapitel: Ende der 1960er Jahre
„Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf“ | 61 Sozialisation und Lebensformen | 79 Kommunikationsräume: Von Festivals und Clubs | 94 Popmedien und Rezeption in der Bundesrepublik | 117 Drittes Kapitel: 1970-1974
„Zuckerzeit“ | 135 „Trips & Träume“: Neue Wahrnehmungen | 176 Klang der Revolte? Krautrock und Politik | 190 Krautrock und die Musikindustrie | 203 „So apart from everything we’ve ever heard”: Im Vereinigten Königreich | 227 Viertes Kapitel: Ab 1975
„Landed“ | 247 „Schwingungen“: Instrumente und Tonstudios | 269 „The Teutonic Invasion“: In den Vereinigten Staaten | 292 Nach 1978: Wirkung und Ausblick | 312 Anhang
Literatur | 325 Quellen | 351 Archive, Bibliotheken, Sammlungen | 355 Diskographie | 357 Namensregister | 360 Abbildungsverzeichnis | 365
Vorwort „This is Faust, playing in Detroit! Holy krautrock, Batman, Faust – one of the most inventive musical combos in the history of the planet. A Band whose songs often prefigured entire genres, years in advance.”1 So die großformatige Ankündigung eines Konzerts der Gruppe Faust in Detroit im März 2016, die kurz, knapp und pointiert wiedergibt, welchen Stellenwert Krautrock in den USA heute besitzt. Bekundungen dieses Stellenwerts gehen aber noch weit über Konzertankündigungen oder Musikzeitschriften hinaus. Dieses Vorwort als Abschluss einer mehrjährigen Beschäftigung mit dem Phänomen Krautrock beispielsweise schreibe ich in einer Bar namens Craft Work in Detroits West Village; der Name des Lokals ist nicht etwa von craft beer, sondern in der Tat von der bundesdeutschen Band Kraftwerk inspiriert. Auf der Webseite und in den Räumlichkeiten des Restaurants finden sich eine ganze Reihe mehr oder weniger subtiler Hinweise auf die Band, in einer Reihe mit Größen der US-amerikanischen und britischen Popkultur. Und wenn man abends mit dem Nachbarn an der Bar ins Gespräch kommt, geht es oft so selbstverständlich um Bands wie Neu!, Cluster, Can oder Tangerine Dream, dass man glauben möchte, Krautrock käme aus Detroit. Nach vielen privaten und Rechercheaufenthalten in den USA und im Vereinigten Königreich habe ich mich daran gewöhnt, dass in beiden Ländern zumindest Musiker, Musikliebhaber und pop aficionados jeder Couleur bundesdeutsche Bands der späten 1960er und der 1970er Jahre längst im Heiligen Gral der Popgeschichte wähnen, die man in der Bundesrepublik kaum kennt, manchmal auch als eher peinliche Episode langhaarigen Geschrammels oder endlosen Synthesizer-Geblubbers abtut. In den letzten Jahren allerdings ist ein steigendes Interesse auch im Herkunftsland des Krautrock festzustellen, und es sei die Prophezeiung erlaubt, dass dieses Interesse künftig weiter zunehmen wird. Zunehmen muss, möchte man sagen, denn Krautrock ist der bis heute wirkmächtigste bundesdeutsche Beitrag zur transnationalen Popmusikgeschichte. Wer sich mit ihr beschäftigt, kommt um ihn nicht herum. Vielleicht kann dieses Buch als Anregung für künftige Auseinandersetzungen mit dem Thema dienen.
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Detroit Metro Times 22 (36) 2016.
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Was auf den folgenden Seiten nicht zu erwarten ist: ein Konglomerat umfassender Bandgeschichten oder die erneute Wiedergabe zahlreicher Anekdoten, eine vollständige Enzyklopädie mit Nennung aller relevanten Namen und Veröffentlichungen, oder ein lexikalisches Nachschlagewerk. Es ist vielmehr der Versuch einer Einordnung des Phänomens in die Kulturgeschichte der Bundesrepublik, unter besonderer Berücksichtigung ihrer transnationalen Dimension. Krautrock bietet sich dafür aufgrund seiner starken und anhaltenden transnationalen Strahlkraft und als zugleich besonders schillerndes Phänomen bundesdeutscher Kulturgeschichte besonders an. Krautrock steht zudem als herausragendes Beispiel für den durchgreifenden kulturellen Wandel in der Bundesrepublik um 1970, der transnational bedingt war, innerhalb dessen sich das Nationale und das Transnationale gegenseitig bedingten. Die Betonung des kulturellen Wandels steht (nach wie vor) im Gegensatz zum öffentlichen Erinnerungsdiskurs, der immer noch von »1968« als Signum einer Studentenbewegung dominiert wird. Die Transformationsphase um 1970 war vor allem oder zumindest ebenso eine kulturelle wie eine politische. Dieses Buch beruht auf meiner Dissertation in Mittlerer und Neuer Geschichte, die ich im Januar 2015 eingereicht habe. Mein Dank für die vielfältige Unterstützung und Hilfe in den vergangenen Jahren gilt zunächst meiner Partnerin Kristen und meinen Eltern, ohne die dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Darüber hinaus danke ich der Hans-Böckler-Stiftung (Düsseldorf) für die jahrelange, großzügige und bei Weitem nicht nur finanzielle Unterstützung. Besonderer Dank gilt meinen beiden Gutachtern Prof. Axel Schildt (Hamburg) und Prof. Detlef Siegfried (Kopenhagen), sowie meinem Freund und Studienkollegen Andreas für das Lektorat in der stressigen Abschlussphase der Dissertation. Danke auch für die Hilfe und Unterstützung bei den Recherchen in privaten und öffentlichen Archiven und Bibliotheken, sowie für die vielen Beiträge und kritischen Anmerkungen von Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Jahren. Detroit, im März 2016
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Erstes Kapitel: Rahmen E INLEITUNG By its very nature, popular culture impinges on people unceasingly; it is part of their environment, part of the background noise, color, and verbal imagery of their lives from the age at which they can first listen to the radio, watch television, or »read« comics.“1 David Riesman, 1950 „For better or worse pop culture has changed everything, and nothing can ever be the same again.“2 George Melly, 1966
„Die Kraut-Rocker kommen! Plötzlich sind sie wer: einst in Deutschland verachtet, dann im Ausland umjubelt, jetzt in der Heimat so berühmt wie Heino.“3 Was zehn Jahre zuvor in „Waschküchen, Hinterzimmern von Provinzkneipen oder auf Musikhochschulen“ begonnen habe, sei nun zu einer erfolgreichen und vielfältigen Szene mit transnationaler Strahlkraft herangereift – so die Popjournalistin Ingeborg Scho-
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Riesman, Popular Culture, S. 359. Alle Zitate sind unverändert aus den Quellen übernommen: ggf. in alter Rechtschreibung, inklusive evtl. Rechtschreibfehler, und in Englisch. Auf Markierungen wie [sic!] etc. wird zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
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Melly, Revolt into Style, S. 9. Ingeborg Schober in Stern 11/1979. Schober (1947-2010) gehörte zur ersten Generation des neuen Popjournalismus der Bundesrepublik. Ab 1967 verbrachte sie einige Zeit in London und begann freie journalistische Tätigkeiten in verschiedenen Musik- und Jugendzeitschriften, 1968/69 leitete sie das deutsche Büro der britischen Zeitschrift Top Pops. Es folgten weitere Auslandsaufenthalte, etwa in Amsterdam. In den 1970er Jahren veröffentlichte sie eine unüberschaubare Vielzahl von Texten zur Popkultur, zudem arbeitete sie für verschiedene Rundfunkanstalten.
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ber 1979. Auch ihr Kollege Winfried Trenkler staunte, „welchen Umfang, welche Bedeutung und welche Vielfalt“4 bundesdeutsche Popmusik mittlerweile erreicht habe. Sie werde auf höchstem Niveau produziert, fülle die „größten Hallen des Landes“ und habe einen regelrechten „Export-Boom“ ausgelöst. „Es galt einmal als größtes Kompliment für eine deutsche Band“, so Trenkler, „wenn man von ihr sagen konnte: Sie klingt gar nicht deutsch, sie könnte glatt aus Amerika oder England kommen.“ Nun jedoch sei bundesdeutsche Popmusik insbesondere wegen ihres distinkten Ausdrucks erfolgreich und würde „einige in der Welt einmalige Blüten blühen lassen.“ Das Fazit Schobers und Trenklers am Ende der 1970er Jahre fiel ausgesprochen positiv aus: Aus einfachsten Anfängen hatte sich innerhalb einer Dekade eine professionelle und innovative Popmusikszene mit transnationaler Strahlkraft herausgebildet. Am Anfang ihrer Popgeschichten stand die „politisch-kulturelle Jugendrevolte von 1968“5, eine Phase des Aufbruchs, Umbruchs und Experimentierens, die auch die bundesdeutsche Musikszene erfasst hatte: „A mental revolution happened at that time“6, so etwa Jaki Liebezeit von der Gruppe Can rückblickend, „the old ways of thinking had to be destroyed“. Wie Liebezeit dachten nicht wenige Musiker: Nach über einem Jahrzehnt schlichten Kopierens von US-amerikanischem Rock & Roll und britischem Beat formten sich überall in der Bundesrepublik Projekte und Gruppen, die – eingebunden in den politisch-kulturellen Kontext ihrer Zeit – versuchten, neue popmusikalische Ausdrucksformen zu entwickeln. Ein Teil dieser neuartigen Ausdrucksformen der »Kraut-Rocker«, wie Ingeborg Schober sie nannte, wurde in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich als PopAvantgarde und als erster genuiner Beitrag der Popmusik wahrgenommen, der außerhalb der angloamerikanischen Sphäre entstanden war – eine Auffassung, die sich in den folgenden Jahrzehnten weiter verfestigt hat. Die Wahrnehmung des Krautrock als innovativer und konstitutiver Säule der Popmusik und die ihm zugesprochene Wirkkraft sind zentrale Aspekte des vorliegenden Bandes. Eine quellenbasierte Annäherung an Konzeptionen und empirische Wirklichkeiten der Produktion, Distribution und Rezeption des Krautrock sollen zu einer „Er-
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Winfried Trenkler in Musiker 5/1979. Trenkler (*1942) gehörte wie Schober zur ersten Generation. Bekannt wurde er in den 1970er Jahren unter anderem mit seinen Radiosendungen Pro Pop Music Shop und Radiothek, beide unter dem Dach des WDR, in denen er bundesdeutscher Popmusik viel Platz einräumte. Daneben war er Autor einer
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großen Zahl einschlägiger Aufsätze und Artikel. Schildt, Einflü sse, S. 444. Jaki Liebezeit in der BBC-Dokumentation Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009). Zum transformativen Charakter von 1968 in der Musik, auch weit über Popmusik hinaus, vgl. die Beiträge in Kutschke/Norton (Hg.), Music and Protest.
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nüchterung und Distanzierung“7 beitragen, denn wie die Popgeschichte allgemein ist auch die Geschichte des Krautrock „stark vom Hype, der Selbstverkultung und der Mystifizierung“8 geprägt. Fragwürdige oder schlicht unwahre Anekdoten zum Thema haben sich durch unzählige Wiederholungen oft so sehr verfestigt, dass sie unhinterfragt in den allgemeinen Erzählkanon eingegangen sind; ein genauer Blick in die Quellen kann helfen, diese Verkrustungen und Verzerrungen aufzulösen. Dazu gehört beispielsweise bereits die Begriffsgeschichte des Terminus »Krautrock« selbst, der entgegen gängiger Darstellungen keineswegs als derogative Beschreibung in den britischen Medien, sondern in der Bundesrepublik seinen Ursprung hatte.9 Ziel ist es, sich dem außerordentlich vielfältigen Phänomen weit über die Rekonstruktion von Bandgeschichten hinaus anzunähern. Der genannte Konnex aus Produktion, Distribution und Rezeption wird anhand ausgewählter Beispiele in den Blick genommen. In unterschiedlicher Gewichtung spielen dabei produktions- und konsumorientierte Ansätze eine Rolle: Der produktionsorientierte Ansatz konzipiert Popmusik dabei insbesondere als Resultat kontingenter und arbeitsteiliger Produktionsprozesse, die bestimmten Strukturbedingungen unterliegen und über Massenmedien vermittelt werden; strukturelle Bedingungen erscheinen aus dieser Perspektive wirkmächtiger als gesellschaftliche Trends oder politische und wirtschaftliche Zäsuren.10 Im vorliegenden Fall ist dahingehend von Marketing und Vertrieb der Musikindustrie, von Produzenten und Tonmeistern, von Musikjournalisten und Kritikern, aber etwa auch von Entwicklungen der Aufnahme- und Instrumententechnik die Rede. Der konsumorientierte Ansatz wiederum fokussiert gesellschaftliche Trends und den gesellschaftlichen Umgang mit Popmusik, insbesondere die Rezeption durch den Konsumenten bzw. »Fan«, Aushandlungsprozesse über Grenzen des Akzeptablen, Normen und Werte, aber auch den damit verflochtenen Diskurs über soziale und performative Praktiken. Krautrock spielte in den Rezeptions- und Aushandlungsprozessen der Popmusik vor allem in den 1970er Jahren eine entscheidende Rolle, sei es in Bezug auf neuartige musikalische Ausdrucksweisen und ihre Einordnung in den popmusikalischen Kontext, sei es in Bezug auf die zunehmende kulturelle Transnationalisierung und ihre Wahrnehmung in verschiedenen nationalen Kontexten. 7
Geisthövel/Mrozek, Einleitung, S. 12.
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Ebd.
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Vgl. das Kapitel »Krautrock«.
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Vgl. Nathaus, Production of Culture; die Production of Culture-Perspektive in der Popmusikforschung wurde wesentlich durch den Soziologen Richard A. Peterson und den Ökonomen Anand Narasimhan entwickelt; ihrer Meinung nach ist die zentrale Frage, „how the symbolic elements of culture are shaped by the systems within which they are created, distributed, evaluated, taught, and preserved“, vgl. Peterson/Anand, Production of Culture, S. 311.
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Aus nationalhistorischem, deutschem Blickwinkel wirkt Krautrock bis heute seltsam unterbelichtet und marginalisiert. Erst durch eine transnationale Perspektive wird seine zeithistorische Bedeutung überhaupt sichtbar.11 Folgend stehen demzufolge Transfers von Ideen, Praktiken, Symbolen, Personen und Objekten zwischen der Bundesrepublik, Großbritannien und den Vereinigten Staaten ebenso im Mittelpunkt wie die Rezeption und die diskursiven Rückwirkungen dieser Transfers. Damit wird der Blick geschärft für Akteure und Entwicklungen, die in nationaler Perspektive randständig erscheinen, sich aus transnationalem Blickwinkel jedoch als zentral entpuppen. Darüber hinaus tritt am Beispiel des Krautrock auch die in den 1970er Jahren Fahrt aufnehmende Transnationalisierung der Popmusik aus dem Schatten nationalhistorischer Wahrnehmung heraus; Krautrock erscheint in diesem Licht als ein besonders frühes und richtungsweisendes Beispiel für die kulturelle Ausdifferenzierung der Bundesrepublik. Er macht den enormen Einfluss »von außen« deutlich, der auch über die Popmusik hinaus tief auf die westdeutsche Kultur wirkte und sich als wesentlich prägender als (scheinbare) nationale Gemeinsamkeiten erwies.12 Vor diesem Hintergrund wird die vorliegende Geschichte des Krautrock nicht von Vornherein entlang gängiger historischer Meta-Narrative und Periodisierungen entwickelt, sondern einem empirischen Befund gegenübergestellt. Klar scheint zunächst, dass Krautrock bei einer Kontrastierung mit gängigen Periodisierungen der Zeitgeschichte zwei Epochen berührt. Zu Beginn der 1970er Jahre, meist exakt 1973, wird in breiter Übereinstimmung und aus verschiedenen Blickwinkeln das Ende der Hochmoderne und des „Golden Age“13 der prosperierenden Nachkriegsjahrzehnte ausgemacht. Die historiographische Periodisierung nach dieser Zäsur ist noch im Fluss, wobei sich als bisher wirkmächtigstes Schlagwort die Charakterisierung als Zeitraum „nach dem Boom“14 herauskristallisiert hat. Dabei wird die Zäsur 11
Eine in Forschung und Darstellung grundsätzlich und entschieden transnational ausgerichtete Popgeschichte fordert der Musikwissenschaftler Martin Pfleiderer, vgl. Pfleiderer, Geschichtsschreibung, S. 72f.
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Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 12f.; zur entscheidenden Rolle der Popmusik beim „übergreifenden transatlantischen Kulturtransfer“ vgl. Wolfrum, Demokratie, S. 257-260.
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Hobsbawm, Age of Extremes, S. 223. Die Zäsur 1973 als gängige Periodisierung in den Geschichtswissenschaften, auch in Synthesen zur europäischen Geschichte, erscheint etwa als „watershed“ zwischen »Goldenem« und Krisenzeitalter in Hobsbawm, Age of Extremes, S. 225; ähnlich in Judt, Postwar; Jarausch, History of Europe; für die Bundesrepublik etwa Schildt, Sozialgeschichte; Herbert, Geschichte Deutschlands; Wehler, Gesellschaftsgeschichte; zu den 1970er Jahren Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom; Jarausch (Hg.), Ende der Zuversicht.
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Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom.
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in den 1970er Jahren als sozialökonomischer „Strukturbruch“15 wahrgenommen, der einen „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“ nach sich gezogen habe. Im Kern, so bereits die zeitgenössische Diagnose, handelte es sich um die Transformation der »klassischen« Industriegesellschaften in »postindustrielle« Gesellschaften (Daniel Bell), die durch Schlagworte wie Ausdifferenzierung, Pluralisierung, Liberalisierung oder Individualisierung charakterisiert worden ist. Inwiefern Krautrock als Teil der Popgeschichte in diesen Zäsuren, Brüchen und einem »revolutionären« gesellschaftlichen Wandel wiederzufinden ist – oder anders herum – wird im Einzelnen zu klären sein, bis hin zu sich verändernden Wahrnehmung der historischen Zeit.16 Der strukturelle Rahmen des Krautrock scheint dem oft als krisenhaft gezeichneten Bild der 1970er Jahre jedenfalls zu widersprechen und auch in ökonomischer Hinsicht eher für Wandel und Expansion als für Krise zu stehen: Die im gesamten Jahrzehnt boomende Musikindustrie kennzeichnet sie als eine derjenigen Branchen, die sich nicht nur behaupteten, sondern als neue globale Wachstumsmärkte etablierten.17 Der »soziale Wandel von revolutionärer Qualität«, wie er in der Zeitgeschichtsforschung ausgemacht worden ist, ging einher mit dem beschriebenen, stark von grenzübergreifenden Transfers geprägten kulturellen Wandel. Bei einer Fokussierung der hier im Zentrum stehenden Dekade erscheint ihre erste Hälfte als eine Phase beschleunigter kultureller Transformationen, befeuert von einem zu diesem Zeitpunkt besonders großen cultural lag zwischen älteren und jüngeren Generationen, geprägt durch zutiefst polarisierende, stark politisch aufgeladene Auseinandersetzungen.18 Ein Ausdruck dieser Auseinandersetzungen war die sich auf vielen Ebenen vollziehende Infragestellung der überkommenen kulturellen Dichotomie einer sogenannten »Populär-« und einer »Hochkultur«, von der folgend wiederholt die Rede sein wird. Für die zweite Hälfte der der 1970er Jahre treten die kulturellen Folgen des »Wertewandelsschubs« (Helmut Klages) in deutlicheren Umrissen hervor, charakterisiert durch eine Stabilisierung und Verstetigung der kulturellen
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Dieses und folgendes Zitat ebd., S. 10f. Zur europäischen Dimension des Strukturbruchs ab Beginn der 1970er Jahre Hobsbawm, Age of Extremes, S. 402-432; ausführlicher Judt, Postwar, S. 453-633. Zur Umbruchbedeutung insbesondere der 1970er Jahre vgl. Jarausch, History of Europe.
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Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 13; dazu auch eine Sonderausgabe des Journal of Modern European History 13 (2015), 3.
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Vgl. Jarausch, Strukturwandel, S. 12f.; zur Widersprüchlichkeit der Entwicklungen vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 11-13.
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Kultureller Wandel lässt sich nicht kausal aus sozialem Wandel ableiten: Gesellschaftlicher Wandel ist kulturellem Wandel immanent – und bildet sich in ihm ab, vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 17.
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Transformationsschübe. Inwiefern finden sich beide Phasen der 1970er Jahre bei der Betrachtung des Phänomens Krautrock wieder? Nicht von der Hand zu weisen ist der enorm gestiegene gesellschaftliche Stellenwert von »Kultur« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er findet in zunehmendem Maße auch in den zeithistorischen Darstellungen seinen Niederschlag.19 Neu (in der bundesdeutschen Zeitgeschichtsschreibung) ist die Einbeziehung der Popkultur bzw. der Popgeschichte als Teilbereich der Zeitgeschichte; bisher, so ein Urteil aus den Musikwissenschaften, „wurden die Voraussetzungen, Zielsetzungen, Methoden und Probleme einer wissenschaftlichen Historiographie populärer Musik […] nur sporadisch und nur in Ansätzen reflektiert“20. Neu ist allerdings nicht das Interesse an Popgeschichte generell; Disziplinen wie die Soziologie, die Kultur- oder die Musikwissenschaften beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Phänomen, journalistische Darstellungen zur Pophistoire sind ebenso alt: „»Pop History« macht Furore“21 hieß es etwa bereits 1973 in einer bundesdeutschen Musikzeitschrift. Neu zweifellos (und damit reichlich verspätet) ist das historiographische Interesse an Popmusik. Im Zuge dieser Historisierung wird Popmusik als massenkulturelle Ausdrucksform und damit als zeitspezifische Manifestation übergeordneter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse untersucht. Das im vorliegenden Fall im Zentrum stehende Phänomen Krautrock bietet sich dafür besonders an, da mit ihm erstmals eine sich von der US-amerikanisch-britischen Dominanz absetzende Variante der Popmusik zu transnationaler Prominenz kam; die Historisierung des Krautrock ist ein Beitrag zur Popgeschichte als Teil der Zeitgeschichte, auf empirischer Basis und ganz konkret anhand einer quellennahen Auseinandersetzung mit dem Phänomen. 19 20
Vgl. dazu den kursorischen Überblick in Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 11f. Pfleiderer, Geschichtsschreibung, S. 55. „Dem Bedeutungszuwachs der Popkultur […] hinkt die historische Forschung bislang auffallend hinterher“, so Danyel/Geisthövel/ Mrozek, Einleitung, S. 8; als eine erste umfassende Annäherung der Geschichswissenschaft an das Phänomen Pop vgl. die beiden Sammelbände Geisthövel/Mrozek (Hg.), Popgeschichte 1, sowie Mrozek/Geisthövel/Danyel (Hg.), Popgeschichte 2. Interessant ist das große Echo, dass der erste und (bisher) einzige Beitrag zur Popgeschichte auf dem 50. Historikertag in Göttingen (Sektion: ‚The Winner Takes It Allˈ. Popgeschichtliche Narrative des 20. Jahrhunderts zwischen Ausbeutung und Emanzipation) ausgelöst hat, vgl. dazu mehrere Beiträge im Sonderheft zum 50. Deutschen Historikertag 2014, VHD Journal Nr. 3, April 2015, bzw. die entsprechenden Beiträge auf der Webseite HSoz-Kult. Als frühes Beispiel zur Einbeziehung von Populärkultur, Popmusik und auch Krautrock in eine Gesamtdarstellung zur Geschichte der Bundesrepublik vgl. Wolfrum, Demokratie.
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Sounds 3/1973. Im selben Jahr findet sich ein mehrseitiger Spezialbeitrag zur „Popgeschichte“ in Musik Express 11/1973.
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Methodisch stützt sich die Studie auf die systematische Sichtung einer breiten Quellenbasis aus der Bundesrepublik, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten. Zunächst liegen offensichtlich die musikalischen Hinterlassenschaften des Krautrock und die entsprechenden Medien vor, vom Klang auf dem Tonträger bis hin zu Cover Art und Verpackung.22 Hinzu kommt die textliche Überlieferung: In gedruckter Form existiert aus den drei genannten Ländern eine Vielzahl von Berichten und zeitgenössischen Interviews mit Musikern und anderen zentralen Akteuren, die in Periodika wie unter anderem Tages- und Wochenzeitungen, Musikzeitschriften, Branchenblättern, oder in der »grauen Literatur«, »Alternative Press« und ersten Fanzines erschienen sind.23 In den Musikzeitschriften finden sich besonders umfangreiche Konzertberichte, Reportagen oder Kritiken, die einen Blick auf die jeweilige Wahrnehmung des Krautrock durch Multiplikatoren wie Musikjournalisten erlauben, zugleich aber auch – »gefiltert« durch deren Wahrnehmung – mitunter einen Blick auf einen oft schwer zu fassenden Akteur der Popmusik, das Publikum. Als wichtigste deutschsprachige Periodika jenes Zeitraums gehören dazu Sounds und der Musik Express, in Großbritannien der New Musical Express und der Melody Maker, in den Vereinigten Staaten die Musikzeitschriften Crawdaddy!, Rolling Stone oder Creem. Zu den gesichteten Branchenblättern gehören in der Bundesrepublik Der Musikmarkt und Musik-Informationen, in den USA Variety, Billboard, Cash Box und Record World. Auf dem Zeitschriftenmarkt Großbritanniens übernahmen im Wesentlichen Music Weeklies wie die beiden genannten New Musical Express und Melody Maker die Rollen als Musikzeitschrift und Branchenblatt. Daneben spielten in der Bundesrepublik Teenager- und Jugend-Zeitschriften unterschiedlichen Zuschnitts wie Bravo, Pop, Twen oder Konkret für die Vermittlung des Phänomens in ein breiteres Publikum eine wichtige Rolle. Auch Fachzeitschriften für Instrumenten- und Aufnahmetechnik waren an den experimentellen Klängen des Krautrock besonders interessiert; sie fokussierten die Rolle technologischer Entwicklungen, deren Bedeutung für das Phänomen Krautrock kaum überschätzt werden kann. Für musikwissenschaftliche, popkulturelle, gesellschaftspolitische oder ökonomische Kontextualisierungen liegen eine Reihe von zeitgenössischen Monographien vor, die im vorliegenden Fall als Quellen ebenso von Interesse sind wie einige wissenschaftliche Periodika der 1960er und 1970er Jahre, etwa die Zeitschrift Deutsche Jugend.24 Im Hinblick auf besonders »szenenahe« Akteure, die oft als Multiplikatoren neuer popmusikalischer Stile wirkten, erwies sich der große Bereich der so genannten »grauen« Literatur bzw. der Alternative Press als fruchtbar, der in verschiedenen Archiven eingesehen wurde.25 Zu den im Zusammenhang mit 22
Vgl. die Diskographie im Anhang.
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Vgl. die Auflistungen im Anhang.
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Vgl. das Literaturverzeichnis im Anhang.
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Vgl. die Archivliste im Anhang.
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Krautrock besonders interessanten Publikationen gehörten in der Bundesrepublik etwa Germania oder die (später zunehmend professionell produzierten) Flash und Riebeˈs Fachblatt, in Großbritannien die Titel Zig Zag oder Oz, in den USA die beiden überwiegend auf europäische Popmusik fokussierten Eurock und Transoceanic Trouser Press. Ungedruckte Quellen waren im Vergleich ungleich schwerer zu finden. Im Gegensatz zu Akteuren zeitgenössischer, explizit »politischer« bzw. neuer sozialer Bewegungen mit ihrem oft extensiv sprachlich-textlich artikulierten Sendungsbewusstsein sind schriftliche Hinterlassenschaften von Protagonisten der Popmusik rar. Ausnahmen können beispielsweise Sammlungen oder Nachlässe von Musikjournalisten oder Autoren sein, die oft langjährigen, persönlichen Kontakt zu Akteuren der Szenen unterhielten. Ausnahmen wie diese bieten das Klaus Kuhnke Archiv für Populäre Musik in Bremen sowie das Deutsche Kabarettarchiv am Standort Mainz. Auch Bestände des Lippmann+Rau Musikarchivs in Eisenach waren für Teilaspekte der Studie von Interesse, darüber hinaus mehrere Privatsammlungen, Stadtarchive sowie – für den Blick auf Aktivitäten des Goethe-Instituts im Zusammenhang mit Krautrock – das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin. Archive der Musikindustrie sind nicht mehr vorhanden; die entsprechenden Labels existieren nicht mehr oder haben mehrfach den Eigentümer gewechselt, Dokumente und Überlieferungen aus den 1960er und 1970er Jahren wurden im Zuge dessen vernichtet oder sind verschollen. Die wenigen Ausnahmen sind der Forschung nicht zugänglich. Audiovisuelles Quellenmaterial und andere Medien ließen sich teilweise in Archiven aufspüren, neben Video- und Tonaufnahmen unter anderem auch Fotos und Abbildungen. Dokumente aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten fanden sich im Deutschen Rundfunkarchiv; der kürzlich vereinfachte Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Archiven kam für den vorliegenden Fall zwar zu spät, verspricht aber für künftige Forschungen sehr ergiebig zu sein. Audio- und Videomaterial findet sich darüber hinaus über freie Portale im Internet; für das Aufspüren kreativer Netzwerke und von Anknüpfungspunkten dienten die ebenfalls frei zugänglichen Datenbanken Discogs, AllMusic und The Internet Movie Database.26 Nicht zuletzt spielten in geringem Maße auch Autobiographien und der Austausch mit Zeitzeugen eine Rolle, angesichts der zu Beginn angesprochenen, in der Popgeschichte stark virulenten Tendenz zur »Selbstverkultung und Mystifizierung« allerdings nur sehr vorsichtig und in Ausnahmefällen. Die kulturellen Praktiken der Protagonisten – neben Musikern etwa auch der Tonmeister, Impresarios, Veranstalter oder Vertretern der Musikindustrie – sowie Prozesse und Wahrnehmungen des Phänomens werden mittels handlungs-, kulturund diskursgeschichtlichen Werkzeugen rekonstruiert. Damit geraten soziale, politische und kulturelle Aspekte, ebenso wie die Musikindustrie, Technologien und 26
Vgl. http://www.discogs.com/, http://www.allmusic.com/, http://www.imdb.com/.
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Medien in den Blick.27 Die Darstellung ist einfach strukturiert und in vier Teile gegliedert.28 Einleitend werden in mehreren Durchgängen zentrale Begriffe und Phänomene beschrieben und diskutiert, die den Rahmen der Studie abgeben und den aktuellen Forschungsstand verdeutlichen: die spezifische Rolle des »Konsums«, »Transnationalisierung« und »Amerikanisierung« als forschungsleitende Termini der Transfergeschichte, das Gegenstandsfeld »Popmusik«, die zeitgenössisch zentrale Bedeutung des Konzepts der »Authentizität«, sowie nicht zuletzt die Grundzüge und der bisherige Forschungsstand des Phänomens »Krautrock«. Drei übergeordnete Perioden strukturieren anschließend den Hauptteil – die Anfänge des Phänomens am Ende der 1960er Jahre, die »Kernzeit« in der ersten Hälfte der 1970er Jahre und die Phase nach 1975. Den Perioden werden in Form von systematischen, chronologisch vor- und zurückgreifenden Unterkapiteln jeweils charakteristische Züge zugeordnet, um so in der Mischung aus chronologischen und systematischen Zugriffen ein plastisches Bild entstehen zu lassen. Diese drei Phasen des Krautrock lassen sich grob mit Konstituierung, Professionalisierung und Verstetigung umschreiben, wobei eine allzu schematische Darstellung möglichst vermieden werden soll: Zum einen verschwimmen die Grenzen zwischen diesen Phasen und sind individuell oft sehr verschiedenen, zum anderen werden auch gegenläufige Entwicklungen und Tendenzen in den Blick genommen, die dem Eindruck eines linearen Fortschrittsprozesses entgegenwirken. Zudem bieten die Studie – das sei nochmals ausdrücklich erwähnt – keinen enzyklopädischen Gesamtüberblick. Es werden nicht alle relevanten Bands und Interpreten, Akteure, Ereignisse oder Orte genannt, die in Zusammenhang mit Krautrock eine Rolle spielten; das war zu keinem Zeitpunkt das Ziel dieses Vorhabens. Vielmehr sind die genannten Beispiele als repräsentative Fallbeispiele zu verstehen, mit der Auswahl wiederum keinerlei Wertung verbunden ist. Es dürfte unbestritten sein, dass beispielsweise kommerzieller Erfolg oder Misserfolg von Musik oder diskursive Zuschreibungen nicht gleichzusetzen sind mit der »Qualität«, Wirkmacht oder einer langfristigen agency. Das erste Kapitel beschäftigt sich im Anschluss an die Einleitung mit der Formierungsphase des Krautrock und seinen frühen Protagonisten, insbesondere deren Sozialisation und musikalische Wurzeln, aber auch mit Clubs, Festivals und Kommunen als zentrale Orte des Phänomens, bis hin zur medialen Rezeption in der Bundesrepublik. Das zweite Kapitel erschließt die erste Hälfte der 1970er Jahre, eine Phase der wachsenden kommerziellen Erfolge, der transnationalen Aufmerk27 28
Vgl. Covach, Sound. Die Darstellung folgt somit dem chronologisch ausgerichteten Erzählmodell der Popgeschichtsschreibung, im Gegensatz etwa zu einer ebenfalls oft angewandten räumlich fundierten Strukturierung von Zentrum und Peripherie; vgl. den Überblick in Pfleiderer, Geschichtsschreibung.
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samkeit und einer insgesamt zunehmenden Professionalisierung. Dabei stehen auch die politische Aufladung des Krautrock und das Verhältnis zentraler Akteure zum Nexus aus Pop und Politik im Mittelpunkt, die Rolle psychoaktiver Rauschmittel und eine neue »Drogenkultur«, das Verhältnis zur Musikindustrie und die Frage nach den Produktionsbedingungen. Die Rezeption des Krautrock im Vereinigten Königreich ab Beginn der 1970er Jahre beschließt das zweite Kapitel. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Phase der Verstetigung in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, mit der für den Erfolg und die Wirkung des Phänomens kaum zu überschätzenden Instrumenten- und Studiotechnik, und mit der weiteren räumlichen Verbreitung und der Rezeption in den Vereinigten Staaten. Eine Einordnung in den zeithistorischen Kontext rundet die Studie am Ende ab.
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W ANDEL „Eine neue, jugendorientierte Zivilisation beherrscht unser Straßenbild.“29 Rolf-Ulrich Kaiser, 1968 „Die Abkehr von der Tradition ist so radikal, daß hier etwas Neuartiges entsteht. Es läßt sich nicht mehr mit den Generationsproblemen früherer Epochen vergleichen. Diese waren geprägt von der Ablehnung dessen, was ihnen unmittelbar vorausging. Jetzt beobachten wir eine Wendung gegen das Prinzip der Vergangenheit selbst.“30 Helmut Waldmann, 1970 „Every generation sees the world as new. The Sixties generation saw the world as new and young.“31 Tony Judt, 2010
Das »Golden Age« der Weltwirtschaft nach 1945 und die damit eng verwobene Entwicklung des Massenkonsums zur „Lebensform der Moderne“32 veränderten die Lebens- und Wahrnehmungswelten der Menschen fundamental. Die Allgegenwart der Populärkultur, die der US-amerikanische Soziologe David Riesman 1950 diagnostizierte, sowie die Entwicklung der Popmusik als implizit mediales und untrennbar mit der Technisierung verwobenes Phänomen sind außerhalb moderner Konsumgesellschaften nicht vorstellbar.33 Ohne die massenhafte Verbreitung von Radios, Plattenspielern und Tonbandgeräten, ohne Mode und Kosmetik, ohne Zeitschriften, Clubs und Konzerte keine Popkultur.34
29
Kaiser, Nachwort, S. 195. Rolf-Ulrich Kaiser (*1943) war einer der zentralen Akteure des Krautrock, von dem noch ausführlich die Rede sein wird.
30
Waldmann, Phantastika, S. 51.
31
Judt, Postwar, S. 394.
32
König, Konsumgesellschaft, S. 7.
33
Vgl. Riesman, Popular Culture, S. 359.
34
Zur Verwendung und Unterscheidung der Begriffe Popmusik, Popkultur, Populärkultur etc. vgl. das Kapitel »Popmusik«. Zur Verknüpfung von Konsum, Medialisierung und Technisierung im vorliegenden Zusammenhang vgl. etwa Schildt/Siegfried, Youth,
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Ihren Ausgangspunkt hatten die modernen Konsumgesellschaften – Gesellschaften, die ihren Konsum mehrheitlich nicht mehr nur quantitativ zu erweitern, sondern zunehmend auszudifferenzieren und zu »verfeinern« in der Lage waren – in den Vereinigten Staaten. Dort vollzog sich der Übergang in den frühen 1940er Jahren, die westeuropäischen Industriestaaten zogen mit etwa zwei Jahrzehnten Verspätung nach.35 Als ein entscheidendes Merkmal dieser westlichen Konsumgesellschaften galt – nicht nur aufgrund der demographischen Situation, also einem besonders hohen Anteil junger Menschen an den Gesellschaften – ihre »Jugendlichkeit«: Junge Menschen avancierten zur Konsum-Avantgarde, weil sie mit den neuen Angeboten und Herausforderungen schneller und besser zurechtkamen, auch weil sie durch Nachkriegsboom und die Expansion der Bildungssysteme mit zunehmend Geld und Freizeit ausgestattet waren.36 Wesentlich bedingt durch Konsum bildeten sich Gemeinsamkeiten und Gemeinschaften zunehmend entlang generationeller, und immer weniger entlang der überkommenen nationalen, konfessionellen oder ständischen Linien. Medialisierung, Technisierung und zunehmende Mobilität erweiterten die kommunikativen Netzwerke und die Möglichkeiten eines grenzübergreifenden Austauschs.37 Die Popkultur in ihrer facettenreichen Vielfalt, insbesondere die Popmusik sind herausragende Beispiele als Kommunikationsräume transnationaler und generationeller, d.h. in den 1960er und 1970er Jahren überwiegend jugendlicher Gemeinschaften.38 Massenkonsum war Grundvoraussetzung für die Entstehung von Popmusik; Popmusik war Ausdruck der entstehenden Massenkonsumgesellschaft. Die wirtschaftliche Prosperität und die sich entwickelnden Massenkonsumgesellschaften fungierten darüber hinaus als Basis für eine weit über ökonomische Zusammenhänge hinausreichende „Epoche fundamentaler Weichenstellungen und Umbrüche“39. Auch hier lassen sich in allen westlichen Gesellschaften trotz UnConsumption and Politics; Schildt, Sozialgeschichte, S. 24; Hobsbawm, Age of Extremes, S. 264f.; König, Konsumgesellschaft, S. 8. 35
Vgl. ebd., S. 84; zur „Gemeinsamkeit des europäischen Booms“ vgl. Kaelble, Europäische Besonderheiten, S. 192.
36
Zum transnationalen Phänomen einer jugendlichen Konsum-Avantgarde in den 1960er und 1970er Jahren vgl. Hobsbawm, Age of Extremes, S. 320-339; eine bis dato nie dagewesene Transnationalisierung jugendlicher Stile, transportiert insbesondere über Popmusik und Mode sieht Judt, Postwar, S. 390-421.
37
Dieter Baacke diagnostizierte Ende der 1960er Jahre „eine Art internationalen Verhaltensstil der Jugend“, vgl. Baacke, Beat, S. 12.
38
Die neuen Lebensstile wurden „zentral über Musik vermittelt“, so Siegfried, Time, S. 250; vgl. auch die Beiträge in Kutschke/Norton (Hg.), Music and Protest.
39
Ambrosius/Kaelble, Folgen des Booms, S. 8; zeitgenössisch vgl. Inglehart, Silent Revolution. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Ronald Inglehart diagnostizierte
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gleichzeitigkeiten und spezifischer Ausprägungen „gemeinsame Entwicklungsmuster“40 feststellen. Der Übergang von hochindustriell zu postindustriell geprägten Gesellschaften markierte einen „Strukturbruch der Moderne“41 – bereits zeitgenössisch als »Wertewandel« bezeichnet, retrospektiv oft paradigmatisch als »Liberalisierung« charakterisiert – der auf das Engste mit Konsum als neuer Lebensform verwoben war. Als Avantgarde der Konsumgesellschaften nahmen insbesondere junge Menschen „die Versprechen der Waren beim Wort und [setzten] die Gesellschaften unter erheblichen Transformationsdruck“42. Popkultur war zentraler Katalysator und Ausdruck einer kulturellen Orientierungssuche, die etwa demokratische Teilhabe, Individualität und die Einebnung überkommener Hierarchien versprach: Die speziell auf die junge Altersgruppe zugeschnittenen Konsumangebote „boten ein emotionales Potential für die Loslösung aus emotionalen und ideellen Bindungen der traditionellen Sozialmilieus, sie erweiterten Erfahrungsräume und beeinflussten politische Bindungen“43. Ein Signum der 1960er und 1970er Jahre war der Wandel der Geschlechterrollenbilder, der unter anderem durch das Erscheinen des jugendlichen „PopKörpers“44 – so ein vielzitierter Terminus aus den Literaturwissenschaften – besonders herausfordernd in das öffentliche Bewusstsein rückte. Als „Verbund von Signalen, deren Botschaft evident war: Befreiung – politisch, sozial, kulturell, sexuell“45, waren die Kombinationsmöglichkeiten bei der Ausstattung dieses Popkörpers nahezu unbegrenzt: Ob oft im DIY-Verfahren aus verschiedenen Materialien hergestellte Kleidungsstücke und Accessoires, oder Versatzstücke aus der sogenannten einen »Wertewandel«, in dessen Zuge materialistische gegenüber postmaterialistischen sowie Pflicht- gegenüber Selbstentfaltungswerten in den Hintergrund rückten. 40
Herbert, Liberalisierung, S. 40; vgl. auch Schildt, Sozialgeschichte, S. 65f.; DoeringManteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 12; Judt, Postwar, S. 453–633.
41
Siegfried, Time, S. 9.
42
Linck, Pop-Körper, S. 261; vgl. auch die Beiträge in Hodenberg/Siegfried (Hg.), Reform und Revolte. Die »jugendliche Teilkultur« (Friedrich Tenbruck) war trotz nationaler Ausprägungen wesentlich durch US-amerikanische Leitbilder geprägt, vgl. dazu bereits zeitgenössisch Baacke, Beat, S. 12; retrospektiv Maase: Amerikanisierung von unten, S. 294; Pells, Globalisazion of American Culture, S. 34; Torp/Haupt, Konsumgesellschaft, S. 22; Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 189; aus transnationaler Perspektive wiederum Judt, Postwar, S. 395.
43
Siegfried, Time, S. 15; auf den engen Zusammenhang von Popkultur, Jugendkultur und Liberalisierung verweist auch Herbert, Liberalisierung, S. 45; als zeitgenössische Studie aus Großbritannien mit sehr ähnlichem Ergebnis vgl. Murdock, Kultur und Protestpotential.
44
Linck, Pop-Körper.
45
Ebd., S. 262.
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»Dritten Welt«, „fast alle Elemente wurden von Männern und Frauen gleichermaßen benutzt“46. Mode wurde „geschlechtsneutraler“47 mit einer klaren „Tendenz zum Androgynen“48. Die Botschaften des »Pop-Körpers« „wiesen ihn als Element von sozialen und kulturellen Innovationsschüben aus, in deren raschem Gang konventionelle Geschlechterrollenbilder und Geschlechtsidentitäten überprüft und kritisiert wurden“49. Wirkmächtige zeitgenössische Pop-Stars, die konventionelle Geschlechterrollenbilder und Geschlechtsidentitäten in Frage stellten und in ein Millionenpublikum transportierten, waren Brian Eno (insbesondere in der Zeit als Mitglied von Roxy Music) und insbesondere David Bowie. Ihr androgynes Auftreten war kontrovers, rief Verwunderung, Ablehnung, aber auch viel Zustimmung hervor. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Affinität beider Musiker für Krautrock und den »German Sound«. Davon wird die Rede sein. Zurecht ist angesichts des unbestreitbaren Wandels der Geschlechterrollenbilder davor gewarnt worden, ihn vorschnell als Teil eines generellen Liberalisierungsparadigmas oder einer bundesrepublikanischen »Erfolgsgeschichte« zu deuten.50 Gerade in Bezug auf die Geschlechtergeschichte ist die Ambivalenz der kulturellen Transformationsphase der 1960er und 1970er Jahre besonders sichtbar: Patriarchale Verhaltensmuster bestanden weiter fort, männliche wie weibliche Stereotype besaßen weiterhin eine starke gesellschaftliche Wirkkraft. Das spiegelte sich wiederum nicht zuletzt im popmusikalischen Feld, aus Seite der Produzenten ebenso wie der Rezipienten. Popmusik war trotz des befreienden und nach Befreiung verlangenden »Pop-Körpers« „dominiert von einem männlichen sexuellen Hedonismus, der für Frauen nur überaus problematische Rollen bereithielt“51. Der männliche Chauvinismus zeigte sich etwa in Form Texten, die mit ihrem Narzissmus und Selbstmitleid sowie vor allem der Objektivierung von Frauen in einer seltsam anmutenden Diskrepanz zu ihrem gegenkulturellen Entstehungskontext und Umfeld standen.52 Die Bühnenshow der männlichen Interpreten war nicht selten von der Zurschaustellung aggressiver männlicher Sexualität gekennzeichnet, für die in den Vereinigten Staaten die Bezeichnung »Cock Rock« Verbreitung gefunden hat. Weit über die 46
Ebd., S. 263.
47
Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 265.
48
Ebd.
49
Linck, Pop-Körper, S. 263.
50
Vgl. mehrere Beiträge in Paulus/Silies/Wolff, Geschlechtergeschichte.
51
Wicke, Popmusik, S. 36; vgl. auch Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 269; Whiteley, Women. Die Frage nach der männlichen Dominanz in der Popmusik und den Geschlechterrollenbildern wurde bereits zeitgenössisch häufig gestellt, vgl. Kaiser, RockZeit, S. 219; Chaple/Reebee, Rock-Musik, S. 317. Auch in den Musikzeitschriften der 1970er Jahre kehrte das Thema häufig wieder.
52
Vgl. Frith, Sociology, S. 174f.; Endres, Sex Role Standards, S. 187-189.
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einzelnen Interpreten hinaus war weiße männliche Dominanz in allen Bereichen der Popmusik omnipräsent: Weiße Männer nahmen eine strukturelle Machtposition ein und hatten dadurch „nicht nur die Möglichkeit zu definieren, was populäre Musik jeweils ist, sondern [definierten] damit auch zugleich die Position von Frauen in dieser Musik“53 mit; das hatte strukturelle Auswirkungen, bis hin zur „klanglichen Organisation des Musikalischen“54. Im Krautrock war die männliche Dominanz weitaus weniger präsent als es diese Beschreibungen nahelegen. Zwar war auch er mit allen strukturellen Folgen in eine männlich dominierte Musikindustrie eingebunden, auch war die überwiegende Mehrheit der Protagonisten des Phänomens männlich. Dennoch gab es bemerkenswerte und vor allem frühe Ausnahmen, etwa die Journalistin Ingeborg Schober oder die Managerin Hildegard Schmidt (Can). Die Musik war weitgehend textlos, und war sie es nicht, dann hatten die Inhalte keinerlei Ähnlichkeiten mit angloamerikanischem Cock Rock. Vor allem aber die Präsentationsformen des Krautrock hatten mit einer Zurschaustellung männlicher Aggressivität oder Sexualität wenig zu tun: Wie zu sehen sein wird, waren ungewöhnliche Präsentationsformen auch dahingehend Quelle großen Erstaunens, besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die Ambivalenz des Wandels spiegelte sich in den Rahmenbedingungen, Praktiken und Präsentationsformen des Krautrock unmittelbar wider, und auch an dieser Stelle erweist sich ein Blick auf die transnationale Rezeption des Phänomens als besonders gewinnbringend. Ein (wenn auch ambivalent zu betrachtender) Wandel der Geschlechterrollenbilder als »Signum der 1960er Jahre« und die Avantgardefunktion junger Menschen sind zwei der Gründe, warum »Jugend« – transportiert über Massenmedien, forciert durch Werbung – zu einem gesellschaftlichen Ideal avancierte.55 »Jugend« stand damit unweigerlich auch im Zentrum der Debatten um die gesellschaftlichen Wirkungen des Massenkonsums, die bereits ab Mitte der 1950er Jahre entflammten. Das von vielen jungen Menschen als befreiend empfundene Potential des Konsums und die durch ihn ermöglichte Lösung aus alten Bindungen und Milieus riefen zu53 54
Wicke, Pop als Geschichte, S. 71; ähnlich bereits Kaiser, Rock-Zeit, S. 219. Ebd. Bei einer historischen Betrachtung von Popmusik stellt sich also grundsätzlich nicht nur die Frage nach ihrer sozialen oder kulturellen Konstruiertheit, sondern auch die Frage nach den Rückwirkungen dieser Konstruktionen auf die Musik, vgl. Endres, Sex Role Standards, S. 193f.
55
Vgl. Schildt/Siegfried, Youth, Consumption, and Politics, S. 17f.; Großbölting, Milieu und Lebensstil, S. 60 und 63f.; Poiger, Amerikanisierung oder Internationalisierung, S. 19; Siegfried, Draht zum Westen, S. 84; Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 28; zur europäischen Dimension der demographischen Entwicklung, der »Jugendlichkeit der Gesellschaften« und der Avantgardefunktion junger Menschen Hobsbawm, Age of Extremes, S. 320-343; auch Judt, Postwar, S. 390-398.
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nächst die traditionellen Sozialisationsinstanzen wie Kirchen und Gewerkschaften auf den Plan, die ihren Macht- und Kontrollverlust mit scharfen Angriffen auf den angeblich »entpolitisierenden« und »verdummenden« Charakter des Konsums angloamerikanischer Prägung – oft mit antiamerikanischem oder offen rassistischem Unterton – verbanden. Als Feindbild konservativer Politiker, Funktionäre und Pädagogen diente etwa eine als monolithischer Block mit einheitlichem Interesse imaginierte »Konsumindustrie«, personifiziert durch den als skrupelloser Verführer dargestellten »Manager«, denen die Jugend weitgehend schutzlos ausgeliefert sei. »Manipulation« und »Entpolitisierung« durch Konsum waren die zentralen Begriffe der konservativen Kulturkritik, Popmusik und Mode bildeten Hauptziele der Attacken: Es steht außer Frage, dass sich „Kontroversen über populäre Kultur immer auch auf Konsumkultur bezogen“56. Während die negative Konsumkritik bis in die frühen 1960er Jahre im Wesentlichen von konservativer Seite und älteren Generationen ausging, waren ab etwa Mitte der 1960er Jahre zunehmend politisch linksstehende Jugendliche und junge Intellektuelle „Hauptträger des politischen Protests“57, die sich als transnationale »Gegenkultur« besonders scharf gegen den Konsum als Lebensform, besonders in seiner populärkulturellen Ausprägung positionierten.58 Dabei standen in einer auf den ersten Blick eigentümlichen Parallelität ebenfalls die Prognose einer, manipulierten, »entpolitisierten« und konformistischen Einheitsgesellschaft im Zentrum, wobei die Positionen im Wesentlichen zwischen Walter Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf der einen, und Adornos bzw. Horkheimers Topos der »Kulturindustrie« auf der anderen Seite oszillierten: also zwischen einer zumindest potentiell emanzipativen, und einer (nahezu) ausweglos manipulativen Wirkung von »Massenkultur«. Diese Auseinandersetzungen werden in der folgenden Darstellung eine Rolle spielen, weil sie für den zeitgenössischen Diskurs zentral waren; sie spiegeln die „Verschmelzung kommerzieller und gegenkultureller Strömungen als Grundierung und Ausdruck neuer Orientierungen“59 besonders prägnant.
56
Poiger, Geschlechternormen, S. 59.
57
Siegfried, Time, S. 10.
58
Für die Protestkulturen der späten 1960er und der 1970er Jahre existiert ein ganzes Bündel an Begrifflichkeiten. Zeitgenössisch wurden (oft synonym) Begriffe wie »neue Kultur«, »Underground«, »Subkultur«, »Gegenkultur« oder »Alternativkultur« verwandt, später auch »alternatives Milieu«. Die einzelnen Begriffe haben sehr unterschiedliche Ursprünge, erfuhren im Laufe der Zeit Bedeutungsverschiebungen, und spiegelten nicht zuletzt auch spezifisch nationale Ausprägungen wider. Hier wird entspannt als Quellenbegriff und vereinfachend als Oberbegriff »Gegenkultur« benutzt.
59
Schildt, Sozialgeschichte, S. 53; vgl. auch Hobsbawm, Age of Extremes, S. 285f.
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Ein von dem Impresario und Autoren Rolf-Ulrich Kaiser 1968 veröffentlichter Sammelband lieferte eine Bestandsaufnahme der „neuen Kultur“60 in der Bundesrepublik in jenem Jahr, dem Ausgangspunkt des hiesigen Untersuchungszeitraums. Als Ursprung dieser »neuen Kultur« beschrieb Kaiser, zentraler Akteur des Krautrock, die US-amerikanische Counter Culture als grenzübergreifend wirksames „Zeichen des Aufbruchs einer jungen Generation“61, deren zentrales und einigendes Element die „Begeisterung für neue Pop-Musik“ sei. Die vielfältigen Ausdrucksformen der neuen Kultur, so Kaiser, sei von einem unmittelbar gesellschaftsverändernden Anspruch geprägt; auf Seite ihrer Produzenten ebenso wie auf Seite ihrer Konsumenten. Konsum erschien bei Kaiser keineswegs als negativ, unterschieden wurde vielmehr »richtiger« von »falschem« Konsum. Kaisers Sammelband ist ein frühes Beispiel für die »Verschmelzung kommerzieller und gegenkultureller Strömungen« im Umfeld des Krautrock, der eine Vielzahl von kommenden Konflikten bereits vorzeichnete. Gleichzeitig verdeutlicht er eine transnationale Dimension: Die konsumkritische, transnationale Gegenkultur schuf sich ihren eigenen, politisch korrekten »Teilmarkt«, den „hip capitalism“62 bzw. „hip consumerism“63 aus Popmusik (Tonträger und Abspielgeräte), spezifischer Mode, psychedelischen bzw. psychoaktiven Rauschmitteln, Buttons und Postern (oft mit konsumkritischen Inhalten), Comics oder Kurzgeschichten, »alternativen« Reisen oder auch bestimmten Automarken. Auf diesem »Teilmarkt« zeigte sich die „Durchdringung von Pop und Politik“64 besonders prägnant: Der spezifische Konsum wurde als »alternativ« ausgewiesen und galt als weitgehend akzeptabel, da er (vermeintlich) der gegenüber der Mehrheitsgesellschaft artikulierten Konsumkritik nicht zuwiderlief. Der »unkonventionelle«, »politisch korrekte« Konsum war wesentlicher Bestandteil der Identitätskonstruktionen einer transnational verflochtenen Gegenkultur, die gemeinsame „Ausdrucks- und Kommunikationsformen, Symbolwelten und […] Konsumpraktiken“65 teilte. Zugleich barg dieser »alternative« Konsum ein hohes Kon60 61
Kaiser (Hg.), Protestfibel. Zu Kaiser später mehr. Dieses und folgendes Zitat: Kaiser, Vorwort, S. 7. Kaiser hatte den Sommer 1967 in den USA verbracht und war ausgewiesener Kenner der US-amerikanischen Counter Culture.
62
Krieger, Hip Capitalism; auch einer der zentralen Begriffe in Kramer, Republic of Rock.
63 64
Thomas, Hip Consumerism. Siegfried, Time, S. 59; auch Großbölting, Zwischen Mileu und Lebensstil, S. 66; zur nach wie vor oft fehlenden historischen Aufmerksamkeit für die Rolle der Populärkultur in diesem Zusammenhang vgl. Eitler, New Age, S. 335.
65
Großbölting, Mileu und Lebensstil, S. 67; zur transnationalen Identitätskonstruktion auch Breidenbach/Zukrigl, Identität, S. 173; Maase, Amerikanisierung; Trommler, Kulturpolitik; Poiger, Amerikanisierung; zur implizit politischen Bedeutung und identitäts-
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fliktpotential, da immer wieder neu ausgehandelt werden musste, welche Arten von Konsum als akzeptabel gelten konnten und welche nicht. Die ständigen Aushandlungsprozesse, der teilweise Konsumverzicht sowie die eigenwilligen Kombinationen von bestimmten Elementen des Massenkonsums entfalteten ein immenses Innovationspotential. Die Gegenkultur brachte mit der Ablehnung des Mehrheits- und der kreativen Ausbildung eines »unkonventionellen« Konsums immer neue Stile und Ausdrucksformen hervor, die von der Konsumgüterindustrie spätestens ab Mitte der 1960er Jahre als schier unerschöpfliches kreatives Repertoire betrachtet und genutzt wurden. Durch das Aufgreifen von Versatzstücken der Gegenkultur erreichten diese die Mehrheitsgesellschaft und verloren dadurch ihr kritisches Potential. In der Gegenkultur wurden dadurch neue Abgrenzungsmechanismen in Gang gesetzt, die wiederum neue, distinkte Stile und Ausdrucksformen hervorbrachten, die als Repertoire für die Konsumgüterindustrie zur Verfügung stehen konnten.66 Folgt man diesem Gedankengang, übten Gegenkulturen dadurch nicht nur einen überproportional großen Einfluss auf den Konsum der Mehrheitsgesellschaft aus: „An innovation appears, makes a lot of noise, and is then quietly pulled into the mainstream, which it enriches with its own qualities“67, so etwa der britische Melody Maker im Jahr 1970, der dieses Phänomen insbesondere auch in der Musikindustrie beobachtete. Darüber hinaus wirkte die Mehrheitsgesellschaft in diesem Bild auch auf die Gegenkultur zurück, indem sie die Ausbildung immer neuer Ausdrucksformen provozierte und damit wesentlich zur Ausdifferenzierung gegenkultureller Stile im Laufe der 1970er Jahre beitrug.68 Allerdings stiftenden Rolle von Mode in ihrem transnationalen Kontext vgl. Ruppert, Um 1968, S. 37; zum transnationalen Charakter der Gegenkultur vgl. mehrere Beiträge in Schildt/Siegfried (Hg.), Marx and Coca-Cola; zu Gegenkulturen und Protestbewegungen als Ursache und Folge der Transnationalisierung zugleich vgl. Davis, Gender und Politisierung, S. 313. 66
Vgl. Ruppert, Um 1968, S. 24; auch Schildt/Siegfried, Youth, Consumption and Politics, S. 2; zeitgenössisch vgl. Ginsburg, Rock is a Way of Life, S. 30. „Wir machen immer wieder den Versuch, zumindest begrifflich dem Scheißkommerz zu entfliehen, und jedesmal hat uns derselbe bis jetzt mühelos eingeholt, gierig unsere eigene Sprache aufgesaugt und sich dann an uns selbst wieder verkauft,“ so eine Stimme aus der bundesdeutschen Musikszene in Riebeˈs Fachblatt 8/1972.
67 68
Melody Maker, 13.06.1970. Zur „spannungsreiche[n] Verbindung von Kulturindustrie und Gegenkultur“ vgl. Siegfried, Protest am Markt, S. 72; zeitgenössisch verwies Rolf Schwendter auf die dialektische Abhängigkeit von Gegen- und Mehrheitskultur, vgl. Schwendter, Theorie der Subkultur, S. 23; etwas später dazu auch Brake, Soziologie der jugendlichen Subkulturen, S. 17; später Lindner, Subkultur, S. 7. Dasselbe Modell entwickelte David Riesman am Beispiel des Jazz, vgl. Riesman, Popular Culture, S. 365f.
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ist dieses Narrativ des Innovationsmodells (zumindest in seiner Pauschalität) keineswegs unumstritten: Zum einen scheint es zumindest nach den 1970er Jahren zu einem Bedeutungsverlust jugendlicher Kulturen als Katalysatoren neuer Trends und Entwicklungen gekommen zu sein, eine Beobachtung, die noch genauerer Analyse bedarf; zum anderen geht die production of culture-Perspektive mit ihrer Betonung struktureller Begebenheiten davon aus, dass die Innovationskraft »progressiver« Konsumentengruppen generell überschätzt wird.69 Die Geschichte des Krautrock ist mehrfach eingebunden in den hier grob skizzierten Rahmen aus Konsum und Konsumkritik, Jugend-, Popkultur und neuen Lebensstilen in den 1960er und 1970er Jahren. Sie schufen die Voraussetzungen für Produktion und Rezeption, sowie den transnationalen Kommunikationsraum für Popmusik, innerhalb dessen sich Krautrock entwickeln und entfalten konnte. Als Konsumenten erlebten die Protagonisten, wenn auch individuell höchst verschieden, die entscheidenden Einflüsse aus Popkultur und Popmusik; als Produzenten von Popmusik blieben sie weiterhin auch Konsumenten: beispielsweise von Popmusik und Popkultur über die verschiedensten Medien, von spezifischer Mode, von psychedelischen bzw. psychoaktiven Rauschmitteln, von alternativen Reisen, aber etwa auch von neuesten technologischen Entwicklungen im Instrumenten- oder Studiobereich. Ihre Erfahrungswelten als Teil einer grenzübergreifenden KonsumAvantgarde wirkte massiv auf ihr musikalisches Schaffen zurück: strukturell, inhaltlich, performativ. Eingebunden in die transnationale Gegenkultur waren, wie zu sehen sein wird, Konsumkritik oder Kritik gegenüber »der Musikindustrie« immanente Bestandteile des Krautrock, auf Seite seiner Produzenten nicht weniger als auf Seite seiner Rezipienten. Als gegenkulturelles und »progressives« Phänomen der 1970er Jahre erscheint Krautrock als geradezu idealtypisches Beispiel für die »spannungsreiche Verbindung von Kulturindustrie und Gegenkultur«, insbesondere in Hinblick auf die ihm zugesprochene »Wirkkraft« auf den popmusikalischen »Mainstream« und die Hörgewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft.
69
Vgl. Nathaus, Production of Culture, S. 144.
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K RAUTROCK TRANSNATIONAL „Das unilineare Stammbaumdenken, in dem weder Platz für Rückkoppelungen noch für Überlagerungen war, ist einem Denken in offenen Strukturen gewichen, in dem Historiker es mit einer Vielzahl konkurrierender Geschichten zu tun haben und in dieser Vielstimmigkeit eine Tugend erkennen.“70 Sebastian Conrad und Andreas Eckert, 2007
Seit einigen Jahren ist in den Geschichtswissenschaften ein „wachsendes Interesse an transnationalen Dimensionen des Faches“71 festzustellen. Die angesprochene Entwicklung des Massenkonsums zur »Lebensform der Moderne«, die Technisierung und die Medialisierung, der gesellschaftliche Wandel oder die Avantgardefunktion junger Menschen in der Transformationsphase der 1960er und 1970er Jahre sind letztendlich nur schlüssig zu erklären in Form einer „Geschichte, die sich hauptsächlich für Grenzüberschreitungen interessiert“72. Im besonderen Maße gilt das für Popkultur und Popmusik als allgegenwärtige Formen des Massenkonsums.73 Entstanden Mitte des 20. Jahrhunderts aus der Dynamik der multiethnischen USamerikanischen Einwanderergesellschaft, breitete sich Popmusik in wenigen Jahren grenzübergreifend aus und brachte eine rasch wachsende Vielfalt an Formen und Inhalten hervor. Dabei wirkten Einflüsse »von außen« in wachsendem Maße auf den US-amerikanischen Ursprungsort zurück – zuerst in Form der so genannten »British Invasion« ab Mitte der 1960er Jahre, in Form des Krautrock ab Mitte der 1970er Jahre, und später in Form einer wachsenden Zahl von Einflüssen aus verschiedenen Teilen der Welt.74
70 71
Conrad/Eckert, Globalgeschichte, S. 8. Gallus/Schildt/Siegfried, Zeitgeschichte transnational, S. 11; vgl. auch Sachsenmaier, Global History; Conrad/Eckert, Globalgeschichte. Wichtig: Nicht die transnationale Perspektive ist neu, aber das rasch steigende geschichtswissenschaftliche Interesse der letzten Jahre.
72
Gallus/Schildt/Siegfried, Zeitgeschichte transnational, S. 11.
73
Vgl. eine Reihe von Beiträgen in Hüser (Hg.), Populärkultur transnational; Kramer, Republic of Rock, S. 9. Eine in Forschung und Darstellung entschieden transnational ausgerichtete Popgeschichte fordert auch Pfleiderer, Geschichtsschreibung, S. 72f.
74
„In den 1960er und 1970er Jahren haben diverse musikalische Szenen ihre Fühler ausgestreckt, was in ein transnationales und interkontinentales Netzwerk von Wechselbe-
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Abbildung 1: Kein »Privileg« bundesdeutscher Musiker. Eindeutige Konnotationen auf einem USFanzine, 1973.
Die Wahrnehmung des Krautrock als konstitutiver Säule der Popmusik und die ihm zugesprochene Wirkkraft innerhalb der Popgeschichte werden erst in transnationaler Perspektive deutlich sichtbar. Dabei ist der Kulturtransfer aus den USA und Großbritannien nach Westdeutschland ebenso von Interesse wie die umgekehrte Transferrichtung, für die der Begriff »Krautrock« überhaupt erst geprägt worden ist – von wem und wo sei dahingestellt. Es geraten Transfers von Ideen, Praktiken, Symbolen, Personen und Objekten in den Blick, aber auch die Wahrnehmungen und diskursiven Rückwirkungen dieser Transfers in den verschiedenen nationalen Kontexten. Krautrock erscheint in diesem Zusammenhang als frühes Beispiel für die beschleunigte kulturelle Transnationalisierung der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts75 – keineswegs zu verstehen als teleologischer oder linearer Prozess, denn vielmehr wird gerade am vorliegenden Beispiel deutlich, wie
ziehungen und Beeinflussungen mündete“, so die Musikwissenschaftlerin Beate Kutschke in Kutschke, In lieu, S. 9. 75
Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 12f.
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sehr jeweilige »Nationalisierungen« der kulturellen Einflüsse »von außen« integraler Teil dieser zunehmenden transnationalen Verknüpfungen waren.76 Generell ist spätestens ab den 1970er Jahren angesichts des »Globalisierungsdiskurses« ein wachsendes Interesse an Lokalem und Regionalem, auch Nationalem als Reaktion auf eine vermeintliche Bedrohung durch Globalisierung, Entfremdung oder Technisierung – wiederum in enger Verwobenheit mit Massenkonsum – festzustellen.77 Nicht zuletzt sind die hier zentralen Termini »Amerikanisierung« und »Transnationalisierung« etymologisch auf die Nation bezogen, was den dialektischen Charakter unterstreicht: Der Begriff »transnational« macht als analytischer Begriff durch seinen Bezug auf das Nationale deutlich, dass die Nation trotz zunehmender Verflechtungen und grenzübergreifender Einflüsse im Sinnhaushalt der Menschen nach wie vor eine zentrale oder in Reaktion wachsende, meist emotional aufgeladene Rolle spielt. Wie zu sehen sein wird, war das Nationale auch im Falle des Krautrock in vielschichtiger Art und Weise von zentraler Bedeutung, nicht zuletzt deswegen erscheint der Begriff »transnational« im vorliegenden Fall besonders passend. Für die transfergeschichtliche Forschung bzw. die „relationale[…] Geschichtsschreibung“78 existiert eine Vielzahl von Konzepten, Perspektiven und Prozessbeschreibungen. Grundidee ist, dass politische, soziale oder kulturelle Einheiten – imaginiert oder nicht – nicht als »geschlossen«, sondern als in ihrer Entwicklung vielfältig »von außen« beeinflusst und »nach außen« wirkend verstanden und konzipiert werden. Damit rückt anstelle der Vorstellung »geschlossener« Kulturen die „grundsätzliche Durchlässigkeit für die Wirkungen des Kontaktes und des Austauschs“79 in den Mittelpunkt. Krautrock ist bereits als Bespiel dafür genannt worden, dass „im Zeitalter der globalen Medialisierung kulturelle Impulse nicht mehr allein von wenigen Zentren – insbesondere den USA – ausgingen, sondern in einem komplexen flow zwischen regionalen Szenen in allen Teilen der Welt entstanden“80. Austausch und Kontakt sind trotz grundsätzlicher Durchlässigkeit kultureller Einheiten und trotz einer zunehmenden Verflechtung immer an spezifische Orte rück-
76
Zur »Nationalisierung« kultureller Einflüsse »von außen« durch Aufladung mit neuen Bedeutungen vgl. Kroes, Mass Culture.
77
Vgl. Gallus/Schildt/Siegfried, Zeitgeschichte transnational, S. 14f.; Conrad/Eckert, Globalgeschichte, S. 34-39.
78 79
Epple, Relationen, S. 24. Vgl. Middell, Spatial Turn, S. 116. Kultur ist ein kontingentes Phänomen und basiert auf Transfer, vgl. Beck, Lokalisierung; Wagner, Kulturelle Globalisierung; Kroes, Cultural Imperialism, S. 306; Maase, Amerikanisierung, S. 232f.
80
Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 361.
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gebunden und gehen nicht im luftleeren Raum vonstatten.81 Damit geraten weitere Transferbegriffe wie Transregionalität bzw. Translokalität in den Blick, die für die Betrachtung der Popmusik ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von wachsender Relevanz sind und auch im vorliegenden Fall eine Rolle spielen werden.82 Bei einer transnational orientierten Geschichte geht es darum, „die auch lebensweltlich zunehmenden transnationalen Elemente in Gesellschaft und Kultur, ihre Akzeptanz und ihre Ablehnung, in die deutsche Zeitgeschichtsforschung stärker zu integrieren“83. Nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Bundesbürger – also ein großer Teil der Akteure im vorliegenden Fall – waren diejenige Altersgruppe, die am meisten am Ausland interessiert war: an westlichen Ländern, insbesondere den USA, aber auch am »Ostblock« oder an der »Dritten Welt«. „Viele von ihnen suchten nach Inspiration und Orientierung jenseits deutscher Grenzen, um ein als deutschnational empfundenes Bewusstsein zu überwinden, das sie nicht nur als durch die NS-Vergangenheit kontaminiert, sondern auch ganz allgemein als provinziell und hinterwäldlerisch empfanden.“84 Vor diesem Hintergrund entwickelten sich innerhalb der Bundesrepublik kulturelle Phänomene wie Krautrock oder auch der Neue Deutsche Film, die sich weit von »Deutschem« oder als »typisch deutsch« Empfundenem entfernten und im westlichen Ausland zwischen den 1960er und den 1980er Jahren keineswegs mehr »provinziell und hinterwäldlerisch«, sondern ganz im Gegenteil als zeitgenössische Avantgarde wahrgenommen wurden. Längst ist in der historischen Forschung Konsens, dass es sich bei kulturellen Transfers auf individueller ebenso wie auf Gruppenebene nicht um eindimensionale Übertragungen von »Sender« zu »Empfänger«, sondern um vielschichte Verflech81
Vgl. Epple, Relationen, S. 24f.; „Transfers [sind] nie bloße Imitationen, sondern immer Aneignungen und Veränderungen im Kontext der Lokalität“, so Kaelble, Transfergeschichte, S. 7; vgl. auch Bright/Geyer, Globalgeschichte, S. 64f.
82
Generell sind alternative oder ältere Begrifflichkeiten wie international, global, Transfer, Verflechtung, Kulturtransfer, transkulturell, transregional oder translokal ebenso wie der Begriff transnational in ihren verschiedenen Bedeutungen, Bedeutungsnuancen und Anwendungen ernst zu nehmen, vgl. Gallus/Schildt/Siegfried, Zeitgeschichte transnational, S. 20. »Global History« oder »World History« sind sicher mögliche Oberbegriffe, ob sie aber alle anderen Begrifflichkeiten in ihrer Bedeutung ersetzen können bzw. synonym sind, ist mehr als fraglich, vgl. Sachsenmaier, Global History; Eckert, Entwicklungszusammenarbeit, S. 27 [Fußnote].
83
Gallus/Schildt/Siegfried, Zeitgeschichte transnational, S. 14.
84
Ebd.; zur transnationalen Ausrichtung dieser Generation in der Bundesrepublik, oft in Verbindung mit dem Chiffre »1968«, vgl. Siegfried, Understanding 1968; Siegfried, Draht zum Westen; Davis, Transnation und Transkultur; Klimke, Global Sixties; Frei, 1968; Wolfrum, Demokratie, S. 257-260; vgl. auch mehrere Beiträge in Brown/Anton (Hg.), Avant-Garde and Everyday; Kutschke/Norton, Music and Protest.
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tungsprozesse und in höchstem Maße individualisierte, selektive Adaptions- oder auch Ablehnungsmechanismen handelt. »Kulturelle Marker« werden nicht einfach »überschrieben«, sondern ergänzt; zudem wirken sie meist mittelbar, vielfach »gefiltert« oder transformiert.85 Die spezifischen lokalen, regionalen und nationalen Bedingungen und eine selektive Aufnahme transformieren »das Empfangene« und laden es mit individueller Bedeutung auf. Kultureller Transfer impliziert generell eine „Autonomie des empfangenden Subjekts“86 und ist „in historischer Perspektive eine permanente, aber eben nicht gleichförmige und deshalb nur empirisch zu erfassende Wechselbeziehung von Lokalisierung, Regionalisierung, Nationalisierung und Transnationalisierung“87. Die komplexe Mittelbarkeit kultureller Transfers trifft selbstverständlich auch auf den bisher meistdiskutierten Transferbegriff in der bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung zu: die »Amerikanisierung«. Kein Aspekt transnationaler Geschichte hat bisher mehr Aufmerksamkeit erfahren. Klar ist angesichts der »Autonomie des empfangenden Subjekts« zunächst auch in diesem Fall, dass es sich um eine „prinzipiell nicht abschließbare Debatte“88 handelt und der jeweilige Grad der »Amerikanisierung« bzw. ihr Fehlen nur empirisch zu fassen ist. Bei einer Beschäftigung mit Populärkultur des 20. Jahrhunderts und insbesondere mit Krautrock ist eine Auseinandersetzung mit »Amerikanisierung« jedenfalls zwingend: zum einen deswegen, weil US-amerikanische Kultur einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Protagonisten des Krautrock ausübte, darüber hinaus aber auch, weil kulturelle Transfers aus den USA aufs Engste mit Konsumdebatten und vor allem der Infragestellung der hierarchisch geprägten kulturellen Dichotomie verwoben war. Der Literaturwissenschaftler Richard Herzinger brachte die dahingehende Wirkung dieses Kulturtransfers folgendermaßen auf den Punkt:
85
Vgl. dazu zeitgenössisch McLuhan, Cultural Uniformity, S. 44; zur „Kreuzung, Durchdringung [und] Überlagerung“ kultureller Transfers vgl. Welsch, Transkulturalität, S. 16; zum „Wechselspiel von Selbst- und Fremdstereotypen“ und deren Einfluss auf kulturelle Transferprozesse vgl. Maase 1996, S. 292; ähnlich Pells, Not Like Us, S. 278f. Rob Kroes spricht von einer »Re-Kontextualisierung« und »Re-Semantisierung«; er operiert mit dem Konzept der »empty signifier«, nach dem kulturelle Versatzstücke aus den Vereinigten Staaten mit neuen, vom Ursprungsort oft unabhängigen Bedeutungen aufgeladen und in andere Sinnsysteme integriert würden, vgl. Kroes, Empire, S. 300; dabei hebt er den selektiven Charakter der Adaption kultureller Transfers hervor, vgl. ebd., S. 298; vgl. dazu auch Gassert, Amerikanisierung, S. 532 und 560.
86
Gassert, Atlantic Aliances, S. 137.
87
Middell, Spacial Turn, S. 117.
88
Schildt, Amerikanische Einflüsse, S. 439.
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„Die vielleicht nachhaltigste Irritation für das europäische Selbstverständnis stellt die Entwicklung und der weltweite Siegeszug der amerikanischen Massenkultur dar. Ihr Prinzip – die Ablösung kultureller Überlieferungen und Ausdrucksformen von ihren ständischen und klassenmäßigen Trägerschichten und die tendenzielle Einebnung spezifischer sozialer und ethnischer Ausprägungen kultureller Wahrnehmung – wurde von den europäischen Eliten als unerhörte Provokation empfunden. Diese Enteignung von kulturellen Privilegien traditioneller Bildungseliten ist bis heute der Auslöser für die Furcht vor amerikanischer »Gleichmacherei«“89.
Die Dominanz US-amerikanischer Populärkultur lässt sich als Begleiterscheinung der militärischen, politischen und ökonomischen Dominanz der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg lesen, doch „weder intentional noch kausal darauf reduzieren“90. Ihre Attraktivität schien vielmehr zu einem großen Teil auf der Diversität und weitgehenden sprachlichen Homogenität des US-amerikanischen Binnenmarktes zu basieren, der sie sich von Beginn an zu stellen hatte: „Zur Eroberung des gesamtnationalen Marktes mußten die Unternehmen eine Formen- und Symbolsprache entwickeln, die über ethnische Grenzen hinweg Anklang fand“, so Kaspar Maase. „Sie konnten auch Wegbereiter eines Weltidioms der populären Künste und Gebrauchsgüter werden. Der Aufstieg zur Dominanz im globalen Kulturfundus wurde durch beide Entwicklungen befördert: Universalsprache und Diversität.“91 Eine Folge dieser inneren kulturellen Heterogenität des US-amerikanischen Binnenmarktes war, dass US-Populärkultur für Re-Kontextualisierungen in anderen Teilen der Welt besonders offenstand. Die kulturelle und ethnische Diversität, eng verwoben mit ihrem egalitären und demokratischen Charakter sowie der daraus folgenden strukturellen Offenheit für Anknüpfungspunkte und »Nationalisierungen« einzelner Versatzstücke waren wichtige Katalysatoren des globalen Erfolgs. In der Bundesrepublik wie auch in anderen europäischen Ländern wurde angesichts dessen bis in die 1960er Jahre gerne der Topos der »Bedrohung des Abend-
89
Herzinger, Modernekritik, S. 93; ähnlich Böhler, High and Low, S. 76; „gerade in den Alltagsdimensionen von Konsum und Unterhaltung war das »Amerikanische« mit dem sozialen »Unten« verbunden; kultureller Antiamerikanismus verteidigte den Überlegenheitsanspruch einer auf »Bildung« und »Geschmack« gegründeten bürgerlichen Lebensweise,“ so Maase, Amerikanisierung, S. 299; die Amerikanisierung des Konsums entfaltete in der Tat ein egalisierendes und identitätsstiftendes Potential, das Klassenund Milieugrenzen in der Bundesrepublik durchlässiger machte, so Haupt/Nolte, Konsum und Kommerz, S. 200–203.
90
Maase, Globalisierungsprozesse, S. 235.
91
Ebd., S. 237; so auch Pells, Globalisation, S. 35–40.
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landes« bemüht;92 US-amerikanische Populärkultur wurde als „aufdringlich, oberflächlich, vulgär, infantil und gehaltlos. Und am schlimmsten: kommerziell“93 dargestellt, andererseits wurde ein „Kanon von deutscher Innerlichkeit, einer in der Höhe schwebenden Transzendenz oder in die Tiefe gehenden Dialektik und der deutschen Gabe des Besserverstehens“94 beschworen. Der Großteil junger Menschen in der Bundesrepublik galten den Wächtern »abendländischer Hochkultur« als „Trojan Horse“95 US-amerikanischer Konsumkultur. Jungen Menschen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen bot sie attraktive Alternativen zu überkommenen gesellschaftlichen Konventionen und Machtverhältnissen. USamerikanische Kultur war nicht »durch die NS-Vergangenheit kontaminiert«, sondern erschien ganz im Gegenteil informell und egalitär. Die Akzeptanz US-amerikanischer Populärkultur musste dabei, so Maase, „in jahrelangen, für die Jugendlichen nicht selten schmerzhaften Auseinandersetzungen gegen Widerstand und Snobismus der alten kulturellen Eliten, gegen »Schmutz-und-Schund«Kampagnen, gegen Lehrer, Publizisten, Kirchenvertreter und Politiker erkämpft werden. Der Streit um Amerikanisierung stand im Mittelpunkt der Auseinandersetzung darum, welche kulturelle Ordnung in der sich ökonomisch modernisierenden und geistig nach Westen öffnenden Bundesrepublik gelten sollte.“96
Die bis etwa 1940 geborenen, älteren Protagonisten des Krautrock waren eng in diese Auseinandersetzungen eingebunden. Folgend wird insbesondere von einem einflussreichen Tonmeister, aber auch anderen Akteuren die Rede sein, die ob ihrer Affinität für US-amerikanische Kultur und den entsprechenden Habitus teils massiven Widerständen ausgesetzt waren. Sie waren (wie auch die jüngeren Akteure) stark von US-amerikanischer Populärkultur und vor allem Popmusik beeinflusst – was ihr Musikverständnis mit konstituierte, gleichzeitig aber auch eine Grundvo92
Vgl. Axel Schildt, Abendland und Amerika, S. 21; Herbert, Liberalisierung als Lernprozeß, S. 21; Siegfried, Time, S. 70; Poiger, Deutsche Identität, S. 281f.; Poiger, Amerikanisierung, S. 17.
93
Pells, Not Like Us, S. 237; ähnlich auch Nolan, Imagination, S. 9; Wagnleitner/May, Here, There and Everywhere, S. 4f.; Ermarth, Fluch oder Segen, S. 508; Kaelble, Europäische Besonderheiten, S. 179f.
94
Greiner, Test the West, S. 9f.; das Bild kultureller deutscher »Tiefe« auf der einen, und die US-amerikanische »Flachheit« auf der anderen Seite war (und ist bis heute) als „pejorative Grundierung“ im bundesdeutschen Alltag verankert, so Schildt, Amerikanische Einflüsse, S. 445.
95
Kroes, Good Life, S. 55; zur Verknüpfung von Konsum und »Amerikanisierung« in Europa vgl. de Grazia, Irresistible Empire.
96
Maase, Amerikanisierung, S. 311.
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raussetzung für die späteren musikalischen Abwehrbewegungen war, die den Krautrock im Laufe der 1970er Jahre innerhalb des popmusikalischen Idioms als zunehmend distinkt und eigenständig erscheinen ließen. Die Kulturimporte wurden auch in diesem Fall immer wieder neu re-kontextualisiert und re-semantisiert.97 Insbesondere mit Popmusik als primärem Kommunikationsraum transnationaler Jugendkulturen wanderten im Laufe der 1960er Jahre politische oder politisch aufgeladene Versatzstücke der US-amerikanischen Gegenkultur in die Bundesrepublik – prominente Beispiele sind etwa die Bewegung gegen den zweiten Indochinakrieg oder die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Dabei wurden auch die Vorbehalte gegenüber »offizieller« US-amerikanischer Politik in den Sinnhaushalt der bundesdeutschen Gegenkultur integriert, oft jedoch mit anderer politischer Bedeutung aufgeladen. Die aus diesen Transferprozessen gespeisten Abwehrbewegungen manifestierten sich sehr vielschichtig, weil sich aufgrund der US-amerikanischen Vorbildfunktion innerhalb der transnationalen Gegenkultur „Allianzen zwischen den Gegnern »Amerikas« auf beiden Seiten des Atlantiks herausbildeten“98, die von einem regen kulturellen Austausch untereinander geprägt waren. Durch die insbesondere in seiner frühen Phase enge Einbindung des Phänomens Krautrock in der transnationalen Gegenkultur wird auch dieser Aspekt des transatlantischen Kulturtransfers folgend immer wieder eine Rolle spielen. Die »Amerikanisierung« und die mit ihr verbundenen Adaptions- und Abwehrbewegungen als zentrale Aspekte in der Geschichte der Popmusik in den 1960er und 1970er Jahren war Teil einer transnationalen Verflechtungsgeschichte, die als solche im vorliegenden Fall besonders hervortritt, da mit Krautrock eine erste Umkehrung der Transferrichtung zu verzeichnen war. Zunächst stammten die musikalischen Einflüsse auf die (späteren) Protagonisten des Krautrock zum überwiegenden Teil aus den Vereinigten Staaten, später und mit Abstrichen aus dem Vereinigten Königreich. Krautrock entstand unter dem Einfluss und zugleich als Reaktion auf 97 98
Vgl. Kroes, Empire, S. 300. Die bundesdeutsche Studentenbewegung bezog ihre „Vorbilder, Argumente und Aktionsformen aus den USA […]. Der Antiamerikanismus der Neuen Linken war daher ein Antiamerikanismus »mit Amerika gegen Amerika«, der die inneramerikanische Debatte rezipierte und sie im Rahmen einer allgemeinen Kapitalismuskritik auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik übertrug“, so Gassert, Amerikanisierung, S. 754f.; „obwohl die amerikanische Kultur für einige Westdeutsche nun zum Inbegriff des Konsumkapitalismus […] wurde, lieferte sie doch die alternative Vision einer gegen das »Establishment« gerichteten Gegenkultur gleich mit“, so Ermarth, Fluch oder Segen, S. 513; auch die Kritik am Massenkonsum als einem der Hauptkritikpunkte der transnationalen Gegenkultur wurde in der US-amerikanischen Gegenkultur bereits wesentlich früher laut als in der Bundesrepublik, vgl. Haupt/Nolte, Konsum und Kommerz, S. 188 und 216f.
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angloamerikanische Popmusik und ihre kreative wie künstlerische Dominanz. Die überwiegende Mehrheit der Akteure hatte dabei jedoch kein Interesse an einem Rückgriff auf spezifisch deutsche, als »provinziell und hinterwäldlerisch« empfundene Ausdrucksweisen, und verwahrte sich explizit gegen jede Art nationaler Vereinnahmung. In den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich wurden die bundesdeutschen Gruppen, wie zu sehen sein wird, trotzdem und ungeachtet der Heterogenität ihrer musikalischen Ausdrucksweisen als spezifisch deutsch wahrgenommen und als »German Sound« nationalisiert. Stereotype Zuschreibungen »von außen« wirkten dabei mitunter stark auf das Selbstverständnis und das Schaffen bundesdeutscher Musiker zurück. In der Bundesrepublik wiederum kann Krautrock als frühes Beispiel für eine Ausdifferenzierung und beschleunigte Transnationalisierung der Kulturproduktion betrachtet werden, während er gleichzeitig frühestes Beispiel einer Umkehrung der popmusikalischen Transferrichtung von Kontinentaleuropa nach Großbritannien und in die USA ist. Bei einer Betrachtung des Phänomens und seiner nationalen wie transnationalen Wahrnehmung offenbart sich ein Geflecht an Transfers, Suchbewegungen, Abgrenzungen und Zuschreibungen, in dem die Nation als negatives wie positives Abziehbild weit in die 1970er Jahre zentraler Bezugspunkt blieb – auch in der Popmusik als „key site of the transnational“99.
99
Brown, Global Sixties, S. 192.
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P OPMUSIK „Der Pop kommt in die Jahre. Schon hat er seine Geschichte.“100 Siegfried Borris, 1973 „Ist Pop nur das Kürzel für populär? Und wenn das so einfach wäre, was fiele dann unter das Rubrum »Populäre Musik«? Sind das Schlager? Wie ist es dann aber mit einem so populären Stück wie Mozarts »Kleiner Nachtmusik« bestellt? […] Was ist mit dem Jazz: Ist der zum Meditieren aufgelegte, kräftig in die E-Musik langende neue Jazz nun ebenso der Popmusik zuzurechnen […]? Und ist Rock Pop?“101 Die Zeit, 1976
»Hoch-« und »Populärkultur«, »E-« und »U-Musik«, »seicht« und »tief«, »trivial« und »anspruchsvoll« – kulturelle Dichotomien, orientiert an einer klaren sozialen Schichtung der Gesellschaft, werden in Europa seit Jahrhunderten tradiert.102 In den 1960er Jahren allerdings geriet die hierarchische Kategorisierung von Kultur in ein »Unten« und »Oben« verstärkt in die Kritik, die bis dato klar gezogene Trennlinie zwischen »Populär-« und »Hochkultur« begann unscharf zu werden.103 Dabei spiel-
100 Borris, Gegenwelt, S. 174. 101 Die Zeit 23.04.1976. 102 Für einen historischen Überblich vgl. Fuhr, Populäre Musik. 103 Zeitgenössisch meinte etwa Umberto Eco, die Kategorisierung sei mit ästhetischem Mehr- oder Minderwert nicht erklärbar; vielmehr sei sie diskursabhängig und spiegele die jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnisse wider; so Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Für eine Zusammenfassung der Entwicklung in den 1960er Jahren vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 14-16; Eyerman/Jamison, Music and Social Movements, S. 113f. Die Dichotomie von »high brow« und »low brow« hatten europäische Einwanderer auch in die Vereinigten Staaten gebracht, die Begriffe waren jedoch mit anderen Bedeutungen aufgeladen und die Gegensätze schliffen in der multiethnischen Einwanderergesellschaft bereits weitaus früher ab, vgl. Böhler, High and Low; Riesman, Popular Culture, S. 359; Gassert/Hodenberg, Manipulation und Verrat, S. 427; die weiter fortgeschrittene Auflösung kultureller Dichotomien in den Vereinigten Staaten wirkte wiederum erheblich auf Europa zurück, vgl. Trommler, Kulturpolitik, S. 41.
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te die Ausbreitung der Popkultur und der Popmusik eine entscheidende Rolle.104 Die beispielsweise in der bundesdeutschen Musikindustrie gängige Unterscheidung zwischen E- (»ernster«) und U- (»unterhaltender«) Musik war nicht zuletzt angesichts der raschen stilistischen Ausdifferenzierung der Popmusik immer schwerer aufrecht zu erhalten; Krautrock spielte dabei aufgrund der Anwendung neuester Instrumenten- und Aufnahmetechniken sowie konzeptioneller wie personeller Verbindungslinien zur sogenannten »E-Avantgarde« eine wichtige Rolle, mit einer Strahlkraft weit über die Bundesrepublik hinaus. Viele Akteure bewegten sich zwischen den Kategorien, einige »Elektroniker« des Krautrock wurden zeitweise von der bundesdeutschen Verwertungsgesellschaft GEMA als »E-Musiker« klassifiziert.105 Die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur und die ästhetische Hierarchisierung folgen keinem verbindlichen und zeitlosen Wertekanon, sondern sind wandel- und damit historisierbar. Viele »populäre« Musikstile sind heute längst in den bildungsbürgerlichen Kulturkanon eingegangen und zur Kunst »erhoben«; ähnliches gilt für Teile der Pop-Literatur oder der Pop-Art der 1960er und 1970er Jahre. Trotz der verschwommenen und verschwimmenden Grenzen ist die kulturelle Dichotomie bis heute jedoch keinesfalls verschwunden, auch nicht in der Musik. Bei einer Beschäftigung mit Popmusik der 1960er und 1970er Jahre muss die bipolare Kategorisierung von Kultur zweifellos „als zumindest ideologiegeschichtliche Tatsache vorausgesetzt“106 werden. Angesichts dessen scheint es auch im vorliegenden Fall angebracht, den Begriff »Popmusik« als Quellenbegriff, nicht als analytischen Begriff zu verwenden: Damit entfällt das Problem, mit einem schwammigen Analysebegriff hantieren zu müssen, zugleich wird so die ideologiegeschichtliche Dichotomie von »U-« und »E-Musik« nicht fortgeschrieben.107 Allerdings ergeben sich auch daraus Probleme, denn Popmusik ist einer von vielen Quellenbegriffen, deren Bedeutungen sich wie auch die Hierarchisierungen von Kultur selbst veränderten und in verschiedenen (nationalen) Kontexten variierten. Obwohl der Oberbegriff »Popkultur«, der in den 1950er Jahren zum ersten Mal auftauchte und sich in der Folge rasch verbreitete, offensichtlich eine Abkürzung des Begriffs »Populärkultur« ist, transportierte er doch von Beginn an etwas Ande104 Zur Rolle der Popmusik bei der Abschleifung des dichotomen Gegensatzes vgl. Maase, Cultural Democracy; Siegfried, Time, S. 42; Wolfrum, Demokratie, S. 257-260. 105 Klaus Schulze etwa war laut GEMA seit 1972 »E-Musiker«, so eine Selbstauskunft Klaus Schulzes (undatiert, etwa Mitte der 1970er Jahre), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. Vgl. auch Büsser, Wo ist Kraut, S. 21; Seago, Kraftwerk-Effekt, S. 92. Zur zunehmenden Unschärfe der Kategorisierung in der Musik der 1960er und 1970er Jahre vgl. Clarke, Elvis and Darmstadt, S. 3–6; zeitgenössisch Schneider, Popmusik, S. 7. 106 Hentschel, Entdogmatisierung, S. 39. 107 Vgl. Geisthövel/Mrozek, Einleitung, S. 16f.
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res. Etymologie und Semantik scheinen hier nicht zueinander zu passen, bemerkte der britische Autor und Musiker George Melly bereits 1966.108 Beobachter wie Melly stellten fest, dass das außerordentlich breite popkulturelle Repertoire von Pop Art über Popliteratur bis hin zur Popmusik einerseits aufs Engste ineinander verwoben waren, sich aber andererseits grundlegend von anderen Formen populärer Kultur unterschieden. Als wesentliche Unterscheidungsmerkmale der Pop- gegenüber der Populärkultur wurden etwa der Gegenwartsbezug popkultureller Produkte, ihre ständige und schnelle Veränderung, ihre Rückgebundenheit zu technologischen Entwicklungen, und insbesondere ihre enge Verbindung mit Massenmedien ausgemacht. Nach Mellys für ihre Zeit überaus interessanter Bestandsaufnahme war Pop die Übersetzung des Zeitgeistes in materielle und immaterielle Kultur: „Its principal faculty is to catch the spirit of its time and translate this spirit into objects or music or fashion or behaviour.“109 Die Vorstellung des Pop als eigenständigem Gegensatzbereich innerhalb des weitaus größeren Feldes der Populärkultur ist bis heute aktuell; auch Gegenwartsbezug, ständige Veränderung, Technologie- und Mediengebundenheit sind bis heute Bestandteil vieler Eingrenzungsversuche des Phänomens Pop. Hinreichend für eine Definition sind sie allerdings nicht. Eingrenzungs- und Definitionsversuche für die Begriffe »Pop« oder »Popmusik« gibt es seit Jahrzehnten und quer durch die Disziplinen. Im September 1972 beispielsweise, wenige Jahre nachdem der Begriff »Popmusik« transnational zu zirkulieren begann, fand unter dem Dach der UNESCO in Wien ein erstes wissenschaftliches Symposion zum Thema statt.110 Organisiert von dem vor Ort ansässigen International Institute for Music, Dance and Theatre in the Audio-Visual Media (IMDT) diskutierten Teilnehmer aus Nordamerika, der Sowjetunion und 15 europäischen Ländern östlich und westlich des Eisernen Vorhangs über »New Patterns of Musical Behaviour of the Young Generation in Industrial Societies«. Unter den Teilnehmenden fanden sich Vertreterinnen und Vertreter der Soziologie, der Kunstgeschichte und der Bildenden Kunst, den Kommunikationswissenschaften, Musikwissenschaften, der Pädagogik und den Kulturwissenschaften, zudem Medienver108 George Melly, Revolt into Style, S. 3. Eine zeitgenössische Begriffsgeschichte für die Bundesrepublik findet sich in Schneider, Popmusik; danach tauchte der Begriff Pop um 1964 in den bundesdeutschen Medien auf und wurde zu Beginn eher mit Pop Art in Verbindung gebracht; erst am Ende des Jahrzehnts sei Pop in erster Linie mit Musik assoziiert worden. 109 Melly, Revolt into Style, S. 7; „die Pop-Kultur ist ein Kind der gegenwärtigen Gesellschaft, ein Spiegel, der das Vorhandene vielfältig facettiert und nicht ohne komische Verzerrung reflektiert,“ so auch Baacke, Beat, S. 26; mit einem Verweis auf die Formen- und Zeichenvielfalt der Popkultur vgl. Hermand, Pop international, S. 13. 110 Vgl. den darauf basierenden Sammelband von Bontinck (Hg.): New patterns of musical behaviour.
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treter und Musikproduzenten.111 Das »Meeting on Unexplored Ground« (so der Titel des einführenden Vortrags) sollte das transnationale, historisch an Industriegesellschaften gebundene und als »jugendlich« identifizierte Massenphänomen Popmusik interdisziplinär und aus diversen nationalen Erfahrungshintergründen beleuchten – und so eine erste Bestandsaufnahme liefern. Das Ergebnis erschien manchem Beobachter durchwachsen: „Ein musikwissenschaftliches Symposion der angestandenen soziologischen Begriffe“112, urteilte etwa die Frankfurter Rundschau; letztendlich habe es keine neuen Erkenntnisse gegeben, und die Runde sei bereits daran gescheitert, den Begriff »Popmusik« zu definieren. Die Reihe zeitgenössischer oder späterer Versuche, den Begriff »Popmusik« in eine definitorische Form zu gießen, lässt sich praktisch unendlich fortführen. In etwa 40 Jahren hat sich zumindest an der begrifflichen Situation dabei nichts Wesentliches verändert. Eine Definition von »Popmusik« steht bis heute aus. Es ist angesichts des kohärenten Charakters seiner Entwicklung und der Geschichte seiner Verbreitung sehr zweifelhaft, ob es jemals eine geben wird – und ob es überhaupt erstrebenswert ist. Was unter Popmusik verstanden wird, bleibt abhängig von der jeweiligen Perspektive: Verstehe ich Popmusik beispielsweise als musikalisches, soziologisches, mediales, technologisches, linguistisches oder kulturwissenschaftliches Phänomen? Für eine zeithistorische Betrachtung ist vor allem relevant, was zeitgenössisch (also im vorliegenden Fall in den 1960er und 1970er Jahren) unter diesem Begriff verstanden wurde, von wem und warum. Die Geschichte der Popmusik ist und bleibt vor allem auch eine Geschichte ihrer Begriffe.113 In bundesdeutschen, britischen und US-amerikanischen Quellen der 1960er und der 1970er Jahre kommt eine Vielzahl von Begrifflichkeiten zum Vorschein, manchmal als Sammelbegriffe für populäre Musik, manchmal als Begriffe für bestimmte Stilrichtungen oder Genres. Mit ihrer grenzübergreifenden Ausbreitung erfuhren diese Begriffe wie erwähnt Bedeutungsverschiebungen.114 In der Bundesrepublik bildete sich im Laufe der 1970er Jahre beispielsweise eine stilistische Unterscheidung heraus, nach der mit »Rockmusik« eine eher auf E-Gitarren, mit »Pop111 Auch Paul Willis aus dem Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham war unter den Teilnehmenden; zur Bedeutung des CCCS für die Popgeschichte vgl. Mrozek, Subkultur und Cultural Studies. 112 Frankfurter Rundschau 01.10.1972. 113 Vgl. Sandner, Geschichte der Rockmusik, S. 11. 114 „Was man in den USA Rock nennt, hieß in Deutschland zeitweise »Neue Popmusik«. Gemeint ist Musik, die sich vom gängigen Schlager unterscheidet und, zu Recht oder Unrecht, einen progressiven Touch hat“, so bereits Kaiser: Rock-Zeit, S. 127; für Großbritannien dazu Watts, Impact, S. 123; in den Vereinigten Staaten wurde die Bezeichnung »neue Popmusik« Ende der 1960er Jahre als übergreifender Begriff benutzt, vgl. etwa 1968 Gabree, World of Rock, S. 33f.
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musik« hingegen eine überwiegend auf elektronischen Instrumenten basierende Variante bezeichnet wurde, während in den angloamerikanischen Quellen im Gegensatz dazu auch im Falle allein mit elektronischen Instrumenten hergestellter Musik ganz selbstverständlich von »Electronic Rock« die Rede war.115 Andere Begrifflichkeiten nutzten sich mit der zunehmenden stilistischen Ausdifferenzierung der Popmusik ab: Die ab etwa Mitte der 1960er Jahre weithin gebräuchliche Bezeichnung »Beat« beispielsweise verschwand am Ende des Jahrzehnts weitgehend aus dem öffentlichen Vokabular. „Statt von Beat zu reden, ist es an der Zeit, den Begriff Pop-Musik […] zu gebrauchen“116, meinte Rolf-Ulrich Kaiser dazu im Jahr 1968, ohne sich allerdings selbst in der Folge daran zu halten. In der Gegenkultur um 1970 bekam »Popmusik« eine negative Aufladung – mit »Popmusik« Assoziiertes galt als »kommerziell«, »seicht« und »leicht«, die Musik der »Masse« und des »Mainstreams«. Gegenübergestellt wurden ihr etwa Bezeichnungen wie »Rock«, »Progressive Rock«, »Psychedelic Rock« oder »Underground«, aber insbesondere in der Bundesrepublik auch begriffliche Zusätze wie »progressive« Popmusik oder »neue« Popmusik – sie alle sollten gegenüber der Popmusik ein Mehr an »Authentizität«, »Anspruch« oder »Tiefsinn« signalisieren.117 Klare und fundierte Unterscheidungsmerkmale gab es allerdings nicht.118 Im vorliegendem Zusammenhang werden die zeitgenössischen Begrifflichkeiten in Zitaten übernommen, ansonsten der Begriff »Popmusik« benutzt – nicht als analytischer Begriff, sondern als handhabbarer Oberbegriff, wertfrei und ohne „festen Gattungs- und Genrezusammenhang“119. Als Unterscheidungsmerkmale zu anderen 115 Noch Ende der 1970er Jahre war »Electronic Rock« in den USA eine gängige Bezeichnung für elektronische Popmusik, vgl. Griffiths, Electronic Music. 116 Kaiser, Beat-Festival, S. 204. 117 Vgl. Schneider, Popmusik, S. 107–109; der Begriff »Psychedelic Rock« tauchte in enger Verbindung mit der neuen »Drogenkultur« und den Gruppen der US-amerikanischen Westküste am Ende der 1960er Jahre auf: „Psychedelisch wird von den Musikern, die ihre Musik so bezeichnen, als etwas Bewußtseinserweiterndes und zugleich Bewußtseinserweitertes verstanden“, so Kaiser, Buch der neuen Pop-Musik, S. 174; ab Beginn der 1970er Jahre kam das Begriffspaar »Progressive Rock« in Mode, um eine Abgrenzung zum mittlerweile »kommerzialisierten« Rock zu markieren. Was genau »progressiv« sein sollte, blieb dabei äußerst vage; auch »Progressive Rock« war schnell dem Vorwurf ausgesetzt, nur ein Marketing-Begriff der Musikindustrie zu sein, vgl. Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk: Rock People, S. 132f. 118 Im bundesdeutschen Musikhandel kam es um 1970 zu Begriffsverwirrungen: Einzelhändlern war nicht klar, was denn unter »Underground« oder »Progressive Rock« zu verstehen sei. Branchenzeitschriften druckten daraufhin Hilfestellungen und Definitionsversuche ab, vgl. Der Musikmarkt 8/1971. 119 Wicke, Pop als Geschichte, S. 68.
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populärmusikalischen Stilen sollen, grob George Mellys Eingrenzungsversuchen Mitte der 1960er Jahre folgend, insbesondere der Gegenwartsbezug, die enge Verknüpfung mit Medialisierung und Technisierung gelten.120 Dazu gehören die Evolution von Instrumenten- und Aufnahmetechnologien, der zunehmenden Möglichkeiten einer massenhaften Reproduktion und Distribution, oder die massenhafte Verbreitung von entsprechenden Abspielgeräten in den Haushalten. Die Anfänge der Popmusik in diesem Sinne markiert der Rock & Roll ab Mitte der 1950er Jahre: Er fand seine Verbreitung nicht mehr in erster Linie als Live-Musik, sondern über mediale Vermittlung, er wurde von Beginn an nicht mehr allein mit akustischen, sondern mit elektrisch verstärkten Instrumenten praktiziert, und er diffundierte innerhalb weniger Jahre in alle westlichen Gesellschaften und darüber hinaus. Auf den Rock & Roll folgte in den 1960er Jahren eine schnelle Ausdifferenzierung in verschiedene Stilrichtungen und Ausdrucksformen, die nicht zuletzt auch in der beschriebenen Vielfalt der begrifflichen Zuschreibungen ihren Ausdruck fand. Ältere populärmusikalische Stile wie etwa der Folk, Blues oder Jazz sind nach diesem Verständnis nicht Teil des Pop, sondern Teil seiner Vorgeschichte – wobei, um es noch einmal zu betonen, stilistische Überschneidungen und Verknüpfungen allgegenwärtig waren und sind. Im Gegensatz zur verwirrenden Begriffsvielfalt stand der Ursprungsort des Phänomens nie zur Diskussion. Wie Folk, Blues oder Jazz entstammte auch Rock & Roll der multiethnischen Einwanderergesellschaft der USA und gelangte Mitte der 1950er Jahre wesentlich über das US-Militär und US-Radiosender nach Europa – auch und zunächst nach Großbritannien. Die Wurzeln des britischen Skiffle und des Beat der 1960er Jahre liegen in der afroamerikanischen Musiktradition und können als „direkte europäische Fortsetzung des originär US-amerikanischen Rock ˈnˈ Roll“121 gelesen werden. Selbst wenn es die Beatles und die Rolling Stones „ohne die globale Diffusion der US-amerikanischen Populärkultur nicht gegeben“122 hätte, ahmten sie ihre US-amerikanischen Vorbilder jedoch keineswegs nur nach, sondern entwickelten eigene, distinkte musikalische Ausdrucksweisen. Das Jahr 1964 gilt mit den ersten Erfolgen der Beatles in den USA als Beginn der so genannten »British Invasion«; zwei Jahre später waren bereits knapp zwei Dutzend britische Grup-
120 Neben Melly dazu zeitgenössisch auch Shaw, Rock Revolution; Cohn, Pop History; Belz, Story of Rock; in der Bundesrepublik Kleinen, Subkultur; retrospektiv Wicke, Umgang mit Popmusik; als allgemeiner Überblick Hecken, Pop. 121 Sandner, Geschichte der Rockmusik S. 22; vgl. zeitgenössisch Gillett, Sound of the City, S. 307–320; Melly, Revolt into Style, S. 25–30; Cable, Pop Industry, S. 7-9; Frith, Sociology of Rock, S. 15. Retrospektiv vgl. Horn: Juke Box Britain; Coopey, British Popular Music Industry, S. 159. 122 Wagnleitner/Tyler May, Here, There and Everywhere, S. 1.
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pen und Interpreten in den US-Charts vertreten.123 Die »British Invasion« in den USA war Teil eines für die weitere Entwicklung der Popmusik außerordentlich fruchtbaren transatlantischen Austausches, stellte zugleich eine erste Umkehrung der Transferrichtung dar und übte wiederum enormen Einfluss auf die weitere popmusikalische Entwicklung in den USA aus.124 Für etwa zwei Jahrzehnte war Popmusik ein angloamerikanisches Phänomen und strahlte von ihren kreativen und kommerziellen Zentren wie London, San Francisco oder New York in die Welt aus. Vor dem Hintergrund dieser Transfers und der damit verbundenen Selektions- und Adaptionsprozesse kam es in den späten 1960er Jahren zu neuen Formen der Produktion, die die Produktionszusammenhänge der Popmusik entscheidend veränderten. Die Akteure der »neuen Popmusik« schufen Musik und Texte selbst, spielten live (und nicht Playback) vor Publikum, und versuchten Kontrolle über den geschäftlichen und technischen Teil der Produktion und Distribution ihrer Musik soweit möglich in eigenen Händen zu behalten. Zudem begann vor dem Hintergrund des raschen technologischen Fortschritts eine Phase der Experimente mit den neuen Möglichkeiten; auch die kommerzielle Fixierung auf das weiße Mittelklassen-Zielpublikum wurde aufgegeben, mit gravierenden Rückwirkungen auf die musikalischen Strukturen und Ausdrucksweisen. Spätestens gegen Ende der 1960er Jahre hatte sich über den vielschichtigen transatlantischen Austausch ein angloamerikanisches Pop-Idiom entwickelt, das den Markt einer immer größeren Hörerschaft in allen Teilen der westlichen Welt und darüber hinaus besorgte und dominierte. Insbesondere die transnationale Gegenkultur am Ende der 1960er Jahre konstituierte sich wesentlich über progressive Popmusik angloamerikanischer Provenienz: Sie wurde zu einer einigenden Klammer der ansonsten in ihren verschiedenen Ausprägungen durchaus hybriden Counter Culture,125 „zum ebenso selbstbewussten wie alles umfassenden Sprachrohr einer gan-
123 Vgl. Chapple/Garofalo, Musikindustrie, S. 294f.; Richard Coopey führt die Umkehrung der kulturellen Transferrichtung durch die »British Invasion« besonders auch auf unternehmerische Innovationen zurück. Nicht nur distinktiv britische Musik bzw. britischer Stil und Habitus wären alleinige Gründe des Erfolgs gewesen, sondern auch eine neue Art enthierarchisierter und informalisierter Musikindustrie in der Hand junger Unternehmer. Deren Stärke sei vor allem ein geschickt propagiertes, scheinbar »antikommerzielles« und gegenkulturelles Image gewesen, vgl. Coopey, British Popular Music Industry, S. 168f.; auch auf dem europäischen Kontinent dominierten die britischen Bands vor allem zwischen 1964 und 1966 die Charts, vgl. Davis, British Beat, S. 231. 124 Vgl. Cavallo, Sixties in American History; Gillett, Sound of the City, S. 321–338; zum transnationalen Austausch und der Wirkung der »British Invasion« für die US-Szene vgl. Harker, One for the Money, S. 73–79. 125 Vgl. Kramer, Republic of Rock.
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zen Generation“126, zu einem Phänomen „von großer sozialhistorischer Bedeutung“127. Für die Mitte der 1950er Jahre und mit dem Auftauchen des Rock & Roll wurde ein Übergang von der »Jazz-« zur »Rock-Ästhetik« ausgemacht.128 Damit rückt die gesteigerte Bedeutung von Sound in den Blick, zentrale Kategorie der Popmusik und wesentliches Bestimmungsmerkmal ihrer Ausdifferenzierungen;129 auch Krautrock wurde außerhalb der Bundesrepublik wie erwähnt als spezifisch deutscher Sound, als »German Sound« ausgewiesen. Sound steht in diesem Zusammenhang „in einem akustischen Sinn für Klang, Klangfarbe, und Klangqualität und ist eng an technische Errungenschaften der Klangerzeugung und -gestaltung gebunden. Mit Sound ist jedoch häufig dasselbe wie Stil gemeint – Personalstil, Gruppenstil, Produzenten- und Studiostil, Arrangier- und Kompositionsstil.“130 Auch Lautstärke, Artikulationsweisen, Instrumentierung oder feinere Abstufungen der Tonhöhe oder Rhythmik sind Teil dieses Sounds. Eine Ursache für die begrifflichen Unschärfen in Zusammenhang mit Popmusik ist die Unmöglichkeit, Sound präzise zu beschreiben; die abendländische Notenschrift reicht nicht aus, und auch darüber hinaus er126 Wicke, Umgang mit Popmusik, S. 32. Musik ist integraler Bestandteil sozialer Bewegungen, wirkt identitätsstiftend und als Transmitter von Ideen und Konzepten, so Eyerman/Jamison, Music and Social Movements, S. 106f. 127 Schildt, Sozialgeschichte der Bundesrepublik, S. 53; vgl. auch Siegfried, Understanding 1968, S. 63; Wicke, Mainstream and Subculture, S. 114f.; Marwick, Cultural Revolution, S. 39; Scheurer, From RockˈnˈRoll to Rock, S. 127; Gauß, Erlebnis des Hörens, S. 85; Wolfrum, Demokratie; Werr, Utopien und Kommerz. Zeitgenössisch Schmidt-Joos, Seid frei; Mills, Young Outsiders, S. 124. 128 Vgl. Peterson, Why 1955; auch Frith, Aesthetic. 129 Vgl. Binas-Preisendörfer, Sound, S. 196f. R. Murray Schafer beschrieb 1977 (in enger Verzahnung mit Marshall McLuhans Medientheorie) den Wandel von der Jahrhunderte praktizierten akustischen Klangerzeugung zur technisierten Musik seiner Zeit, deren Sound er auf die Klangumwelt der industrialisierten Umwelt bezog. Der von ihm eingeführte, analytische Begriff »Soundscape« hat weite Verbreitung gefunden, vgl. Schafer, Ordnung der Klänge. Bereits Jahre vor Schafer nannten zwei Wiener Musiksoziologen neben Technisierung und Medialisierung insbesondere die Veränderung der Schallumwelt als Grundvoraussetzung für die Produktion Popmusik: „Eine erste Annäherung an das Problem des Einflusses der akustischen Umwelt auf die musikalischen Verhaltensweisen führt zu der Erkenntnis, daß die gesamte Schall-Landschaft berücksichtigt werden muß: nicht nur unter dem Lärmaspekt der Industriegesellschaft, sondern auch unter dem Aspekt des Angebots der Massenmedien“, so Blaukopf/Gaisbauer, Musikalische Verhaltensweisen, S. 18. Die Begriffe »Sound« und »Klang« werden im vorliegenden Fall synonym benutzt. 130 Pfleiderer, Sound, S. 20f.
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weist es sich als „äußerst kompliziert, […] das offenkundig insbesondere durch Klangsinnlichkeit gekennzeichnete Phänomen in Worte zu fassen“131. Meist werden Klangfolgen und Klangtexturen einzelner Bands wie ganzer Genres mit Hilfe vager Annäherungen beschrieben, etwa in Form von Verweisen auf visuelle Wahrnehmung (klar, hell…), auf Körpereindrücke (dumpf, spitz, weich, sanft…) oder auf Materialbeschaffenheit (kantig, rau, hölzern, gläsern…).132 Das Ausweichen auf diese Begrifflichkeiten ist einerseits notwendig, denn „eigentlich fehlen uns die Worte. Was wir hören, können wir kaum oder gar nicht beschreiben“133. Andererseits sind Begriffe dieser Art für eine historische Betrachtung des Phänomens aufgrund ihrer Vagheit kaum zu gebrauchen.134 »Greifbarer« als der Sound selbst sind für die Geschichtswissenschaft die Reaktionen und Zuschreibungen, die er provoziert, und die ihn mit spezifischen Bedeutungen aufladen; ein Aspekt, der allgemein für die Bedeutung der Popmusik als transnationaler Kommunikationsraum, insbesondere aber auch in der transnationalen Wahrnehmung des Krautrock eine entscheidende Rolle spielte. Denn wie zu sehen sein wird war der in den USA und im Vereinigten Königreich als »German Sound« typisierte Krautrock ein klanglich außerordentlich heterogenes Phänomen, wurde also offenbar auf Basis anderer, über Klang hinausreichender Parameter als einheitliches Phänomen wahrgenommen. Auch in der Bundesrepublik war die neue »Rock-Ästhetik« seit Mitte der 1950er Jahre überaus präsent. Für die meist jugendlichen Rezipienten transportierte der Rock & Roll Symbole „typisch amerikanischer zivilistischer Lässigkeit und Lockerheit“135 und war „ein (wie auch immer diffuses) Bekenntnis zu jener Modernität und Freiheitlichkeit, die man den USA und ihrer Lebensform zuschrieb“136. Zuerst waren überwiegend Arbeiterjugendliche am Rock & Roll interessiert, bis zum Beginn der 1960er Jahre diffundierte US-amerikanische Popmusik in alle soziale Schichten. Mit dieser Ausbreitung entstand ein grenzübergreifender Kommunikationsraum, der erheblich dazu beitrug, „die Kultur der Bundesrepublik mit dem westeuropäischen und atlantischen Kulturkreis zu verbinden“137. In den 1960er Jahren gründeten sich in der Bundesrepublik als „Ausdruck eines wachsenden Bedürfnisses nach musikalischer Selbsttätigkeit“138 Tausende von Bands, die in jeder Hin131 Binas-Preisendörfer, Sound, S. 200. 132 Vgl. dazu die Ausführungen des Tonmeisters und Produzenten Dieter Dierks in Kaiser 1972, S. 231f. 133 Binas-Preisendörfer, Sound, S. 206. 134 Vgl. Geisthövel, Tonspur. 135 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 188f. 136 Maase, Entamerikanisierung, S. 239; vgl. auch Wagnleitner, Pop Culture Hegemony, S. 160. 137 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 269. 138 Siegfried, Time, S. 109; zeitgenössisch dazu Gröning, Der Käufer, S. 338.
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sicht, von der Musik über Stil und Habitus bis hin zu Texten und Bandnamen angloamerikanische Popmusik imitierten. Trotz teilweiser kommerzieller Erfolge innerhalb der Bundesrepublik wurden sie bereits zeitgenössisch als »epigonal« belächelt;139 letztendlich trugen sie aber wesentlich dazu bei, das popmusikalische Idiom in der Bundesrepublik zu etablieren. Und einige von ihnen waren Ausgangspunkte und erste Experimentierfelder für spätere Protagonisten des Krautrock.
139 „Deutsche Bands galten vor dem »Krautrock«-Boom der 70er Jahre als Epigonen und spielten auf dem internationalen Markt keine Rolle“, so Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 270.
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AUTHENTIZITÄT „Etwas authentisch zu nennen […] war eine Machtstrategie, mit der man im linksalternativen Milieu gültige und legitime Verhaltensmuster auswies.“140 Sven Reichardt, 2014
»Authentizität« war als „Selbstzuschreibungs- und Reflexionsbegriff“141 integraler Bestandteil der transnationalen Gegenkultur in den 1970er Jahren. Gegenentwürfe zu den als kommerziell und oberflächlich empfundenen Konsumgesellschaften wurden wesentlich über Authentizitätskonzeptionen entwickelt und begründet. Der „Authentizitätskult“142 als Reaktion auf die „Entfremdung in der Moderne“143 war verwoben mit der Ablehnung des Rationalen und der Emphase auf Emotion und Intuition, zeitgenössisch bezeichnet als »neue Sensibilität« (Herbert Marcuse und Daniel Bell). Das „Ideal der Unmittelbarkeit“144 war eine Abwehrbewegung gegen die vermeintliche Manipulation und Entfremdung durch Konsum, Medialisierung und Technisierung; das Aufkommen der „neuen Direktheit“145 in Form eines politischen und kulturellen Radikalismus – als Gegenentwurf zum Formalismus gesellschaftlicher Konventionen – wurde zu einem Signum der Zeit. Musik auf der anderen Seite ist seit jeher auf das Engste mit Konzeptionen von »Authentizität« verwoben, insbesondere Popmusik.146 Auch für die Produktion und Rezeption des Krautrock waren sie prägend, in allen hier betrachteten nationalen Kontexten. Eine Eingrenzung des Begriffs der »Authentizität« etwa aus etymologischer, rechtswissenschaftlicher, historischer oder sozialphilosophischer Perspektive findet sich andernorts.147 Hier wird »Authentizität« in seiner zeitgenössischen, alltagssprachlichen und im Zusammenhang mit Popmusik verbreiteten Bedeutung ver-
140 Reichardt, Authentizität, S. 68. 141 Ebd., S. 57; zu »Authentizität« und Gegenkultur in den 1970er Jahren vgl. auch Reichardt/Siegfried (Hg.), Milieu; Reichardt, Inszenierung. 142 Siegfried, Pop und Politik, S. 45. 143 Reichardt, Authentizität, S. 59; vgl. auch Siegfried, White Negroes. 144 Reichardt/ Siegfried, Milieu, S. 17. 145 Siegfried, White Negroes, S. 192. 146 Zur »Authentizität« in der Musik vgl. OˈFlynn, Authenticity. Zu Authentizitäts- und Identitätskonstruktionen in der populären Musik aus geographischer Perspektive vgl. Connell/Gibson, Sound Tracks. 147 Vgl. den kursorischen Überblick in Reichardt, Authentizität, S. 60-66; Saupe, Authentizität.
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wendet, d.h. im Sinne einer bestimmten Qualität, die mit Vorstellungen des Wahren, Unverfälschten, Ehrlichen, Echten oder Unmittelbaren verbunden ist. »Authentisch« ist dabei nicht das jeweilige Objekt an sich, sondern der Akt seiner individuellen Aneignung. Unter welchen Umständen ist etwa ein Musikstück oder ist eine Band »authentisch«, für wen, wann, warum? Klar scheint für den Konnex aus Popmusik und »Authentizität« die Abhängigkeit von individuellen Konstruktionsmechanismen zu sein. Durch diese Abhängigkeit befindet sich das Konzept in einem ständigen Wandel: Objekte und Praktiken sind „in dem Maße authentisch, wie Menschen sie sich aneignen und mit eigenen Bedeutungen versehen“148. In diesem Sinne ist »Authentizität« – und genau deswegen spielt sie hier auch über den generellen »Authentizitätskult« der 1970er Jahre hinaus eine tragende Rolle – zentraler Bestandteil musikalischer Praktiken und Diskurse, „zentraler Funktionsmoment“149 und „zentraler Wertmaßstab“150 in der Popmusik. Authentifizierungsstrategien können dabei auf ethnischen, sozialen, nationalen, lokalen oder regionalen, technischen, medialen, sehr häufig auch auf ökonomischen oder auf einer Kombination mehrerer Aspekte beruhen.151 Ethnische Authentizitätskonstruktionen der späten 1960er und der 1970er Jahre funktionierten in der transnationalen Gegenkultur, die sich zumindest um 1970 mehrheitlich aus wohlhabenden weißen Mittelschichten rekrutierte, ganz wesentlich über Formen der Selbststigmatisierung. Prominentes Beispiel ist die Figur des sogenannten »White Negro« (Norman Mailer). Das auch als „Afroamerikanophilie“152 bezeichnete Phänomen zeigte sich insbesondere in der symbolischen Verschmelzung mit afroamerikanischer Musik, einer Affinität für die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, oder auch der Identifikation mit postkolonialen Befreiungsbewegungen in der sogenannten »Dritten Welt«. Als Kommunikationsraum der Gegenkultur spielte Popmusik am Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre dahingehend eine zentrale Rolle: Weiße Musiker und Konsumenten übernahmen nicht nur die musikalischen Ausdrucksweisen, sondern oft auch den Habitus ihrer afroamerikanischen Vorbilder und konstruierten die Versatzstücke als einen »authentischen« Gegenentwurf zur »entfremdeten« Konsumgesellschaft. Das symbolische Überschreiten ethnischer Grenzen hatte Auswirkungen auf Denken und Handeln der Produzierenden wie Rezipienten gleichermaßen: Das Hören von »schwarzer« Populärmusik sollte Lebenslust und Emotion mit einem Bewusstsein über die 148 Breidenbach/Zukrigl, Identität, S. 195. 149 Wicke, Umgang mit Popmusik, S. 48. 150 Siegfried, Time, S. 368. 151 Der Anspruch auf »Authentizität« ist unabhängig von der jeweiligen Strategie insofern vermessen, als dass er den ideellen oder tatsächlichen Besitz einer »Wahrheit« oder »Echtheit« impliziert, so Frith, Aesthetic, S. 136. 152 Ege, Schwarz werden, S. 46.
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Ungerechtigkeiten in der Welt kombinieren. »Afroamerikanisches« galt aus dieser Perspektive als »authentischer« als die eigene, entfremdete Welt, Afroamerikaner als natürlicher, spontaner, mutiger oder voller »revolutionärer Energie«: „Revolutionäre Afroamerikaner erschienen als kollektives Ideal einer moralisch definierten Authentizität, das nicht Gefahr lief der Verlockung des Konsums zu erliegen.“153 Der implizite Rassismus ethnischer Zuschreibungen und Konstruktionen dieser Art entging den Zeitgenossen dabei in aller Regel. Einige Protagonisten des Krautrock gehörten zu den ersten Akteuren der Popmusik, die sich ästhetisch von dieser »Afroamerikanophilie« lösten und afroamerikanische Wurzeln der Popmusik weitgehend kappten. Darauf beruht nicht nur die ihnen zugesprochene, andauernde Wirkkraft und agency, sondern interessanterweise auch eine enorme Popularität gerade des als besonders deutsch empfundenen elektronischen Krautrock in der afroamerikanischen Bevölkerung der Vereinigten Staaten. Davon wird folgend die Rede sein. Ein weiterer, insbesondere in der Popmusik sichtbarer Ausdruck des »Authentizitätskults« der 1960er und 1970er Jahre war der Umgang mit ihrer zunehmenden Technisierung. Eines der prominentesten Beispiele ist dahingehend die so genannte Electric Dylan Controversy in Folge des Newport Folk Festivals 1965, als Bob Dylans Griff zu einer E-Gitarre eine lang anhaltende, transnational geführte Debatte um die »Authentizität« elektrisch verstärkter Instrumente im Folk auslöste.154 Mit dem vermehrten Aufkommen elektronischer Instrumente entwickelte sich in den 1970er Jahren eine Auseinandersetzung um die »Authentizität« nicht akustisch oder elektroakustisch, sondern elektronisch erzeugter Klänge in der Popmusik, in den einige Akteure des Krautrock als Teil der elektronischen Pop-Avantgarde eng eingewoben waren. Dabei erschienen elektronische Instrumente und mit neuester Technologie ausgestattete Tonstudios manchen als »authentisches« Mittel eines zeitgenössischen und modernen musikalischen Ausdrucks, anderen als künstlicher »Manipulationsapparat« der Konsum- und der Musikindustrie. Ebenfalls im Krautrock an zentralen Stellen sichtbar war im Gegensatz dazu die Konstruktion von »Authentizität« auf Basis fehlender oder bewusst einfach gehaltener technologischer Ausrüstung oder eines bewusst »dreckigen Sounds« – beispielsweise durch absichtlich in Aufnahmen integrierte Hintergrund-, Alltags- oder »Störgeräusche«, oder die Integration der akustischen Raum153 Siegfried, White Negroes, S. 203. Anhand der Anhänger avantgardistischer Spielarten des Jazz stellte das sehr ähnlich bereits David Riesman im Jahr 1950 fest, vgl. Riesman, Popular Culture, S. 366. 154 Die Auseinandersetzungen setzten sich auch auf den folgenden Konzertreihen in Europa fort, vgl. Frith, Art Versus Technology, S. 263f. Die Frage nach der »Originalität« bzw. nach dem »Authentischen« in der Popmusik wurde keineswegs erst im Zuge der einsetzenden Digitalisierung am Ende der 1970er Jahre gestellt, vgl. Geisthövel, Selbstverhältnisse, S. 189.
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atmosphäre in die Klangproduktion. »Raumatmo«, Pfeifen, Rauschen oder auch Hintergrundgespräche der Musiker waren Stilmittel des Krautrock, lange bevor sie gängiges Repertoire in der Popmusik wurden. Auch Debatten um »Kommerz« als wesentlicher Bestandteil der „ideologischen Konstruktion von Authentizität“155 in der Popmusik spielte in der Geschichte des Krautrock von Beginn an eine entscheidende Rolle. Die Einstellung gegenüber der Musikindustrie war mehrheitlich von Skepsis bis Ablehnung geprägt. Das äußerte sich in der Praxis nicht zuletzt in einer mehr oder weniger konsequenten Umsetzung des DIY-Gedankens und dem Versuch, den gesamten Produktionsprozess in eigenen Händen zu halten. Der »Authentizitätskult« der 1970er Jahre spiegelte sich darüber hinaus in einer Vielzahl weiterer Aspekte des Krautrock und seines Umfelds: Innerhalb der Gruppen gehören dazu etwa die (scheinbar) fehlenden Hierarchien, das oft geteilte Ideal der Ganzheitlichkeit bzw. der Einheit von Alltag und Kunst, sowie der Drang nach Autonomie, Freiraum und Selbstbestimmung. In den einschlägigen Medien manifestierte sich das Verlangen nach »Authentischem« in einer als unmittelbar inszenierten Berichterstattung »von unten« und aus der »Szene«. In der Musikindustrie setzten sich im Laufe der 1970er Jahre allgemein flachere Hierarchien und eine Informalisierung bzw. Ent-Hierarchisierung der Umgangsformen nach US-amerikanischem Vorbild durch, gleichzeitig bildeten sich in zunehmendem Maße Projekte »von unten« wie etwa selbstverwalteter Labels und Agenturen. Die Konsumenten des Krautrock wiederum waren in den andauernden Diskurs über »Authentizität« in der Popmusik eingebunden, der sich etwa auf den Habitus und Lebensstil der Musiker, aber auch auf deren Produktionsweisen beziehen konnte. »Authentizität«, Ehrlichkeit und Originalität als zentrale Werte der Gegenkultur waren im Krautrock und in dessen Umfeld omnipräsent. Die Beschäftigung mit verschiedenen Konzeptionen von »Authentizität« erscheint vor diesem Hintergrund für die Historisierung von Popmusik der 1970er Jahre unverzichtbar. Ihr konstruktiver Charakter impliziert dabei, dass es selbstverständlich nicht um die Frage gehen kann, was »Authentizität an sich« ist. Vielmehr geht es darum nachzuzeichnen, wer den Begriff wann, warum und wie benutzt oder wer was wann als »authentisch« ausgewiesen hat. Authentizitätszuschreibungen konnten dabei sowohl eine inkludierende, als auch eine exkludierende Funktion ha-
155 Wicke, Umgang mit Popmusik, S. 48. „Mit dem Begriff »Kommerz«“, so Musikwissenschaftler Peter Wicke, „wird das »Eigene«, eben »Authentische«, von dem anderen als dem »Kommerziellen« geschieden. Das spielt im Vermarktungsprozeß dieser Musik eine ebenso große Rolle wie in den kulturellen Formen ihres Gebrauchs.“ Popmusik wird umso »authentischer« wahrgenommen, je nachdrücklicher sie sich von genau den Institutionen distanziert, die sie hervorgebracht haben, so Frith, Aesthetic, S. 136.
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ben;156 angesichts des für die 1960er und 1970er Jahre diagnostizierten Individualisierungsschubs waren sie wesentlicher Bestandteil bei der Konstruktion selbst gewählter Identitäten, die in der transnationalen Gegenkultur weniger national, als vielmehr soziokulturell grundiert wurden – wobei Popmusik eine zentrale Rolle spielte. Durch den individuellen Akt der Aneignung eines materiellen oder immateriellen Objekts – Mode, Musik, ihre Herstellungsweisen etc. – als »authentisch« wurde es zu einem Teil der eigenen, selbst gewählten Identität.157 Der britische Musiksoziologe Simon Frith hat im Hinblick auf Popmusik drei Funktionen von Identitätskonstruktionen aus Authentizitätsaneignungen identifiziert:158 Erstens sei Popmusik Faktor der Selbstverortung in der Gesellschaft; indem man einen bestimmten Interpreten oder Stil bevorzuge oder ablehne, sei diese Selbstverortung notwendigerweise mit Abgrenzung gegenüber »dem Anderen« verbunden.159 Zweitens schaffe und beeinflusse Popmusik ein »kollektives Gedächtnis« und habe wesentlichen Einfluss auf die Periodisierung der Erinnerung von (Alters-)Gruppen ebenso wie von Individuen.160 Und drittens könne Popmusik ein privater, oft intimer Bezugspunkt sein, der die soziale oder soziokulturelle Identitätskonstruktion aus einer individuellen Perspektive verstärke. Die popkulturell und popmusikalisch fundierten »Imagined Communities« (Benedict Anderson) transnationaler Identitäten basierten wesentlich auf zeitgenössischen und retrospektiven Authentizitätszuschreibungen.161 Im Gegensatz zur Bundesrepublik ist Popmusik diesbezüglich in US-amerikanischen Narrativen als Teil kultureller Identitätsbildungsprozesse seit Jahrzehnten präsent.162 Die Konstruktion von musikalischer Identität und die Abgrenzung gegenüber der Musik »Anderer« sind dabei Teile desselben Prozesses. Im Falle australischer Popmusik wurde bei156 Vorstellungen von »Authentizität« machen Kultur durch ihre inhärenten Abgrenzungsmechanismen selbst bei scheinbarer Aufgeschlossenheit gegenüber »Fremdem« zu einem »Ghetto«: „Man erkennt den Anderen in seiner Andersheit an, sperrt ihn dadurch aber auch ins Ghetto seiner Andersheit ein“, so Welsch, Transkulturalität, S. 10. 157 Vgl. Breidenbach/Zukrigl, Identität, S. 195. 158 Vgl. Frith, Aesthetic, S. 140–144. 159 Popmusik diene vor allem der Schaffung kollektiver Identitäten, vgl. Eyerman/Jamison, Music and Social Movements, S. 35–37. 160 Zum Pop als „Anker für die altersbezogene, narrative Selbsthistorisierung“ vgl. Seegers, Pop und Generationalität, S. 79f. 161 Vgl. Anderson, Communities. Communities dieser Art konnten in der Popmusik auf ethnischen, sozialen, regionalen oder Gender-Identitäten beruhen, vgl. Negus, Popular Music; Gracy, Identity; Binas, Prototyp, S. 95f.; OˈFlynn, Authenticity, S. 26; zeitgenössisch Kleinen, Subkultur. 162 Vgl. Chapple/Reebee, Musikindustrie, S. 273–316; Kenney, Recorded Music, S. 182; Pfleiderer, Geschichtsschreibung.
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spielsweise festgestellt, dass eine nationale musikalische Identität erst als Reaktion und durch den Einfluss der globalen Musikindustrie und ihrer Marketing-Strategien konstruiert wurde: Ein Prozess der »Glokalisierung«, der Promotion und Produktion des lokalen Unterschieds für die globale Konsumption.163 In der Bundesrepublik nach dem Zeiten Weltkrieg wiederum nutzten junge Rezipienten angloamerikanische Populärmusik als Vehikel zur Ausbildung neuer, zunächst explizit nicht nationaler, sondern transnationaler Identitäten.164 Für den Krautrock ab Ende der 1960er Jahre gelten die Suche nach einer »eigenen« kulturellen Identität und das Verlangen, musikalisch und künstlerisch aus dem Schatten der angloamerikanischen Popmusik herauszutreten, als ein Leitmotiv – wobei auch hier Authentizitätskonstruktionen auf Produktions- wie auf Rezeptionsseite eine entscheidende Rolle spielten.165 Bei welchen Akteuren, in welchem Ausmaß und in welchen Ausprägungen das der Fall war, und inwiefern sich diese verschiedenen Aspekte überlagerten, wird zu bewerten sein – bis hin zu der Frage, inwieweit in diesem Fall die Produktion des lokalen Unterschieds für die globale Konsumption bei den Identitätskonstruktionen eine Rolle spielte.
163 Vgl. OˈFlynn, Authenticity, S. 29. 164 Vgl. Gassert, Amerikanisierung, S. 550; sehr ähnlich auch Krause, Radio Goethe, S. 228; Siegfried, Pop-Revolution, S. 585f.; Wicke, Subculture, S. 113; Marwick, Cultural Revolution, S. 41; zeitgenössisch Baacke, Beat, S. 12. 165 Vgl. Adelt, German Identity; Kotsopoulos, Krautrock, S. 62; Reinecke, Musical Time Keeping, S. 611; Schober, Tanz der Lemminge, S. 69f.
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K RAUTROCK „[Krautrock] is comparably rootless, the product of a modern industrial urban society.“166 Virgin Records, 1973 „Twentieth century German history has posed German musicians and audiences particular problems of national identity.”167 Simon Frith, 1998 „Whenever a new group wish to show their experimental credentials, they will reach up and pick out the word »Krautrock« like a condiment to add a radical dash to their press release.“168 David Stubbs, 2014
»Krautrock« ist ein unbeliebter und mythisch aufgeladener Begriff zugleich. Mehrheitlich unbeliebt ist er unter den Protagonisten jener experimentellen bundesdeutschen Popmusikszene der späten 1960er und der 1970er Jahre, die darunter gefasst werden. Mythisch aufgeladen ist er in großen Teilen der britischen und USamerikanischen Rezeption, wo er in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Art »Gütesiegel« avancierte. Während viele der bundesdeutschen Akteure des »Krautrock« den Begriff bis heute schrecklich finden und als pejorativ ablehnen, werden in der englischsprachigen Musikpresse und im WWW als besonders experimentell wahrgenommene oder beworbene Bands unabhängig von ihrer Herkunft gerne in die Nähe des Krautrock gerückt, etwa als »krauty« etikettiert und auf diese Weise mit experimenteller Patina versehen. Was aber bedeutet der Begriff? Wer genau wird darunter gefasst, und von wem? Beschreibt er etwa ein Genre, oder was sonst? Woher stammt er, seit wann wird er benutzt? Über Herkunft und Entwicklung des Begriffs existiert eine Vielzahl von Anekdoten, Theorien und Geschichten. Klar ist, dass »Kraut« als abschätzige Bezeichnung für Deutsche und insbesondere deutsche Soldaten durch Briten und USAmerikaner aus der Zeit der beiden Weltkriege stammt. Es ist anzunehmen, dass
166 Virgin Press Release zu Faust, September 1973; Rock & Roll Hall of Fame Library and Archives, Cleveland, Ohio, Jeff Goldblum Collection. 167 Frith, Editorial, S. v. 168 Stubbs, Future Days, S. 3.
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diese Bedeutung in dem Begriff »Krautrock« – mit welcher Intention auch immer – mitschwingen soll, und für einen großen Teil der Öffentlichkeit auch mitschwingt. Meist wird die britische Musikpresse als Urheber des Terms »Krautrock« betrachtet,169 das ist jedoch falsch. Eine Reihe bundesdeutscher Akteure benutzte den Begriff »Kraut« in Verbindung mit bundesdeutscher Popmusik bereits lange bevor die Szene im Vereinigten Königreich überhaupt wahrgenommen wurde. Dazu gehörte 1969 etwa der Tonmeister Konrad »Conny« Plank, der sich den Begriff »Kraut« in Verbindung mit Popmusik mit Gründung seines Kraut-Musikverlages schützen ließ, in ironischer, selbst-stigmatisierender Absicht.170 Dazu gehörten aber auch Gruppen und Interpreten des Krautrock wie Amon Düül, auf deren ebenfalls 1969 veröffentlichten Album Psychedelic Underground das Stück Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf zu finden ist. Auch als 1973 auf zugleich Conrad Schnitzlers Album Rot und auf Fausts Album Faust IV jeweils ein Titel namens Krautrock auftauchte, war der Begriff in der angloamerikanischen Rezeption noch weitgehend unbekannt; dort wurde bundesdeutsche Popmusik bis zum Ende der 1970er Jahre in aller Regel mit Begrifflichkeiten wie etwa »Teutonic Rock«, »Cosmic Music«, »German Rock«, »German School«, »Electronic Rock« oder auch »Techno Rock« bezeichnet. Der Begriff »Krautrock« setzte sich in der englischsprachigen Welt erst durch, nachdem er in der Bundesrepublik längst gang und gäbe war.171 »Krautrock« als Bezeichnung für Popmusik aus der Bundesrepublik ruft Vorstellungen und Konnotationen hervor, die sich zwischen und innerhalb verschiedener nationaler Kontexte zum Teil erheblich unterscheiden. Einleuchtend erscheint die Kategorisierung des Musikwissenschaftlers Elmar Siepen aus der Mitte der 1990er Jahre: Siepen verortet den Beginn einer »eigenständigen« bundesdeutschen Popmusik in den Jahren um 1970 und unterscheidet dabei (grob zusammengefasst) fünf musikalische Kategorien.172 Ein Teil der frühen Vertreter bundesdeutscher Popmusik sind demnach erstens dem so genannten »Politrock« zuzurechnen, charakterisiert durch einfach strukturierte, am Klangidiom angloamerikanischer Vor169 Diese Darstellung entspricht dem gängigen Narrativ und wird bis heute medial verbreitet, früh beispielsweise in Ehnert, Problemkind, S. 65; prominent in Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009); auch in der zeitgeschichtlichen Forschung, vgl. Nathaus, Amerikanisierung, S. 225. 170 Vgl. ein Gespräch mit Conny Planks Sohn Stephan E. Plank am 9. Juli 2012 in Berlin. 171 Als Beispiel erwähnt wurde bereits die Musikjournalistin Ingeborg Schober, die den Begriff „Kraut-Rock“ am Ende der 1970er Jahre routinemäßig benutzte, vgl. etwa Stern 11/1979. Angezweifelt wurde das gängige Narrativ, der Begriff »Krautrock« stamme aus Großbritannien, vollkommen richtig bereits in Prendergast, Ambient Century, S. 278f. 172 Vgl. Siepen, Rockmusik in Deutschland; zur Zäsur um 1970 vgl. auch Kneisel, Kraut, S. 197; Larkey, Experimente und Emanzipation, S. 517.
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bilder orientierte Popmusik mit deutschsprachigen, oft radikal politischen Texten; dazu gehörten Gruppen wie beispielsweise Floh de Cologne, Checkpoint Charlie, Franz K. oder Ton Steine Scherben.173 Daneben entwickelten sich zweitens Formen eines bundesdeutschen »Mainstreams«, ebenso klanglich orientiert am angloamerikanischen Vorbild und mit deutschsprachigen Texten, geprägt allerdings durch hohe musikalische und aufnahmetechnische Standards; dazu rechnet Siepen Interpreten wie beispielsweise Udo Lindenberg oder Marius Müller-Westernhagen. Eine dritte Kategorie innerhalb der bundesdeutschen Popmusik bildete der »angloamerikanische Mainstream«, also bundesdeutsche Gruppen, die sich in jeder Hinsicht am angloamerikanischen Vorbild orientierten, bis hin zu englischsprachigen Texten; zu dieser Kategorie gehören Gruppen wie etwa die Scorpions, Birth Control, Triumvirat, Eloy, Frumpy oder Atlantis. Eine vierte Kategorie nach Siepen ist der JazzRock, ebenso orientiert am angloamerikanischen Idiom, und repräsentiert durch Gruppen wie Passport, Embryo oder Missus Beastly.174 Als fünfte Gruppe schließlich macht Siepen eine Avantgarde der bundesdeutschen Popmusik aus, die er wiederum in zwei Gruppen unterteilt: die »elektronische Avantgarde« und die »freie Avantgarde«. Die ersten beiden Kategorien, der Politrock und der bundesdeutsche Mainstream, spielten außerhalb des deutschen Sprachraums praktisch keine Rolle – ganz im Unterschied zum »angloamerikanischen Mainstream« aus der Bundesrepublik, der transnational außerordentlich erfolgreich war. Dasselbe gilt zum Teil auch für den bundesdeutschen Jazz-Rock. Wenn heute außerhalb der Bundesrepublik jedoch von »Krautrock« gesprochen wird, ist in erster Linie die fünfte Kategorie gemeint, die von Siepen als popmusikalische »Avantgarde« bezeichnet worden ist und als deren zentrales Element er das Experiment ausgemacht hat. Als wesentliches Charakteristikum gilt demnach (im Unterschied zu den anderen Kategorien) die musikalische Selbstverwirklichung „als praktizierte[…] Emanzipation von der angloamerikanischen Vorherrschaft im Bereich der populären Musik“175. Die experimentelle Suche nach eigenen, distinkten musikalischen Ausdrucksformen und neuartigen Klängen sind wesentliche Charakteristika, und dem Resultat eben dieser Suche wird retrospektiv die entscheidende Innovationskraft in der popmusikalischen Evolution zugesprochen. Konkret gehörte dazu die Abkehr von bis dato gängigen Ge173 Timothy S. Brown konzentriert sich in seiner Darstellung des musikalischen Teils der »Global Sixties« in der Bundesrepublik vor allem auf die beiden Politrock-Gruppen Ton Steine Scherben und Floh de Cologne, vgl. Brown, Global Sixties, S. 155-192. 174 Die in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreichen Passport beispielsweise wurden dort als „all-American music from Germany“ vermarktet, vgl. eine ganzseitige Anzeige in Cash Box 12.04.1975. 175 Siepen, Rockmusik in Deutschland, S. 49; ähnlich und explizit unter dem Begriff »Krautrock« beschrieben bei Kneisel, Kraut, S. 197–199.
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staltungsprinzipien in Tonalität und Rhythmik, die Einbeziehung von Elementen der so genannten »E-Avantgarde« wie etwa der Minimal Music oder der Neuen Musik sowie des Free Jazz und außereuropäischer Musikkulturen,176 aber auch die Absicht, durch Musik und ihre Präsentation gesellschaftskritische Distanz auszudrücken. Praktisch konnte sich diese Form musikalischer Emanzipation etwa äußern in einer bis dato neuartigen und ungewöhnlichen Instrumentenauswahl, in der Nutzung der Stimme als Klangkörper (und weniger als Medium für Text) oder dem Verzicht auf Text,177 aber auch in der Integration elektronischer Komponenten neuartiger Instrumenten- und Aufnahmetechniken.178 Gänzlich elektronisch und rein instrumental artikulierten sich ab Beginn der 1970er Jahre eine Reihe von bundesdeutschen Gruppen, deren „permutierende Klangschichtungen [mit einem] geradezu Rhythmus-freien, statischen Charakter“179 als wesentlicher Beitrag an einem einschneidenden Wendepunkt der Popmusikgeschichte betrachtet werden können: dem Beginn einer »elektronischen« Popmusik, nach Siepen also die »elektronische Avantgarde«. Die Schaffung neuartiger Klangfarben unter Vermeidung klanglicher Ähnlichkeiten mit »herkömmlichen« Instrumenten stellte einen radikalen Bruch mit dem bis zu diesem Zeitpunkt gängigen Standard-Repertoire angloamerikanischer Popmusik dar: Schlagzeug, E-Gitarre, E-Bass und Gesang waren auch im »progressiven« Bereich der Popmusik bis dato durch neue Instrumente und Klangformen ergänzt, kaum aber komplett ersetzt worden.180 176 Vgl. Kneisel, Kraut, S. 198. 177 Der Gesang verlor seine dominierende Stellung, gleichzeitig wurde die Artikulationsbreite der menschlichen Stimme erheblich ausgeweitet: „Das Ausdrucksregister der menschlichen Stimme reichte vom aufgeregten Flüstern über lustvolles Stöhnen bis zum hysterischen Schrei. Dieses Klangmaterial unterstrich oder akzentuierte eher rhythmische als melodisch-harmonische Vorgänge“, vgl. Kneisel, Kraut, S. 198. 178 „Einige Drummer erweckten […] den Eindruck, immerwährende Soli zu spielen. Umgekehrt blieben Gitarre, Saxophon oder auch Orgel nicht länger reine Melodieinstrumente, sondern wandelten sich zu Percussionsinstrumenten. Auch darüber hinausgehende – dem Rock eher unbekannte – Spielweisen wurden nicht theoretisch, eher auf der Bühne entwickelt. Eine häufig zu beobachtende ungenügende Beherrschung traditioneller Instrumentaltechniken konnte durch ungewöhnliche Instrumentenhandhabung kompensiert werden;“ hinzu kamen die Erweiterung des klassischen Rockinstrumentariums, experimentelle Klangerzeuger, außereuropäische Instrumente: „Die Klangfarbe, der Sound, wurde immer wichtiger,“ so Kneisel, Kraut, S. 198f. 179 Siepen, Rockmusik in Deutschland, S. 52; dazu (am Beispiel der Gruppe Tangerine Dream) auch Wicke, Anatomie, S. 12. 180 Zur europäischen Dimension der progressiven Popmusik der späten 1960er und der 1970er Jahre und der Rolle des bundesdeutschen Beitrags vgl. Anderton, Progressive Rock.
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Dieses in der bundesdeutschen Musikwissenschaft der 1980er und 1990er Jahre entwickelte und artikulierte Verständnis des Begriffs »Krautrock« deckt sich mit seiner heute transnational gängigen Verwendung. Und eben dieses Verständnis wird auch im vorliegenden Fall angelegt. Dabei ist klar, dass es sich um kein exklusives Schema handelt, sondern um ein Angebot; man kann unter »Krautrock« selbstverständlich auch anderes verstehen, kann den Begriff weiter oder enger fassen. Darüber hinaus ist klar, dass die Abgrenzungen zwischen den einzelnen Kategorien oft verwischen; manche Interpreten und Gruppen bewegten sich zwischen Genres, andere veränderten im Laufe der Zeit ihren musikalischen Ausdruck; im vorliegenden Fall spielt beispielsweise auch die unter der Kategorie »Jazz-Rock« erwähnte Gruppe Embryo aus verschiedenen Gründen eine Rolle. Nichtsdestotrotz ist der grobe Rahmen vorgegeben, der sich neben der musikwissenschaftlichen Grundierung nicht zuletzt aufgrund der transnationalen Perspektive der Studie auch auf das transnational gängige Verständnis stützt; und aus diesem Rahmen ergibt sich auch die Periodisierung des Phänomens. Das Jahr 1968 ist durch die Gründung der ersten Gruppen markiert, das Ende des Phänomens in etwa zehn Jahre später durch verschiedene Entwicklungen, die nicht nur durch die Produktion, sondern auch durch die Präsentation sowie transnationale Distribution und Rezeption des Phänomens bedingt sind – davon wird die Rede sein. Wichtig ist noch einmal festzuhalten, dass sich der Begriff »Krautrock« vor allem außerhalb der Bundesrepublik erst ex post als Sammelbegriff für die bundesdeutsche Pop-Avantgarde jener Jahre etabliert hat – es sich ergo um keinen reinen Quellenbegriff handelt – und dass es keine Genre-, sondern eine »Herkunftsbezeichnung« ist.181 Stilistisch war Krautrock außerordentlich heterogen, und die beschriebenen Charakteristika spielten in verschiedenen Kombinationen und in vielerlei Abstufungen eine Rolle. Dabei rückten (wie zu sehen sein wird) im Laufe der 1970er Jahre zunehmend regionale und lokale anstelle nationaler Charakteristika in den transnationalen Fokus, also bestimmte Sounds und eine bestimmte Ästhetik, die etwa Gruppen und Interpreten aus Düsseldorf oder aus West-Berlin als charakteristisch für ihren Herkunftsort zugesprochen wurden. Popmusik aus der DDR spielte im Zusammenhang mit einer »freien« oder »elektronischen Avantgarde« übrigens zu keinem Zeitpunkt eine Rolle, weder zeitgenössisch noch retrospektiv wurden Gruppen und Interpreten aus der DDR mit Krautrock als Pop-Avantgarde in Verbindung gebracht. Nun ist es an der Zeit, Namen zu nennen. Wer und was war und ist denn unter den genannten Vorzeichen »Krautrock«? Zu den zentralen Gruppen und Interpre181 Musik-Genres werden soziologisch aufgefasst als „systems of orientations, expectations, and conventions that bind together an industry, performers, critics, and fans in making what they identify as a distinct sort of music“, so Lena/Peterson, Classification as Culture, S. 698.
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ten, von denen folgend die Rede sein wird, gehörten (in alphabetischer Reihenfolge) Agitation Free, Amon Düül, Ash Ra Tempel, Can, Cluster, Holger Czukay, Faust, Manuel Göttsching, Harmonia, Kraftwerk, NEU!, Popol Vuh, Michael Rother, Klaus Schulze, Tangerine Dream oder Xhol Caravan. Auf Seiten der Produktion werden auch die beiden zentralen Tonmeister Konrad »Conny« Plank und Dieter Dierks im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, die enormen Einfluss auf die Entwicklung und Ausgestaltung des Phänomens ausübten. Mit Blick auf die Distribution geraten insbesondere der Impresario Rolf-Ulrich Kaiser oder als Vertreter der Musikindustrie Siegried E. Loch, Peter Meisel und Gerhard Augustin in den Blick, aber etwa auch der Brite Richard Branson mit seinem zu Beginn der 1970er Jahre neu gegründeten Label Virgin oder der US-amerikanische Manager Ira Blacker, der insbesondere in den Vereinigten Staaten als Multiplikator des Phänomens wirkte. Auch einige Musikjournalistinnen und Musikjournalisten aus der Bundesrepublik, Großbritannien und den Vereinigten Staaten treten wiederholt hervor, deren schriftliche Hinterlassenschaften für Distribution und Rezeption des Krautrock in verschiedenen nationalen Kontexten gleichermaßen zentral waren. In der Bundesrepublik gehörten dazu etwa Ingeborg Schober oder Winfried Trenkler, im Vereinigten Königreich insbesondere John Peel, in den USA beispielsweise Lester Bangs. Die bisherige akademische Forschung zum Phänomen Krautrock ist übersichtlich und stammt überwiegend aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten.182 In der Bundesrepublik wurden im Laufe der 1980er und 1990er Jahre einige musikwissenschaftliche Aufsätze publiziert.183 Neben wenigen Autobiographien184 erschienen journalistische Arbeiten zum Thema oder seinen Teilaspekten,185 sogar ei182 Dazu gehört eine Sonderausgabe zum Thema Krautrock der US-amerikanischen Zeitschrift Popular Music and Society 32 (2009) 5, mit Beiträgen aus verschiedenen Disziplinen; außerdem einige Beiträge in Sammelbänden und Zeitschriften, die sich mit Teilaspekten oder einzelnen Gruppen befassen: vgl. Adelt, Identity; Biddle, Electronica; Seago, Kraftwerk. Zur Gruppe Kraftwerk ist ein (ebenfalls interdisziplinärer) Sammelband erschienen, vgl. Albiez/Pattie (Hg.), Kraftwerk. 183 Vgl. etwa die bereits erwähnten Kneisel, Kraut und Siepen, Rockmusik; außerdem Einbrodt, Krautrock. 184 Autobiographien von Musikern: vgl. Flür, Kraftwerk oder Ulbrich, Lüül; daneben die Autobiographie des Veranstalters Fritz Rau, vgl. Rau, Backstage; des Managers und Journalisten Gerhard Augustin, vgl. Augustin, Pate; des Produzenten Julius Schittenhelm, vgl. Schittenhelm, Ich bin kein Volk. 185 Mitte der 1990er Jahre die Monographie des britischen Musikers und Journalisten Julian Cope, vgl. Cope, KrautRockSampler; in den letzten Jahren etwa Dedekind, Krautrock; der reich bebilderte Sammelband Kotsopoulos (Hg.), Krautrock; ebenfalls reich bebildert Wagner, Underground; auf Oral History basiert eine Düsseldorfer Lokalstudie von Rüdiger Esch, vgl. Esch, Electri_City; zuletzt ein Überblick von David Stubbs, vgl.
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ne umfangreiche Enzyklopädie.186 Darüber hinaus beschäftigten sich Fernseh- und Hörfunkproduktionen mit dem Phänomen,187 und die Zahl der Webseiten über Krautrock, einzelne Akteure oder Teilaspekte ist nahezu unüberschaubar. Interessantes offenbart ein Blick in große Enzyklopädien der populären Musik, die das Phänomen Krautrock mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – um mit Siepen zu sprechen: manche eher die »freie«, andere eher die »elektronische Avantgarde« hervorhebend – unisono als außerordentlich wirkmächtig für die Entwicklung der Popmusik beschreiben.188 Einem bisher erstaunlich geringen Forschungsinteresse steht die transnationale Wahrnehmung des Phänomens als konstitutive Säule der Popmusik gegenüber, insbesondere in der Bundesrepublik. Hier setzt die vorliegende Studie an.
Stubbs, Future Days. Zu einzelnen Bands und Interpreten vgl. etwa Schwinn (Hg.), Klaus Schulze; Iliffe, Roedelius; Bussy/Hall, Can; Bussy, Kraftwerk; Allen, Klaus Schulze; Sonnemann, Con-Sequence; Wheeldon, Gottsching; Barr, Kraftwerk; zu Kraftwerk vgl. darüber hinaus die insbesondere auf Oral History basierende Monographie von David Buckley, vgl. Buckley, Kraftwerk. 186 Vgl. Freeman/Freeman: Encyclopedia of Krautrock. 187 Vgl. die WDR-Dokumentation Kraut und Rüben, Folgen 1-6 (D 2006); vgl. auch Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009). Filmische und TV-Dokumentationen zu Gruppen wie Can oder Kraftwerk sind zahlreich. 188 Vgl. Clarke (Hg.), Penguin Encyclopedia; George-Warren/Romanowski (Hg.), Rolling Stone Encyclopedia; Larkin (Hg.), Virgin Encyclopedia; Shepherd/Horn/Laing (Hg.), Continuum Encyclopedia; Larkin (Hg.), Encyclopedia of Popular Music.
Zweites Kapitel: Ende der 1960er Jahre „M AMA D ÜÜL
UND IHRE
S AUERKRAUTBAND SPIELT
AUF “ 1
„Die neue Rock-Musik entsteht bislang nur in den angelsächsischen Ländern […]. Niemand weiß, ob es jemals bei uns Gruppen oder Musiker geben wird, die aus dem Fahrwasser der vorfabrizierten Beatschnulzen herauskommen werden.“2 Sounds, 1967 „We were looking for something, and we didnˈt know what it was.“3 Edgar Froese, 1974
Um 1968 entstanden in der Bundesrepublik Gruppen und Bands, deren Musik nicht mehr nur als bloße Imitation angloamerikanischer Popmusik wahrgenommen wurde. „Die neuen Klänge sind nicht mehr zu stoppen. Pop-Deutschland zwischen Kiel und Konstanz ist erwacht!“4 titelte die Zeitschrift Twen im September 1969. „Es wurde auch Zeit“, attestierte Sounds, „es sieht so aus als ob sich langsam hier in Deutschland soetwas wie eine konstante Pop-Szene herausbilden würde“5. Zu dieser »Szene« gehörten aus West-Berlin Agitation Free und Tangerine Dream, aus München Amon Düül, Embryo und Popol Vuh, zudem Can in Köln, Organisation in Düsseldorf, Soul Caravan in Wiesbaden, sowie in Heidelberg das Trio Guru Guru Groove Band. Die Konstitutionsphase des Krautrock am Ende der 1960er Jahre
1
Titel auf dem Album Amon Düül, Psychedelic Underground, 1969.
2
Sounds 4/1967.
3
Melody Maker 09.11.1974.
4
Twen 9/1969; der ironisch intendierte Titel »Deutschland Erwacht« war auf den Internationalen Essener Songtagen 1968 für die abschließende Hauptveranstaltung gewählt worden, worauf Twen hier zurückgriff.
5
Sounds Nr. 11/1969.
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war von vielfältigen Personal- und Stilwechseln geprägt; nicht nur Musiker, auch andere Protagonistinnen und Protagonisten wie etwa Tontechniker und Produzenten, Vertreter der Musikindustrie, Manager von Festivals und Clubs bis hin zu PopJournalisten durchlebten im Kontext des allgemeinen kulturellen Aufbruchs eine Zeit der Abkehr vom »Alten«, der Experimente, der vielfachen Richtungswechsel und Neuorientierungen. Frühes Beispiel sind das Sextett Soul Caravan, das sich Anfang 1967 in Wiesbaden gründeten und zur Hälfte aus US-amerikanischen GIs bestand.6 Mit Schlagzeug, Bass, zwei Saxophonen und mehreren Sängern bespielten Soul Caravan zunächst vornehmlich von US-amerikanischen Soldaten frequentierte Clubs, ihrem Namen entsprechend mit Soul, teilweise mit eigenen Kompositionen und englischsprachigen Texten, teilweise mit Cover-Versionen bekannter Hits wie beispielsweise des legendären Labels Motown. Noch am Ende des Gründungsjahres erschien Soul Caravans erstes Album Get in High, interessanterweise produziert von dem späteren Veranstalter-Duo Horst Lippmann und Fritz Rau, und veröffentlicht auf einem US-Label.7 Bereits ein Jahr später kam es zu einem ersten grundlegenden stilistischen Wandel: Cover-Versionen wurden weitgehend fallengelassen, und das auf den Internationalen Essener Songtagen 1968 präsentierte Programm »Psychedelic Soul« verwies unzweideutig auf neue Einflüsse. Die neue Ausrichtung kam beim Publikum sehr gut an; wie für viele andere Gruppen und Interpreten des Krautrock bedeuteten die Songtage auch für Soul Caravan den überregionalen Durchbruch.8 Die Band lebte und arbeitete in einer sogenannten »Fabrik-Kommune« in Wiesbaden, die am Ende der 1960er Jahre zu einem Anlaufpunkt früher Akteure des Krautrock avancierte; regelmäßige Besucher waren etwa Amon Düül, Embryo, Guru Guru oder Tangerine Dream. Die Kommune war ein Ort entstehender sozialer Netzwerke unter den späteren Protagonisten des Krautrock, der gemeinsame Konsum neuartiger psychoaktiver Rauschmittel war die Regel. Experimente standen auch musikalisch im Zentrum: Soul Caravan veränderten laufend ihre Ausdrucksformen, bezogen kurzzeitig mehr Jazz-Elemente in ihre Musik mit ein, und orientierten sich nach den Songtagen verstärkt an Interpreten der mit der Gegenkultur verschmolzenen, »neuen« Popmusik auf den USA; allen voran Frank Zappa und den Mothers of Invention, die dort ebenfalls aufgetreten waren. Ihr sich wandelndes Verhältnis zur Musik beschrieben Xhol Caravan am Ende der 1960er Jahre als „ein dauerndes Erreichenwollen eines Klangs, auf dem man fliegen kann. […] Eine Sa6
Teile der Angaben zu Soul Caravan entstammen der Webseite http://www.oyla2.de/cgibin/eigenes.cgi?page=text&id=38226916&userid=82954449 [14.11.2014]; außerdem Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.15.
7
Zu diesem Anlass widmete der Musikjournalist Tom Schroeder der Gruppe Soul Caravan einen mehrseitigen Artikel in der Zeitschrift Song, vgl. Song Nr. 6/1968.
8
Vgl. Song Nr. 2/1969. Zu den Essener Songtagen später mehr.
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che, der man folgen kann, die kontinuierlich läuft“9 – das erste Anklingen des Repetitiven, Monotonen und »Motorischen«, mit dem der Sound des Krautrock ab den 1970er Jahren vermehrt in Verbindung gebracht werden sollte. Unmittelbaren Ausdruck fanden die ständigen stilistischen Neuorientierungen jedenfalls in mehreren Umbenennungen der Gruppe, zunächst von Soul Caravan in Xhol Caravan, einem Fantasienamen, der den Bezug zum Soul tilgen, zugleich aber einen phonetischen Wiedererkennungswert mit dem bisherigen Bandnamen sichern sollte; später verkürzte sich der Name auf Xhol. Der angestrebte Sound sollte gemeinschaftlich entstehen und zugleich ein Gefühl von Gemeinschaft vermitteln: „Togetherness ist, worum es uns in der Gruppe geht“10. Unter diesen Prämissen veröffentlichten Xhol Caravan 1969 auf Peter Meisels Label Hansa das Album Electrip, das oft als eines der ersten oder das erste »progressive« bundesdeutsche Pop-Album betrachtet wird. Durch gute Verkäufe und regelmäßige Auftritte stabilisierten sich Ende 1969 die finanziellen Verhältnisse der Musik-Kommune. Auch eine Vorauszahlung des Labels Ohr, bei dem die Gruppe nun unter Vertrag genommen wurde, trug zu dieser Stabilisierung bei.11 Folge war nicht nur der Umzug in eine herrschaftlich anmutende GründerzeitVilla –erstaunlich oft beherbergten Orte dieser Art die Musik-Kommunen des Krautrock – sondern auch die Anschaffung einer professionellen PA-Anlage. Trotz dieser finanziellen Stabilisierung war Xhol Caravan weiterhin von Experimenten und Veränderung geprägt. Als tiefer Einschnitt stellte sich der Abgang des Gründungsmitglieds Hansi Fischer heraus, der aufgrund musikalischer Differenzen und eines seiner Ansicht nach zu hohen Rauschmittelkonsums in der Gruppe zu Embryo nach München wechselte – man kannte sich aus den vielen Besuchen Embryos in der Kommune. Vor allem diese Veränderung war es wohl, die Xhol Caravan dazu veranlasste, den Bandnamen nun auf Xhol zu verkürzen: Unter diesem Namen wurde im Sommer 1970 das letzte Studioalbum hau-RUK aufgenommen, das auf Ohr erschien.12 Anschließend erlahmten Inspiration und Aktivitäten der Gruppe zunehmend, und nach einer noch vom Goethe-Institut organisierten und finanzierten Konzertreihe durch Skandinavien lösten sich Xhol 1972 auf.13
9
Zitiert nach Kaiser, Rock-Zeit, S. 287.
10
Ebd.
11
Zu Hansa und Ohr sowie anderen relevanten Labels mehr in dem Kapitel »Krautrock und die Musikindustrie«.
12
Der Titel des Albums war eine Anspielung auf Rolf-Ulrich Kaiser, bekannt auch unter den kapitalisierten Initialen RUK, bzw. dem aufgrund seiner vielfältigen Aktivitäten daraus abgeleiteten Spitznamen »RUK-Zuck«.
13
Vgl. Sounds 11/1972.
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Abbildung 2: Soul Caravan Ende der 1960er Jahre.
Auch bei den 1968 gegründeten The Guru Guru Groove waren die ersten Jahre von Experimenten und häufigen Personalwechseln geprägt.14 Gründungsmitglieder der Gruppe, die ihren Namen wenig später auf Guru Guru verkürzte, waren der Schlagzeuger Mani Neumaier und der Bassist Uli Trepte, beide seit Mitte der 1960er Jahre als professionelle Musiker verschiedener Jazz-Formationen in Zürich bekannt. Wechselnde Gitarristen komplettierten das Trio am Ende der 1960er Jahre. Guru Guru sind eine derjenigen Formationen, die eng mit dem politischen Teil der Revolte um »1968« verbunden waren: Sie nahmen nicht nur an studentischen Protestveranstaltungen teil und traten im Rahmen politischer Lesungen auf; von Beginn an reflektierten sie ihre musikalische Entwicklung und das Aufbrechen überkommener musikalischer Strukturen als politische Aktion, ihre Musik, ihren Sound und ihre Präsentationsformen als politischen Beitrag. Live-Auftritte, eine extrovertierte Bühnenshow und der Kontakt zum Publikum waren für Guru Guru von Beginn an
14
Vgl. Kaiser, Rock-Zeit, S. 295–300; Haring, Heimatklang, S. 53–55; Dedekind, Krautrock, S. 266-268; Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX Cc 1.8.
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zentral, auch die Präsentation war dabei Teil ihres politischen Verständnisses ihrer Musik: „Wir zeigen ihnen [dem Publikum, A.S.] ein anderes Modell von Musik, ein anderes soziales Modell. Bei uns gibtˈs keinen Führer mehr. Wir zeigen ihnen, daß das möglich ist, wenn […] jeder das gleiche Medium hat. Dann ist es möglich, frei zu kommunizieren. Wir zeigen es ihnen dadurch, daß wir so spielen, nicht autoritär, wenn du so willst […]. Es gibt keinen Star, der dann kommt, auf einmal da ist, als Solist, als Meister.“15
Antihierarchisch, antiautoritär, gleichberechtigt, demokratisch, und all das präsentiert mit didaktischem Anspruch: Unter dem Brennglas findet sich hier der gesellschaftliche Aufbruch um 1970. Unter denselben Leitmotiven entwickelten sich neben den Präsentationsformen auch die musikalischen Gestaltungmittel der Gruppe, ihr »Medium«: „Spielen, aufnehmen, abhören, reflektieren, wieder spielen, aufnehmen, wieder abhören, reflektieren, spielen“, so Uli Trepte am Ende der 1960er Jahre, „dann kristallisieren sich Strukturen heraus, ein Wegweiser, eine Richtungsangabe. […] Wir haben keine Themen mehr oder Stücke und Arrangements […], sondern spielen Strukturen und innerhalb der Strukturen in der größtmöglichen Freiheit.“16 Eines der ersten Beispiele ihrer antiautoritären Bühnenshow spielten Guru Guru auf den Essener Songtagen 1968; zu dieser Zeit hatte die Gruppe keinen festen Wohnsitz, zog von Konzert zu Konzert und kam mitunter in Kommunen oder befreundeten Privatpersonen unter. 1969 bezog das Trio schließlich als MusikKommune ein altes Gasthaus in einem Dorf bei Heidelberg, noch bevor das erste Album auf dem Label Ohr erschien. Vergleichsweise stabil erscheint die Formationsphase der Kölner Band Can, die im Laufe der 1970er Jahre zu einer der international erfolgreichsten und bekanntesten Vertreter des Krautrock avancierte.17 Patin für den Bandnamen, um den sich viele Anekdoten rankten und ranken, stand laut Jaki Liebezeit eine gemeinsame Sammeldose, der die Musiker in der finanziell klammen Frühzeit der Band ihre Ersparnisse anvertrauten.18 Die frühen Treffen und ersten Aufnahmen der 1968 gegründeten Band fanden in der Privatwohnung des Gründungsmitglieds Irmin 15
Kaiser, Rock-Zeit, S. 298f.
16
Zitiert nach Kaiser, Rock-Zeit, S. 296.
17
Zur frühen Geschichte der Gruppe vgl. Siepen, Can; Bussy/Hall, Can; Zahn, Can; Melody Maker 05.02.1972 und 12.10.1974; New Musical Express 09.11.1974; Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.4.
18
So zumindest Jaki Liebezeit in Bravo 10.05.1972; in einem Interview mit der britischen Musikpresse bemerkte Irmin Schmidt spaßeshalber, der Gruppenname Can stünde für »Communism, Anarchism, Nihilism«, was sich prompt als Anekdote verbreitete, vgl. Sounds [GB] 24.02.1973.
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Schmidt statt. Neben Schmidt gehörten Holger Czukay, Jaki Liebezeit und Michael Karoli zur Anfangsformation der Band, und sie bildeten auch in den Folgejahren den Kern. Ein US-amerikanischer Komponist und Flötist, der zuvor einige Jahre enger Mitarbeiter des Komponisten Karlheinz Stockhausen gewesen war, verließ Can bereits im Gründungsjahr; auch der ebenfalls aus den Vereinigten Staaten stammende erste Sänger der Gruppe war weniger als ein Jahr Teil der Gruppe.19 Nach der provisorischen Anfangsphase bezogen Can das Schloss Nörvenich südwestlich von Köln, das ihnen von einem Kunstsammler und Mäzen zur Verfügung gestellt worden war. Can teilten die Räumlichkeiten mit einer Reihe von Künstlern; es fanden regelmäßig Happenings und Ausstellungen statt, die von Can musikalisch begleitet wurden. Im Schloss Nörvenich richteten Can ihr erstes Studio ein, das sogenannte Inner Space Studio, zentraler Ort für Proben und Aufnahmen. Das Studio zog später mit der Band um und wurde über die Jahre zunehmend mythisch aufgeladen; Teile der Einrichtung sind heute in Deutschlands einzigem PopMuseum rekonstruiert.20 Die Gestaltungselemente, die den Sound Cans in den Jahren ihres Bestehens ausmachen sollten, entwickelten sich bereits in dieser Anfangsphase: Die musikalischen Ausdrucksmittel, aber auch die Arbeitsweise mit eigenem Studio und technologisch bewusst einfach gehaltenen, selbst produzierten Aufnahmen waren zu dieser Zeit und auf diesem Niveau in der Popmusik höchst ungewöhnlich. Der gesamte Produktionsprozess stand unter dem Vorzeichen einer bewusst gewählten Einfachheit, bezogen auf die Produktionsmittel und Produktionsumstände ebenso wie auf den musikalischen Ausdruck. Auch die egalitäre Grundausrichtung als Kollektiv, ohne Leitfigur oder Bandleader, stand wie bei vielen anderen Gruppen des Krautrock von Beginn an konzeptionell fest. Cans erstes, im DIY-Verfahren entstandenes Album Monster Movie wurde 1968 demensprechend unter einfachsten Bedingungen eingespielt und nach Ablehnung durch eine Reihe verschiedener Labels im Eigenvertrieb veröffentlicht. Nachdem das auf wenige hundert Stück limitierte Album innerhalb kurzer Zeit zu Schwarzmarktpreisen gehandelt wurde, „wie sie sonst nur bei begehrten Karten zu den sensationellen Fußballspielen üblich sind“21, erschien Monster Movie bei dem US-amerikanischen Major Label Liberty/United Artists. Im selben Jahr wie Can gründeten Ralf Hütter und Florian Schneider die Gruppe Organisation22 – kennengelernt hatten sich beide auf der jährlich stattfindenden Jazz-Akademie in Remscheid. Bereits früh absolvierten Organisation Auftritte etwa zusammen mit Can und anderen bundesdeutschen Gruppen, zudem war die Band des Öfteren Gast bei gemeinsamen Sessions im Schloss Nörvenich. Anders als ihre 19
Vgl. Sounds 5/1970.
20
Vgl. http://www.rock-popmuseum.com/ [19.10.2015].
21
Musikinformation 9/1970.
22
Zu Organisation und den frühen Kraftwerk vgl. Bussy, Kraftwerk; Buckley, Kraftwerk.
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spätere Karriere und Reputation vermuten lassen, verstanden sich Hütter und Schneider in den ersten Jahren ihrer Zusammenarbeit als Teil der Gegenkultur, was sich nicht zuletzt in der Affinität für entsprechende angloamerikanische Popmusik, dem Konsum psychedelischer Rauschmittel oder schlicht in ihrem Äußeren spiegelte. Zudem durchliefen auch Organisation in den ersten Jahren ihres Bestehens eine experimentelle Phase mit einer Vielzahl von Personal- und Stilwechseln, in deren Zuge sich Instrumentierung und Gruppengröße ständig veränderten. Zeitweiliges Mitglied war unter anderem Eberhard Kranemann, mit dem Florian Schneider ab 1967 erste musikalische Gehversuche unternommen hatte. Kranemann war Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie und Ende der 1960er Jahre Mitglied der »experimentellen Klanggruppe« Piss Off im Umfeld von Joseph Beuys; davon wird noch die Rede sein. Unter Mitwirkung von drei weiteren Musikern und unter der Regie des Tonmeisters Conny Plank veröffentlichten Organisation 1969 das Album Tone Float. Die Musik war mit »konventionellem« Instrumentarium (Percussion, Bassgitarre, Hammond Orgel, Flöten) eingespielt und gilt heute als beispielhaft für Krautrock in seiner konstitutiven Phase.23 Ausführung und Struktur der Aufnahmen hatten starke Ähnlichkeiten mit anderen Krautrock-Bands jener Zeit: lange Improvisationen sowie scheinbar rhythmusfreie und atonale Passagen, die sich – trotz zu Beginn noch fehlender elektronischer Instrumente – bereits zu komplexen „ambient soundscapes“24 verdichteten. Alle Stücke des ersten Albums von Organsiation hatten englischsprachige oder Phantasie-Titel; und es wurde lediglich in Großbritannien vertrieben, wo es sich mäßig verkaufte. Beides änderten sich in den Folgejahren und nach der Umbenennung der Gruppe in Kraftwerk. In West-Berlin formierten sich am Ende der 1960er Jahre Vorläufer der elektronisch ausgerichteten Popmusik, die später als »Berliner Schule« transnational bekannt wurde. Ein Nukleus der späteren West-Berliner Szene erwuchs im Jahr 1967 mit der Gründung von Agitation Free, deren Repertoire wie bei der überwiegenden Mehrheit aller bundesdeutscher Popgruppen jenes Jahres noch aus dem Nachspielen angloamerikanischer Titel bestand.25 Ab 1968 experimentierten Agitation Free als eine der ersten bundesdeutschen Gruppen mit Multimedia (zeitgenössisch meist »Intermedia« oder »Mixed-Media« genannt), die sie zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Auftritte machten. Dabei verfuhren sie auch mangels eines entsprechenden Marktes nach dem DIY-Prinzip, etwa in Form von Projektionen selbst hergestellter Flüssigdias oder selbst produzierter Schmalfilme: „Die Gruppe spielte in
23
Vgl. Broker, Kraftwerk, S. 98.
24
Ebd.
25
Vgl. http://www.agitation-free.de/indexd.html [29.06.2013]; vgl. auch die Autobiographie des Mitglieds Lutz Ulbrich, vgl. Ulbrich, Lüül; außerdem Musik Express 6/1973; Pop 3/1973; Klaus-Kuhnke-Archiv Bremen, Sammlung Ehnert.
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einem Kasten aus durchsichtiger Kunststofffolie, auf der Projektionen zu sehen waren“26, so eine retrospektive Beschreibung; und weiter: „An den Wänden und der Decke waren Leinwände befestigt, auf die Dias und Filme projiziert wurden. Flüssigkeitsprojektionen gehörten ebenfalls dazu. Eine Wand aus Fernsehgeräten war aufgestellt worden, vor denen sich durch kleine Elektromotoren angetriebene Scheiben mit Löchern drehten, so daß sich bewegte Muster ergaben. Der Boden war mit halb aufgeblasenen LKW-Reifenschläuchen ausgelegt, und in einem Projektor verschmorten, für alle auf einer Leinwand sichtbar, Mehlwürmer und Ameisen.“27 Auf diese Weise verbanden Agitation Free „avantgardistische, happeningartige optische Effekte mit einer erimprovisierten Musik langer Stücke; typisch waren abwechselnd rockige Passagen und elektronische Klangcollagen“.
Im Dezember 1969 etwa traten Agitation Free zusammen mit weiteren Interpreten des Krautrock wie Amon Düül, Tangerine Dream und der Gruppe Anima im Rahmen einer studentischen Protestveranstaltung an der Technischen Universität Berlin auf; im selben Jahr bezog die Band einen eigenen Proberaum im Hinterhof der Kommune 1; den Kontakt hatte Rainer Langhans hergestellt, der mit seinem VW Bus zum Umzug die Instrumente der Band transportierte. Die Verbindungen Agitation Frees zu zentralen Akteuren und Institutionen von »1968« waren besonders eng, aber, wie sich zeigen wird, keinesfalls einzigartig. Im Umfeld des West-Berliner Clubs Zodiak Free Arts Lab, in dem auch Agitation Free Konzerte gegeben hatten, formte sich 1969 das Trio Kluster, bestehend aus den Betreibern des Clubs Conrad Schnitzler und Hans-Joachim Roedelius sowie Dieter Moebius.28 Roedelius war bereits Mitglied einer Formation namens Human Being gewesen, die sich um die Klangexperimente im Zodiak gebildet hatte; davon existieren keine Aufnahmen, auf den weiteren Weg der Musiker hatte Human Being, die etwa auch eine Tournee durch Südeuropa und Nordafrika unternahmen, aber offenbar großen Einfluss.29 Schnitzler, Roedelius und Moebius gelten retrospektiv als drei der einflussreichsten Protagonisten des Krautrock. Das aktivste Jahr in der kurzen Geschichte ihres gemeinsamen Projekts war 1970. Konzerte fanden in erster Linie auf Ausstellungen und Vernissagen statt; »Türöffner« zur Sphäre der Bildenden Kunst war dabei Schnitzler, ehemaliger Schüler von Joseph Beuys. Wie 26
Vgl. http://www.agitation-free.de/indexd.html [29.06.2013]; vgl. auch eine umfangreiche Selbstauskunft der Gruppe, undatiert (ca. 1975), Klaus Kuhnke Archiv, Sammlung Ehnert; Haring, Heimatklang, S. 49f.
27 28
Strieben, Live-Rock, S. 173. Vgl. Iliffe, Roedelius; Albiez, Synth Pop, S. 145. Zum Zodiak Free Arts Lab mehr im Kapitel »Kommunikationsräume. Von Festivals und Clubs«.
29
Vgl. dazu etwa Ehnert, Rock, S. 52–54; auch Iliffe, Roedelius.
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alle frühen Akteure des Krautrock traten Kluster zudem auch an Universitäten und im Rahmen studentischer Protestveranstaltungen auf.30 Im September 1970 absolvierte das Trio einen Auftritt auf dem berühmt-berüchtigten Love & Peace Festival auf Fehmarn, im Dezember entstanden unter der Leitung des Tonmeisters Conny Plank in Köln die letzten Studioaufnahmen. Die Kosten wurden dabei von einem Düsseldorfer Kirchenmusiker übernommen, der nicht nur offenbar ein Faible für experimentelle elektronische Popmusik, sondern auch den Kontakt zwischen Plank und Kluster hergestellt hatte; dementsprechend erschienen die beiden Alben ZweiOsterei und Klopfzeichen in sehr geringer Auflage auf dem kircheneigenen Label Schwann. Nach einem letzten Konzert an der Universität Göttingen im Frühjahr 1971 verließ Conrad Schnitzler die Gruppe, Roedelius und Moebius machten als Duo unter dem Namen Cluster weiter. Bereits 1967 gründeten sich in West-Berlin Tangerine Dream, zunächst als Quintett mit »klassischem« Rock-Instrumentarium bestehend unter anderem aus EGitarre, Bass und Schlagzeug. Das Repertoire bestand überwiegend aus CoverVersionen angloamerikanischer Popmusik, meist improvisiertes Material der USamerikanischen Interpreten von The Doors und Jimi Hendrix, auch der britischen Pink Floyd.31 Ihr erstes Konzert spielten Tangerine Dream im Sommer 1968 wiederum in der Mensa der Technischen Universität, beliebter Auftrittsort der frühen Gruppen des Krautrock; den Rahmen gaben Protestveranstaltungen gegen Notstandsgesetze und den Zweiten Indochinakrieg. Anschließend waren Tangerine Dream an drei Schlüsselorten der progressiven bundesdeutschen Popmusik am Ende der 1960er Jahre präsent: im Club Creamcheese in Düsseldorf, auf den Internationalen Essener Songtagen 1968, und im Zodiak Free Arts Lab in West-Berlin. Ende 1969 löste sich das Quintett zunächst auf; im Umfeld des Zodiak formte sich allerdings unter gleichem Namen eine neue Besetzung als Trio mit Edgar Froese, dem einzigen dauerhaften Mitglied der Gruppe, sowie Conrad Schnitzler und dem Studenten Klaus Schulze.32 Schulze wiederum war zu diesem Zeitpunkt bereits re30
Kluster verstanden sich explizit als Teil eines »musikalischen Protests«; die erste Seite des Kluster-Albums Klopfzeichen (1970) etwa enthielt neben der Musik »systemkritische« Lyrik, gelesen von Christa Runge. Die Texte stammten von Dorothy Solle, Eva Zeller, Liselotte Rauner, Rudolf Otto Wiemer, Uwe Seidel und Wolhelm Wilms.
31
Zur frühen Geschichte der Gruppe vgl. etwa ein Interview mit Edgar Froese in Zig Zag Nr. 44, 8/1974; auch Melody Maker 09.11.1974; New Musical Express 29.11.1975.
32
Noch im Dezember 1968 hatte Edgar Froese im britischen Melody Maker eine Annonce aufgegeben, in der er eine neue Besetzung für eine Blues-Band suchte: „German lead guitarist needs urgently drummer and bass, (long haired) to re-form one of the best German experimental blues groups,“ so Froese im Melody Maker, 28.12.1968; durch seine Kontakte und Erfahrungen im Zodiak Free Arts Lab scheint sich die Suche schnell erübrigt zu haben.
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gelmäßiger Besucher des so genannten Electronic Beat Studio in Wilmersdorf. Das durch den Komponisten Thomas Kessler Ende 1969 ins Leben gerufene Studio in einer Musikschule sollte sich als besonders prägend für die Entwicklung nicht nur Schulzes, sondern große Teile der später sogenannten »Berliner Schule« erweisen.33 In der neuen Besetzung waren Tangerine Dream – wie besonders auch die bereits genannten Can und Kluster – regelmäßige Gäste auf Happenings und Ausstellungen; beispielsweise bespielten Tangerine Dream 1969 eine Ausstellung in WestBerlin, was die Musikzeitschrift Sounds beschrieb als „unvollendete[…] elektronisch-realistische[…] Dissynphonie, die einem die Luft aus den Lungen blies. […] Dieser Ostpreuße“, gemeint war Edgar Froese, „denkmalt (er war Bildhauer) wie ein Wikinger und hat […] den Schlag gepachtet, er erscheint als nordischer Hendrix, nur wesentlich verbissener schlägt er drein, er könnte die Gitarre auch mit Hammer und Meißel spielen.“34 Eine stilistisch vielfältige Popmusik-Szene entwickelte sich am Ende der 1960er Jahre auch in München. Berühmteste Vertreterin wurde die Musik-Kommune Amon Düül, gegründet im Sommer 1968 von einer Reihe ehemaliger Internatsschüler; weitere Mitglieder, auch Familien mit Kindern schlossen sich in den Folgemonaten an.35 Der Anfang 1968 auftauchende Name Amon Düül bezog sich auf Amon, eine Figur der altägyptischen Mythologie, und dem in seiner Bedeutung nicht mehr eindeutig zu rekonstruierenden Zusatz Düül.36 1968 begannen Amon Düül ihren „stark von der orientalischen Mystik beeinflußten Stil“37 zu entwickeln; das ungewöhnliche Instrumentarium der Gruppe bestand dabei unter anderem aus zwei Schlagzeugen, Bass, E-Gitarre, Blockflöten, Sitars, Bronzeglocken und einer elektrisch ver33
Vgl. Zahn, Can, S. 88f; Wagner, Revolte, S. 71–75. Neben Tangerine Dream und Schulze kamen dort Agitation Free und Ash Ra Tempel zum ersten Mal mit professionellen elektronischen Instrumenten in Berührung; im Dezember 1969 kam es zu einem gemeinsamen Konzert verschiedener Avantgarde-Ensembles, unter anderem der Gruppe Neue Musik um Thomas Kessler, mit Tangerine Dream und Agitation Free, wiederum in der Mensa der Technischen Universität Berlin.
34
Song Nr. 1/1969; Edgar Froese hatte fünf Jahre Malerei und Bildhauerei studiert und beschrieb seinen persönlichen Kontakt zu Salvador Dalí häufig als wegweisendes Erlebnis, auch für seine Musik, vgl. Dedekind, Krautrock, S. 100.
35 36
Vgl. Schober, Tanz der Lemminge; Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.1. Chris Karrer meinte rückblickend zur Namenswahl, man hätte weder einen deutschen, noch einen englischen Namen gewollt, vgl. Augustin, Pate, S. 100; bereits im Herbst 1970 war der Gruppe die Herkunft und Bedeutung des Begriffs »Düül« nicht mehr geläufig, vgl. Kaiser, Rock-Zeit, S. 281–283.; vgl. auch Underground 3/1969.
37
Schriftstück aus dem Nachlass Ingeborg Schobers, in Privatbesitz; laut Henryk M. Broder (im Januar 1969) ein „schönes lautes Abenteuer“, Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.1.
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stärkten Violine. Die musikalischen Voraussetzungen der einzelnen Mitglieder waren sehr unterschiedlich: Teile der Gruppe hatten bereits in professionellem Umfeld Musik gemacht, andere begannen ihre Instrumente mit Gründung der Gruppe erst zu lernen.38 Das erste Konzert fand 1968 im Rahmen studentischer Protestveranstaltungen an der Universität München statt;39 Ende desselben Jahres folgten erste Konzerte im zu jener Zeit enorm »angesagten« Münchner Club Blow Up. Auch weckten Amon Düüls experimentelle Klänge das Interesse der Bildenden Kunst: Wiederholt wurden sie zur musikalischen Untermalung von Ausstellungen, Vernissagen und Happenings engagiert, 1968 kam es beispielsweise zu mehreren Auftritten auf der Documenta 4 in Kassel, wenige Monate später im Rahmen einer Veranstaltung an der Münchner Kunstakademie. Amon Düüls Beitrag wurde in diesem Zusammenhang als „Ufo-Musik“40 mit „klare[r] Science-fiction-Schönheit“ bezeichnet, eine frühe Verbindung von Futurismus und Krautrock, die später eine zentrale Rolle in der transnationalen Rezeption des Phänomens spielen sollte. Die frühen Auftritte von Amon Düül riefen viel Wohlwollen, teilweise Begeisterung hervor, wobei angloamerikanische Bands Maß und Referenzpunkt waren: Sie seien „besser, einfallsreicher und progressiver als diese Stars aus England und Amerika“41, so verkündete die Süddeutsche Zeitung symptomatisch. Wegweisend für die weitere Entwicklung war auch bei Amon Düül der Auftritt auf den Essener Songtagen im September 1968, nicht nur in musikalischer Hinsicht: Bereits vorher zerstritten, freundete sich ein Teil Amon Düüls mit der Kommune 1 an und zog mit ihr nach West-Berlin – darunter Uschi Obermaier. Die andere Hälfte, vor allem die musikalisch versierteren Mitglieder, ging als Amon Düül II zurück nach München. Die beiden Teile Amon Düüls blieben in der Folge miteinander verbunden, manche Mitglieder wechselten mehrmals hin und her; auch darüber hinaus kam es bei beiden Zweigen zu ständigen personellen Wechseln. Unter der Regie des Produzenten Peter Meisel und unter tatkräftiger Mitwirkung von Bewohnern der Kommune 1 nahmen Amon Düül im Jahr 1969 ihr erstes Album Psychedelic Underground auf. Es enthielt unter anderem ein Stück mit dem Titel Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf, ein früher Stichwortgeber für den später gebräuchlichen Begriff »Krautrock«. Die Aufnahmen für das Album verliefen chaotisch und voller Reibungen; der Schlagzeuger Peter Leopold beschrieb die Situation folgendermaßen: „Als dann die Kommune 1 ins Studio einlief und 38
Vgl. etwa Schober, Tanz der Lemminge, S. 100; dazu auch der Musiker Olaf Kübler in Augustin, Pate, S. 107.
39
Zu den anfangs engen Verbindungen von Amon Düül und der Münchner Studentenbewegung vgl. schriftliche Notizen und Pressesammlungen von Günter Ehnert, um 1970, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
40
Süddeutsche Zeitung 06.09.1968.
41
Ebd.
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mein Schlagzeug umstellte und sagte: dieses Schlagzeug ist jetzt besetzt – und mit allen möglichen Dingen darauf einschlug, da […] hab ich mich noch am selben Abend entschlossen, wieder auszusteigen und bin zurück nach München“42. Teile der Kommune 1 folgten ihm noch im selben Jahr nach; Rainer Langhans und Obermaier planten in München die Gründung eines linken Pop-Konzerns. Amon Düül II zogen ins Münchner Umland, in ein Einfamilienhaus am Ammersee. „Dort ging es zu wie im Irrenhaus. Es wurde dauernd gefrühstückt. Ein Joint jagte den anderen und es gab keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht“43, so der damalige Manager Olaf Kübler. Mit „szenetypische[n] Vorlieben wie Drogenkonsum und Rockmusik“44 stießen Amon Düül II in ihrer neuen Nachbarschaft auf wenig Gegenliebe: Die Kommune wurde angepöbelt, in Geschäften nicht bedient, und regelmäßig von der Polizei durchsucht.45 Das öffentliche Interesse nahm auch deswegen kontinuierlich zu, keiner anderen Gruppe des Krautrock schlug am Ende der 1960er Jahre ein vergleichbares Medieninteresse entgegen. Im März 1969 beispielsweise erschien unter dem Titel „Musik aus der Kommune“46 ein ausführliches Portrait in der Zeitschrift Underground, wobei auch dort die Konflikte mit den Behörden besonders thematisiert wurden: „Wo die »Amon Düül« auftreten, sind die Beamten vom Rauschgiftdezernat nicht weit“47 – angesichts der ständigen offenen Propagierung und des offenen Konsums psychoaktiver Substanzen wenig überraschend. Im September des Jahres berichtete die Frankfurter Rundschau über eine Seite von dem Phänomen der „Pop-Kommune“48; „ein Duft von Hanf und Harn weht den Gast in Herrsching an“, so der Autor einleitend, und damit war der Ton des Artikels bereits vorgegeben. Wiederum diente angloamerikanische Popmusik als – dieses Mal allerdings positives – Abziehbild: Amon Düül II erschienen in dem Artikel als schlichte Kopie des US-amerikanischen Undergrounds, die Versatzstücke der transnationalen Gegenkultur übernommen habe, aber nichts Eigenständiges daraus
42
Schober, Tanz der Lemminge, S. 41f.
43
Olaf Kübler, zitiert nach Augustin, Pate, S. 129.
44
Siegfried, Time, S. 424.
45
Vgl. Schober, Tanz der Lemminge, S. 27; dazu auch das Interview mit Renate Knaup und John Weinzierl in Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009). Auch an der Grenze zu Frankreich wurden Chris Karrer und Peter Leopold 1969 von der französischen Polizei wegen eines Drogenvergehens für drei Tage festgenommen, vor der Entlassung schnitt man ihnen gegen ihren Willen die Haare ab – was medial einiges Aufsehen erregte, vgl. dazu Twen 4/1970, auch Sounds 11/1971.
46
Underground 3/1969.
47
Ebd.
48
Frankfurter Rundschau 27.09.1969.
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Abbildung 3: Teile Amon Düüls am Ende der 1960er Jahre.
mache: „Bei ihnen geht es nicht um das Experiment mit eigenen Ideen, sondern um die verquälten Komplexe hanfrauchender Wohlstandskinder, die ihre pornographischen Zwangsvorstellungen mit musikalischen Anleihen bei der Psychedelic-Musik ausschmücken“, so der Autor. Wie ihre »Schwestergruppe« in West-Berlin nahmen auch Amon Düül II im Jahr 1969 ihr erstes Album auf, das unter dem provokativen und entsprechend Aufmerksamkeit erregenden Namen Phallus Dei auf Liberty erschien. Kommerzieller Erfolg war dem Album insbesondere außerhalb der Bundesrepublik beschieden, in Westeuropa und – aus welchen Gründen auch immer – von Beginn an auch in Japan.49 Durch den lukrativen Vertrag mit dem Major Label erhielten Amon Düül II darüber hinaus professionelles Sound-Equipment, ein wichtiger Schritt für die weitere Entwicklung der Band. Bereits Ende 1968 hatten Amon Düül II begonnen, im Rahmen eines festen Engagements wöchentliche Auftritten im Münchner Club PN zu absolvieren; für einige Monate ging das Konzept mit etwa 500 bis 600 Besuchern pro Auftritt für alle Seiten wohl sehr gut auf: „Das hatˈs wirklich gebracht. Das hat hier gedampft wie im Urwald“50, so der Clubbesitzer wenige Jahre später. Im Laufe des Jahres 1969 traten jedoch erste massive Spannungen innerhalb der Kommune auf, und in etwa zur selben Zeit blieb auch der Erfolg im PN zunehmend aus. Die ständigen Auseinandersetzungen mit den Anwohnern und der örtlichen Polizei führten
49
Vgl. Hoffmann, Popmusik, S. 195–200.
50
Zitiert nach Schober, Tanz der Lemminge, S. 44.
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Anfang 1970 darüber hinaus dazu, dass Amon Düül II der Mitvertrag des Hauses am Ammersee gekündigt wurde.51 Aus dem Münchner Umland zog die sich personell weiterhin ständig verändernde Kommune in eine abgelegene Gründerzeitvilla bei Landshut; das Gebäude war für den geplanten Pop-Konzern um Obermaier und Langhans angemietet gewesen, deren Planungen sich allerdings zerschlagen hatten. Die Villa wurde zu einem Ort mit überregionaler Strahlkraft und für kurze Zeit zu einem Fixpunkt der bayerischen und bundesdeutschen Gegenkultur. Noch vor dem Umzug entstand 1969 ein knapp halbstündiger, dokumentarischer Kurzfilm über Amon Düül II.52 An der Kamera wirkte Wim Wenders, zu diesem Zeitpunkt Student der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film. Wenders kannte Amon Düül bereits seit Anfang 1968, als er sie zum ersten Mal live auf der Bühne gesehen hatte, und der Kontakt hielt einige Jahre.53 Christian »Shrat« Thiele von Amon Düül II etwa war Darsteller in Wenders Kurzfilm Alabama: 2000 Light Years from Home sowie seinem Abschlussfilm an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film, Summer in the City.54 „Wie die Amon Düül zum ersten Mal zu spielen angefangen haben, das war halt schon wie Velvet Underground oder Hapshash“55, erinnerte sich Wim Wenders Ende der siebziger Jahre. „Ein Versuch, damit fertig zu werden, ein Versuch, mit diesen Erfahrungen selbst Musik zu machen. Und zwar halt nicht als Imitation, sondern da was eigenes draus zu machen. Das war entsetzlich chaotisch. […] Und deshalb waren auch Amon Düül für mich auch ein richtiger Mythos in der Zeit, weil das eine Band war, die was gesucht hat. Das war der Sinn, der Inhalt dieser Musik – eine Suche.“56 Amon Düül II hätten mit ihrer Musik die „Grenzen der Wahrnehmung durchstoßen“57, urteilte zeitgenössisch Rolf-Ulrich Kaiser. In der Tat wurden sie bereits früh als innovativer, vollkommen neuartiger Beitrag zur Popmusik wahrgenommen: Radio Bremens Beat Club engagierte Amon Düül II, die „Revolution aus Deutschland“58, als ersten bundesdeutschen Beitrag nach internen Umstrukturierungen am 51
Ein satirisch-ironischer Kommentar zu dem Verhalten der Nachbarn und die ständige
52
Amon Düül II spielt Phallus Dei (D 1969).
Überwachung durch die Polizei auch in Twen 4/1970. 53
Zu den Verbindungen zwischen Wenders und Amon Düül vgl. Schober, Lemminge.
54
Alabama: 2000 Light Years from Home (D 1969); Summer in the City (D 1970).
55
Schober, Lemminge, S. 31; mit „Hapshash“ meint Wenders hier Hapshash & The Coloured Coat, eine am Ende der 1960er Jahre in der Gegenkultur sehr populäre britische Avantgarde-Gruppe, die als Musiker und Grafik-Designer in London so genannte »Underground Happenings« organisierten. Sie produzierten eine Vielzahl von graphischen Produkten, aber nur zwei Alben, die auf dem Label Liberty veröffentlicht wurden.
56
Schober, Lemminge, S. 31.
57
Kaiser, Rock-Zeit, S. 283.
58
Konkret 10.02.1969.
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Ende der 1960er Jahre;59 auch das rege Interesse des jungen bundedeutschen Films war ein Indikator für deren Wahrnehmung als popmusikalische Avantgarde. Dabei spiegelte sich der andauernde personelle Wandel auch in der Musik wider. Eine Vielzahl von Musikerinnen und Musikern wirkten mit; abgesehen von der frühen Trennung in Amon Düül und Amon Düül II und andauernden Wanderungen zwischen den beiden Gruppen waren zwei weitere Bands der Münchner Szene mit der Musik-Kommune verbunden: erstens Embryo, die sich aus einer zunächst losen Verbindung und diversen Sessions entwickelten;60 wie bei den »Düüls« ist auch der »Stammbaum« Embryos außerordentlich komplex, personelle Fluktuation war immanenter Teil der Gruppe, die sich um Gründungsmitglied Christian Burchardt entwickelte. Die zweite Band mit enger personeller Verbindung zu den »Düüls« waren die ebenfalls 1969 entstandenen Popol Vuh, benannt nach einem »heiligen« Buch der Maya, die zeitweise in einer Künstler-Kommune auf einem alten Pfarrhof südlich von München lebten.61 Auch Popol Vuh waren in erster Linie ein Projekt des Gründers und einzigen dauerhaften Mitglieds Florian Fricke.62 Fricke hatte ein Musikstudium absolviert und als Musik-Kritiker gearbeitet, bevor er Popol Vuh ins Leben rief. Sein popmusikalisches »Erweckungserlebnis« war 1968 die Musik Frank Zappas und der Mothers of Invention: „Die meist dreißigminütigen Instrumentalnummern waren so faszinierend »unkultiviert«, wie man sagt: »formlos«, dass sie nicht nur den Zweck der Provokation, sondern auch der Korrektur erfüllten: der Korrektur eines bestimmten Niveaubegriffs, den sich eine Gesellschaft als Herrschaftsmittel gegenüber all dem, was ihre »Ordnung« stören könnte, auch und vor allen Dingen gegenüber sich selbst, aus Angst, verwirrt zu werden, neu anfangen zu müssen, aufgebaut hat.“63
59
Zum Beat Club in dieser Phase vgl. Siegfried, Time, S. 347–354.; zu den Umstrukturierungen zeitgenössisch etwa Underground 11/1969.
60
Vgl. Selbstauskunft, undatiert, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; Dedekind, Krautrock, S. 257. Zu Embryo später mehr.
61
Vgl. Sounds 1/1971; vgl. auch einen Brief von Florian Fricke an Günter Ehnert (19.01.1975), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. Zu Popol Vuh vgl. auch Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.15.
62
„Für die Konzeption und Komposition aller POPOL VUH-Arbeiten bin ich unter dem Namen Florian Fricke allein verantwortlich“, vgl. Brief von Florian Fricke an Günter Ehnert (03.11.1978), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; eine umfangreiche Beschreibung des Projekts und von Frickes Klangphilosophie findet sich in der Zeitschrift Germania Nr. 3/1972.
63
Florian Fricke um 1970, zitiert nach Deutschlandradio: Freistil, 2011.
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Ein politisches Selbstverständnis, ausgedrückt über das Aufbrechen überkommener musikalischer Strukturen, wie es in dieser Phase des Krautrock typisch war. „Aktueller Anlaß der Gründung: Eine Aufforderung der Firma LIBERTY (heute United Artists) eine LP herzustellen“64, so Fricke 1975. In dem Wissen, dass Fricke einen der ersten Moog-Synthesizer der Bundesrepublik erworben hatte, war Liberty an einem elektronischen Album nach Vorbild der in den Vereinigten Staaten außerordentlich erfolgreichen »Switched On«-Serie von Walter Carlos interessiert. Popol Vuhs Album Affenstunde aus dem Jahr 1970 hatte mit den Vorstellungen von Liberty wenig zu tun, weckte aber das Interesse der Liebhaber progressiver Popmusik: Affenstunde war für Sounds „die bislang beste und am meisten befriedigende LP mit deutscher Popmusik“65, galt bereits zeitgenössisch als Katalysator für die Entwicklung »elektronischer« Popmusik in der Bundesrepublik, und machte nicht zuletzt den Moog auch in der Bundesrepublik einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.66 Das Schaffen Popol Vuhs war allerdings von einer Vielzahl verschiedener stilistischer Phasen gekennzeichnet, von elektronisch-instrumental bis hin zu akustisch-gesangsorientiert. Eine Klammer bildete die von Beginn an spirituelle Ausrichtung: Wie kaum ein anderer Akteur des Krautrock steht Fricke mit seinem Projekt Popol Vuh für die zeitgenössische Emphase auf Emotion und Intuition, auf Spiritualität und Religion, für die »neue Sensibilität«. Interessant mutet dabei die Selbstbeschreibung seines Weges an: Als ehemaliger Marxist sei er über den Synthesizer und die physikalische Schwingungslehre zur Religion gekommen, so Fricke.67 Wichtig sei für ihn in Bezug auf seine Musik, „dass die Menschen irgendwie angerührt werden. Das kann Elektronik sein, das kann vieles sein. Wichtig ist generell nur, dass… dass in ihnen irgendetwas zum Klingen kommt.“68 Viele Gruppen des Krautrock waren eng mit Film und Fernsehen verbunden; die am längsten währende Zusammenarbeit verband allerdings Florian Fricke mit dem Regisseur Werner Herzog. Die beiden kannten sich bereits aus gemeinsamen
64
Brief von Florian Fricke an Günter Ehnert (19.01.1975), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. Eine andere Version der Geschichte lieferte die Redaktion von Sounds, die noch Ende 1970 monierte, dass keine der etablierten Labels in der Bundesrepublik die ihrer Ansicht nach wegweisenden Klänge von Popol Vuh veröffentlichen wolle, vgl. Sounds 11/1970; ein Monat später wurde die Vertragsunterzeichnung bei Liberty verkündet, vgl. Sounds 12/1970. Treibende Kraft hinter der Ausstattung Popol Vuhs mit einem Vertrag war Produzent Gerhard Augustin.
65
Sounds 2/1970.
66
Vgl. Musik Express 6/1973; auch Der Musikmarkt 01.09.1973.
67
Sounds 12/1972.
68
Zitiert aus einem Videoausschnitt [Datum unbekannt, höchstwahrscheinlich 1970er Jahre], Teil der TV-Dokumentation Kraut und Rüben, Folge 6 (D 2006).
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Schultagen, und als „kongenialer Partner des Filmemachers“69 vertonten Popol Vuh unter anderem Herzogs Filme Aguirre, der Zorn Gottes, Herz aus Glas, Nosferatu, Phantom der Nacht, Fitzcarraldo und Cobra Verde.70 Fricke war zudem Darsteller in Herzogs erstem Langfilm Lebenszeichen sowie in Kaspar Hauser.71 „Popol Vuh ist ein Glücksfall für mich“72, so Herzog Anfang der 1970er Jahre, „weil immer etwas Verborgenes in den Bildern selbst, das ganz tief in der Dunkelheit unserer Seele liegt und schlummert, durch die Musik Florian Frickes sichtbar gemacht wurde, das heißt die Bilder haben auf einmal eine ganz neue und einzigartige und merkwürdige Qualität bekommen. Die Musik hat etwas Rätselhaftes. Sie kann nämlich Qualitäten und Eigenschaften und Rhythmen in Bildern deutlich machen, vor allem im Kino deutlich machen, die sonst nie herüberkommen würden: Wenn ich zum Beispiel in »Aguirre« den Urwald gefilmt habe, dann ist der Urwald ja zunächst mal eine Landschaft. Durch die Musik von Popol Vuh wird diese Landschaft aber auf einmal etwas Anderes. Sie wird sozusagen eine Qualität der Seele, eine menschliche Eigenschaft.“ Die Ausführungen Herzogs verdeutlichen die zentrale Rolle des Mystischen und des Romantischen, die den Neuen Deutschen Film mit Krautrock auch konzeptuell verband – und als wesentlicher Aspekt beider transnationaler Erfolge, beider transnationaler Strahlkraft und agency gelten kann. Neben der »neuen Sensibilität«, die auch in den Folgejahren eine wichtige Rolle spielen sollte, war die Konstituierungsphase des Krautrock in den späten 1960er Jahren geprägt von der »politisch-kulturellen Revolte« und einer »neuen Direktheit«. Xhol Caravan, Can, Organisation, Agitation Free, The Guru Guru Groove, Kluster, Tangerine Dream, Amon Düül und Amon Düül II sowie Popol Vuh stehen allesamt für einen radikalen kulturellen Bruch mit dem Überkommenen, der sich zunächst allgemein über die Ablehnung gängiger Formen und Strukturen, über Suchbewegungen und experimentelle Neuorientierungen ausdrückte. Nicht zuletzt das Interesse der Bildenden Kunst und des Neuen Deutschen Films unterstreicht den Avantgarde-Charakter, der Krautrock zeitgenössisch zugesprochen wurde. Das Ideal des »Authentischen«, Echten und Unmittelbaren spielte dabei eine entscheidende Rolle: die Suche nach eigenen, distinkten musikalischen Ausdrucksformen, die Kontrolle über den gesamten Produktionsprozess, die konsequente Umsetzung des DIY-Prinzips, der Anspruch auf Ganzheitlichkeit und die Verschmelzung von Kunst und Alltag, die Rehabilitierung des Gemeinschaftsideals in Form kommunalen Zusammenlebens bzw. des Strebens nach »togetherness« (Xhol Caravan), der 69
Der Musikmarkt 15.11.1978.
70
Aguirre, der Zorn Gottes (D 1972); Herz aus Glas (D 1976); Nosferatu, Phantom der Nacht (F 1979); Fitzcarraldo (D 1982); Cobra Verde (D 1987).
71
Vgl. Werner Herzog, zitiert nach Deutschlandradio: Freistil, 2011; Aufnahme des Interviews etwa zu Beginn der 1970er Jahre.
72
Zitiert nach ebd.
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Konsum bewusstseinserweiternder Substanzen und neue Wahrnehmungen, aber auch die Ablehnung von Hierarchien innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaften. Dabei tauchte das Phänomen Krautrock nicht zufällig im Kontext der »politischkulturellen Revolte« um »1968« auf; die Gruppen verstanden sich als Teil der transnationalen Gegenkultur, was sich äußerlich in Mode und Habitus und in der engen Verwobenheit mit den studentischen bzw. politischen Protesten, insbesondere aber in der Musik und den Präsentationsformen zeigte. Zentraler Wertmaßstab des Krautrock, als negatives wie positives Abziehbild und für seine Produzenten und Rezipienten gleichermaßen, blieben die Vereinigten Staaten und (mit Abstrichen) das Vereinigte Königreich.
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S OZIALISATION
UND
L EBENSFORMEN Not having any roots in rock music but, on the
“
other hand, knowing all the stuff […] puts you in a strange relation […]. Itˈs a second sort
”
of reality.
73
Uwe Nettelbeck, 1973 „Wir wollten neue Realitäten schaffen.“74 Edgar Froese, 1980
„Sie sind in der Regel Angehörige der bürgerlichen Klasse, was sie höchstens leugnen, nicht aber aus der Welt schaffen können“75 – so brachte der Autor Helmut Salzinger den sozialen Hintergrund der »neuen Popmusik« Anfang der 1970er Jahre auf den Punkt. Ohne Zweifel und bereits zeitgenössisch breit diskutiert rekrutierten sich Produzenten wie das Publikum in der Bundesrepublik zu dieser Zeit überwiegend aus wohlhabenden Mittelschichten. Pop-Produktion und Pop-Diskurs waren darüber hinaus in einem erdrückenden Ausmaß männlich dominiert und geprägt – darauf ging Salzinger nicht ein, dieser Aspekt wurde überhaupt erst gegen Ende der 1970er Jahre zu einem Thema. Der durchschnittliche Akteur auf Produzentenseite (Musiker, Tonmeister und Produzent, Management etc.) war dementsprechend auch im Falle des Krautrock männlich und um die 25 Jahre alt – wobei die Altersspanne groß war und im Untersuchungszeitraum von unter 20 bis um die 40 Jahre reichte.76 Angesichts der bekannten, wenig überraschenden Grundvoraussetzungen in Bezug auf soziale Herkunft, Geschlechterrollen und Altersspanne in der Popmusik um 1970 stellen sich bei der Historisierung des Krautrock mehrere Fragen: Was veranlasste die Akteure dazu, experimentelle Popmusik zu produzieren? Welche musikalischen Wurzeln brachten sie mit? In welchem sozialräumlichen Kontext versuchten sie ihre Ideen umzusetzen? Unterschieden sich Sozialisationen und Lebensweisen
73
Zitiert nach Melody Maker, 02.06.1973.
74
Zitiert nach Neue Zeitschrift für Musik, 3/1980.
75
Salzinger, Rock Power, S. 35.
76
Allgemein dazu beispielsweise Wicke, Popmusik; Siegfried, Time, S. 698; bereits zeitgenössisch vgl. Frith, Sociology; zum Krautrock dahingehend Dedekind, Krautrock, S. 46; Asbjørnsen, Cosmic Dreams, S. 4; auffallend war auch das überdurchschnittliche Bildungsniveau: „Die deutsche Rockmusik begann als Gymnasiastenkultur“, so Haring, Heimatklang, S. 52. Zur sozialen Herkunft der Akteure vgl. auch diverse Selbstauskünfte in der Sammlung Ehnert, Klaus-Kuhnke-Archiv, sowie im Kabarettarchiv Mainz.
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des Krautrock von den Gepflogenheiten anderer Phänomene der Popmusik, und wenn ja, in welcher Hinsicht? Nicht zuletzt: Was hatten Sozialisation und Lebensformen der Protagonisten mit den spezifischen Ausprägungen einer bundesdeutschen Popmusik zu tun, die heute transnational als Krautrock bezeichnet wird? Bei einer Umfrage unter professionellen bundesdeutschen Pop-Musikern zu Beginn der 1970er Jahre standen bei der Frage nach den Motiven Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung, Selbstfindung, Freiheit und Unabhängigkeit an den vorderen Stellen.77 Mehr als die Hälfte wollte ihre Musik zudem als gesellschaftsverändernden Beitrag verstanden wissen. Es handele sich, so stellten die Autoren der darauf basierenden Studie fest, um das „gängige Motivbündel individualistischer Zielsetzung“78, um eine spezifisch popkulturelle Ausprägung individualistischer Leitmotive postindustrieller Gesellschaften. Die zeitspezifische Radikalität und die unbedingte Bereitschaft unter den Akteuren, diese Ziele und Ideale in die Tat umzusetzen, zeigte sich unter anderem in einem bewussten Verzicht auf Wohlstand und materielle Sicherheit: Ein großer Teil der Musiker entschied sich gegen eine »vorgezeichnete« und gesicherte bürgerliche Existenz und lebte in der Folge oft jahrelang am Rand des Existenzminimums.79 Einige Mitglieder der Musik-Kommune Amon Düül beispielsweise kamen aus Akademiker- und Unternehmerfamilien, besuchten namhafte private Internate und sollten die elterlichen Betriebe übernehmen – entschieden sich aber bewusst gegen Studium und Karriere und schlugen den wirtschaftlich prekären Weg professioneller Popmusiker ein.80 Ähnliches traf, wie zu sehen sein wird, auf eine Vielzahl der Protagonisten des Krautrock zu. Erst im Laufe der 1970er Jahre änderten sich die Verhältnisse etwas, als für wenige Gruppen und Interpreten mit wachsendem Erfolg das Einkommen stieg, während die Mehrheit allerdings auf niedrigen Einkommensniveau verharrte. Die Einkommensunterschiede innerhalb der bundesdeutschen Popmusikszene wuchsen extrem an, wobei sich im Umfeld des Krautrock viele Akteure bewusst gegen eine breitere Vermarktung und eine »Vereinnahmung« durch den »Mainstream« oder »die« Musikindustrie entschieden – und damit auch gegen kommerziellen Erfolg. Die Entscheidung gegen eine gesicherte bürgerliche Existenz musste für die Musiker also nicht zwangsläufig eine wirtschaftliche Prekarisierung bedeuten. Nicht selten erwies sich auch ein wohlhabender familiärer Hintergrund auch als vorteilhaft für die musikalischen Entfaltungsmöglichkeiten. Florian Schneider etwa, Gründungsmitglied von Organisation bzw. Kraftwerk, wuchs als Sohn eines prominenten Architekten in außerordentlich wohlhabenden Verhältnissen auf.81 77
Vgl. Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk: Rock People, S. 247–251.
78
Ebd., S. 249.
79
Vgl. DeRogatis, Psychedelic Rock, S. 16; auch Dedekind, Krautrock, S. 46.
80
Vgl. Schober, Tanz der Lemminge; auch Olaf Kübler in Augustin, Pate, S. 107.
81
Vgl. detailliert Buckley, Kraftwerk; auch Flür, Roboter.
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Dadurch war er schon früh nicht nur mit aktuellen Schallplatten, hochwertigen Abspielgräten und daher mit den neuesten popmusikalischen Trends, sondern später auch mit neuester Instrumententechnologie ausgestattet. Schneiders Elternhaus bei Düsseldorf war darüber hinaus am Ende der 1960er Jahre Ort häufiger Feste und Partys, an dem sich eine Reihe späterer Protagonisten des Krautrock trafen und sich persönliche Netzwerke zu bilden begannen. Ein weiteres Beispiel dahingehend ist Florian Fricke (Popol Vuh): Fricke freundete sich mit dem Komponisten und Nachbarn Eberhard Schoener an, der 1968 einen gebrauchten Moog – der Vorbesitzer war John Lennon – direkt beim Hersteller in Upstate New York gekauft hatte.82 Schoener machte Fricke mit dem Gerät bekannt, und Anfang 1969 kaufte Fricke über die Vermittlung Schoeners und mit der finanziellen Unterstützung seiner Ehepartnerin ein eigenes Gerät. Der Preis war in etwa äquivalent zu dem eines Mittelklasse-Neuwagens, ohne Schallplattenvertrag also ebenfalls nur mit dem soliden finanziellen Hintergrund seiner Familie finanzierbar. Die Nachbarschaft Frickes und Schoeners sowie deren gemeinsame Faszination für neuestes elektronisches Instrumentarium hatte übrigens die kuriose Folge, dass die beiden ersten Moog Synthesizer der Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre in nur wenigen Hundert Metern Entfernung im oberbayerischen Voralpenrand betrieben wurden.83 Wie erwähnt umfasste die Altersspanne der Akteure des Krautrock in etwa 20 Jahre, eine generationelle Eingrenzung des Phänomens ist daher kaum möglich. Die Geburtsjahrgänge reichen von Mitte der 1930er bis in die 1950er Jahre: Zu Beginn des Phänomens Krautrock waren die Älteren Mitte 30 Jahre alt, die Jüngsten Teenager. Zu Letzteren gehörten beispielsweise die als Schülerband 1967 in Berlin gegründeten Agitation Free, alle in der ersten Hälfte der 1950er Jahre geboren und damit gerade noch Teil der sogenannten »68er«-Generation;84 zu Ersteren gehörte der im Jahr 1934 geborene Hans-Joachim Roedelius (Kluster, Cluster, Harmonia), zu Beginn der 1940er Jahre bereits »Hitlerjunge« und Kinderstar bei der UFA in Berlin.85 Die Gegenüberstellung von Agitation Free und Roedelius macht die enormen Unterschiede altersbedingter Erfahrungswelten unter den Akteuren des Krautrock besonders deutlich: Während Agitation Free Mitte der 1950er Jahre im Wohlstand des Nachkriegsbooms geboren wurden, saß DDR-Bürger Roedelius wegen Fahnenflucht gerade zwei Jahre in Bautzen ein; während Agitation Free den Aufbruch der 1960er Jahre als Teenager in West-Berlin hautnah miterlebten, lebte Ro82
Deutschlandradio, Freistil, 2011.
83
Zur Bedeutung des Moog für Popmusik und Krautrock später mehr.
84
Vgl. eine Selbstauskunft der Gruppe Agitation Free (undatiert, ca. 1973), Klaus Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
85
Dazu etwa das Press Release der Firma Sky Records, 1978, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; vgl. auch Sounds 5/1975; etwas später in Ehnert, Rock, S. 52–54; rückblickend Iliffe, Roedelius, S. 23.
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edelius nach seiner Flucht in den Westen von zahlreichen Gelegenheitsjobs und verbrachte mehrere Jahre im südeuropäischen und nordafrikanischen Ausland; während Agitation Free ab 1967 als Schülerband angloamerikanische Popmusik imitierten, kam Roedelius in etwa zeitgleich, also mit Mitte 30 zum ersten Mal aktiv mit Musik in Berührung, als er in West-Berlin auf Conrad Schnitzler traf und mit ihm erste Klangexperimente unternahm. Die Erlebnisse als »Kriegskind« beschrieben ältere Akteure wie Roedelius immer wieder als einen wesentlichen Erfahrungsunterschied zu jüngeren Menschen, mit denen sie ab Ende der 1960er Jahre Musik machten. Auf die Ausbildung ihrer Identitäten hatte das allerdings weniger Auswirkungen, als man vielleicht vermuten würde: Nationales war in beiden Altersgruppen verpönt. So groß die Erfahrungsunterschiede auch waren, verstanden sich ältere wie jüngere Akteure des Krautrock gleichermaßen als Teil einer transnationalen Gemeinschaft Gleichgesinnter, keineswegs als spezifisch deutsche Musiker. Auch ein anderer Aspekt der personellen Zusammensetzung vieler Bands stand einer nationalisierenden Einordnung entgegen: Soul Caravan beispielsweise bestanden in den ersten Jahren ihres Bestehens zur Hälfte aus US-Amerikanern, auch Can hatten am Ende der 1960er Jahre zwei afroamerikanische Mitglieder sowie über das erste Drittel der 1970er Jahre einen japanischen Sänger, im letzten Drittel des Jahrzehnts schließlich zwei Bandmitglieder aus Ghana und Jamaika. Bei Amon Düül II spielte bis Anfang der 1970er Jahre ein britischer Musiker, der nicht zuletzt für den transnationalen Erfolg der Gruppe wichtige Verbindungen nach Großbritannien initiierte und unterhielt. Auch zahleiche transnationale Biographien bundesdeutscher Akteure geraten in der retrospektiven Betrachtung des Phänomens in den Blick, die sich als musikalisch prägend erwiesen. Roedeliusˈ Jahre in Südeuropa und Nordafrika etwa sind da zu nennen, aber auch eine Reihe weiterer Beispiele: Jaki Liebezeit von Can war die erste Hälfte der 1960er Jahre als professioneller Jazz-Schlagzeuger in Spanien, Edgar Froese von Tangerine Dream war als Mitglied einer Beat-Band einige Jahre in Spanien und Frankreich. Dieter Moebius etwa wuchs in der Schweiz, Belgien und Tunesien auf, bevor er 1969 Hans-Joachim Roedelius und Conrad Schnitzler kennenlernte und bei der Gruppe Kluster einstieg.86 „Seine Heimat sei überall sagt er, er sei Kosmopolit“87 hieß es wiederum von Michael Rother (Kraftwerk, NEU!, Harmonia), der als Sohn eines Lufthansa-Managers und einer Konzertpianistin in Großbritannien und Pakistan aufgewachsen war. Für den Krautrock zentrale Vertreter der Musikindustrie wie Siggi E. Loch, Peter Meisel oder Gerhard Augustin wiederum verbrachten 86
Vgl. eine Pressemitteilung von Sky Records, undatiert, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; vgl. auch Sounds 5/1975. Moebius war Mitglied von Kluster und Cluster sowie zahlreicher zentraler Projekte und Kooperationen des Krautrock.
87
Sounds 5/1975; dazu auch Selbstauskunft Michael Rother (undatiert, ca. 1978), KlausKuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; auch Buckley, Kraftwerk, S. 41.
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beruflich und persönlich prägende Jahre in den Vereinigten Staaten – sie gelten als wesentliche Mittler US-amerikanischer Managementmethoden und Umgangsformen in den bundesdeutschen Musikbetrieb und waren entscheidend am transnationalen Erfolg bundesdeutscher Popmusik beteiligt. Bemerkenswert ist diese Auflistung auch deswegen, weil transnationale Biographien und langfristige Auslandsaufenthalte in den 1960er Jahren noch weitaus ungewöhnlicher und seltener waren als heute; längst sind sie alltäglich geworden. Das Phänomen Krautrock war also, soweit bisher, gekennzeichnet durch eine große Altersspanne und unterschiedliche Erfahrungswelten, aber auch durch ein übergreifendes transnationales Selbstverständnis sowie ungewöhnlich starke transnationale Einflüsse und Verflechtungen. Auch die musikalische Sozialisation der Protagonisten war transnational geprägt, in ihren verschiedenen Ausprägungen allerdings in hohem Maße abhängig von lokalen Voraussetzungen und Gegebenheiten innerhalb der Bundesrepublik. Die verschiedenen Stile und Ausdrucksweisen des Phänomens Krautrock entwickelten sich wesentlich über lokale Rahmenbedingungen und unterhalb der nationalen Ebene. Zum einen waren viele spätere Musiker durch die Musikkultur der jeweiligen Besatzungstruppen beeinflusst, etwa durch das Radioprogramm der »Soldatensender«, aber auch durch gemeinsame musikalische Aktivitäten mit Soldaten oder als Musiker vor soldatischem Publikum.88 Manchmal waren es aber auch von der öffentlichen Hand geförderte und/oder auf wesentliche Initiative Einzelner entstandene Einrichtungen, die eine lokale Basis für eine bestimmte musikalische Ausrichtung legten: Ohne das Electronic Beat Studio in einer Musikschule West-Berlins oder das Studio für elektronische Musik des WDR in Köln beispielsweise wäre die Entwicklung des Krautrock mit Sicherheit anders verlaufen. Was die Musiker aus den lokal verschiedenen musikalischen Einflüssen machten, war dadurch zwar keineswegs festgelegt, aber ohne Zweifel wesentlich beeinflusst. Als musikalische Wurzeln des Krautrock gelten die angloamerikanische Popmusik, der Free Jazz und Teile der sogenannten »E-Avantgarde« wie Neue Musik, Minimalism oder Musique concrète.89 Besonders bei Nennung von Einflüssen aus der »E-Avantgarde« ist allerdings Vorsicht geboten, denn allzu oft wurden dahingehende Verbindungen schon zeitgenössisch, aber auch im Nachhinein konstruiert, um so die popmusikalischen Produkte durch entsprechendes name dropping – besonders beliebt: Karlheinz Stockhausen, György Ligeti, Iannis Xenakis, Terry Riley
88 89
Vgl. Stubbs, Introduction, S. 6. Zu den einzelnen Fällen später mehr. Einflüsse aus dem Jazz und der Avantgarde teilten die Krautrock-Akteure mit vielen experimentellen angloamerikanischen Gruppen und waren keineswegs exklusiv, vgl. Hopfgartner, Psychedelic Rock, S. 137; Haring, Heimatklang, S. 34f.
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oder John Cage – »aufzuwerten«.90 Darüber hinaus ist bei einem Versuch einer Aufdeckung musikalischer Wurzeln des Krautrock nicht nur die »Autonomie des empfangenden Subjekts« im individuellen Fall zu beachten, sondern auch individuelle Mischungsverhältnisse verschiedener musikalischer Einflussfaktoren.91 Nicht zuletzt konnten sich die musikalischen Orientierungen innerhalb des Krautrock im Lauf der Zeit ändern, ausdifferenzieren oder in eine bestimmte Richtung verfestigen. Die wichtigste und wirkmächtigste musikalische Wurzel des Krautrock ist jedenfalls ohne Zweifel die Popmusik angloamerikanischer Prägung.92 Eine Vielzahl seiner Protagonisten unternahm erste musikalische Gehversuche mit Imitationen und Cover-Versionen angloamerikanischer Interpreten. Dazu gehörte beispielsweise der spätere »Elektroniker« Klaus Schulze als Schlagzeuger, bis er nach eigener Aussage von Rockmusik „die Nase voll“93 hatte. Michael Rother und Wolfgang Flür (Kraftwerk) spielten gegen Ende der 1960er Jahre zusammen in einer Schülerband Cover-Versionen, mit denen sie auch erste Auftritte auf Tanzabenden absolvierten.94 Auch bei Agitation Free stand zu Beginn die Imitation angloamerikanischer Popmusik auf dem Programm,95 ebenso bei Ash Ra Tempel96 oder – wie er90
Die Anlehnung der Popmusik an die »E-Avantgarde« mache lediglich einen Elitismus sichtbar, dem jegliches Verständnis für die „progressiven Leistungen“ der Popmusik selbst fehle, so zeitgenössisch der Musikwissenschaftler Siegfried Borris in Borris, Popmusik, S. 46.
91
Besonders für die Gruppe Can wurde dieses Phänomen oft beschrieben, vgl. etwa Bussy/Hall, Can, S. 9; Hermann Haring beschrieb Cans erstes Album als „Soundströme, die sich verdichten und spreizen und instabile Klangfiguren herausbilden. Einflüsse von überallher kommen zusammen: elektrischer Blues […], sphärische Westcoast-Sounds […], Rock ˈnˈ Roll Phrasen, schwermetallene Gitarrensoli, elektronische Effekte, rhythmisch vertrakte Schübe der Perkussion, atonale Gitarrenläufe über VoodooRhythmen, alles roh, gewaltig […], ein Rausch, ein Lavastrom, ein Schritt ins Nichts. Ein ungeheures Spektrum, mit dem die Kölner Bands souverän umgehen konnte,“ vgl. Haring, Heimatklang, S. 36.
92
Vgl. Einbrodt, Krautrock; Anderton, Progressive Rock, S. 425; Seago, KraftwerkEffekt, S. 88; Kroes, Good Life; Cohen, Popular Music, S. 29–34; Wagnleitner, Cultural Exchange, S. 165.
93
Selbstdarstellung auf einem Briefbogen der Klaus Schulze Productions (»Coordinator: Klaus D. Müller«), Dezember 1977, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; auch Selbstauskunft Klaus Schulze (undatiert, etwa Mitte der 1970er Jahre), Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert; dazu auch Allen, Klaus Schulze, S. 27.
94
Buckley, Kraftwerk, S. 41.
95
Vgl. Ulbrich, Lüül, S. 14–30.
96
Vgl. ein Interview in Sounds 2/1972.
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wähnt und neben anderen –Tangerine Dream. Oft als wesentlicher Einfluss genannte Gruppen waren die britischen Pink Floyd sowie Frank Zappa and the Mothers of Invention, letztere hatten vor allem auch mit ihrer Anwesenheit auf den Internationalen Essener Songtagen 1968 unter den anwesenden bundesdeutschen Gruppen einen prägenden Eindruck hinterlassen. Darüber hinaus wurden zeitgenössisch besonders US-amerikanische Bands wie Velvet Underground, Jefferson Airplane, The Doors, Jimi Hendrix, aber auch Bob Dylan oder die britischen Hapshash And The Coloured Coat, die Rolling Stones oder The Who als wesentliche popmusikalische Einflüsse genannt. Zu Amon Düüls Vorbildern gehörten The Grateful Dead, auch im Hinblick auf ihr Selbstverständnis als Musik-Kommune.97 Die Liste ließe sich für nahezu alle späteren Protagonisten des Krautrock fortsetzen. Der enorme Einfluss angloamerikanischer Popmusik wird dabei ebenso klar wie die das zunehmende Unbehagen gegen Ende der 1960er Jahre, weiterhin die Vorbilder zu kopieren. Die „Attraktion und Abwehr“98 bzgl. angloamerikanischer Popmusik beschrieb Ax Genrich, von 1970 bis 1974 Gitarrist bei der Band Guru Guru, im Jahr 1972 so: „Ganz früher habˈ ich mal Skifflemusik gemacht, so mit Waschbrett und Banjo […]. Angetörnt hat mich zuerst einmal in Berlin das »Zodiac«, wo eine Zeit lang ganz gute Gruppen zu hören waren. Dann habe ich Free Jazz gehört, später die heutigen Cluster-Leute [HansJoachim Roedelius und Dieter Moebius, A.S.]. Ich habe damals versucht, vom bloßen Kopieren wegzukommen und die gehörte Musik auf meine Technik zu übertragen. Sounds, Klänge haben mich damals sehr interessiert. In diesem Stadium bin ich zu Guru Guru gekommen. Ich kam mit der Vorstellung, daß Guru Guru eine Gruppe sei, die frei spielte. […] Ich habe erkannt, daß ich mich auf meinen Background beziehen muß. Und dieser Background ist eben Rockmusik. […] Jimi Hendrix ist für mich als Gitarrist die wichtigste Inspiration. […] Hendrix und John Coltrane sind die wichtigsten Musiker der letzten zehn Jahre.“99
Neben der Popmusik war es – das klang bei Genrich bereits an – vor allem der Jazz, der die Musiker des Krautrock geprägt hat.100 In den frühen 1960er Jahren hatte sich 97
Die Verbindungslinien von Amon Düül zur US-amerikanischen Gegenkultur und dem Psychedelic Rock sind besonders zahlreich, vgl. zeitgenössisch beispielsweise Song Nr. 3/1969, auch Sounds Nr. 14/1969.
98 99
Vgl. den Titel des Sammelbandes Linke/Tanner (Hg.), Attraktion und Abwehr. Zitiert nach Sounds 5/1972. Zu den Vorbildern Guru Gurus vgl. Mani Neumaier in Schröder, Rock, S. 111–113; vgl. ein ausführliches Interview mit der gesamten Gruppe in Flash 5/1973; außerdem Interviews und eine Selbstdarstellung, undatiert, KlausKuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
100 Enge musikalische Verbindungslinien zwischen Jazz und Krautrock sah bereits Borris, Popmusik, S. 56f.
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Jazz weitgehend etabliert und war, freilich in seiner konservativen, braven und »desexualisierten« Form, als allgemeines »Kulturgut« anerkannt. Den jungen Akteuren der Pop-Avantgarde erschien er am Ende der 1960er Jahre als »verkrustet«, für Rolf-Ulrich Kaiser etwa war »klassischer« Jazz längst „in den Konsumprozeß bürgerlicher Kunstverwalter integriert“101. Dem freien Improvisationsstil des Free Jazz hingegen kam auch für die Pop-Avantgarde des Krautrock eine „Schlüsselrolle“102 zu. Jaki Liebezeit(Can), Olaf Kübler und Lothar Meid (Amon Düül II) oder Mani Neumaier und Uli Trepte (Guru Guru) spielten jahrelang als professionelle Jazzer in namhaften Formationen mit europäischen und US-amerikanischen Musikern; ab Mitte der 1960er Jahre war Liebezeit Schlagzeuger in dem zeitweise von Horst Lippmann produzierten Manfred Schoof Quintett, Meid spielte unter anderem mit Gunter Hampel103 sowie zusammen mit Udo Lindenberg und Olaf Kübler bei Doldingers Passport, Neumaier und Trepte im Irene Schweizer Trio, Neumaier und Liebezeit wiederum in Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra.104 Die Beispiele professioneller Jazzmusiker, die am Ende der 1960er Jahre den Schritt zum Krautrock und damit zur Popmusik vollzogen, sind zahlreich. Als neben Popmusik und Free Jazz dritte musikalische Inspirationsquelle des Krautrock gilt die sogenannte »E-Avantgarde«. Neben einer Vielzahl von retrospektiven Bezugnahmen, die hier weniger eine Rolle spielen sollen, erweisen sich dabei vor allem die zeitgenössischen, personellen und konzeptionellen Verbindungslinien als interessant.105 Unbestritten ist zunächst, dass sich in »E-Avantgarde« und Popmusik – um in der zeitgenössischen Dichotomie zu bleiben – im Laufe der 1960er und 1970er Jahre gemeinsame Entwicklungsmuster feststellen ließen, und dass diese Entwicklungsmuster immer auch eine politische Dimension besaßen. Experimentelle Popmusik, so etwa der Musikwissenschaftler Siegfried Borris Mitte der 1970er Jahre, sei vom „Hauch des Fatalen, Kritischen, Provokanten“106 umgeben, so „soziales Engagement oder politische Parteinahme veränderten den Charakter der Darbietungen formal und inhaltlich. Durch ironisches Zitieren oder groteskes Montieren entstanden Spiegelungen mit unangemessenen Perspekti101 Kaiser, Pop-Musik, S. 22. 102 Roman Bunka, zitiert nach Dedekind, Krautrock, S. 41. 103 Vgl. Sounds 6/1971. 104 Mani Neumaier und Jaki Liebezeit, beide am Schlagzeug, erscheinen zusammen auf dem Cover des Albums Globe Unity aus dem Jahr 1967. 105 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beispielsweise (als frühes Beispiel) wurden die »Elektroniker« des Krautrock, namentlich Popol Vuh, Tangerine Dream, Kraftwerk und Klaus Schulze, in einer Reihe mit den Minimalisten als „nachwagnerianisch [mit] mystizistischen Gesamtkunstwerk-Ansätzen“ charakterisiert, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.06.1979. 106 Borris, Upperground, S. 175.
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ven […] und in dieser respektlosen Haltung trifft Pop sich stilistisch mit einigen Trends in der avancierten Musik. […] Die Konfrontation vermittelt Aufschlüsse für beide Seiten.“ Die Aneignung von Elementen der »E-Avantgarde« durch die Popmusik führte im Lauf der 1960er und 1970er Jahre dazu, dass „die Kompositionen in einen neuen semantischen Kontext“107 gestellt wurden; die Elemente wurden „dekontextualisiert, angeeignet“ und erhielten dadurch „einen neuen funktionalen Zusammenhang“. Die Aneignung fanden in der Praxis in einer Vielzahl von verschiedenen Mischformen und Abstufungen statt. Karlheinz Stockhausen spielte in Zusammenhang mit den konzeptionellen Überschneidungen von »E-Avantgarde« und Popmusik eine zentrale Rolle, war in weiten Teilen der Popmusik-Szene „als Vorbild anerkannt“108. Insbesondere sein Interesse für elektronische Instrumente und für populäre Musikformen aus aller Welt, aber auch die Wahrnehmung von Musik als »kosmisches Ereignis« boten Anknüpfungspunkte für Protagonisten der »neuen« Popmusik.109 Am Ende der 1960er Jahre hatte er während seiner Lehrtätigkeit an der University of California Bekanntschaft mit Gruppen wie The Grateful Dead oder Jefferson Airplane gemacht, die sich für alle Seiten offenbar als prägend herausstellte.110 Auch die Bewunderung Stockhausens durch die Beatles ist zu einem oft erwähnten Teil der Popgeschichte geworden.111 Im vorliegenden Fall sind Stockhausens Verbindungslinien zum Krautrock von Interesse, und dabei rückt insbesondere die Gruppe Can in den Mittelpunkt.112 Dessen Gründungsmitglied Holger Czukay war Student Stockhausens und Mitarbeiter des Studios für elektronische Musik des WDR in Köln, das von Stockhausen seit 1963 geleitet wurde. Die Zusammenarbeit erwies sich für Czukays musikalische Entwicklung als prägend; aus dieser Zeit stammt auch eine Aufnahme mit seinem Kollegen Rolf Dammers, die im Jahr 1969 (also bereits nach der Gründung von Can) unter dem Namen Canaxis 5 veröffentlicht wurde. Das Verhältnis zwischen Stockhausen und Czukay war auch persönlich sehr
107 Hohmaier, Musikalischer Transfer, S. 182f. 108 Der Musikmarkt 7/1973. 109 Vgl. Haring, Heimatklang, S. 34f.; ähnlich auch Prendergast, Ambient Century, S. 51; Stockhausens Einfluss auf die Popmusik wurde auch mit seiner grundsätzlich antitraditionalistischen Haltung und seinem Charisma erklärt, vgl. Hohmaier, Musikalischer Transfer, S. 184f. 110 Vgl. Kramer, Karlheinz in California. 111 Vgl. Prendergast, Ambient Century, S. 51. Stockhausen ist auf dem Cover des BeatlesAlbums Sgt. Pepperˈs Lonely Hearts Club Band aus dem Jahr 1967 abgebildet. 112 Vgl. dazu bereits Borris, Popmusik, S. 3f.
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eng, sein Bandkollege Irmin Schmidt beschrieb es als „echt väterliches LehrerSchüler-Verhältnis“113. Irmin Schmidt wiederum hatte Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in Dortmund und Essen Musik studiert.114 Nach Abschluss des Studiums arbeitete er als Dirigent des Rundfunksinfonieorchesters des NDR in Hannover und übernahm 1965 das Amt des Kapellmeisters im Aachener Stadttheater. 1966 flog Schmidt als Vertreter des Deutschen Musikrats nach New York, um an einem Dirigentenwettbewerb teilzunehmen – eine nach diversen Verlängerungen letztendlich mehrmonatige Reise, die seine künstlerische Perspektive grundlegend veränderte.115 In New York lernte er eine Reihe namhafter Künstler und Musiker kennen; insbesondere John Cage, zu dem er auch persönlichen Kontakt aufbaute, beeindruckte Schmidt zutiefst: „Ich war auch von dem Typen selber so angetan, bin sowas auf Cage abgefahren damals, und ich bins immer noch“116, so Schmidt 1977. Neben diesen Begegnungen war Schmidt von der Offenheit und Lockerheit des musikalischen Betriebs in New York fasziniert, hinzu kam aber auch der für ihn neue popmusikalische Einfluss von Gruppen und Interpreten wie Jimi Hendrix, Frank Zappa oder Velvet Underground.117 Die von ihm so empfundenen Zwänge und »Denkverbote« der akademischen Musikszene in der Bundesrepublik bereiteten ihm nach seiner Rückkehr zunehmendes Unbehagen, er entwickelte eine regelrechte Abneigung gegenüber dem »bürgerlichen« Musikbetrieb: „Ich habe Symphonie-Konzerte dirigiert, Klavierabende gegeben, Kammermusik gemacht und neue Musik gespielt. Im Radio und sonstwo. Bis ich das Gefühl hatte, das geht so nicht weiter, das hat eigentlich gar nichts mit dem zu tun, was ich lebe. An einer Oper Kapellmeister zu sein, ist eine tote Beschäftigung. Da kann man genausogut Versicherungsbeamter sein. Das ist, wie wenn man Vitrinen putzt oder Sammeltassen abstaubt. Mit der Zeit ist man es eben satt. Bei der Popmusik bestimme ich alle Sachen selber, und diese haben auch unmittelbar etwas mit dem Leben zu tun. Popmusik ist nicht irgendeine Institution, in der ich einfach 113 Irmin Schmidt in Fachblatt 10/1977; Can wehrten sich allerdings des Öfteren gegen eine in ihren Augen allzu konstruierte Verbindung zwischen Stockhausen und ihrer Musik, vgl. etwa Melody Maker, 27.01.1973; auch New Musical Express, 21.06.1975 und Sounds 9/1976. 114 Vgl. dazu etwa ein ausführliches Interview Schmidts in Fachblatt 10/1977. 115 Reynolds, Interview; auch Wagner, Can, S. 66f. 116 Irmin Schmidt im Fachblatt 10/1977. 117 Zum Einfluss US-amerikanischer Minimalisten auf die Pop-Avantgarde vgl. etwa Ross, Listening, S. 474–510. Wie später bei Can waren auch Mitglieder von Velvet Underground aus der »E-Avantgarde« in die Popmusik gewechselt; sie gelten nicht zuletzt auch wegen ihrer vielfältigen Verbindung mit der Pop-Art (insbesondere Andy Warhol) als eine der einflussreichsten Formationen der Popgeschichte.
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funktionieren muß, sondern sie ist ein Ausdruck der Form, wie ich lebe, mich gegen etwas wende, mich für etwas ausspreche. Es ist nicht so entfremdet vom übrigen Leben“118.
Unmittelbarkeit, Freiheit, Selbstbestimmung: Popmusik als »authentische« Alternativen zum »entfremdeten«, bürgerlich-akademischen Kulturbetrieb waren es, die Schmidt am Ende der 1960er Jahre dazu bewogen, aus der gesicherten Existenz in die materiell höchst prekäre Situation eines Popmusikers zu wechseln. Nicht zuletzt das Beispiel Irmin Schmidts zeigt, wie eng der transnationale Austausch von Ideen, Konzepten und Personen mit der Entwicklung eines distinkten popmusikalischen Stils in der Bundesrepublik verwoben war. Musikalisch basierte Krautrock auf der »neuen« Popmusik, dem Free Jazz und der »E-Avantgarde«: hybride Musikformen, als deren Gemeinsamkeiten im weitesten Sinne die Unzufriedenheit mit dem Etablierten und das Aufbrechen von Konventionen gesehen werden können. Diese Musikformen wurden, auch wenn nach wie vor klare lokale und regionale Zentren auszumachen waren, am Ende der 1960er Jahre transnational produziert und insbesondere rezipiert. Ebenfalls zunehmend transnational und auf das Engste verwoben mit Musik waren die neuartigen Lebensformen der Global Sixties; das gilt nicht zuletzt auch für den Krautrock, der in dieser Hinsicht fest in den zeittypischen Kontext der transnationalen Gegenkultur eingebunden war.119 Für einen großen Teil seiner Akteure verbanden sich „individuelle Selbstverwirklichung mit einem politischen Anspruch und einem gemeinsamen Projekt“120 insbesondere in der Gründung von MusikKommunen, die sich als zentrale Kommunikationsräume des Krautrock etablierten und eine zentrale „gegenkulturelle Funktion“121 erfüllten. Die Musik-Kommunen des Krautrock gehörten mehrheitlich zu jenen neuen Wohnformen, die ihr Einkommen „ausschließlich aus der gemeinsamen Arbeit des Kollektivs“122 bezogen. Das „vermeintlich authentische Dasein“123 in den Musik-Kommunen basierte auf engen sozialräumlichen und kommunikativen Strukturen, die gemeinschaftsbildend wirkten und auch emotional enge Bindungen zur Folge hatten, gängige Probleme wie eine hohe Fluktuation der Mitglieder oder diverse Alltagskonflikte – wie zu sehen sein wird – aber nicht verhindern konnten. Rolf-Ulrich Kaiser als zentraler Akteur des Krautrock widmete eine seiner zahlreichen Publikationen nicht zufällig dem kreativen Potential und den transnationalen und translokalen Verflechtungen 118 Irmin Schmidt zitiert nach Hoffmann, Popmusik, S. 205. 119 Zur „Idee und Praxis alternativen Wohnens” ab Ende der 1960er Jahre vgl. Reichardt, Authentizität, S. 351-498. 120 Siegfried, Time, S. 648. 121 Reichardt, Authentizität, S. 393f. 122 Ebd., S. 394. 123 Ebd., S. 433.
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von Kommunen am Ende der 1960er Jahre;124 Kaisers großer Traum war die Errichtung einer großen, urbanen Pop-Kommune in der Bundesrepublik, in der Wohnen und Arbeiten, Übungs-, Aufnahme- und Konzerträume unter einem gemeinsamen Dach Platz finden sollten. Dazu kam es jedoch nie. Das Gros der Musik-Kommunen des Krautrock gründete sich ab Anfang der 1970er Jahre in ländlicher Umgebung. Angesichts der Tatsache, dass sich Landkommunen in der Bundesrepublik im Vergleich zu den Vereinigten Staaten erst sehr spät, d.h. im weiteren Verlauf der 1970er Jahre zu verbreiten begannen und „in keiner Hinsicht […] an die Entwicklung der bewunderten US-Kommunen“125 heranreichten, stellten die Akteure des Krautrock die bundesdeutsche Avantgarde ländlicher Wohnkollektive.126 Die konkreten Bedingungen konnte sich dabei allerdings erheblich unterscheiden. Die Band Faust beispielsweise bezog zu Beginn der 1970er Jahre ein ehemaliges Schulhaus zwischen Hamburg und Bremen; das Haus war unter erheblichem finanziellen Aufwand der Schallplattenfirma um- und ausgebaut worden, hatte einen Wohnbereich und ein professionell eingerichtetes Aufnahmestudio erhalten.127 Das professionelle Umfeld, zu dem etwa auch ein der Gruppe rund um die Uhr zur Verfügung stehender Tonmeister gehörte, erscheint im Rückblick ausgesprochen luxuriös und nicht gerade »typisch« für die MusikKommunen des Krautrock. Die programmatische Ausrichtung allerdings basierte auf Idealen wie Gleichberechtigung, Ganzheitlichkeit und Zusammengehörigkeit, insbesondere auch (und das ist hier besonders wichtig) in Hinblick auf die gemeinsame musikalische Produktion – bis hin zu der bemerkenswerten Tatsache, dass jedes Bandmitglied über spezialangefertigte Gerätschaften den Sound und die Lautstärke der jeweils anderen Musiker beeinflussen konnte. Unter im Gegensatz zu Faust wirtschaftlich höchst prekären Verhältnissen, aber in der grundsätzlichen Ausrichtung ähnlich lebte und arbeitete die bereits erwähnte »Fabrik-Kommune« Xhol Caravan; auch das in der Nähe von Heidelberg in einem alten Gasthof gegründete Wohnkollektiv Guru Guru hatte oft enorme wirtschaftliche Probleme, trotzdem hielt man an der Programmatik des Verbots von Gelderwerb außerhalb der kommunalen Strukturen fest.128 Ein Wohnkollektiv bildeten
124 Vgl. Kaiser, Fabrikbewohner. 125 Reichardt, Authentizität, S. 461. 126 Im Laufe der 1970er Jahre wurden Musik-Kommunen auf dem Land in der Bundesrepublik populär; Ende 1974 fanden sich etwa in der Musiker-Fachzeitschrift Fachblatt Anleitungen und Tipps zum Aufbau einer Musik-Kommune auf dem Land, vgl. Fachblatt 11/1974. 127 Vgl. Wilson, Faust. 128 Vgl. Mani Neumaier in Pop 2000. 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland, Teil 5 (D 1999).
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auch die Musiker von Cluster und Harmonia, die sich auf einem einsam gelegenen, Jahrhunderte alten Gebäude im Weserbergland einrichteten. Die in der Bundesrepublik früheste und zeitgenössisch bekannteste MusikKommune bildete sich allerdings bereits 1967 als Amon Düül in München. Nach der Spaltung der Kommune auf den Essener Songtagen Ende 1968 in einen Münchner und einen West-Berliner Teil bewohnte die nun Amon Düül II genannte, in München verbleibende Hälfte nach mehreren Umzügen innerhalb der Stadt wie erwähnt zunächst ein Haus am Ufer des Ammersees, bevor sie in eine geräumige Gründerzeitvilla bei Landshut umzogen. Die Villa avancierte für kurze Zeit zu einem Anziehungspunkt der Gegenkultur und zum Objekt unzähliger Reportagen und Berichte. Eskalierende Alltagskonflikte und die enorme Fluktuation der Mitglieder beeinträchtigten die musikalische Entwicklung der Musik-Kommune massiv – allerdings war genau dieses Umfeld auch der Nährboden der erfolgreichsten und innovativsten Alben. Nach dem Ende des gemeinsamen Zusammenlebens bei Landshut bestanden Amon Düül II noch jahrelang als »normale« Band weiter, verschwanden aber zunehmend aus dem öffentlichen Fokus und in der musikalischen Bedeutungslosigkeit. Der andere Teil Amon Düüls, der nach den Essener Songtagen zunächst nach West-Berlin gegangen war, kam 1969 wieder zurück nach München; der „versprengte Rest“129 zog in einen alten Gewerbehof im Münchner Stadtteil Schwabing und baute dort (im Gegensatz zu Amon Düül II in urbanem Umfeld) ein „unkonventionelles, unkommerzielles Kommunikations- und Action-Zentrum“130 auf, das schnell zum Anlaufpunkt der Gegenkultur wurde. In einer alten Halle fanden Konzerte statt, unter anderem traten dort auch andere Musik-Kommunen des Krautrock auf. Mit steigendem Bekanntheitsgrad und zunehmendem Interesse von Besuchern aus ganz Europa wurde das »Action-Zentrum« zu einem Ärgernis für die Münchner Behörden; nach mehreren Razzien durch die Polizei wurde 1969 ein Räumungsbefehl vollstreckt und der Gebäudekomplex anschließend abgerissen. Nur wenige Gruppen des Krautrock entschieden sich bewusst gegen das gemeinsame Leben und Arbeiten einer Musik-Kommune. Bei Can etwa stand die Bildung einer Kommune nie zur Debatte; die Bandmitglieder lebten getrennt, umso wichtiger jedoch war die Arbeit in einem gemeinsam aufgebauten und gehegten Raum. Das Inner Space Studio, das zunächst im Schloss Nörvenich, danach in einem ehemaligen Kino bei Köln untergebracht war, wurde nicht nur als kreativer Raum von Can, sondern als ein Ursprungs- und zentraler Produktionsort bundesdeutscher Popmusik schon zeitgenössisch mythisch aufgeladen. Zum Kollektiv Can gehörte über den geteilten Arbeitsort hinaus gleichberechtigte Arbeitsbeziehungen, gemeinsamer Besitz an »Produktionsmitteln« (d.h. der Aufnahme- und Instrumententechnologie) und eine gemeinsame Kasse, insbesondere aber auch eine enge 129 Underground 11/1969. 130 Ebd.
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emotionale Bindung untereinander. Trotz getrennter Wohnungen wiesen die Lebens- und Arbeitsformen Cans also durchaus eine Reihe von Charakteristika der Musik-Kommunen des Krautrock auf. Das unterschied Can beispielsweise von Kraftwerk, die (nicht nur dahingehend) eine Sonderrolle einnahmen. Auch in ihrem Falle war zwar der auf einem Hinterhof im Düsseldorfer Bahnhofsviertel befindliche, Kling Klang Studio genannte Arbeitsort im Laufe der 1970er Jahre Dreh- und Angelpunkt der musikalischen Produktion; ein Teil der Gruppe (die Musiker Wolfgang Flür und Karl Bartos sowie der Designer Emil Schult) lebten zeitweise auch gemeinsam in einer alten Villa am Ufer des Rheins. Dabei handelte es sich allerdings um eine pragmatische Wohngemeinschaft ohne jeglichen gesellschaftsverändernden oder politischen Anspruch,131 und auch sonst hatten Kraftwerk nichts mit der beschriebenen Art des Kollektivgedankens zu tun: keine gemeinsame Kasse, keine gleichberechtigten Arbeitsbeziehungen, sondern klare Hierarchien innerhalb der Gruppe, kein gemeinsamer Besitz von »Produktionsmitteln«, strikte Trennung von Arbeit und Freizeit. Zu den Orten, an denen wie etwa bei Can einzelne Versatzstücke kommunentypischer bzw. gegenkultureller Lebens- und Arbeitsformen äußerst erfolgreiche Anwendung fanden, gehörten die beiden für den Krautrock zentralen Tonstudios von Dieter Dierks und Conny Plank. Dierks richtete sein Studio in dörflich-ländlichem Umfeld bei Köln ein, das neben dem Tonstudio auch Wohnräume für Musiker bereithielt; die offenbar erstklassige Bewirtung durch Dierksˈ Mutter verschaffte den Studios eine familiäre Atmosphäre, die in Musikerkreisen schnell einen legendären Ruf genoss. Ähnliches galt für das wenige Jahre später ebenfalls bei Köln, und ebenfalls in dörflicher Umgebung errichtete Studio von Conny Plank: Der umgebaute Bauernhof beherbergte das Tonstudio im ehemaligen Schweinestall, und auch hier wurden gemeinsame Essen und gemeinsame Stunden in den Aufnahmepausen von den Beteiligten besonders geschätzt. Die familiäre Atmosphäre wurde immer wieder als Quelle der Inspiration und Kreativität beschrieben, die entscheidenden Einfluss auf die Produktionen gezeitigt habe. Von der zentralen Rolle der beiden Studios von Dierks und Plank für den Krautrock, die weit über diese Aspekte hinaus in einer Vielzahl von Innovativen Ansätzen gründete, wird später die Rede sein; die für Tonstudios sonst ungewöhnliche Umgebung war sicherlich ein wesentlicher Grund für die Attraktivität, die sie weit über den Krautrock hinaus im Laufe der 1970er und 1980er Jahre zu Anlaufpunkten transnationaler Pop-Prominenz machte. Letztendlich wird bei einem Blick auf die Lebens- und Arbeitsformen des Krautrock das »gängige Motivbündel individualistischer Zielsetzung« postindustrieller Gesellschaften sowie des Krautrocks avantgardistische Rolle bei der Ausbildung neuer Lebens- und Wohnformen deutlich sichtbar. Dabei standen zeittypische gegenkulturelle Ideale wie Gemeinschaft, Kollektivität, Egalität oder Ganzheitlich131 Vgl. dazu ausführlich den autobiographischen Bericht in Flür, Roboter.
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keit im Zentrum, die allesamt als Ausdruck des Strebens nach einem »authentischen Selbst« bzw. »authentischen« Lebensformen gelesen werden können. Gleichzeitig gaben diese Lebensformen den sozialräumlichen Kontext ab, innerhalb dessen sich das Phänomen Krautrock entwickelte; ein weiterer wesentlicher Baustein dieses sozialräumlichen Kontexts wird im folgenden Kapitel in Form früher Festivals und Clubs vorgestellt. Daneben stechen die multinationale Zusammensetzung der Gruppen, die vergleichsweise häufigen transnationalen Erfahrungshintergründe, insbesondere aber das trotz der großen Altersunterschiede gleichermaßen transnationale Selbstverständnis der Protagonisten ins Auge, die Krautrock als frühes und deutliches Zeichen der zunehmenden Transnationalisierung der Kulturproduktion in der Bundesrepublik erscheinen lassen. Transnationaler Austausch war nicht zuletzt auch in musikalisch-gestalterischer Hinsicht eine Grundvoraussetzung des Krautrock. Seine eklektischen musikalischen Wurzeln waren keineswegs exklusiv; personelle und konzeptionelle Verknüpfungen zwischen Popmusik, »E-Avantgarde« und Free Jazz waren in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein weit verbreitetes Phänomen. Im Falle des Krautrock allerdings waren sie besonders eng, was nicht zuletzt historisch bedingt war: Die Protagonisten des Krautrock verstanden sich als Teil der transnationalen Gegenkultur und der Global Sixties, lehnten nationale Bezüge jeder Art scharf ab. Auch der musikalische Rückgriff erfolgte auf Genres und Bereiche, die jeder Nähe zur deutschen NSVergangenheit oder Deutschtümelei unverdächtig erschienen: räumlich außerhalb Deutschlands, oder zumindest zeitlich vor 1933.132 Der musikalische Eklektizismus führte nicht zuletzt dazu, dass er im Zentrum der Auseinandersetzungen um die zunehmende Unklarheit der überkommenen kulturellen Dichotomie stand. Hervorzuheben ist darüber hinaus insbesondere die »Attraktion und Abwehr«, die sowohl Konsum als auch die Imitation angloamerikanischer Popmusik unter den Protagonisten des Krautrock auslöste. Während die spezifischen musikalischen Prägungen wesentlich von den jeweiligen lokalen Voraussetzungen innerhalb der Bundesrepublik abhängig war, teilten alle Protagonisten des Krautrock den Wunsch, eigene musikalische Ausdrucksweisen zu entwickeln; sich von den Einflüssen also abzusetzen, gleichzeitig aber auch auf sie aufzubauen. Diese Dialektik ist sicher einer der wesentlichen Unterschiede im Vergleich zu den Produktionsbedingungen und deren Voraussetzungen in den beiden angloamerikanischen Kernländern popmusikalischer Produktion in den 1960er und 1970er Jahren. 132 Dazu gehörten Kraftwerk, die sich lokal verorteten, nationale Konnotationen aber ablehnten: „Wir machen Heimatmusik aus dem Rhein- und Ruhrgebiet […]. Wir gehören zu den ersten, die da weitermachen, wo unsere Kultur der Zwanziger abgerissen ist“, so Ralf Hütter, zitiert nach einer Pressemitteilung der Firma EMI zum Erscheinen des Albums Trans Europa Express (undatiert, ca. 1977), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
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K OMMUNIKATIONSRÄUME : V ON F ESTIVALS
UND
C LUBS
„Die Zauberformel für die Massenveranstaltungen der neuen Pop-Musik heißt »Open Air Concert« […] Rauchen, Trinken, Love-Making.“133 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1970
„Wo diese Massenveranstaltungen der Pop-Generation stattfinden, bestimmt plötzlich eine Minderheit das Bild einer Stadt. Mit Schlafsäcken, Zelten und Luftmatratzen, in Parkas, Jeans und Tennisschuhen, in Maximänteln oder abgerissenen Abendkleidern, mit bunten Decken um den Körper und Stirnbändern um den Kopf, ziehen die Pop-Pilger auf die Parkwiesen und Stadionrasen“134, so der Radio-DJ Raoul Hoffmann Anfang der 1970er Jahre. Szenen wie diese spielten sich zu jener Zeit bereits bis in die hintersten Winkel der Bundesrepublik ab, Popfestivals hatten sich innerhalb weniger Jahre als »Massenveranstaltungen der Pop-Generation« etabliert. Die Besucher ließen sich weder von schlechtem Wetter, noch von oft mangelnder Organisation oder hohen Preisen von einem Besuch abhalten; auf der Suche nach Gemeinschaft Gleichgesinnter und einem »echten«, »authentischen« Konzerterlebnis wurden Festivals zu zentralen Orten der „sub- oder gegenkulturellen Vergemeinschaftung, die Raum für Kommunikation und gemeinsame Praxis boten“135. Als Kommunikationsraum waren sie jedoch nicht nur für das Publikum, sondern insbesondere auch für die auftretenden Bands und Interpreten, ja für die gesamte Produzentenseite der Popmusik von herausragender Bedeutung. Das erste bundesdeutsche Popfestival fand im September 1968 in Essen statt. Die Internationalen Essener Songtage von 1968, so der offizielle Titel, erfuhren bereits zeitgenössisch große Aufmerksamkeit und sind heute das bestdokumentierte und am gründlichsten erforschte Festival der bundesdeutschen Popgeschichte.136 Die ehrenamtlich und angesichts der strukturellen Voraussetzungen erstaunlich professionell organisierte Veranstaltung war mit 40.000 Besuchern das bis dato größte Popfestival Europas und die „erste und größte Manifestation des kontinentaleuropä-
133 Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.06.1970. 134 Hoffmann, Popmusik, S. 83. 135 Siegfried, Time, S. 678; auch Reichardt, Authentizität, S. 602f. 136 Vgl. vor allem Mahnert/Stürmer, Essener Songtage; Siegfried, Time, S. 601–623; auch Brown, Essener Songtage; Brown, Global Sixties, S. 164-169; Dedekind, Krautrock, S. 59-66; Husslein, Essener Songtage. Interessantes Archivmaterial: Kabarettarchiv Mainz, Bestände LN H 6.1 bis 6.7; Stadtarchiv Essen, Bestände 854/1174, 1420 und 1616, sowie 1048/1006 bis 1008.
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ischen Underground“137. Angesichts der Verschmelzung außerordentlich heterogener, transnationaler Einflüsse waren die IEST 68 „die bedeutendste Veranstaltung der westdeutschen »Counterculture« in den späten sechziger Jahren“138; gemeinsamen Auftritte früher Bands des Krautrock mit professionellen Interpreten aus den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich wirkten tief auf ihre weitere musikalische Entwicklung zurück. Die Songtage waren der „Start der deutschen Popmusik“139 und ohne Zweifel „wegbereitend“140 für die Entstehung des Krautrock: Gruppen wie Amon Düül, Tangerine Dream, Soul Caravan und The Guru Guru Groove spielten ihre ersten Konzerte vor großem Publikum, es bildeten sich professionelle Netzwerke und es kam zu ersten Schallplattenverträgen. Zudem betrat „der wichtigste Impresario der deutschen Popkultur“141 und treibende Kraft hinter dem Phänomen Krautrock, Rolf-Ulrich Kaiser, als Hauptorganisator und Ideengeber der Songtage die große Bühne, die er etwa sechs Jahre später so abrupt verlassen sollte. Die Vorbereitungen begannen ein knappes Jahr zuvor. Ende 1967 gründete sich die Arbeitsgemeinschaft IEST 68, die neben Kaiser unter anderem aus Tom Schroeder, Reinhard Hippen, Martin Degenhardt, Henryk M. Broder und Bernd Witthüser bestand. Auf Essen als Austragungsort war die Wahl aus mehreren Gründen gefallen: Die Stadt lag zentral und war gut erreichbar, ihr industrieller Charakter bot zudem die gewünschte Umgebung, um die in scharfer Abgrenzung zu den jährlichen Folk-Festivals auf der Burg Waldeck proklamierte »Urbanisierung« des Festival-Gedankens in die Tat umzusetzen. Ausschlaggebend für die Wahl Essens war nicht zuletzt aber auch ein „Klima der Offenheit“142 auf Seiten der Stadt, denn das Festival entstand „zwar aus privater Initiative, aber es war in seiner Organisationsstruktur verankert sowohl in der staatlichen Sphäre als auch in den privaten und öf-
137 Husslein, Essener Songtage, S. 81; die Songtage stellten „eine neue Dimension der Festivalkultur in Deutschland dar“, so Husslein, Kaiser, S. 62; sie gelten als „an event of immense importance in both the history of rock and the history of the German extraparliamentary protest movement“, vgl. Marwick, Arts in the West, S. 142; ein Ereignis, „von dem nicht nur in kommerzieller Hinsicht Impulse ausgingen,“ so Siegfried, Time, S. 608; ähnlich Haring, Heimatklang, S. 25; zur transnationalen Bedeutung der Songtage vgl. Brown, Essener Songtage, S. 163. 138 Siegfried, Protest am Markt, S. 57. 139 Stern 22/1970. 140 Sounds Nr. 11/1969. 141 Siegfried, Protest am Markt S. 56; zur Rolle Kaisers als „Katalysator und Ideengeber“ auch der Songtage vgl. Husslein, Kaiser, S. 61; Rolf-Ulrich Kaiser dazu selbst in Kaiser, Gegenkultur, S. 194f. 142 Mahnert/Stürmer, Essener Songtage, S. 48.
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fentlichen Sektoren des Kulturbetriebs“143. Die Stadt Essen leistete Bürgschaften und einen stattlichen Zuschuss, was zu scharfen Auseinandersetzungen im Essener Stadtrat und der Bevölkerung der Stadt führte. Die Songtage waren, beeinflusst von mehreren Aufenthalten Rolf-Ulrich Kaisers in den USA, stark an dem US-amerikanischen Monterey Pop Festival von 1967 angelehnt und als Non-Profit-Festival konzipiert. Der Eintritt war vergleichsweise niedrig – den Musikern wurden geringe Aufwandentschädigungen, Reisekosten sowie Unterkunft und Verpflegung erstattet.144 Aber nicht nur die schiere Größe und der Non-Profit-Gedanke, auch die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit waren in dieser Form ein Novum in der Bundesrepublik.145 Es wurden der öffentlichrechtliche Rundfunk, ausländische TV- und Radiosender, Printmedien, die Musikindustrie sowie diverse Fluglinien kontaktiert;146 aufwendig gestaltete Programmhefte, medienwirksam lancierte »vorläufige« Programme und die Prominenz involvierter Personen – etwa die auf beiden Seiten des Atlantiks und des Eisernen Vorhangs involvierten »Stars« und Fachleuten des Braintrusts – hielten das mediale Interesse über Monate auf hohem Niveau.147 Das endgültige Programm wurde bereits im Februar 1968 (nur wenige Monate nach Beginn der Planungen) festgelegt und in Form eines aufwendigen Programmheftes publiziert. An acht über die Stadt Essen verteilten Orten spielten letztendlich auf über 40 Veranstaltungen mehr als 200 Musikerinnen und Musiker, vor allem aus den Vereinigten Staaten, aus Großbritannien und aus der Bundesrepublik. Sowohl Publikum als auch das Feld der Künstler waren dabei bunt gemischt: „Unter den Musikern 143 Siegfried, Time, S. 610. 144 Eingeladene Gäste wie Captain Beefheart and his Magic Band, Eric Burdon and the Animals, The Doors, The Spencer Davis Group, Bob Dylan, Jefferson Airplane, Jimi Hendrix, Ravi Shankar und Tom Paxton beziehungsweise deren Managements sagten zu diesen Konditionen ab, vgl. Kabarettarchiv Mainz, Bestand IEST68 N/H/6.2. 145 Vgl. dazu etwa Husslein, Kaiser, S. 64; zum transnationalen Charakter des Festivals und die Einflüsse aus den Vereinigten Staaten und verschiedenen Ländern Europas vgl. auch Siegfried, Time, S. 607. 146 Vgl. Kabarettarchiv Mainz, Bestand IEST68 N/H/6.2. 147 Mitglieder des Braintrusts waren unter anderem Alexis Korner, Frank Zappa, Tuli Kupferberg, Harold Leventhal (Manager von Pete Seeger), Jacques Canetti, Fausto Amodei, Dr. Lubomir Doruzka (Leiter des Prager Jazz-Festivals), Alex Kulisiewicz (polnischer Liedermacher), Hanns Dieter Hüsch, Dieter Süverkrüp, Klaus Budzinski, Horst Lippmann, Fritz Rau sowie in- und ausländische Medienvertreter. Bereits im März 1968 druckte beispielsweise die auflagenstärkste US-amerikanische Branchenzeitung Billboard eine Vorankündigung ab, vgl. Billboard 02.03.1968; in Großbritannien folgte kurz darauf ebenfalls das auflagenstärkste Branchenblatt mit einer Vorankündigung, vgl. Melody Maker 16.03.1968.
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traf der jugendbewegte Waldecksänger auf den theoretisierenden Intellektuellen, der psychedelisch aufgebröselte Space-Rocker auf den marxistischen Agit-Propper, die sanfte Peace-and-love Sängerin auf die bösen nacktärschigen Kabarettisten“148. Die erste für den Krautrock zentrale Veranstaltung fand am Nachmittag des 27. September 1968 unter dem ironischen Titel Deutschland erwacht – Popmusik aus deutschen Landen im örtlichen Jugendzentrum statt: Konzipiert als Überblick aktueller bundesdeutscher Popmusik traten unter anderem die Gruppen Amon Düül, Tangerine Dream, Soul Caravan und The Guru Guru Groove auf. Besonders aber das gemeinsame Konzert mit den US-amerikanischen Stars auf der Abschlussveranstaltung am folgenden Abend, die unter dem Titel »Letˈs take a trip to Ashnidi« in der überfüllten Essener Grugahalle stattfand, wirkte prägend auf die weitere Entwicklung der anwesenden bundesdeutschen Gruppen und Interpreten zurück.149 Die Veranstaltung, ein „multimediales Mammutspektakel“150 und synästhetisches Erlebnis bisher nicht gekannter Art, wartete mit Musik von zwei Bühnen, Projektionen, einem Stroboskop und Lichteffekten, Living Theater und Untergrundfilmen auf. Ideen für psychedelische Visualisierungen von Popkonzerten hatten sich ab Mitte der 1960er Jahre in der US-amerikanischen Gegenkultur entwickelt.151 Insbesondere über Multiplikatoren wie dem Londoner Club Ufo, einem kurzlebigen aber wirkmächtigen Zentrum des britischen Undergrounds in den Jahren 1966/67, erreichten die neuartigen, synästhetisch konzipierten Präsentationsformen Kontinentaleuropa. „Der bloße Song genügt nicht mehr, er wird um andere Ausdrucksmedien ergänzt“152, stellte auch Rolf-Ulrich Kaiser fest; allerorten sei eine „Tendenz zur Mischung der Medien“ feststellbar: „Die neue Generation, die man die »Involved generation« nennt, erlebt multimedial“. Die Essener Songtage waren ein erster Ausdruck dieser multimedial erlebenden involved generation in der Bundesrepublik. Die Leisure Society aus Düsseldorf, bestehend aus Akteuren aus dem Umfeld 148 Mahnert/Stürmer, Essener Songtage, S. 81. Sehr ähnlich auch bereits in der zeitgenössischen, vielfach ausgestrahlten TV-Dokumentation Wuemeling, Essener Songtage. 149 Der im Vorabprogramm, dem in einer Auflage von 15.000 Stück erschienenen SongMagazin noch abgedruckte Titel der Veranstaltung Letˈs take a trip to Hashnidi – ein Ohren- und Augenflug zum letzten Himmel wurde später abgeschwächt, vgl. Stadtarchiv Essen, Bestand 854/1174. 150 Husslein, Kaiser, S. 66. 151 Symptomatisch für den Transfer ist eine schriftliche Anfrage Ingeborg Schobers im Fillmore West in San Francisco Ende 1969, in der sie Informationen über die Geschichte und Funktionsweise von Lightshows erbat. Das Fillmore reichte ihr Kontaktdaten von Lichtkünstlern der Bay Area weiter, vgl. Schreiben des Fillmore West an Ingeborg Schober (28.10.1969), Nachlass Ingeborg Schober, Privatbesitz. 152 Kaiser, Pop-Musik, S. 170.
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des Creamcheese, traten mit einem in der Bundesrepublik bis dato einzigartigen Visualisierungsprogramm namens Living Screen in Erscheinung: „Auf elektronischem Wege werden die akustischen Impulse der Musik über ein neuentwickeltes Umsetzungsverfahren auf die Scheinwerferanlage der Grugahalle übertragen, so daß das Licht des Saales im Rhythmus der Musik atmet“153, beschrieb wiederum Kaiser. Für den beteiligten Künstler Ferdinand Kriwet war zeitgemäße Kunst nur mit zeitgenössischen Medien vermittelbar;154 im Gegensatz zu Rolf Schwendter, der Kriwet als Opfer der »Anpassungsideologie« Marshall McLuhans betrachtete und dessen Arbeit als Beispiel für eine „Integration über die Freizeitindustrie“155 beklagte, hob Kaiser den kreativen, aktiven Charakter von Kriwets Arbeit und allgemein multimedialer Präsentationsformen hervor: „Die neue Präsentation, die letztlich auf eine Mischung sämtlicher Medien zum Zwecke der totalen Einbeziehung des Publikums in die kreative Aktion zielt, setzte sich durch.“156 Auch hier fanden sie sich die gängigen, gegensätzlichen Vorstellungen von Popmusik und ihrer Präsentationsformen als »Medien der Manipulation« und als »Medien der Befreiung«. Der Eindruck, den die um sich greifende Verschmelzung multimedialer Aspekte mit live präsentierter, »progressiver« Popmusik bei den frühen Rezipienten ab Mitte der 1960er Jahre hinterließ, ist nach jahrzehntelanger Allgegenwart synästhetischen Popmusikkonsums heute kaum mehr nachvollziehbar. Dafür spricht auch die Beschreibung eines frühen Beispiels jenseits der Essener Songtage, ein Konzert der Gruppe Amon Düül II am Sylvester-Abend 1968 in Frankfurt am Main. Es fand auf Initiative des Künstlers Bernd Brummbär zur Eröffnung eines Clubs namens underground statt. Brummbär zeichnete für die »Show« verantwortlich: „Mit Louis Tratter, einem Frankfurter Filmemacher, hatte ich auf dem Müll einen ganzen Berg Tonbänder gefunden, und die haben wir für das Sylvester-Happening verwendet. Wir haben sie alle aufeinander auf Stöcke gestellt und dann rieselte das Zeug automatisch auf die Leute runter. Und dazu hatten wir die ersten Stroboskop-Lampen in Deutschland. Und dann
153 Kaiser, Pop-Musik, S. 170f; zur Leisure Society auf den Essener Songtagen vgl. auch Mahnert/ Stürmer, Essener Songtage, S. 217; Husslein, Essener Songtage, S. 76–89. Der Leisure Society wird auch entscheidender Einfluss auf Kraftwerk nachgesagt, vgl. Esch, Electri_City. 154 Vgl. Kriwet in Kaiser (Hg.), Protestfibel, S. 164f. Zu Kriwet auf den Essener Songtagen 1968 vgl. Hübsch, Clubs, S. 140; Siegfried, Time, S. 474; zu Kriwets Rolle im Creamcheese vgl. Husslein, Creamcheese; zu Kriwets Aktivitäten in den USA vgl. Kahn/Austin, Avant-garde, S. 268. 155 Schwendter, Subkultur, S. 69. 156 Kaiser, Pop-Musik, S. 173.
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war da noch so eine Bauplastik, 4 x 5 Meter, die haben wir über den Leuten entfaltet und drüber das Strob-Licht angemacht. Das war ein wahnsinniger Effekt.“157
Nach der anwesenden Journalistin Ingeborg Schober schienen die Effekte auf die Musiker von Amon Düül II massiv gewirkt zu haben: „So kompromißlos, aggressiv und angriffslustig habe ich sie danach nie mehr gehört,“ urteilte sie später, „der ganze Keller schien sich in Nichts aufzulösen […] von der Lightshow hypnotisiert.“158 Aber noch einmal zurück zu den Essener Songtagen und ihren Folgen. Besonders der Auftritt von Frank Zappa and the Mothers of Invention sowie The Fugs hinterließ dabei einen tiefen und andauernden Eindruck. „Zappa ging die Sache ganz anders an, ironisch, zynisch, nicht so altklug und oberlehrerhaft deutsch“159, berichtete etwa Bernd Witthüser, der sich selbst mit den Songtagen vom politischen Protestsänger zu einem stark von psychoaktiven Substanzen beeinflussten Psychedelic Folk-Sänger verwandelte.160 Einen grundlegenden Wandel erlebte unter dem Eindruck Zappas auch die Kabarettgruppe Floh de Cologne, die als politisches »Rock-Kabarett« vollkommen neue Ausdrucks- und Präsentationsformen entwickelten und mehr Emphase auf die Musik legten.161 Soul Caravan wiederum änderten ihren Bandnamen nach Essen in Xhol Caravan, um damit ihre Abkehr von der Soul Music und den Aufbruch in neue Klangwelten auch namentlich zu verankern. Tangerine Dream stellten auf den Songtagen fest, wie weit sie qualitativ von den US-amerikanischen Vorbildern entfernt waren, und fielen wenige Monate nach dem Spektakel auseinander. Froese wandte sich unter Beibehaltung des Bandnamens im Umfeld des Zodiak Free Arts Lab zunehmend elektronischen Klangwelten zu, für die die Gruppe transnational bekannt werden sollte. 157 Schober, Lemminge, S. 53. 158 Ebd., S. 52. 159 Zitiert nach Mahnert/Stürmer, Essener Songtage, S. 136. 160 Bernd Witthüser und Walter Westrupp traten zusammen ab 1970 als Witthüser & Westrupp auf. Sie wurden wahlweise als »Acid-Folk«, »Cosmic Folk« oder »Progressive Folk« bezeichnet: „Die einzig nennenswerten deutschen Liedermacher […] Wenn es wirklich so etwas wie eine deutsche Folk-Szene geben sollte, dann gehören Witthüser & Westrupp zu ihren wichtigsten Repräsentanten,“ Flash Nr. 22/1974. Beide stammten aus Essen und kannten sich aus der deutschen Folk-Szene der 1960er Jahre. Im Jahr 1970 erschien auf Ohr das erste Album, das zwar als Solo-Produktion von Bernd Witthüser verkauft wurde, aber von beiden eingespielt worden war. 1971 erschien das zweite Album namens Trips und Träume, „auf dieser Platte werden Joints und Trips vergöttert. Vielleicht muß man high oder auf der Reise sein, um sie zu verstehen,“ so etwa Flash Nr. 7/1972; vgl. auch Pop Nr. 4/1971 und Pop Nr. 13/1972. 161 Vgl. etwa Städtler, Essener Song-Tage.
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Auch für Amon Düül markierten die Songtage eine tiefe Zäsur in ihrer noch jungen Geschichte. Die Münchner waren trotz eines qualitativ schlechten Demobandes nach Essen eingeladen worden, der handgeschriebene Begleitbrief hatte die Veranstalter, insbesondere Rolf-Ulrich Kaiser überzeugt: „Wir sind elf Erwachsene und zwei Kinder und haben uns entschlossen, alles gemeinsam zu machen, auch die Musik!“162 Entgegen dieser Absichtserklärung hatte sich die Kommune allerdings kurz vor den Songtagen aufgrund andauernder Konflikte in Amon Düül und Amon Düül II geteilt. Nach Essen kamen in erster Linie Amon Düül, die größere Hälfte, unter anderem mit dem damals noch vollkommen unbekannten Mitglied Uschi Obermaier. Einen denkwürdigen Auftritt lieferten Amon Düül auf besagter Abschlussveranstaltung Letˈs take a trip to Ashnidi: Der Frankfurter Künstler Bernd Brummbär, an diesem Abend für die Lichteffekte verantwortlich, erinnerte wenige Jahre später, dass „auf dem Super-Gruga-Dingsda Amon Düül I vollkommen ausgetrippt war […] alle waren irgendwie auf Acid und vollkommen weggetreten. Ich machte Lightshow und hatte meine Lichtorgel und den ganzen Kram auch aufgebaut. Dann habe ich wieder abgebaut, da sie ja auf einer anderen Bühne spielen sollten, es gab damals zwei, aber die Düüls weigerten sich umzuziehen, weil sie gar nicht mehr dazu in der Lage waren.“163
Trotz der chaotischen Zustände hatte das Festival aber auch für die Münchner Kommune eine Katalysatorwirkung: „Die Essener Songtage manifestierten den Mythos Amon Düül“164, und in direkter Folge des Festivals unterschrieben Amon Düül einen Vertrag mit Peter Meisels Label Hansa. In der Folge der Songtage war seitens der Lokalpresse – so ein symptomatisches Urteil – von einer „Sauerei im Schweinestall“165 die Rede. Weniger die Musik und die Auftritte, als vielmehr angebliche »Drogenexzesse« und »Orgien« des Publikums standen dabei im Mittelpunkt kleinbürgerlicher Phantasien, die von der Regenbogenpresse gefüttert und angefacht wurden. Aber auch von ernstzunehmender Seite gerieten die Verantwortlichen unter Beschuss, insbesondere Rolf-Ulrich Kaiser. Die persönliche Fehde mit einem erst kurz zuvor angestellten Redakteur des Spiegels beispielsweise führte zu einer Reihe diffamierender Artikel,166 die die öf162 Zitiert nach Kaiser, Rock-Zeit, S. 284.; dieser Satz fand enorme Verbreitung und findet sich in unzähligen Pressetexten und Artikeln der Folgejahre. 163 Bernd Brummbär zitiert nach Schober, Tanz der Lemminge, S. 38f. 164 Ebd., S. 39. 165 Ruhr-Nachrichten 03.10.1968, hier nur beispielhaft für eine Flut ähnlicher Überschriften und Aussagen, vgl. Kabarettarchiv Mainz, Bestände LN H 6.4, LN H 6.5, LN H 6.6, LN H 6.7; auch Stadtarchiv Essen, Bestand 1048/1008. 166 Vgl. Der Spiegel 41/1968 oder 29/1970.
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fentliche Wahrnehmung Kaisers als angeblich gewissenloser und inkompetenter Geschäftemacher „präformiert[en]“167 – zu diesem Zeitpunkt geradezu absurd angesichts der Tatsache, dass das Organisationsteam inklusive Kaiser ehrenamtlich gearbeitet und lediglich geringe Aufwandsentschädigungen erhalten hatte. Auch überregionale Tageszeitungen urteilten überwiegend negativ über das Festival, besonders über Kaiser und eine angeblich schlechte Organisation, aber etwa auch explizit über die bundesdeutschen Gruppen.168 In diesem Rahmen fällt etwa die sexistische Kritik zu Amon Düül in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ins Auge, die den Sound der Gruppe als ein „Nichts“169 bezeichnete, zugleich aber die „erotischen Bewegungen der hübschen Rasselschwenkerinnen“ als Attraktion für das männliche Auge hervorhob. Zu den Ausnahmen einer differenzierten Betrachtungsweise zählte die einzige filmische Aufarbeitung des Festivals durch den Bayerischen Rundfunk. Als positiv wurde dabei der politische Anspruch des Festivals hervorgehoben: „Es gelang zum ersten Mal, was sich zwischen Pop und Politik bewegt, zu einer Supermesse zusammen zu trommeln. [Pause] Der Mut der Stadt Essen zu einer solchen Veranstaltung ist beachtlich. Eine Handvoll junger Leute stellte mit sehr viel persönlichem Einsatz ein Festival auf die Beine, das es noch nicht gab. […] Ein Beispiel dafür, wie man Unbehagen und Änderungswillen nicht nur besingt und bespricht, sondern in die Tat umsetzt.“170
Innerhalb der Gegenkultur wiederum war das Urteil der Teilnehmenden gespalten: Für manche waren die Songtage ein „sinnbetörende Ereignis, das […] tief beeindruckte“171. für Andere „letztes Indiz dafür […], dass doch nicht Aktion im Mittelpunkt stand, sondern Rezeption und passiver Konsum“172. Auseinandersetzungen um den politischen Gehalt von Popfestivals, um Konsum, Kommerz und »Authen167 Siegfried, Time, S. 614. 168 Die negative Rezeption in den bundesdeutschen Printmedien hatte wohl auch damit zu tun, dass das Organisationsteam im Umgang mit der Presse teilweise überfordert war, vgl. Mahnert/Stürmer, Essener Songtage, S. 111; regelrecht feindselig gegenüber den Organisatoren und mit teilweise grotesken Vorwürfen gespickt äußerte sich auch Joachim E. Berendt in Berendt, Impressionen, S. 346f. 169 Frankfurter Allgemeine Zeitung 02.10.1968. 170 Vgl. Zwischen Pop und Politik. Die Internationalen Essener Songtage 1968 (D 1968). 171 Siegfried, Time, S. 612; dazu auch Marwick, Cultural Revolution, S. 49. 172 Siegfried, Time, S. 612. Rolf-Ulrich Kaiser selbst bedauerte im Anschluss die Songtage, dass es keine ausreichende politische Diskussion und Workshop-Arbeit gegeben und der Konsum zu sehr im Vordergrund gestanden habe, vgl. Kaiser, Gegenkultur, S. 195. Auch Rolf Schwendter bemängelte, dass es zu wenig an politischer bzw. theoretischer Diskussion gegeben habe, vgl. Essener Songtage (BR).
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Abbildung 4: Teile des Organisationsteams der Songtage, (v.l.n.r.) Gille Lettmann, Bernd Witthüser, Martin Degenhardt, (hinten verdeckt mit Hut und US-Fahne) Rolf-Ulrich Kaiser.
tizität« sollten auch in den Folgejahren eine zentrale Rolle in öffentlichen Diskussionen spielen, Gruppen und Interpreten des Krautrock spielten dabei eine zentrale Rolle. In den Jahren unmittelbar nach den Essener Songtagen wurden Popfestivals zu einem Massenphänomen. Dabei wurden zunächst verschiedene Formen und Orte erprobt, und wiederum befand sich Krautrock im Zentrum des Experimentierens und Austarierens. Das letzte Festival auf der Burg Waldeck im Sommer 1969 versuchte sich an einer Neuausrichtung, indem über Protestlieder und Folk hinaus auch die »neue Popmusik« mit einbezogen wurde; unter den Teilnehmenden fanden sich mit Tangerine Dream, The Guru Guru Groove und Xhol Caravan mehrere Vertreter des Krautrock. Trotz der Versuche, sich für andere Stile zu öffnen, erschien die Veranstaltung vielen bereits wie aus einer vergangenen Zeit.173 Neue Ansätze zeigten sich beispielsweise auch auf der ab April 1969 in mehreren bundesdeutschen Städten gastierenden Underground Explosion: Das Festival, das in mehreren großen Veranstaltungshallen stattfand, setzte wie die Songtage auf die Verschmelzung darstellender und bildender Kunst mir »progressiver« Popmusik: HappeningPerformances, Living Theater, das Screening von Filmen und Projektionen waren
173 Dazu etwa die Dokumentation im Kabarettarchiv Mainz, Bestand LN H 5.9; auch Konkret 21/1969; es kam zu scharfen Auseinandersetzungen um die künftige Ausrichtung des Festivals, vgl. Song Nr. 4/1969. Waldeck 69 sollte das letzte Festival bleiben.
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Teil des Programms. Die Eröffnungsveranstaltung fand im Münchner Zirkus Krone vor etwa 2.000 Besuchern statt. „Der Untergrund hatte gerufen, und fast das gesamte Establishment war gekommen“174, so die Münchner Abendzeitung. Besondere Attraktionen waren das Duo Paul & Limpe Fuchs (beziehungsweise Anima) sowie der „Stolz des bayerischen Underground“175, Amon Düül II, die den Abend eröffneten. Die Veranstaltung ging mit kleineren Veränderungen im Programm auf Tournee in der Bundesrepublik; in Köln Anfang Mai des Jahres etwa spielten The Guru Guru Groove das Eröffnungs- und Amon Düül II das Abschlusskonzert. In Köln lieferten Amon Düül II laut Stadtanzeiger „den besten sound, der je die Trommelfelle der Stadthallenaufsichtspersonen strapazierte“176, und auf der Folgeveranstaltung in Essen erschienen Amon Düül II als „Sensation der Beat-Musik“177. Die Veranstaltungen riefen deutschlandweit ein nahezu ausnahmslos positives Echo hervor und verfestigten die Rolle des Krautrocks als »progressive«, »neue« Popmusik aus der Bundesrepublik in der öffentlichen Wahrnehmung. Der »Festivalsommer« des Jahres 1970 bedeutete mit seiner fast unüberschaubaren Menge an Popfestivals in allen Teilen der Bundesrepublik einen ersten Höhepunkt der neuen Festivalkultur. Das Phänomen war transnational, große Teile Westeuropas erlebten eine „Welle“178 (wahlweise „Flut“179) an Popfestivals, Open Air und in Hallen. Spätestens in diesem Jahr wurden Festivals zu einem festen Bestandteil der Popkultur; in der Musikpresse und anderen Printmedien erfolgte eine Institutionalisierung von Konzerten und Tourneen in Form regelmäßiger Rubriken mit Festival- und Konzertberichte. Dabei setzte sich letztendlich auch die heute bekannte und gängige Form des Popfestivals durch: die bloße Abfolge von Auftritten mehrerer Interpreten, verbunden mit Lightshows und anderen visuellen Effekten. Bildende und darstellende Kunst sowie politische Diskussionsveranstaltungen und Workshops verschwanden weitestgehend aus den Programmen. Der »FestivalBoom« basierte dabei auf zwei Voraussetzungen: zum einen auf technologischen Neuerungen, etwa immer transportableren und leistungsfähigeren PA-Anlagen, die 174 Abendzeitung 17.04.1969; vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.04.1969. 175 Der Spiegel 17/1969. 176 Fred Viebahn im Kölner Stadtanzeiger 05.05.1969; Viebahn war zu diesem Zeitpunkt Mitglied der »Verlagskommune« Kinder der Geburtstagspresse, der etwa auch RolfUlrich Kaiser, Henryk M. Broder, Reinhard Hippen und Tom Schroeder angehörten, vgl. Siegfried, Time, S. 616. 177 So etwa in der Frankfurter Rundschau 09.05.1969; die Vielzahl der begrifflichen Zuschreibungen, hier etwa noch der in den Jahren zuvor besonders verbreitete Begriff »Beat-Musik« für Amon Düül II, vergegenwärtigt erneut die in der Zeit um 1970 verbreitete begriffliche Unsicherheit im Zusammenhang mit Popmusik. 178 Der Musikmarkt 2/1970. 179 Sandner, Popfestivals, S. 190.
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Pop-Konzerte unter freien Himmel und straffe Tourneepläne in diesem Ausmaß erst ermöglichten;180 zum anderen stiegen die Zuschauerzahlen und das Interesse an Popmusik so rasant an, dass sich Großveranstaltungen schlicht zu rechnen begannen. An diesem Punkt kollidierten die Interessen zwischen dem PopmusikKonsumenten auf der Suche nach einer »authentischen« Gemeinschaftserfahrung auf der einen, und dem Veranstalter mit Profitinteresse auf der anderen Seite. Der Antagonismus zwischen Popfestivals als Geschäft und ihren gegenkulturellen Konnotationen wurde zentraler Punkt des transnationalen Pop-Diskurses.181 Er spiegelte den grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Wahrnehmung des Pop als transnationaler, gegenkultureller Kommunikationsraum und den Mechanismen seiner Produktion und Verbreitung. Die Tatsache, dass ein Großteil der Veranstaltungen des »Festivalsommers« 1970 in künstlerischen, finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten mündete, heizte den Unmut zusätzlich an.182 Dabei wurden vor allem drei Kritikpunkte laut: Erstens wurde eine zunehmende »Kommerzialisierung« beklagt, zweitens litten die Besucher vielerorts unter Gewalt und Repression etwa durch Ordnungskräfte, und drittens wurden die Besucher der Festivals generell als zu unkritisch und konsumorientiert wahrgenommen.183 In der bundesdeutschen Kritik fungierten britische und US-amerikanische Popfestivals als beliebte Orientierungspunkte und Abziehbilder: In Konkret beispielsweise wurde ein Bericht über das Festival der Rolling Stones in Altamont 1969 zum Anlass genommen, Popfestivals allgemein als „Pop-Ghettos“184 zu charakterisieren, in denen »Drogen«, naive Träume und sinnlose Gewalt regierten. Festivals seien ein Geschäft, die Popmusik dem Zeitgeist gemäß im »revolutionären Gewand« verkauften, im Hintergrund zögen aber profitgierige »Jungmanager« die Fäden, die sich Stil und Habitus der Gegenkultur nur zum guten Schein zu eigen gemacht hätten.185 Dabei verstrickten sich die Kritiker nicht selten in Widersprüche.
180 Vgl. etwa Chapple/Reebee, Musikindustrie. 181 Die mediale Berichterstattung in den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und der Bundesrepublik zeigte hier dasselbe Grundmuster. 182 Vgl. Sandner, Popfestivals, S. 190; zu ausführlichen Berichten dazu vgl. Kaiser, PopMusik, S. 187–189; auch Kaiser, Rock-Zeit, S. 160–180; für Großbritannien vgl. Nelson, Underground Press, S. 96–102. 183 Siegfried, Time, S. 672; ähnlich bereits Haring, Heimatklang, S. 93f. 184 Vgl. Konkret 22/1970. 185 1971 riefen eine Reihe von Popjournalisten, Schriftstellern und Musikern zum generellen Boykott von Popfestivals auf; dazu gehörten Henryk M. Broder, Helmut Salzinger, Werner Schretzmeier, Tom Schroeder und Dieter Süverkrüp, vgl. Siegfried, Time, S. 682; zeitgenössisch vgl. Salzinger, Rock-Power, S. 45–48.; massive Festivalkritik von Kaiser und Broder findet sich bereits in Underground 5/1970.
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Abbildung 5: Netzwerke nach Essen. Alle hier für zwei Konzerte im Jahr 1969 genannten Gruppen, inklusive der Leisure Society, hatten auch bereits an den IEST68 teilgenommen.
Während etwa The Woodstock Music & Art Fair von 1969 angegriffen wurde, weil es kein Free Concert war, machte man den Rolling Stones aufgrund ihres Konzertes in Altamont den Vorwurf, nur deswegen keinen Eintritt verlangt zu haben, um effektiv Werbung in eigener Sache betreiben zu können.186 Unklar blieb dahingehend auch, warum das Monterey Pop Festival von 1967 allgemein zum Inbegriff einer imaginierten, quasi vor-kommerziellen »guten alten Festivalzeit« stilisiert wurde, obwohl genau dort die Vermarktung der »neuen Popmusik« im großen Stil eingesetzt hatte.187 Im Gegensatz zu dem verbreiteten Klischee des unkritischen, konsumfixierten Konzertbesuchers ging die überwiegende Mehrheit der Konsumenten darüber hinaus auf Konzerte, um sich ein eigenes Bild über die jeweilige Gruppe und ihre Musik zu machen; im Zentrum stand die Suche nach »Authentizität«: Das Live-Erlebnis versprach Gemeinschaft, Unmittelbarkeit und unverfälschte Musik jenseits »technischer Tricks«, die auf ausgefeilten Schallplattenaufnahmen vermutet wurden.188 Der Festival-Euphorie zu Beginn der 1970er Jahre tat die Kritik jedoch keinen Abbruch, auch nicht in der Bundesrepublik. Die Anzahl der Festivals stieg von Jahr
186 Neben Rolf-Ulrich Kaiser zum Beispiel auch Sandner, Popfestivals, S. 191f. 187 Vgl. dazu unter anderem Denisoff, Record Industry, S. 92. 188 Vgl. Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 44–49.
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zu Jahr, trotz restriktiver Maßnahmen des Staates wie etwa einem zeitweiligen Festival-Verbot in Bayern.189 Erst Mitte der 1970er Jahre begann die Anzahl der Großfestivals unter freiem Himmel etwas zu sinken, während die Zahl der Konzerte in Hallen und Clubs weiter zunahm.190 Das kam Gruppen des Krautrock zugute, die wie alle bundesdeutschen Bands in der Boomphase der 1970er Jahre wenig Möglichkeiten hatten, auf den großen, kommerziellen Popfestivals aufzutreten. Der Fokus der Veranstalter lag in erster Linie auf den »großen Namen« aus den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich, schlicht deswegen, weil sie für die überwiegende Mehrheit der Festivalbesucher attraktiver waren. Vergleichszahlen von einem Popfestival in Aachen 1970, auf dem bundesdeutsche und britische Gruppen gemeinsam auftraten, verdeutlichten den damaligen »Marktwert« der Interpreten: Kraftwerk erhielten für ihren Auftritt 800 DM, Amon Düül II 1.800 DM, die britischen Gruppen hingegen bis etwa 10.000 DM als Gage, mit den Spitzenverdienern von Pink Floyd als Headliner, die für ihren Auftritt mit 22.000 DM entlohnt wurden.191 Als Reaktion wurden in der bundesdeutschen Gegenkultur nationalistische Töne laut, in denen angloamerikanische Gruppen aufgrund der höheren Gagen als »kommerziell«, bundesdeutsche hingegen als »authentisch« konstruiert wurden. Außerordentlich gereizt reagierte der Veranstalter Fritz Rau auf entsprechende Fragen bundesdeutscher Musikjournalisten, die ihm implizit eine Mitschuld an der angeblichen »Misere« bundesdeutscher Bands unterstellten: „Ich bin kein Nationalist – für mich gibt es keine deutschen Rockgruppen – für mich gibt es nur Rockgruppen“192, so Rau 1975. „Ich habe keine Aufgabe der deutschen Nation gegenüber zu erfüllen und den deutschen Rock im Sinne einer Reichskulturkammer hochzupushen. […] Die Schizophrenie ist durch eine falsche Parallelisierung, Übertragung eines klassenkämpfe189 Zum Festivalverbot in Bayern im Jahr 1972 vgl. etwa der Titel von Riebeˈs Fachblatt Nr. 4/1972 sowie Der Musikmarkt Nr. 21/1972, sowie zahlreiche Beiträge in den Folgemonaten in Branchenblättern und Zeitschriften, etwa Sounds, Fachblatt und dem Teenagerblatt Pop; als Überblick vgl. Siegfried, Time, S. 682f. Auffallend ist, dass viele der schärfsten Kritiker von Popfestivals gleichzeitig Bayerns Festivalverbot scharf kritisierten. 190 Vgl. Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 21f. 191 Vgl. Kaiser, Rock-Zeit, S. 131; auch Kaiser hatte Pink Floyd zu den Essener Songtagen eingeladen und sogar im Vorabprogramm angekündigt, die Band lehnte es aber wie zahlreiche andere Gruppen aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten ab, ohne Gage zu spielen. 192 Vgl. ein Interview mit Fritz Rau in Fachblatt 2/1975. Rau war einer der älteren Akteure im popmusikalischen Feld der Bundesrepublik; zur zentralen Rolle älterer Mediatoren für die Popkultur vgl. Marwick, Cultural Revolution, S. 53.
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rischen Bildes auf die Rock- und Jazzszene entstanden, wo plötzlich der Veranstalter der Klassenfeind ist.“
Bereits 1970 vertrat Rau die Meinung, dass „bei der Musikindustrie etwas zu viel mit Schlagwörtern wie »Underground« und »Pop Revolution« operiert worden ist. Hier ist eine Friktion eingetreten. Die jungen Leute befinden sich plötzlich in einem Vakuum: Einerseits der Habitus des Revolutionären und andererseits das alles eingebettet in den Praktiken unserer Konsumgesellschaft.“193
Die in der Bundesrepublik (etwa im Gegensatz zu den USA oder Großbritannien) besonders starke politische Aufladung von Popmusik führte auch in Bezug auf Festivals zu Missverständnissen und Reibungsflächen, die unter anderem in der Stigmatisierung von Veranstaltern, Managern und anderen Multiplikatoren der Popmusik ihren Ausdruck finden konnte. An den Aussagen Raus wurde zweierlei deutlich: seine für die zentralen Akteure des Krautrock symptomatische Weigerung, sich national vereinnahmen zu lassen, aber auch sein Unverständnis gegenüber Vorstellungen von Popmusik als quasi »außerkommerziellem« Bereich. Ein Ausweg aus dem »Vakuum« schienen Non-Profit bzw. Free Festivals zu sein, die zwar (wie beispielsweise in Essen 1968 oder in Altamont 1969) ebenfalls dem Vorwurf des »Kommerzes« ausgesetzt waren, aber dennoch breiter akzeptiert wurden.194 Für den Krautrock nahmen auf dem Non-Profit-Gedanken basierende Popfestivals eine außerordentlich wichtige Rolle ein, da sie Möglichkeiten der Präsentation, Kommunikation und Kontaktaufnahme boten, die im Rahmen der Großfestivals oft verwehrt blieben. Eines der zahlreichen Beispiele war das vom Beat Club prominent dokumentierte, im Sommer 1971 in Landshut veranstaltete Die 193 Vgl. ein Interview mit Fritz Rau in Sounds 3/1970, sehr ähnlich und noch ausführlicher in Underground 4/1970. 194 Zu den eine wichtige Vorbildfunktion einnehmenden Free Concerts im Londoner Hyde Park, aber auch in den Vereinigten Staaten vgl. etwa den Beitrag von Jens Hagen in der Frankfurter Rundschau vom 21.02.1970; der Veranstalter Fritz Rau relativierte diese Art der Free Concerts und betonte deren durchaus kommerziellen Charakter; sie seien „konsum-adäquate, konsum-terroristische Mittel zur Erzeugung einer Riesenpublicity,“ die auftretenden Gruppen würden außerdem „Super-Honorare“ von Fernsehanstalten erhalten, die die Free Concerts anschließend vermarkteten, vgl. ein Interview in Sounds 3/1970; Rau über „das Märchen von den Free Concerts“ auch in Underground 4/1970; die Fachpresse reagierte jedenfalls auf den Trend der Free Festivals in der Bundesrepublik und druckte im Laufe der 1970er Jahre immer wieder Ratgeber und Hinweise ab, zum Beispiel „Wie organisiere ich ein antikommerzielles Festival“ in Fachblatt 11/1973.
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deutsche Pop-Scene. Free Open-Air-Festival mit dem ambitionierten Ziel, einen »Überblick der bundesdeutschen Musikszene« bieten zu wollen. Das Festival wurde nach dem DIY-Prinzip von drei männlichen Teenagern als „Gegenpol zu kommerziellen Veranstaltungen“195 organisiert. Die privaten Auslagen lagen im fünfstelligen Bereich; öffentliche Zuschüsse gab es keine. Sponsoring war wiederum auf Seiten der Veranstalter unerwünscht: Das würde „die Leute unangenehm berühren, gerade jetzt mit der Anti-Konsum-Haltung“196, so einer der Veranstalter. Einige der geladenen Bands kamen zudem nur, weil kein Sponsoring durch Unternehmen betrieben wurde. Finanziert werden sollte das Festival allein über einen kleinen Aufschlag auf die Getränkepreise und freiwillige Spenden der Besucher, eventuelle Überschüsse sollten an die beteiligten Bands verteilt werden. „Es zieht sie hin zu dem Gelände, wo unter Rauch und Hasch und Schall sich abspielt heut ein »Festival«“197 dichtete die Lokalzeitung am ersten Tag des zweitägigen Festivals. Zu dem „Gammlertreffen mit Musik“198 erschienen letztendlich etwa 4.000 Besucher aus der ganzen Bundesrepublik, hinzu kamen über die beiden Festivaltage bis zu 15.000 Gaffer aus der Stadt und ihrer Umgebung – das Gelände war offen, Absperrungen gab es keine. Mit Amon Düül II, Embryo, Anima, Gila, und Xhol Caravan waren einige zentrale Vertreter progressiver bundesdeutscher Popmusik vertreten; wegen des regnerischen Wetters und einiger organisatorischer Verzögerungen traten mehrere angekündigte Bands (wie etwa auch Can) nicht auf. Die Veranstaltung verlief letztendlich aber reibungslos, die Unkosten wurden wieder eingespielt, und in der Lokalpresse wurden im Anschluss besonders der höfliche Umgang, der Gemeinschaftssinn und die Hilfsbereitschaft unter den »Gammlern« hervorgehoben; auch der umfangreiche Hanf- und LSD-Konsum blieb nicht unerwähnt: „Es ist eben eine andere Welt, in der diese jungen Leute leben, eine Welt, die eher an den Orient erinnert und die unserer Leistungsgesellschaft konträr gegenübersteht.“199 Mit seiner Entstehungsgeschichte als DIY-Projekt, der »antikommerziellen« Grundierung, sowie der Betonung des Gemeinschaftssinns stellte das Landshuter Festival des Jahres 1971 geradezu ein Paradebeispiel des »Authentizitätskults« jener Jahre dar. Auch am so genannten »Deutschen Eck« bei Koblenz, um ein weiteres Beispiel unter Beteiligung des Krautrock zu nennen, fanden zwischen 1970 und 1972 jährliche Non-Profit-Popfestivals statt, die privat nach dem DIY-Prinzip organisiert wur-
195 Kaiser, Rock-Zeit, S. 160–180. 196 Interview mit den Veranstaltern in Beat Club, Folge 70 (D 1971). 197 Landshuter Zeitung 17.07.1971. 198 Landshuter Zeitung 19.07.1971. 199 Ebd.
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den.200 Der Veranstalter hatte 1965 den ersten Schallplattenladen der Stadt eröffnet veranstaltete als Liebhaber »progressiver« bundesdeutscher Popmusik ab 1970 Festivals und Konzerte an verschiedenen Orten in und um Koblenz, darunter bereits 1969 etwa ein frühes Konzert mit Can. Mit den Einnahmen der kostenpflichtigen Konzerte in Bars, Clubs und Hallen finanzierte er die drei Festivals, die Stadt Koblenz stellte den Platz vor dem Denkmal kostenlos zur Verfügung. Während die erste Veranstaltung 1970 noch auf lokale Gruppen beschränkt war, traten auf dem zweiten Festival im September 1971 Guru Guru vor 13.000 Besuchern als Headliner auf. Überregionales Echo provozierte vor allem das dritte und letzte Festival im Jahr 1972, zu dem über 20.000 Besucher erschienen und an dem etwa die „Publikumslieblinge“201 Witthüser & Westrupp und Tangerine Dream teilnahmen. Die Popfestivals in Landshut und Koblenz sind gleichermaßen symptomatische Beispiele für die zunehmend bis in die »Provinz« reichenden, gegenkulturellen Versuche, den Non-Profit-Gedanken als »authentisches« Ideal innerhalb der Popmusik zu verankern; gleichzeitig sind sie Beispiele für Festivals als frühe Auftrittsmöglichkeiten und Kommunikationsräume des Krautrock, sowohl für seine Produzenten, als auch für das Publikum. Das im Frühjahr 1973 von dem Veranstalterduo Lippmann + Rau organisierte German Rock Super Concert in Frankfurt am Main hingegen stellte einen unter »kommerziellen« Gesichtspunkten konzipierten und organisierten Versuch dar, einen Querschnitt bundesdeutscher Popmusik zu präsentieren. Angesichts der Auftritte von Gruppen wie Agitation Free, Amon Düül II, Guru Guru und Kraan urteilte das Branchenblatt Der Musikmarkt, dass „der vielberedte Aufbruch der deutschen Rockgruppen […] endlich sichtbar“202 geworden sei. Das fast 14-stündige Indoor-Festival vor etwa 10.000 Besuchern war professionell vorbereitet und beworben worden: Plakate, Handzettel, T-Shirts waren in den Wochen zuvor über Vertriebskanäle in das gesamte Bundesgebiet gelangt, in allen größeren bundesdeutschen Städten gab es einen Karten-Vorverkauf. Auf dem Festival selbst waren Leiter und Pressesprecher von Labels mit Informationsständen vertreten, und mehrere Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks filmten das Super Concert ab. „Was jahrelang als Experimentierfreude einzelner Musikfanatiker be-
200 Die Informationen und Quellen zu den Festivals am Deutschen Eck stammen teilweise von der Webseite http://www.krautrockseite.de/kblnzfestivals.htm; auch Sounds 11/1972 und Pop 12/1972. 201 Sounds 11/1972. 202 Der Musikmarkt 12/1973; vgl. auch Musik Express 7/1973. Der Abgesandte der FAZ fand im Gegensatz zu den Fachzeitschriften nur diejenigen bundesdeutschen Gruppen gut, die stilistisch der angloamerikanischen Popmusik am nächsten waren; die Gruppen des Krautrock wurden hingegen als »primitiv« etikettiert, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.05.1973.
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trachtet und entsprechend gewertet wurde, scheint dieses Stadium nun endgültig verlassen zu haben“203, so wiederum Der Musikmarkt. Das Festival in Frankfurt am Main symbolisiert die Professionalisierung des popmusikalischen Feldes in der Bundesrepublik, auch in Hinblick auf Konzertveranstaltungen und Festivals. Während bis in das erste Drittel der 1970er Jahre in aller Regel nur einzelne Konzerte gebucht wurden, die Gruppen ihren Tourneeplan selbst zusammenstellten und sich untereinander über Auftrittsmöglichkeiten informierten, begannen sich ab etwa 1973 organisierte Tourneen und professionelle Konzertveranstalter zu etablieren. Nicht zuletzt die Musikindustrie hatte Interesse daran, da sich Konzerte und Festivals als außerordentlich verkaufsfördernd erwiesen. Zu den neben großen Festivals wichtigsten Orten von Live-Popmusik avancierten entsprechende Clubs und kleine Konzerträume, an denen es in der Bundesrepublik jahrelang gemangelt hatte: Die frühen Konzerte des Krautrock am Ende der 1960er Jahre fanden nicht zuletzt auch aus Mangel an Alternativen etwa auf Vernissagen, Ausstellungen oder auch an Universitäten statt. „Die Clubs, die es gibt, sind altmodisch,“ so etwa Can 1970, „da kann sich einfach niemand wohlfühlen. Das Beste wären Clubs in der Art, wie es sie in London, New York, San Francisco, Birmingham, Detroit, Boston und Chikago gibt. Etwa das Düsseldorfer »Creamcheese« in größer. Die Leute müssen tanzen, Filme sehen, trinken und sich bewegen können. Die Konzertsäle sind im Grunde auch Scheiße, weil sie mit dem ganzen Drum und Dran doch nur für klassische Konzerte gebaut sind.“204
In der Tat wurden US-amerikanische und britische Clubs zu Vorbildern der Entwicklung in der Bundesrepublik, die sich mit einiger zeitlicher Verzögerung vollzog.205 Prominenter Prototyp des modernen Clubs mit zumindest indirekter Wirkung auf die Entwicklung des Krautrock war der Star Club in Hamburg: Als „Nukleus 203 Der Musikmarkt 12/1973. 204 Interview in Sounds 5/1970. 205 Zur New Yorker Club-Szene ab Mitte der 1960er Jahre und ihre Strahlkraft auf die Bundesrepublik vgl. Husslein, Creamcheese, S. 16f.; Chapple/Reebee, Musikindustrie, S. 170–172; Gabree, World of Rock, S. 41f. Im Vereinigten Königreich gilt der »Underground«-Club U.F.O. in London als wesentliches Vorbild für die Ausbildung einer bundesdeutschen Clubkultur; er existierte nicht einmal ein Jahr, von Dezember 1966 bis September des folgenden Jahres; »Hausband« war Pink Floyd. Gestaltungselemente des Clubs wie Lightshows und Projektionen, Film Screenings, Living Theater, »psychedelische« Wandmalereien und anderes mehr fanden sich mit Verzögerung auch in der Bundesrepublik, vgl. Asbjørnsen, Cosmic Dreams, S. 10.
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Abbildung 6: Das Free Festival am Deutschen Eck in Koblenz.
der neuen Jugendkultur [und] Katalysator für die Integration der westdeutschen Jugendkultur in das internationale Bezugssystem des Pop“206 sammelten Besucher wie etwa Siegfried E. Loch und Michael Leckebusch dort erste Eindrücke und Erfahrungen, die als Akteure der Musikindustrie respektive Medien einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung und Verbreitung des Krautrock ausübten. Als sich der Star Club als jahrelanger Inbegriff der Pop-Avantgarde in der Bundesrepublik um 1967 zu überleben begann, hatten sich Loch als bundesdeutscher Geschäftsführer von Liberty Records und Leckebusch als Macher des Beat Clubs längst als Entscheidungsträger und Protagonisten in der bundesdeutschen Poplandschaft etabliert. In etwa zeitgleich mit dem langsamen »Ableben« des Star Clubs entstand „ein Netz sub- und gegenkultureller Orte, das die ganz Bundesrepublik überzog“207. Dazu gehörten besonders auch »progressive« Clubs, in denen psychedelische Popmusik hoch im Kurs stand, und die wie die Festivals jener Jahre oft gemischte Spektakel mit Happenings, Living Theater, Underground-Filmen, Projektionen sowie politischen Lesungen und Aktionen boten. Das Konzept war auf synästhetische Erfahrungen ausgerichtet: „Damals gab es einen Wandel in der Club- und DiskothekenSzene“208, so ein Rückblick auf die West-Berliner Szene am Ende der 1960er Jahre:
206 Siegfried, Time, S. 209. 207 Ebd., S. 456. 208 Strieben, Live-Rock, S. 167.
112 | K RAUTROCK TRANSNATIONAL „Die hellen, schlecht eingerichteten Beat-Schuppen verschwanden oder verwandelten sich. Die Läden wurden dunkler und aufwendiger eingerichtet: Schwarz getünchte Wände, leuchtende Poster mit jointrauchenden Mädchen, indisch-mystische Malereien und eine härtere, kompromißlose Musik machten sich breit, Lichtspiele mit blubbernden Farben, Stroboskope und indirekte Beleuchtung wurden beliebt, man begann, allein und freier zu tanzen. Das »Sun« war der erste Undergroundladen in Berlin, aber bald waren es andere Namen. »Zodiak«, »Beautiful Balloon«, »Park/Takt«, »Sound«.“
Insbesondere das Zodiak Free Arts Lab in West-Berlin spielte für die Entwicklung des Krautrock eine zentrale Rolle. Gegründet unter anderem von Conrad Schnitzler und Hans-Joachim Roedelius, war der Club im Gebäude der Schaubühne am Halleschen Ufer nicht nur „Berlins Antwort auf das Londoner U.F.O.“209, sondern vor allem auch Ursprungsort mehrerer zentraler Gruppen des Krautrock und frühes Experimentierfeld für viele seiner Protagonisten. Das Interieur entsprach den Beschreibungen: Der große zentrale Raum namens »Happening Space« hatte schwarze Wände und eine Bühne in der Mitte, auf der jeden Abend Konzerte und »öffentliche Proben« stattfanden; die Grenzen zwischen Auftritten und Proben verschwammen ineinander. Conrad Schnitzler charakterisierte die Raum- und Klangatmosphäre des Clubs folgendermaßen: „Meine Welt warˈn die Maschinen, so sollte es klingen. Für dieses Unterfangen, solche Art von Tönen zu erzeugen, brauchten wir […] nicht dieses bunte Gewusel. […] Es qualmte nur so in der Bude, damit man sich nicht gut sehen konnte, zündeten die Buben und Mädels gerolltes Papier mit Tabak und Treibstoff an, inhalierten es und pusteten es wieder aus, lustig warˈs, das kann ich euch sagen. Auf diese Art konnte man ungeahnte Tonwahrnehmungen machen, die wir bis heute nicht vergessen haben, von denen wir immer noch naschen.“210
Conrad Schnitzler hatte an der Kunstakademie Düsseldorf (unter anderem bei Joseph Beuys) studiert und nach seinem Umzug nach West-Berlin zeitweise mit Wolf Vostell zusammengearbeitet,211 was sich insbesondere im Happening-Charakter des Clubs spiegelte. Der spektakulär eingerichtete und klingende Ort avancierte zu einem der wichtigsten Treffpunkte des West-Berliner Underground, in dem „Musiker, Filmer und Lebenskünstler jeder Schattierung“212 verkehrten, aber auch Mitglieder der Umherschweifenden Haschrebellen, der späteren Bewegung 2. Juni, der 209 Asbjørnsen, Cosmic Dreams, S. 10. 210 Schnitzler, Von freien Tönen, S. 156. Zur Rolle des Zodiak für den Krautrock vgl. auch einen Bericht des Szenekenners George Früchtenicht in Deutsche Popszene [undatiert, etwa 1972], Kabarettarchiv Mainz. 211 Vgl. Schnitzler, Von freien Tönen, S. 154–157. 212 Krenz, Zodiak, S. 62.
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Rote Armee Fraktion und der Partei Die Grünen, bis hin zu Ton Steine Scherben und zentralen Akteuren des späteren West-Berliner Punk und New Wave.213 Für den Krautrock kann man die Bedeutung des Zodiak kaum überbewerten: Fast die gesamte, später so genannte »Berliner Schule« hat dort musikalische und konzeptionelle Wurzeln. Agitation Free waren eine der »Hausbands«, aber auch Edgar Froese (Tangerine Dream) und Klaus Schulze spielten phasenweise täglich an diesem Ort,214 und mit Dieter Moebius, Hans-Joachim Roedelius und Conrad Schnitzler ging die 1969 gegründete Gruppe Kluster direkt aus dem Zodiak hervor. „Es war eine drogenschwangere, experimentelle Zeit und hier war ihr Forum“215, so Lutz Ulbrich von Agitation Free rückblickend über den Club. Die Tatsache, dass im Zodiak offen „Drogen aller Art“216 konsumiert wurden, war wohl einer der Hauptgründe für die kurze Lebensdauer; nach mehreren Polizeirazzien wurde das Zodiak im Sommer 1969, nach nicht einmal einem Jahr, wieder geschlossen. West-Berlin war nicht der einzige und auch nicht der erste Ort, an dem die neue Clubkultur Einzug hielt. Bereits im Sommer 1967 wurde in der Düsseldorfer Altstadt, in direkter Nachbarschaft der neu erbauten Kunsthalle, „Deutschlands erster Psychedelic Club eröffnet. Der Laden heißt Creamcheese.“217 Hauptinitiator war der Maler und Objektkünstler Günther Uecker, der nach ersten Erfolgen als Mitglied der Künstlergruppe Zero seit 1965 ein Atelier in New York unterhielt und dort „Zeuge der sich unter dem Einfluss der Beatles und der British Invasion verändernden Popmusikszene in den USA [war], die wiederum für ihn zum Impulsgeber für die Ausstattung und Konzeption des Lokals in Düsseldorf wurde“218. Die Grundidee einer Verschmelzung von Popmusik und Kunst sowie die konzeptionelle Grundierung des Creamcheese beruhten dabei insbesondere auf dem Vorbild von Andy Warhols Club Dom in New York. Auch der Namensgeber des Creamcheese stammte aus den Vereinigten Staaten; dabei stand das zu Berühmtheit gelangte, im Stile der zeitgenössischen Pop-Art gestaltete Cover des Albums Freak Out! der Mothers of Invention Pate: „Suzy Creamcheese, whatˈs got into you?“ ist dort in einer Sprechblase auf der Rückseite zu lesen. Neben Günther Uecker wirkte eine Vielzahl von Künstlern an der Ausgestaltung des Clubs mit. In den großen, weiß gehaltenen Räumen stand eine von Heinz Mack entworfene, etwa 15 Meter lange, metallene Bar. Es gab außer einigen Bar213 Vgl. ebd.; vgl. auch Schnitzler, Von freien Tönen; Brown, Global Sixties, S. 171f. 214 So Schulze in Whalley, Krautrock. 215 Ulbrich, Lüül, S. 27. 216 Krenz, Zodiak, S. 65. 217 Sounds 4/1967. Zum Creamcheese vgl. Husslein, Creamcheese, S. 9; auch Siegfried, Time, S. 473f; eine detaillierte zeitgenössische Beschreibung in Kaiser, UntergrundClub; erwähnt auch bei Kaiser, Gegenkultur, S. 209; zudem in Hübsch, Clubs, S. 140. 218 Husslein, Creamcheese, S. 11.
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Abbildung 7: Das Creamcheese in Düsseldorf um 1970. Rechts an der Wand eine Lichtinstallation von Ferdinand Kriwet.
hockern keine Bestuhlung; im Raum verteilt standen vielmehr bewegliche Podeste, die als Sitz-, Liege- oder Tanzfläche dienen konnten. Wandgemälde von Gerhard Richter, Lichtinstallationen von Ferdinand Kriwet, Spiegelobjekte von Adolf Luther, hängende Deckeninstallationen wie etwa kopfüber hängende, gelbe GummiEnten von Konrad Fischer-Lueg, Bilder von Daniel Spoerri oder eine lichtkinetische Plastik von George Rickey waren Teil der Einrichtung. Im Eingangsbereich stand eine Wand aus Fernsehgeräten, die unter anderem Live-Aufnahmen von den zwei im »Aktionsraum« installierten Kameras übertrugen. Der »Aktionsraum« war der größte und zentrale Ort des Creamcheese, der eigentliche Veranstaltungsraum, in dem „allabendlich ein Spektakel aus Licht- und Bildprojektionen, Musik, Tanz und Aktionen geboten wurde“219. Auch das erste Stroboskop in der Bundesrepublik befand sich in diesem Raum. „Alle Sinne wurden permanent mit stets wechselnden Eindrücken angesprochen, so dass Traum und Realität rauschartig ineinander verschwammen“220. Der Club erlangte von Beginn an große mediale Aufmerksamkeit;221 das „für Deutschland einmalige Popzentrum“222
219 Ebd., S. 25. 220 Siegfried, Time, S. 474; ähnlich bereits Kaiser, Untergrund-Club, S. 189. 221 Ein ausführlicher Bericht fand sich etwa in Die Zeit vom 03.11.1967; ein Fotobericht auch in Sounds Nr. 5/1968.
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wurde als Bühne für Experimentaltheater, Modenschauen, Film, Performance, als Diskothek und als Bühne für Konzerte genutzt, wobei der experimentelle und progressive Charakter des Dargebotenen immer zentrales Kriterium war: Tangerine Dream, Can, Kraftwerk oder Anima als zentrale Gruppen des Krautrock lieferten auch hier den Soundtrack der bundesdeutschen Pop-Avantgarde. Was bleibt festzuhalten in Sachen Kommunikationsräume der Festivals und Clubs? Nachdem die frühen Gruppen des Krautrock am Ende der 1960er Jahre kaum Auftrittsmöglichkeiten zur Verfügung hatten und Konzerte in aller Regel entweder im Rahmen von Kunstausstellungen oder an Universitäten stattfanden, wurden Popfestivals und Clubs im Laufe der 1970er Jahre zu zentralen Orten des Krautrock. Dabei war nach einer experimentellen Phase um 1970 eine zunehmende Professionalisierung festzustellen; für die zunächst noch experimentell angelegten Popfestivals und Konzerte entwickelte sich ein festes Schema, das sich im Verlauf der 1970er Jahre weiter verfestigte. Interaktive Elemente wie Workshops oder Diskussionsveranstaltungen sowie Bildende und Darstellende Künste verschwanden aus dem Programm und machten der Abfolge von Interpreten innerhalb weitgehend standardisierter Zeitbudgets Platz, begleitet in aller Regel von visuellen Effekten, Bewirtung und Merchandise. Dieser Prozess wurde begleitet von teils heftigen Richtungskämpfen, bestimmt von Widersprüchen in der Vermarktung »progressiver« Popmusik oder des musikalischen »Underground«, wobei Vordenker der Gegenkultur und das Feuilleton großer Tageszeitungen ebenso beteiligt waren wie Veranstalter oder die Bands selbst. Als Reaktion auf diesen Diskurs und auf die tatsächliche oder imaginierte »kommerzielle Vereinnahmung« der Live-Popmusik etablierte sich auch in der Bundesrepublik die Form des meist in privater Initiative organisierten Non-Profit-Festivals, das nach dem DIY-Prinzip organisiert wurde und sich in vielen Fällen auf die Präsentation bundesdeutscher Popmusik konzentrierte. Neben den experimentellen Festivals um 1970 waren es insbesondere diese Non-Profit-Festivals, die den Gruppen des Krautrock Möglichkeiten der Präsentation, aber auch der Kommunikation und weiteren Vernetzung boten. Mit zum Teil deutlich im fünfstelligen Bereich liegenden Besucherzahlen waren Festivals dieser Art mitunter erstaunlich erfolgreich; sie verschaffen der Gegenkultur die Möglichkeit einer als »authentisch« empfundenen Vergemeinschaftung. Mit den Essener Songtagen 1968 war bereits das erste Pop-Festival der Bundesrepublik ein Non-Profit-Festival gewesen. Ebenfalls ab etwa 1970 entwickelte sich in der Bundesrepublik eine Clublandschaft nach angloamerikanischem Vorbild, die für den Krautrock eine ähnlich zentrale Rolle einnahm wie besagte Festivals – und wesentlich durch Akteure des Krautrock und seines Umfelds geprägt wurde. Die frühen Experimentalclubs der Bundesrepublik wie das Creamcheese in Düsseldorf oder das Zodiak Free Arts Lab 222 Schriftstück aus dem Nachlass Ingeborg Schobers, in Privatbesitz.
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in West-Berlin waren nicht nur Bühne und Kommunikationsraum der Gruppen und Interpreten des Krautrock untereinander und mit dem Publikum, sondern vernetzten die »progressive« bundesdeutsche Popmusik mit der Gegenkultur und anderen Ausprägungen der Popkultur. Die neuartigen Clubs wurden von einzelnen Akteuren des Krautrock mitunter initiiert und aktiv mitgestaltet, prominent etwa das Zodiak; mit der zunehmenden Professionalisierung der bundesdeutschen Popmusikszene und der Etablierung von Agenturen und Tourneeplänen in den 1970er Jahren (anstatt einzelner, selbst organisierter Konzerte) wurden Clubs zu zentralen Orten der rasch zahlreicher werdenden Ausprägungen »progressiver« Popmusik.
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P OPMEDIEN UND R EZEPTION IN
DER
B UNDESREPUBLIK
„Über ein mangelndes Angebot an Pop-Musik kann ich nicht klagen. Die Sendungen des AFN, BFBS, oder die englischsprachige Sendung von Radio Luxemburg bieten mehr als genug […]. Bitte fragen Sie mich nicht nach deutschen Sendern.“223 Michael Leckebusch, 1969
Die heute selbstverständliche, flächendeckende Versorgung mit elektronischen Massenmedien war in der Bundesrepublik der 1970er Jahre ein relativ neuartiges Phänomen, innerhalb des vorliegenden Untersuchungszeitraums veränderte sich die Ausstattung der Haushalte enorm.224 Zwischen Mitte der 1960er und Ende der 1970er Jahre stieg die Anzahl der Haushalte mit Fernsehgeräten von 55 auf 97 Prozent, mit mindestens zwei Radiogeräten von 15 auf 63 Prozent. 28 Prozent der Haushalte hatten Ende der 1970er Jahre bereits mehr als ein Fernsehgerät, 73 Prozent aller Geräte waren Farbfernseher. Hinzu kam die rasch zunehmende Ausstattung mit qualitativ immer hochwertigeren Abspielgeräten für Tonträger jeder Art: Auf die 22 Millionen bundesdeutschen Haushalte entfielen 1977 etwa 18 Millionen Plattenspieler, etwa 50 Prozent hatten bereits einen Kassettenrecorder; die Zahl der verkauften Tonträger vervielfachte sich im Laufe der 1970er Jahre.225 Mit der Zunahme elektronischer Massenmedien und dem Siegeszug des Fernsehens nahm der Medienkonsum insgesamt zu und differenzierte sich zunehmend aus; das fand seinen Niederschlag unter anderem in Form spezieller, auf bestimmte Zielgruppen zugeschnittener Medienprodukte, auch im »klassischen« Printbereich. Das »Massenpublikum« wurde zunehmend durch »Zielgruppen« ersetzt. In den Medienwissenschaften wurde das bereits zeitgenössisch als medialer Ausdruck des postindustriellen Zeitalters gedeutet.226 In der Ausdifferenzierung des Medienkonsums spielten altersspezifische Unterschiede eine große Rolle. Teenager und junge Erwachsene waren beispielsweise weitaus weniger am Fernsehen interessiert als Ältere; sie favorisierten Printmedien und das Radio. Im Printbereich stieg die Zahl der speziell auf Jüngere zugeschnittenen Angebote, auch das Radio entwickelte sich tendenziell zu einem eher »jugend-
223 Michael Leckebusch in Underground 7/1969. 224 Vgl. als Überblick Schildt, Sozialgeschichte, S. 62; zu den folgenden Zahlen Berg/Kiefer (Hg.), Massenkommunikation II. 225 Vgl. Zeppenfeld, Tonträger, S. 25; zu den Tonträgern vgl. Hung/Esteban, Record Sales. 226 Vgl. Berg/Kiefer (Hg.), Massenkommunikation II, S. 131.
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lichen« Medium; beides Ausdruck dafür, dass sich „erstmals eine generationell spezifische Teil-Öffentlichkeit mit ihren eigenen Medien“227 herausbildete. Zentraler Inhalt dieser Medien war Popmusik, und ihre Ausrichtung war klar transnational. Wichtigste – positive wie negative – Abziehbilder und zentrale Referenzpunkte nicht nur für popkulturelle Inhalte, sondern auch für die Art und Weise ihrer Vermittlung waren die Medienangebote der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs.228 Die Medialisierung war untrennbar mit dem Massenkonsum verwoben; so machte oft erst die Art der medialen Vermittlung neue Konsumtrends und Veränderungen der Lebensstile attraktiv und nachahmenswert.229 Das galt in besonderem Maße für die »generationell spezifische Teil-Öffentlichkeit« junger Menschen, für die transnationale Vermittlung von Stil und Habitus, und insbesondere für Popmusik.230 Popmusik war „seit jeher nur über Massenmedien erfahrbar [und] ursprünglich mit massenmedialer Verbreitung verknüpft“231; als implizit mediales Phänomen war sie am Ende der 1960er Jahre zur zentralen Komponente des Medienkonsums junger Menschen in der Bundesrepublik geworden. Im Verlauf der 1970er Jahre stabilisierte sich dieser Trend.232 Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass das 227 Schildt, Medialisierung, S. 18; auch Siegfried, Draht zum Westen, S. 83. 228 Vgl. Requate, Amerikanisierung, S. 35f; zur selektiven Aufnahme kultureller Angebote auch in diesem Fall vgl. Daniel/Schildt, Einleitung, S. 16; konkret zum Einfluss USamerikanischer Branchenblätter der Musikindustrie auf den bundesdeutschen Musikmarkt seit den 1950er Jahren vgl. Nathaus, Amerikanisierung, S. 206f. 229 Vgl. Ruppert, Um 1968; auch Schildt, Amerikanische Einflüsse, S. 437. 230 Zum transnationalen Charakter generationeller Abgrenzungen durch Popmusik „als exklusivem jugendlichen Bereich“ vgl. Schildt, Medialisierung, S. 24; zu Medien als Indikatoren für den transnationalen Charakter von Jugendkulturen vgl. zeitgenössisch Dieter Baacke: „Der internationalen Ausbreitung des Konsums entspricht in den Industriegesellschaften die Reichweite der Medien. Dabei unterstützen die Pop-Zeitschriften den riesigen Markt, der Teenagern und Twens vorbehalten ist. […] Die kommerziellen Jugendzeitschriften sind Bestandteil eines umfassenden, internationalen Kommunikationssystems, dessen Symbole und Inhalte weitgehend die gleichen sind“, so Baacke, Being Involved, S. 554. Für Baacke waren Pop-Zeitschriften (im Rückgriff auf Roland Barthes) »Mythenträger«, die den Mythos des Pop-Stars und dessen fiktive Welt transportierten und die schnöde Realität von Geschäft und Musikindustrie dabei ausklammerten, vgl. ebd., S. 558f. 231 Schneider, Popmusik, S. 22f.; die enge Bindung an die Massenmedien bestimmte von Beginn an sowohl den semantischen Bedeutungshorizont der Popmusik als auch ihre musikalischen Aspekte, das Instrumentarium und den Produktionsprozess, so Schneider weiter. Ähnlich auch bereits Baacke, Beat, S. 135. 232 Vgl. zeitgenössisch Murdock, Protestpotential, S. 275f.
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Fernsehen trotz des weltweiten Booms der Popmusik „seltsam zögerlich“233 reagierte und der Beginn des Fernsehzeitalters im Hinblick auf die Popmusik wesentlich später anzusetzen ist.234 Der von Radio Bremen produzierte, 1965 bis 1972 ausgestrahlte und transnational erfolgreiche Beat Club war eine frühe Ausnahme.235 Als „Medium der kulturellen Liberalisierung, als Schnittstelle für die Vermittlung westlicher Popmusik in der Bundesrepublik“236 wurde er zu einem enormen Erfolg unter jugendlichen Zuschauern, weit über die Bundesrepublik hinaus; mit seiner enormen transnationalen Strahlkraft gehört er zu den erfolgreichsten bundesdeutschen TV-Exporten überhaupt. Die Liste der im Beat Club auftretenden Gruppen und Interpreten liest sich wie das Who is Who der Popmusik der späten 1960er und frühen 1970er Jahre.237 Als besonders innovativ galt die visuelle Präsentation: Erfolgsrezept war eine überzeugend suggerierte »Authentizität«, die über eine Reihe konzeptioneller und technischer Neuerungen vermittelt wurde. Zum einen spielten die Musiker live und bis 1967 vor tanzendem Publikum, was auf dem Bildschirm »echte« Konzertatmosphäre erzeugen sollte; das Ausreizen neuer technischer Möglichkeiten unter Einbeziehung aktueller subkultureller Impulse, etwa in Form von Flüssigkeitsprojektionen und Lichtinstallationen, sowie eine bewusst unruhige Kameraführung, eine hohe Schnittfrequenz und Bildcollagen sollten die TV-Konzerte zu einem audiovisuellen Gesamterlebnis formen. Weit über Musik hinaus vermittelte der Beat Club Stil und 233 Rumpf, Pop & Kritik, S. 63. 234 Vgl. ebd.; auch Siegfried, Elektrizitätswerk, S. 259. Das Fernsehzeitalter erreichte die Popmusik erst in den 1980er Jahren: Der Sendestart des US-amerikanischen Senders MTV Music Television im Jahr 1981 stellte einen neuen Kulminationspunkt audiovisueller Präsentation von Musik, Konsum und Kultur dar, vgl. Wicke, Popmusik, S. 61. Der programmatisch erste Titel Video Killed the Radio Star von The Buggles läutete das Ende der Vormachtstellung des Radios ein. Die Auswirkungen waren unmittelbar zu spüren: Binnen weniger Monate feierten mehrere auf MTV gesendete Stücke kommerzielle Erfolge, die nicht zuvor im Radio gespielt und beworben worden waren – ein bis dato unvorstellbarer Vorgang. Ähnliche Entwicklungen in den 1980er Jahren auch in der Bundesrepublik zu beobachten, vgl. Haring, Heimatklang, S. 116f. 235 Vgl. Siegfried, Time, S. 335–354; zur Rolle des Ideengebers und Initiators des Beat Clubs, Ernst Bornemann, vgl. Siegfried, Lüste. Bornemann schrieb während des Zweiten Weltkriegs im Londoner Exil u.a. als Kolumnist für den britischen Melody Maker und und kehrte als Remigrant 1960 mit dem expliziten Ziel in die Bundesrepublik zurück, die kulturelle »Westernisierung« der Deutschen voranzubringen. 236 Siegfried, Time, S. 335. 237 Für einen Überblick vgl. http://www.tv.com/shows/beat-club/cast/ oder The Internet Movie Database http://www.imdb.com/title/tt0239161/fullcredits?ref_=tt_cl_sm#cast [14.09.2014].
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Habitus der Global Sixties für eine »generationell spezifische Teil-Öffentlichkeit« junger Menschen. Für den Krautrock spielte der Beat Club eine wichtige Rolle, die zugleich dessen innovativen und progressiven Charakter unterstreicht. Etwa zwei Jahre nach der Erstsendung war es 1967 zu konzeptionellen Veränderungen gekommen, in deren Zuge bundesdeutsche Popmusikaus der Sendung verschwunden war; dem verantwortlichen Redakteur Michael Leckebusch galt sie als epigonenhaft und minderwertig. Angesichts des Krautrocks veränderte sich die Haltung drei Jahre später. In den letzten zwei Sendejahren des Beat Club von 1970 bis 1972 traten als einzige bundesdeutsche Vertreter zentrale Akteure des Krautrock auf: Amon Düül II (Folge 60, 24.10.1970), Popol Vuh (Folge 66, 24.04.1971), Kraftwerk (Folge 67, 22.05.1971), Can (Folge 70, 09.08.1971) und Guru Guru (Folge 77, 25.03.1972). Die Auftritte gehören zu den seltenen Fernseh-Momenten des Krautrock und sie signalisieren zudem, dass Leckebusch trotz seiner generellen Abneigung gegenüber bundesdeutschen »Epigonen« an innovativen, progressiven Beiträgen auch aus der Bundesrepublik durchaus interessiert war. Um 1970, zeitgleich mit der experimentellen Phase in der bundesdeutschen Konzert-, Festival und Clublandschaft, gab es neben dem Beat Club für kurze Zeit eine Reihe weitere, hoch innovative Popmusik-Sendungen im bundesdeutschen Fernsehen zu sehen.238 Das beim WDR produzierte Magazin Baff etwa kombinierte ab Mai 1968 auf eine bis dahin neuartige Weise in Form loser Folgen von Musikbeiträgen und politischen Reportagen ohne Moderation. Interessant ist Baff in vorliegendem Zusammenhang deswegen, weil sich einige dieser Kurz-Reportagen, die ab Herbst 1968 auch teilweise im Rahmen des Beat Clubs ausgestrahlt wurden, mit Krautrock beschäftigten.239 Die erfolgreiche und Aufsehen erregende Sendereihe führte zu weiteren experimentellen Programmen gemischt popkulturell-politischer Ausrichtung, von Bildstörung über Zoom und Tele-Skop bis P. 1971 war die experimentelle Phase des bundesdeutschen Fernsehens allerdings schon wieder vorbei; der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde von einer konservativen »Tendenzwende« erfasst, in deren Folge sich die Sendezeit progressiver Jugend- und Popsendungen stark reduzierte.240 Nach dem Ende des Beat Clubs im Jahr 1972 gab es im bundesdeutschen Fernsehen keine innovative Popmusik-Sendung mehr. Schon die etwa zeitgleich von 1966 bis 1970 im ZDF ausgestrahlte Konkurrenz-Sendung 4-32-1 Hot & Sweet hatte einen vergleichsweise biederen Charakter, und auch die Nachfolger Disco 71-82 sowie der Musikladen (1972 bis 1984, ARD), von Sounds symptomatisch als „musikalischer Ramschladen“241 bezeichnet, präsentierten Pop238 Vgl. Siegfried, Time, S. 564–568. 239 Dazu gehört etwa der erwähnte Bericht über das Popfestival Die deutsche Pop-Scene. Free Open-Air-Festival in Landshut, Juli 1971. 240 Siegfried, Unsere Woodstocks, S. 60. 241 Sounds 11/1976; sehr ähnlich etwa auch Fachblatt 8/1976.
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musik lediglich „in ihren populärsten Formen“242. Für den Krautrock spielten diese Formate allesamt keine Rolle – ausgenommen der Rockpalast des WDR, in dem Krautrock wiederum eine Vorreiterrolle spielte: Guru Guru traten im Juni 1976 als erste bundesdeutsche Band in diesem Format auf. Bis in die frühen 1980er Jahre war nicht das Fernsehen, sondern das Radio zentrales Medium für die Verbreitung von Popmusik – transnational.243 Dabei hatte sie in den ersten beiden Jahrzehnten ihrer Geschichte teils enorme Widerstände innerhalb der nationalen Radiolandschaften zu überwinden. Auch in der Bundesrepublik nahmen sich die Rundfunkanstalten mit Verspätung der Popmusik an, der Einfluss westlicher und insbesondere US-amerikanischer Popkultur lief am öffentlichrechtlichen Rundfunk zunächst vollkommen vorbei.244 Bis Ende der 1960er Jahre »versorgten« sich bundesdeutsche Hörer über die Soldatensender der Alliierten wie dem US-amerikanischen AFN245 und dem britischen BFBS, über Radio Luxemburg sowie im Norden der Republik teilweise auch über die aus der Nordsee sendenden, so genannten »Piratensender«. Die »popmusikalische Sozialisation« junger Bundesbürger in den 1950er und 1960er Jahren, wesentlich auch vieler späterer Akteure des Krautrock, fand damit über Radioprogramme statt, die außerhalb der Bundesrepublik produziert wurden: „Die neue Musik drängte sich aber am querliegenden öffentlich-rechtlichen System vorbei in die Schallplattenläden, in die Musikautomaten der Milchbars, auf die Rummelplätze und in die Lichtspieltheater.“246 Stilprägend für die Entwicklung der Popmusik in Westeuropa und indirekt auch des Krautrock waren besagte Piratensender der Nordsee in den 1960er Jahren.247 Obwohl sie nur für einen kleineren Teil der bundesdeutschen Hörer direkt zu empfangen waren, ist ihr Einfluss auf die Entwicklung der Popmusik und der Radiolandschaft in Westeuropa aus mehreren Gründen kaum zu überschätzen. Erstens waren sie wesentlich an dem Import US-amerikanischer Sendekonzepte nach Europa beteiligt: Die Programmstruktur der Piratensender, die auf Popmusik, unterbrochen durch kurze Anmoderationen und Werbepausen sowie regelmäßige Nachrichten setzte – das bis heute gängige Konzept – war in den 1950er Jahren von kommerziellen Radiostationen in den USA entwickelt worden und breitete sich mit den
242 Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 19f. 243 Vgl. zeitgenössisch Melly, Revolt into Style, S. 186; Kaiser, Rock-Zeit, S. 184. Zur Rückwirkung des Mediums Radio auf die Produktion von Popmusik vgl. Wicke, Popmusik, S. 57. 244 Vgl. Kleinsteuber, Hörfunk, S. 513. 245 Zum AFN vgl. Schäfers, AFN. 246 Kleinsteuber, Hörfunk, S. 527. 247 Vgl. Harris, Waves; Harker, Money, S. 79f.; Siegfried, Time, S. 327–329.
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»Piraten« über Westeuropa aus.248 Zweitens waren die Piratensender bis Mitte der 1960er Jahre Katalysatoren für die Verbreitung des Skiffle und des Beats innerhalb Großbritanniens und damit wesentlich mitverantwortlich für die weitere, grenzübergreifende Verbreitung und Verfestigung dieser Stile; erst auf dieser Basis konnten der weltweite Siegeszug des britischen Beat und die British Invasion überhaupt stattfinden. Drittens schufen die Sender mit ihrem enormen Erfolg neue Hörerwartungen und Hörgewohnheiten, die nationale Programmentwicklungen direkt beeinflussten: Die bundesdeutschen und britischen Sender gingen nach dem Verbot der Piraten im Jahr 1967 zunehmend auf die jugendlichen Hörerwünsche ein und übernahmen dabei die von den Piratensendern praktizierten Konzepte.249 Schließlich viertens gab es starke personelle Verbindungslinien zwischen den Piratensendern und den entstehenden Popmusik-Sendern der öffentlichen Anstalten; ehemalige Moderatoren und DJs der Piraten wurden angeworben, bauten die neuen Popsender wesentlich mit auf. Dazu gehörte etwa der britische DJ John Peel, über Jahrzehnte einer der einflussreichsten Radio-DJs Europas und einer der zentralen Akteure der transnationalen Verbreitung des Krautrock.250 Zu den Piratensendern in der Nordsee gibt es noch einen Aspekt anzumerken, der Popmusik als mediales Phänomen, aber auch die Auseinandersetzungen um die Verbindungen von Pop und Politik bzw. um Konzepte wie »Authentizität« vs. »Kommerz« besonders anschaulich macht. Die Piraten erreichten Mitte der 1960er Jahre täglich ein vornehmlich jugendliches Millionenpublikum in weiten Teilen Nordeuropas und gehörten damit zu den wichtigsten Werbeträgern. Ihre Funktion als Werbeplattformen war Grund ihrer Existenz: Mit der Ausrüstung von Schiffen und dem Sendebetrieb waren enorme Investitionen verbunden, die durch Werbung und den Verkauf von Sendeminuten an die Musikindustrie nicht nur refinanziert werden sollten, sondern mit denen darüber hinaus von Beginn an entsprechende Gewinnerwartungen verbunden waren.251 Der Kauf von Sendeminuten und die Nutzung der Piraten für die Verbreitung von Musik war nicht nur für die Major Labels 248 Vgl. etwa Frith, Sociology, S. 126f.; Dussel, Triumph, S. 136; zur Wirkung auf Großbritannien vgl. Cohen, City, S. 32f. 249 Vgl. Siegfried, Draht zum Westen, S. 88; auch Frith, Sociology, S. 122. 250 Vgl. Melly, Revolt into Style, S. 193; Frith, Popular Music. Peel war Anfang bis Mitte der 1960er Jahre unter anderem als Journalist und DJ Teil der British Invasion in den Vereinigten Staaten; Mitte der 1960er Jahre kehrte er nach Großbritannien zurück und wurde DJ bei einem Piratensender in der Nordsee. Nach dessen Schließung baute Peel den neu geschaffenen Popmusiksender BBC Radio One mit auf und erhielt dort die eigene Sendung Pick of the Pops, die in einer wachsenden Zahl von Ländern ausgestrahlt wurde. Eines der innovativsten Programmelemente waren Live-Auftritte innerhalb der Sendung, die als John Peel Sessions auch auf Schallplatten veröffentlicht wurden. 251 Vgl. Harris, Waves; Harker, Money, S. 79; Frith, Sociology, S. 126f.
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der Musikindustrie interessant; da die Preise für Sendezeit vergleichsweise niedrig waren, erhielten auch kleinere Labels die Möglichkeit, ihre Musik zu verbreiten – eine Möglichkeit, die sie in staatlichen Sender nicht hatten.252 So waren die Piratensender einerseits kommerzielle Unternehmen, eröffneten aber andererseits neuen Raum für Innovationen »von den Rändern« der Popmusik; letzteres unterstreicht ihre Bedeutung. Piratensender waren ein Produkt der Musikindustrie, privater Investoren und halbstaatlicher Bürokratie; sie füllten eine Marktlücke, die durch die zögerliche Haltung der der öffentlichen Sendeanstalten entstanden war. Das romantische Bild der »edlen Piraten«, die selbstlos gegen die Musikindustrie und die Ignoranz staatlicher Medienbetriebe zu Felde zogen, um die Botschaft der neuen Popmusik zu verbreiten, hält sich nichtsdestotrotz bis heute hartnäckig. Unmittelbare Folge des Verbots von Piratensendern 1967 war die Institutionalisierung von Radioformaten nach deren Vorbild, allerdings durchaus mit nationalen Ausprägungen und Unterschieden. Der britische Sender BBC Radio One etwa, dessen Sendebetrieb in direktem Anschluss an das Verbot der Piraten aufgenommen wurde, verzichtete auf Werbung und sendete verschiedene Pop-Formate. Der öffentlich-rechtliche Ö3 aus Österreich war der erste deutschsprachige unter den Popmusik-Sendern; er hatte in Süddeutschland viele Hörer.253 Radio Luxemburg wiederum war bereits lange vor Auftauchen der Piratensender »Hauptquelle« für Popmusik gewesen; im Falle der Bundesrepublik half Radio Luxemburg im Laufe der 1950er und 1960er Jahre wesentlich dabei, „die Blockade der neuen Popmusik aus England und den USA [zu] überwinden“254, die durch die ablehnende Haltung der verantwortlichen Programmgestalter in der Bundesrepublik entstanden war. Als ältester kommerzieller Popsender Europas war Radio Luxemburg mit dem Erfolg der Piraten zwar etwas unter Druck geraten, passte sein Programm allerdings schnell an deren erfolgreiche Formate an und erlebte nach deren Schließung eine Renaissance. Bereits im Jahr 1967 war Radio Luxemburg mit 15,5 Millionen Hörern wieder das mit großem Abstand meistgehörte Pop-Programm der Bundesrepublik, und daran änderte sich auch in den Folgejahren nichts.255 Im Radio des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik fanden die popmusikalischen Vorlieben junger Hörer bis zum Ende der 1960er Jahre keinen Widerhall. Besonders angloamerikanische Popmusik wurde vielerorts entweder als Bedrohung empfunden oder als minderwertig gezeichnet, ihre Verbreitung abge252 Vgl. dazu Kaiser, Rock-Zeit, S. 185; Frith, Sociology, S. 89 und 102; der Piratensender Radio Caroline beispielsweise soll pro Sendeminute je nach Tageszeit zwischen 70 und 100£ verlangt haben, vgl. Harris, Waves, S. 53f. 253 Vgl. Rumpf, Pop & Kritik, S. 26; auch Siegfried, Time, S. 327; Dussel, Triumph, S. 137. 254 Schildt, Medialisierung, S. 18. 255 Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 271. Siegfried, Drath zum Westen, S. 88.
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lehnt. Die jahrelangen Auseinandersetzungen waren letztendlich „ein Kampf um die kulturelle Kontur der Bundesrepublik, um den Grad ihrer Verwestlichung“256. Erneuerungsimpulse und Innovationen kamen demzufolge insbesondere »von außen«. Erst der stetig steigende Druck der Musikindustrie sowie vor allem auch die massive Konkurrenz durch ausländische Sender zwangen die öffentlich-rechtlichen Anstalten zum Umdenken. In den frühen 1970er Jahren, mit mehrjähriger Verzögerung gegenüber den westeuropäischen Nachbarn, wurde auch in der Bundesrepublik ein wachsendes Hörfunk-Angebot für Popmusik gefahren. Die bundesdeutsche Radiolandschaft veränderte sich dadurch grundlegend. Am Ende des Jahrzehnts war eine große Anzahl regionaler Popmusik-Sender unter dem Dach der öffentlichrechtlichen Anstalten entstanden, das Angebot hatte sich dramatisch verändert und erheblich ausdifferenziert.257 Für den Krautrock war das allerdings nicht unbedingt eine gute Nachricht: In den Popmusiksendern der Bundesrepublik dominierte nun die professionell vermarktete angloamerikanische Popmusik, Krautrock stellte auch im weiteren Verlauf der 1970er Jahre lediglich ein Nischenprodukt dar. Neben dem Radio entfalteten vor allem Printmedien eine kanonische Wirkung auf die Konstituierung, transnationale Verbreitung und Ausdifferenzierung der Popmusik im Laufe der 1960er und 1970er Jahre.258 Bundesdeutsche PopZeitschriften erschienen (ähnlich dem Radio) im Vergleich zum Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten erst mit Verspätung und waren, besonders zu Beginn, inhaltlich und konzeptionell stark an englischsprachigen Vorbildern orientiert. Auch in diesem Fall kamen Innovationen demzufolge »von außen«: Vor allem Journalisten, Vertreter der Musikindustrie, DJs und Radiomoderatoren, aber auch Tonmeister und Musiker konsumierten wöchentlich Tausende von englischsprachigen Musikzeitschriften. „Entsprechend der Internationalität der Popstars“259, so Dieter Baacke 1968, sei auch der bundesdeutsche Markt für Popmusik-Zeitschriften „von ausländischen Erzeugnissen besetzt“. Bei den Importen am Ende der 1960er Jahre, wesentliche Indikatoren „für die Einbindung der westdeutsche[n] Jugendkultur in ein internationales Kommunikationsnetz“260, handelte es sich vor allem um Druckerzeugnisse aus Großbritannien; nach Auskunft der Hauptimporteure kamen die Music Weeklies wie der New Musical Express zu 4.000 Stück, der Melody Maker zu 1.200 Stück und Disc zu 1.000 Stück in die Bundesrepublik. Zeitschriften aus den USA spielten aufgrund der hohen Einfuhrkosten eine untergeordnete Rolle,
256 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 273. 257 Vgl. Dussel, Triumph, S. 129–132; Wernecke, Freie Radios, S. 170. 258 Vgl. Frith 1987, S. 136; Nathaus, Rock Revolution in Britain, S. 181; zeitgenössisch zur Rolle von Zeitschriften für die jugendliche Konsumkultur vgl. Kleinen, Werbeträger. 259 Baacke, Beat, S. 552. 260 Siegfried, Time, S. 542.
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wobei Trends aus den Vereinigten Staaten wesentlich über britische Medien in die Bundesrepublik transportiert wurden. Der niederländische Muziek Expres setzte in der Bundesrepublik bereits am Ende der 1960er Jahre hohe Stückzahlen ab, obwohl die Mitte der 1950er Jahre in Den Haag gegründete Zeitschrift noch bis 1969 in Niederländisch und lediglich mit einer beigelegten, spärlichen deutschsprachigen Übersetzung vertrieben wurde. Erst danach erhielt der Musik Express eine eigenständige Redaktion in Köln und erschien in einer deutschsprachigen Ausgabe. Ab 1971 in monatlicher Erscheinungsweise, wurde er im Laufe der 1970er Jahre zu einer der auflagenstärksten bundesdeutschen Zeitschriften für Popmusik. Seine höchste Auflage erreichte er im Jahr 1973 mit etwa 100.000 Stück, ab Mitte der 1970er Jahre pendelte sich die Auflage bei gut 80.000 Exemplaren monatlich ein.261 Der Musik Express verfolgte ein eher am Mainstream ausgerichtetes Konzept mit vier Säulen: Kritiken zu Neuerscheinungen, Insiderwissen aus »der Szene«, einige farbig und groß aufgemachte Reportagen und unregelmäßige, mehrseitige special interest stories über historisch relevante Aspekte der Popmusik. Die Aufmachung war bunt, die Artikel reich bebildert. Für den Krautrock spielte er besonders in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Rolle, als zahlreiche Artikel zu einzelnen Gruppen, deren Veröffentlichungen und vor allem auch deren Tourneen im Ausland erschienen. Eine grundsätzlich andere Ausrichtung hatten die beiden bereits seit Mitte der 1960er Jahre bestehenden bundesdeutschen Musikzeitschriften Song und Sounds. Beide legten ihren Fokus zunächst auf andere Bereiche der Populärmusik, wandten sich jedoch ab 1967 vom New Jazz (Sounds) und dem Folk (Song) ab und der »neuen« Popmusik zu.262 Song wurde ab 1966 zunächst als Folk-Magazin nach dem Vorbild der US-amerikanischen Sing Out! in Frankfurt am Main herausgegeben.263 Die Zeitschrift wandelte sich in den Jahren ihres Bestehens zum Teil erheblich, behielt jedoch die von Beginn an explizit politische und »antikommerzielle«, aber auch transnationale Ausrichtung bei: Song war „der wichtigste Hebel, um die ju261 Vgl. dazu IVW-Auflagenlisten, herausgegeben von: IVW-Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.; die angegebenen Zahlen beziehen sich hier und auch in den folgenden Fällen auf die tatsächliche Auflage, d.h. die Druckauflage abzgl. der Remittenden. Zum Musik Express vgl. auch Haring, Heimatklang, S. 217f. Haring selbst war 1976 bis 1979 Chefredakteur des Musik Express. 262 Dabei schien es sich um eine transnationale Entwicklung zu handeln: Die USamerikanischen Jazz-Zeitschriften Down Beat und Jazz Magazine gaben ebenfalls 1967 ihre „exklusive Jazz-Politik“ auf, vgl. Sounds 5/1968. 263 Vgl. Pasterny/Gehret (Hg.), Bibliographie der Gegenkultur, S. 124; Rumpf, Pop & Kritik, S. 36f und 108-112; ausführlich dazu auch Siegfried, Time, S. 549–553. Tom Schroeder publizierte auch in Zeitschriften wie Underground und Sounds und arbeitete im Rundfunk und als Mitorganisator zahlreicher Festivals.
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gendbewegten Eierschalen der westdeutschen Protestkultur loszuwerden und ihr Anschluss an die internationale Alternativkultur zu verschaffen“264. Mit „Rückenwind aus den USA“265 wandte sich die Zeitschrift ab Mitte 1968 vermehrt der Popmusik und der Popkultur zu: Song wurde zu einer umfassenden Publikation der Gegenkultur, die Themen wie Musik, Sex, Drogen, Film, oder Darstellende Kunst bearbeitete. Die Neuausrichtung spiegelte sich nicht zuletzt in dem neuen Untertitel Deutsche Underground-Zeitschrift, ab Januar 1969 dann Zeitschrift für progressive Subkultur. Im Jahr 1970 war die Auflage auf 10.000 Stück angewachsen, trotzdem wurde Song im selben Jahr eingestellt. Sounds wiederum war das erste bundesdeutsche Periodikum, das über die »neue Popmusik« berichtete.266 Die erste Ausgabe hatte Fanzine-Charakter und war im DIY-Verfahren hergestellt: mit Schreibmaschine geschrieben, auf grobem Papier kopiert und einfach geheftet. Sie erschien im Winter 1966/67 mit dem Untertitel Die Zeitschrift für Neuen Jazz. Der Gründer und Chefredakteur Rainer Blome, der die Zeitschrift zunächst aus seinen Privaträumen in Solingen betrieb, wollte mit Sounds eine Plattform jenseits der gängigen, elitären Jazz-Kritik liefern. Der in der ersten Ausgabe formulierte Anspruch war, analog zu den Entwicklungen in der Musik auch neue mediale Ausdrucksformen zu entwickeln: unkommerziell, egalitär und demokratisch. Das Konzept war auf die intellektuelle Auseinandersetzung mit Musik ausgelegt, auf eine „komplexe[…] Reflexion über die neuen musikalischen Trends auf gehobenem intellektuellen Niveau“267. Sounds druckte Hintergrundberichte aus der Musikszene, Musik- und Filmkritiken, Buchrezensionen, aber auch Reportagen über gesellschaftspolitische Aspekte. Ab der vierten Ausgabe im Jahr 1968 öffnete sich Sounds zunehmend der neuen Popmusik. Wechselnde Untertitel machten inhaltliche Wandlungen deutlich: Mit der sechsten Ausgabe 1968 – die Zeitschrift erschien mittlerweile alle zwei Monate, die Redaktionsräume befanden sich nun in Köln – bekam Sounds den Untertitel Deutschlands erstes Underground-Magazin, die siebte Ausgabe im selben Jahr hieß Die Zeitschrift für Musik von heute. Der Free Jazz war mittlerweile weitgehend aus dem Blatt verschwunden. Der programmatische Umschwung und die Wertschätzung neuer musikalischer Entwicklungen über den Free Jazz hinaus waren Resultat einer USA-Reise Blomes im Jahr 1967, die sich offenbar prägend auf seine Interessen und Vorlieben ausgewirkt hatte.268 Die gesamte Ausrichtung der Zeitschrift war 264 Siegfried, Time, S. 551. 265 Ebd., S. 550. 266 Zu Sounds vgl. Haring, Heimatklang, S. 208–217; auch Siegfried, Time, S. 553–556; Klütz, Pop Talk, S. 165f. Detailliert und informativ auch das aus privater Initiative betriebene Online-Archiv unter http://www.sounds-archiv.at/ [19.09.2014]. 267 Siegfried, Time, S. 554. 268 Vgl. Sounds März 1968.
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nun betont transnational: Blome konnte Beiträger aus ganz Westeuropa und den Vereinigten Staaten gewinnen, meist Autoren, Journalisten, Musiker und Aktivisten der Gegenkultur; ab 1967 wies sich Sounds als Mitglied der Dachorganisation European Underground Press (EUP) aus. Partnerschaften wurden auch mit Zeitschriften aus den Vereinigten Staaten gepflegt, prominent etwa mit Crawdaddy! und Rolling Stone. Zudem gehörte Sounds nach eigenen Angaben zum Korpus der International Friendships, der in den Jahren 1970 bis 1974 im Impressum der Zeitschrift veröffentlicht wurde. Für den Krautrock insbesondere in dessen Frühzeit spielte Sounds eine konstitutive Rolle. Bereits die ersten Alben wurden mit ausführlichen Kritiken bedacht, die Entstehung einer »progressiven«, experimentellen bundesdeutschen Popszene mit großem Interesse verfolgt. Besonders Can und Guru Guru wurden intensiv besprochen, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass einige der Mitglieder beider Gruppen bekannte Akteure des europäischen Free Jazz gewesen waren und persönliche Netzwerke weiterwirkten. Später weitete sich das Interesse auf die gesamte Breite »progressiver« bundesdeutscher Popmusik aus; für die Entwicklung des Krautrock stellt Sounds retrospektiv eine der wichtigsten Quellen dar. Auch RolfUlrich Kaiser trat als Autor von Sounds in Erscheinung, bis 1973 schaltete zudem Werbeanzeigen für sein Label Ohr; dann allerdings kam es zu heftigen, öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen anderen Autoren von Sounds und Kaiser, womit sich eine weitere Zusammenarbeit erledigte. Im Jahr 1970 stieg eine neue Verlegerin ein, Rainer Blome blieb zunächst Chefredakteur. Der Untertitel von Sounds änderte sich abermals in Die Zeitschrift für Popmusik, zudem erschien das Periodikum nun monatlich. Der Inhalt war zunehmend einheitlich strukturiert, die Papierqualität nahm zu, aber auch Einflüsse aus der angloamerikanischen Musikpresse führten zu einem zunehmend professionellen Erscheinungsbild. 1972 kam es zu einem erneuten Verlegerwechsel, woraufhin Gründer Rainer Blome die Zeitschrift verließ. Er wurde durch den ehemaligen Stern-Redakteur Jürgen Legath ersetzt, der die Zeitschrift im Jahr 1973 erwarb und einen Umzug von Köln nach Hamburg initiierte. Mit dem Umzug nach Hamburg änderte sich der Titel der Zeitschrift letztmalig in Sounds – Das Musik-Magazin. Neben einem neuen Design und kleineren formalen und inhaltlichen Umstellungen wurde vor allem Helmut Salzingers Kolumne namens Jonas Überohr integriert, „erstes Beispiel einer gelungenen deutschen Pop-Essayistik“269. Der US-amerikanische Popjournalismus blieb Richtschnur und Referenzpunkt, charakterisiert als „Sich so weit wie möglich in den Fluß des Geschehens integrieren, Distanz oder Engagement in die Sprache hineingeben, und zwar möglichst mit Witz, spannende Situationen auskosten, bei alldem noch cool den Überblick behalten“270. Die Phase 269 Klütz, Pop Talk, S. 165. 270 Haring, Heimatklang, S. 216f.
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Abbildung 8: Sounds im Mai 1970, Titel zur Veröffentlichung von Cans erstem Album Monster Movie.
von 1973 bis 1979 gilt als die wirkmächtigste und kommerziell erfolgreichste der Zeitschrift Sounds; die Auflage lag bis zum Ende der 1970er Jahre zwischen 35.000 und 40.000 Exemplaren.271 Neben den Musik Express, Song und Sounds existierte in den 1970er Jahren eine Vielzahl weiterer, meist kurzlebiger, aber nichtsdestotrotz oft breit rezipierter und mitunter wirkmächtiger Periodika ähnlichen Zuschnitts. Ab 1970 beispielsweise erschien Flash – Zeitschrift für progressive Musik,272 mit ungewöhnlicher Aufmachung in etwa der Größe DIN-A3 und auf Zeitungspapier; ein Format, das zu dieser Zeit vor allem bei angloamerikanischen Musikzeitschriften weit verbreitet war. Die zunächst unregelmäßig und in Schwarz-Weiß erscheinende Flash war auf »progressive« Popmusik aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien ausgerichtet; es bestanden eine Reihe von Kontakten und Partnerschaften mit britischen und US-amerikanischen Musikzeitschriften wie etwa Creem oder ZigZag, aus denen übersetzte Auszüge in Flash abgedruckt wurden. Flash war eine reine Musikzeitschrift und bot unter anderem Nachrichten, Reportagen, Interviews, Kritiken oder Tourneepläne. Ab September 1972 erschien Flash monatlich, die Druckqualität nahm zu, und auch eine inhaltliche Neuausrichtung fand statt: Eingeführt wurden die Rubriken Jazz und Folk sowie eine jeweils vier Seiten lange Rubrik über
271 Vgl. IVW-Auflagenlisten. 272 Vgl. Pasterny/Gehret (Hg.), Bibliographie der Gegenkultur, S. 123.
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die bundesdeutsche Popmusik-Szene, in der auch Gruppen des Krautrock wiederholt eine Rolle spielten.273 Anfang 1973 erhielt Flash den neuen Untertitel Zeitschrift für Rockmusik,274 wenige Jahre später war der Titel allerdings vom Markt verschwunden. Von Beginn an professionell aufgemacht erschien ab Anfang 1976 Der Musik Joker. Zeitung für Musik und Freizeit, eine relativ kurzlebige kommerzielle Musikund Lifestyle-Publikation des Springer-Verlages.275 Sie erschien im monatlichem Rhythmus in einem Umfang von etwa 50 Seiten. 1978 wurde auf einen 14-tägigen Turnus umgestellt, zudem erschien der Musik Joker in Farbe und handlicherem Format; die Auflage lag zu diesem Zeitpunkt knapp im sechsstelligen Bereich.276 Das Zielpublikum stellten allgemein kulturell interessierte Twens dar, der Stil war am Boulevard orientiert; über Popmusik hinaus fanden aber auch andere populärmusikalische Genres sowie »Klassik« ihren Platz. Berichte über »Stars« und internationale Trends wurden ergänzt durch zahlreiche Reiseberichte und eine regelmäßige Technik-Rubrik, aber auch durch mehrteilige Serien zur Geschichte der Popmusik, im Mai 1976 beispielsweise über den Einfluss US-amerikanischer Popmusik auf Europa. Rubriken über Filme, Bücher und Flohmärkte sowie ein selektives, auf den Popmusik-Liebhaber zugeschnittenes Radio- und Fernsehprogramm waren regelmäßig Teil des Blattes. Generell fiel es dem Musik Joker schwer, erfahrene Autoren zu verpflichten, da viele Popjournalisten eine Arbeit für den Springer Verlag aus politischen Gründen kategorisch ablehnten. Ab November 1976 erschien der Musik Joker »in Partnerschaft mit Rolling Stone«, wobei der ins Deutsche übersetzte Anteil des Rolling Stone Ende der 1970er Jahre zunehmend ausgebaut wurde. Ab 1979 hieß die Zeitschrift noch für kurze Zeit Musik Joker – Rolling Stone, noch im selben Jahr wurde sie aufgrund sinkender Auflage eingestellt. Ein vollkommen anderes Zielpublikum hatte die in Musikerkreisen legendäre Zeitschrift Riebeˈs Fachblatt für die deutsche Musikerscene, die ab Mitte 1972 in Hamburg erschien. Adressiert an „Musiker, Roadies, Veranstalter, Produzenten und alle die dazugehören“277 erschien das Fachblatt von Beginn an monatlich und mit einer Startauflage von 10.000 Stück. Der Anspruch des Herausgebers Hans G. Riebesehl war es, ein Forum für die entstehende bundesdeutsche Popmusik-Szene zu schaffen; das Fachblatt war das erste seiner Art und Vorreiter für eine Reihe ähnlicher Publikation in den Folgejahren. Es enthielt Berichte über Equipment und Technik, über Veranstalter, Produzenten und Auftrittsorte bis hin zu Kritiken von Autobahn-Rastanlagen, die man on the road besser umfahren beziehungsweise un273 Vgl. Flash Nr. 13/1972. 274 Vgl. Siegfried, Time, S. 677. 275 Vgl. Haring, Heimatklang, S. 218f. Auch der Musikmarkt 01.02.1976. 276 Vgl. IVW-Auflagenlisten. 277 Riebeˈs Fachblatt Nr. 1, 6/1972.
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bedingt ansteuern sollte. Darüber hinaus fanden sich News, Interviews, Kritiken, Berichte und Reportagen. Nachdem das Fachblatt zunächst kostenlos erschien und sich allein durch Anzeigeneinnahmen finanzierte, wurde ab März 1973 eine Gebühr von einer Mark erhoben – wofür sich der Herausgeber wortreich rechtfertigte. Im Januar 1975 brachte Riebesehl sein letztes in Eigenregie erstelltes Heft heraus; im Laufe der weiteren 1970er Jahre kam es zu einer Reihe von Redaktions- und Besitzerwechseln, in deren Zuge auch die Umbenennung zu Fachblatt erfolgte. Unbestritten blieb seine Stellung als zentrales Organ der bundesdeutschen Popmusikszene, und in dieser Funktion erschienen zahlreiche Rubriken von, Interviews mit und Berichte über zentrale Akteure des Krautrock, von Musikern über Tonmeister bis zu Managern und Veranstaltern. Zu Beginn der 1970er Jahre waren neben den genannten Publikationen auch Teenagerzeitschriften wie Bravo oder die aus der Schweiz stammende Pop in einem überraschenden Ausmaß an Krautrock interessiert. Pop wurde seit Ende der 1960er Jahre in hoher fünfstelliger Auflage in die Bundesrepublik importiert, am Ende der 1970er Jahre war die bundesdeutsche Auflage auf weit über 200.000 Stück angewachsen.278 Als typisches Teenagerblatt in Hochglanz, mit vielen Fotos und bunt gestaltet, spielt Pop im vorliegenden Fall deswegen eine Rolle, weil sich das Blatt besonders im ersten Drittel der 1970er Jahre subkultureller und gegenkultureller Impulse intensiv annahm und sie damit in die Breite transportierte. Interessiert war der Gründer und Chefredakteur Jürg Marquard offenbar besonders an Rolf-Ulrich Kaiser, dessen Aktivitäten über Jahre eine außerordentlich prominente Rolle in der Berichterstattung einnahmen. Generell berichtete Pop sehr ausführlich über die bundesdeutsche Musikszene, der eine eigene Rubrik (»Pop-Szene Deutschland«) gewidmet war. Bravo wiederum übernahm als auflagenstärkste und prominenteste Teenagerzeitschrift der Bundesrepublik bereits seit den 1950er Jahren eine Mittlerfunktion;279 auch sie griff regelmäßig Innovationen aus gegenkulturellem Umfeld auf und transportierte sie in die Breite der Gesellschaft, gerade Teile des Phänomens Krautrock sind hierfür wiederum regelmäßige Beispiele. Politische Themen wurden sowohl in Pop als auch in Bravo vermieden, kulturelle Trends mit politischen Implikationen – wie Berichte über Kommunen, Rauschmittel oder »progressive« Popmusik – jedoch wirkmächtig transportiert. Insbesondere wegen dieser Mittlerfunktion wurde der »integrierende« Charakter der Zeitschrift ab Ende der 1960er Jahre scharf von links angegriffen.280 278 Vgl. IVW-Auflagenlisten. 279 Vgl. Siegfried, Time, S. 281–283; Bravo berichtete erstaunlich oft zuerst über neue Trends, so auch Haring, Heimatklang, S. 220. 280 Als Beispiel dafür vgl. Broder/Beha, BRAVO-Familie; für manche war Bravo ein „Grundpfeiler von Axel Cäsar Springers Verblödungsimperium“, so Salzinger, RockPower, S. 10.
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Ende der 1960er Jahre erlebte jenseits etablierter Verlage und aufwendig gestalteter Zeitschriften die Alternative Press einen transnationalen Boom. Trotz in der Regel kleiner Auflagen und oft auch relativer Kurzlebigkeit erreichten die Publikationen der Alternativpresse auch in der Bundesrepublik bereits zu Beginn der 1970er Jahre Hundertausende Leserinnen und Leser.281 Die Alternative Press machte mehr noch als professionell produzierte und vertriebene Periodika den „Einfluss der politisch-kulturellen Aufbruchsbewegungen aus den USA und Großbritannien […] deutlich sichtbar“282. Themenwahl, Form und Inhalt, Duktus, Selbstverständnis, Methoden und Produktionsbedingungen der bundesdeutschen Alternativpresse waren trotz nationaler Ausprägungen klar an den angloamerikanischen Vorbildern orientiert. Die Alternative Press hatte dabei einen grundsätzlich aufklärerischen Anspruch: Es sollten Informationslücken geschlossen werden, die »etablierte« und kommerzielle Presseprodukte nach Meinung der Macherinnen und Macher offenließen. Gefragt war eine »authentische«, parteipolitisch und ökonomisch unabhängige Berichterstattung: „»Gegengesellschaft«, »Gegenmilieu«, »Gegenkultur«, »Subkultur« sind Begriffe, mit denen nach dem Verständnis vieler Autoren das »unmittelbar Alternative« der AP, wie es sich darstellt oder darstellen sollte, richtig gekennzeichnet“283 sei, so das Selbstverständnis Mitte der 1970er Jahre. Die Alternative Press funktionierte als transnationale »Klammer« einer äußerst heterogenen Gegenkultur und war wesentlicher Baustein bei der Konstruktion kollektiver, transnationaler Identitäten.284 Ihr Einfluss auf ästhetische Vorstellungen und Geschmack, Sprache, Moralvorstellungen und Normen war tiefgreifend, gerade für die Popmusik und auch für den Krautrock spielte die Alternative Press eine entscheidende Rolle als Mediator, der die kreativen Impulse aus der Gegenkultur in die Musikindustrie transportierte; zu den diesbezüglich prominentesten bundesdeutschen Publikationen mit einer stark popkulturellen Ausrichtung gehörte etwa das kurzlebige Periodikum Germania, hergestellt in Frankfurt vom Künstler Bernd Brummbär.
281 Vgl. Kaiser, Gegenkultur, S. 200–208; Daum, Ghetto, S. 5; Siegfried, Time, S. 543– 549; Schwanhäusser, U-Zeitungen; zur britischen Underground Press vgl. etwa Nelson, Counter-Culture; zu den USA vgl. Wertham, Fanzines; Ginsburg, Rock is a Way of Life, S. 30. 282 Siegfried, Time, S. 544; zur transnationalen Ausrichtung und Rezeption der britischen Alternative Press vgl. Nelson, Counter-Culture, S. 46f.; zur US-amerikanischen Underground Press vgl. dahingehend Lewis, Outlaws of America, S. 17–23. 283 Daum, Ghetto, S. 30. 284 Vgl. Reichardt/Siegfried, Das alternative Milieu, S. 21; Bratus, Underground Papers, S. 249.
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Germania galt zu Beginn der 1970er Jahre als „auflagenstärkste und attraktivste deutsche Alternativzeitung“285. Die Rezeption des Krautrock in dieser eben kurz skizzierten, sich rasch ausdifferenzierenden Medienlandschaft der Bundesrepublik lässt sich auf keinen allgemeinen Nenner bringen. Die zeitgenössisch wie retrospektiv oft geäußerte Annahme, die Berichterstattung über Krautrock in der Bundesrepublik sei überwiegend negativ und, so eine häufige Wortwahl, »der Prophet« sei »im eigenen Lande nichts wert«, ist in dieser Schlichtheit sicherlich falsch.286 Zwar waren Radio und Fernsehen in der Bundesrepublik »progressiver« Popmusik gegenüber wenig aufgeschlossen, das aber generell und unabhängig von ihrer Herkunft. Die wenigen Ausnahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks um 1970 schlossen Krautrock keineswegs aus – im Gegenteil, wie etwa das Beispiel des Beat Club gezeigt hat. Viele Printmedien, insbesondere Musik- oder Jugendzeitschriften sowie auch die Alternative Press waren von Beginn an stark am Krautrock interessiert, gemessen an ihrem im Vergleich zu angloamerikanischen Gruppen geringen Marktanteil erschienen bundesdeutsche Gruppen dort mitunter sogar überrepräsentiert. Bereits 1971 waren beispielsweise die German Pop News, eine Rubrik exklusiv für bundesdeutsche PopGruppen, zu einem festen Bestandteil des Musik Express geworden; die Teenagerzeitschrift Pop beleuchtete regelmäßig die »Deutsche Pop-Szene« mit detaillierten Kritiken, Empfehlungen und News; auch das Periodikum Flash widmete unter der Rubrik Deutsche Szene der bundesdeutschen Popmusik einen speziellen Ort; Germania nahm sich der bundesdeutschen Popmusik besonders an, rezensierte etwa eine Vielzahl an Alben in jeder Ausgabe. Insbesondere auch die Berichte in der auflagenstarken Pop über Rolf-Ulrich Kaiser zu Beginn der 1970er Jahre sind weiteres Beispiel für die keineswegs pauschal ablehnende Haltung der bundesdeutschen Medien. Nicht zuletzt die Branchenzeitungen der Musikindustrie, Der Musikmarkt und Musikinformation, bis hin zu Tageszeitungen oder Nachrichtenmagazinen berichteten in keiner Weise pauschalisierend negativ über Krautrock. Ein per se „krankhafte[s] Verhältnis deutscher Kritiker und Journalisten […] zu heimischer Rockmusik“287 ist also keineswegs auszumachen, auch wenn sich einzelne Journalisten durchaus als hartnäckige Kritiker heimischer Popmusikproduktion hervortaten – ein Phänomen, das nicht selten auf persönlicher Abneigung der Akteure basierte.
285 Siegfried, Time, S. 546; vgl. auch Pasterny/Gehret (Hg.), Bibliographie der Gegenkultur, S. 106. 286 Dieser Vorwurf wurde über Jahre mit Regelmäßigkeit erhoben, vgl. etwa schon früh überblicksartig zusammengefasst in Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk: Rock People, S. 114. 287 Ehnert, Problemkind, S. 64; vgl. auch Larkey, Americanization, S. 185.
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Die 1970er Jahre waren, so lässt sich abschließend noch einmal zusammenfassen, von einem tiefen Wandel der Medienlandschaft gekennzeichnet, der sich auch in dem Phänomen Krautrock widerspiegelte. Popmusik als implizit mediales Phänomen findet sich dabei auch im Falle des Krautrock in zwei Richtungen wieder: zum einen hinsichtlich des Einflusses auf die Akteure des Krautrock als Konsumenten von Popmusik, zum anderen hinsichtlich der transnationalen, medialen Verbreitung »progressiver« bundesdeutscher Popmusik. Der zunehmend transnationale flow innerhalb des popmusikalischen Feldes manifestierte sich zum einen über das Radio, wobei auch die Protagonisten des späteren Krautrock wie alle bundesdeutschen Popkonsumenten in ihren Vorlieben für angloamerikanische Popmusik auf Sender außerhalb der Bundesrepublik bzw. die britischen und US-amerikanischen »Soldatensender« angewiesen waren. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten der Bundesrepublik widersetzten sich der Popmusik im Wesentlichen bis in die 1970er Jahre. Die Printmedien als neben dem Radio zweite wesentliche Säule der »generationell spezifischen Teil-Öffentlichkeit« junger Menschen etablierten sich in der Bundesrepublik ebenfalls relativ spät, und wie das Radio waren auch sie (gleich ob »kommerziell« oder »alternativ«) konzeptionell wie inhaltlich eng an angloamerikanischen Vorbildern angelehnt.288 Nicht zuletzt wurden in der Bundesrepublik eine Reihe ausländischer Printerzeugnisse in teilweise hohen Stückzahlen abgesetzt, wie etwa die Studie des Erziehungswissenschaftlers Dieter Backe aus dem Jahr 1968 gezeigt hat. Diese popkulturelle Sozialisation »von außen« war allgemein von enormer Bedeutung, auch für den Krautrock – nicht zuletzt bzgl. seiner Abgrenzungsversuche und seiner Rückwirkung im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten. Das Fernsehen spielte trotz des längst angebrochenen Fernsehzeitalters für die Popmusik erst ab den 1980er Jahren eine entscheidende Rolle, in den Jahrzehnten zuvor waren Sendungen mit Popmusik verstreute Einzelfälle. Bezeichnenderweise trat Krautrock im Zusammenhang mit der progressiven Versuchsphase des bundesdeutschen Fernsehens um 1970 in Erscheinung, nicht zuletzt auch als einzige inländische Beiträge in den transnational erfolgreichen Sendungen des Beat Club. Eine im Vergleich zu angloamerikanischen Interpreten pauschale Benachteiligung, wie es gängige Narrative suggerieren, ist in keinem der genannten Medien festzustellen.
288 Zu zeitgenössischen Zeitschriften wie Underground, Konkret, Pardon usw., die hier am Rande eine Rolle spielen, vgl. ausführlich Siegfried, Time.
Drittes Kapitel: 1970-1974 „Z UCKERZEIT “ 1 „Schwimmen im deutschen Pop-Teich nur fremde Fische? Sind unsere Bands durch die Bank mies? Nein. Sie sind im Kommen wie nie.“2 Tom Schroeder, Juli 1970 „Die Zeit der kleinen Brötchen ist vorbei.“3 Riebeˈs Fachblatt, Februar 1973
Die erste Hälfte der 1970er Jahre wird oft als »Kernzeit« des Krautrock betrachtet. Mehrere Entwicklungen sprechen dafür; sie können unter Schlagworten wie Professionalisierung, Institutionalisierung, Expansion und Transnationalisierung gefasst werden. Professionalisierung und Institutionalisierung äußerten sich etwa in Form der Ausbildung distinkter Stile, der immer besseren technologischen Ausstattung und der Gründung von Labels und Vertriebskanälen; Expansion und Transnationalisierung wurden beispielsweise sichtbar in der schieren Zahl der Veröffentlichungen von Tonträgern sowie der ebenso überraschenden wie enormen Aufmerksamkeit, die Krautrock im europäischen Ausland auf sich zog. Maßgeblich verantwortlich für die Entwicklungen war unter anderem Rolf-Ulrich Kaiser, der mit der Ohr Musikproduktion GmbH eine erste breite Basis für die Vermittlung und die Rezeption des Krautrock legte und die Sache bundesdeutscher Popmusik auch medial mit ungemeiner Energie vorantrieb. Nicht zuletzt verwob er Krautrock aktiv mit dem »psychedelischen« und »spirituellen« Aufbruch innerhalb der transnationalen Gegenkultur: Die gemeinsamen Tonaufnahmen einer Reihe von Akteuren des Krautrock zusammen mit Timothy Leary sowie die mithilfe psychoaktiver Substanzen erzeugten Sphärenklänge der »Kosmischen Musik« bzw. »Cosmic Music« sind bis
1
Titel des Albums Zuckerzeit (1974) von Cluster.
2
Tom Schroeder in Underground 7/1970.
3
Vgl. Riebeˈs Fachblatt 2/1973.
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heute wesentlicher und besonders schillernder Aspekt der weltweiten KrautrockRezeption. Neben Kaiser griffen zu Beginn der 1970er Jahre auch etablierte Major Labels zunehmend auf die progressive bundesdeutsche Popmusik zurück. „Rockmusik aus deutschen Landen steigt auf internationaler Ebene rapide im Kurs“4 stellte Sounds im September 1973 fest. Die Aufmerksamkeit des Auslands komme „zur rechten Zeit“, denn gerade in den letzten Monaten habe es zunehmend Veröffentlichungen gegeben, die in jeder Hinsicht dem internationalen Niveau entsprächen. In einer Umfrage des Branchenmagazins Musikinformation im Sommer 1973 bestätigte die bundesdeutsche Musikindustrie diesen Trend. Die Firmen Metronome und Liberty/United Artists etwa gaben an, dass ihr Exportanteil nun bei etwa 10 Prozent liege. Besonders gut verkauften sich „Contemporary und Cosmic Music“5 (Metronome) bzw. „progressive Musik“ (Liberty/United Artists). „Wir sind praktisch das einzige nicht englischsprachige Land, das so etwas liefern kann“, so Metronome. Die Hauptmärkte waren in beiden Fällen die USA, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien, aber auch Japan und Australien. Tourneen durch das Ausland wurden besonders oft für die Gruppen Tangerine Dream, Ash Ra Tempel, NEU!, Guru Guru und Embryo (Metronome) bzw. Amon Düül II und Can (Liberty/United Artists) gebucht. Die progressive Popmusik, d.h. in erster Linie Krautrock trug nach Aussage der führenden Major Labels in der Bundesrepublik wesentlichen Anteil daran, dass bundesdeutsche Populärmusik im Ausland heute Erfolge feiere, „von denen vor fünf Jahren noch niemand zu träumen wagte […]. Ausländische Kritiker beobachten die Entwicklung der deutschen Rockmusik mit großer Bewunderung. Viele erwarten sogar eine Befruchtung der internationalen Szene von Deutschland aus.“ Die erwartete »Befruchtung der internationalen Szene« durch bundesdeutsche Popmusik sollte in den Folgejahren in der Tat stattfinden, Krautrock gar zu einer konstitutiven Säule der Popmusik avancieren. Dass eine »Befruchtung« in diesem Ausmaß antizipiert wurde, scheint zwar eher unwahrscheinlich; die Erwartungen für die Zukunft aber waren für die großen Firmen im Jahr 1973 ohne Ausnahme positiv. Der Export bundesdeutscher Popmusik werde weiter zunehmen, hieß es unisono, wofür auch eine deutlich sichtbare Professionalisierung und die zunehmende Qualität der Produktionen spreche. Die Branchenzeitschrift Musikinformation resümierte am Ende der Bestandsaufnahme: „Vor allem durch den progressiven Sektor haben wir im Musik-Ausland an Boden gewonnen, sind nicht mehr ausschließ4
Sounds 9/1973.
5
Dieses und folgende Zitate aus Musikinformation 7/1973; unter dem Dach der Metronome war etwa das Label Brain angesiedelt, zudem vertrieb die Hamburger Firma Kaisers Label Ohr. Liberty/United Artists wiederum hatte als bundesdeutsche Tochtergesellschaft des US-amerikanischen Musikkonzerns seit Ende der 1960er Jahre Krautrock im Programm. Detailliert dazu im Kapitel »Krautrock und die Musikindustrie«.
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lich auf die Erfolge einiger Komponisten von Tango- und Party-Königen angewiesen. Diese positiven Auswirkungen im Ausland werden auch auf den Inlandsmarkt zurückstrahlen, werden ihm Impulse eines wachsenden internationalen Selbstverständnisses deutscher Musik verleihen.“6 Letzteres war, so lässt sich retrospektiv feststellen, eine durchaus akkurate Vorhersage. Im Falle der Gruppe Faust zeigte sich das allgemein wachsende Interesse des Auslandes vor allem in Großbritannien. Faust entstanden 1970 in Hamburg aus der Verschmelzung zweier Bands, und ihre kurze Geschichte ist in vielerlei Hinsicht ein Kuriosum in der an Kuriosem nicht gerade armen Geschichte des Krautrock.7 Dabei spielte vor allem der Journalist Uwe Nettelbeck eine entscheidende Rolle. Nettelbeck war bereits früh als Apologet einer »hedonistisch« und an der transnationalen Gegenkultur ausgerichteten neuen Linken in Erscheinung getreten und befand sich um 1970 „so nah am Puls der Zeit wie sonst nur wenige“8. 1970 verschaffte er der Gruppe Faust einen Vertrag mit dem bundesdeutschen Label Polydor – der Kontakt zur Band war über den befreundeten Regisseur Hellmuth Costard zustande gekommen.9 Den Inhalt des Vertrages und die unmittelbaren Folgen kann man retrospektiv nur als höchst erstaunlich bezeichnen: Exklusiv für Faust, die sich gerade erst gegründet und keinerlei Referenzen vorzuweisen hatten, wurde auf Kosten von Polydor zwischen Bremen und Hamburg ein ehemaliges Schulhaus mit modernster Tontechnik und einem Aufnahmestudio ausgestattet. Zudem hatte die Band mit Kurt Graupner einen »eigenen« Tonmeister rund um die Uhr zur Verfügung. Die Gruppe und ihr Tonmeister residierten vor Ort in den ebenfalls im Schulhaus eingerichteten Wohnräumen. Diese Leistungen zuzüglich einer monatlichen Zahlung erhielt Nettelbeck für Faust allein gegen das Versprechen, in etwa einem Jahr ein Album aufnehmen zu wollen. Nettelbeck selbst agierte in Personalunion als Manager, Produzent, CoverGestalter und Marketing-Experte; allein auf die musikalische Produktion nahm er 6
Musikinformation 7/1973; mit den hier etwas abschätzig „Tango- und Party-Königen“ genannten Interpreten waren einige bundesdeutsche Schlagerstars und Orchester gemeint, die im inner- und teilweise auch außereuropäischen Ausland kommerzielle Erfolge erzielen konnten.
7
Vgl. Wilson, Faust; zur Bandgeschichte außerdem das beiliegende Booklet der 5-CDBox The Wümme Years 1970-1973, erschienen auf dem britischen Label RER Megacorp im Jahr 2000; zur frühen Geschichte der Gruppe vgl. zeitgenössisch Melody Maker 02.06.1973.
8
Siegfried, Time, S. 731. Als „eine Art Programmschrift für eine über das rein Politische hinausgehende Veränderung des Lebensstils im Sinne der Hippies und der Gegenkultur“ (ebd.) erschien im September 1967 eine vierteilige Serie Nettelbecks in der Wochenzeitung Die Zeit, vgl. Die Zeit 01.09., 08.09., 15.09. und 22.09.1967.
9
Vgl. Wilson, Faust, S. 20.
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keinen Einfluss. „The idea was“, so führte Nettelbeck 1973 gegenüber dem britischen New Musical Express, „not to copy anything going on in the Anglo-Saxon rock scene“10. Diese Idee suchten Faust in der speziellen Arbeitsatmosphäre eines spezialangefertigten ehemaligen Schulhauses mit professionellem Privatstudio umzusetzen. Das eigene Studio ermöglichte Proben und Aufnahmen zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit; oft lief das Aufnahmeband bei Sessions mit, viele Stücke wurden live aufgenommen und unbearbeitet veröffentlicht. Arbeit und Alltag des Sextetts verschwommen ineinander und waren begleitet von einem umfangreichen Hanf- und LSD-Konsum, psychoaktive Substanzen waren wesentlicher Bestandteil der musikalischen Produktion. Insgesamt entstanden zwischen 1971 und 1973 vier Alben, von denen zwei, das gleichnamige Album Faust (1971) und das zweite So Far (1972), tatsächlich auf dem Label Polydor erschienen. Nachdem beide Veröffentlichungen in der Bundesrepublik auf harsche Ablehnung stießen und sich schlecht verkauften, kündigte Polydor 1973 den Vertrag; Faust mussten ihr spezialangefertigtes Studio aufgeben. Faust wurden in der Bundesrepublik erst Jahre später und offenbar in Reaktion auf die Erfolge im Ausland anerkannt. Eine Gegenüberstellung zweier Bewertungen durch die Musikzeitschrift Sounds in den 1970er Jahren illustriert die sich wandelnde bundesdeutsche Rezeption der Band: „Alle Bemühungen von […] Uwe Nettelbeck sind umsonst gewesen“11, so Sounds Anfang 1973. „Faust sind nicht die Supergruppe geworden, die sie werden sollten. Nach einem miesen Debutalbum sowie viel Protektion von Seiten ihrer »Mäzene« und ihrer Plattenfirma besaßen sie erstaunlicherweise noch Mut genug, eine zweite, kaum weniger miese LP zu produzieren.“ Gut sechseinhalb Jahre später – die Gruppe hatte sich mittlerweile längst aufgelöst – war man in derselben Redaktion anderer Meinung: „Der eine oder andere getreue Leser erinnert sich vielleicht noch an den Wirbel, den die deutsche Gruppe Faust vor Jahren entfachte. Ihre ersten beiden LPs waren damals ihrer Zeit weit voraus und sind inzwischen gesuchte Sammlerstücke.“12 Der Wandel in der Beurteilung war wohl insbesondere durch den Erfolg bedingt, den die Gruppe in Großbritannien erfuhr.13 Bereits die ersten beiden Alben erregten dort große Aufmerksamkeit, dabei hatte das initiale Interesse wenig mit der Musik zu tun. Der Radio-DJ John Peel war von der Aufmachung des ersten Albums – durchsichtiges Vinyl in einer durchsichtigen Hülle, bedruckt mit dem Röntgenbild einer Faust und etwas farbigem Text – so begeistert, dass er es nach eigener Aussage zunächst allein deswegen und ohne es anzuhören kaufte. Dass sich die 10
New Musical Express 03.03.1973.
11
Sounds 1/1973.
12
Sounds 9/1979.
13
Auch in Frankreich war das Interesse an Faust hoch, vgl. Die Zeit 25.05.1973; vgl. auch die französische Zeitschrift Rock & Folk, Februar 1972.
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Musik zudem als höchst interessant herausstellte, sei eine unverhoffte Zugabe gewesen: „Itˈs not often that you hear a band that is heading off in a totally new direction […] Itˈs really music born of a technological age in which there is neither time nor room for sentiment,“14 so Peel. In diesem Urteil sind mehrere Aspekte enthalten, die in der Krautrock-Rezeption entscheidende Rollen spielen sollten: die absolute Neuartigkeit des Sounds, der spezifische Einsatz von Technologie, und eine Kompromisslosigkeit, die keinen Raum für Sentimentalitäten lasse. Peel trug wesentlich zu der Verbreitung des Albums in Großbritannien bei, indem er es nicht nur in Printmedien positiv rezensierte, sondern vor allem auch ausführlich und mehrmals in seiner Radiosendung Pick of the Pops vorstellte. Richard Branson, Gründer und Inhaber des noch jungen Labels Virgin, teilte Peels Begeisterung und nahm Faust nach dem Ausscheiden bei Polydor unter Vertrag.15 Dort erschien zunächst ein Album, das letztendlich einen Zusammenschnitt von älteren Aufnahmen enthielt.16 The Faust Tapes brachte den Durchbruch in Großbritannien, nicht zuletzt aufgrund einer Marketing-Aktion Bransons, der das Album in einer stark beworbenen Sonderaktion für nur 49p verkaufen ließ. Der Veröffentlichung folgte eine Tournee durch Großbritannien, bei John Peel traten Faust live im Radio auf. Im selben Jahr erschienen zudem ebenfalls bereits im Vorjahr getätigte, gemeinsame Aufnahmen mit dem US-amerikanischen Komponisten Tony Conrad, der im Rahmen der Olympiade in München und der Documenta in Kassel 1972 in der Bundesrepublik gewesen war und über die Vermittlung Nettelbecks mit Faust gearbeitet hatte. So überraschend und abrupt sich der Erfolg in Großbritannien einstellte, so schnell war er auch wieder vorüber. 1973 nahmen Faust in den Virgins Manor Studios in Oxfordshire ihr fünftes Album Faust IV auf, das sich anschließend auch im Vereinigten Königreich als kommerzieller Flop erwies. Schon während der Aufnahmen hatte sich das Verhältnis zwischen Branson, aber auch Nettelbeck und der Gruppe erheblich abgekühlt: Faust tauchten nur alle paar Tage in dem für sie reservierten Studio auf, konsumierten große Mengen an Rauschmitteln und erschienen wenig kreativ. Über die Gründe wurde spekuliert: „Itˈs not surprising that Faust 14
Vgl. Disc, Februar 1972 [Medium beschädigt, genaues Datum nicht ersichtlich]; das zweite Album So Far fiel ebenfalls durch eine außergewöhnliche Gestaltung auf; dem Album war ein zehnseitiges, mit aufwendigen Litographien versehenes und plattengroßes Booklet beigelegt, die Erstauflage enthielt außerdem Drucke der Künstlerin Edda Köchl, damals Partnerin von Nettelbeck; das Vinyl war wie das Außencover vollkommen schwarz und enthielt keinerlei Beschriftung.
15
Der Brite Richard Branson (*1950) spielte mit seinem 1972 gegründeten Label Virgin eine entscheidende Rolle für die transnationale Verbreitung des Krautrock.
16
Dazu Nettelbeck in Melody Maker 02.06.1973. In der Bundesrepublik erschien dieses Album nicht.
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are finding it more than little difficult to come to terms with the life every rock group in the world except them lives without complaint. Two solid years playing about to your heartˈs content in your own studio far out in the German countryside – a holiday of a lifetime.“17 Der New Musical Express lag mit diesem Urteil wohl nicht ganz falsch. Die vergleichsweise luxuriösen Jahre in besagtem Schulhaus machten es Faust schwer, nun unter Zeitdruck in einem Tonstudio ihr nächstes Album zu entwickeln; es widersprach ihrer bisherigen Arbeitsweise fundamental. Nettelbeck verlor die Geduld und das Interesse an Faust und kehrte in die Bundesrepublik zurück, im Zuge dessen verließen auch einige Mitglieder die Band. Trotzdem folgte in veränderter Besetzung noch einmal eine Tournee durch Großbritannien, bei der etwa auch Uli Trepte (ehemals Guru Guru) mitwirkte.18 Monate später fand sich die »alte« Besetzung noch einmal zusammen, um im Münchner Musicland Studio ein Album aufzunehmen, das als zweite vertraglich vereinbarte Veröffentlichung bei Virgin gedacht war.19 Branson lehnte die fertigen Bänder jedoch ab, mit dem Resultat, dass Faust die Benutzung des Studios in Rechnung gestellt wurde – ein Betrag, der weit jenseits dessen lag, was die Musiker aufzukommen in der Lage waren. Es kam zu Fluchtversuchen und Verhaftungen, bevor die Eltern einiger Bandmitglieder die Schulden beglichen. Damit waren Faust bereits 1973 wieder von der Bühne des Krautrock verschwunden. Neben Faust waren Amon Düül II in Großbritannien zu Beginn der 1970er Jahre außerordentlich populär. Im Gegensatz zu erstgenannten waren Amon Düül II jedoch auch in der Bundesrepublik ein medial breit rezipierter Teil des so genannten Undergrounds und darüber hinaus; selbst die Teenager-Zeitschriften Bravo und Pop interessierten sich intensiv für die Band und druckten wiederholt bunte, reich bebilderte Reportagen ab.20 Hauptgründe für die Faszination, die Amon Düül II zu dieser Zeit bei Kritikern und Publikum auslösten, war neben der musikalischen Produktion besonders auch ihr Lebensstil als Musik-Kommune. „Ihr täglich Brot ist Hasch und Hirse“21 – so betitelte beispielsweise 1971 die Zeitschrift Brigitte ein mehrseitiges Feature über Amon Düül II, „Deutschlands viel diskutierte BeatGruppe“. Die Autorin beschrieb darin das Kommunenleben in der Villa bei Lands17
New Musical Express 07.07.1973.
18
Vgl. Melody Maker 06.10.1973.
19
Die Münchner Musicland Studios des italienischen Produzenten Giorgio Moroder gelten als eine der Wiegen des Disco-Sounds und erarbeiteten sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre einen legendären Ruf; eine Vielzahl von Weltstars buchten dort Aufnahmezeit. Die Studios waren sichtbarer Ausdruck einer allgemeinen Professionalisierung der Popmusikproduktion in der Bundesrepublik, insbesondere im Bereich der Studiotechnologie.
20
Vgl. beispielsweise Pop 2/1973 und 4/1973, Bravo 04.09.1975; Popfoto 8/1972.
21
Dieses und die folgenden Zitate aus Brigitte 16.04.1971.
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hut, die Amon Düül II 1970 bezogen hatten. Zwischen zehn und zwanzig Bewohnerinnen und Bewohner machte sie aus, darunter einige Kinder. Die Räume im ersten und zweiten Stock des Hauses wurden als sehr sauber beschrieben – im Gegensatz zum vorherigen Standort am Ammersee – stereotypes und erwartetes »KommunenChaos« fand sie nur im Gemeinschaftsbereich im Erdgeschosses. Eine zentrale Rolle fiel dem Konsum von Hanfprodukten zu: „Sie kiffen gierig und essen viel Süßes. Das passt ja zusammen“, so die Autorin; nach Aussage der Band selbst war „nicht nur die musikalische, sondern auch die kulinarische Entwicklung der Gruppe durch den ständigen Konsum von Drogen bestimmt“. In einem besonderen Fokus des Berichtes standen auch die Frauen in der Musik-Kommune, und diesbezüglich fiel das Urteil eindeutig aus: „Gelesen wird wenig, gegessen kaum, aber geraucht – also geraucht wird viel. Ständig müssen die Mädchen, also bildschöne und strohdumme Geschöpfe von kuhäugig träger Sinnlichkeit, die Joints drehen und den Herren hinterhertragen. Sie dürfen nicht reden und kaum kochen, müssen aber immer ein Viertelstündchen für die Liebe am Nachmittag erübrigen können, und wer da zur Unzeit einen Raum betritt, erschrickt selbst mehr, als dass er Schrecken auslöst. Dafür dürfen die Mädchen – ich hatte mir die Emanzipation der Frau eigentlich anders vorgestellt – bereits am Nachmittag fernsehen, und das ist sicher für sie alle in diesem Zusammenhang keine Konsumscheiße, sondern eine gesellschaftspolitische Zusammenhänge transparent machende Information durch die Subkultur. Doch solcher Spott trifft sie wahrscheinlich gar nicht. Von politischem Engagement habe ich kaum etwas gespürt.“
Mit dieser kurzen Analyse und Wertung der Geschlechterrollen und Rollenbilder bei Amon Düül II stand die Brigitte keinesfalls allein, sie wurden in zahlreichen zeitgenössischen Berichten über die Kommune grundsätzlich geteilt. Amon Düül II spielten damit allerdings keine Sonderrolle; die Beschreibungen sind vielmehr in einer Linie mit dem vorherrschenden Urteil über die oft problematischen und vom eigenen, emanzipativen Anspruch stark abweichenden Geschlechterrollenbilder im Kontext der »politisch-kulturellen Revolte« um »1968«. Der generelle Vorwurf des »Unpolitischen« allerdings ist differenzierter zu betrachten; offen politische Agitation oder ein scharf formuliertes politisches Programm waren bei Amon Düül II wie im Krautrock insgesamt kaum zu finden. Habitus und Lebensstil allerdings wurden als Teil einer »Kulturrevolution« durchaus auch zeitgenössisch als politisch verstanden, daneben stand nicht zuletzt auch die erwähnte Vernetzung mit der radikalen und militanten Linken. Ihre zu Beginn häufigen Auftritte auf politischen Happenings und Demonstrationen sowie ihr offener Umgang mit Rauschmittelkonsum hatten Amon Düül II jedenfalls ein progressives und schillerndes Image beschert, das sich in Teilen der bundesdeutschen Berichterstattung in oft naiv anmutenden Beschreibungen des »wilden Lebens« der Musik-Kommune äußerte. Daneben rückte besonders auch der Erfolg und die Wahrnehmung außerhalb der Bundesrepublik
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Abbildung 9: Amon Düül II um 1970.
in das Zentrum der Aufmerksamkeit, die sich neben Veröffentlichungen und Verkaufszahlen von Tonträgern besonders in den Jahren 1970 bis 1973 auch in einer Vielzahl von Tourneen und Konzerten äußerte. Die Auftrittsorte lagen dabei in erster Linie in Frankreich und Großbritannien, aber etwa auch in Benelux, auf der iberischen Halbinsel und in Italien. Die Tourneen verliefen oft chaotisch: Mal gingen Fahrzeuge zu Bruch, mal durften Bandmitglieder wegen vergessenen Ausweisen oder Drogenbesitz nicht einreisen, mal wurden sie für Konzerte mit ungedeckten Schecks bezahlt. Die Reaktionen des Publikums waren jedoch überwiegend positiv, ihr Stellenwert innerhalb der Popmusik teilweise enorm: Auf ihrer dritten und letzten Tournee durch Großbritannien 1973 beispielsweise wurden sie zum zehnten Jahrestages des letzten Auftritts der Beatles im Liverpooler Cavern Club engagiert, da dessen Betreiber sie für „die im Moment beste progressive Gruppe Europas“22 hielt. In der Bundesrepublik war das nicht anders: Das Anfang 1970 erscheinende Doppelalbum Yeti rezensierte Chefredakteur Rainer Blome in der Zeitschrift Sounds geradezu euphorisch. „Lassen Sie sich nicht von der Publicity verrückt machen: Das Gros der angelsächsischen Gruppen ist keinen Deut besser als die besten deutschen Bands – das Gegenteil trifft eher zu. […] Es hat lange gedauert, bis Amon Düül zu solch einer phantastischen Musik fähig war. […] Die Vielfalt des Gebotenen ist so gewaltig, daß eine Beschreibung des Rahmens dieser Rezension sprengen würde.“23
22
Vgl. Musikinformation 2/1973; zu dieser Tournee vgl. auch Der Musikmarkt 10/1973.
23
Rainer Blome in Sounds 3/1970.
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Trotz des Erfolgs, einer Reihe von Tourneen und mehrerer Veröffentlichungen kam es bei Amon Düül II in der ersten Hälfte der 1970er Jahre im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz zu keiner Verstetigung. Die Besetzung der Gruppe veränderte sich kontinuierlich; zudem war die Kommune unter ständiger Beobachtung der Polizei und wurde mehreren Polizeirazzien unterzogen – auch deswegen, weil zahlreiche Mitglieder der militanten Linken in der Kommune verkehrten, Amon Düül II im Zuge der Terrorismus-Hysterie der 1970er Jahre unter andauerndem Terrorismusverdacht standen.24 Darüber hinaus kam es 1971 zu einer folgenschweren Brandkatastrophe während eines Konzerts in Köln, bei dem nicht nur mehrere Menschen zu Tode kamen, sondern auch die komplette und über Kredite finanzierte PA-Anlage der Band vernichtet wurde. Geschockt von dem Ereignis und unter dessen Eindruck veröffentlichte die Gruppe eine öffentliche Stellungnahme, in der ähnlich wie in der Bewerbung für die Essener Songtage etwa drei Jahr zuvor noch einmal die Geister der Musik-Kommune, die Kraft der Gemeinschaft und der individuellen Selbstverwirklichung gleichermaßen beschworen wurden.25 Das blieb allerdings auch in der Folge eine Wunschvorstellung: Zwar wurde Amon Düül II von ihrem Label ein erneuter Vorschuss auf eine neue PA-Anlage gewährt, das Zusammenleben und Arbeiten war jedoch weiterhin von Streit und einer Vielzahl kaum mehr nachvollziehbarer Umbesetzungen und Personalwechsel geprägt. Ende 1972 löste sich die Musik-Kommune Amon Düül II schließlich auf. Arbeits- und Wohnort waren von nun an getrennt.26 Angesichts dieser Umstände erstaunte die enorme Produktivität, die Amon Düül II während dieser Jahre an den Tag legte. Neben zahlreichen Konzerten und Tourneen erschienen zwischen 1972 und 1975 sechs Alben, die von der bundesdeutschen Pop-Kritik überwiegend positiv aufgenommen wurden.27 Als „erste und 24
Zu den persönlichen Verbindungen von Amon Düül II zur radikalen Linken wie etwa Teilen der ersten Generation der Rote Armee Fraktion (Andreas Bader, Ulrike Meinhof) oder den Münchner Tupamaros (Alois Aschenbrenner) vgl. Schober, Tanz der Lemminge, S. 116f.; zu einer der groß angelegten Razzien vgl. Sounds 12/1970.
25
Abgedruckt in Sounds 6/1971; vgl. auch die schriftlichen Notizen von Günter Ehnert, um 1970, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; auch Schober, Tanz der Lemminge, S. 130f.
26 27
Vgl. Melody Maker, 02.06.1973. Aus der Vielzahl von Beispielen siehe etwa: Die Kritiken des vierten Albums Carnival in Babylon (1972) in Sounds 4/1972 und Musik Express 4/1972; die Kritiken des Albums Wolf City (1972), auf dem der Schauspieler Rolf Zacher als Sänger mitwirkte, in Sounds 12/1972; das Branchenblatt Musikinformation urteilte 1973, dass Amon Düül II „gute Pop-Musik“ mache und sich mit dem Album vom „Kommunengedudel von einst“ verabschiedet habe, vgl. Musikinformation 2/1973; noch einmal weitgehend in der »UrBesetzung« der ersten Veröffentlichungen erschien 1973 das Album Vive La Trance,
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älteste Underground-Formation“28 der Bundesrepublik blieben Amon Düül II über die gesamte erste Hälfte der 1970er Jahre in den Medien präsent. Neben der Zusammenarbeit mit Wim Wenders am Ende der 1960er Jahre war die Gruppe auch weiterhin mit Film und Fernsehen verbunden: 1970 traten sie als Band und in Form eines Live-Konzerts in Rainer Werner Fassbinders erstem Fernsehfilm Die Niklashauser Fart auf, wobei Fassbinder selbst, rauchend und vor der Bühne liegend, einen Cameo-Auftritt hatte.29 Kurz zuvor hatten Amon Düül II Hans-Jürgen Syberbergs Film San Domingo vertont, wofür sie in der Kategorie Beste Filmmusik den Deutschen Filmpreis erhielten.30 „Es sollte die Musik sein zu einem Film über einen Jungen, der weg will und dann hängen bleibt, irgendwo auf dem Land in Oberbayern“31, so Syberberg später. „Und zu dieser seltsamen Mischung aus Drogen, Politik, Rockern, Schwabing, Bayern und Pretorien passte das sehr gut. [Amon Düül II, A.S.] waren eben ganz besonders, nicht so vermarktet und exakt, man konnte von ihnen nicht auf Kommando etwas verlangen. Für die damalige Zeit waren sie schon sehr deutsch. Und das paßte zu dem Film, weil wir alle so waren.“ Der Deutschen Filmpreis, der Amon Düül II im Rahmen der Filmfestspiele in Berlin vom damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher überreicht werden sollte, war in den Augen der Band allerdings eine unakzeptable Einlassung mit dem »Establishment«; Gerhard Augustin als Repräsentant des Labels Liberty nahm den Preis stellvertretend entgegen. Gegen Mitte der 1970er Jahre nahm das öffentliche Interesse an der Gruppe ab. Rückblickend wurde vor allem der Abgang des langjährigen Managers und Produzenten Olaf Kübler 1975 als entscheidender Wendepunkt der Bandgeschichte identifiziert.32 Kübler sei die entscheidende Kraft bei Amon Düül II gewesen insofern, wie auch das zuvor produzierte Album Hijack von der Kritik ausgenommen positiv rezipiert, vgl. Sounds 10/1973 und Musik Express 11/1973 oder Musikinformation 2/1974; zu Hijack vgl. Sounds 12/1974; in der folgenden Ausgabe eine mehrseitige Reportage, vgl. Sounds 1/1975; Mitte 1975 erschien das Album Made in Germany, aufgenommen mit einer Reihe von Gast- und Studiomusikern, das ursprünglich eine große Rock-Oper hätte werden sollen und die fiktive Geschichte eines Mr. Kraut erzählte. Das Doppelalbum erhielt wiederum gute Kritiken, vgl. etwa den Beitrag von Manfred Gillig in Sounds 10/1975. 28 29
Musik Express 2/1975. Die Niklashauser Fart (D 1970). Es blieb nicht die einzige Verbindungen von Fassbinder und Krautrock: der Regisseur nutzte darüber hinaus zwei Mal Kraftwerks Stück Radioaktivität als Filmmusik, in Chinesisches Roulette (D 1976) sowie in der Mini-Serie Berlin Alexanderplatz (D/I 1980).
30
San Domingo (D 1970).
31
Zitiert nach Schober, Lemminge, S. 110.
32
Vgl. die Aussagen von Chris Karrer in Augustin, Pate, S. 108f.
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als dass er mit der komplizierten Gruppendynamik umgehen konnte und aus dem »musikalischen Rohmaterial« etwas zu formen in der Lage war. Auch die Auslandskontakte seien in erster Linie über ihn zustande gekommen. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre folgten eine Reihe weiterer Alben, die jedoch immer weniger Interesse weckten. Zwar unternahm die Band auch weiterhin Tourneen durch die Bundesrepublik und das europäische Ausland,33 die Veröffentlichungen jedoch erschienen weitgehend unspektakulär und verkauften sich zunehmend schlecht.34 Das Konzert zum zehnjährigen Bestehen der Gruppe 1978 im Münchner Schwabingerbräu – mittlerweile nur noch zu viert, ergänzt durch Einlagen des Schauspielers Tommi Piper – rief eher Verwunderung als Begeisterung hervor.35 Amon Düül II wurden nur mehr eher als seichtes „Unterhaltungsprogramm“36 wahrgenommen, und zum letzten, im Jahr 1981 erschienenen Album hieß es lakonisch: „Wieder ein Lebenszeichen von einem Geburtshelfer der eigenständigen deutschen Rockmusik […] eine Platte, auf der leider die Ästhetik der frühen achtziger Jahre fehlt. Also, lieber Palais Schaumburg hören.“37 Der Vorwurf, ästhetisch »überholt« zu sein, wurde gegen Can nie erhoben. Bereits dem Ende der 1960er Jahre aufgenommenen und 1970 erschienenen Debutalbum Monster Movie wurde im Gegenteil von Beginn an eine außerordentliche Innovationskraft zugesprochen. Referenzpunkt war dabei (wie üblich) die angloamerikanische Popmusik: Keine andere Gruppe des Pop habe einen derart „drohnenhaften [und] maschinenhaften Rhythmus“38, so Sounds; „die Bemerkung im Hüllentext, dies sei das Beste, was jemals vom Kontinent gekommen sei, ist schlichte Untertreibung, denn Monster Movie braucht auch den Vergleich zu angelsächsischen Bands nicht zu scheuen“. Erstaunlich waren Qualität und Wirkung von Can auch angesichts ihrer im transnationalen Vergleich höchst außergewöhnlichen Arbeitsweise: In einem Interview im Mai 1970 beschrieb die Gruppe ihren Arbeitsalltag in einem eigenen Studio, ohne Produzenten (und, wie besonders betont wurde, ohne Zeitdruck), die prekäre wirtschaftliche Situation und einfache technologische Ausstattung, aber auch das Konzept der Gruppe in der Entwicklung des distinkten 33
In Barcelona etwa traten Can und Amon Düül II vor 5.000 Menschen auf, vgl. Sounds 7/1977.
34
Vgl. beispielsweise Pop 2/1976; Musik Express 3/1977; das folgende Album Almost Alive (1977) wurde von der transnationalen Kritik praktisch nicht mehr wahrgenommen, ebenso wie das von vier verbliebenen Mitgliedern in Rumpfbesetzung aufgenommene Album Only Human (1978).
35
Vgl. Süddeutsche Zeitung 29.11.1978.
36
Kneisel, Kraut, S. 212.
37
Musik Express 12/1981; Palais Schaumburg waren eine frühe Formation der sogenannten NDW.
38
Sounds 3/1970.
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Sounds.39 Zentraler Aspekt dabei war, dass nicht etwas »einstudiert« und für Aufnahmen oder auf Konzerten dann »abgespielt« wurde, sondern dass sich der Sound der Gruppe um bestimmte Themen herum, abhängig von der Stimmung der Bandmitglieder und der Atmosphäre der Umgebung, immer wieder neu entwickelte. Dabei ging die Herangehensweise Cans, wie sie selbst wiederholt betonten, über bloßes Improvisieren hinaus. „Die meisten Bands, die ich kenne und die sich überhaupt aufˈs Improvisieren einlassen, spielen entlang einer Schiene“40, so Bandmitglied Holger Czukay 1973. Und weiter: „Man hört genau, wohin es geht und ein roter Faden ist ständig gegenwärtig. Dann, an irgendeiner Stelle erreichen sie einen Punkt, an dem sie die Chance hätten, alles zu zerstören und total neue Dinge zu entwickeln. Aber genau an diesem nervenaufreibenden Punkt – an dem sich alles entscheidet – beginnen fast alle Gruppen – wieder mit dem Thema! Damit ist die ganze Sache auch schon wieder weg. Hier jedoch weiterzuspielen, das unterscheidet uns von fast allen anderen Formationen.“
Im Laufe ihres Bestehens bis 1978 hörten Can nie auf, »total neue Dinge zu entwickeln«; entscheidend blieb dabei neben konkreten musikalischen Ausdrucksweisen der Gesamtzusammenhang des Phänomens Can und ihr Selbstverständnis als Kollektiv. Der Tonmeister Conny Plank charakterisierte sie Ende 1974 als „eigentlich die einzige konsequente gruppe in deutschland, die es verstanden hat, ihren ökonomischen zustand mit ihrer produktionsweise in einklang zu bringen. die haben sich gesagt, wir haben nicht so viel geld, um den totalen studiofuck mit den tollen sounds zu betreiben. also stellen wir unsere geräte so ein, daß es optimal klingt […] das ist ein system, das in sich stimmt. einfach ein natürliches gefühl zur eigenen leistung und zur markterwartung. einfach toll.“41
Ausgiebig traten Can als Film- und Fernsehmusiker in Erscheinung. Bereits 1970 veröffentlichten sie ihr Album Soundtracks, das Musik zu fünf Filmen enthielt; prominent etwa zu dem bundesdeutschen Westerns Deadlock.42 1970 spielten sie 39 40
Vgl. Sounds 5/1970; Melody Maker 30.10.1971. Holger Czukay im Musik Express 12/1973; auch die Zeitschrift Sounds stellte begeistert fest, Cans Musik würde „aus dem Augenblick“ entstehen und sei einzigartig, vgl. Sounds 10/1971. Vgl. dazu auch Siepen, Rockmusik in Deutschland, S. 81.
41 42
Conny Plank zitiert nach Fachblatt 11/1974. Kleinschreibung im Original. Neben Deadlock (D 1972) enthielt das Album die Musik von den Filmen Ein großer graublauer Vogel (D 1971); Kuckucksei im Gangsternest (D 1969); Deep End (D/GB 1970); vgl. auch ein Interview mit Can in Sounds 5/1970. Der Soundtrack zu Deep End war Anfang der 1970er Jahre angeblich ein Hit in West-Berlins Underground, so Irmin
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sich selbst in einem Film Klaus Lemkes, in den Folgejahren komponierten sie unter anderem Musik für Filme von Wim Wenders und Hans W. Geissendörfer,43 zur Mini-Serie Das Messer von Rolf von Sydow, sowie einige Folgen der Serien Tatort, Der Kommissar und Eurogang. Irmin Schmidt vertonte auch als Solo-Musiker eine Reihe von TV- und Kinoproduktionen. Die Herangehensweise bei der Vertonung von Filmmaterial erläuterte Schmidt 1972 so: „Ausgangspunkt ist für uns das unvertont vorliegende Filmmaterial. Bevor wir uns dann Gedanken über musikalische Einzelheiten machen, schauen wir uns den gesamten filmischen Ablauf an. Beim Anlegen der Musik richten wir uns dann genau nach dem Bildrhythmus. Die ganze Kameraführung, die Art, wie sich jemand bewegt – das alles hat einen ganz bestimmten Fluss. Unsere Musik soll diesen Fluss unterstützen.“44 Die Musik würde dabei allerdings nie »direkt« zum Bild gespielt, so Schmidt: „Du wirst dabei zu stark verführt, billige Illustrationen anzufertigen. Du mußt die dramaturgische Linie während des ganzen Films beibehalten und nicht den einzelnen Moment illustrieren. Oft ist nämlich genau das Gegenteil von dem, was Du siehst, von Bedeutung.“45
Personell waren Can in der ersten Hälfte der 1970er Jahre vergleichsweise stabil. Nachdem der US-Amerikaner Malcolm Mooney die Gruppe Ende 1969 verlassen hatte, schloss sich im Mai 1970 der japanische Straßenmusiker Kenji »Damo« Suzuki der Gruppe an.46 Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit der Ausländerbehörde, in die sich Karlheinz Stockhausen auf Bitte seines ehemaligen Schülers Holger Czukay mit einem öffentlichen Brief einschaltete,47 blieb Suzuki bis Mitte 1973 Schmidt in Melody Maker 27.01.1973. Der Versuch einer Zusammenarbeit mit dem Theater scheiterte Ende 1969. Can wurden am Züricher Schauspielhaus engagiert, um eine Inszenierung zu vertonen – das Schauspielhaus brach kurz vor der Premiere bestehende Abmachungen, und aus Wut darüber besetzen Can kurzerhand die Bühne. Nach längeren Verhandlungen einigte man sich darauf, dass Can nach jeder Vorstellung ein Freikonzert geben dürften; zu dem Engagement vgl. Variety 12.11.1969. 43
Mein schönes kurzes Leben (D 1970); Alice in den Städten (D 1974); Carlos (D 1971).
44
Irmin Schmidt in Pop 16/1972, vgl. auch Sounds 12/1973.
45
Irmin Schmidt in Sounds 12/1973.
46
Vgl. Sounds 6/1970.
47
Karlheinz Stockhausens Brief im Wortlaut: „Mein ehemaliger Schüler Holger Czukay, Mitglied der Beatgruppe The Can, teilt mir mit, daß ihr Sänger Kenji Suzuki von der Polizei festgehalten und wahrscheinlich des Landes verwiesen wird […] Sie dürfen diese Leute nicht deprimieren oder sie einfach wegjagen, auch wenn sie gegen die öffentlichen Regeln verstoßen haben. Machen Sie nicht aus angeborener deutscher »Ordnungsliebe« den Stall wieder so sauber, wie vor ca. 30 Jahren. Und zerstören Sie bitte solch eine empfindliche Seele nicht durch Haft.“47 Vgl. Musik Express 3/1971.
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bei Can und prägte den Sound und die Präsentationsformen der Gruppe wesentlich mit. 1971 erschien Tago Mago, das erste Album mit Suzuki als Sänger; es „fand bei den Fans so großen Anklang, daß schon nach wenigen Tagen die Erstauflage restlos vergriffen war“48. Ebenfalls im Jahr 1971 erlebten Can mit dem Erfolg des Stückes Spoon, der Titelmelodie des WDR-Fernsehkrimis Das Messer, ihren größten kommerziellen Erfolg in der Bundesrepublik.49 Die Titelmelodie bescherte der Band im Jahr 1972 unter anderem auch den Fernsehpreis Goldene Europa des Saarländischen Rundfunks, eine Entscheidung, die in der Jury hoch umstritten und auch angesichts der sonstigen Preisträger, die allesamt aus den Schlagerbereich stammten, erstaunlich war.50 Die kommerziellen Erfolge Cans ab 1971 fanden bereits unter der Regie Hildegard Schmidts statt, der Partnerin Irmin Schmidts, die das Management der Gruppe im März 1971 übernommen hatte. Als Frau war sie eine absolute Ausnahme in dem von Männern dominierten Popmusikgeschäft.51 Ende 1971 waren Can mit ihrem Inner Space Studio in ein ehemaliges Kino bei Köln umgezogen.52 Mit der Hitsingle Spoon und nach dem Gewinn des Deutschen Fernsehpreises stieg der Bekanntheitsgrad der Gruppe rapide an.53 Ein von der Band selbst organisiertes Free Concert in der Kölner Sporthalle fand im Februar 1972 vor etwa 10.000 Zuschauern statt; das Programm wurde durch Artisten und Gastmusiker ergänzt, und wie in allen frühen Live-Konzerten der Gruppe waren Themen der Stücke von den Alben höchstens ansatzweise zu erkennen.54 Der Regisseur Peter Przygodda produzierte aus den Aufnahmen, die vier Kameraleute während des Konzertes gemacht hatten, eine knapp einstündige Dokumentation.55 Da der Tonmitschnitt der Live-Aufnahmen durch einen technischen Fehler unbrauchbar war, wurde das Tonmaterial in Cans Inner Space Studio neu überarbeitet und teilweise neu angelegt; dabei wurde auch der Prozess der Nachbearbeitung im Studio filmisch festgehalten und in die Dokumentation integriert, um nicht den falschen Eindruck zu erwecken, es handele sich um den originalen Live-Sound. Der Regisseur habe ein „Stilprinzip gefunden, das völlig der Musik der Can entspricht:
48 49
Der Musikmarkt 20/1971. Vgl. etwa Stern 13.02.1972; angeblich wurden von der Single über 200.000 Stück verkauft.
50
Dazu ausführlich die Zeitschrift Schallplatte, Mai 1972 und Musikinformation 9/1972.
51
Vgl. Bussy/Hall, Can, S. 128f.; auch Fachblatt 4/1976.
52
Zu Can kurz nach dem Umzug vgl. Melody Maker 30.10.1971.
53
Große, reich bebilderte und mehrseitige Artikel fanden sich nun etwa auch in TeenagerZeitschriften wie Bravo 19.01.1972, 10.05.1972, 08.11.1972; Popfoto 5/1972; oder Pop 16/1972, 3/1974, 8/1974.
54
Darüber detailliert Winfried Trenkler in Flash, Nr. 9, April 1972; auch Sounds 4/1972.
55
Can (D 1972); vgl. Interview mit Irmin Schmidt in Pop 16/1972.
1970-1974
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Authentizität,“56 so etwa die Zeitschrift Sounds zu dieser Vorgehensweise; „die Liebe der Can zur Authentizität, die Aufrichtigkeit gegenüber den gegebenen Mitteln und Umständen.“ Can spielten ihre Konzerte wenn möglich ohne Vorband, sie dauerten nicht selten vier Stunden. Sie waren davon überzeugt, dass sich ihre Musik nur in einer bestimmten Atmosphäre voll entfalten könne, die durch einen strikten Zeitplan zunichtegemacht werden würde. Aus diesem Grund lehnten sie zu Beginn der 1970er Jahre etwa auch das Angebot Pink Floyds ab, auf deren Tournee selbst als Vorband zu spielen.57 Besonders das bundesdeutsche Publikum war von dem Live-Konzept Cans anfangs wenig begeistert, das nach den weitgehend unveränderten »Hits« der Alben auch auf den Konzerten verlangte und die Improvisationen Cans mitunter mit Unmut quittierte.58 Das Publikum im europäischen Ausland jedoch, insbesondere in Frankreich und Großbritannien, reagierte euphorisch. Im April 1972 erfolgte die erste 14-tägige England-Tournee Cans, die sich außerordentlich positiver Resonanz erfreute; im Folgejahr kam es erneut zu einer Vielzahl von Konzerten und Auftritten im europäischen Ausland, insbesondere in Großbritannien und in Frankreich. 1974 traten Can mehrmals im britischen Fernsehen auf, etwa im Old Grey Whistle Test am 27. Januar 1974; ein Radio-Interview mit John Peel ging dann einer weiteren England-Tournee voraus.59 Neben den ausgeprägten Konzerttourneen nahmen Can in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Reihe weiterer Alben auf. Nach Tago Mago (1971) erschien 1972 Ege Bamyasi,60 und 1974 das Album Future Days. Bei den Aufnahmen spielten in zunehmendem Maße elektronische Instrumente und Klangeffekte eine Rolle; auf Ege Bamyasi waren Störgeräusche zu hören, die absichtlich in der Aufnahme behalten wurden – ein zu dieser Zeit neuartiger Effekt.61 Das Album Future Days war das letzte mit Damo Suzuki als Sänger, nach einem Konzert im August 1973 verließ 56
Sounds 1/1973.
57
Vgl. Melody Maker 27.01.1973.
58
Auf zwei Konzerten in Kassel und Göttingen Anfang 1973 etwa reagierte das Publikum besonders ungehalten auf den improvisatorischen Stil der Band, vgl. Sounds 3/1973; zur gespaltenen Reaktion des Publikums in der Bundesrepublik vgl. auch Melody Maker 06.05.1972; Musik Express 4/1974 und 1/1975.
59
Vgl. Old Grey Whistle Test (GB 1974); der Musik Express hob angesichts der Tourneen den Unterschied in der Wahrnehmung Cans im Ausland im Vergleich zur Bundesrepublik heraus, vgl. Musik Express 12/1973; die Frankreich-Tournee wurde laut Pop zu einem „Triumphzug“, vgl. Pop 1/1974. Zum Besuch bei John Peel vgl. Musik Express 4/1974.
60
Der Name Ege Bamyasi stammte von einer türkischen Konservendose einer Firma namens CAN, die auch auf dem Cover abgebildet war, vgl. Sounds [GB] 24.02.1973.
61
Vgl. Sounds 12/1972.
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Abbildung 10: Can im Inner Space Studio, (v.l.n.r.) Irmin Schmidt, Damo Suzuki, Jaki Liebezeit, Holger Czukay, Michael Karoli.
er die Band.62 Can machten von nun an als Quartett weiter, die Gesangsparts wurden abwechselnd von verschiedenen Bandmitgliedern übernommen. Ende 1974 veröffentlichten Can ihr sechstes Album Soon Over Babaluma, zugleich die letzte Veröffentlichung auf ihrem langjährigen Label Liberty/United Artists. Eine der vielen Musik-Kommunen des Krautrock waren Guru Guru, die Ende 1969 in ein ehemaliges Gasthaus bei Heidelberg zogen. Dort richtete sich das Trio in dörflichem Umfeld neben Wohnräumen ein eigenes Tonstudio ein.63 1970 produzierte der Künstler Julius Schittenhelm, laut Song „titusköpfiger Edel-Waldschrat“64, Guru Gurus erstes Album Ufo, das auf Rolf-Ulrich Kaisers Ohr erschien. Das Album enthielt Titel wie etwa den LSD-Marsch oder Stone In, was auf mögliche Quellen ihrer Inspiration verweist.65 Die Musik war geprägt von einem freien Stil „im gleichberechtigten Wechselspiel von Gitarre, Bass und Schlagzeug“66, langen Improvisationen ohne feste Struktur, mit Radios oder Echogeräten erzeugten 62
Dazu Irmin Schmidt und Holger Czukay im Melody Maker 17.11.1973; erneut im New Musical Express 16.02.1974, wo von den anderen Mitgliedern Cans auch Suzukis Engagement für die Zeugen Jehovas als Grund für die Entfremdung von der Gruppe benannt wurde.
63
Zu Guru Guru vgl. Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.8; auch Pop 12/1972; Sounds 11/1972, Flash 5/1973.
64
Song Nr. 2/1969; Schittenhelm war an einer Reihe von Ohr-Produktionen beteiligt, neben Guru Guru etwa auch Amon Düül, Annexus Quam oder Floh de Cologne. Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte er auf April (Schneeball) ein Solo-Album; zu Schittenhelm vgl. seine Autobiographie Julius Schittenhelm, Ich bin kein Volk.
65
Vgl. Asbjørnsen, Cosmic Dreams, S. 86.
66
Rainer Blome in Sounds 5/1972.
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Klangeffekten und dem Einsatz einer Reihe von Percussion-Instrumenten. Die weiteren Alben in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, teilweise von Conny Plank produziert, wurden in der Bundesrepublik als Meilensteine gefeiert: „Klangkombinationen, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen“67, hieß es etwa über das zweite Album Hinten. Es wurde vor allem auch für seine Aufnahmequalität gelobt, Plank sei damit „der Meisterwurf gelungen“68, meinte Sounds. Das dritte Album KänGuru war für die Zeitschrift „absolute Weltspitze“69, weitere Alben erhielten ähnliche Kritiken.70 Trotz den teilweise euphorischen Kritiken in der Bundesrepublik reichte der Bekanntheitsgrad Guru Gurus nie an Gruppen wie Can, Amon Düül oder Tangerine Dream heran.71 Ein Grund dafür war sicherlich ihre zu Beginn scharf ablehnende Haltung gegenüber der Musikindustrie. Sie wollten „die ganze Scheiße nicht mitmachen“72, so die Gruppe in einem Interview 1972: nicht nur für Geld arbeiten, nicht mehr als zwei Konzerte die Woche geben, sich allgemein nicht auf das kapitalistische System einlassen. Die Einstellung änderte sich erst 1973, als sich Guru Guru zur vorher verpönten »Show« auf der Bühne bekannten, sich angesichts der Erfolge anderer bundesdeutscher Gruppen aktiv um Auftritte in Großbritannien bemühten, und sich nicht zuletzt ausführlich mit strategischen Aspekten des Popmarkts beschäftigten.73 Sicher hatten die zahlreichen Personalwechsel mit den wechselnden Einstellungen zur Musikindustrie und dem Geschäft mit ihrer Musik zu tun,74 auch der Lebens- und Arbeitsstil veränderte sich mit der Zeit; 1973 waren 67
Pop Nr. 12/1971.
68
Sounds 1/1972.
69
Sounds 9/1972.
70
Vgl. Sounds 4/1973; Bravo 14.06.1973; Pop 11/1973; Musik Express 12/1973; Flash 1/1974.
71
Vgl. Sounds 11/1972; Musik Express 5/1973.
72
Sounds 11/1972.
73
Vgl. ein ausführliches Gruppeninterview in Flash 5/1973.
74
Die einzige personelle Konstante Guru Gurus über die Jahre war Gründungsmitglied Mani Neumeier. 1972 verließ Uli Trepte die Gruppe, eine Reihe von Personalwechseln folgten, bevor sich Guru Guru Ende 1974 zunächst auflösten, vgl. zu den Personalwechseln 1974 etwa Musik Express 10/1974; zur Trennung Pop 12/1974; Fachblatt 3/1975, Sounds 3/1975. Mani Neumaier nahm im folgenden Jahr ein Solo-Album auf, mit einer Reihe von Gastmusikern unter anderem von Kraan und Harmonia, aber auch mit Conny Plank, vgl. Sounds 10/1975; einen mehrseitigen Bericht über die Bandgeschichte Guru Gurus sowie Neumaiers Projekte fand sich im Musik Express 10/1975, ein mehrteiliger Report in Sounds 12/1975 und Sounds 1/1976 sowie Fachblatt 3/1977; bis zum Ende der 1970er Jahre formierten sich Guru Guru unter der einzigen Konstante Mani Neumaier mit wechselnden Besetzungen immer wieder neu.
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Guru Guru keine Musik-Kommune mehr, sondern hatten einen Proberaum und lebten in getrennten Wohnungen. Auch im Ausland waren Guru Guru weniger erfolgreich und bekannt wie andere Gruppen des Krautrock. Aus eher kuriosen Gründen platzte eine geplante Tournee durch Indien zu Beginn der 1970er Jahre, die auf Initiative des Goethe-Instituts geplant war. Bereits früh interessierte sich Mitarbeiter des Instituts für die progressiven bundesdeutschen Gruppen, und in der Tat kamen einige Kooperationen zustande. Im Falle Guru Gurus allerdings scheiterte die angepeilte Konzertreihe – wegen des Bandnamens. Die Tournee war 1971 auf einer Sitzung der Arbeitsgruppe Musik des Goethe-Instituts vorgeschlagen worden;75 Konsulate der Bundesrepublik und Zweigstellen des Goethe-Instituts in Indien begrüßten das Vorhaben grundsätzlich, wiesen jedoch darauf hin, dass „der Name der Popband in Indien Anlaß zu Mißhelligkeiten“76 geben könnte. Manch bundesdeutscher Diplomat befand den Namen Guru Guru aufgrund der religiösen Konnotationen gar als „unter keinen Umständen akzeptabel“77 und schlug eine Namensänderung als Kompromiss vor; andere lehnten eine Konzertreise Guru Gurus von Vornherein ab, da die Musik nur bei einer „dünnen Schicht extrem verwestlichter Inder auf Widerhall“78 stoßen würde – eine Einschätzung, die im Lichte der Erfolge späterer Konzerttourneen bundesdeutscher Pop-Gruppen durch Indien fragwürdig erscheint. Wie dem auch sei, Guru Guru lehnten eine Namensänderung ab und die Tournee kam nicht zustande. In einigen Fällen jedoch kam es zu erfolgreicher Zusammenarbeit des GoetheInstituts mit Gruppen des Krautrock. Als überhaupt erste bundesdeutsche Pop-Band erhielten Agitation Free im Februar 1972 eine Einladung des Goethe-Instituts in Kairo, auch der bundesdeutsche Konsul hatte sich der Einladung angeschlossen. Im April des Jahres reiste das Quintett nach Ägypten, von dort durch den Libanon und Jordanien nach Zypern und Griechenland.79 Ein Teil der Aufnahmen, die während der Tournee gemacht wurden, erschienen auf Agitation Frees ersten Album Malesch (1972);80 dabei wurden auch Soundcollagen von im Nahen Osten und Nordafri75 76
Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 95, Nr. 1531. So der bundesdeutsche Generalkonsul in Bombay in einem Schreiben an das Auswärtige Amt in Bonn, 25.01.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 95, Nr. 1531.
77
Schreiben des bundesdeutschen Generalkonsuls in Kalkutta an das auswärtige Amt in Bonn, 06.04.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 95, Nr. 1531.
78
Schreiben der bundesdeutschen Botschaft an das Auswärtige Amt in Bonn, 07.04.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bestand B 95, Nr. 1531.
79
Dazu auch die Rolling Press News der Phonogram GmbH, ohne Datumsangabe, Klaus Kuhnke Archiv, Sammlung Ehnert.
80
Auf dem Album wirkte unter anderem der Komponist Peter Michael Hamel mit; auch der Schallplattenvertrag von Agitation Free mit Schotts Music Factory in Mainz war
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ka aufgenommenen Alltags- und Straßengeräuschen mitverarbeitet. Die Tournee galt mit bis über 1.000 Besuchern pro Konzert als großer Erfolg. Das GoetheInstitut freute sich insbesondere über das in diesem Ausmaß neuartige Interesse junger Menschen für Kultur aus der Bundesrepublik. Das ist durchaus bemerkenswert, denn während der Export von Populärmusik heute längst Teil der „Promotion eines modernen Images“81 von Nationalstaaten geworden ist, stellte desgleichen zu Beginn der 1970er Jahre eine radikale Neuerung dar. Erst ein halbes Jahrzehnt zuvor, etwa Mitte der 1960er Jahre, hatte man in der Bundesrepublik begonnen, Gruppen und Interpreten des gesellschaftlich akzeptierten Jazz als kulturelle Botschafter nach Asien zu senden;82 progressive Popmusik stellte demgegenüber in den Augen des etablierten Kulturbetriebs sowie der jeweils vor Ort in Verantwortung stehenden bundesdeutschen Diplomatie ein ungleich größeres Wagnis dar. Es waren meist einzelne Akteure innerhalb des Goethe-Instituts und der lokalen Botschaften, die dem Krautrock nach harten Verhandlungen mit den Verantwortlichen Auftritte und Tourneen dieser Art ermöglichten. Der Erfolg dieser Unternehmungen gab ihnen im Nachhinein Recht. Das Engagement Agitation Frees – damit zurück zur Band – blieb in den Jahren ihres Bestehens bis 1974 außerordentlich vielfältig. Zum einen waren sie fest in der Gegenkultur West-Berlins eingebunden; Anfang 1970 beispielsweise trat die Band zusammen mit Paul und Limpe Fuchs, Amon Düül II und Tangerine Dream auf studentischen Protestveranstaltungen auf, wenige Wochen später folgte ein Solidaritätskonzert für den Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, etwas später für Amnesty International.83 Unter der Leitung und durch die Vermittlung Thomas Kesslers ergaben sich darüber hinaus eine Reihe von Auftritten mit »klassischen« Orchestern, auch auf Vernissagen und Ausstellungen. Im Winter 1971/72 gaben Mitglieder von Agitation Free Pop- und Elektronikkurse für Lehrer und Schüler, organisiert in Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat. Der Student Michael Hoenig, der auch in anderen Gruppen des Krautrock eine Rolle spielte, brachte elektronische Klänge in die Gruppe;84 er reiste 1971 etwa nach London direkt zur über Hamel zustande gekommen. Malesch wurde in Sounds 2/1973 im Rahmen der Serie »Neue deutsche Popgruppen« für seine Vielfältigkeit gelobt, einige Seiten derselben Ausgabe später allerdings im Rahmen einer Plattenkritik als naiv und belanglos verrissen. 81
Krause, Radio Goethe, S. 226.
82
Vgl. Poiger, Amerikanisierung, S. 18.
83
Vgl. eine umfangreiche Selbstauskunft der Band, undatiert, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; ein Abriss der Bandgeschichte findet sich auch in Sounds 2/1973.
84
Vgl. dazu etwa WEA Press Release, Mai 1978, Klaus Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; auch Selbstauskunft Michael Hönig (undatiert, ca. 1978), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
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Firma EMS, um dort ein in der Bundesrepublik noch nicht erhältliches Gerät der Serie Synthi A zu erwerben. Mitte 1973 unternahmen Agitation Free eine Tournee durch Frankreich, wo es in Paris zu einem vielbeachteten, gemeinsamen Konzert mit der bekannten Sängerin Nico (Velvet Underground) kam. Im Sommer 1973 erfolgten die Aufnahmen zum zweiten Album 2nd. Kurz nach dessen Erscheinen ließen die Aktivitäten der Gruppe – trotz großer medialer Aufmerksamkeit, etwa in Form zweier TV-Portraits des SFB und des WDR – aufgrund persönlicher Differenzen zunehmend nach.85 Im Januar 1974 tourten Agitation Free noch einmal durch Frankreich, letzte Studio-Aufnahmen erfolgten im Februar des Jahres. Das offizielle Abschiedskonzert fand im November 1974 in West-Berlin statt. Etwa zwei Jahre später erschien – aufgrund der dort weitaus besseren Verkaufszahlen und des höheren Bekanntheitsgrades zunächst nur in Frankreich – »posthum« das letzte Album mit dem Titel Last. Im Frühjahr 1972, nur kurz nach der Konzertreihe von Agitation Free durch den Nahen Osten, spielten die Münchner Embryo eine ebenfalls über das GoetheInstitut vermittelte Konzerttournee durch Portugal, Marokko, Algerien und Tunesien. Dabei wurde deutlich, welche politischen Implikationen Stil und Habitus progressiver Popmusik nach sich ziehen konnten, insbesondere in autoritären politischen Systemen wie der Endphase des portugiesischen Estado Novo. In einem dreiseitigen Schreiben an das Auswärtige Amt in Bonn legte der bundesdeutsche Generalkonsul nach einem Konzert in Porto seine Sicht der Veranstaltung dar. Er sei „mit dieser Art von Musik nicht sonderlich vertraut“86 und könne daher nichts über die künstlerische Qualität des Konzerts sagen; das Auftreten, insbesondere „das Entrée der Gruppe“ fand er allerdings „keinesfalls günstig“. Zwar habe man erfolgreich verschweigen können, dass einer der größten Erfolge von Embryo der Titel Espana Si, Franco No sei,87 die Mitwirkung einiger Gruppenmitglieder auf einem Album von Amon Düül II mit dem anstößigen Titel Phallus Dei sei aber im Programmheft abgedruckt gewesen. Die „ungepflegte äußere Erscheinung und die vermutlich von Rauschgift verheerten Züge einzelner Gruppenmitglieder“ hätten nur bei einem Teil der jungen Portugiesen Eindruck gemacht, aber „immerhin waren die beiden VW-Busse der Gruppe, wo immer sie sich zeigten, von jungen Mädchen umlagert“. Nach dieser ambivalenten Eröffnung des Briefes lobte Generalkonsul allerdings ausdrücklich Embryos „ungewöhnliche Aufgeschlossenheit“ und ein 85
Schlüsselerlebnis soll ein gemeinsamer LSD Trip gewesen sein, auf dem sich die Spannungen innerhalb der Gruppe als unüberbrückbar herausstellten, vgl. Ulbrich, Lüül, S. 82f.
86
Dieses und folgende Zitate: Schreiben des bundesdeutschen Konsulats in Porto an das Auswärtige Amt in Bonn, 18.04.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bestand B 96-EA, Band 473.
87
Der Titel war eine Stellungnahme gegen den spanischen Diktator Francisco Franco.
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„echtes Interesse an den Problemen Portugals“, vor allem auch ihren „Willen, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen“. Zu diesen »Erwartungen« gehörte unter anderem der Verzicht auf explizit politische Aussagen. Selbst Bitten studentischer Vertreter der Universität in Porto, die angesichts der stattfindenden Unruhen und Demonstrationen auf das Verlesen einer Solidaritätsnote drängten, wurden von Embryo unter Hinweis auf »Nichteinmischung in innere Angelegenheiten« Portugals ausgeschlagen – sicher kein leichter Schritt für eine politisch engagierte, sich die gesamten 1970er Jahre entschieden links positionierende Gruppe wie Embryo. Die Reaktionen von Autoritäten und portugiesischen Medien auf das Auftreten Embryos offenbarten interessante Einblicke in den Umgang mit der »Verwestlichung« des Landes und der katalysatorischen Rolle von Popmusik. Der bundesdeutsche Generalkonsul etwa sprach dem jungen portugiesischen Publikum schlicht die Mündigkeit ab und zeigte sich im Zweifel, ob angesichts „einer zahlenmäßig recht kleinen Gruppe von Söhnen und Töchtern der privilegierten Schicht, die es schick finden, die vermeintlichen Errungenschaften mitteleuropäischer Zivilisation nachzuäffen, die Jugend Portos schon für einen derartigen Kunstgenuss reif“88 sei. Bei der Gelegenheit stellte er den »Nutzen« einer Förderung bundesdeutscher Popmusik durch das Goethe-Institut insgesamt in Frage. Die portugiesische Presse wiederum spiegelte im Grundsatz und zeitversetzt auch in der Bundesrepublik vorhandene Haltungen gegenüber der »westlich« konnotierten Popmusik und ihren Implikationen.89 Dabei stand nicht die Musik Embryos im Mittelpunkt, sondern das Konzertereignis und das Publikum: Ein Teil der Beobachter freute sich über die Tatsache, dass in der Stadt noch „nie so viele Miniröcke und weibliche und männliche Mähnen“ gesehen worden seien und plädierten für eine Wiederholung von Veranstaltungen dieser Art, um portugiesische Jugendliche näher an die neue Popmusik heranzuführen. Konservative Beobachter wiederum bezeichneten das Erscheinungsbild der Gruppe als „ekelhaft“, ihren Stil und Habitus als „Negation echter Kultur, so wie sie zu verstehen ist“, und forderten „eine strenge, ablehnende Maßnahme gegen den Einbruch negativer Gebräuche in die guten Sitten, die langsame auch bei uns auftauchen“. Embryo ist sicher eine jener Gruppen, die sich im Grenzbereich dessen bewegten, was nach dem hier angelegten Verständnis als Krautrock bezeichnet wird; im Laufe ihrer musikalischen Entwicklung neigten sie in der allgemeinen Wahrnehmung dem Jazz-Rock zu. In ihrer frühen Phase aber war der musikalische Stil noch 88
Schreiben des bundesdeutschen Konsulats in Porto an das Auswärtige Amt in Bonn, 18.04.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bestand B 96-EA, Band 473.
89
Mehrere Artikel verschiedener portugiesischer Tageszeitungen sind in Übersetzung einem Schreiben des Generalkonsulats in Porto an das Auswärtige Amt in Bonn vom 06.06.1972 beigelegt; ihnen sind auch die folgenden Zitate dieses Absatzes entnommen, vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Bestand B 96-EA, Band 473.
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nicht festgelegt, zudem waren Embryo zu Beginn der 1970er Jahre personell eng mit anderen Gruppen des Krautrock verwoben. Die Zusammensetzung des nach Selbstverständnis »musikalischen Kollektivs« etwa kreiste von Beginn um das einzige dauerhafte Mitglied Christian Burchard, der „mit seinem Gespür für talentierte Musiker“90 im Laufe der 1970er Jahre (und in den Jahrzehnten danach) eine Vielzahl verschiedener Charaktere bei Embryo vereinte; aus dem Umfeld des Krautrock gehörten dazu ehemalige oder spätere Mitglieder von Amon Düül II, Popol Vuh und Xhol Caravan. Auch Burchardt selbst wirkte bei anderen Gruppen mit, 1970 etwa bei den Aufnahmen des Ersten Albums von Amon Düül II. Daneben waren im Laufe der 1970er Jahre immer wieder Gäste aus aller Welt an Embryo beteiligt. Das erste Album von Embryo namens Opal erschien 1970 auf Rolf-Ulrich Kaisers Label Ohr.91 Bereits ein Jahr später folgte das bei Dieter Dierks aufgenommene Album Embryoˈs Rache, dem die Branchenzeitschrift Musikinformation (wie üblich in Referenz zu den Vorbildern in Großbritannien und den Vereinigten Staaten) attestierte, es sei aufnahmetechnisch „nicht mehr von Importware zu unterscheiden“92; für den Musik Express war Embryo mit diesem Album „endgültig in die Spitze der deutschen elektronischen Rock-Musik vorgedrungen“93. Die transnationale Ausrichtung war dabei durchaus gewollt; man habe „aus dem etwas beengten nationalen Kreis heraus“94 gewollt, so Christian Burchardt, und mit diesem Album war zumindest nach Ansicht der bundesdeutschen Pop-Kritik ein entscheidender Schritt gelungen. Das dritte Album von 1972 spiegelte den zunehmend an Klängen und Rhythmen aus aller Welt, weit über den angloamerikanischen Pop-Horizont hinaus orientierten Stil Embryos: „Wüßte ich nicht, dass sie aus München kommen, […] würde ich auf die erste afro-asiatische Rockband tippen“95, hieß es etwa in Sounds. In der retrospektiven Betrachtung gelten Embryo in der Tat als besonders frühe Vertreter des später so genannten Genres der »Weltmusik«. Früh bemühte sich die Gruppe auch um Auftritte außerhalb der Bundesrepublik: 1973 etwa spielten Embryo als erste bundesdeutsche Gruppe auf dem renommierten Reading Festival in Großbritannien. „Die meisten Zuhörer merkten sehr schnell, dass hier keine Allerwelts-Rockband aufspielt, die den Erfolg mit sattsam bekannten RockKlischees sucht, sondern eine Gruppe, die ganz den englischen Vorstellungen von »Deutsch-Rock« entspricht und frische, vorwärts drängende Musik macht, deren 90
Sounds 3/1973.
91
Zu Embryo vgl. Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.6.
92
Musikinformation 11/1971; wie Conny Plank wurde auch Dieter Dierks durch diesen Vergleich mit angloamerikanischen Produzenten und Tonmeistern »geadelt«, vgl. das Kapitel »„Schwingungen“: Instrumente und Tonstudios«.
93
Musik Express 12/1971; sehr positiv auch Pop Nr. 12/1971.
94
Sounds 3/1973.
95
Sounds 8/1972.
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wichtigste Merkmale kommunikative Improvisationen und eine sagenhafte Spielfreude sind“96, begeisterte sich die Teenager-Zeitschrift Pop. Ebenfalls als Jazz- und daher nur bedingt als Krautrock kann die Musik der Gruppe Kraan gelten.97 Bereits 1968 unter einem anderen Namen als Amateurband in Ulm gegründet, hatten die Protagonisten ihre Wurzeln von Vornherein insbesondere im Jazz. 1971 erfolgte die Umbenennung in Kraan, kurz darauf zog die Gruppe als Musik-Kommune und unterstützt durch einen Mäzen in einen alten Gutshof in ländlicher Umgebung. 1972 erfolgte die Veröffentlichung des ersten, gleichnamigen Albums; nach ersten Tourneen in der BRD und dem angrenzenden Ausland spielten Kraan ab 1972 etwa 100 Konzerte im Jahr, 1973 zum ersten Mal in Großbritannien. Eine Tournee in den Vereinigten Staaten kam nicht zustande, weil sich einige der Gruppenmitglieder aus politischen Gründen dagegen entschieden – man wollte nicht »kommerziell« sein, sondern »authentisch« bleiben.98 1974 wurde unter der Regie Conny Planks das vierte Album Andy Nogger aufgenommen, das mit sechsstelligen Verkaufszahlen transnational zum größten Erfolg der Gruppe avancierte; ab Mitte der 1970er Jahre gerieten Kraan allerdings zunehmend in die Krise und lösten sich 1977 schließlich auf. Die bisher genannten Gruppen und Interpreten des Krautrock wie Xhol Caravan, Faust, Amon Düül II, Can, Guru Guru, Agitation Free, Embryo oder Kraan arbeiteten überwiegend mit »klassischen« Instrumenten der Popmusik und des Jazz, mit Elementen der »Jazz-« und der »Rock-Ästhetik«. Andere Akteure des Krautrock begannen zu Beginn der 1970er Jahre unter dem Einsatz elektronischen Instrumentariums für die Popmusik radikal neuartige Ausdrucksformen zu entwickeln; dazu gehörten Kraftwerk, NEU!, Cluster, Ash Ra Tempel, Tangerine Dream, Klaus Schulze oder Popol Vuh. Erstgenannte avancierten im Laufe der folgenden Jahrzehnte zur transnational erfolgreichsten Formation aus dem Umfeld des Krautrock, was sich aber erst gegen Ende der 1970er Jahre abzuzeichnen begann; die Anfänge zu Beginn des Jahrzehnts waren bescheiden. 1970 richteten Ralf Hütter und Florian Schneider, die den Namen ihrer Band noch 1969 von Organisation in Kraftwerk geändert hatten, in einem Düsseldorfer Hinterhof ihr Kling Klang Studio ein. Unter »Studio« war in diesem Fall zunächst eine Reihe von einfachen Gerätschaften zu verstehen; obwohl die ersten vier Alben der Gruppe an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik aufgenommen und abgemischt wurden, erweckte das Kling Klang jedoch von Beginn an den Eindruck, die Alben seien allesamt in Ei-
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Pop Nr. 9/1973; vgl. auch Musik Express 10/1973. Zu Kraan vgl. Schröder, Rock, S. 161-165; Dedekind, Krautrock, S. 275-277; Augustin, Pate, S. 224-228.
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Vgl. dazu auch die Aussagen des Gründungsmitglieds Hellmut Hattler in Morawietz, Kraut und Rüben, Folge 4 (D 2006).
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genarbeit und an diesem Ort entstanden; der Grundstein für den späteren DIYNimbus Kraftwerks.99 Tonmeister Conny Plank nahm nach Tone Float (erschienen unter dem Namen Organisation) im Jahr 1970 auch das erste Album unter dem neuen Namen Kraftwerk auf. Das Album bestand aus experimenteller Popmusik mit langen Improvisationen und monotonen, hypnotischen Rhythmen – wie das Vorgängeralbum Tone Float noch vollkommen ohne elektronische Instrumente. Die Musik Kraftwerks, so Hütter 1971, komme mit einem „Minimum an Konzept“100 aus, „bis zur totalen Auflösung bestehender musikalischer Formen“: eines der immer wiederkehrenden Motive des frühen Krautrock, die Auflösung überkommener Formen und Strukturen, das freie Spiel, und improvisatorische Annäherungen an neue Ausdrucksweisen. In Anbetracht dieses experimentellen Sounds waren die Verkaufszahlen bei Kraftwerk von Beginn an auch in der Bundesrepublik erstaunlich hoch, das erste Album erhielt bereits gute Kritiken.101 Das Cover des Albums, angelehnt an die Ästhetik der »klassischen« Pop-Art mit einem neon-orange eingefärbten Verkehrsleitkegel auf weißem Hintergrund, war von Hütter gestaltet; die Abbildungen auf dem Innencover stammten teilweise von renommierten Düsseldorfer Architekturfotographen, was angesichts eines Architekturstudenten Hütter und des Sohnes eines prominenten Architekten Schneider-Esleben kaum verwundert. Die Experimentalphase Kraftwerks um 1970 spiegelte sich neben der Musik und der Änderung des Bandnamens auch in einer Vielzahl von Personalwechseln, die Besetzung der Band changierte vom Trio bis zum Quintett. Dabei wirkte eine Vielzahl von Musikern mit, die später in anderen Formationen des Krautrock entscheidende Rollen spielen sollten.102 Gründungsmitglied Ralf Hütter verließ Anfang 1971 die Band, um sein Architekturstudium zu beenden;103 Kraftwerk bestand daraufhin für einige Zeit als Trio mit Florian Schneider, Klaus Dinger und dem neu hinzugekommenen Michael Rother. In dieser Besetzung trat die Band als eine der wenigen bundesdeutschen Gruppen in der Fernsehsendung Beat Club auf.104 Überhaupt absolvierten Kraftwerk zu Beginn der 1970er Jahre eine Vielzahl von LiveAuftritten, nicht zuletzt im Düsseldorfer Club Creamcheese. Der erste Auftritt au99
Vgl. dazu die Pressemitteilung der EMI Electrola Presse Pop nat. (undatiert, etwa 1981), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
100 Musik Express 4/1971. 101 Vgl. Sounds 2/1971, Musik Express 4/1971. 102 Laut Hütter lebten Kraftwerk zum Zeitpunkt der Produktion des ersten, gleichnamigen Albums kurzzeitig als „Kommune“ zusammen, vgl. Musik Express 4/1971. Zu den vielen Mitwirkenden in der Frühphase Kraftwerks vgl. Buckley, Kraftwerk. 103 Vgl. Musik Express 4/1971. 104 Beat Club, Folge 67 (D 1971). Daneben erfolgten in dieser Besetzung mehrere weitere Auftritte in Fernsehen und Radio, vgl. Buckley, Kraftwerk, S. 42.
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ßerhalb der Bundesrepublik erfolgte in einem Vorort von Paris auf einem zweitägigen Festival, zusammen mit Klaus Schulze, Tangerine Dream, Guru Guru und Ash Ra Tempel, das von der französischen Underground Zeitschrift Actuel organisiert worden war.105 1971 schieden Michael Rother und Klaus Dinger bei Kraftwerk aus und formten als Duo die Gruppe NEU!, von dem noch die Rede sein wird.106 Im selben Jahr kam Ralf Hütter zu Kraftwerk zurück und nahm als Duo zusammen mit Florian Schneider und unter Regie Conny Planks das Album Kraftwerk 2 auf. Bemerkenswert waren zum einen die erzielten Effekte durch Manipulation von Tonbändern sowie die erstmalige Benutzung der für Kraftwerk später so charakteristischen, elektronischen Drum Machine – basierend auf einer zunächst aus der Not geborenen Idee: Nach Aussage Schneiders war zu jener Zeit kein Perkussionist auffindbar, der mit elektronisch verstärkten Schlaginstrumenten hätte spielen wollen.107 Ende 1973 erschien das dritte Album Ralf und Florian, das stilistisch den Übergang von den Experimenten der ersten Jahre zu dem später für Kraftwerk charakteristisch empfundenen Sound markierte.108 Abermals von Conny Plank produziert, bestand das Instrumentarium Hütters und Schneiders nach wie vor überwiegend aus akustischen und elektrisch verstärkten Instrumenten wie Flöte, Orgel, Klavier, Gitarre und diversen Schlaginstrumenten, allerdings waren nun zum ersten Mal auch elektronische Instrumente zu hören. An dem folgenden Album Autobahn von 1974 war Conny Plank schließlich zum letzten Mal beteiligt – gleichzeitig war es das erste Album, das in Planks neuem Studio bei Köln abgemischt wurde. Zum ersten Mal war auf diesem Album auch Text zu hören, gemischt in deutscher und englischer Sprache; auch Alltagsgeräusche wurden in die Soundproduktion miteinbezogen, ebenso in weiter zunehmendem Maße elektronische Instrumente. Kraftwerk verfügten zu diesem Zeitpunkt bereits über die modernsten Synthesizer: einen Minimoog, einen ARP-Odyssey und einen EMS Synthi AKS, ungewöhnlich war der Gebrauch des später in der Popmusik allgegenwärtigen Vocoders. Mit dem Album Autobahn war der Schritt zu einer rein »elektronischen« Band nahezu vollzogen; auf dem im Jahr 1975 folgenden Album Radio-Aktivität schließlich waren nur noch elektronische Instrumente und durch Vocoder verfremdete Stimmen zu hören. 105 Das zweitägige Konzert mit den Gruppen Tangerine Dream, Klaus Schulze, Ash Ra Tempel, Guru Guru und Kraftwerk im Februar 1973 in Paris schlug hohe Wellen. Unter anderem die Musikzeitschrift Sounds berichtete über mehrere Seiten von der „kosmischen Musik in Paris,“ vgl. Sounds 5/1973; auch Pop druckte einen reich bebilderten Report mit dem Titel „Die Kosmischen Kuriere in Paris,“ vgl. Pop 9/1973. 106 Vgl. dazu Sounds 12.11.1971. 107 Vgl. Broker, Kraftwerk, S. 102. 108 Vgl. dazu reich bebildert Pop 1/1974; die dort abgedruckten Fotos aus dem Kling Klang Studio dürften Seltenheitswert haben.
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Die Jahre von 1971 bis 1974 blieben für Kraftwerk eine Zeit personeller Veränderungen, bis Mitte des Jahrzehnts stabilisierte sich die Zusammensetzung der Gruppe. Kurz vor Erscheinen, aber nach den Aufnahmen des Albums Autobahn wurde Wolfgang Flür Mitglied der Band, danach kam Karl Bartos hinzu. Die Besetzung als Quartett mit Hütter, Schneider, Flür und Bartos gilt als das »klassische« Kraftwerk-Lineup des folgenden, besonders kreativen und kommerziell erfolgreichen Jahrzehnts. Entscheidend war bereits 1971 auch der Zugang von Emil Schult, Absolvent der Düsseldorfer Kunstakademie und (wie einige andere Akteure des Krautrock) ehemaliger Schüler von Joseph Beuys und Gerhard Richter. Schult beteiligte sich zu Beginn musikalisch, absolvierte einige Auftritte mit Kraftwerk, später steuerte er Texte bei. Vor allem aber konzeptualisierte er Kraftwerks Ästhetik und war in den Folgejahren maßgeblich an der Ausbildung des stark stilisierten Images der Gruppe beteiligt. Schon mit Erscheinen des dritten Albums (1973) wurde Schults Einfluss deutlich sichtbar;109 so tauchte etwa bei Auftritten Neonschrift auf der Bühne auf – »Namensschilder« mit den Vornamen der Gruppenmitglieder in blauer, in Neonfarben leuchtender Schreibschrift – die zu einem Markenzeichen der Band werden sollten. Interessant war zudem ein in limitierter Auflage dem dritten Album beigelegtes, von Schult gezeichnetes Comic, das während der Aufnahme der jeweiligen Titel »live« entstanden war und so die Musik »visualisieren« sollte. Mit Erscheinen des Albums Autobahn 1974 hatte die auf Schults Konzeption beruhende Ästhetik Kraftwerks ihren charakteristischen Wiedererkennungswert gewonnen: Mit kurzen Haaren, Anzügen und Krawatten wirkten Kraftwerk nun, so Sounds spöttisch, eher „wie leitende Angestellte“110 als progressive Musiker. Die Resonanz auf die Ästhetik Kraftwerks ab Mitte der 1970er Jahre war gewaltig; die Arbeit Schults provozierte mit Konnotationen zur klassischen Moderne der 1920er Jahre, was dem Zeitgeist diametral zuwiderlief und nicht zuletzt kommerziell einen riskanten Schritt darstellte. Neben Kraftwerk gründete sich im Laufe der 1970er Jahre eine Vielzahl von Gruppen und Projekten in und um Düsseldorf, der Zeitschrift Sounds war die Düsseldorfer Szene bereits am Ende des Jahrzehnts eine zweiteilige Reportage wert.111 „Genug Energie fürs Jahr 2000“112 entdeckte Ingeborg Schober dabei im April 1979; die Gegend zwischen Rhein und Ruhr habe eine enorme stilistische Bandbreite hervorgebracht, die stark von der industriellen und urbanen Umgebung geprägt sei. Die Stadt habe bisher zu wenig Aufmerksamkeit erfahren, „im allgemeinen Durcheinander der deutschen Szene [könne man das] wohl erst heute rückbli109 Vgl. dazu etwa die Press Release der Firma Phonogram (undatiert, ca. 1973), KlausKuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. 110 Bussy, Kraftwerk, S. 64. 111 Zur Popmusik aus Düsseldorf seit den späten 1960er Jahren vgl. Esch, Electri_City. 112 Sounds 4/1979. Die Serie erschien in Sounds 4/1979 und Sounds 5/1979.
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ckend, fast historisch, rekonstruieren […] Ein eigener Stil, eine eigene Arbeitsweise, ein eigenwilliges Pendant zur Berliner Elektronik“113. Als besonders einflussreich und prägend nannte Schober neben Kraftwerk unter anderem NEU!, La Düsseldorf, Cluster, Harmonia sowie die Soloarbeiten von Michael Rother. Als charakteristisch für diese in Düsseldorf lokalisierte Szene machte der Musikwissenschaftler Christian Kneisel zeitgenössisch „meditative Sounds mit motorischer Rhythmik“114 aus. Die »motorische Rhythmik« bzw. der »motorische Beat« gelten in der transnationalen Wahrnehmung bis heute als mitentscheidende Charakteristika des Krautrock insgesamt. Das gilt insbesondere für das Duo NEU!. NEU! wurde 1971 von den ehemaligen Kraftwerk-Musikern Klaus Dinger und Michael Rother in Düsseldorf gegründet.115 Noch im selben Jahr entstand unter der Regie Conny Planks das erste Album, das Anfang 1972 veröffentlicht wurde. Die rein instrumentalen, »motorischen« und durch Effekte stark verfremdeten Stücke erregten große Aufmerksamkeit; Rother meinte rückblickend, dass die grundsätzliche Idee des „fast forward movement“116 bereits in der gemeinsamen Zeit bei Kraftwerk angelegt war, aber erst mit NEU! zur vollen Entfaltung kam. Neben der Musik erschien zeitgenössisch auch das Cover im Stile der Pop Art als spektakulär: auf einem matt-weißen Hintergrund prangte der rot kapitalisierte Schriftzug NEU!, eine grafische Darstellung mit hohem Wiedererkennungswert.117 Von dem zweiten Album NEU! 2 aus dem Jahr 1973 wurde insbesondere die zweite Seite breit rezipiert, die schneller und/oder rückwärts abgespielte Versionen der Stücke auf der ersten Seite enthielt – eine ironische Dekonstruktion, in der Popmusik bis dato einzigartig. Dabei kamen im Gegensatz zum ersten Album auch elektronische Instrumente zum Einsatz, insgesamt jedoch basierte der spezifische Sound von NEU! In erster Linie auf der klanglichen Verfremdung »klassischer«, elektroakustischer und akustischer Instrumente. Nach Ende der Aufnahmen für NEU! 2 gingen Dinger und Rother bis Ende 1974 getrennte Wege; lediglich um den Vertrag mit Brain zu erfüllen, fand man sich zum Jahreswechsel 1974/75 im Studio von Conny Plank noch einmal zusammen, um das dritte und letzte Album NEU! 75 einzuspielen.118
113 Sounds 4/1979. 114 Kneisel, Kraut, S. 204. 115 Für einen der ersten umfangreichen Berichte vgl. Musik Express 7/1972. 116 Zitiert nach Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009). 117 Vgl. Musik Express 7/1972. 118 Zu diesem Album, auf dem zahlreiche Gastmusiker mitwirkten, vgl. etwa Musikinformation 5/1975.
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Abbildung 11: Kraftwerk mit »Beiband« Scorpions 1971; Kraftwerk lösten sich bekanntermaßen nicht auf.
Bereits nach dem Album NEU!2 hatte Rother mit dem Duo Cluster Kontakt aufgenommen und zu arbeiten begonnen. Cluster, bestehend aus Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius, war 1971 nach dem Ausscheiden Conrad Schnitzlers aus dem Trio Kluster hervorgegangen und hatte im Zuge dessen die Zusammenarbeit mit Conny Plank vertieft.119 Einige Monate tourten Roedelius und Moebius in einem Bus ohne festen Wohnsitz durch die Bundesrepublik, absolvierten viele ihrer Auftritte in Galerien und Museen, bis sie in eine Kommune auf einem alten Bauernhof im Weserbergland eingeladen wurden, dort blieben und ihr Studio einrichteten. 1971, also in etwa zeitgleich mit NEU!, veröffentlichten Cluster ihr erstes Album: rein instrumentale, ineinanderfließende Klangcollagen, kreiert mit verschiedenen Instrumenten und elektronischen Effekten, ohne die übliche Teilung in einzelne Stücke und Titel. „Es gibt im Moment nur zwei Gruppen in der Welt, die zeitgenössisch-elektronisches Material im Sinne der neuen Popmusik verwenden: Popol Vuh aus München und Cluster aus Berlin“120 urteilte Sounds zur Veröffentlichung des Albums; „die Platte ist eins [sic!] der wenigen gültigen Beweise dafür, daß Elektronik nicht nur intellektuell, sondern auch emotional entstehen kann“. Bereits im Folgejahr 1972 entstand das Album Cluster II, das auf dem Label Brain veröffentlicht wurde.121 Dieses Mal handelte es sich um ausschließlich mit elektro-
119 Vgl. Prendergast, Ambient Century, S. 294. 120 Sounds 6/1971. 121 Vgl. Der Musikmarkt 5/1972.
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nischen Instrumenten aufgenommene Stücke mit deutschsprachigen und Phantasietiteln, die Musik erschien der Kritik rhythmischer und eingängiger als auf dem ersten Album. Sounds beschrieb Clusters Musik als „kosmische Fahrten“122, die sich über jede herkömmliche Gestaltungsform von Popmusik hinwegsetzten; hervorgehoben wurde wiederum der fließende, atmosphärische Charakter der Stücke. Ende 1973 nahmen Cluster in ihrem eigenen Studio das dritte Album Zuckerzeit auf, „elektronische Spielereien“, so wiederum Sounds, „die ernstlich am ehrwürdigen Image des Synthesizers teutonischer Prägung rütteln“123. Gemeint waren damit die als »leicht« empfundenen Klänge und der »motorische« Beat Clusters im Gegensatz zur der elektronischen Variante des Krautrock, die als »Berliner Schule« oder »Kosmische Musik« Erfolge feierte. Michael Rother co-produzierte das Album und stellte für die Aufnahmen einen Teil seines Equipments zur Verfügung; aus dieser Kooperation formte sich mit Roedelius, Moebius und Rother das Trio Harmonia, das 1974 auf dem renommierten Internationalen Musikforum in Viktring bei Klagenfurt debütierte.124 Nach weiteren Tourneen im europäischen Ausland nahmen Harmonia unter Mitwirkung von Conny Plank das Album Music from Harmonia auf, ein Jahr später erschien das zweite Album De Luxe; ersteres erhielt sehr positive Kritiken, das zweite wurde stilistisch in die Nähe von Kraftwerks erfolgreichem Album Autobahn gerückt und als epigonal verworfen.125 Popjournalist Winfried Trenkler war sich dennoch sicher: „Diese drei Musiker zählen seit Jahren zu den musikalischen Schrittmachern einer neuen Popmusik“126. Conrad Schnitzler, ehemaliges Mitglied der Gruppe Kluster und damit ehemaliger Bandkollege von Hans-Joachim Roedelius und Dieter Moebius, produzierte und veröffentlichte nach der Trennung eine Vielzahl von Solo-Alben.127 In der ersten Hälfte der 1970er Jahre erschienen Schwarz (1971), Rot (1972) und Blau (1973), allesamt in limitierter Auflage im Eigenvertrieb.128 Dabei verstand sich Schnitzler eher als Klangkünstler, denn als Musiker: 122 Sounds 8/1972. 123 Sounds 5/1975. 124 Michael Rother meinte rückblickend zur Namensfindung: „Der Name Harmonia sollte unser Ziel ausdrücken, war aber auch als Witz gedacht, weil wir aus sehr verschiedenen Bereichen kamen und uns von Anfang an über die Musik stritten“, vgl. Kotsopoulos (Hg.), Krautrock, S. 101. Zu den Verbindungen zwischen Cluster, Harmonia und Neu! vgl. Sounds 5/1975. 125 Vgl. etwa Fachblatt 10/1975; auch Sounds 11/1975. 126 Sounds 5/1975. 127 Um 1970 trat Conrad Schnitzler zusammen mit Wolfgang Seidel (auch Ton Steine Scherben) und anderen kurzzeitig als Eruption auf. 128 Das Album Rot von 1972 beinhaltete (wie auch das im Jahr darauf erschienene Album Faust IV der Gruppe Faust) einen Titel namens »Krautrock«.
164 | K RAUTROCK TRANSNATIONAL „Meine Töneactionen [sic!] liefen dann anfangs der Siebziger noch mit Gruppen wie Tangerine Dream, oder Kluster, der Gruppe, die ich gründete, nach GERÄUSCHEN, ab. Damals bin ich dann noch mit einigen Kollegen der Töne über die Dörfer gefahren, um unsere Meinung über die freien Töne zu vermitteln. Aber mehr und mehr wollte keiner von freien Tönen etwas hören, Harmonie und Rhythmus waren angesagt, der Konsum angeheizt. Aber ich bin nun mal ein Individualist, kam ja auch aus der normalen Kunst, soll heißen Eigenbrödler, Egomane, unverträglicher Geselle, nicht gut für ˈne Mannschaft. Deshalb blieben das kurze Gastspiele, die ganze Richtung ging nicht meinen Weg.“129
Diese Einstellung zu Klängen und Tönen spiegelte sich auch in den zahlreichen Auftritten Schnitzlers zu jener Zeit, die weniger als Konzerte, sondern vielmehr als Happenings erschienen, beispielsweise 1974 in Form der 50-stündigen LivePerformance unter dem Titel »Work in Progress« in der West-Berliner Galerie Block. Zu der »Richtung« des Krautrock, die nicht Schnitzlers Weg ging, gehörte die so genannte »Kosmische Musik«. Der Begriff tauchte um 1972 im Umkreis von Rolf-Ulrich Kaisers Label Ohr zum ersten Mal auf und wird bis heute (insbesondere im Englischen als »Cosmic Music«) mit den »elektronischen« Gruppen des Krautrock in Verbindung gebracht, die bei Kaiser unter Vertrag standen. Aufmerksamkeit generierten der Begriff und die darunter gefassten Interpreten von Beginn an: Ende 1972 begab sich Winfried Trenkler auf »Die Kosmische Reise« und präsentierte »Kosmische Musik« in Form eines mehrseitigen Artikels über Klaus Schulze, Ash Ra Tempel, Tangerine Dream und Popol Vuh.130 Die genannten Gruppen waren auf einen Doppelalbum namens Kosmische Musik vertreten, das Ohr veröffentlicht hatte, versehen mit einer Kaufempfehlung der Zeitschrift Sounds.131 „Was sich da entwickelt, wird ein mächtiger Zweig der Pop-(hoffentlich Pop!) Musik werden“132, so Trenkler, „und wahrscheinlich wird sich gleichzeitig unser Musikverständnis ändern“. Wenige Monate später hatte auch der Musik Express mit der »Kosmischen Musik« einen „neuen Trend“133 entdeckt, dem „sich besonders viele deutsche Gruppen verschrieben haben und die in erster Linie auf dem OhrLabel ihre Heimat gefunden“ hatten. „Sogar“ – hier spiegelt sich erneut der zentrale Referenzpunkt bundesdeutscher Popmusik der 1970er Jahre – „sogar“ USamerikanische Medien seien schon darauf aufmerksam geworden. 129 So retrospektiv in Schnitzler, Freie Töne, S. 156f. 130 Vgl. Sounds 12/1972; zum Sampler vgl. auch Der Musikmarkt Nr. 18/1972. 131 Das Doppelalbum Kosmische Musik präsentierte die umsatzstärksten Gruppen und Interpreten des Labels Ohr, die vor allem auch im Ausland besonders erfolgreich waren, vgl. Der Musikmarkt 20/1972. 132 Sounds 12/1972. 133 Musik Express 3/1973.
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Abbildung 12: Conrad Schnitzler um 1970.
»Kosmische Musik« wurde bis 1973 zu einem zentralen und in einschlägigen Medien allgegenwärtigen Bestandteil bundesdeutscher Popmusik. Mit steigender Verbreitung mutierte er vom Trendbegriff zu einem Unwort, mit dem sich kaum jemand der Beteiligten mehr identifizieren wollte. Ash Ra Tempel etwa meinten, dass „Assoziationen zur Weltraummusik oder »Sphärenklänge« […] unwichtig“134 seien; Edgar Froese von Tangerine Dream insistierte darauf, den Begriff in diesem Zusammenhang zuerst verwendet zu haben, er habe damit seine Vorstellungen von einer räumlichen Dimension elektronischer Musik deutlich machen wollen.135 Klaus Schulze wiederum war nur widerwillig bereit, sich mit dem Begriff identifizieren zu lassen, sagte aber auch, die Idee des »Kosmischen« sei mit räumlichen „Wunschvorstellungen, Hoffnungen“136 verbunden, die er auch durch seine Musik ausgedrückt haben wollte.137 Ein Wandel der Ansichten ließ sich bei Florian Fricke von
134 Zitiert nach Kaiser, Rock-Zeit, S. 307. 135 Vgl. Sounds 12/1972; Kaiser, Rock-Zeit, S. 307f. Kaiser wiederum machte keinen Hehl daraus, dass die Idee von Froese stammte, vgl. ebd., S. 306. Froese äußerte sich in der Folge widersprüchlich, vgl. beispielsweise Fachblatt 5/1975; Musik Express 7/1975; zu der Problematik auch Peter Baumann in Zig Zag Nr. 44, 8/1974. 136 Sounds 12/1972. 137 Schulzes erstes Album Irrlicht wurde unter dem Begriff »Kosmische Musik« und gegen jede Erwartung zu einem kommerziellen Erflog; Rolf-Ulrich Kaiser und Schulze be-
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Popol Vuh ausmachen, bei dem »Kosmische Musik« zunächst einen religiösspirituellen Impetus erfuhr: „Der Wind, der Donner, starker, schwacher Klang, der neue Geburten entstehen läßt, verwandelnder Klang. Die menschliche Seele hat eine Ahnung vom »Kosmischen«, von Licht, Dunkelheit, Grenzenlosigkeit, Tod, Auferstehung. Das Erkennen der Seele ist solch ein Tor zum Himmel, eine Abfahrt in den Kosmos. Eine Musik, die diese inneren Sachen auszudrücken vermag, den freien Flug aus der Zeitverbundenheit heraus in etwas Ewiges: Das könnte »Kosmische Musik« sein. Diese Musik würden wir traumhaft, ekstatisch oder glückselig nennen. Jedenfalls müßte sie dich aus deiner dir bekannten Bezogenheit entrücken.“138
Gut ein Jahr später fühlte sich Florian Fricke abgestoßen durch „eine wahre Flut an Elektronik im Rahmen der Popmusik oder im Rahmen dessen, was heute so wenig bescheiden »kosmische Musik« genannt wird […] Da saß ich dann in einem großen wabernden Trog, der mir so unendlich unsympathisch ist – da ich aus dieser technischen Musik meist nur Kosmos-Angst, nie Verbundenheit mit dem Kosmos heraushören konnte.“139
Wenige Monate zuvor hatte Fricke seinen Moog Synthesizer verkauft und Popol Vuh ohne elektronische Instrumente neu konzipiert; nach zwei »elektronischen« Alben,140 einem Auftritt im Beat Club141 und noch im Januar 1972 als Gastmusiker bei den Aufnahmen zu Tangerine Dreams Album Zeit142 wandte sich Fricke von elektronischem Instrumentarium ab. „Man kann wohl mit Elektronik zunächst mehr als mit anderen natürlichen Klängen die Tiefe, das Unbewußte, das Zeitlose des Menschen erreichen – ich weiß das und es hat mich lange fasziniert,“ so Fricke 1973. „Ein schönerer und ehrlicherer Weg scheint es mir heute zu sein, sich selbst ohne technische Hilfsmittel zu reinigen […] Die elektronische Musik ist heute von ihren kommerziellen Verwertern zu sehr in den Bereich des LSD-Wahns gerückt
suchten eine Reihe bundesdeutscher Radiosender, um das Doppelalbum und die jeweiligen Alben der einzelnen Künstler vorzustellen, vgl. Der Musikmarkt 22/1972. In den Folgeausgaben von Der Musikmarkt wurde ausführlich über einzelne Sendungen und Verkaufserfolge berichtet. 138 Kaiser, Rock-Zeit, S. 308. 139 Sounds 3/1973, ähnlich in Pop 3/1973. 140 Im Sommer 1970 hatten Popol Vuh ihr zweites »elektronisches« Album In den Gärten des Pharaos in der Stiftskirche Baumburg aufgenommen, vgl. Musikinformation 5/1972; Sounds 5/1972; Die Zeit 02.06.1972. 141 Beat Club, Folge 66 (D 1971). 142 Dazu ein Bericht Rolf-Ulrich Kaisers in Flash Nr. 11/1972.
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worden.“143 Gemeint war damit Rolf-Ulrich Kaiser und seine Ohr Musikproduktion GmbH, dem Fricke jedoch trotz aller Kritik (mangels realistischer Alternativen) weiterhin treu blieb: Auch die folgenden Alben von Popol Vuh wurden allesamt auf Kaisers Label veröffentlicht. Darunter befanden sich Hosianna Mantra (1973), nach Fricke selbst eine „sehr christliche Musik“144. In Zusammenarbeit mit dem neuen Mitglied Daniel Fichelscher (ehemals Amon Düül II), laut Fricke neben ihm „die wichtigste musikalische Persönlichkeit von Popol Vuh“145, erschien im selben Jahr das Album Seligpreisung (1973).146 Als letzte Veröffentlichung Rolf-Ulrich Kaisers überhaupt erschien 1974 Popol Vuhs Einsjäger & Siebenjäger.147 Vornehmliche Heimstatt der »Kosmischen Musik« war West-Berlin, das im Laufe der 1970er Jahre zu einem Mekka der Popkultur, insbesondere elektronischer Popmusik avancierte. Die so genannte »Berliner Schule« gilt transnational als legendär, bereits am Ende der 1970er Jahre war grenzübergreifend und insbesondere auch in der angloamerikanischen Sphäre von einer »Berlin School« die Rede. Einer ihrer zentralen Akteure war Klaus Schulze. Schulze hatte Tangerine Dream nach deren Debutalbum Electronic Meditation (1970), auf dem er noch als Schlagzeuger mitwirkte, verlassen; anschließend war er Mitbegründer der Gruppe Ash Ra Tempel, die er ebenfalls nach dem Debutalbum (1971) wieder verließ. Danach startete er seine Solokarriere. 1972 veröffentlichte Rolf-Ulrich Kaisers Ohr sein Debut Irrlicht (Untertitel: Quadrophonische Symphonie für Orchester und E-Maschinen), eine Klangcollage aus konventionellen akustischen und elektroakustischen, allerdings stark verfremdeten und nachbearbeiteten Instrumenten. Auch Streicher der Berliner Philharmoniker wirkten auf dem Album mit, denen Schulze aus Sorge um ihre Reputation allerdings versprechen musste, sie auf dem Cover nicht namentlich zu er-
143 Sounds 3/1973, Pop 3/1973. 144 So Fricke in einem Interview mit Rainer Langhans in Sounds 3/1973; zum christlichen Charakter der Musik Popol Vuhs vgl. auch Pop 3/1973; die zunehmenden religiösen Auslassungen und der „missionarische Eifer“ Frickes wurden nicht überall begeistert aufgenommen, vgl. etwa Musik Express 3/1974. 145 Brief von Florian Fricke an Günter Ehnert (19.01.1975), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. 146 Vgl. Der Musikmarkt 01.09.1973; Kritiken etwa in Musik Express 3/1973; sehr positive Kritik in Flash 1/1974; zu den Aufnahmen des Albums Seligpreisung in der Stiftskirche Baumburg, an denen der Tonmeister Dieter Dierks mit einem mobilen Studio beteiligt war, vgl. Cosmic Music Press Release (undatiert, ca. 1970), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. 147 Einsjäger & Siebenjäger wurde 1975 von der führenden italienischen Musikzeitschrift Muzak zum Album des Jahres gewählt, vgl. Fachblatt 6/1975. Popol Vuh sind bis heute insbesondere auch in Italien populär.
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wähnen.148 Irrlicht wurde von Kaiser als „erste deutsche Pop-Platte mit Symphonieorchester“149 vermarktet; Schulze kombiniere „Pop, Elektronik und Symphonie“ wie niemand zuvor. Nach dem Debut begann eine mehrjährige, sehr aktive und von einer Vielzahl von Veröffentlichungen und Tourneen geprägte Phase. 1973 erschien das Doppelalbum Cyborg, erstmals unter Benutzung eines Synthesizers; wie der Titel vermuten lässt, entwickelte Schulze auf diesem Album – übrigens lange vor Kraftwerks Mensch Maschine – erste konzeptionelle Ansätze zur popkulturellen Verschmelzung von »Mensch und Maschine«, inspiriert insbesondere durch die Möglichkeiten der neuartigen »elektronischen« Instrumente und durch die damit einhergehenden theoretischen Diskussionen. „Meine Technik ist für mich ein lebendiger Apparat, eine Erweiterung meiner natürlichen Organe. Wie eine Prothese“150, so Schulze zu einer der zahlreichen zeitgenössischen Fragen zum Verhältnis von Elektronik, Mensch und Musik. Cyborg enthielt vier Titel, einen pro Seite, jeweils etwa 20 Minuten lange, rein instrumentale Stücke. Wie im Fall des ersten Albums Irrlicht waren die Titel auf diesem Album deutsch (z.B. Chromengel oder Neuronengesang), was insofern interessant ist, als dass sich in der »Berliner Schule« im Gegensatz zur Düsseldorfer Variante des Krautrock später überwiegend englischsprachige Titel durchsetzten. Der Fall war das dann auch auf Schulzes 1974 erschienenen Album Blackdance, für die Zeitschrift Pop schlicht „ein neues elektronisches Meisterwerk“151. Die Begeisterung wurde in der Bundesrepublik allerdings nicht überall geteilt; im westeuropäischen Ausland war Schulze mittlerweile weitaus erfolgreicher. Das bereits erwähnte, von der Zeitschrift Actuel organisierte Konzert Anfang 1973 in Paris stellte für Schulze zunächst den „Durchbruch in Gallien“152 dar, daran 148 „Meine erste Solo-LP (IRRLICHT) entstand mit einfachsten technischen Hilfsmitteln und der Hilfe eines Orchesters, das mich wohl für verrückt hielt. Der kommerzielle oder gar künstlerische Erfolg war gleich Null. Die Reaktion des Großteils der Medien entsprach etwa der des Orchesters“, so Klaus Schulze 1977 über die Produktion und Rezeption des Albums, vgl. Selbstdarstellung auf einem Briefbogen der Klaus Schulze Productions, Dezember 1977, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; dazu auch Schulzes Bericht in Deutsche Popszene 9/1972, Kabarettarchiv Mainz, LK B 111 OHR; zu Schulze vgl. auch Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.18. 149 Rolf-Ulrich Kaiser in Deutsche Popszene (undatiert, etwa 1973), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. 150 Flash 1/1974; sehr ähnlich auch bereits in Sounds 12/1972; zur Zeit der Aufnahmen von Cyborg wirkte Schulze (ebenfalls mit elektronischem Instrumentarium) an Aufnahmen um Walter Wegmüller, Sergius Golowin, den Cosmic Couriers und Ash Ra Tempel mit. 151 Pop 8/1974. Blackdance erschien auf dem noch jungen Label Brain. 152 Selbstdarstellung der Klaus Schulze Productions, Dezember 1977, Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert.
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anschließend ergaben sich europaweit neue Möglichkeiten. Seine ausgeprägten Tourneen führten ihn durch Benelux, Frankreich, Italien, die Schweiz, nur „vereinzelt“153 in die Bundesrepublik. Auch die Verkaufszahlen seiner Alben waren in großen Teilen des westeuropäischen Auslands höher als in der Bundesrepublik, wo Schulze schon im Rahmen der allgemeinen Authentizitätsdebatten weitaus mehr als im Ausland mit Vorbehalten gegenüber elektronischer Popmusik bzw. elektronischen Instrumenten zu kämpfen hatte. Das galt im Wesentlichen auch für eine der transnational erfolgreichsten und wirkmächtigsten Bands des Krautrock: Tangerine Dream. Noch unter Beteiligung Schulzes und zusammen mit Edgar Froese und Conrad Schnitzler war 1970 auf Ohr das erste Album von Tangerine Dream erschienen. Der Titel des Albums, Electronic Meditation, war etwas irreführend, da auch in diesem Fall die meisten der benutzten Instrumente tatsächlich »konventionell« akustische oder elektroakustische waren, jedoch unkonventionell bedient und verfremdet wurden.154 Sounds charakterisierte das Album dennoch als eine „elektronische Rock-Exkursion in ein stereofonisches Nirvana“155 und war sich sicher, Tangerine Dream würden „die elektronischen Möglichkeiten […] kennen“ – wie sich später herausstellen sollte, eine durchaus richtige Einschätzung. Die Klangcollagen des im Umfeld des WestBerliner Zodiak Free Arts Lab entstandenen Trios waren übrigens zunächst keinesfalls mit der Absicht entstanden, sie auch zu veröffentlichen; ein Tontechniker brachte die bei einer Session entstandenen Aufnahmen zu Ohr, und die Bänder wurden zur Überraschung aller Beteiligten zur Veröffentlichung angenommen156 – bei Rolf-Ulrich Kaiser stießen Tangerine Dream mit ihren experimentellen Klängen auf offene Ohren. Eines der vielen Beispiele, die die zentrale Rolle Kaisers für Krautrock und die bundesdeutsche Popmusik unterstreichen. Nach Veröffentlichung des ersten Albums veränderte sich die personelle Zusammensetzung Tangerine Dreams erheblich. Das Personalkarussell drehte sich dabei innerhalb der West-Berliner Szene: Klaus Schulze wechselte zu Ash Ra Tempel; für ihn kam Christoph Franke von Agitation Free, der bereits in Thomas Kesslers Electronic Beat Studio mit elektronischen Instrumenten in Verbindung gekommen war. Kurz darauf verließ auch Conrad Schnitzler die Gruppe, für ihn kam auf Vermittlung Rolf-Ulrich Kaisers Steve Schroyder. Im Februar 1972 verließ wiederum Schroyder die Gruppe und wechselte ebenfalls zu Ash Ra Tempel. Daraufhin komplettierte Peter Baumann Tangerine Dream als Trio. Die Besetzung Froese, Franke und Baumann stellte das »klassische« Lineup Tangerine Dreams in
153 Ebd. 154 Vgl. Stubbs, Tangerine Dream, S. 140. Dazu Froese selbst in Sounds 5/1971. 155 Sounds 08.07.1970; so auch Edgar Froese in Zig Zag Nr. 44, 8/1974. 156 Vgl. ein Interview mit Edgar Froese in Sounds 5/1971.
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den 1970er Jahren dar; mit ihr verstetigte sich die Band nicht nur in personeller, sondern auch in konzeptioneller bzw. musikalischer Hinsicht. Bereits auf dem zweiten Album Alpha Centauri (1971), eingespielt unter der Regie von Dieter Dircks, kam neben Hammond- und Farfisa-Orgeln zum ersten Mal ein Synthesizer zum Einsatz; »konventionelle« Instrumente rückten in den Hintergrund. Sounds beschrieb ein „gegensätzliche[s] Spannungsfeld von Rock und Elektronik“157, eine neuartige Synthese verschiedener musikalischer Stilmittel, die Vorstellungen von Räumlichkeit evozierte. Vorstellungen von Räumlichkeit in Zusammenhang mit den neuartigen elektronischen Klängen spielten in den Folgejahren transnational eine zentrale Rolle, auch im Falle des 1972 erschienenen Doppelalbums Zeit. Zum einen galt das Album als „one of the very first times that percussion wasnˈt used in what was essentially a rock group setting“158; »klassisches« Rockinstrumentarium wurde mit elektronischem Instrumentarium verschmolzen, neben der Perkussion fungierten als letzte Reminiszenzen an »konventionelle« Instrumente auch Cellisten als Gastmusiker.159 Der unter Mitarbeit Florian Frickes (Popol Vuh) entstandene elektronische Sound verstärkte den Eindruck einer räumlichen Dimension, die der Musik Tangerine Dreams zugesprochen wurde: Dadurch sei der Sound nicht nur „vollkommener“160, die Musik wich zudem „vor allem in der räumlichen und zeitlichen Einteilung, der gesamten Klangfarbe und der Dramaturgie von dem ab, was wir gewohnt sind“161 – so urteilte die Zeitschrift Sounds, die sich über mehrere Monate immer wieder mit dem Album beschäftigte. Der Tonmeister und Produzent Dieter Dierks schrieb diese Wirkung auch einer besonderen Intuition der Musiker zu: „Das sind Musiker, die ihre Instrumente beherrschen und rein intuitiv etwas hervorbringen […] Sie lösen sich vom normalen Metrum und spüren in den Tönen des anderen die Stimmung, die er aufbauen will. Sie übertragen dieselbe Frequenz auf ihr Instrument und unterstützen ihn, erweitern die Stimmung und lassen sie zusammenfallen, so daß ein neues Bild entsteht. »Tangerine Dream« bauen laufend Klangbilder auf, die ineinander zerfließen. Voraussetzung sind gute Musiker und hohe Sensibilität. Das beste Beispiel ist die Produktion ihrer LP »Alpha Centauri«, als wir zwei Tage gewartet haben, ohne daß musikalisch etwas Wichtiges passierte. Das merkt auch der Zuhörer: Entweder er ist gleich drin, es passiert etwas und spricht ihn an, oder es läßt ihn vollkommen kalt.“162
157 Sounds 7-8/1971. 158 Zig Zag Nr. 44, 8/1974. 159 Vgl. dazu den Bericht Rolf-Ulrich Kaisers in Flash Nr. 11/1972. 160 Sounds 8/1972. 161 Sounds 12/1972. 162 Zitiert nach Kaiser, Rock-Zeit, S. 237.
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Abbildung 13: Tangerine Dream in klassischen Lineup, (v.l.n.r.) Edgar Froese, Peter Baumann, Christoph Franke.
Das dritte Album Atem (Ohr, 1973) wurde auf dem britischen Markt zum kommerziell erfolgreichsten Import-Album des Jahres, und John Peel kürte es zudem zum qualitativ besten Import-Album des Jahres. Dieser Erfolg weckte unter anderem das Interesse Richard Bransons, der Tangerine Dream für ihr nächstes Album Phaedra im Jahr 1974 für sein junges Label Virgin unter Vertrag nahm. Phaedra, aufgenommen ausschließlich mit elektronischen Instrumenten in den Virgin Studios im englischen Oxfordshire, bedeutete für Tangerine Dream den transnationalen Durchbruch. Tangerine Dream wurden spätestens zu diesem Zeitpunkt als eine Band wahrgenommen, „die nicht das geringste mehr mit dem amerikanischen Rock ˈnˈ Roll, mit Blues oder Rhythm & Blues zu tun“163 hatte; sie definierten Popmusik vollkommen neu und legten mit ihrem Stil den Grundstein für denjenigen Teil des Krautrock, der später als Berliner Schule lokalisiert werden sollte. Tangerine Dream waren keineswegs die einzigen oder die ersten, die Popmusik in diesem Sinne »neu erfanden«; sie waren allerdings die ersten Vertreter des Krautrock, die damit transnational Erfolg hatten und die neuartigen, elektronischen Klänge einem breiten Publikum präsentieren konnten. Weitere Vertreter besagter Berliner Schule und der »Kosmischen Musik« waren Ash Ra Tempel, die sich 1970 im Umfeld des Electronic Beat Studios gründeten.164
163 Wicke, Anatomie, S. 12. 164 Der Name bezog sich auf Gottheiten der altägyptischen Mythologie; zu Ash Ra Tempel vgl. Asbjørnsen, Cosmic Dreams, S. 22–25; Freeman/Freeman, Cosmic Egg; Strieben,
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Die erste Besetzung bestand unter anderem aus Manuel Göttsching, einziges beständiges Mitglied der Gruppe, sowie Klaus Schulze, der kurz zuvor bei Tangerine Dream ausgestiegen war. Über Umwege besorgten sich Ash Ra Tempel unmittelbar nach ihrer Gründung Teile einer gebrauchten Soundanlage aus England – in WestBerlin war Sound-Equipment zu jener Zeit nur schwer zu erhalten.165 Der Transport der teuren Gerätschaften durch die DDR und über die Kontrollpunkte stellte eine Herausforderung dar, die sich nach einigen Schwierigkeiten meistern ließ. Schulze stellte einen Kontakt zu Rolf-Ulrich Kaiser her, der die Gruppe für Ohr unter Vertrag nahm. Das Debutalbum von Ash Ra Tempel wurde im März 1971 unter der Regie von Conny Plank aufgenommen; es bestand aus langen Instrumentalstücken mit deutschsprachigen Titeln wie Amboss oder Traummaschine, ganz im Stile der »Kosmischen Musik«, und galt schnell als eines der zentralen Alben auf Ohr. Es erlangte nicht zuletzt durch sein außerordentlich aufwendig gestaltetes Klapp-Cover mit der Darstellung einer alt-ägyptischen Gottheit große Aufmerksamkeit, symptomatisch für die frühen Ohr-Produktionen zu Beginn der 1970er Jahre. 1972 folgte, mittlerweile ohne Schulze, aber ebenfalls auf Ohr die Veröffentlichung des zweiten Albums Schwingungen. Es war mit einer Reihe von Gastmusikern unter der Regie von Dieter Dierks aufgenommen worden, auch der in der West-Berliner Szene bekannte John L. wirkte dabei mit.166 Schwingungen enthielt zwei Titel pro Seite sowie englischsprachige und deutsche Texte, die thematisch um die Entfremdung des Menschen in der technisierten Welt kreisten und wie etwa Popol Vuh einen starken spirituellen Bezug hatten. Ash Ra Tempel selbst verstanden sich und ihre Musik als „Teil einer Entwicklung zur Harmonie, d.h. zu einer bewußten Rückkehr zur Natur, einer natürlichen, freien Lebensweise. Unsere Musik soll ein Katalysator zum Erkennen des Ich, der Zusammenhänge des Lebens sein, eine Hilfe zur Bewußtwerdung“167. Sie wollten „lebende Elektronik produzieren“168, die »kosmische Erlebnisse« und Erfahrungen »jenseits von Raum und Zeit« ermöglichte. Er konstruktive Charakter von »Authentizität« sticht an dieser Stelle besonders hervor: Gerade elektronische Instrumente galten vielen in den 1970er Jahren als Inbegriff des »Künstlichen«, des »Unechten« und der »Manipulation«. Ash Ra TemLive-Rock, S. 173f.; Ehnert, Rock in Deutschland, S. 20–22; vgl. auch ein in Sounds 2/1972. 165 Vorbesitzer der Anlage waren Pink Floyd. 166 Für Sounds machte die Stimme John L.ˈs auf mehreren Stücken „das Zuhören […] etwas strapaziös“, ansonsten eine positive Rezension, vgl. Sounds 8/1972. John L. spielte auch bei anderen Gruppen des Krautrock immer wieder eine Rolle, etwa bei Agitation Free, vgl. Strieben, Live-Rock, S. 173; Ulbrich, Lüül, S. 29f. 167 Selbstauskunft der Gruppe, datiert 1972, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. 168 Pressemitteilung der Ohr Musikproduktion, undatiert, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
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pel kehrten die verbreitete Auffassung um und setzten gezielt elektronische Mittel ein, um »Authentisches« zu schaffen. Natürlichkeit, Freiheit, Selbsterkennung und Bewusstwerdung durch »lebende Elektronik« – eine Umkehrung des Zeitgeistes, wie er sich auch bei anderen Interpreten des Krautrock wiederfindet. Große Aufmerksamkeit erfuhren mehrere Projekte Ash Ra Tempels mit einigen prominenten Köpfen der transnationalen Gegenkultur, die 1972 und 1973 in der Schweiz im Umfeld des US-amerikanischen Exilanten Timothy F. Leary zustande kamen und die heute als Inbegriff der »Kosmischen Musik« gehandelt werden.169 Über Rolf Ulrich Kaiser mit Leary in Verbindung gebracht, nahmen Ash Ra Tempel und weitere Musiker aus verschiedenen Krautrock-Gruppen (darunter Klaus Schulze) ein gemeinsames Album in einem Studio in der Schweiz auf, da Leary keine Einreisegenehmigung in die Bundesrepublik erhalten hatte.170 Das Album Seven Up, einzige musikalische Hinterlassenschaft Learys und stark beeinflusst durch den Konsum von LSD, erschien 1973 als erstes Album auf Kaisers drittem Label Kosmische Kuriere.171 Etwa zur selben Zeit und mit ähnlicher Besetzung entstanden zwei weitere Alben: eines in Zusammenarbeit mit dem Autor, Publizisten und Mystiker Sergius Golowin (Lord Krishna von Goloka),172 ein weiteres zusammen mit dem jenischen Künstler Walter Wegmüller. Dessen Konzeptalbum Tarot bestand aus einem außerordentlich aufwendig gestalteten Cover, das unter anderem großformatige Bögen mit von Wegmüller entworfenen Tarot-Karten beinhaltete, wobei jeder Karte ein Musikstück auf dem Album zugeordnet war.
169 Zu Timothy F. Leary vgl. das folgende Kapitel. 170 Ursprünglich hatten Ash Ra Tempel auch Allen Ginsberg von einer Zusammenarbeit überzeugen wollen, wozu es allerdings nicht kam. 171 Ein Interview mit Rolf-Ulrich Kaiser und ein doppelseitiger Bericht zu dem Projekt Seven Up finden sich im Musik Express 3/1973. 172 Im Jahr 1971 trat Sergius Golowin, damals Abgeordneter im Berner Kantonsrat, in Zusammenhang mit einer Veranstaltung an der Pädagogischen Hochschule Berlin an der Seite von Rolf Schwendter und Walter Hollstein in Erscheinung, vgl. Siegfried, Time, S. 741; Golowins zahlreiche Aufsätze erschienen mitunter auch in wissenschaftlichen Sammelbänden, vgl. beispielsweise Carl Friedrich von Siemens Stiftung (Hg.), Jugend in der Gesellschaft, S. 179–201. Golowin strich darin den spirituellen Charakter der neuen Jugendbewegungen heraus; überall auf der Welt seien die jungen Menschen »auf dem Weg in ihr Innerstes«, auf der Suche nach sich selbst. Sie würden ihre Spiritualität dem erstarrten christlichen Glauben entgegensetzen und eine »neue Stammeskunst« anstreben. Das Ideal sei die Bildung von »tribes« und die Überwindung der Kleinfamilie – klassische Topoi der »Neuen Sensibilität« sowie der Emphase auf Spiritualität und Mystik jener Jahre. Zu Golowin auch ein umfangreicher Beitrag in Deutsche Popszene, [undatiert, etwa 1973], Kabarettarchiv Mainz, Bestand LK B 111 OHR.
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Von Februar bis Mai 1973 fand um Rolf-Ulrich Kaiser und seine »Kosmischen Kuriere« eine Vielzahl weiterer Aufnahmen und Sessions an verschiedenen Orten in der Bundesrepublik statt. Die Diät bestand dabei nach zahllosen in Details divergierenden, aber hinsichtlich der Sache nicht weit voneinander abweichenden Berichten zu einem großen Teil aus LSD. Neben den genannten Musikern aus verschiedenen Gruppen des Krautrock waren unter anderem Rolf-Ulrich Kaiser und seine Partnerin Gille Lettmann bei den Aufnahmen präsent; Kaiser und Lettmann veröffentlichten Teile davon im Jahr 1974 angeblich ohne Wissen der Beteiligten in Form von drei Alben unter dem Namen Cosmic Jokers; auch die beiden im selben Jahr erscheinenden Sampler Sci-Fi-Party und Gilles Zeitschiff beinhalten Teile des Materials. Noch während der Aufnahmen mit Leary, Golowin und Wegmüller entstand darüber hinaus das Ash Ra Tempel-Album Join Inn, kurz darauf Starring Rosi, das letzte Album von Ash Ra Tempel.173 Diese Veröffentlichungen stellten neben dem erwähnten Album von Popol Vuh auch die letzten Aktivitäten unter der Ägide Rolf-Ulrich Kaisers dar, der kurz darauf aus der Öffentlichkeit verschwand. Nicht zuletzt das Verschwinden Kaisers markierte eine neue Phase in der Entwicklung des Krautrock, die im folgenden, vierten Kapitel im Mittepunkt stehen wird. Die in der Regel als »Kernzeit« des Krautrock betrachtete Phase in der ersten Hälfte der 1970er Jahre lässt sich angesichts der genannten Fallbeispiele zusammenfassend mit den eingangs genannten Leitbegriffen Professionalisierung, Institutionalisierung, Expansion und Transnationalisierung charakterisieren. Die Stile der Gruppen verfestigten sich, auch personell war eine zunehmende Stabilisierung zu verzeichnen; gleichzeitig schloss die Bundesrepublik technologisch gegenüber den popmusikalischen Zentren (den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich) langsam auf, eine Reihe von Tonstudios erreichten technologisch und konzeptionell höchstes Niveau, und die Gründung mehrerer innovativer Labels bzw. die Öffnung etablierter Schallplattenfirmen gegenüber progressiver Popmusik ermöglichten die Verbreitung der neuen Klänge. Die bereits beschriebene Expansion und Ausdifferenzierung eines spezifischen Medienangebots im Laufe der späten 1960er und frühen 1970er Jahre trug ihren Teil zur Verbreitung des Phänomens bei. Der enorme kommerzielle Schub, von dem der Krautrock zu Beginn der 1970er Jahre erfasst wurde, sticht ebenso ins Auge wie das angesichts der experimentellen Klänge in diesem Ausmaß erstaunliche Interesse des Auslands. Die zunehmende Aufmerksamkeit »von außen« war zum einen Beispiel einer zunehmenden Transnationalisierung der popmusikalischen Produktion,174 hatte gleichzeitig aber auch profunde Rückwirkungen auf die weitere Entwicklung des Krautrock. Die Einbindung des Phänomens in die Kommunikationsräume der transnationalen Gegenkultur zeigte sich besonders prominent in der »Kosmischen Musik«, die mit ihrer Affinität 173 Vgl. Flash 1/1974. 174 Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 361.
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für psychoaktive Substanzen, ihrer Emphase auf Freiheit, Innerlichkeit, Selbstentfaltung und Gefühl den Hang zur Mystik und die „neue Spiritualität“175 des New Age widerspiegelte und zugleich musikalisch begleitete.
175 Reichardt, Authentizität, S. 807.
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„T RIPS & T RÄUME “ 176: N EUE W AHRNEHMUNGEN „Musik machte einen ganz außerordentlichen Eindruck auf mich. […] als verkörperten sich die Töne.“177 Ernst F. von Bibra, 1855 „Versailles ist dem, der Haschisch gegessen hat, nicht zu groß, und die Ewigkeit dauert ihm nicht zu lange.“178 Walter Benjamin, 1928 „A psychedelic experience is a journey to new realms of consciousness […] Its characteristic features are the transcendence of verbal concepts, of space-time dimensions, and of the ego or identity.”179 Timothy Leary/Ralph Metzner/Richard Alpert, 1964
Die »Verkörperung« akustischer Phänomene und die Veränderung der Wahrnehmung von Raum und Zeit sind wesentlicher Teil der psychedelischen Erfahrung, die wie kaum ein anderes Phänomen der 1960er und 1970er Jahre die „Neue Spiritualität“180 des New Age, aber mit ihrer Verbreitung auch den transnationalen Charakter der Gegenkultur reflektierte. Neben meditativen Techniken wurde vor allem mit psychoaktiven Substanzen experimentiert, um psychedelische Erfahrungen herbeizuführen und zu intensivieren. Dabei handelte es sich um Jahrtausende alte Rauschmittel, gewonnen etwa aus Hanf, Pilzen oder verschiedene Kakteenpflanzen, aber auch um die erst in den späten 1930er Jahren von dem Schweizer Chemiker Albert Hofmann erstmals synthetisierte Substanz Lysergsäurediethylamid, kurz LSD. Im Zusammenhang mit Krautrock spielte die für die westlichen Konsumgesellschaften neue, »psychedelische« Kultur eine entscheidende Rolle: Nicht nur war der Konsum psychoaktiver Substanzen unter den Protagonisten weit verbreitet, Tei-
176 Titel des Albums Witthüser & Westrupp, Trips & Träume, 1971. 177 Über die Wirkung von Hanfprodukten in Bibra, Genussmittel, S. 277. 178 Benjamin, Illuminationen, S. 326. 179 Leary/Metzner/Alpert, Psychedelic Experience, S. 13. 180 Reichardt, Authentizität, S. 807.
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le der Musik selbst galten darüber hinaus als Ausdruck der »Neuen Spiritualität« und als »Soundtrack« der neuartigen psychedelischen Erfahrungen. Ein wesentlicher Effekt, der der »Kosmischen Musik« wiederholt und transnational zugeschrieben wurde, war die durch sie bewirkte »Verräumlichung« und inhärente Körperlichkeit akustischer Wahrnehmungen.181 Die veränderte Wahrnehmung von Zeit und Raum steht beim Konsum psychoaktiver Substanzen im Mittelpunkt. Damit einher geht in der Regel eine allgemeine Intensivierung der Sinneswahrnehmungen, insbesondere bei der Perzeption von Musik: „Die einzigartige Wahrnehmung von Farben und Formen wie auch der überwältigende Eindruck von Musik vermitteln häufig ein neues Verständnis von Kunst und künstlerischen Bewegungen“182, so der Psychiater Stanislav Grof, der in den 1950er und 1960er Jahren in zahlreichen Sitzungen mit Testpersonen die Wirkung von LSD erforschte. Die besondere Empfindlichkeit der Sinne können dazu führen, so Grof, dass ein unter dem Einfluss von LSD stehender Mensch „»Musik sieht« und »Farben schmeckt«. Die durch einen bestimmten Sinnesbereich ankommenden Impulse erzeugen in diesem Fall deutliche, klare Reaktionen der anderen Sinne. Man bezeichnet dies gewöhnlich als Synästhesie. […] Nicht selten entdecken Personen unter dem Einfluss von LSD Dimensionen in der Musik, die sie zuvor nicht wahrnehmen konnten; es ist ihnen offenbar möglich, Musik mit der ganzen eigenen Existenz und in völlig neuer Weise aufzunehmen. Häufig scheint die Musik in verschiedenen Teilen des Körpers widerzuhallen und mächtige Gefühlsregungen auszulösen. Eine der häufigsten Äußerungen, die man in den Berichten über LSD-Sitzungen liest, bezieht sich auf das Gefühl der Testpersonen, sie hätten am Tag der Sitzung zum erstenmal [sic!] in ihrem Leben Musik wirklich gehört.“183
Auch Albert Hofmann erlebte in seinen frühen Selbstversuchen eine »Verräumlichung« klanglicher Ereignisse als synästhetische Erfahrung: „Kaleidoskopartig sich verändernd drangen bunte, phantastische Gebilde auf mich ein, in Kreisen und Spiralen sich öffnend und wieder schließend, in Farbfontänen zersprühend, sich neu ordnend und kreuzend, in ständigem Fluß. Besonders merkwürdig war, wie alle akustischen Wahrnehmungen, etwa das Geräusch einer Türklinke oder eines vorbeifahrenden Au-
181 Aus der Musikpsychologie zum Zusammenhang von psychoaktiven Drogen und synästhetischen Wahrnehmungen vgl. Bruhn/Oerter/Rösing, Musikpsychologie, S. 189. Dahingehend interessant: Auf Ebene neuronaler Aktivierungsmuster sind die emotionale Wirkung von Musik und die Wirkung starker Rauschdrogen nicht unterscheidbar, vgl. Grossbach/Altenmüller, Musik und Emotion, S. 16. 182 Grof, Topographie, S. 34. 183 Ebd., S. 61, Hervorhebung im Original.
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Die Wirkung von LSD ging allerdings weit über synästhetische Erlebnisse hinaus. Grof wie Hofmann sprachen angesichts ihrer Erfahrungen mit LSD von „Einsichten in das Wesen der Wirklichkeit“185; das emotionale, existenzielle Erlebnis eines LSD-Trips unterscheide sich von einer rationalen Annäherung an »Wirklichkeit« fundamental und führe zu einer bleibenden Veränderung des Weltbildes. Angesichts dieses Potentials verwiesen sie auch auf die Gefahren, die insbesondere bei unvorbereiteter Einnahme bestünden. Durch „wirksame Laienpropaganda“186 in den Medien sei Ende der 1960er Jahre der gefährliche Eindruck entstanden, man müsse nur LSD einnehmen, um wunderbare Wirkungen und Wandlungen und die Lösung aller Probleme zu erleben. Zwar waren im Gegensatz etwa zu Alkohol in der Tat keinerlei negativen Folgewirkungen zu verzeichnen; LSD wies sich gar durch „eine außergewöhnlich gute Verträglichkeit“187 aus. Allerdings: „Nicht in der Giftigkeit, sondern in der Fremdartigkeit und Unberechenbarkeit der psychischen Wirkungen liegt die Gefährlichkeit“188, so Hofmann. Eine erfolgreiche Einnahme sei von vielen Faktoren abhängig, etwa der örtlichen Umgebung, den umgebenden Menschen, dem akustischen Milieu oder dem seelischen Zustand; viele dieser Faktoren würden in der populären Anwendung von LSD in der transnationalen Gegenkultur nicht berücksichtigt. LSD wurde am Ende der 1960er Jahre in westlichen Industriegesellschaften verboten. Die Kriminalisierung hatte allerdings kaum Auswirkungen auf die rasche Verbreitung, das galt neben LSD auch für die populärste aller illegalisierten, psychoaktiven Substanzen, den Hanf. Die psychedelische Kultur war ab Mitte der 1960er Jahre in den Vereinigten Staaten entstanden und verbreitete sich schnell im Vereinigten Königreich.189 Mit mehrjähriger Verspätung kam sie in die Bundesre184 Hofmann, LSD, S. 33f. 185 Ebd., S. 206. 186 Ebd., S. 67. 187 Ebd., S. 37. 188 Ebd., S. 40. 189 Die Ursprünge liegen in der US-amerikanischen Beatnik-Bewegung der 1950er Jahre, literarisch verewigt etwa durch William Burroughs, Allen Ginsberg oder Jack Kerouac, vgl. Lee/Shlain, Acid Dreams; Stevens, Storming Heaven. Auch Aldous Huxley gehörte zu den breit rezipierten Multiplikatoren des LSD, das zunächst insbesondere „von Schriftstellern, Malern, Musikern und geisteswissenschaftlich interessierten Personen“ konsumiert wurde, so Hofmann, LSD, S. 64. Der britische Psychiater Humphry Osmond wiederum führte den Begriff »psychedelic« ein, der später in der Popkultur eine entscheidende Rolle spielen sollte, vgl. Werr, Utopien und Kommerz; Hopfgartner,
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publik, wo der „take-off“190 des Konsums um 1970 erfolgte. Wesentlicher Träger der Verbreitung war die »neue« Popmusik:191 Nicht nur die Psychedelic RockBands der US-amerikanischen Westküste, auch die britischen »Superstars« bis hin zu den Beatles und den Rolling Stones – allesamt auch wesentliche Inspiration für den Krautrock – konsumierten und propagierten bis etwa 1970 Substanzen wie LSD und Hanf. Nicht zuletzt dadurch wurde die psychedelische Kultur auch in die Breite der jungen Konsumavantgarde transportiert: Die auf eine junge Leserschaft ausgerichteten Lifestyle- und Musikzeitschriften publizierten eine Fülle von Reportagen, Ratgebern, Erlebnisberichten und enzyklopädischen Auflistungen. In alternativen Publikationen fanden sich wiederum – ganz im Sinne der DIY-Gedankens – Verkaufsanzeigen für Hilfsmittel zum Konsum, Anleitungen zur Aufzucht entsprechender Pflanzen oder zur Herstellung der Substanzen.192 Erst im Laufe der 1970er Jahre begann sich die Berichterstattung zu wandeln: Zusammen mit dem Konsum selbst, der sich zunehmend weg von bewusstseinserweiternden Substanzen und hin zu Opiaten und Aufputschmitteln verlagerte, drehte sich auch die Berichterstattung zunehmend um die Gefahren und den Missbrauch sogenannter »Drogen«. Der Begriff »Droge« hat im deutschen Sprachgebrauch, besonders in der alltagssprachlichen Verwendung eine massive ideologische Aufladung erfahren. Im weitesten Sinne beschreibt er jede Substanz, die biochemische Reaktionen hervorruft, das heißt »Heilmittel« genauso wie »Rauschmittel«. In der Alltagssprache versteht man unter »Drogen« in aller Regel illegalisierte Substanzen, die als Rauschmittel Verwendung finden können. Die begriffliche Orientierung ist zudem dadurch Psychedelic Rock, S. 84 und 137; zur psychedelischen Kunst und Musik in den Vereinigten Staaten als Vorbild der bundesdeutschen Gegenkultur vgl. Kessler, Dancing in the Streets, S. 64f; auch Masters/Houston, Psychedelische Kunst; zur Verbindung von LSD und Kunst vgl. wiederum Grof, Topographie, S. 13. 190 Reichardt, Authentizität, S. 834. Die besonders verbreiteten Substanzen THC (Hanf) und LSD waren ab 1970 in allen bundesdeutschen Großstädten ohne größeren Aufwand zu erhalten. 191 Vgl. zeitgenössisch Waldmann, Phantastika, S. 23 und 29; retrospektiv Marwick, Cultural Revolution, S. 45–48; Reichardt, Authentizität, S. 831-868; Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 276f; Weinhauer, End of Certainties, S. 383. 192 Der Konsum erfüllte eine gemeinschaftsstiftende Funktion und überschritt ethnische, soziale und nationale Grenzen; er hatte eine integrative Wirkung »nach innen« und eine abgrenzende Wirkung »nach außen«, insbesondere gegenüber den Mehrheitsgesellschaften, vgl. Hengartner/Merki, Genussmittel, S. 217f; auf den „sozialintegrativen und weitgehend gruppengebundenen Drogenkonsum“ in der Gegenkultur am Ende der 1960er Jahre verwies auch Weinhauer, Jugenddelinquenz, S. 52; ähnlich Briesen, Drogenwelle, S. 52. Zur Triade aus Musik, Rauschmittel und Gruppenerlebnis vgl. Reichardt, Authentizität, S. 841.
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erschwert, dass mit »Medizin« und »Droge« zwei Begriffe existieren, deren Anwendung in bestimmten sprachlichen Kontexten nicht etwa durch die jeweilige Substanz, sondern vielmehr nach Faktoren wie Dosierung oder Ort, Zeitpunkt und Umstände der Anwendung beziehungsweise Einnahme bestimmt wird. Alkohol und Tabak beispielsweise gelten bis heute in der Regel nicht als »Drogen«, obwohl sie ein vergleichsweise hohes Suchtpotential besitzen. Psychoaktive Pilze sind Pilze, solange sie auf der Wiese wachsen, aber »Drogen«, sobald sie gepflückt und getrocknet zum Verzehr angeboten werden. Von den weltweit höchst unterschiedlichen Anschauungen darüber, was ein »akzeptables« Rauschmittel oder eine »Droge« in diesem alltagssprachlichen, negativ konnotierten Begriffssinn ausmacht und sie von akzeptierten Rauschmitteln unterscheidet, ganz zu schweigen. »Drogen« oder ideologische Kampfbegriffe wie »Rauschgift« sind macht- und gesellschaftspolitisch fundierte „kulturelle Konstrukte“193. Leider operieren auch wissenschaftliche Texte dahingehend begrifflich oft höchst unpräzise. Ebenso wie der seit Jahrtausenden praktizierte Gebrauch von Rauschmitteln waren und sind auch Stigmatisierungen und Praktiken der Prohibition einem ständigen Wandel unterworfen. In deren diskursivem Charakter spiegeln sich soziale Hierarchien, Machtansprüche und die mit ihnen verbundenen Grenzen des »gesellschaftlich Akzeptablen«. Der Konsum illegalisierter Rauschmittel galt in gegenkulturellen Kontexten der Bundesrepublik um 1970 als revolutionärer Akt und wurde wesentlicher Bestandteil des Lebensstils;194 gleichzeitig erreichte die Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft zu Beginn der 1970er Jahre ihren ersten Höhepunkt. In der Bundesrepublik tauchten Begriffe wie »Drogenwelle« auf,195 der Konsum illegalisierter Rauschmittel wurde pauschalisierend pathologisiert und zum bevorzugten medialen Mittel für die Dramatisierung jugendlicher Delinquenz erhoben. Die gängigen Narrative lauteten in etwa so: Der Konsument sei auf der Flucht von der Realität, stamme aus zerrütteten Verhältnissen und sei von Problemen so belastet, dass er sich fluchtartig dem Rausch hingeben müsse.196 Im vorliegenden Kontext interessante Beispiele für die alarmistische Berichterstattung und die Pathologisierung des Konsums waren etwa der so genannte »Drogenreport« des Beat Club im Jahr 193 Tanner, Drogen, S. 267; Hengartner/ Merki (Hg.), Genussmittel, S. 200f; Weinhauer, End of Certainties, S. 377; Jay, High Society. 194 Vgl. Weinhauer, End of Certainties, S. 384; Reichardt, Authentizität, S. 843. Selbstverständlich ist die Aneignung bestimmter psychoaktiver Substanzen durch Subkulturen oder kulturelle Avantgarden, etwa in Abgrenzung zu den Vorlieben der Mehrheitsgesellschaften, kein exklusives Phänomen des 20. Jahrhunderts, vgl. etwa Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 276f. 195 Vgl. Briesen, Drogenwelle. 196 Vgl.ebd., S. 52; zur Irrationalität öffentlicher »Drogendebatten« vgl. Grof, Topographie, S. 13 und 25.
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1970,197 besonders aber auch ein 1972 erschienenes Buch mit dem Titel Popmusik und Rauschgift, das als Anweisung für den Unterricht an Schulen verfasst worden war.198 Darin erschienen große Teile des Krautrock als konkrete Beispiele für den Sittenverfall und den bevorstehenden »Untergang des Abendlandes«, bedingt – so die Autorin – durch das Zusammenspiel von Popmusik und »Rauschgift«. Die Rolle des »Managers« und Verführers erhielt Rolf-Ulrich Kaiser, als »abhängig gemachte« Musiker traten unter anderem Witthüser & Westrupp, Amon Düül, Ash Ra Tempel, Guru Guru, Popol Vuh, Tangerine Dream in Erscheinung. Entscheidender Punkt der Argumentation war, dass die „Seuche“199 »Rauschgift« durch die „manischen Formen“ der Popmusik Einzug in die bundesdeutsche Gesellschaft gehalten habe. Die ursprünglich durch die Beatles und die Rolling Stones verursachte „ekstatische Musikbesessenheit mußte konsequenterweise in die Drogenscene hineinführen“. Die Autorin verwies damit zwar zurecht auf den engen Zusammenhang von Popmusik und psychedelischer Kultur, konstruierte dabei jedoch eine Kausalkette, an deren Ende der »Drogentod« als unweigerliche Folge der Affinität zur Popmusik stand. Schuldig waren in dieser Darstellung »die Musikindustrie« und »die Manager«, die ahnungslose Jugendliche und Künstler »verführten«, systematisch von »Rauschgift« abhängig machten und sie daran zerbrechen ließen. Abschließend appellierte die Autorin (für sie folgerichtig) an ihre Leser (die Lehrerschaft), „die jugendlichen Musikfans auf die psychischen und physischen Gefahren des unkontrollierten Konsums von Popmusik aufmerksam“ zu machen. In Folge der einseitigen Debatten um die so genannte »Drogenwelle« in Öffentlichkeit und Medien kam es zu entsprechend restriktiven gesetzgeberischen Maßnahmen.200 Ein Schlüsseljahr des Umgangs westlicher Staaten mit Rauschmitteln war 1971: Die Nixon-Administration in den USA erklärte den »War on Drugs«,201 und im selben Jahr wurde in der Bundesrepublik das äußerst restriktive »Betäubungsmittelgesetz« verabschiedet.202 Dabei spielten das tatsächliche Gefährdungsoder Suchtpotential keine Rolle: „Die strafrechtliche Definitionslogik [war] weder aus pharmakologischer noch aus historischer Sicht sinnvoll.“203 Zudem gingen der Konsum und die Verbreitung der illegalisierten Substanzen durch die Verschärfung der gesetzlichen Vorschriften nicht zurück, sondern differenzierten sich zunehmend 197 Vgl. Beat Club, Folge 60 (D 1970). 198 Vgl. Irmer, Rauschgift; zu Irmer auch Siegfried, Time, S. 321. 199 Dieses und die folgenden Zitate vgl. Irmer, Rauschgift, S. 4. 200 Zum „Strukturbruch“ im Umgang mit Drogen am Ende der 1960er Jahre vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 276. 201 Vgl. Hengartner/Merki, Genussmittel, S. 222. 202 Zum repressiven Charakter des Betäubungsmittelgesetzes vgl. Weinhauer, Jugenddelinquenz, S. 50–52; auch Siegfried, Time, S. 751. 203 Hengartner/Merki, Genussmittel, S. 195.
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aus und wanderten in alle Schichten und Milieus.204 Am Ende der 1970er Jahre hatte jede Kleinstadt in der Bundesrepublik ihre »Drogenszene«. Prominentes Opfer der restriktiven Politik des Westens war Timothy Leary, der aufgrund seiner folgenreichen Verbindung zu Teilen des Krautrock auch im vorliegenden Fall eine zentrale Rolle spielt.205 Leary wurde 1950 in Psychologie promoviert und forschte ab 1953 in Harvard für ein Jahrzehnt an der Wirkung von LSD und anderer psychoaktiver Substanzen auf die Kreativität und Produktivität des Menschen; an diesen Experimenten nahmen unter anderem Aldous Huxley und Allen Ginsberg teil. Im Jahr 1963 wurde Leary aufgrund seiner Weigerung, die Experimente einzustellen, in Harvard entlassen. Das hinderte ihn nicht daran, den Konsum der Mittel weiter zu propagieren. Durch seinen zunehmenden Einfluss auf junge Menschen und seiner prominenten Stellung innerhalb der transnationalen Gegenkultur bekam die damit verbundene »Ermunterung« zum »Aussteigen« aus bürgerlichen Lebensverhältnissen eine politische Dimension, die darin gipfelte, dass er 1971 von US-Präsident Nixon im Zuge des »War on Drugs« zum »gefährlichsten Mann der Welt« erkoren wurde. Leary wurde inhaftiert, im September 1970 gelang ihm allerdings die Flucht. Nach einem kurzen Aufenthalt in Algerien gelangte er 1971 schließlich in die Schweiz.206 Das ihm zur Verfügung gestellte Haus wurde zu einem Mekka der europäischen Gegenkultur, und im Sommer 1972 reihten sich auch Akteure des Krautrock unter die Besucher ein.
204 Um 1970 wurden Oberschüler und Studenten als hauptsächliche Konsumenten psychoaktiver Substanzen wie Hanf und LSD ausgemacht, vgl. Waldmann, Phantstika, S. 25; dazu auch Weinhauer, End of Certainties, S. 381; Briesen, Drogenwelle, S. 43. Tendenziell blieben bewusstseinserweiternde Mittel Vorliebe formal höher Gebildeter, während Upper und Downer eher von bildungsfernen Schichten konsumiert wurden, vgl. Reichardt, Authentizität, S. 856-858. 205 Zu Leary vgl. Hofmann, LSD, S. 82–87. Learys Politics of Ecstasy legte die Philosophie des New Age dar, die in verkürzter Form zu einem geflügelten Wort wurde: „Drop Out – detach yourself from the external social drama […] Turn On – find a sacrament which returns you to the temple of God, your own body. Go out of your mind. Get high. Tune In – be reborn. Drop back in to express it. Start a new sequence of behavior that reflects your vision. But the sequence must continue“, vgl. Leary, Politics of Ecstasy, S. 223. 206 Im selben Jahr unterschrieb eine Reihe von Krautrock-Gruppen wie etwa Tangerine Dream, Guru Guru, Popol Vuh und Witthüser & Westrupp eine Petition an die Schweizer Regierung gegen die Auslieferung Timothy Learys in die USA, vgl. Musik Express 10/1971.
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Abbildung 14: Ganzseitige Anzeige für das Progressive Pop Festival in Köln, 1970.
Den Kontakt hatte Rolf-Ulrich Kaiser hergestellt. Er schickte ein Mitglied der Gruppe Ash Ra Tempel zu Leary in die Schweiz, um bezüglich möglicher gemeinsamer Aufnahmen mit Musikern seiner Labels vorzufühlen.207 Leary war von der mitgebrachten Musik Ash Ra Tempels sehr angetan und äußerte spontan die Idee, seine Theorien der Bewusstseinserweiterung mit der Musik Ash Ra Tempels in Form einer „musical interpretation“208 zu verschmelzen. Kaiser und die Musiker willigten ein. Da Leary aus rechtlichen Gründen nicht in die Bundesrepublik kommen konnte, reiste der Tross um Kaiser in die Schweiz. Die Aufnahmen zum gemeinsamen Album Seven Up fanden im August 1972 in Bern statt; neben Leary und Kaiser wirkten dabei die Gruppe Ash Ra Tempel, Tonmeister Dieter Dierks, der Brite Brian Barritt und eine Reihe weiterer Musiker, Freunde und Bekannter mit. Ein großer Teil der Aufnahmen entstanden unter dem Einfluss von LSD: Am zweiten Tag der Aufnahmen wurde an die Anwesenden ohne ihr Wissen LSD verteilt, am dritten Tag wiederholten fast alle Teilnehmenden den Trip freiwillig.209 Nach den
207 Die Vorgänge sind unter anderem beschrieben in Higgs, Leary, S. 173–187; dazu auch Lessour, Berlin Sampler, S. 201f. 208 Higgs, Leary, S. 181. 209 So Ash Ra Tempel in Sounds 10/1973.
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Aufnahmen nahm Tonmeister Dieter Dierks die fertigen Bänder schließlich mit nach Köln, um sie dort in seinem Studio abzumischen. Die in Bern entstandenen Aufnahmen sind als eines der skurrilsten und schillerndsten Kapitel in die bundesdeutsche Popgeschichte eingegangen. Schier unzählige Mythen und Anekdoten ranken sich um die Umstände und Vorkommnisse während der Aufnahmen sowie der Wochen und Monate danach, in denen eine sich im Kern kaum verändernde Gruppe von Personen immer wieder zu Sessions zusammenfand. Die unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Substanzen entstandenen Aufnahmen wurden in Form mehrerer Alben auf Rolf-Ulrich Kaisers Label Kosmische Kuriere veröffentlicht,210 drei davon wie erwähnt unter dem Projektnamen Cosmic Jokers. „Die Basis der Cosmic Jokers war LSD“211, so der an allen Sessions beteiligte Klaus Schulze, „das war die Basis aller Kompositionen. Es war der Einfluss Timothy Learys.“ Der Name des Labels »Kosmische Kuriere« selbst entstammte einem Aufsatz Learys aus dem Jahr 1970: Der Begriff beschrieb dort LSD-Dealer, die künftig als Helden und Wegbereiter eines neuen Zeitalters verehrt werden würden.212 Leary machte jedenfalls großen Eindruck auf Kaiser und die Beteiligten, und das beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit: Auch er schwärmte noch Jahre später von seinem Erlebnis mit den Musikern aus der Bundesrepublik.213 Die Aufnahmen mit Leary waren nur deswegen zustande gekommen, weil er sich auf der Flucht vor den staatlichen Behörden befand. Zu einer politischen Aufladung des Rauschmittelkonsums kam es jedoch nicht nur »von oben«, also durch restriktive Maßnahmen des Staates, sondern auch »von unten« und innerhalb der Gegenkultur. So sorgte etwa die Tatsache für Kontroversen, dass Rauschmittel mit besonders hohem Suchtpotential wie Alkohol oder Tabak massenhaft konsumiert, andere Rauschmittel jedoch pathologisiert und verboten wurden.214 Rolf Schwendter beispielsweise stellte 1971 in seiner zeitgenössisch breit rezipierten Theorie der Subkultur fest, dass in der Gegenkultur der Konsum von bewusstseinserweiternden Substanzen überproportional hoch war: Die »progressiven« Subkulturen bevorzugten Substanzen mit geringem Suchtpotential und bewusstseinserweiternder statt narkotisierender Wirkung, so Schwendter.215 Aber auch psychoaktive Substanzen waren innerhalb der Gegenkultur umstritten, die Konsumenten galten ihren Geg210 Vgl. das vorhergehende Kapitel. 211 So Schulze in Diliberto, Klaus Schulze, S. 189. 212 Vgl. Kaiser, Rock-Zeit, S. 271. 213 Vgl. Higgs, Leary, S. 187. 214 Vgl. Hobsbawm, Age of Extremes, S. 333; auch Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 276. 215 Vgl. Schwendter, Subkultur, S. 232f. Zum Pro und Kontra bzgl. des Konsums psychoaktiver Substanzen innerhalb der Gegenkultur vgl. zusammengefasst Reichardt, Authentizität, S. 839-850.
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nern als unpolitisch, passiv und manipulierbar. Auch Verschwörungstheorien spielten in diesem Zusammenhang eine Rolle: Das »Establishment« verteile Drogen absichtlich, hieß es etwa in der dogmatischen Linken, um die »Entpolitisierung« junger Menschen bewusst voranzutreiben. Als Einwände für den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen wiederum wurde von der hedonistischen Linken vorgebracht, dass er eine Relativierung gesellschaftlicher Konditionierungen mit sich brächte, Perspektiven der Selbstwahrnehmung veränderte und das neue Selbstbewusstsein und neue Bewusstseinsinhalte verfestige – also zu der von Grof und Hofmann beschriebenen »Revolution der Wahrnehmung« führe. Interessant im Zusammenhang mit Krautrock sind die Einlassungen Rolf-Ulrich Kaisers zur Frage des Politischen im Konsum psychoaktiver Substanzen, anhand derer sich auch sein Wandel vom Gegner zum Befürworter dokumentieren lässt. Am Ende der 1960er Jahre noch äußerte sich Kaiser skeptisch und entlang der gängigen Argumentationslinie der Konsumgegner: „Was bewirkt die Droge, wenn ihre direkte politische Wirkung verpufft? Allenfalls eine Flucht vor den drängenden Problemen des Alltags. Nicht mehr um engagierte Arbeit und Realisierung des Traums von der gerechten Gesellschaft geht es dann, sondern um die ganz persönliche, egoistische folgenlose Glückserfüllung. Gewiß, der Genuß von Marihuana und LSD sollte legalisiert werden. Für die »neue Kultur« aber, für die »new people« können beide und andere Mittel kaum mehr als einen Ersatztraum bringen; die Flucht vor der möglichkeitsreichen Wirklichkeit in eine Sackgasse neuer Illusionen“216.
Wenige Jahre später hatte sich seine Einstellung grundlegend gewandelt. In seinem Buch Rock-Zeit, verfasst zu Beginn der 1970er Jahre, widmete er ein ganzes Kapitel psychoaktiven Substanzen, erzählte die Geschichte ihrer Entdeckung und Verbreitung, und teilte nun vor allem aber auch die Auffassung, dass der Konsum einen gesellschaftsverändernden Beitrag leisten und auch in der gesellschaftlichen Praxis Anwendung finden sollte.217 Jenseits der Pros und Contras und der politischen Implikationen des Konsums psychoaktiver Substanzen, die innerhalb der Gegenkultur und auch für den Krautrock immer wieder eine Rolle spielten, prägte der „Drogenkonsum zur Stimulation schöpferischer Impulse“218 ohne jeden Zweifel den Sound der späteren 1960er und 216 Kaiser, Nachwort, S. 207. 217 Vgl. Kaiser, Rock-Zeit, S. 253–276. 218 Hohmaier, Crossing the Line, S. 174; vgl. auch Hopfgartner, Psychedelic Rock, S. 105– 130; zur „enge[n] Symbiose“ von psychoaktiven Drogen und Popmusik in jenem Zeitraum vgl. Weinhauer, Jugenddelinquenz, S. 52; Prendergast, Ambient Century, S. 224; Flender/ Rauhe, Popmusik, S. 82f und 113; zeitgenössisch Kaiser, Pop-Musik, S. 102– 105.
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der 1970er Jahre massiv. Das galt in besonderem Maße für den Krautrock, auch über die »Kosmische Musik« hinaus. Die beschriebenen Wirkungen von LSD und abgeschwächt auch Hanf auf die Musikerfahrung, die »Verräumlichung« und »Verbildlichung« von Musik, die Veränderung der Zeitwahrnehmung und andere synästhetische Erfahrungen lassen die engen Verbindungen von Drogen und Musik auch in der retrospektiven Betrachtung anschaulicher, »greifbarer« werden. Musik erschien und erscheint als „der ideale Träger, um die eigenen Erlebnisse auszudrücken“219. Für Uli Trepte etwa, in den 1960er Jahren professioneller Free Jazz Musiker und Ende des Jahrzehnts Gründungsmitglied von Guru Guru, „lag der Anfang vor allem im Kennenlernen von Haschisch, da ein Joint direkt vor dem Spielen geraucht, mich völlig auf mich selbst zurückwarf und mich befähigte, von innen statt von außen an die Sache ranzugehen […] Der Nenner für fast alles Wichtige, was in der zweiten Hälfte der Sechziger in der westlichen Welt geschah, waren für mich die psychedelischen Drogen, die zu nehmen wegen der Stärke des THC und der Güte des LSDs Mut erforderte und die damals nur von Leuten genommen wurden, die wirklich, also existenziell, eine andere Erfahrung machen und auf dieser Grundlage dann ihr eigene Ding durchziehen wollten.“220
Psychedelische Musik sei, so Trepte weiter, „der Hauptkatalysator für die gesamte Szene [gewesen]. Die meisten Denkanstöße kamen dabei unbestreitbar aus den Staaten, deren Jugend die psychedelischen Drogen früher kennengelernt (in Deutschland gab es den Stoff ja erst ab ˈ68 verhältnismäßig leicht zu kaufen) und Köpfe wie Timothy Leary und Ken Kesey hervorgebracht hatten.“ In der Bundesrepublik und unter den Akteuren des Krautrock waren, wie Trepte ausführte, Hanfprodukte (mit dem Wirkstoff THC) und LSD die bevorzugte Wahl. Aber auch Amphetamine und Opiate spielten eine (insbesondere im weiteren Verlauf der 1970er Jahre wachsende) Rolle. Produzent Gerhard Augustin erinnerte sich rückblickend an „Haschisch, LSD, Marihuana, Captagon, Preludin, Mandrax und bedauerlicherweise oft auch Heroin“221. Die Musik-Kommune Amon Düül galt in den Augen der Biographin Ingeborg Schober als „erste Acid-Band Deutschlands“222. Schlagzeuger und Gründungsmitglied Peter Leopold berichtete ausführlich von den Versuchen Amon Düüls, sich auch in Bezug auf den Drogenkonsum an
219 Reichardt, Authentizität, S. 854. 220 Trepte, Schlüsselzeitgedanken, S. 163. 221 Augustin, Pate, S. 5. Die Autobiographie ist durchzogen von Berichten über die zentrale Rolle von Drogen in der Musikindustrie jener Zeit. 222 Schober, Tanz der Lemminge, S. 16; für Historiker Sven Reichardt fanden Musik und psychoaktive Substanzen „bei psychedelischen Musikbands wie Amon Düül […] am avanciertesten“ zusammen, vgl. Reichardt, Authentizität, S. 854.
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ihre US-amerikanischen Vorbilder The Grateful Dead anzulehnen, aber auch von dem Scheitern dieser Versuche: Bei The Gateful Dead hätten sich „alle Leute entschlossen, auf einen Trip zu gehen, mit Acid auch auf der Bühne und in ihrer Organisation zu arbeiten. Das hört man am Zusammenspiel. Ich wollte dieses Prinzip damals übernehmen, aber da zeigte sich eben, daß einer sagt: ich kann ganz gut spielen, wenn ich einen durchziehe, ich, wenn ich einen Kaffee trinke, ich, wenn ich ein Bier kippe. Und ein anderer sagt: ich brauche gar nichts. Dadurch ergaben sich auch Ungleichzeitigkeiten. Und man dachte, je bekiffter man ist, desto besser würde man zusammenspielen. Was sich einige Male sicher so ergeben hat, aber was sich nicht die Jahre hindurch als Prinzip durchsetzen konnte.“223
Witthüser & Westrupp mit ihrer als „Drogenfolk“224 charakterisierten Musik verarbeiteten in ihren Texten die Erlebnisse insbesondere mit LSD und Hanfprodukten; zu ihren erfolgreichsten Titeln gehörte Nimm einen Joint, mein Freund oder Trippo Nova. „Drogen setzten wir gezielt ein, um unsere Musik in nächtelangen Sessions weiter zu entwickeln“225, so Walter Westrupp rückblickend. Auch Gruppen wie Uli Treptes Guru Guru (Titel wie Der LSD-Marsch oder Stone In) sowie Xhol Caravan (Get in High, Psychedelic Soul oder Breit) beschäftigten sich in ihren Texten mit dem Phänomen und pflegten einen ähnlichen Lebens- und Arbeitsstil.226 Faust,227 Agitation Free228 oder Ash Ra Tempel229 berichteten zeitgenössisch und retrospektiv immer wieder von ihren Affinitäten für psychoaktive bzw. psychedelische Rauschmittel; die beispielhaft beschriebenen Clubs Zodiak Free Arts Lab und Creamcheese oder Festivals wie die Internationalen Essener Songtage 1968 sind als Orte des Krautrock auch Beispiele für den gemeinsamen Konsum von Publikum und Musikern. Letztendlich erscheint es im Rückblick einfacher, diejenigen Akteure auszumachen, die keine »Drogen« konsumierten.
223 Schober, Tanz der Lemminge, S. 205. 224 Dedekind, Krautrock, S. 292. 225 Mahnert/Sürmer, Essener Songtage, S. 285. 226 Vgl. Kraut und Rüben, Folge 3 (D 2006); zeitgenössisch vgl. Germania Nr. 3/ 1972. 227 Vgl. Wilson, Faust, S. 31f. 228 Vgl. Ulbrich, Lüül, S. 59. 229 Vgl. ein Interview in Sounds 2/1972.
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Abbildung 15: Witthüser & Westrupp zu Beginn der 1970er Jahre.
Die zentrale Stellung psychoaktiver Substanzen wie Hanf und LSD für die transnationale Gegenkultur der 1960er und der 1970er Jahre ist unumstritten. Zentral waren sie auch für den Krautrock, für manche Bands und Interpreten nur zeitweise, generell für die einen mehr, für andere weniger. Die veränderten Wahrnehmungen von Raum und Zeit sowie synästhetische Erfahrungen in Zusammenhang mit Musik, wie etwa die oft beschriebene »Verkörperung« akustischer Phänomene und die Veränderung der Zeitwahrnehmung, spielte sowohl auf Seite der Produzenten, als auch auf Seite der Rezipienten des Krautrock zumindest bis in die Mitte der 1970er Jahre eine zentrale Rolle.230 Anschaulich formuliert der Historiker Sven Reichardt den Kern der neuartigen Wahrnehmungen: „Der auf Konzerten über die Musik erzeugte Erfahrungs- und Kommunikationskreislauf zwischen Band und Publikum wurde aufgrund des Drogenkonsums besonders intensiv wahrgenommen. Lichtanlagen mit präparierten Dias erzeugten Effekte, die die Drogenwirkungen untermalten und verstärkten. Gemeinsamer Rauschmittelgenuss von Musikern und Zuhörern, kollektives Musizieren auch mit Amateuren, das Zusammenwirken von Musik, Farbe und Licht, die lange Dauer der Konzerte über mehrere Stunden, neue Soundcollagen mit Hallräumen und Echoeffekten, langgezogene Klangflächen und langsames Dahinschwingen schufen intensive Erfahrungen.“231 230 Vgl. zusammenfassend und speziell bezogen auf die Düsseldorfer Szene auch Esch, Electri_City, S. 68f. 231 Reichardt, Authentizität, S. 854f.
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Der synästhetische Charakter der rauschhaften Verschmelzungen von Musik und Visuellem ging Hand in Hand mit der »Neuen Spiritualität« und dem Hang zum Mystischen, beides kennzeichnend für die grob zehn Jahre um 1970. Als „Formen der Bewusstseinserweiterung“232 waren psychoaktive Rauschmittel zusammen mit Popmusik Ausdruck der »Neuen Sensibilität«, Ausdruck einer Suche nach der Befreiung des Selbst, nach einer neuen Innerlichkeit und »dem Authentischen« als Gegenmodelle zur als entfremdet wahrgenommenen Massenkonsumgesellschaft. Krautrock war als popkulturelle Avantgarde Teil eines Kommunikationsraums, innerhalb dessen die neuen Formen der Bewusstseinserweiterung ausgetestet und verhandelt wurden. Mit seinen Klangexperimenten, die überkommene Wahrnehmungen von zeitlichen und räumlichen Strukturen musikalisch in Frage zu stellen versuchten, war er klanglicher Teil dieser Bewusstseinserweiterung. Zugleich war Krautrock auch personell eng verschmolzen mit der sich transnational etablierenden »neuen Kultur«; die Verbindungen zu Timothy Leary und anderen Protagonisten sind nur dessen spektakulärster Ausdruck. Krautrock spielte auch deswegen eine entscheidende und vielschichtige Rolle bei der Integration der bundesdeutschen in die transnationale Gegenkultur; dabei wirkte er gemeinschaftsstiftend und konsolidierend »nach innen« ebenso wie durch seine in den 1970er Jahren rasch steigende, transnationale Popularität als grenzübergreifendes Medium und Katalysator »nach außen«; viel mehr als eine »Flucht« erscheint der Konsum psychoaktiver Rauschmittel in diesem Licht als Teil einer umfassenden Aufbruchsbewegung. Die Historisierung der »psychedelischen Erfahrung« von Millionen junger Menschen in den »langen 1960er Jahren« befindet sich noch am Anfang; angesichts der zentralen und kaum zu überschätzenden Rolle, die psychoaktive Substanzen in den Global Sixties und darüber hinaus für die Bewusstseinsbildung, Lebensstile und Identitätskonstruktionen von Millionen insbesondere junger Menschen spielten, ist ihre Marginalisierung durch die Geschichtswissenschaften einigermaßen erstaunlich.233
232 Ebd., S. 871. 233 Vgl. Morris, Spiel Appeal; zurecht hebt Morris die Arbeit von Detlef Briesen und Klaus Weinhauer als löbliche Ausnahme hervor. Zumindest zur Sprache kommt die neue »Drogenkultur« auch in Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 276f.
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DER
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„If there is a new way of life emerging in this society […] it is the way of life being articulated by and demonstrated by the rock bands.“234 Ralph J. Gleason, 1968 „Der Traum von einer nicht-kommerziellen Popmusik ist ausgeträumt.“235 Sounds, 1971
Im April 1971 stellte der WDR im Rahmen der Fernsehsendung Galerie der Entertainer die Gruppe Can vor.236 Neben einer experimentell anmutenden Sound- und Bildcollage, die Can in ihrer Umgebung des Schlosses Nörvenich präsentierte, nahm ein Interview bezüglich des politischen Gehalts ihrer Musik in etwa die Hälfte des siebenminütigen Kurzportraits ein. Dabei spielte »das Politische« an der Musik Cans und, eng damit verwoben, das zeit- und szenetypische Mistrauen gegenüber »den« Medien eine zentrale Rolle: „Das Fernsehen ist unglaublich interessiert an der politischen Meinung von Beat-Musikern, weil [Pause] die können nicht reden“237, so Mitglied Irmin Schmidt. „Das Fernsehen ist absolut nicht interessiert an der politischen Meinung derer, die auch Sozialismus wollen und eine Gesellschaft, die menschlicher ist, aber dieˈs reden können.“ Es sei klar, dass „ein bisschen von der Revolution, die wir wollen, in der Musik enthalten ist. Man kann das bisschen aber zerstören, indem man die Musiker in eine Lage manipuliert, in der sie mit Worten ihre Musik interpretieren sollen, und das geht hundertprozentig schief.“ Kondensiert in dieser Aussage Schmidts finden sich zentrale Aspekte des Konnexes aus Popmusik und Politik in den 1960er und 1970er Jahren: Die Debatte um Manipulation als Teil des Authentizitätsdiskurses in der Popmusik, die Rolle des Sounds als Medium politischer Botschaften, sowie die Uneindeutigkeit des politischen Gehalts von Klang. Das Verhältnis von Pop und Politik ist seit Jahrzehnten zentraler Gegenstand des Popdiskurses und der Popmusikforschung. Das gilt insbesondere für den vorliegenden Untersuchungszeitraum. Im Laufe der 1960er Jahre entwickelte sich Popmusik mit ihrer identitätsstiftenden Wirkung über soziale, ethnische, nationale und
234 Rolling Stone 21.12.1968. 235 Sounds 2/1971. 236 Galerie der Entertainer, (D 1971). 237 Irmin Schmidt in ebd.
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Gendergrenzen hinweg zu einem „ebenso selbstbewussten wie alles umfassenden Sprachrohr einer ganzen Generation“238. Popmusik war zentraler Kommunikationsraum der transnationalen Gegenkultur und ihr wichtigstes Bindeglied zugleich; politische Inhalte wurden wesentlich von der Musik mitgeformt,239 während sie gleichzeitig formend auf die Musik zurückwirkten. Insbesondere für die »progressive« oder »neue« Popmusik als spezifische „Ausdrucksform der Gegenkultur“240 spielte der politische Gehalt dahingehend eine herausragende Rolle. Musik ist nicht per se politisch, aber grundsätzlich offen für politische Zuschreibungen; sie kann konzeptionell oder diskursiv und von Produzenten- wie Rezipientenseite mit politischer Bedeutung aufgeladen werden. Der Zusammenhang aus Politik und Popmusik ist aufgrund der „politische[n] Geschmeidigkeit und Uneindeutigkeit“241 populärkultureller Stile stark kontextabhängig, zudem können sich die Zuschreibungen und Aufladungen im Lauf der Zeit verändern. Popmusik ist also auch dahingehend ein „Medium des jeweiligen Zeitgeistes“242 und kann als solches historisiert werden. In der Bundesrepublik der 1950er und frühen 1960er Jahre beispielsweise fand eine politische Aufladung von Popmusik insbesondere »von oben« durch ihre konservativen, staatlichen oder kirchlichen Gegner statt, die sie unter anderem aufgrund ihrer egalisierenden und demokratisierenden Wirkung als „Bedrohung der Normalität“243 wahrnahmen – heute ist Popmusik selbstverständlicher Bestandteil auch konservativer Selbstdarstellung. Ab Mitte der 1960er Jahre erfuhr Popmusik als zentrales Medium der Gegenkultur eine links konnotierte politische Aufladung »von unten«;244 dabei kam es zum einen und insbesondere in der 238 Wicke, Popmusik, S. 32; vgl. auch Siegfried, Klang und Revolte; Marwick, Cultural Revolution, S. 56; Staib, Rockmusik, S. 247; Brown, Global Sixties, S. 191; aus den Musikwissenschaften vgl. Kutschke, In lieu, S. 6–8; zeitgenössisch vgl. Anderson, New Geology, S. 77–81; »klassisch« Eisen (Hg.), Age of Rock; Schneider, Popmusik, S. 112. 239 Vgl. Eyerman/Jamison, Music and Social Movements, S. 109–118. 240 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 274f. 241 Poiger, Amerikanisierung, S. 19; ähnlich auch Siegfried, Pop und Politik, S. 34; Negus, Popular Music, S. 220; Werr, Utopien und Kommerz; zeitgenössisch vgl. Baacke, Beat, S. 30 und 99. 242 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 274. 243 Siegfried, Pop und Politik, S. 36; vgl. »klassisch« Maase, BRAVO Amerika; Poiger, Jazz, Rock and Rebels; auch Marwick, Arts in the West, S. 136f.; bereits zeitgenössisch Frith, Sociology, S. 177–182. 244 „Zu kaum einem anderen Zeitpunkt wurde Popmusik derart politisch aufgeladen wie zwischen 1968 und 1973,“ vgl. Siegfried, Time, S. 670; Popmusik hatte „eine gesellschaftspolitische Relevanz erhalten, wie sie populäre Musikformen nie zuvor besessen hatten," vgl. Wicke, Popmusik, S. 31f. Zur unterschiedlichen politischen Aufladung in
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Bundesrepublik zu einem weit verbreiteten, folgenschweren Missverständnis, dass die »neue« Popmusik per se »antikommerziell« oder gar antikapitalistisch sei – die diesbezüglichen Einlassungen des Veranstalters Fritz Rau waren bereits Thema. Zum anderen ergab sich innerhalb der Gegenkultur ein scharfer Gegensatz zwischen der Deutung von Popmusik als Medium der Manipulation und Entfremdung, und ihrer Deutung als Medium der Emanzipation und Befreiung. Die Argumentationslinien liefen dabei im Wesentlichen entlang »klassischer« Theorien der Frankfurter Schule: Verfechter der Ansicht, Popmusik habe ein gesellschaftsveränderndes Potential, beriefen sich auf Walter Benjamin und insbesondere seine Gedanken zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; Apologeten ihres »Entfremdungspotentials« beriefen sich auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Topos der Kulturindustrie.245 Im Laufe der 1970er Jahre setzte sich innerhalb des Popdiskurses tendenziell die Benjaminsche Linie durch: Massenkultur und Massenmedien wurden als Werkzeuge und Medien der Emanzipation und der Demokratisierung verstanden.246 Diese Einschätzung wiederum überlebte sich spätestens in den 1980er Jahren, als Rechtsradikale und Rassisten Popmusik als Medium entdeckten – und damit die »politische Geschmeidigkeit und Uneindeutigkeit« von Popmusik auf für viele unerwartete Weise erneut zum Vorschein kam. Aber zurück zum Krautrock. Was an ihm war politisch, war er von seinen Produzenten politisch intendiert, wurde er »von außen« politisch aufgeladen? Die Antworten auf diese Fragen fallen, angesichts der Heterogenität des Phänomens kaum verwunderlich, im Einzelfall sehr unterschiedlich aus. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sprache oder Text beispielsweise spielten im Krautrock bis auf wenige Ausnahmen eine untergeordnete Rolle, im Mittelpunkt hiesiger Betrachtung verschiedenen nationalen Kontexten vgl. zeitgenössisch Melly, Revolt into Style, S. 119–121; Watts, Popular Music, S. 136f.; für die Bundesrepublik Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 210. Auch wenn die »Politisierung« von Popmusik in den jeweiligen nationalen Kontexten verschieden stark ausgeprägt war, so galt sie allerdings in der gesamten westlichen Welt als »Soundtrack« der »Neuen Linken«, vgl. dazu etwa mehrere Beiträge in Kutschke/Norton (Hg.), Music and Protest. 245 Adorno ging es um die Reduktion von Musik auf den Status einer Ware (was die so genannte »E-Musik« prinzipiell einschloss), vgl. dazu Adorno, Briefe Band 1, S. 170– 172; auch Adorno, Musikleben, S. 2–13; rückblickend vgl. Clarke, Elvis and Darmstadt, S. 11f. Nach Benjamin basierten die emanzipatorischen Potentiale der Popmusik im Gegensatz dazu auf ihrer massenhaften Reproduzierbarkeit, Verbreitung und ihrem massenmedialen Charakter, vgl. dazu klassisch Benjamin, Gesammelte Schriften, Band I, S. 471–508. Zusammenfassend Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 275. 246 Vgl. Siegfried, Elektrizitätswerk, S. 254; zeitgenössische Baacke, Beat; Salzinger, Benjamin; die Interpretation von Massenkommunikation als Manipulation verschwand damit aber keineswegs, zu den Beharrungskräften vgl. Bausinger, Vorwort, S. 7f.
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stehen dementsprechend – darauf verwiesen bereits die einleitenden Aussagen Irmin Schmidts – Klang und Präsentation. Sie standen auch bereits im zeitgenössischen Diskurs um Krautrock und Politik im Mittelpunkt. Weit über Krautrock und Popmusik hinaus wurde die auf Sound basierende, emotionale Qualität von Musik als Transportmittel politischer Botschaften identifiziert; insbesondere durch Klang erhält Musik ihr politisches »Mobilisierungspotential«.247 Der auf Sound basierende politische Gehalt von Musik ist allerdings (wie der Sound selbst) begrifflich schwer zu fassen und unterliegt höchst subjektiven Wahrnehmungen.248 Das war im Falle des Krautrock nicht anders, wie wiederum das einleitende Beispiel Cans illustriert. Die Frage ist also, inwieweit »das Politische« des Krautrock auf Seite der Produzenten konzeptionell in Bezug auf Sound, in deren Arbeits- und Lebenspraxen, oder auf Seite der Rezipienten diskursiv festzumachen ist. Auf Rezipientenseite war der Sound des Krautrock eng in Authentizitätsdiskurse eingebunden, insbesondere in Zusammenhang mit den frühen elektronischen Formen, aber auch in Zusammenhang mit den wachsenden technologischen Möglichkeiten in den Tonstudios: Waren elektronische Instrumente überhaupt Instrumente? Wann handelte es sich um Soundgestaltung, wann um »Manipulation«? Wann war ein Sound »authentisch«? Welche Implikationen hatte das für die Aussagekraft von Popmusik als (scheinbar) »antikommerzielle« Ausdrucksform? Diese Aspekte wurden bereits mehrmals erwähnt und spielten (wie noch zu sehen sein wird) in allen drei hier untersuchten nationalen Kontexten eine zentrale Rolle, was nicht zuletzt die Neuartigkeit und den Avantgardecharakter des Krautrock auch aus dieser Perspektive unterstreicht. Insbesondere in der angloamerikanischen Rezeption des Phänomens wurde zudem immer wieder der Zusammenhang der Bühnenpräsentation und ihrem politischen Gehalt diskutiert. Der demonstrative Verzicht auf Hierarchien und die Ablehnung des »Star-Prinzips« waren nicht nur von den Protagonisten als politische Aussage intendiert, sondern wurden auch als solche verstanden. An dieser Stelle trafen sich also politische Intention der Produzenten mit der Wahrnehmung der Rezipienten; egalitäre und demokratische Strukturen waren zumindest zu Beginn und zumindest nach außen – wie es sich im Einzelnen konkret verhielt, ist noch einmal eine andere Frage – politisches Programm des Krautrock. Die Diskurse um »das Authentische« im Krautrock (wie in der Popmusik insgesamt) drehten sich aber nicht nur um Sound und Präsentation, sondern auch um Aspekte der Distribution.249 Viele »hip consumers« der transnationalen Gegenkultur 247 Vgl. Eyerman/Jamison, Music and Social Movements; Müller/Osterhammel, Geschichtswissenschaft und Musik, S. 10. 248 Vgl. Binas-Preissendörfer, Sound. 249 Zur dahingehenden Verbindung von Authentizitätszuschreibungen mit der politischen Aufladung von Popmusik vgl. Siegfried, Pop und Politik, S. 33. Sehr ähnliche Authentizitätskonstruktionen wurden für verschiedene Spielarten des Jazz bereits 1950 von
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der 1960er und 1970er Jahre wandten sich von »ihrer« Musik in dem Maße ab, wie sie kommerziell erfolgreich wurde. »Authentisch Sein« oder revolutionäres Potential entfalten konnte Popmusik nach ihren Vorstellungen nur, wenn sie »von unten« in Eigenregie, tatsächlich oder scheinbar im DIY-Verfahren produziert und vermarktet wurde.250 Im Falle des Vertriebs durch einen großen Musikkonzern und/oder eines kommerziellen Erfolges wurde »Authentizität« abgesprochen und »Ausverkauf« unterstellt. Als unüberbrückbares Problem stellte sich dabei die Tatsache heraus, dass Popmusik und »Kommerz« in der Praxis nur graduell voneinander zu trennen waren: Als implizit mediales Phänomen war Popmusik gerade auch für ihre von Teilen der konsumkritischen Linken propagierten Entfaltung eines emanzipatorischen Potentials von ihrer Verbreitung abhängig.251 Für Konsumenten, die Popmusik mit dieser Art von Authentizitäts- und Emanzipationserwartungen politisch aufluden, entstand daraus ein Dilemma: Auf der einen Seite sorgte »Kommerzialisierung« für die Verbreitung auch experimenteller Popmusik und machte sie damit überhaupt erst zugänglich – auf der anderen Seite standen das »antikommerzielle« Selbstverständnis progressiver Popmusik und die Erwartungshaltung ihrer Konsumenten in ständigem Widerspruch zu den kommerziellen Verbreitungs- und Verwertungsmechanismen der Musikindustrie.252 Ein Dilemma war das aber nicht nur für die Konsumenten, sondern ebenso für Produzenten und Multiplikatoren von Popmusik, die nicht selten aus der Gegenkultur in die Musikindustrie »hineingewachsen« waren und mit Vorwürfen konfrondem US-amerikanischen Soziologen David Riesman beschrieben, vgl. Riesman, Popular Music, S. 365f. 250 Vgl. Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 275. 251 Die „Unterscheidung von Musikformen nach ihrem Kommerzialisierungsgrad“ macht keinen Sinn, so der Musikwissenschaftler Peter Wicke, da „eine mehr oder weniger große Distanz zu diesen Zusammenhängen nicht möglich ist. Musiker, die vermeintlich nur künstlerischen statt kommerziellen Erwägungen folgen und zum Beleg dafür auf eine zahlenmäßig kleine, dafür aber treue Anhängerschaft verweisen, haben sich lediglich für ein anderes, nämlich kleineres Marktsegment entschieden, sonst fände ihre Musik gar nicht statt. […] Der Ökonomie popmusikalischer Kulturformen ist nicht zu entfliehen,“ vgl. Wicke, Popmusik, S. 48. 252 Vgl. Siegfried, Time, S. 643; zum »Mythos« einer nicht kommerziellen Popmusik vgl. auch Frith, Aesthetic, S. 136f. Einen nur scheinbaren Ausweg boten die so genannten »Raubpressungen« oder »Bootlegs«, ein Dauerthema auch in der Musikpresse der 1970er Jahre. Für diese illegal hergestellten Produkte in meist minderer Qualität wurde oft weitaus mehr Geld verlangt und bezahlt als für reguläre Alben; für Helmut Salzinger ein Grund, »Raubkopien« als ein Prestigeobjekt für Snobs und die herstellenden »Bootlegger« als skrupelloser als die Musikindustrie selbst zu bezeichnen, vgl. Salzinger, Rock Power, S. 235–242.
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tiert wurden, durch ihre Kooperation mit der Industrie nicht mehr glaubwürdig, nicht mehr »authentisch« zu sein. Prominentes Beispiel dafür war (aufgrund seiner exponierten Stellung kaum verwunderlich) Rolf-Ulrich Kaiser.253 Kaiser war von der gesellschaftsverändernden Kraft des Pop überzeugt, argumentierte jedoch weitaus kritischer als das Gros seiner Zeitgenossen. Popmusik sei durch das bestehende gesellschaftspolitische System geprägt und reproduziere es, auch progressive Popmusik habe keine revolutionäre Wirkung per se: „Im gegenwärtigen Stadium der raschen Verwertbarkeit neuer Ausdrucksweisen ist sogar zu fragen, ob die neue Musik generell nicht schon längst nur noch dazu beiträgt, die tatsächlichen Notwendigkeiten zu vertuschen. Sie vermittelt vielen Hörern die angenehme Illusion der Progressivität: »Neue Pop-Musik« hören = revolutionär sein. So gehen die Formen emanzipierter Musik im Revolutions-Aufwasch der Bewußtseinsindustrie unter.“254
Emanzipierte Musik müsse, so Kaiser, in Eigenregie, also im DIY-Verfahren und »von unten« produziert und verbreitet werden: „Emanzipierte Musik […] müßte sich in der allgemeinen Befreiung des Menschen zu eigener Kreativität niederschlagen. Das heißt, »neue Pop-Musik« […] hören wir dort, wo wir sie selber machen.“ Sie habe „eine aktive Rolle zu spielen, deren Wirkung über die wenigen Minuten ihrer Produktion hinausweisen soll. Ihr Zweck ist […] die Weiterführung ihrer selbst.“ Bis hierher lag Kaiser mit seiner Argumentation noch auf Linie eines kritischen linken Popdiskurses. Eine Angriffsfläche bot er allerdings an der Stelle, an der er sich die Mechanismen der Industrie für die Umsetzung seines Vorhabens zunutze machte und offen den „Marsch durch die Institutionen des Kulturbetriebs“255 propagierte. Es gebe letztendlich zwei Alternativen, so Kaiser: Entweder man musiziere nur für den Freundeskreis, oder man versuche seine Botschaften zu verbreiten. Wer Letzteres wolle, müsse sich auf massenhafte Vervielfältigung und Verbreitung seines musikalischen Produktes einlassen. Generell seien Medien und Technologie konstitutiv für Popmusik, so Kaiser weiter, und nur durch sie komme das emanzipatorische Potential von Popmusik auch zum Tragen. Dabei sei auch nichts dagegen einzuwenden, wenn Musiker mit ihrer Musik Geld verdienten; entscheidend sei nicht die Frage, „ob die Gruppe Geld verdient oder nicht, sondern wie sie die technischen Bedingungen der Medien benutzt“256. Kaiser als Protagonist des Krautrock und der bundesdeutschen Popkultur der 1960er und frühen 1970er Jahre ist ein herausragendes Beispiel dieses Diskurses, 253 Vgl. Kaiser, Revolution; Kaiser, Pop-Musik. 254 Dieses und folgende Zitate in Kaiser, Pop-Musik, S. 174f. 255 Siegfried, Time, S. 623. 256 Kaiser, Rock-Zeit, S. 144.
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eingebunden waren aber letztendlich alle Beteiligten. Die Debatten um Pop und Politik beziehungsweise den politischen Gehalt oder das revolutionäre Potential von Popmusik fanden ihren Niederschlag auch in dem noch jungen Popjournalismus. Auch hier standen die Fragen nach der kommerziellen Verwertbarkeit und der »Authentizität« von »kommerziell« produzierter und verbreiteter Popmusik im Zentrum – wobei auch hier immer unklar blieb, wo die Grenze zwischen »Kommerziellem« und »Nicht-Kommerziellem« denn nun genau verlief. „Welche Möglichkeiten haben nun ernsthafte, sich um Demokratisierung des sie tragenden Kulturbetriebs bemühende Musiker, den kommerziellen Anteil in der Funktion ihrer Konzerte soweit wie eben möglich zu verringern?“257 fragte etwa die Zeitschrift Sounds im Sommer 1972 anlässlich eines Konzerts der Gruppe Tangerine Dream. „Das ist eine Frage, die bei der augenblicklich um sich greifenden Integration der deutschen Popmusik in einen von den Gesetzen des Musikmarktes abhängigen Kulturbetrieb mit ausgesprochen ausgeprägtem Warencharakter immer größere Bedeutung erlangt.“ Sounds kam nach seitenlanger Abwägung zu dem Schluss, dass trotz aller Anstrengungen der »kommerzielle Funktionsanteil« in der Popmusik letztendlich kaum zu verringern sei, auch nicht im Falle ihrer bundesdeutschen Ausprägung. Das Beispiel macht die im Vergleich besonders enge und problembeladene Beziehung von Popmusik und Politik in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre deutlich, eine Tatsache, die durchaus Gegenreaktionen provozierte. Die Musikjournalistin Ingeborg Schober beispielsweise argwöhnte, die deutsche Musikszene sei „wie das permanente wandelnde schlechte Gewissen der Unterhaltungsindustrie, und wäre […] dennoch so gern Teil von ihr“258. In polemischer Weise riet auch Reginald Rudorf über Riebeˈs Fachblatt, sich zu „entideologisieren“259 und zu professionalisieren. Das lenkt die Aufmerksamkeit zurück auf andere Protagonisten des Krautrock. Die Musiker verstanden ihren Sound mehrheitlich als potentiell gesellschaftsverändernden, als politischen Beitrag – insbesondere in den Jahren um 1970, viele aber auch über die gesamten 1970er Jahre. Dabei handelte es sich um bereits beschriebene konzeptionelle Aspekte wie das Aufbrechen überkommener musikalischer Strukturen, die Wahl und Anwendung bestimmter Instrumente und Manipulationsmöglichkeiten, oder auch die Einbeziehung von Alltagsgeräuschen in die Klangproduktion. Diese Aspekte hatten allesamt eine politische Grundierung, standen für eine radikale Abkehr von bisherigen Einflüssen, Traditionen und Überlieferungen, auch wenn sie letztendlich wiederum darauf basierten. Mit ihren spezifischen, poli257 Sounds 8/1972. 258 Schober, Tanz der Lemminge, S. 134f. 259 Riebeˈs Fachblatt 10/1972; was vielen Menschen gefalle, sei nicht zwangsläufig »Kommerz«, so Schober an gleicher Stelle knapp zwei Jahre später, vgl. Fachblatt 5/1974.
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tisch fundierten Konzeptionen und Produktionsformen unterschieden sich viele Protagonisten des Krautrock entscheidend von transnationalen Gepflogenheiten, insbesondere von der wirtschaftlich wie bis dato auch kreativ dominierenden angloamerikanischen Szene. Die spezifischen Produktionsstrukturen in der Bundesrepublik beeinflusste auch die Musik; was vor allem in der Bundesrepublik oft als »unprofessionell« oder »amateurhaft« bezeichnet wurde, war dabei vielmehr Teil einer politisch motivierten, wenn auch mangels Alternativen zunächst oft aus der Not geborenen Konzeption. Sie eröffneten den Freiraum, ohne den es die neuen musikalischen Ausdrucksweisen in dieser Form wohl nicht gegeben hätte. Eines der konsequentesten und zugleich erfolgreichsten Beispiele sind Can, von Irmin Schmidt charakterisiert als „Leute, die sich ihre Produktionsbedingungen selber geschaffen haben. Sie sind selber im Besitz der Produktionsmittel, die sie als Kollektiv nutzen. Das ganze Geld, was hereinkommt, wird absolut gleichmäßig auf alle verteilt. […] Es gibt keine Autorenschaft […] Alle Musik, die wir bisher gemacht haben, ist kollektiv hergestellt“260, so Schmidt 1972. Kollektive Produktion, kollektiver Besitz und kollektiver Gewinn habe zwar „nicht die Gesellschaft revolutioniert, aber du merkst, wie schrittweise immer mehr Leute dies spüren, es nachvollziehen“261, resümierte Schmidt gegen Ende der 1970er Jahre rückblickend. Unter solchen Bedingungen hergestellte Musik sollte eine implizite politische Botschaft transportieren. Es war erklärtes Ziel vieler Interpreten und Gruppen, das politische und gesellschaftliche Bewusstsein der Hörer und Zuschauer insbesondere durch ihren Sound zu beeinflussen und zu verändern.262 Neben den bereits vorgestellten Beispielen Guru Gurus oder Cans äußerte sich dahingehend auch Edgar Froese (Tangerine Dream). Für ihn war klar, dass die Musik Tangerine Dreams auch „ohne ideologische Nebenerklärungen“263 politischen und bewusstseinserweiternden Gehalt habe: „Wir versuchen mit musikalischen Mitteln den allzu stabilen Bau vorgefaßter Meinungen, Gewohnheiten und Scheinrealitäten auf einen neutralen Punkt zurückzuführen, von welchem einige Dinge vielleicht etwas klarer und 260 Irmin Schmidt in Fachblatt 10/1977; ähnlich bereits im Melody Maker 05.02.1972. 261 Zitiert nach Fachblatt 10/1977. 262 Damit korrespondiert auch eine Umfrage unter bundesdeutschen Profimusikern Anfang der 1970er Jahre, weit über den Krautrock hinaus. Auf die Frage, welches Verhältnis die Profi-Musiker zwischen ihrer Musik und der gesellschaftlichen Realität sehen, bejahten 57% die Aussage, dass Musik »den Zuhörern die Möglichkeit einer neuen Realität nahebringen« sollte. Die Aussage »Meine Musik soll die Zuhörer zu gesellschaftskritischer Haltung führen« bejahten 36% der Befragten; 46% der Profi-Musiker meinten, dass eine gesellschaftskritische Wirkung „mittels entsprechender Komposition und Arrangement von Musik möglich“ sei, vgl. Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 213. 263 Interview in Sounds 5/1971.
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freier von Wertkategorien erkannt werden können“264, so Froese 1972. Ähnlich äußerten sich Ash Ra Tempel, die ihrer (instrumentalen) Musik das Potential zuschrieben, „das Bewußtsein der in das bestehende Gesellschaftssystem mehr oder weniger Integrierten zu erweitern“265. Neue Wahrnehmungen und Bewusstseinserweiterung durch Sound, das Aufbrechen von Gewohnheiten und »Scheinrealitäten« der Mehrheitsgesellschaft, allgemein gerichtet gegen »das Gesellschaftssystem« – ein im Grunde revolutionärer politischer Anspruch. Weniger explizit äußerte sich Hans Joachim Roedelius (Kluster, Cluster, Harmonia), aber auch für ihn war die unter dem Schlagwort „Art of Noise“266 gefasste Konzeption leitend, die seinem Sound eine entschieden politische Aussagekraft beimaß. Während er etwa in der WestBerliner Kommune 2 gemachte Erfahrungen mit der dogmatischen Linken, insbesondere einigen späteren Mitgliedern der RAF als »abstoßend« empfand, blieb er in seinem Selbstverständnis immer ein politischer Musiker. Den Sound als bewusstseinsveränderndes Mittel hin zu einer neuen Spiritualität verstand Florian Fricke (Popol Vuh), der sich nach eigener Aussage vom Marxisten zum Spiritualisten gewandelt hatte und sich mit seiner Musik „der Utopie realistisch zu nähern“267 versuchte. Als politisch konnte nicht zuletzt auch die nur scheinbar »unpolitische« Rolle Kraftwerks verstanden werden, unter anderem in der Konzeption der Unterordnung des Menschlichen gegenüber der Technologie, letztendlich der Auflösung des Menschen in der Mensch Maschine – vollkommen konträr zum Zeitgeist, und als Vorreiter einer erst Jahre später in der Breite einsetzenden Entwicklung. Die politischen Implikationen dieser Konzeption wurden zeitgenössisch breit diskutiert, insbesondere wiederum in den USA und im Vereinigten Königreich. Neben der Einbindung seiner Protagonisten in theoretische Debatten und neben den spezifischen Konzeptionen und Produktionsweisen wurde Krautrock auch als Bestandsteil der allgemeinen »politisch-kulturellen Revolte von 1968« breit rezipiert. Dabei erschien Krautrock als bundesdeutsche Avantgarde einer transnationalen Lebensstilrevolution, als Teil der Global Sixties und der studentischen Revolte am Ende der 1960er Jahre, aber auch der neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre. Diese Wahrnehmungen verschmolzen beispielsweise in den bereits erwähnten, zahlreichen Konzerten und Happenings in der Mensa der Technischen Universität West-Berlins, die als wichtiger Treffpunkt und zugleich wichtige Auftrittsmöglichkeit des Krautrock in seiner frühen Phase fungierte. „Oft traf man hier die Kommunarden der »K1« an, um dann einleitende Worte zum Konzert von Rainer Langhans zu hören“268, so ein regelmäßiger Besucher der Veranstaltungen rückbli264 Germania Nr. 3/1972. 265 Sounds 2/1972. 266 Iliffe, Roedelius, S. 23. 267 Sounds 3/1973. 268 Strieben, Live-Rock, S. 168. Kapitalisierungen im Original.
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ckend; „nachdem demonstrativ ein überdimensionaler Joint ins Publikum gereicht worden war, begannen GURU GURU, CAN, AMON DÜÜL oder TANGERINE DREAM zu spielen. Oft fanden sich spontane Session-Gruppen aus den anwesenden Undergroundgruppen zusammen.“ Auch Anima und insbesondere Agitation Free, die über ihre erwähnten Verbindungen mit der Kommune 1 und dem Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen hinaus mit der West-Berliner Anarcho-Szene und späteren Mitgliedern der RAF verbunden waren, traten wiederholt in der Mensa der TU auf.269 Wenn Verbindungen des Krautrock zur radikalen und militanten Linken in der Bundesrepublik ohne Zweifel vorhanden waren, so lässt sich daraus keinesfalls in eindimensionaler Weise ein politisches Programm ableiten. Die Bezeichnung der Musikzeitschrift Sounds als „aktiven »Kader« für Informationen in unserem politischen Kampf“270 beispielsweise blieben unter den Akteuren des Krautrock die Ausnahme. Das rückblickende Resümee von Cans Irmin Schmidt beschreibt (neben Hans-Joachim Roedelius‘ Äußerungen über die Kommune 2) das Verhältnis zwischen Krautrock und militanter Linken wohl treffend: „Wir bewegten uns […] nicht im Umfeld wirklich aggressiver Systemkritik oder gar von Terroristen. Obwohl… man kannte sich.“271 Teile der späteren RAF oder der Münchner Tupamaros zum Beispiel erschienen nicht zuletzt deswegen bei Amon Düül, weil die MusikKommune prominenter Teil der bundesdeutschen Gegenkultur war und als einer ihrer Treffpunkte und Kommunikationsorte fungierte. Ähnliches ist etwa auch aus dem West-Berliner Club Zodiak Free Arts Lab bekannt, der insbesondere durch die Präsenz der Krautrock-Akteure eine enorme Anziehungskraft auf die gesamte Gegenkultur der Teilstadt ausübte, inklusive der (späteren) militanten Linken. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass insbesondere die MusikKommunen des Krautrock in das Visier staatlicher Behörden gerieten. Dass aus den losen Verbindungen bisweilen Hausdurchsuchungen und Razzien resultierten, mussten nicht nur Amon Düül, sondern auch andere Gruppen des Krautrock erfahren. So wurde die Musik-Kommune Faust von Sondereinsatzkommandos umstellt und gestürmt,272 Embryo standen mitunter unter Terrorismusverdacht,273 und selbst die linksradikaler Umtriebe kaum verdächtigen Kraftwerk wurden in der allgemeinen Terrorismus-Hysterie der 1970er Jahre mitunter für RAF-Sympathisanten ge-
269 Selbstauskunft der Gruppe, undatiert, Klaus Kuhnke Archiv, Sammlung Ehnert; detaillierte Beschreibungen dazu finden sich etwa auf der Webseite http://www.agitationfree.de/indexd.html [29.06.2013]. 270 Leserbrief John Weinzierls von Amon Düül II in Sounds 7/1972. 271 Zitiert nach Dedekind, Krautrock, S. 116. 272 Vgl. Wilson, Faust, S. 15. 273 Dazu Othmar Schreckeneder in Dedekind, Krautrock, S. 117.
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halten.274 Krautrock geriet immer wieder in Verdacht, weil er Teil jener „hybrid spaces“275 in der Bundesrepublik um 1970 war, in denen verschiedenste Erscheinungen der äußerst heterogenen Gegenkultur verkehrten. Diese Verbindungen und die in Medien spektakulär aufbereiteten Konfrontationen mit der staatlichen Ordnungsmacht spielten für die politische Verortung des Krautrock »von außen« eine gewichtige Rolle. Die politischen Implikationen liegen auf der Hand; durch seine Avantgardefunktion und die breite mediale Rezeption innerhalb des Kommunikationsraums Popmusik wirkte Krautrock als Mittler und Katalysator transnationaler Einflüsse und neuer Lebensstile, einer – so zeitgenössisch – »neuen Kultur« in die Bundesrepublik. Bereits die Rede war unter anderem von der Ablehnung bürgerlicher Lebens- und Wohnformen, von einer neuen Körperlichkeit in Form tendenziell androgyner Erscheinungsformen und der Ablehnung traditioneller Männlichkeit, von einer neuen Festival- und Clubkultur und ihren Auswirkungen, oder auch von einer neuen »Drogenkultur«, insbesondere in Form des Konsums psychoaktiver Substanzen und neuer Wahrnehmungsformen. Noch zur Sprache kommen werden etwa ökonomische bzw. distributive und technologische Aspekte des Politischen im Krautrock. Dadurch wird die auch im Krautrock offenbare „gegenseitige Durchdringung von Politik und Lebensstil“276 neben dem konzeptionellen politischen Gehalt des Sounds und der Präsentationsformen besonders deutlich. Inwieweit die einzelnen Aspekte konkrete Umsetzung erfuhren, ist wiederum eine andere Frage; nicht oft genug kann auch auf die grundsätzliche Heterogenität des Phänomens verwiesen werden, die sich nicht zuletzt auch darin widerspiegelte. Im Laufe der 1970er Jahre veränderten sich die politischen Intentionen von Musikschaffenden ebenso wie politische Aufladungen von Musik und Präsentationsformen durch das Publikum. Edgar Froese sprach am Ende des Jahrzehnts für die Seite der Produzenten von einer vertanen Chance; er stellte fest, dass die Möglichkeit, „Rockmusik in die politische Alternative miteinzubeziehen […] in der Zeit, als Rockmusik noch selbst alternativ war, so gut wie überhaupt nicht berücksichtigt worden“277 sei. Der Mehrheit der Musikerinnen und Musiker sei sich nicht bewusst gewesen, so Froese weiter, „was Tonträger als Multiplikatoren des einmal geleisteten überhaupt darstellen“. Insgesamt dominiere eine allzu simple Vorstellung davon, wie Popmusik politisch sein könne: „Wenn musikalisch politisiert wurde, mußte es immer handfeste, textlich keinen Zweifel offenlassende Agitation sein, damit überhaupt jemand kritische Bezüge in der Musik erkennen konnte“. Subtilere politische Botschaften, transportiert über Sound, nehme hingegen kaum jemand 274 Vgl. dazu die Autobiographie Flür, Roboter, S. 121–124; Esch, Electri_City, S. 184. 275 Brown, Global Sixties, S. 191. 276 Siegfried, Pop und Politik, S. 42, in Anlehnung an Giddins, Modernity. 277 Froese, Lustigkeit, S. 60.
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Abbildung 16: Amon Düül (1968) als Mittler der »neuen Kultur«. Die Lebensstile der »Global Sixties« waren transnational eingebunden.
wahr. Froese war mit dieser Meinung nicht allein. Im Laufe der 1970er Jahre machten sich allgemein Ermüdungserscheinungen breit, gesellschaftsverändernde Ansprüche und der Glaube an die gesellschaftsverändernde Kraft von Sound traten in den Hintergrund, der „Utopieüberschuss“278 der Jahre um 1970 wich einer zunehmend pragmatischen Haltung. Auch die in der Bundesrepublik besonders heftig geführten Debatten um die politischen Implikationen von Popmusik, um »Entfremdung« und »Emanzipation«, um »Kommerz« und »Authentizität«, die zu Beginn des Jahrzehnts einen Höhepunkt erreicht hatten und den Popdiskurs dominierten, spielten gegen Ende der 1970er Jahre eine weitaus geringere Rolle. Vorher politisch argumentierende Musiker äußerten sich erheblich seltener zum Thema, wurden aber auch kaum mehr danach gefragt; die für die zweite Hälfte der 1970er Jahre allgemein diagnostizierte »Entideologisierung« erfasste das Publikum ebenso wie Bands und Medien. Im nationalen bundesdeutschen Rahmen waren die sich wesentlich textlich artikulierenden Politrockgruppen weiterhin aktiv, die Pragmatik zeigte sich transnational aber auch in Initiativen wie Rock against Racism (bzw. in der Bundesrepublik Rock gegen Rechts), in denen wiederum zahlreiche ehemalige Akteure aus dem Umfeld des Krautrock mitwirkten. Der Charakter dieser im Vergleich zu den experimentellen Jahren um 1970 plakativ erscheinenden Veranstaltungen war jedoch bereits ein vollkommen anderer; die subtileren und utopischen Ansätze des frühen Krautrock spielten, wie eben auch Edgar Froese etwas resigniert feststellte, keine Rolle mehr. 278 Zitiert nach Kersting, Left-wing radicalism, S. 354.
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Popmusik zeichnet sich aus, so lässt sich abschließend festhalten, durch ein „Selbstverständnis des Gegenentwurfs, ohne dass man ihn auf präzise Merkmale festlegen könnte“279. Ihre »politische Geschmeidigkeit« und grundsätzliche Offenheit gegenüber politischen Zuschreibungen äußerte sich im Falle des frühen Krautrock in Form eines klar links konnotierten, in den Kontext der transnationalen Gegenkultur eingebetteten politischen Selbstverständnisses, in seiner Funktion als „Sound der Zeit“280. Krautrock spielte eine entscheidende Rolle bei der Formung einer „left-wing identity in the West-German 1968“281: Zentrale Akteure wie beispielsweise Rolf-Ulrich Kaiser waren eingebunden in den zeitgenössischen, in der Bundesrepublik besonders heftig geführten Diskurs um Pop und Politik. Auch die Mehrzahl der Gruppen und Interpreten beteiligte sich daran und gab auf die entsprechenden, zahlreichen Fragen des Popjournalismus bereitwillig Auskunft. Die Protagonisten verband das Ideal, politisch eindeutig linke gesellschaftspolitische Inhalte, ja ihre Musik als »Sound der Revolution« und des Sozialismus zu verbreiten, was entsprechende Rückwirkungen auf die Musik und Präsentationsformen hatte. Retrospektiv kann das als einer der Gründe für die Wahrnehmung als neuartiger Sound gesehen werden. Auf Seite der Konsumenten war Krautrock (auch aufgrund dieser Neuartigkeit) eng eingebunden in Authentizitätsdiskurse der Popmusik, die sich um das »Echte«, »Wahre« und »Ehrliche« im Gegensatz zur »Entfremdung« und »Manipulation« durch technologische Entwicklungen oder »die« Musikindustrie bewegten. Insbesondere dem »elektronischen« Krautrock kam dabei, wie zu sehen sein wird, in der transnationalen Rezeption eine entscheidende Rolle zu. Neben der Einbindung in theoretische Debatten und neben gestalterischen Konzeptionen war es die Art und Weise der konkreten Produktion und Distribution, die an sie geknüpften Orte, und nicht zuletzt die damit verwobenen, oft öffentlich zur Schau gestellten Lebensstile vieler Akteure, die – ob nun politisch, »vorpolitisch« oder (scheinbar) »unpolitisch« – eine Transformation gängiger ästhetischer Normen und bestehender Ordnungsvorstellungen bedeuteten, und deswegen politisch aufgeladen wurden. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Mittlerfunktion des Krautrock, der als bundesdeutsche Pop-Avantgarde wesentlich an der Einbindung der bundesdeutschen Gegenkultur in den transnationalen Kontext beteiligt war. Wie sich Arbeits- und Lebensstile der Akteure des Krautrock im Zusammenspiel mit den Organen der Musikindustrie entfalteten oder sich ineinander verschränkten, und welche politischen Implikationen das wiederum nach sich zog, wird im kommenden Abschnitt im Zentrum stehen.
279 Geisthövel, Lebenssteigerungen, S. 194. 280 Siegfried, Pop und Politik, S. 52. 281 Brown, Global Sixties, S. 191.
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K RAUTROCK UND DIE M USIKINDUSTRIE „Ten years ago, West Germanyˈs music industry seemed to have a case of retarded development. But after the isolation of the 50s and the reticence of the 60s came the surge of the 70s.“282 Record World, 1978
Popgeschichtliche Narrative, egal ob sie Genres, Stile oder bestimmte Interpreten in den Mittelpunkt rücken, werden mehrheitlich außerhalb ihrer ökonomischen Zusammenhänge angesiedelt.283 Die Musikindustrie erscheint dabei allenfalls am Rande, und dann meist als profitgierig, gleichmacherisch, ausbeuterisch oder manipulativ, das ursprünglich »Authentische« »kommerzialisierend«.284 Damit einher geht die Vorstellung von »der« Musikindustrie »an sich«, also einer anonymen, als Entität imaginierten Maschinerie mit einheitlichen Interessen und Strukturen. Anders jedoch als Standard-Narrative dieser Art suggerieren, ist »die« Musikindustrie tatsächlich ein außerordentlich komplexes und heterogenes Konglomerat aus Akteuren, Interessen, Institutionen und Konflikten. Auch die Manipulationsthese ist bei einer genaueren Betrachtung keinesfalls haltbar;285 bezüglich einer angeblichen »Gleichmacherei«, seit Jahrzehnten gängige Befürchtung angesichts der »Globalisierung« und des »Massenkonsums« und eben auch einer globalen Musikindustrie, stellte etwa der finnische Soziologe Pekka Gronow bereits Mitte der 1970er Jahre fest, dass „die relativ ausgeprägte Flexibilität der Industrie den Fortbestand einer lebendigen nationalen Populär-Musik in vielen Ländern ermöglicht und zum Überleben vieler, manchmal sogar sehr kleiner musikalischer Subkulturen verholfen“286 hat. Globale Konzerne konnten, beispielsweise durch die Vermarktung eines lokalen Unterschieds für die globale Konsumption, durchaus zum Erhalt lokaler Musikkulturen, sogar zu deren Entstehung beitragen. Diese Aspekte werden im Folgenden
282 Record World 21.01.1978. 283 Vgl. Pfleiderer, Geschichtsschreibung. 284 Vgl. Nathaus, Production of Culture, S. 149. 285 Vgl. den detaillierten Überblick in ebd.; auch Dussel, Triumph, S. 134; Coopey, Music Industry, S. 162. Ein Beispiel gegen die Manipulationsthese ist nicht zuletzt das Phänomen Popmusik selbst, die in Gestalt des Rock & Roll ab Mitte der 1950er Jahre gegen den Willen der etablierten Musikindustrie »von unten« durchgesetzt worden war, vgl. Blaukopf/Gaisbauer, Verhaltensweisen, S. 47; auch Dollse/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 23. 286 Zitiert nach Blaukopf, Schallplatte, S. 21.
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eine wichtige Rolle spielen. Grundsätzlich jedenfalls sind pauschale Beurteilungen oder die schlichte Negierung ökonomischer Zusammenhänge und Implikationen, wenn ein möglichst plastisches Bild pophistorischer Phänomene entstehen soll, wenig hilfreich.287 Auch das Phänomen Krautrock ist ohne einen Blick auf seinen industriellen Kontext schlicht nicht zu verstehen. Bei einem Blick auf den äußeren Rahmen lässt sich für die Musikindustrie der westlichen Industrieländer im vorliegenden Zeitrahmen eine beispiellose Boomphase konstatieren, die – kaum beeinflusst von den weltweiten Wirtschaftskrisen ab 1973 – bis in die späten 1970er Jahre anhielt.288 Zwar gerieten die Hersteller im Zuge der Ölkrise durch steigende Preise für Rohstoffe kurz unter Druck, insgesamt jedoch zeigte die Branche auch auf der MIDEM des Krisenjahres 1974 einen „krisenfesten Optimismus“289. Der bundesdeutsche Markt entwickelte sich nach langanhaltender Rückständigkeit besonders dynamisch: die jährlichen Zuwachsraten lagen in den 1970er Jahren im zweistelligen Bereich, mit zwei Ausnahmen: 1973 (»nur« 9%) und 1979 (6%). 1977 avancierte die Bundesrepublik hinter den Vereinigten Staaten zum weltweit zweitgrößten Tonträgermarkt.290 1978 wurden mit 112,5 Millionen verkauften Schallplatten (LPs, 12 Zoll) ein nie wieder erreichter Verkaufsre-
287 Ein Plädoyer für die »production of culture«-Perspektive in Anlehnung an den USSoziologen Richard A. Peterson findet sich bei Nathaus, Production of Culture. 288 In den USA gab es die ersten Umsatzrückgänge bereits 1978/79, Europa folgte mit etwa zwei Jahren Verspätung, vgl. Hung/Esteban, Record Sales; zu den Zuwächsen in der Bundesrepublik vgl. die Jahresberichte des Bundesverbands der Phonographischen Wirtschaft, Hamburg, sowie des Bundesverbandes der Musikindustrie, Berlin. 289 Musikinformation 2/1974; die MIDEM (Marché international de lˈédition musicale) ist eine seit 1966 jährlich in Cannes stattfindende Messe der Musikbranche, die in den 1970er Jahre zur weltweit größten und wichtigsten ihrer Art avancierte. Zur Musikindustrie im Jahr 1973 vgl. Zeppenfeld, Tonträger, S. 45–54; auch Der Musikmarkt 15.12.1973, 01.01.1974, 15.01.1974; Musikinformation 12/1973; in Branchenzeitungen der USA und Großbritanniens war die »vinyl shortage« ab Ende 1973 für einige Monate Thema; Folge war, dass Standard-Schallplatten ab 1974 mit weniger Material pro Einheit hergestellt und damit dünner wurden, vgl. Mooney, Popular Music, S. 201–219. 290 Vgl. etwa Musikinformation 11/1978; detailliert in Hung/Esteban, Record Sales. Die steigende Bedeutung des bundesdeutschen Musikmarktes am Ende der 1970er Jahre spiegelte sich auch medial, etwa in Form von aufwendigen Heftbeilagen über die bundesdeutsche Musikindustrie und Musikszenen in allen großen US-amerikanischen Branchenzeitungen, vgl. beispielsweise Record World 21.0.1978; Cash Box 07.04.1979; Billboard 08.12.1979.
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kord aufgestellt; am Ende des Jahrzehnts waren bundesdeutsche Unternehmen zu einem wesentlichen Teil des „international flow“291 der Musikindustrie geworden. Die enormen Zuwächse beruhten insbesondere auf dem jugendlichen Markt der »neuen« Popmusik. Während die Produkte angloamerikanischer Interpreten auch in der Bundesrepublik den Markt weiterhin dominierten, spielte wie bereits erwähnt auch progressive bundesdeutsche Popmusik eine zunehmende, wenn auch gemessen am Gesamtmarkt bescheidene Rolle; interessant war in diesem Zusammenhang eher der Zuwachs der Exportzahlen im Laufe der 1970er Jahre, von dem eingangs berichtet wurde. Die Musikkonzerne, so Rolf-Ulrich Kaiser 1972, verdankten ihre Gewinne „einer Generation, die gerade mit ihnen angeblich nicht viel im Sinn hat, sich jedoch weitgehend mit der Musik identifiziert, die ihr durch sie verkauft wird“292. Konsumkritische Gegen- und Subkulturen waren in der Tat wichtige Konsumentengruppen für die Musikindustrie und zentrale Träger ihres andauernden Booms. Dieser (scheinbare) Widerspruch rief scharfe Abwehrreaktionen hervor, gleichzeitig jedoch wirkten gegenkulturelle Impulse im Laufe der 1960er und 1970er Jahre auf die Musikindustrie zurück. So erschien mit dem Aufrücken junger Kräfte in die Industrie „ein neuer Managertypus, der Künstler nicht als auswechselbare Objekte betrachtete, sondern als autonome Produzenten“293. Viele Vertreter dieses »neuen Typus« kamen aus gegenkulturellen, konsumkritischen Umfeld – aus der »Scene« – und traten mit dem expliziten Ziel an, die Produktionsweise von Popmusik strukturell, »von innen« her zu verändern.294 Die Praktiken in der Musikindustrie veränderten sich im Laufe der 1960er und 1970er Jahre in der Tat durchgreifend: Musik, Text, Aufnahmetechniken und Covergestaltung wanderten aus der direkten Verantwortung und Kontrolle der Konzerne in die Hände der Interpreten, freier Manager oder Produzenten. Der Umgang wurde informeller: Geschäftsverhandlungen fanden beispielsweise inmitten des Nachtlebens statt, und um nachvollziehbare Transaktionen zu vermeiden, wurden Geschäftsvorgänge bevorzugt bar abgewickelt, – besonders dann, wenn es um die häufige Beschaffung von illegalisierten Rauschmitteln ging.295 In diesem Zusammenhang bildete sich in der globalen Musikindustrie eine Grundstruktur mit einer spezifischen Rollen- und Arbeitsteilung heraus, die für 291 Gerhard Augustin in Cash Box 07.04.1979. Popmusik sei mittlerweile von einer Transfer- zu einem Verflechtungsphänomen geworden, so auch Conny Plank in Der Musiker hinter der Scheibe (SR 1979). 292 Kaiser, Rock-Zeit, S. 128. 293 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 272. 294 Vgl. Frith, Sociology, S. 54. 295 Vgl. zusammenfassend Coopey, Music Industry, S. 165; Ausgaben für Rauschmittel wurden in der Regel als Blumenkäufe verbucht, so der Autor.
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Jahrzehnte prinzipiell unverändert blieb. Die darin zentralen Akteure, die mit den Gruppen und Interpreten in erster Linie interagierten, waren Manager, Produzenten und Labels.296 Der Manager war in der Regel für administrative Aufgaben wie Kontakte zwischen den Musikern und den Konzernen, Agenturen, Medien, Veranstaltern, Werbeträgern oder Anwälten verantwortlich; mit dem Aufkommen des »neuen Managertypus« ab Mitte der 1960er Jahre bestand ein oft enges Vertrauensverhältnis zwischen Musikern und Managern. Im Laufe der 1970er Jahre traten zunehmend selbstständige Manager auf den Plan, die Künstler auf eigenes Risiko unter Vertrag nahmen, Aufnahmen im Studio finanzierten, und das fertige Produkt den Labels zum Verkauf anboten. Große Labels wiederum unterhielten hauseigene Manager, die unter der Berufsbezeichnung A&R-Manager (für Artists & Repertoire) bekannt waren; ihre Aufgabe war es, neue Interpreten zu akquirieren und den »Bestand« der Labels zu pflegen. Der Produzent übernahm ebenfalls die Rolle des Organisators und Koordinators, war darüber hinaus aber auch in den kreativen Prozess eingebunden. Oft übte er entscheidenden Einfluss auf Soundgestaltung, Stil und Präsentationsformen »seiner« Interpreten aus. Produzenten konnten durch die Entwicklung spezifischer Sounds ganze Genres entscheidend prägen. Mit der rasch fortschreitenden Entwicklung der Aufnahmetechnik wurden darüber hinaus Tonmeister zu entscheidenden »Zwischengliedern« der Produktion; oft verschwammen die Grenzen zwischen den Rollen des Produzenten und des Tonmeisters. Ein neues Geschäftsmodell, das sich im Laufe der 1970er Jahre schließlich herauskristallisierte, etwa der so genannte production deal: durch Interpreten und unabhängige Produzenten finanzierte Aufnahmen, die den Labels als »fertige Produkte« angeboten wurden. Labels übernahmen die Öffentlichkeitsarbeit, Vermarktung und Imageproduktion der Interpreten.297 Jedes Label hatte eigene Öffentlichkeitsabteilungen, die in einem symbiotischen Verhältnis mit den Massenmedien existierten; das „amerikanische Standard-Promotion-Paket“298, das in Grundzügen weltweit Anwendung fand, bestand seit Ende der 1960er Jahre in erster Linie aus Anzeigen in Branchen-, Jugend- und Musikzeitschriften; Plakatwerbung, gekaufte Spielzeit im Radio und die Vermittlung der Interpreten an Konzertagenturen für Liveauftritte (später zunehmend Tourneen) vervollständigten das Paket.299 Eine gängige Unterscheidung bestand zwischen »Major Labels«, global agierenden Mischkonzernen mit eigenem 296 Zur Musikindustrie in den 1960er und 1970er Jahren vgl. Chapple/Reebee, Musikindustrie; Smudits, Sound; Cable, Pop-Industry; Frith, Sociology. 297 Zur Bedeutungszunahme von Marketing und Imagebildung in diesem Kontext vgl. Wicke, Popmusik, S. 58. 298 Chapple/Musikindustrie, Musikindustrie, S. 214. 299 Offensichtlich ist an dieser Stelle die gegenseitig konstitutive Rolle von Popmusik und Medien, vgl. dazu Wicke, Popmusik, S. 44.
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Produktions- und Vertriebsnetz, und »Indie Labels«, eine heterogene Gruppe von Klein- und Kleinstlabeln meist ohne eigene Produktions- und Distributionskapazitäten.300 Die »Majors« hatten Künstler aus einer Vielzahl verschiedener Genres unter Vertrag, oft aber auch spezifisch nationale oder regionale Stars, die über nationale Niederlassungen des global organisierten Mutterkonzerns vertrieben wurden; »Indies« waren in aller Regel auf ein bestimmtes musikalisches Genre, oft auch auf eine bestimmte Region oder gar Metropole spezialisiert. Ab etwa Mitte der 1960er Jahre begannen sie vermehrt, mit ihren Produktionen auf die vorhandenen Vertriebskanäle der Großkonzerne zurückzugreifen, da sich eine überregionale Vermarktung der Produkte als anders unmöglich erwies.301 Zumindest implizit wird bis heute oft von der bipolaren Vorstellung ausgegangen, dass Indies musikalische Innovationen »von unten« aufgreifen und »Authentisches« liefern, während Majors den »Mainstream« vermarkten. Zwar setzten auch in den 1960er und 1970er Jahren viele Indies durchaus auf Musik außerhalb des Mainstreams, allerdings nicht nur aus Idealismus oder aufgrund einer alternativen Agenda, sondern auch aus kommerziellen Interessen: Underground-Musik war etwa für den »hip consumerism« der Konsumkritiker aus der Gegenkultur hochgradig attraktiv.302 Überspitzt formuliert handelte es sich um eine »antikommerzielle Vermarktungsstrategie«, denn gerade durch die Indies wurde auch der »rebellische« Bedarf des »hip consumerism« durch eine gezielte Vermarktung als »authentische« Alternative bedient. Die musikalischen Alternativen boten sich für kleine Labels an, weil sie lukrative Marktnischen boten. Zwar gab es sehr wohl unabhängige KleinLabels mit alternativem Anspruch, aber auch sie mussten sich dem Problem stellen, im Vertrieb auf die Majors angewiesen zu sein, zumindest dann, wenn sie ihre Produkte über einen limitierten regionalen Rahmen hinaus verbreiten wollten. Viele dieser Indies fungierten letztendlich als »Talentsucher« der Majors und waren damit in das industrielle Ensemble miteingebunden; die professionelle Arbeitsteilung verdeckte die Tatsache, dass die Kontrolle des Schallplattengeschäfts letztendlich in der Hand einer kleinen Zahl großer Firmen blieb.303 Zudem war das Geschäftsgeba300 Zur entscheidenden Rolle der Indie-Labels in den ersten Jahren des Rock ˈnˈ Roll Mitte bis Ende der 1950er Jahre und ihre Vorbildfunktion für die weitere Entwicklung vgl. Gillett, Sound, S. 48f. 301 Zur Abhängigkeit kleiner Labels bzw. Indies von den Vertriebsstrukturen der Majors vgl. Sanjek, Print to Plastic, S. 55. Die »Indie«-Labels „teilten das sozialmoralische Normensystem der Akteure und luden ihre Produkte ethisch auf, konnten allerdings die Forderungen altruistisch zu handeln aufgrund ihrer privatwirtschaftlichen Basis nur begrenzt nachkommen und waren daher der Kritik vieler Akteure ausgesetzt“, so Siegfried, Protest am Markt, S. 70f. 302 Vgl. Negus, Popular Music, S. 42–44; Siegfried, Time, S. 669. 303 Vgl. Frith, Sociology, S. 112; vgl. auch Sanjek, Print to Plastic, S. 53.
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ren der Indies gegenüber den unter Vertrag stehenden Interpreten keinesfalls per se von Fairness geprägt: „Trotz gegenteiligem Urteil von Journalisten sind es nicht »die großen Konzerne«, die bescheißen, sondern eher die kleinen »unabhängigen«“304, so etwa Klaus Schulzes Manager Mitte der 1980er Jahre. Diese etwa holzschnittartige Skizze der Grundstruktur in der Musikindustrie hat hier vor allem deswegen einen Platz, weil sie in Erinnerung rufen soll, was es in der Bundesrepublik um 1970 nicht gab – oder erst in rudimentären Ansätzen. Die Rolle des Managers gab es überhaupt nicht: „Manager sind nach dem Gesetz verboten“305, hieß es dazu 1972 in der Branchenzeitschrift Der Musikmarkt lapidar. Die Arbeitsvermittlung, auch für Musiker und Bands, lag – man möchte es kaum glauben – exklusiv in den Händen des Arbeitsamtes. Welche Auswirkungen das auf die bundesdeutsche Szene und den Krautrock haben konnte, machte die Branchenzeitung am Beispiel Rolf-Ulrich Kaisers deutlich: Kaiser „versuchte einen Mann einzustellen, um den Gruppen Arbeitsmöglichkeiten zu beschaffen. Die Folge: Eine Klage vom Arbeitsamt und die Drohung einer Geldstrafe über 30000 Mark. Wer aber kümmert sich um die Gruppen, um Auslands- und Inlandsauftritte, wenn kein Manager erlaubt ist? Das Arbeitsamt am wenigsten. Ein Teufelskreis, der deutschen Gruppen zum Verhängnis wurde und immer wieder wird […] Mit derartigen Gesetzen wird die kommerzielle Basis nie verbessert, nur verschlechtert. So ist bei uns kein künstlerischer Fortschritt möglich.“306
Das »Verbot der freien Künstlervermittlung« bzw. »Managementverbot« stellte in der Tat eine massive strukturelle Einschränkung für die Entwicklung der bundesdeutschen Popmusikszene dar. Nur eine Handvoll private Vermittler waren mit einer staatlichen Lizenz ausgestattet, meist „eingeschworen auf fast nichts als die triviale Schlagermasche, weder jugendlichen Verve noch die Fähigkeit [besitzend], Begeisterung für eine Sache und Geschäftssinn zu vereinigen“307. Daneben versuchte eine kleine Zahl privater Akteure „mittels juristischer Winkelzüge“308 die staatli304 Müller, Klaus Schulze, S. 136. 305 Der Musikmarkt 21/1972. 306 Ebd.; vgl. auch Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 239–242; für den Veranstalter Fritz Rau waren das Arbeitsvermittlungsgesetz und das de facto Verbot eines professionellen Managements das Grundproblem bei der schwierigen Entwicklung einer bundesdeutschen Popmusikszene, vgl. Fachblatt 2/1975. 307 Baacke, Beat, S. 170; vgl. auch Ehnert, Rock, S. 69. Diese Musikverleger »alten Schlags« hielten bundesdeutsche Popmusik für das Werk unfähiger Dilettanten, vgl. Nathaus, Rock Revolution, S. 215; dazu vgl. auch Siggi Loch in Kraut und Rüben, Folge 1 (D 2006). 308 Dollase/Rüsenberg/Stollenwerk, Rock People, S. 240.
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chen Restriktionen zu umgehen – oft mit zweifelhaftem Ergebnis. „Es ist absoluter Quatsch, sich ständig mit der Frage zu beschäftigen, ob die deutschen Rockmusiker besser oder schlechter sind als die englischen oder amerikanischen,“ so etwa Dieter Dierks 1975, „sie sind genauso gut oder genauso schlecht. […] Das Problem in Deutschland ist einfach, daß das ganze Drum und Dran, Szene, Geschäft, Organisation und Management fehlen oder wenigstens nicht vernünftig funktionieren.“309 Es waren insbesondere strukturelle Defizite in der Bundesrepublik selbst, die inländische Interpreten mitunter benachteiligten – und keinesfalls, wie bis heute des Öfteren behauptet, ein wie auch immer gearteter, britischer oder US-amerikanischer »Kulturimperialismus«. Neben dem fehlenden professionellen Management war im Falle des Krautrock auch die Rolle des Produzenten eine andere als in den angloamerikanischen Zentren der Pop-Produktion. Allerdings durchaus gewollt: Das Eingreifen einer außenstehenden Person in den kreativen Prozess, wie es die Rolle des Produzenten vorsah, war bei den Gruppen und Interpreten des Krautrock schlicht unerwünscht. Das galt generell für die experimentell ausgerichtete Pop-Avantgarde: Ab Mitte der 1960er Jahre war, so auch Sounds zeitgenössisch, „eine völlig neue Pop-Rock-Musik entstanden, bei der nicht mehr die Produzenten, sondern die Sänger und Musiker selbst die Musik machen“310. Das heißt aber keinesfalls, dass die Rolle des Produzenten vollkommen verschwunden wäre; sie wandelte sich jedoch, auch hier wurden tendenziell alte Hierarchien zumindest tendenziell durch Zusammenarbeit ersetzt. Im Falle des Krautrock übten beispielsweise Conny Plank und Dieter Dierks außerordentlich starken Einfluss auf eine ganze Reihe von Interpreten aus und wirkten insbesondere in der Anfangsphase mitunter stilbildend.311 Auch wenn sie sich in erster Linie als Tonmeister verstanden und sie über den künstlerisch-kreativen Prozess hinaus in der Regel keine weiteren Aufgaben für die Interpreten wahrnahmen, können sie in diesem Sinne – so wie es in der britischen und US-amerikanischen Rezeption von Beginn an üblich war – als »Produzenten« des Krautrock bezeichnet werden. Während die bundesdeutschen Schallplattenfirmen aufgrund ihrer zögerlichen und wenig experimentierfreudigen Haltung am Ende der 1960er Jahre Marktanteile verloren und an den enormen Zuwachsraten auf dem bundesdeutschen Markt kaum Anteil hatten,312 wurde es mit der steigenden Popularität englischsprachiger Popmu309 Dieter Dierks in Fachblatt 8/1975; „wir haben einfach viel zu wenig Profis,“ so etwa auch Irmin Schmidt in Sounds 12/1973. 310 Sounds 4/1967. 311 Zu den beiden Tonmeistern Conny Plank und Dieter Dierks mehr im vierten Kapitel. 312 Vgl. Zeppenfeld, Schallplatte, S. 80–121; Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 268; zur strukturbedingten Innovationsfeindlichkeit der bundesdeutschen Musikindustrie vgl. Nathaus, Amerikanisierung, S. 209.
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sik für ausländische Konzerne zunehmend interessant, eigene Zweigniederlassungen in der Bundesrepublik zu gründen – und auf den Vertrieb durch bundesdeutsche Unternehmen zu verzichten. Besonders die beiden US-amerikanischen Major Label Liberty und CBS, die schwedische Firma Metronome und mit Einschränkungen auch die niederländische Philips bedienten als erste den progressiven Markt in der Bundesrepublik.313 Sie waren es auch – und nicht etwa bundesdeutsche Labels – die sich den frühen Gruppen des Krautrock am Ende der 1960er Jahre annahmen. Erst später entstanden nach US- und britischem Vorbild »unabhängige« Labels, manche unter dem Dach, andere im Vertrieb größerer und global agierender Konzerne; dazu gehörten etwa die für den Krautrock zentralen Labels Ohr oder Brain. Die Zahl der »Indie«-Labels dieser Art nahm nicht zuletzt aufgrund der stilistischen Ausdifferenzierung der Popmusik, aber auch im Zuge der Professionalisierung im Laufe des Jahrzehnts schnell zu: 1977 gab es in der Bundesrepublik etwa 100 kleine Anbieter, die sich zusammen immerhin etwa 9% des rasch expandierenden Marktes teilten.314 Die Akteure des Krautrock und ihr Umfeld waren die ersten, die innerhalb der prekären Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Produktion und Distribution kreativ zu gestalten versuchten. In diesem Fall war das Aufbrechen überkommener Strukturen aus der Not geboren: sowohl der gesetzliche Rahmen als auch die wenig experimentierfreudigen Schallplattenfirmen lieferten denkbar schlechte Grundvoraussetzungen. Erstaunlich ist die später dem Krautrock auf transnationaler Ebene entgegengebrachte Aufmerksamkeit auch deswegen, weil etablierte, professionelle Strukturen für Produktion und Distribution progressiver Popmusik in der Bundesrepublik zunächst weitgehend fehlten. Die ersten Verträge wurden überwiegend über Niederlassungen ausländischer Konzerne abgeschlossen: Amon Düül II, Popol Vuh und Can erhielten am Ende der 1960er Jahre erste professionelle Verträge bei dem bundesdeutschen Zweig der US-amerikanischen Firma Liberty Records; die entscheidende Persönlichkeit hinter der Akquirierung war der Leiter der bundesdeutschen Niederlassung von Liberty, Siegfried E. Loch.315 Loch galt als einer der „bright young men“316 der bundesdeutschen Musikindustrie. Als einer der Newcomer des neuen Managementtypus nach US313 Vgl. Siegfried, Time, S. 626; auch Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, S. 272. 314 Vgl. Zeppenfeld, Schallplatte, S. 127. 315 Gerhard Augustin wies Mitte 1974 darauf hin, dass es die US-amerikanische Firma Liberty war, die die ersten Krautrock-Gruppen unter Vertrag genommen habe; die Richtigkeit der Entscheidung für bundesdeutsche Popmusik hätten dabei die Verkäufe im Ausland bestätigt, nicht der Binnenmarkt, vgl. Gerhard Augustin im Fachblatt 06.05.1974. Zur Biographie Siggi E. Lochs vgl. die Webseite seines aktuellen Labels ACT Music: https://www.actmusic.com/ [18.05.2015]; auch Siegfried, Time, S. 210 und 641f. 316 Stereo Nr. 29/1976; vgl. dazu auch Der Musikmarkt 01.12.1970.
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amerikanischem Vorbild führte er ein junges Team mit flachen Hierarchien, bewegte sich möglichst nah an der Szene, förderte Außenseiter und Innovationen »von den Rändern« und ließ den Künstlern weitgehende Autonomie. Den »kommerziellen« Charakter der Popmusik versuchte er angesichts des stark konsumkritischen Zeitgeistes zu relativieren, „indem er Bedeutungsebenen ernst nahm, die Künstler und Rezipienten ihr zuordneten: Rebellion, Authentizität, Glaubwürdigkeit“317. Loch hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine mehrjährige Karriere hinter sich: Ab 1962 arbeitet er als Produzent und Manager im Bereich des Jazz; immer auch an Trends jenseits des Genres interessiert, war er ab Mitte der 1960er Jahre regelmäßiger Besucher des für die Entwicklung der Popmusik in der Bundesrepublik so entscheidenden Hamburger Star Clubs. Das Konzept überzeugte ihn, nicht zuletzt produzierte er auch für das Label Starclub Records.318 1967 wurde er als „Mann der ersten Stunde“319 Gründungsdirektor von Liberty Records in der Bundesrepublik; in dieser Funktion war er Ende des Jahrzehnts hauptverantwortlich für die Verträge mit den genannten Gruppen des Krautrock. Seit spätestens den frühen 1970er Jahren war Loch eine feste Größe in der westdeutschen und internationalen Schallplattenindustrie: Ende November 1970 verließ er Liberty und baute als Hauptverantwortlicher die bundesdeutsche Niederlassung von Kinney Music (ab 1972 WEA) mit auf,320 Mitte 1975 wurde Loch zum Vizepräsidenten der WEA International,321 später Generalbevollmächtigter von Warner Music, 1983 schließlich Präsident von WEA Europe. Beworben wurden Can und Amon Düül II bei Liberty – zu dieser Zeit durchaus ungewöhnlich – gleichberechtigt neben britischen und US-amerikanischen Gruppen. 1970 beispielsweise waren sie Teil einer groß angelegten Marketing-Aktion namens »Electric Rock – Idee 2000«, einer Sammlung progressiver Popmusik auf dem Label Liberty, durch die „Aufmerksamkeit einer größeren Käuferschicht auf bisher unbekannte Klänge und neue Musikformationen“322 gelenkt werden sollte. Auf die bundesdeutschen Vertreter war das Label dabei „besonders stolz“323. Das Vertrauen zahlte sich aus: Anfang 1973 verkündete der Nachfolger Lochs als Geschäftsführer des seit 1971 mit United Artists zu einem Label verschmolzenen Liberty/United Artists, dass besonders die hauseigene Sparte »German Pop« – dazu 317 Siegfried, Time, S. 642. 318 Vgl. Der Musikmarkt Nr. 20/1972. 319 Der Musikmarkt 01.10.1970. 320 Vgl. dazu Der Musikmarkt 15.10.1970. 321 Vgl. Musikinformation 6/1975. 322 Der Musikmarkt 15.05.1970; „die Idee bekam einen Namen, der so zündend progressiv sein soll, wie das, was unter ihm angeboten wird,“ so ebd.; vgl. auch Musikinformation 9/1970. 323 Der Musikmarkt 15.05.1970.
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gehörten vor allem die beiden Gruppen Amon Düül II und Can – aus Sicht des Labels alle Erwartungen übertroffen habe.324 Der Erfolg von Can und Amon Düül II im europäischen Ausland, der wesentlich dazu beigetragen hatte, war dabei zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Tatsache zurückzuführen, dass ihre Tonträger über die Strukturen eines global agierenden Konzerns vertrieben werden konnten und so vor Ort nicht nur als teure, schwer beziehbare Importe verfügbar, sondern einfach im gängigen Handel zu erhalten waren. Mitte der 1970er Jahre verließen sowohl Can als auch Amon Düül II das Label Liberty/United Artists, Popol Vuh waren bereits 1971 nach dem ersten Album zu Rolf-Ulrich Kaisers Pilz gewechselt. „Wir wissen, dass der Markt zur Zeit mit sogenannten progressiven Produktionen überschwemmt wird. Trotzdem haben wir uns bei unserem »Brain«-Vorhaben nicht beirren lassen“325, so Manager Günter Körber anlässlich der Eröffnung »seines« Labels Brain Anfang 1972. Brain entwickelte sich schnell zu einem der zentralen Label des Krautrock; unter dem Dach der Metronome gegründet, wurde als Ziel „kein Minderheitenprogramm, sondern neue Entwicklungen der »Contemporary Music« auf gangbaren Wegen“326 ausgegeben – die Vermittlung progressiver Popmusik in die Breite der Gesellschaft. Das Konzept ging auf. Als »goldene Ära« von Brain gelten insbesondere die frühen Jahre 1972 bis 1976, als insgesamt 58 Alben aus bundesdeutscher Produktion veröffentlicht wurden: darunter etwa von NEU!, Embryo, Tangerine Dream und Edgar Froese, Klaus Schulze, Popol Vuh, Kraan, Cluster, Harmonia oder Guru Guru. Dabei war über Jahre die Zusammenarbeit mit Tonmeister Conny Plank besonders eng, der nicht nur bei einer Vielzahl der Interpreten als Tonmeister (bzw. Produzent) fungierte, sondern dem Label auch fertige Produktionen als production deal zum Kauf anbot. Ab etwa Mitte 1975 warb Brain mit dem stark an Rolf-Ulrich Kaisers Ohr erinnernden Slogan „Kopf hoch – Ohren auf!“327, der – gewollt oder nicht – signalisierte, dass einige Gruppen und Interpreten des implodierten Kaiser-Imperiums (dazu gleich mehr) bei Brain eine neue Heimat fanden. Anfang 1976 war Brain „zum größten deutschen RockLabel“328 geworden; zum Zeitpunkt des fünfjährigen Jubiläum Anfang 1977 hatte 324 Vgl. Der Musikmarkt Nr. 2/1973. 325 Der Musikmarkt Nr. 4/1972. 326 Der Musikmarkt Nr. 10/1972. Metronome wurde Anfang der 1960er Jahre in Hamburg als Verkaufsbüro gegründet. Mit finanzieller Unterstützung durch Investoren aus Schweden und Dänemark etablierte sich Metronome bis Ende der 1960er Jahre besonders über den Vertrieb US-amerikanischer Produkte. Als die US-Firmen eigene Niederlassungen in der Bundesrepublik gründeten, kam Metronome in finanzielle Schwierigkeiten. Durch Umstrukturierungen wurde die Firma bis Mitte der 1970er Jahre wieder saniert, vgl. Der Musikmarkt 01.01.1977 und Billboard 03.12.1977. 327 Vgl. Musikinformation 9/1975. 328 Musikinformation 4/1976.
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Brain eine Million Tonträger verkauft, das „Geschäft mit einem Experiment aus dem Underground“329 schien geglückt. Dabei konnte man jedoch, auch mit dem Vertrieb von Metronome im Rücken, nicht mit den großen, global agierenden Major Labels mithalten. Nach Günter Ehnert, Mitte der 1970er Jahre Presse- und Promotionschef, hatte Metronome von vornherein sehr viel geringere Umsatzerwartungen als große Konzerne. Etwa 5.000 verkaufte Einheiten eines Albums reichten, so Ehnert, um die möglichst niedrig gehaltenen Unkosten zu decken – ausgenommen production deals, in diesem Fall läge die Mindestzahl niedriger. Das hatte direkte Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Interpreten. Unternehmungen wie Tourneen durch die Vereinigten Staaten waren unter diesen Umständen unmöglich, selbst eine Buchung der Interpreten Brains als Vorband einer kommerziell erfolgreichen Gruppe im Inland stellte sich bereits als schwierig heraus. Neben der fehlenden Größe des Unternehmens spielten nach Aussage der Protagonisten vor allem die strukturellen Defizite der Bundesrepublik eine entscheidende Rolle: „Unter dem Management-Problem leiden wir besonders“330, so Ehnert 1976. Die Metronome war bereits vor Gründung von Brain im Zusammenhang mit Krautrock in Erscheinung getreten. Über die Vermittlung Peter Meisels, mit der in West-Berlin ansässigen Hansa Musikproduktion Inhaber der „bekanntesten unabhängigen Produktionsfirma in Deutschland“331, war dort 1969 das Album Psychedelic Underground von Amon Düül erschienen. Meisel war an dem Album auch als Produzent beteiligt. Auf Hansa erschien im selben Jahr Xhol Caravans Album Electrip, auf dem Cover wurde Meisel als »Performer« angeführt – was auch immer das genau bedeuten sollte. Von dem Potential der aufkommenden bundesdeutschen Musikszene überzeugt, ging Meisel „unter dem Einfluß der amerikanischen Hippie-Bewegung, mit den ersten Drogenerfahrungen und unter dem Eindruck der immer progressiver werdenden Rockmusik“332 – so die Firmenchronik – 1970 eine Partnerschaft mit Rolf-Ulrich Kaiser ein. Die von beiden initiierte Ohr Musikproduktion GmbH, unter deren Dach bis 1973 die drei Labels Ohr, Pilz und Kosmische Kuriere firmierten, wurde zum schillerndsten und retrospektiv geradezu sagenumwobenen Verbreitungsorgan des Krautrock. Als erstes Label der Ohr Musikproduktion wurde Ohr im Frühjahr 1970 im Vertrieb der Metronome gegründet.333 Die Geschäftsräume befanden sich an exponier329 Musikinformation 6/1977. 330 Sounds 6/1976. 331 Nathaus, Amerikanisierung, S. 208f. 332 Eidam/Schröder, Hit-Fabrik, S. 228. 333 „Peter Meisel, Chef der Hansa-Gruppe in Berlin, hat ein drittes Ohr“, so Der Musikmarkt 15.05.1970; die Gründung wurde breit rezipiert, vgl. etwa Stern 22/1970; Frankfurter Rundschau 18.07.1970; Süddeutsche Zeitung, 8./9.08.1970.
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ter Stelle im Europa Center am West-Berliner Breitscheidplatz. „Für mein Programm suche ich mir Musik, mit der ich kommunizieren kann, Musik mit und ohne Text, die uns das Hören lehrt, uns in Trips miteinbezieht, und fragt“334, so RolfUlrich Kaiser zur Gründung des Labels. „Es gibt keine stilistischen Grenzen. […] Leute, die mit ihren neuen Ideen was bewirken wollen, haben bei uns die Möglichkeit, nicht nur ernst genommen zu werden, sondern auch Mittel zur Realisierung zu bekommen.“ Kaiser steckte damit das Programm des neuen Labels ab: es sollte aus Neuartigem und Anspruchsvollem bestehen, den Interpreten sollte größtmögliche künstlerische Freiheit garantiert werden, und die gemeinsame Arbeit sollte die künstlerische Entwicklung nachhaltig fördern.335 „Es muß doch auch in Deutschland musikalisch etwas Neues passieren“336, bekräftigte der Partner und Geldgeber Peter Meisel, „wir müssen einmal zeigen, daß die Bundesrepublik keine Provinz ist. Leute, die Ideen haben, sollen bei uns die Möglichkeit bekommen, ihre Musik zu realisieren.“ Rolf-Ulrich Kaiser gilt retrospektiv als „eine der schillerndsten Figuren der an derartigen Gestalten nicht eben armen Gegenkultur“337 und „seiner Zeit weit voraus“338. Der studierte Germanist, Soziologe und Theaterwissenschaftler begann seine Kariere Mitte der 1960er Jahre als freier Autor, schrieb unter anderem für die Zeitschriften Song und Sounds, aber etwa auch für die akademische Zeitschrift Deutsche Jugend sowie zahlreiche Tageszeitungen; später veröffentlichte er eine Reihe von Monographien und Sammelbänden und wurde so „zu einem der eifrigsten publizistischen Vertreter der neuen Popmusik“339. Die wichtigsten Inspirationsquellen und zentralen Referenzpunkte von »RUK-ZUK«, wie Rolf-Ulrich Kaiser entsprechend seiner Initialen und aufgrund seiner vielfältigen Aktivitäten mitunter genannt wurde,340 waren das Vereinigte Königreich und die USA. Er unternahm eine Vielzahl von Reisen in beide Länder; 1967 etwa besuchte er das NewportFestival, ein prägendes Unterfangen, die über ihn als Multiplikator enorme Auswir334 Rolf-Ulrich Kaiser, zitiert nach Layer, Klaus Schulze, S. 14. 335 Sehr ausführlich dazu Kaiser in Der Musikmarkt Nr. 12/1971; vgl. auch Musikinformation 7(?)/1972. 336 Der Musikmarkt 15.05.1970. 337 Siegfried, Time, S. 601. 338 Augustin, Pate, S. 87; auch bereits Schröder, Rock, S. 20–22; Layer, Kaiser, S. 84. Layers Artikel entstand nach einem Gespräch mit Teilen von Kaisers ehemals engsten Umfeld Tom Schröder, Reinhard Hippen und Martin Degenhardt; zu Kaiser vgl. zudem Husslein, Kaiser, S. 55–71; nicht zuletzt die jüngsten Radiosendungen zu Kaisers 70. Geburtstag wie Klangvisionär (SWR, 2013); auch Godfather of Kraut (WDR 3, 2013). Archivalisches im Kabarettarchiv Mainz, v.a. Bestand LN V 1. 339 Husslein, Kaiser, S. 56f. 340 Vgl. Layer, Kaiser, S. 84; auch Neitzert, Kaiser.
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kungen auf die bundesdeutsche Gegenkultur und »neue« Popmusik hatte.341 Als „der Kenner der US-Musik-szene“342 führte Kaiser auf seinen zahlreichen Reisen etwa Gespräche und Interviews mit prägenden Akteuren wie The Fugs, Frank Zappa, Joan Baez oder Pete Seeger, mit Andy Warhol und Bill Graham, mit Joe McDonald und Jerry Garcia. Kaisers Mission war die Verbreitung der »neuen« Popmusik, um „das Bewusstsein der Massen zu verändern“343. Der Benjaminschen Linie innerhalb der Gegenkultur folgend war der „hip capitalist“344 Kaiser davon überzeugt, sich Kommerz und die Kulturindustrie für die Verbreitung des »rebellischen Kerns« von Popmusik zu Nutze machen zu können; die durch ihn forcierte Bereitstellung der »Produktionsmittel« innerhalb der Gegenkultur sollte Möglichkeiten der Verbreitung schaffen und den politischen Aspekt der »neuen« Kultur bewahren. Im Zentrum seines Schaffens stand die Verbindung von experimenteller Ästhetik und linker Politik, die er zugleich theoretisch zu begründen versuchte: „Kein anderer Akteur der westdeutschen Gegenkultur verband Reflexion über die neuen Trends derart früh und effektiv mit der Produktion popkulturellen Materials. Dadurch war er einerseits Avantgardist, erschien aber andererseits als Opportunist, der eine neue Massenbewegung in klingende Münze umzusetzen verstand.“345 Im Juni 1970 erfolgte die offizielle Präsentation der ersten fünf Alben des Labels Ohr.346 Der Slogan »Macht das Ohr auf!«, die Bild-Zeitung mit ihrem auf das Brandenburger Tor bezogenen Spruch »Macht das Tor auf!« persiflierend, erwies sich als geschickter und Aufsehen erregender Werbecoup.347 Auch die graphische Gestaltung des Logos sowie der Cover der veröffentlichten Alben – maßgeblich geprägt von Reinhard Hippen – waren in dieser Form in der Bundesrepublik neuartig und wurde zu einem wesentlichen Aushängeschild; Ohr galt erstes bundesdeutsches Label, das Pop-Art und die Ästhetik der Popmusik konsequent miteinander verband.348 341 Von der Reise berichtete Kaiser in der Wochenzeitung Die Zeit am 18.08.1967; unmittelbar anschließend begann er daran angelehnt die Essener Songtage zu initiieren. 342 Mahnert/Stürmer, Songtage, S. 52. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu auch Kaisers Artikel und die Einführung seiner Person im US-amerikanischen Sing Out!-Magazin 1967, vgl. Kaiser, Burg Waldeck. 343 Siegfried, Protest am Markt, S. 57. 344 Brown, Global Sixties, S. 191. 345 Siegfried, Time, S. 601; zeitgenössisch vgl. Hoffmann, Neue Popmusik, S. 209; prominent Der Spiegel 29/1970. 346 Vgl. Underground 6/1970; Musikinformation 7/1970. 347 Vgl. Layer, Kaiser, S. 90. 348 Vgl. Tom Schroeder in Underground 7/1970; besondere Beachtung fanden die den Alben beigefügten Luftballons – Kabarettarchiv Mainz, Bestand LK B 111 OHR.
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Abbildung 17: Kaiser 1968.
1971 gründeten Kaiser und Meisel unter dem Dach der Ohr Musikproduktion und mit dem Vertriebspartner BASF, der neu in das Musikgeschäft eingestiegen war, ein zweites Label namens Pilz. „Wir haben mittlerweile viele deutsche Gruppen unter Vertrag“, so Meisel zur Präsentation, so dass sich „ein neues Plattenlabel durchaus lohnt.“349 Da die stilistische Bandbreite nach Auffassung von Meisel und Kaiser durch ein einzelnes Label nicht mehr abgedeckt werden konnte, sollten nun zwei Labels für bestimmte Sparten des Programms betrieben werden. Die Ohr Musikproduktion hatte bei Gründung von Pilz bereits eine weitaus bessere Verhandlungsposition inne, die Initiative ging zudem von der BASF aus. Eine Folge waren wesentlich bessere finanzielle Rahmenbedingungen: Höhere Vorschüsse ermöglichten die Förderung von mehr Gruppen und eine gezieltere Promotion, und auch die BASF selbst unternahm immer wieder umfangreiche Werbekampagnen für Pilz.350 Eine Kehrseite war, dass die ursprüngliche Konzeption eines vollkommen stilunabhängigen Labels und Produktion wie Vertrieb aller Interpreten »unter einem Dach« damit aufgegeben wurde. Bei vielen Musikern riefen die Labels der Ohr Musikproduktion zunächst große Hoffnungen und Erwartungen hervor, weil zum ersten Mal vergleichsweise unabhängige, und trotzdem professionell strukturierte Möglichkeiten zur Veröffentlichung »progressiver« Popmusik geschaffen worden waren. Für viele Gruppen und Interpreten boten Kaisers Label finanzielle, technische und distributive Möglichkeiten, die sie sonst mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gehabt hätten. 349 Zitiert nach Pop Nr. 12/1971. 350 Vgl. etwa Der Musikmarkt Nr. 10/1972.
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Abbildung 18: Werbeanzeige von Ohr und Pilz 1972.
Auf Ohr und Pilz veröffentlichten unter anderem Embryo, Guru Guru, Tangerine Dream, Amon Düül, Ash Ra Tempel, Xhol, Witthüser & Westrupp und Klaus Schulze. Die regelmäßig in etwa zweiwöchentlichem Rhythmus erscheinenden Pressemitteilungen Kaisers, die er an die Medien und andere Multiplikatoren im gesamten Bundesgebiet und darüber hinaus verschickte, stellten eine neue Stufe der Vermarktung von Popmusik in der Bundesrepublik dar. Der »Informationsdienst« des Hauses Ohr Musikproduktion veröffentlichte seine Pressemitteilungen unter dem Namen deutsche popszene. Informationen über Pop-Geschäft und Pop-Musik versehen mit Pressespiegeln, Nachrichten, Geschichten und Interviews rund um alle bei Ohr und Pilz unter Vertrag stehenden Gruppen und Interpreten. „So stark stieg noch keiner ein“351, staunte etwa der Journalist und langjährige Weggefährte Kaisers, Tom Schroeder. Die Tonträger verkauften sich gut, 1972 waren insgesamt etwa eine Viertelmillion abgesetzt worden; zunehmende Anfragen ließen auf steigendes Interesse im Ausland hoffen.352 Zum zweijährigen Bestehen Mitte 1972 war auch ein neuer Höhepunkt der medialen Aufmerksamkeit erreicht; Ende 1972 und Anfang 1973 berichteten etwa die Branchenzeitungen der Musikindustrie in fast jeder Ausgabe über
351 Tom Schroeder in Underground 7/1970. 352 Vgl. Der Musikmarkt Nr. 12/1972, Nr. 13/1972 und Nr. 1/1973; auch Musikinformation 7(?)/1972.
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die neuesten Entwicklungen der Ohr Musikproduktion. „Die einfachste Form der Information ist die Biografie einer Band, von der man eine Platte verkauft. Die kompliziertere, wenngleich erfolgreichere, ist der Aufbau eines Images der Band durch Aktionen, Storys, Fotos, Plakate, spezielle Werbemittel“353, fasste Kaiser seine Strategie zusammen. Und er perfektionierte diese Strategie auf eine in der Bundesrepublik bisher ungekannte Art und Weise. So hätte Kaiser zu Beginn der 1970er Jahre allgemein und aus gutem Grund als höchst erfolgreicher Macher und wesentlicher Initiator bundesdeutscher Popkultur dargestellt werden können; in der medialen Berichterstattung war allerdings überwiegend das Gegenteil der Fall. So wie die oft wiederholte These im Hinblick auf Krautrock, der »Prophet sei im eigenen Land nichts wert« gewesen, in dieser Pauschalität sicher nicht stimmt: Auf Kaiser trifft sie weitgehend zu. Bereits mit seinem Engagement für die Internationalen Essener Songtage 1968 hatte er sich Feinde geschaffen, und sie wurde mit zunehmenden Erfolg und der enormen Medienpräsenz nicht weniger. Dabei spielte etwa Der Spiegel eine wichtige Rolle, in dem ein Intimfeind Kaisers, dort seit 1968 Redakteur, dessen Aktivitäten und die »seiner« Interpreten mit einer fast ausnahmslos diffamierenden und abschätzigen Berichterstattung begleitete; zum Anlass der Gründung der Ohr Musikproduktion etwa wurde Kaiser zum wiederholten Male schlicht jegliche Sachkenntnis abgesprochen und opportunistische Geschäftemacherei als alleiniger Beweggrund unterstellt, quasi »nebenbei« alle bei Ohr veröffentlichenden Gruppen zu Dilettanten erklärt.354 Die Alternativpresse nahm Kaiser von der anderen Seite unter Beschuss: Ohr arbeite „zu fast kriminellen Bedingungen“355, so etwa das Periodikum Germania; die beauftragten Tonstudios seien von ebenso schlechter Qualität wie die produzierten Tonträger, und es könne jeder Gruppe nur abgeraten werden, dort zu produzieren. In der Musikzeitschrift Sounds wiederum wurde Kaiser wahlweise Naivität oder Gewissenlosigkeit unterstellt.356 Symptomatisch für die Auseinandersetzungen war eine Szene in einer WDRTalkshow Ende 1971, in der Kaiser von Nikel Pallat (Ton Steine Scherben) scharf attackiert wurde, weil er mit der „Kapitalistensau“357 Meisel zusammenarbeite. Kaisers angesichts der aggressiv vorgebrachten Beschuldigungen erstaunlich ruhige und beherrschte Argumentation wurde von Pallat medienwirksam beendet, indem dieser mit einer mitgebrachten Axt begann, auf den Tisch des Studios einzuschlagen. Pallats Auftritt ist bis heute ein viel beachtetes Kuriosum bundesdeutscher TVGeschichte. 353 Kaiser, Rock-Zeit, S. 182. 354 Vgl. Der Spiegel 29/1970. 355 Germania Nr. 1/1971. 356 Vgl. Sounds 11/1970 und Sounds 2/1971. 357 Nikel Pallat in Pop und Co – Die andere Musik zwischen Protest und Markt: Ende Offen (D 1971).
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Abbildung 19: Etiketten von Ohr und Pilz.
Ende 1972 zeigte auch das Wohlwollen der Branchenblätter gegenüber Kaiser erste Risse. Eine aufwendige, mehrtägige Werbeveranstaltung des Labels Pilz hatte nicht die von den Beteiligten gewünschte Wirkung. Die zahlreichen Berichte verwiesen unisono auf „provinzielle[…] Schwierigkeiten“358: Logistische Probleme, wahrscheinlich auch mangelhafte Planung hatten die Werbeveranstaltung Kaisers, zu der eine Reihe von Journalisten großer Tageszeitungen und Fachmagazine eingeladen waren, zu einem Fiasko werden lassen. „Ein in mühevoller Kleinarbeit geschaffener Glorienschein zerriß angesichts nüchterner Realität“359, meinte beispielsweise Der Musikmarkt. Die Ursachen für das Scheitern wurden zwar zumindest teilweise auch im „System“360 der Bundesrepublik, besonders im Verbot professionellen Managements gesucht; in der Tat zeigte die Veranstaltung kondensiert die strukturellen Defizite der bundesdeutschen Popmusiklandschaft auf. Trotzdem: der Nimbus Kaisers begann auch unter Wohlwollenden zu bröckeln. Dementsprechend waren auch die Reaktionen, als Kaiser zusammen mit Meisel Anfang 1973 unter dem Dach der Ohr Musikproduktion GmbH ein drittes Label gründete. Kosmische Kuriere sollte künftig die Kosmische Musik des Hauses vertreiben, so Kaiser.361 Die ersten beiden Alben beinhalteten die Aufnahmen von einer Reihe von Ohr-Musikern zusammen mit Timothy Leary sowie Sergius Golowin: Seven Up und Lord Krishna Von Goloka. Die durchaus als feindselig zu bezeichnende Haltung, die große Teile der Medien bereits in den Jahren zuvor gegenüber Kaiser gezeigt hatten, erreichte angesichts der zunehmend esoterischen, von psychedelischen Erlebnissen beeinflussten Ausführungen Kaisers neue Höhen. Als er verkündete, Kosmische Kuriere sollte „nicht ein weiteres Poplabel für Popgrup358 Der Musikmarkt 21/1972; vgl. auch Süddeutsche Zeitung am 28./29.10.1972. 359 Der Musikmarkt 21/1972. 360 Ebd. 361 Vgl. Musik Express 3/1973; Der Musikmarkt 4/1973; Der Spiegel 7/1973.
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pen und Solostars werden, sondern eine Art Schallplattenlabel der Magier und Alchimisten, der Philosophen und Psychologen“362, urteilte etwa das Fachblatt symptomatisch: „Ein neues Label mit alten Gesichtern schneit uns ins Haus […], mit den hinlänglich bekannten überflippten Spruchromanen […] Blah, Blah, Blah.“363 Bereits wenige Monate nach Gründung des Labels trennte sich Peter Meisel von Kaiser. Die Trennung erfolgte in der öffentlichen Darstellung »in beiderseitigem Einvernehmen«, dürfte aber seitens Meisel „ohne große Sentimentalitäten“364 vonstattengegangen sein. Meisel attestierte Kaiser zumindest öffentlich, dass er „mit seiner Begeisterung für die Sache im Laufe der Zeit in der Lage ist, zum Erfolg zu kommen“365, fügte jedoch hinzu, dass für diese Art von Musik nach seiner Einschätzung „noch keine breite Basis da“ sei. Kaiser sah das vollkommen anders: „Jetzt ist das keine Avantgarde mehr, […] wir machen jetzt einen Sound auch für das breite Publikum“366. Kaiser hatte große Pläne und wollte dafür „eine Reihe neuer Leute“ für seine Labels gewinnen. „Wir haben drei Jahre lang Journalisten und Fans deutsche Rockmusik gepredigt. Jetzt sind unsere Gruppen international. Die Aufbauphase ist abgeschlossen. Der Flug geht los.“
Kaiser übernahm die Ohr Musikproduktion und mit ihr die beiden Labels Ohr und Kosmische Kuriere zusammen mit seiner Partnerin Gille Lettmann. Das Label Pilz sollte auslaufen, nach dem Ausstieg der BASF waren dort keine weiteren Veröffentlichungen mehr vorgesehen. Der Vertrieb von Ohr und Kosmische Kuriere erfolgte weiterhin über die Hamburger Metronome, mit der sich Kaiser zunächst auf eine Vertragsverlängerung einigen konnte. Bereits wenige Monate nach Gründung des Labels Kosmische Kuriere kam es zu heftigen, öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und einigen seiner Musiker, die von den sowieso skeptischen Medien genüsslich ausgebreitet wurden: „Krach bei Kaiser“367, „Ohrenschmerzen & Pilzvergiftung“368, „Rebellion im Kaiser-Kosmos“369 – die Betitelungen der langen Berichte und Reportagen waren durchaus fantasievoll.370
362 Zitiert nach Der Musikmarkt 4/1973. 363 Fachblatt 04.03.1973. 364 Siegfried, Time, S. 622. 365 Der Musikmarkt 01.07.1973. 366 Dieses und die folgenden Zitate des Absatzes vgl. Der Musikmarkt 01.07.1973. 367 Fachblatt 09.08.1973. 368 Sounds 9/1973. 369 Musik Express 10/1973. 370 Vgl. als vergleichsweise nüchterner Überblick auch Der Musikmarkt 01.09.1973.
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Abbildung 20: Ausschnitt einer Pressemitteilung der Kosmischen Kuriere.
Vor den Augen der Öffentlichkeit entblätterte sich eine bizarre Geschichte um angeblichen Betrug, vermeintliche Intrigen, tatsächlichen Konsum psychedelischer Rausmittel und gekränkte Eitelkeiten. Der Wahrheitsgehalt einzelner Vorwürfe und Darstellungen lässt sich nicht rekonstruieren; auch eine zeitgenössische Befragung mehrerer Interpreten durch den Musik Express brachte sehr unterschiedliche Auffassungen und Wahrnehmungen zu Tage. Ash Ra Tempel beispielsweise fühlten sich bei der Ohr Musikproduktion gut aufgehoben, insbesondere aufgrund seines enormen Einsatzes und seines ihrer Ansicht nach ehrlichen Interesses für die Musik. Auch Jürgen Dollases Wallenstein und die Polit-Rock Gruppe Floh de Cologne hatten in dieser Befragung an der Arbeit Kaisers nichts auszusetzen. Probleme brachte hingegen Popol Vuhs Florian Fricke vor, der sich etwa über eine unseriöse Werbung und auch über ungenügende Leistungen seitens der Plattenfirma beschwerte. Besonders unzufrieden waren Klaus Schulze und Tangerine Dreams Edgar Froese, die Kaiser gefälschte Umsatzzahlen, „geplatzte Tourneen, geschäftsschädigende Werbemethoden und um verpatzte Auslandsgeschäfte“371 vorwarfen. Kaiser stritt die Vorwürfe ab: „Ich bin von keinem der beiden der Manager und habe mich daher in diese Sachen kaum eingemischt. Klausˈ [Schulze, A.S.] Tournee fiel aus, weil der Veranstalter unser zuerst vereinbartes Preisangebot wieder ausschlug und ihn linken wollte. Die England-Tour von T. Dream sollte durch sehr kleine Clubs mit minderwertiger Bezahlung in kleinkarierten Verhältnissen stattfinden, und das haben sie bestimmt nicht nötig. Ich bin auch sicher, dass die Plattenangebote, die bis jetzt noch zu niedrig liegen, in nächster Zeit stark erhöht werden. Unsere Werbemaßnahmen waren mit beiden abgesprochen.“372
371 Musik Express 10/1973. 372 Ebd.
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Ein Teil der bei Kaiser unter Vertrag stehenden Gruppen nahm ihn gegenüber den Vorwürfen in Schutz. Ash Ra Tempel beispielsweise stellten Unstimmigkeiten in der medial vermittelten Anklage gegen Kaiser fest und verwiesen auf die dubiose Rolle mehrerer Akteure im weiteren Umfeld: „Zum größten Teil entspringen die Anklagen Emotionen dreier eigentlich Unbeteiligter“373. Die klagenden Gruppen selbst seien noch bis vor kurzen mit dem, was sie Kaiser nun vorwarfen, selbst einverstanden gewesen. Vor allem der Vorwurf, Kaiser würde die Musiker zur Einnahme von psychoaktiven Rauschmitteln »zwingen«374 sei fadenscheinig; die jetzt anklagenden Musiker hätten die Rauschmittel freiwillig und gerne genommen. „Grundsätzlich“375 stellten Ash Ra Tempel fest: „Das soll keine Liebeserklärung für Kaiser sein. Uns ärgert nur, daß private Haß- und Rachegefühle öffentlich zu solch kleinkarierten Wortklaubereien führen.“ Wer sich über die Mechanismen der Musikindustrie echauffieren wolle, solle besser Helmut Salzingers Swinging Benjamin lesen. Die medialen Auseinandersetzungen um Kaiser und seine Ohr Musikproduktion schienen zunächst keine Auswirkungen auf seine geschäftlichen Aktivitäten zu haben. Im Oktober 1973, als in den Medien die Wellen besonders hoch schlugen, verkündete die Branchenpresse neue Aktivitäten Kaisers und eines seiner Vertriebspartner, der Metronome: „Die große Vertriebsaktion der Metronome für kosmische Musik auf dem Ohr-Label ist angelaufen.“376 Angesichts der in verschiedenen Medien ausgetragenen Fehden fühlte man sich in den Branchenblättern der Musikindustrie offenbar veranlasst, auf die bisherigen Verdienste Kaisers besonders hinzuweisen: Kaiser stehe „für einen Erdrutsch im deutschen Popgeschehen“377, so etwa Der Musikmarkt Ende 1973. „Galten vorher deutsche progressive Gruppen weder im eigenen Land, geschweige denn im Ausland nur ein Jota, vermochte Kaisers Trommelfeuer schlafendes Potential zu wecken. Alle deutschen SchallplattenHersteller, die etwas auf sich hielten, fühlten sich bemüßigt, ihre eigenen Labels zu kreieren, auf denen »Pop Made in Germany« ein Forum fand.“ Kaisers Initiative sei es in erster Linie zu verdanken, dass bundesdeutsche Popmusik „einen weltweiten guten Ruf erreicht“ habe. Skeptisch müsse man angesichts der Verkaufszahlen bleiben, denn „bleibt auch die Tatsache unbestritten, daß im Ausland manches Ohr aufgegangen ist, so wird der Erfolg von Musikern noch immer an dem gemessen, was sie abzusetzen vermögen.“ 373 Sounds 10/1973. In derselben Ausgabe ließen Kaiser und Lettmann über ihren Anwalt eine Gegendarstellung zu den in derselben Zeitschrift im Monat zuvor erhobenen Vorwürfen veröffentlichen. 374 Vgl. etwa Der Spiegel 40/1973. 375 Sounds 10/1973. 376 Der Musikmarkt 01.10.1973. 377 Der Musikmarkt 15.11.1973.
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Trotz dieser Rettungsversuche kam es Ende 1973 und Anfang 1974 zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Tangerine Dream und Klaus Schulze auf der einen, sowie der Ohr Musikproduktion auf der anderen Seite. Mit einstweiligen Verfügungen verhinderten die Musiker weitere Veröffentlichungen ihrer Aufnahmen. Ungeachtet dessen traten Kaiser und Lettmann Anfang 1974 mit ihrem Unternehmen Cosmic Music auf der MIDEM in Cannes auf und schlossen mehrere weltweite Export- und Vertriebsverträge ab.378 Ab 1974 spitzten sich aber auch die Auseinandersetzungen mit den bei Kaisers Ohr Musikproduktion verbliebenden Gruppen zu,379 und Ende des Jahres endeten die Geschäftstätigkeiten Kaisers. Gerichtliche Auseinandersetzungen zogen sich noch über Jahre hin; 1980 tauchte RolfUlrich Kaiser als Leiter der so genannten Cosmic News GmbH in Köln unter der Rubrik Services, Design & Artwork noch einmal in der US-amerikanischen Billboard auf.380 Wenig später verlor sich seine Spur. Zu diesem Zeitpunkt war die Meinung vieler seiner früheren Kontrahenten bereits umgeschlagen: Kaiser habe, so etwa Klaus Schulze, „schon nach amerikanischem Prinzip gearbeitet. Und wir haben es nicht begriffen. Wir waren in punkto Business irgendwo Einfaltspinsel und waren froh, eine Platte fertiggekriegt zu haben. Aber von Werbung und Promotion wußten wir nichts, weder von ihrer Bedeutung, noch wie sie funktioniert […]. Wenn Kaiser die Musik nicht promoted hätte, gäbe es sie heute wahrscheinlich gar nicht.“381
Die Gründe für Kaisers Scheitern lassen sich keinesfalls, wie oft kolportiert, eindimensional auf einen angeblichen »Absturz durch Drogen« reduzieren. Zum einen überforderte Kaisers „Alleinvertretungsanspruch in Sachen deutscher Popmusik“382 ihn nicht nur selbst, sondern bot auch eine breite Angriffsfläche für Konkurrenten ebenso wie für die radikale politische Linke. Die Tatsache, dass er sich so »laut« und über alle ihm zur Verfügung stehenden Kanäle für seine Sache engagierte, relativ jung war und selbst aus gegenkulturellem Umfeld stammte, machte ihn für viele suspekt und angreifbar. Sein zentraler Anspruch, mit der Verbreitung der »neuen« Popmusik gesellschaftsverändernd wirken zu wollen, ließ sich in den Augen großer Teile der Gegenkultur nicht mit seinen Geschäftspraktiken und Geschäftspartnern wie Peter Meisel vereinbaren. Tatsache ist jedoch, dass „aus der Szene selbst niemand sonst derart effizient und massenwirksam die Ideen und künstlerischen Poten-
378 Vgl. Musikinformation 2/1974. 379 Vgl. etwa Der Musikmarkt 15.07.1974 und 01.08.1974. 380 Vgl. Billboard 26.04.1980. 381 Zitiert nach Schwinn (Hg.), Gratwanderung, S. 92. 382 Siegfried, Time, S. 622.
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tiale der Gegenkultur in aller Farbenpracht unter die Leute brachte“383. Für den Krautrock spielte Kaiser eine kaum zu überschätzende Rolle: „Rolf Ulrich Kaiser war – nicht nur für mich – eine Schlüsselfigur bzgl. Krautrock“384, so etwa Dieter Dierks rückblickend: „Er war der Visionär, der all diesen Musikern überhaupt erst die Möglichkeit bot, im Studio ihre Musik umzusetzen und sie dann einer nicht gerade freundlich gestimmten Industrie zu verkaufen! Außerdem war er auch journalistisch gesehen, ständig dabei, Krautrock zu propagieren, verständlich zu machen, die Message zu verbreiten. Rolf-Ulrich Kaiser ist der Pate des Krautrock.“
Mit dem Verschwinden Rolf-Ulrich Kaisers von der bundesdeutschen Pop-Bühne und dem Ende der Ohr Musikproduktion GmbH war der Höhepunkt des Phänomens Krautrock überschritten. Stilistisch differenzierte sich progressive bundesdeutsche Popmusik zunehmend aus, und auch die technologischen wie ökonomischen Rahmenbedingungen veränderten sich mit zunehmender Geschwindigkeit. Viele der Interpreten, die keinen Vertrag bei Major Labels erhielten, kamen bei einem der vielen Klein- und Kleinstlabels unter, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik gegründet wurden. Günter Körber etwa, der 1971 bei der Ohr Musikproduktion ausgestiegen war und das Label Brain aufgebaut hatte, gründete 1976 ein Unternehmen namens Sky.385 Das „junge deutsche Rocklabel“386 war auf die Präsentation zeitgenössischer bundesdeutscher Popmusik ausgerichtet und spielte in der Spätphase des Krautrock eine zentrale Rolle. Vertrieben wurden beispielsweise Cluster, auch deren Produktionen mit Brian Eno, aber auch Solo-Alben von Michael Rother und Hans-Joachim Roedelius sowie die Koproduktion von Dieter Moebius und Conny Plank. Zum dreijährigen Jubiläum des Labels im Jahr 1979 veröffentlichte Sky sein 20. Album, hatte insgesamt über 200.000 Einheiten verkauft und überschritt beim Umsatz erstmals die Millionengrenze.387 Gegen Ende der 1970er Jahre gingen einige Musiker des Krautrock auch andere Wege: Klaus Schulze beispielsweise gründete 1978 unter dem Namen IC (Innovative Communications) eine Synthesizer-Schule für Elektronik und Ästhetik, ein Studio für Audio- und VideoEquipment, und Mitte 1979 ein gleichnamiges Label im Vertrieb der WEA.388 Da-
383 Ebd., S. 623. 384 Dieter Dierks in einem schriftlichen Interview des Autors, erhalten am 4. April 2015. 385 Dazu etwa Billboard 03.12.1977. 386 Musiker Nr. 17/1978. 387 Musikinformation 1/1979. 388 Zu IC vgl. unter anderem Spotlight 12/1978; Der Musikmarkt 15.08.1979; Selbstbeschreibung der Klaus Schulze Productions, undatiert (ca. 1979), Klaus-Kuhnke-Archiv,
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für ließ er eine ehemalige Schule zum Firmensitz mit Gästezimmern und Büroräumen umbauen. Neben Klaus Schulzes eigenen Alben veröffentlichte auch Popol Vuh auf dem Label, prominent erschien das erste Album der West-Berliner NDWBand Ideal auf IC, Beispiel für das Involvement ehemaliger Protagonisten des Krautrock nach den 1970er Jahren. IC war für einige Jahre recht erfolgreich; andere Versuche von Protagonisten des Krautrock, eigene Labels zu gründen, endeten hingegen im finanziellen Desaster.389 Eine vollkommen andere Herangehensweise legte die Musikkooperative April an den Tag, die sich 1976 gründete. Ein Jahr später aus rechtlichen Gründen umbenannt in Schneeball, war das Label die erste gänzlich von Musikern finanzierte und organisierte Produktions- und Vertriebsgemeinschaft der Bundesrepublik. „Musiker produzieren und vertreiben ihre Platten selbst, ohne den Wasserkopf der Industrie“390, begeisterte sich Sounds. Gründungsmitglieder des Selbstvermarktungsnetzwerks (Motto: »Musik im Vertrieb der Musiker«) waren die Gruppen Ton Steine Scherben, Missus Beastly, Sparifankal und Embryo; Zeichnungsberechtigter wurde Julius Schittenhelm, der bereits zu Beginn der 1970er Jahre als Produzent früher Ohr-Alben in Erscheinung getreten war. Das Prinzip war so einfach wie bestechend: Jede Gruppe arbeitete und produzierte unabhängig und übernahm den Vertrieb der jeweils anderen Gruppen »im Austauschverfahren« mit, wobei die Bundesrepublik in vier »Zuständigkeitsbereiche« aufgeteilt wurde. »Kommerzielles« wurde auf ein Minimum beschränkt, spielte aber dennoch eine Rolle: „Die Basis muß einfach stimmen, anders geht es in unserem System leider nicht; [die] Grundeinstellung ist aber alternativ.“391 Betont wurden die künstlerische Freiheit, die Möglichkeit, ein Nischenprodukt anbieten und vielleicht etwas günstiger verkaufen zu können, vor allem aber auch die Kooperation „mit musikfremden alternativen Gruppen, wie zum Beispiel Landkommunen, unabhängigen Freakzeitungen, Jugendzentren […] es gibt auch schon viele ausländische Kontakte“. Zu verlieren gebe es nichts, denn „reich wollen wir sowieso nicht werden, wir wollen nur nach unseren Vorstellungen arbeiten und spielen können“. April bzw. Schneeball war Vorbild einer Reihe von Folgeprojekten und ein besonders frühes Beispiel einer „Alternativökonomie“392 innerhalb der Musikindustrie, inklusive der genannten Anknüpfungspunkte mit alternativen Gruppen von Landkommunen bis Jugendzentren. Sammlung Ehnert; Brief von Schulze an Günter Ehnert, 11.03.1979, Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert; zu IC vgl. auch Haring, Heimatklang, S. 123. 389 So zum Beispiel bereits 1974 die Dingerland Musik GmbH von Klaus Dinger, vgl. http://klausdinger.com/download/KlausDingerBiography.pdf [13.10.2013]; vgl. auch Esch, Electri_City. 390 Sounds 6/1976. 391 So Vertreter von April in einem Interview, zitiert nach ebd.; auch die folgenden Zitate. 392 Reichardt, Authentizität, S. 319.
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Zusammenfassend sollte deutlich geworden sein, dass auch das Phänomen Krautrock wie alle popmusikalischen, an Massenmedien und Massenkonsum gebundenen Phänomene ohne seinen industriellen Kontext nicht adäquat zu fassen und zu historisieren ist. In der Tat hat die eingangs gemachte, dreiteilige Periodisierung in eine Experimental-, eine Professionalisierungs- und eine Verstetigungsphase implizit mit den musikindustriellen Zusammenhängen zu tun. Es liegt auf der Hand, dass sich Krautrock auch deswegen stilistisch so vielfältig und frei entwickeln und damit seine spezifischen Charakteristika ausprägen konnte, weil die Situation in der Bundesrepublik zu Beginn des Jahrzehnts entscheidende Freiräume bereithielt. In festen und vorgegebenen Strukturen wären viele der heute für den Krautrock als grundlegend betrachteten Alben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erst gar nicht erschienen, hätten es Visionäre und Avantgardisten wie Rolf-Ulrich Kaiser sehr viel schwerer gehabt, ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen, wie es mit der Ohr Musikproduktion GmbH für einige Jahre gelang. Das gilt grundsätzlich auch für die beiden zentralen, ebenso visionären Produzenten Conny Plank und Dieter Dierks, von denen noch ausführlich die Rede sein wird. Andererseits, das wurde bereits erwähnt, stellten die fehlenden industriellen Strukturen und insbesondere das staatliche »Managementverbot« für die bundesdeutsche Popmusikszene ein großes Problem dar, dass auch gegenüber angloamerikanischen Gruppen und Interpreten zu starken Benachteiligungen führen konnte. Abhilfe schufen zunächst bundesdeutsche Niederlassungen US-amerikanische Major Labels, die experimenteller Popmusik aus der Bundesrepublik zu erster transnationaler Verbreitung verhalfen; auffallend ist, dass zunächst insbesondere diejenigen Interpreten des Krautrock transnational erfolgreich waren und Aufmerksamkeit erregten, die unter dem Dach eines global agierenden Konzerns vertrieben wurden. Eine zentrale Mittlerfunktion nahmen dabei so verschiedene Akteure wie Siegfried E. Loch oder Peter Meisel ein, die transnational geprägt waren, ihre berufliche Sozialisation zu einem großen Teil in den Vereinigten Staaten durchlaufen hatten. Sie führten angloamerikanische Methoden und Konzepte in die Bundesrepublik ein, entweder innerhalb nationaler Zweigstellen globaler Konzerne, oder in Form von Neugründungen. Auch Günter Körber arbeitete zunächst mit Meisel und Kaiser zusammen, bevor er als Macher der beiden zentralen Label Brain in Erscheinung trat. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kam es schließlich zu vermehrten Gründungen »unabhängiger« Klein- und Kleinstlabel, die meisten unter dem Dach großer Vertriebspartner wie etwa Körbers Sky oder Klaus Schulzes IC, manche eingebunden in die »Alternativökonomie« der neuen sozialen Bewegungen wie beispielsweise Schneeball.
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„S O APART FROM EVERYTHING I M V EREINIGTEN K ÖNIGREICH
WE ˈ VE EVER HEARD ”
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„If it is originality that people want, they should take a listen to some of the progressive music of Germany. Germanyˈs new music is independent of outside influences and is definitely pointing towards the future.“394 Leserbrief im New Musical Express, 1972 „Is the true sound of the decade coming from Germany? Certainly. […] a huge explosion of groups has happened over there in a way similar to the British growth period during the early sixties.“395 New Musical Express, 1975
Wie in anderen kontinentaleuropäischen Ländern gab es auch in der Bundesrepublik bereits seit den 1950er Jahren Gruppen und Interpreten, die angloamerikanische Popmusik imitierten und damit auf dem heimischen Markt kommerzielle Erfolge erzielen konnten. Außerhalb der Bundesrepublik fanden diese Imitate, oft versehen mit deutschsprachigen Texten, allerdings kaum Beachtung. Auch in der britischen Wahrnehmung traf Popmusik aus der Bundesrepublik auf kein nennenswertes Interesse. Der britische Markt war, so schien noch 1970 klar, ein „almost 100 per cent Anglo/American closed shop“396. Kurz darauf jedoch begann sich die Situation zu wandeln: Für wenige Jahre erlebte »progressive« Popmusik aus der Bundesrepublik enorme Aufmerksamkeit, avancierte für nicht wenige Rezipienten zu einem Synonym für Pop-Avantgarde. Dabei standen insbesondere (aber keinesfalls exklusiv) die Gruppen Amon Düül II, Can, Faust, und später die »Elektroniker« Tangerine Dream und Kraftwerk im Mittelpunkt des britischen Interesses. Sie wurden als die ersten Interpreten des Pop wahrgenommen, die außerhalb der angloamerikanischen Sphäre einen innovativen Beitrag zum popmusikalischen Idiom leisteten. Neben den im Detail nicht verlässlich zu rekonstruierenden Verkaufszahlen des Krautrock in Großbritannien ist auch hier insbesondere die mediale Aufmerksam-
393 Disc 01.07.1972. 394 Leserbrief im New Musical Express 16.09.1972, der von der Redaktion als originellster Leserbrief des Monats gekürt wurde. 395 New Musical Express 29.11.1975. 396 Sounds [GB], 24.10.1970.
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keit ein Gradmesser für die Wirkung, die das Phänomen entfaltete. Das Fernsehen spielte für die Popmusik auch im Vereinigten Königreich während der 1970er Jahre noch eine untergeordnete Rolle, die entscheidenden Räume des Pop-Diskurses waren Printmedien und Radiostationen. Im Detail bleiben bei einer Auswertung dieser Quellen (wie bei anderen Quellen auch) Fragen offen, die oft nicht eindeutig geklärt werden können: beispielsweise nach den jeweiligen Interessen und Motiven der Programmgestalter, Journalisten und Redakteure, nach der konkreten historischen Aussagekraft von Konzertberichten »durch die Brille« von Journalisten, oder auch nach der Auswahl der Leserbriefe – welche wurden veröffentlicht, welche nicht, warum? Nichtsdestotrotz, Tatsachen bleiben: die über Jahre und auf breiter Basis wiederholte Wahrnehmung des Krautrock als popmusikalische Innovation, seine Beurteilung als »Sound der Zukunft« bzw. »Zukunft der Popmusik«, eine schier unüberschaubare Masse an einschlägigen Berichten, Reportagen und Kritiken, eine Vielzahl von offenbar ausverkauften Konzertreihen – um nur einige Punkte zu nennen. Zunächst ein Blick auf die Medienlandschaft. Die britischen Printmedien für Popmusik wurden in den 1970er Jahren von mehreren wöchentlich erscheinenden Zeitungen (Pop Weeklies) mit einer Gesamtauflage von fast einer halben Million Exemplaren dominiert.397 Äußerlich unterschieden sie sich kaum, hatten einen Umfang von etwa 30 bis 40 Seiten pro Ausgabe, im Falle von Sonderberichten oder zu speziellen Anlässen mitunter auch mehr. Mit der beginnenden Ausdifferenzierung der Popmusik ab 1965 gerieten die Weeklies durch die wachsende Konkurrenz in Form von Fanzines und Underground-Publikationen für einige Jahre unter Druck, konnten sich jedoch letztendlich behaupten. Dabei reagierten sie auf die Herausforderungen »von unten« allesamt ähnlich: mit weitreichenden inhaltlichen und formalen Konzessionen, einer »Verjüngung« der Redaktionen und nicht zuletzt einer Übernahme von Teilen des Personals der konkurrierenden Alternativpresse. Im Gegensatz etwa zu den Vereinigten Staaten konnten sich die am Ende der 1960er Jahre entstandenen, alternativen Presseerzeugnisse für Popmusik und Populärkultur in Großbritannien letztendlich kaum durchsetzen, wirkten aber durch die partielle Übernahme ihrer Konzepte und Ideen sowie einzelner Akteure stark auf die Umstrukturierungen der auflagenstarken Marktführer zurück. Zu den im vorliegenden Zusammenhang zentralen Publikationen zählt der Melody Maker, der seit 1926 erschien und damit die traditionsreichste Zeitung für Populärmusik und Popkultur im Vereinigten Königreich war.398 Er berichtete seit seinen Anfängen über populäre Stilrichtungen wie Jazz, Folk oder Blues, blieb gegen397 Zur britischen Musikpresse der 1960er und 1970er Jahre vgl. zeitgenössisch Frith, Sociology, S. 139–152. 398 Der Melody Maker erschien zunächst noch als Periodikum des Jazz Age insbesondere für Musiker und Fachleute, vgl. Johnstone, Melody Maker, S. 8.
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über der »neuen« Popmusik ab Mitte der 1960er Jahre jedoch zunächst zurückhaltend. Nach einer Absatzkrise öffnete sich die Wochenzeitung ab 1968 mit einer verjüngten Redaktion den neuen Trends und widmete sich verstärkt Hintergrundberichten etwa über Musikgeschichte, Nachwuchsbands, Instrumententechnik bis hin zu technologischen Entwicklungen des Home Entertainment. Zu einem zentralen Teil des Melody Maker wurden ab Ende der 1960er Jahre vor allem auch Albumund Konzertkritiken der Popmusik, während andere populärmusikalische Stile wie Jazz, Folk und Blues zunehmend in den Hintergrund rückten. Mit den Veränderungen verdoppelte sich die Auflage zwischen 1968 und 1972 von 100.000 auf knapp 210.000 Stück, im Jahr 1971 ließ der Melody Maker damit zudem seinen größten Konkurrenten auf dem britischen Markt, den New Musical Express, hinter sich. Der New Musical Express (seit 1952) galt am Ende der 1960er Jahre als progressive Alternative zur eher konservativ ausgerichteten Konkurrenz und hatte sich wesentlich früher der »neuen« Popmusik geöffnet. Im Jahr 1971, nach den erfolgreichen Umstrukturierungen und der Erholung der Auflagenzahl des Melody Maker, geriet nun der New Musical Express zunehmend ins Hintertreffen; beide Publikationen teilten mit der formal besser gebildeten, kaufkräftigen, männlichen Mittelschicht dasselbe Zielpublikum.399 Als Folge der zunehmenden Konkurrenz halbierte sich die Auflage des New Musical Express von weit über 200.000 Stück im Jahr 1969 auf etwa 100.000 Stück im Jahr 1972. Erst nach einem Wechsel des Chefredakteurs und der Verjüngung großer Teile der Redaktion konnte er sich wieder stabilisieren. Dabei setzte sich die neue Redaktion zu großen Teilen aus ehemaligen Akteuren der Alternativpresse zusammen, wie etwa der britischen Oz und International Times (IT) oder der US-amerikanischen Musikzeitschrift Creem.400 Mit dem Redaktionswechsel gingen neben formalen auch große inhaltliche Veränderungen einher. Vor allem ein massiv ausgeweitetes, weit über Popmusik hinausreichendes populärkulturelles Themenspektrum prägten ab etwa 1972 das Blatt: Rubriken zu Film, Science-Fiction oder Comics fanden sich nun ebenso wie zu populärmusikalischen Genres wie Soul, Jazz oder Reggae. Der »ganzheitliche« Ansatz, der popkulturelle Interessen weit über Musik hinaus bedienen und der Ausdifferenzierung des Popmusikmarktes Rechnung tragen sollte, zeitigte Erfolg: Ab Mitte der 1970er Jahre war der New Musical Express mit einer Auflage von etwa 180.000 Stück wieder zur auflagenstärksten britischen Musikzeitung geworden. Nur ein Jahr jünger als der New Musical Express war der Record Mirror (seit 1953), dritter im Bunde der britischen Pop Weeklies. Er war seit Mitte der 1960er Jahre mit einem Fokus auf Charts und Stars im Gegensatz zu den beiden Erstgenannten eher an einem jüngeren Publikum orientiert, als erstes Weekly erschien er bereits ab 1963 in Farbe. Der Record Mirror erlebte seine auflagenstärkste Zeit in 399 Vgl. Frith, Sociology, S. 149f. 400 Vgl. Buckley, Kraftwerk, S. 74.
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den 1960er Jahren, bekam dann aber besonders durch die Konkurrenz neuer Hochglanz-Magazine für den Teenagermarkt zunehmend Probleme. Mitte der 1970er Jahre wurde die Zeitung mit der seit 1958 erscheinenden, inhaltlich ähnlich ausgerichteten Disc verschmolzen. Der neue Record Mirror & Disc erschien ab 1975 mit einer Startauflage von 111.000 Stück, weiterhin in bunter Aufmachung, mit herausnehmbaren Star-Postern, Single- und Album-Charts, einer News-Seite, die auf den Presseinformationen der Musikindustrie basierte, sowie Star-Interviews, SingleKritiken, bis hin zu Witz- und Astrologie-Seiten. Die 1970 aus der Taufe gehobene Wochenzeitung Sounds (nicht zu verwechseln mit der bundesdeutschen Publikation gleichen Namens) schließlich war mit einer Auflage von rund 80.000 Stück die kleinste der wöchentlichen Popmusikzeitungen der 1970er Jahre. Sie war aus eine redaktionellen Abspaltung des Melody Maker hervorgegangen, beide Periodika teilten gegen Ende der 1970er Jahre allerdings weiterhin dieselben Eigentümer.401 Dasselbe galt für den Melody Maker und den New Musical Express, in beiden Fällen blieben die jeweiligen Redaktionen jedoch zunächst eigenständig. Insgesamt präsentierte sich der Markt für Popzeitschriften in Großbritannien im Gegensatz zu anderen westlichen Industriestaaten im Laufe der 1960er und 1970er Jahre relativ konstant, Ende der 1970er Jahre dominierten dieselben wöchentlichen Titel den Markt wie zwei Jahrzehnte zuvor. Daneben gab es lediglich einige relativ kurzlebige Underground-Musikmagazine wie etwa ZigZag (ab 1969), die inhaltlich und äußerlich an den US-amerikanischen Periodika wie Crawdaddy!, Creem oder Rolling Stone orientiert war. Sie hatte etwas länger Bestand, erschien in den ersten Jahren ihres Bestehens schwarz-weiß und mit etwa 40 Seiten Umfang. Berichte über Bands und Interpreten wechselten ab mit ausführlichen Interviews, Fotos und Grafiken, Comics und Postern, über alternative Lebensstile, die neue »Drogenkultur« und psychedelische Kunst; im Zentrum stand angloamerikanischer Pop. Ab Dezember 1972 erschien ZigZag in Großformat als Zeitung, optisch wieder eher angelehnt an die Music Weeklies, jedoch nur um Mitte der 1970er Jahre erneut zu einem kleineren Format zurückzukehren. Für die britische Wahrnehmung des Krautrock spielten in erster Linie die beiden auflagenstärksten Weeklies, der Melody Maker und der New Musical Express, eine entscheidende Rolle; aber etwa auch Disc berichtete (insbesondere bis zu seiner Fusion mit dem Record Mirror) ausführlich über progressive bundesdeutsche Popmusik. Es erschienen Interviews mit Bands und Interpreten, Reportagen und Hintergrundberichte über einzelne Gruppen oder »die« bundesdeutsche PopmusikSzene, aber auch eine Vielzahl an Album-Kritiken oder Konzertberichten. Nicht zuletzt dienten die Weeklies der Musikindustrie insbesondere in Anbetracht ihrer hohen Auflagen und ihrer transnationalen Verbreitung als wichtige Werbeträger, Krautrock wurde über Jahre (nicht selten ganzseitig und in Farbe) beworben. 401 Vgl. Frith, Sociology, S. 139f.
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Der Beginn der Aufmerksamkeit lässt sich ziemlich genau datieren: „Things are certainly beginning to happen in Germany“402 befand der Melody Maker Ende Mai 1970, anlässlich der ersten Veröffentlichungen von Amon Düül II und Can, die als Produkte des global agierenden Konzerns Liberty auch im Vereinigten Königreich direkt (und nicht nur als teure Importe) erhältlich waren. Als sich dieselbe Zeitung etwa zwei Wochen später mit der Frage auseinandersetzte, woher angesichts des als wenig innovativ empfundenen Status Quo der nächste kreative Schub für die Popmusik („a new explosion, a new direction“403) kommen könne, spielten Amon Düül II und Can erneut eine zentrale Rolle.404 Die dort formulierten Zuschreibungen und Charakterisierungen erwiesen sich als langlebig und verfestigten sich in der folgenden Rezeption des Krautrocks zunehmend. Zunächst wurden die beiden Gruppen noch mit der US-amerikanischen Band Velvet Underground verglichen, zu diesem Zeitpunkt nicht zuletzt aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Andy Warhol Inbegriff der transnationalen Pop-Avantgarde: Der Sound Amon Düüls sei „frightingly intense“ und „fearsome stuff which has some connection with the Teutonic thumping of the great Velvet Underground“405, und auch Can „owe a debt to the Velvets through, specifically, the insane thrashing drums and the extraordinary guitar“. Der neben dem oft wiederkehrenden Vergleich mit Velvet Underground als »fearsome«, »insane« und »frightingly intense« charakterisierte Sound wurde in beiden Fällen als spezifisch »teutonische« Note der Musik identifiziert.406 Darüber wurde die musikalische Qualität Cans als „brilliant“ und „amazing“ hervorgehoben, nicht ohne einen Verweis auf deren Vergangenheit als ehemalige StockhausenSchüler und professionelle Jazz-Musiker. Diese Zuschreibungen und Charakterisierungen bildeten in den ersten Jahren das Grundgerüst der britischen KrautrockRezeption – wobei der Begriff »Krautrock« wie erwähnt noch lange nicht fiel. Die Alben von Amon Düül II wurden zu Beginn der 1970er Jahre fast ausnahmslos positiv rezensiert, umfangreiche Hintergrundartikel und ausführliche In-
402 Melody Maker, 30.05.1970. 403 Melody Maker, 13.06.1970. 404 Dabei kamen interessanterweise auch die „immensely high quality [und die] excellent musicians“ von Xhol Caravan zur Sprache, deren Veröffentlichungen in Großbritannien allerdings nicht (bzw. nur als teure Importe) erhältlich waren, vgl. Melody Maker, 13.06.1970. 405 Melody Maker, 13.06.1970; sehr ähnlich auch bereits in Melody Maker 30.05.1970; Irmin Schmidt bestätigte später den starken Einfluss von Velvet Underground, vgl. Melody Maker 27.01.1973. 406 Amon Düül II wehrten sich in der britischen Musikpresse wiederholt gegen die Charakterisierung ihrer Musik als spezifisch »teutonisch«, vgl. etwa Melody Maker 24.06.1972.
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terviews waren wesentliche Teile der breiten Berichterstattung.407 Ihre erste Tournee durch das Vereinigte Königreich fand im Sommer 1972 statt, und mit ihr stieg die Aufmerksamkeit für Amon Düül II noch einmal stark an.408 Weiterhin standen dabei die Neuartigkeit des Sounds im Zentrum; sie basiere, so der Tenor, auf einer Abkehr von den angloamerikanischen Gestaltungsprinzipien und einem Rückgriff auf die deutsche Musiktradition des 19. Jahrhunderts – oder was der Autor sich darunter vorstellte. „Their music is so apart from everything weˈve ever heard, being devoid of the usual R nˈ B and soul roots“409, so etwa Disc. Amon Düül II sei „influenced by the great classical music tradition thatˈs so much part of German life – in particular Wagner […] they seem to have captured the feeling“. Die Verbindung der Musik-Kommune mit einer angeblichen »wagnerianischen Tradition« war wesentlicher Teil der britischen Amon Düül II-Rezeption: „Itˈs all there,“ hieß es etwa auch im Melody Maker, „spacey gothic landscapes, lots of growling electronics, drums like a Panzer division, the whole Wagner in black leather bit“410. Die Amon Düül II zugeschriebe Eigenschaft als „aggressively Teutonic“411 äußerte sich für die britischen Beobachter insbesondere in der Rhythmik der Musik: „In almost every number thereˈs a driving beat sustained by the drums, overplayed by guitar and organ to create the space effect, grounded however in a pulsating rock beat“412. Der »treibende« und »pulsierende« Beat evozierte neben den Bildern des »Emotionalen« und »Teutonischen« gleichzeitig auch Vorstellungen von Modernität, bis hin zu futuristischen Assoziationen: Amon Düül II seien „terrifying modern […] a possible soundtrack from a possible 2001 Part 2“413. Die Wahrnehmung des Krautrock als moderne, ja »futuristische« Musik sollte wenig später angesichts der »Elektroniker« Tangerine Dream und Kraftwerk eine noch weitaus zentralere Rolle spielen. Im Lichte dieser Zuschreibungen und Stereotypisierungen fiel das Urteil der britischen Musikpresse im ersten Drittel der 1970er Jahre eindeutig aus: Krautrock „represents a new European music, like itˈs never been heard in this country before“414. Amon Düül II wurden über Jahre als eine neue Form von Popmusik wahrge407 Der erste große Hintergrundbericht inklusive Interview erschien im Melody Maker 12.12.1970; vgl. beispielsweise auch Melody Maker 17.10.1970; Sounds [GB] 24.10.1970; New Musical Express 26.02.1972; Disc 30.12.1972; Melody Maker 02.06.1973. 408 Amon Düül II spielten – das als grober Richtwert – auf ihren Tourneen durch Großbritannien vor bis zu 1.000 Menschen, vgl. Melody Maker 02.06.1973. 409 Disc 01.07.1972; sehr ähnlich noch einmal in Disc 30.06.1973. 410 Melody Maker, 30.10.1971; auch Disc 1.07.1972, New Musical Express 16.12.1972. 411 Melody Maker 24.06.1972. 412 Ebd. 413 Melody Maker 02.12.1972. 414 Melody Maker 24.06.1972.
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nommen, weitgehend gelöst von ihren angloamerikanischen Wurzeln, als neue PopAvantgarde. Diese Wahrnehmung basierte auf technischen Aspekten wie neuartigen Spielweisen oder der ungewöhnlichen Zusammensetzungen des Instrumentariums, darüber hinaus auf dem improvisatorischen und »psychedelischen« Charakter von Live-Auftritten, aber auch dem als fremdartig empfundenen Habitus der Gruppe, etwa dem fehlenden Bandleader und den (scheinbar) fehlenden Hierarchien. Auch die außergewöhnliche Cover-Art spielte – wie bei vielen Veröffentlichungen des Krautrock – in der Rezeption immer wieder eine Rolle. Gegen Mitte der 1970er Jahre dann, analog zu den Entwicklungen in der Bundesrepublik, begann die Begeisterung für Amon Düül II auch in Großbritannien zunehmend abzuflauen.415 Anders im Falle Cans. Während die konstruierten Verbindungen zur deutschen »Klassik« im Falle Amon Düüls noch auf eher eigenwilligen Interpretationen des Begriffs »wagnerianisch« beruhten, waren sie bei Can – neben Amon Düül II die frühesten Vertreter des Krautrock, die auf den britischen Inseln Beachtung fanden – konkreterer Natur. Can umwehte der Hauch von Avantgarde vor allem aufgrund der Tatsache, weil die Mitglieder Holger Czukay und Irmin Schmidt eine klassische Ausbildung genossen hatten. Dass Czukay ein ehemaliger Schüler Karlheinz Stockhausens war, der im britischen Popdiskurs spätestens seit seinem Erscheinen auf dem Cover des Beatles-Albums Sgt. Pepperˈs Lonely Hearts Club Band einen kultartigen Status genoss, machte die Verbindung für die Medien noch erwähnenswerter. Die wiederholte Erwähnung dieser Verbindungslinien sollte nicht nur die Neuartigkeit der Musik unterstreichen, sondern auch einen besonderen »Anspruch« signalisieren.416 Can war eine der populärsten Bands im Vereinigten Königreich der 1970er Jahre. Unter den bundesdeutschen Gruppen in Großbritannien galt sie Manchem als „the most remarkable of all“417, und die schiere Anzahl der Berichte und Interviews, stattliche Verkaufszahlen der Tonträger, mehrere fast durchwegs ausverkaufte Konzert-Tourneen und überwiegend begeisterte Kritiken waren in diesem Ausmaß für eine bundesdeutsche Gruppe bis dato einzigartig – und ob des experimentellprogressiven Charakters der Musik erstaunlich.418 Can galten bereits früh als weg-
415 Vgl. Beispielsweise die Berichte bzw. Rezensionen in New Musical Express 16.03.1974, 28.12.1974, 14.06.1975;
Melody
Maker 06.04.1974, 11.01.1975,
17.05.1975. 416 Zum »klassischen Erbe« Cans bereits Melody Maker 05.02.1972; Irmin Schmidt wehrte sich gegen diese Zuschreibungen und betonte, dass Stockhausen weniger Einfluss auf die Musik Cans habe als oft unterstellt („studying with him doesnˈt imply that“), vgl. Melody Maker 27.01.1973; so auch im New Musical Express 21.06.1975. 417 Melody Maker 30.10.1971. 418 Vgl. New Musical Express 06.05.1972; Melody Maker 06.05.1972; Sounds [GB] 24.02.1973; New Musical Express 24.02.1973; Melody Maker 11.12.1973; Disc
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weisend für die weitere Entwicklung der Popmusik, auch als entscheidender Multiplikator: „Can surpassed all that was expected of them“, so etwa die Kritik eines Live-Konzerts im Jahr 1972, „the band have the power to bring home the values of this kind of experimental music to a lot more people. […] They are quite a distance ahead.“419 Ausgiebig wurden über Jahre die musikalischen Hintergründe der Gruppenmitglieder beschrieben, ebenso ihre Spieltechniken.420 Auch Cans Wege der Produktion und Distribution – das eigene Studio, die bewusst einfache Technik, Improvisation als Prinzip, Selbstvermarktung und Autonomie – wurden auf dem im Vergleich höchst professionalisierten Musikmarkt Großbritanniens mit Verwunderung und vor allem Interesse wahrgenommen.421 Tenor der Zuschreibungen war: Can lebe, agiere und musiziere wie keine andere bekannte Pop-Band ihrer Zeit, ihre Musik sei „genuinely different to anything that Britain or America has thrown up“422, sie sei intensiv, hypnotisch und, besonders wiederum wegen eines monotonen, »treibenden« Beats, „unmistakably Germanic“423. Obwohl Can auch in der Bundesrepublik offenbar solide verkauften und zudem mit der Produktion von Film- und TV-Musik erfolgreich waren, erreichten sie »zu Hause« nie die Popularität und Wirkung wie in Großbritannien und anderen europäischen Ländern.424 Die Anziehungskraft Cans als „one of Europeˈs greatest bands“425 blieb in Großbritannien bis zu ihrer Auflösung 1978 bestehen. Die Gruppe selbst spielte bevorzugt im Vereinigten Königreich, besonders Irmin Schmidt war vom britischen Publikum begeistert: „Die sind viel unagressiver und höflicher als die Leute bei uns. Dort gibt es 50jährige in Hülle und Fülle, mit denen man über Popmusik reden kann. […] Popmusik ist drüben ein gleichberechtigter Teil der Kultur. Die Engländer würden staunen wenn sie in Deutschland einer Dis09.02.1974 und 16.02.1974; Melody Maker 09.02.1974 und 16.02.1974, 10.05.1975; New Musical Express 16.02.1974, 12.10.1974, 26.10.1974, 06.12.1975, 18.12.1976 419 Melody Maker 06.05.1972. 420 Melody Maker 05.02.1972. 421 Vgl. etwa Melody Maker 30.10.1971. 422 Michael Watts im Melody Maker 05.02.1972; sehr ähnlich auch in Disc 19.11.1974. 423 Melody Maker 30.10.1971. 424 Die Menge an umfangreichen, teilweise mehrteiligen Reportagen, Berichten und Interviews von und über Can in der britischen Presse ist unüberschaubar; beispielhaft vgl. Melody Maker 27.01.1973; Disc 9.02.1974; Disc und Melody Maker 16.02.1974; ein doppelseitiges Feature in Melody Maker 12.10.1974; ein mehrseitiges Can-Special im New Musical Express 09.11.1974; ein ausgiebiges Interview im Record Mirror, 30.11.1974; ein Can-Spezial im New Musical Express 21.06.1975; auch New Musical Express 08.01.1977. 425 Melody Maker 23.11.1974.
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kussion beiwohnten, bei der es darum ginge, diese Art Musik aus dem Kulturfond zu unterstützen oder ob es überhaupt zur Kultur gezählt werden könne.“426
Popmusik war im Großbritannien der frühen 1970er Jahre ähnlich den Vereinigten Staaten in der Tat längst selbstverständlicher Teil nationaler Kulturproduktion und darüber hinaus kein überwiegend jugendliches Phänomen mehr – ganz im Unterschied zur Bundesrepublik. Mit ihrer jahrelangen Medien- und Bühnenpräsenz im Vereinigten Königreich, wohl auch aufgrund ihrer ständigen stilistischen und personellen Veränderungen, veränderte sich auch das Image der Gruppe. Can erfanden sich in den Augen ihrer Kritiker immer wieder neu. Von »Germanischem« oder »Teutonischem«, wie zu Beginn der 1970er Jahre, war ab Mitte des Jahrzehnts immer weniger zu hören und lesen.427 Auch am Ende des Jahrzehnts galten sie nichtsdestotrotz als „most adventurous and unconventional of contemporary rock bands“428 und als „most interesting and innovative“429. Die Gruppe Faust – wenn auch über einen weitaus kürzeren Zeitraum – teilte als weiterer Vertreter des Krautrock diese verbreitete Einschätzung. „Faust. The Sound of the Eighties“430 hieß es symptomatisch im März 1973 im New Musical Express. Neben Amon Düül II und Can galten auch Faust als „part of a new and experimental movement in rock music“431, in ihrer kurzen Hochzeit als „by far the most extreme of the German experimental bands“432. Anders als die beiden Erstgenannten waren Faust über ein britisches Label auf den dortigen Markt gelangt; die Erfolge beruhten wie erwähnt in erster Linie auf dem Interesse Richard Bransons, der die Band über sein noch junges Label Virgin vertrieb. Bei Faust stand zu Beginn besonders der technologische Aspekt im Mittelpunkt, der erst später in das Zentrum des Pop-Diskurses rücken sollte: „The sheer brilliance of the effects they produce is stunning“433, so etwa Disc im Sommer 1972. 426 Irmin Schmidt im Musik Express 6/1973; vgl. auch Melody Maker 27.01.1973. 427 Eine Ausnahme machte etwa der New Musical Express Ende 1976, als er von den „Teutonic Tago Mago Can“ schrieb, vgl. New Musical Express 18.12.1976. 428 Melody Maker 19.03.1977. 429 New Musical Express 13.01.1979; vgl. auch New Musical Express 23.06.1979. 430 New Musical Express 03.03.1973. 431 Disc 08.07.1972. 432 New Musical Express 03.03.1973; vgl. auch New Musical Express 14. und 28.04.1973; New Musical Express 02.06.1973 und 7.06.1973; Melody Maker, 02.06.1973 und 16.06.1973. 433 Disc 08.07.1972. Ein umfangreicher Artikel über die Gruppe Faust erschien auch im New Musical Express 23.12.1972; sie seien wegweisend für die Entwicklung eines PopIdioms jenseits der angloamerikanischen Tradition, hieß es da. Retrospektiv bestätigt wurde diese Einschätzung etwa in Prendergast 2000, S. 283f.
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Neben dem unkonventionellen Einsatz von Alltags- und Maschinengeräuschen und der kreativen Anwendung technischer Neuerungen war wiederum die Bühnenpräsenz Anlass für Verwunderung: Ihre Live-Auftritte in Großbritannien absolvierten Faust in nahezu Dunkelheit, keines der Mitglieder der Gruppe sollte vom Publikum erkannt werden.434 Das Equipment stand in der Mitte der Bühne, während an jeder Ecke TV-Geräte aufgebaut waren, die Fernsehprogramm ohne Ton sendeten – mitunter aber auch laut gestellt wurden. Für manche „Velvet Underground mystique“435, provozierten die Konzerte nicht nur positive Reaktionen. Außergewöhnliche Ankündigungen weckten große Erwartungen, die von der Band nicht immer eingelöst werden konnten; ihre Radikalität begeisterte nicht nur, sondern eckte auch an. Nachdem Faust vom New Musical Express zur „most significant conceptual revolution in rock for ten years“436 erklärt worden waren, reagierte das zunächst hoffnungsschwangere Publikum mitunter enttäuscht: „Revolutionary or not, I found Faust turgid and boring“437. Allerdings überwogen die positiven Kritiken bei Weitem; Faust galten als Avantgarde, ihre Produktionen wurden zu Beginn bis Mitte der 1970er Jahre gar als „perfect definition of the term avant-garde“438 bezeichnet. Ihr Manager Uwe Nettelbeck, in der Bundesrepublik mit seinem Projekt wenig erfolgsverwöhnt, versuchte die teils überschwängliche Begeisterung der Briten etwas zu dämpfen und meinte dazu lapidar: „Just because some things we are doing nobody else is doing, it puts us into a position to be avant garde, but thatˈs just accidentally.“439 In der ersten Hälfte der 1970er Jahre gab es zunehmend Versuche, die bundesdeutsche Pop-Avantgarde in ihrer Gesamtheit in den Blick zu nehmen und nationale Spezifika einer »Szene« herauszuarbeiten. Der Musikjournalist Ian MacDonald verfasste im Dezember 1972 im New Musical Express als einer der ersten eine dreiteilige, reich bebilderte Serie über die „strangest rock scene in the world“440. Er versuchte ein möglichst umfassendes Bild der bundesdeutschen Verhältnisse zu zeichnen und Produzenten, Distributoren sowie Rezipienten gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Auf Seite der Produzenten stellte MacDonald eine Reihe von Aspekten fest, die einem britischen Beobachter fremdartig erschienen: Er beschrieb informelle Arbeitsweisen und ein fehlendes professionelles Management der Bands, aber auch den dadurch vorhandenen Freiraum, der sich in nicht vorhandene Hierarchien und ausgeprägter Experimentierlust wie etwa dem kreativen Umgang mit neuartiger 434 Vgl. die Beschreibung im Melody Maker 16.06.1973. 435 Melody Maker 06.10.1973. 436 New Musical Express 3.03.1973. 437 Sounds [GB] 16.06.1973; vgl. auch New Musical Express 07.07.1973. 438 New Musical Express 27.07.1974. 439 Zitiert nach Melody Maker 02.06.1973. 440 New Musical Express 9.12.1972; Teil 2 und 3 erschienen in den Folgewochen.
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Instrumenten- und Aufnahmetechnik äußerte. Auch die im Gegensatz zur britischen Musikszene starke Politisierung vieler Protagonisten, die sich unter anderem in einer großen Skepsis gegenüber »der« Musikindustrie, aber auch in ihrem künstlerischen Selbstverständnis manifestierte, war nach Ansicht MacDonalds zentrales Charakteristikum der bundesdeutschen Szene. Als wichtigste Persönlichkeiten »hinter den Kulissen« nannte er die beiden Tonmeister Conny Plank und Dieter Dierks genauso wie Rolf-Ulrich Kaiser, deren Arbeitsweisen er ausführlich vorstellte. MacDonalds Fazit fiel letztendlich eindeutig aus: „German Rock challanges virtually every accepted English and American standpoint.“441 Auf Seiten der Rezipienten stellte MacDonald fest, dass das bundesdeutsche Publikum in aller Regel Popmusik aus dem eigenen Land erst wertschätzte, nachdem sie im Ausland, besonders in Großbritannien und den USA Wertschätzung erfahren habe – eine auch von manchen Akteuren des Krautrock geäußerte Sichtweise. Hier dürfte wohl die breite Rezeption britischer Fachzeitschriften durch Mediatoren und Multiplikatoren in der Bundesrepublik eine gewichtige Rolle gespielt haben, vor allem die Vertreter des entstehenden bundesdeutschen Popjournalismus informierten sich ausführlich über die Entwicklungen in den angloamerikanischen Zentren der Popmusikproduktion.442 Gleichzeitig warben die jeweiligen Labels intensiv und, vorsichtig ausgedrückt, nicht ohne Stolz für die Erfolge heimischer Gruppen im Ausland. In den bundesdeutschen Medien fand der Erfolg des Krautrock in Großbritannien in der Tat ein breites Echo; so druckten beispielsweise die auflagenstärksten Teenager-Zeitschriften Bravo und Pop ab 1973 wiederholt mehrseitige, reich bebilderte Berichte über Tourneen bundesdeutscher Gruppen in Großbritannien ab.443 Auch die bundesdeutsche Sounds berichtete ab Sommer 1972 ausführlich über die Tourneen von Can und Amon Düül II im Vereinigten Königreich.444 Das Branchenblatt Musikinformation wunderte sich besonders über die zunehmende Präsenz bundesdeutscher Gruppen im britischen Radio: „BBC entdeckt deutsche Popmusik“445 verkündete das Blatt unter Hinweis auf zwei Sendungen John Peels auf BBC Radio One, in denen er Popol Vuh und Tangerine Dream in jeweils einstündigen Specials einem britischen Millionenpublikum präsentierte.
441 New Musical Express 09.12.1972. Ein etwas launischer Kommentar zu dem „current trend towards German music“ findet sich in Disc 30.06.1973. Eine ähnliche Serie findet sich 1978 in New Musical Express, ab der Ausgabe vom14.01.1978. 442 Vgl. Baacke, Pop-Zeitschriften, S. 552–560; der Diskurs wurde aus dem angloamerikanischen Raum in die Bundesrepublik importiert, so Nathaus, Amerikanisierung, S. 224f. 443 Vgl. als frühe Beispiele Bravo vom 12.04.1973 und Pop 04/1973. 444 Vgl. Sounds 07/1972 und 08/1972. 445 Musikinformation 08/1972.
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Abbildung 21: Germany Calling. Erster Teil von Ian McDonalds Bestandsaufnahme im New Musical Express, 1972.
Neben den Printmedien spielte bei der Verbreitung von Krautrock in Großbritannien ohne Zweifel das Radio eine entscheidende Rolle, die Sendungen des Radio-DJs John Peel mit seiner Vorliebe für progressive Popmusik aus der Bundesrepublik sind dahingehend kaum zu überschätzen: „It would not be stretching the truth to say”, so Peel Anfang 1973, „that the most interesting and genuinely progressive music anywhere in the world is coming from Germany.“446 Auf Basis dieser Einschätzung widmete er eine Vielzahl seiner Sendungen der progressiven Popmusik aus der Bundesrepublik, spielte teilweise ganze Alben und ließ Gruppen live bei sich in der Sendung auftreten. Die nach seiner Aussage ungewöhnlich zahlreichen Reaktionen auf diese Sendungen beschrieb er als überwiegend positiv und interessiert.447 „John Peel has helped us a great deal“448, stellte auch Edgar Froese (Tangerine Dream) Mitte der 1970er Jahre fest, als diejenigen Vertreter des Krautrock in den Mittelpunkt der britischen Aufmerksamkeit rückten, die noch radikaler mit dem angloamerikanischen Idiom des Pop brachen: die »Elektroniker«.
446 Aus einem Beitrag John Peels in dem Magazin The Listener am 12.04.1973. 447 Vgl. Peel, Chronicles, S. 195f. 448 Zitiert nach Zig Zag Nr. 44, 8/1974. Zur entscheidenden Rolle Peels bereits Rolf-Ulrich Kaiser in Deutsche Popszene 6/1972, Kabarettarchiv Mainz, Bestand LK B 111 OHR. Eine Übersicht bietet http://www.bbc.co.uk/radio1/johnpeel/index.shtml [18.12.2015]
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Abbildung 22: Ganzseitige Anzeige für Tangerine Dream, 1976.
Obwohl Tangerine Dream bereits seit Ende der 1960er Jahre in verschiedenen Besetzungen aktiv waren, begannen sie erst 1974 in der britischen Berichterstattung breiteren Raum einzunehmen. Anlass war die Veröffentlichung von Phaedra, dem ersten auf Richard Bransons Label Virgin und damit auch dem ersten direkt auf dem britischen Markt erschienenen Album Tangerine Dreams:449 „Although folks working in the rockosphere have long tempered with electronics, few have sucessfully harnessed the facilities offered by synthesizer, Mellotron and electrified traditional instruments to such startling effect“450, hieß es dazu Anfang 1975. Der
449 Bereits im Jahr 1973 waren sie die meistverkaufte Import-Band Großbritanniens gewesen, vgl. Melody Maker 06.04.1974; der erste große Bericht mit dem Titel »Dream Kids« erschien im Melody Maker, vgl. auch Melody Maker 06.04.1974, ZigZag Nr. 44, 8/1974, Melody Maker 09.11.1974; New Musical Express 12.04.1975; Melody Maker 19.04.1975 und 26.04.1975; New Musical Express 29.11.1975; Melody Maker 04.12.1976. 450 Melody Maker 08.03.1975; Tangerine Dream hätten ihre Karriere als Fans von Pink Floyd begonnen, „but now have advanced far beyound them electronically“, so der New Musical Express 29.11.1975.
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»elektronisch« generierte Sound ohne das bis dato »klassische« Pop-Instrumentarium Schlagzeug, Gitarre und Bass wurde ab Mitte der 1970er Jahre auch im Vereinigten Königreich als vollkommen neuartig wahrgenommen. Tangerine Dream galten dabei im Vergleich als „quiet and melodic“451, als „surprisingly un-neurotic, romantic even“452. Die Gruppe erschien den Beobachtern anders als alles, was sie bisher als spezifisch »deutsch« oder »teutonisch« ausgemacht hatten; keine Spur etwa von einem treibenden, pulsierenden Beat, keine aggressive Emotion, nichts an der Musik erschien »fearsome« oder »insane«. Die bisher gängigen Zuschreibungen verschoben sich: „Whoˈd have expected something as gentle as this could have come out of Germany? Perhaps thatˈs whatˈs so surprising about it“453, so etwa der Melody Maker. Neben der Musik war es bei Tangerine Dream wiederum insbesondere die Bühnenpräsenz, die die Berichterstattung nach den ersten Auftritten bestimmte. Das statische Bühnenbild mit drei großen, blinkenden Türmen elektronischer Instrumente, die drei Musiker davor, teilweise seitlich, teilweise mit dem Rücken zum Publikum, erstaunten und begeisterten das britische Publikum: „During the numbers they were completely silent, completely motionless, as if transfixed by the sounds. Nobody shuffled in his seat, nobody coughed. All eyes were on the show, even when there was nothing really to see. […] But immediately when the music stopped, the audience erupted into the most fantastic roar of clapping, cheering and whistling.“454
Die statische Bühnenpräsenz von Tangerine Dream löste offenbar nicht nur Verwunderung, sondern auch Begeisterung aus: 451 The Guardian 17.06.1974. 452 Melody Maker 20.04.1974. 453 Melody Maker 22.06.1974. 454 Ebd.; zum Bühnenbild hieß es etwa: „And the surrealist aspect of the night was the over-riding impression – three men on stage, making magical sounds which befitted an orchestra of 100 or more. Hard to conceive – but there it was“, vgl. Melody Maker 12.04.1975. Auf einer Tournee im Herbst des Folgejahres, die unter anderem durch die Kathedralen von Coventry und Liverpool sowie das York Minster führte, wurde das Publikum als ähnlich begeistert beschrieben, die Konzertreihe wurde auf der Titelseite des Melody Maker angekündigt: „Tangerine: Church Tour!“, vgl. Melody Maker 10.05.1975; vgl. auch vgl. Melody Maker 25.10.1975; in den USA erfuhr bereits das Vorhaben große Aufmerksamkeit, vgl. Rolling Stone 28.08.1975; das Konzert wurde von der BBC verfilmt, vgl. Tangerine Dream – Live at Coventry Cathedral (GB 1975). Beschreibungen des Publikums fanden sich unter anderem auch in Zig Zag Nr. 44, 8/1974; The Guardian 05.11.1974; Melody Maker 12.06.1976; Melody Maker 01.04.1978.
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„The group creating this sort of hysteria was no glittery stardust hype, no crotch-brandishing macho rockers, no mike-swinging crowd pleasers. No, just three guys who sat with their backs to the audience in semi-darkness working synthesizers, producing dreamy sheets of sound that wafted over the mesmerised audience and transported them into some sort of a paradise world where everything is sweetness and light.“455
Ab Mitte der 1970er Jahre wurden neben Tangerine Dream auch andere Interpreten der »Berliner Schule« verstärkt in den britischen Medien wahrgenommen. Klaus Schulze geriet durch sein Mitwirkung an dem Projekt Go! in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit und spielte zum Auftakt seiner Europa-Tournee Anfang 1977 seine ersten beiden Konzerte im Londoner Planetarium,456 Peter Baumanns erstes Solo-Album rief ebenso positive Kritiken hervor wie »seine« Band Tangerine Dream,457 und auch Manuel Göttsching mit seinem Projekt Ashra, von dem 1977 und 1978 zwei Alben auf Virgin erschienen, wurde mit Interesse verfolgt – auch in Zusammenhang mit seiner Tournee im Sommer 1977.458 Am Ende der 1970er Jahre schien sich die Faszination, die die Neuartigkeit der elektronischen Klänge in der Mitte des Jahrzehnts ausgelöst hatte, allerdings langsam zu legen. Neue Stile wie Reggae, New Wave und Punk rückten in den Mittelpunkt der britischen PopBerichterstattung – wiederum und gleich mehrfach „a new explosion, a new direction“459 in der Popmusik, wie es der Melody Maker 1970 im Zusammenhang mit dem Aufkommen bundesdeutscher Gruppen formuliert hatte. Die Beiträge der »Elektroniker« aus der »Berliner Schule« verloren unter diesen Eindrücken den Reiz des »Neuen«, was etwa auch die zuvor gefeierten und bewunderten Tangerine
455 Melody Maker 22.06.1974; eine ähnliche Beschreibung auch in Melody Maker 12.04.1975. 456 „A spectacular milestone in the development of »Space-Rock« and multimedia concerts in general,“ so The Guardian 13.04.1977; der Melody Maker machte viele Besucher aus Frankreich aus, wo Schulzes Album Mirage zu diesem Zeitpunkt unter den Top-10 der Album Charts war, vgl. New Musical Express 30.04.1977; der New Musical Express betrachtete das Album einerseits als „fascinating and rewarding,“ vgl. New Musical Express 07.05.1977; andererseits erhielt das Album eine durchwachsene Kritik in New Musical Express 18.06.1977. Zum Projekt Go! unten mehr. 457 Das Album „astounds in its sheer coherence and elegance of form,“ vgl. Melody Maker 14.05.1977. 458 Vgl. etwa Melody Maker 25.06.1977; vgl. auch Sounds [GB] 16.07.1977; Melody Maker 20.08.1977, 31.12.1977 und 04.03.1978; Music Week 27.08.1977; New Musical Express 03.09.1977. 459 Melody Maker, 13.06.1970.
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Dream in Form zunehmend ambivalenter und negativer Kritiken zu spüren bekamen.460 An Stelle der »Berliner Schule« trat „The Kraft of Düsseldorf“461 als „modern electronic music“462, als rhythmische und tanzbare Variante der elektronischen Sounds aus der Bundesrepublik. Dabei spielten auch in Großbritannien Kraftwerk die entscheidende Rolle. Ab Ende der 1970er Jahre und bis heute die kommerziell erfolgreichste Gruppe aus dem Umfeld des Krautrock, stießen Kraftwerk in der britischen Musikpresse zu Beginn noch auf geringe Wertschätzung. Anfang 1975 hieß es über das Album Autobahn etwa, es sei für „simple minds only“463, während die Musik Tangerine Dreams zeitgleich als „hypnotic and exciting […] fascinating and tantalising“464, die Band selbst als „the worldˈs premier synthesizer group“465 beschrieben wurden. Der überraschende Erfolg Kraftwerks in den Vereinigten Staaten wirkte jedoch auf die britische Musikpresse zurück, und ab Frühjahr 1975 wurde dem Album auch im Vereinigten Königreich zunehmend Wertschätzung entgegengebracht: Kraftwerks Album Autobahn galt nun auch hier als „one of the most original and inventive sounds“466 und wurde zu einem viel gespielten Hit in den zu dieser Zeit zahlreicher werdenden britischen Clubs und Diskotheken. „The Prussian ice-age of Kraftwerk“467, der Höhepunkt ihrer Popularität im Großbritannien der 1970er Jahre, begann etwa drei Jahre später. Mitte 1978 brachte sie die geschickt inszenierte Show zur Veröffentlichung des Albums Mensch Maschine (in der englischsprachigen Version für den internationalen Markt Men Ma-
460 „Dead or Alive? Tangerine Dreamˈs grey days“: die Ideen seien ausgegangen seien, so der New Musical Express 20.05.1978; „The Tangs ainˈt what they used to be“, so Sounds [GB] 14.06.1978; das galt allerdings keineswegs in allen Fällen, vgl. die ausführliche Kritik zu Peter Baumanns Album Trans Harmonic Night in Melody Maker 12.05.1979, auch New Musical Express 16.06.1979 und 22.09.1979. 461 Melody Maker 15.07.1978. 462 Ebd. 463 New Musical Express 15.02.1975; ähnlich auch bereits in New Musical Express 16.02.1974. 464 Melody Maker 08.03.1975. 465 Melody Maker 12.04.1975; dazu auch ein ganzseitiges Feature mit Interviews und Hintergrundberichten über Tangerine Dream in New Musical Express 12.04.1975; vgl. weiter Melody Maker 26.04.1975; Melody Maker 04.10.1975. 466 Melody Maker 03.05.1975. 467 Melody Maker 15.07.1978; Beispiele für weitere umfangreiche Kraftwerk-Features im Spätsommer und Herbst 1975 waren etwa New Musical Express 06.09.1975; Melody Maker 13.09.1975; Melody Maker 27.09.1975; oder New Musical Express 27.09.1975.
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chine) auf die Titelseiten der britischen Musikpresse.468 Forciert durch das Auftreten und das Image Kraftwerks kehrten nationale Stereotypisierungen in die britische Rezeption bundesdeutscher Popmusik zurück. Während zu Beginn des Jahrzehnts noch Bilder des »Germanischen« oder »Teutonischen« in Verbindung mit beispielsweise einem »pulsierenden« oder »motorischen« Beat oder »wagnerianischem« Gefühl, später »romantische« Klanglandschaften aus Synthesizern das Bild der Rezeption des Krautrock bestimmten, traten nun Konnotationen zum einen mit der klassischen Moderne der Weimarer Republik, zum anderen mit dem Nationalsozialismus hervor. „Metal machine essays; the soundtrack for an afternoon teabreak at Kruppˈs“469, so etwa der Melody Maker zur Veröffentlichung des Albums, „we were almost off to invade Poland“. Die kritische Auseinandersetzung mit Kraftwerk ging allerdings weit über bloße Zuschreibungen und den üblichen, sarkastisch-ironischen Ton des britischen Musikjournalismus hinaus. Die Gruppe verkörpere das einzige audiovisuelle Gesamtkonzept der Popmusik, das bisher erfolgreich produziert worden sei, so beispielsweise der New Musical Express: „The form determines the content“470, so der Autor, „the form can probably only be fully understood in relation to the German cultural and psychological make up – although it would be too easy to see […] a blatant Nazi connotation. More likely, itˈs a reference to totalitarian ideologies in general.“ Das zentrale Thema Kraftwerks sei das Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv; das werde bereits durch die konstruktivistischen Anspielungen der Cover Art deutlich, die im Zusammenspiel mit der Musik eine meisterhafte Auseinandersetzung mit der Problematik darstelle. Die Frage sei letztendlich, so der Autor, was Kraftwerks Einstellung zu der aufgeworfenen Problematik sei: „The crux of the matter, it seems, is whether Kraftwerk are satiric/didactic in intension, and are demonstrating the frightening logical conclusion of the totalitarian ideal or – God forbid – whether they really do desire this status for the mass man.“471 Die ambivalente Haltung der Gruppe zu dieser Frage und ihre Weigerung, sich (zumindest im Laufe der 1970er Jahre) eindeutig politisch zu positionieren, war wesentlicher Teil ihrer Konzeption – und ihres Erfolgs. Individualismus vs. Kollektivität, Mensch vs. Technologie, oder die Verschmelzung von Mensch und Maschine bis hin zur Digitalisierung waren grenzübergreifend hochaktuelle Themen; nicht zuletzt wird an dieser Stelle zum wiederholten Male die politische Dimension in der transnationalen Wahrnehmung Kraftwerks und des Krautrock deutlich. 468 Auf dem europäischen Kontinent fand die Vorstellung des Albums in Paris statt, wo sich das letzte Album Kraftwerks besonders gut verkauft hatte, vgl. New Musical Express 29.04.1978; Melody Maker 22.04.1978. 469 Melody Maker 22.04.1978. 470 New Musical Express 29.04.1978. 471 Ebd.
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Abbildung 23: Kraftwerk auf dem Titel des New Musical Express, 1978.
Kraftwerk avancierten am Ende des Jahrzehnts zum erfolgreichsten popmusikalischen Produkt aus der Bundesrepublik: Als „Kings of Disko“472 und „one of the pinnacles of 70ˈs rock music“473 machten sie weltweit, weit über Europa hinaus Furore. Auch Skeptiker elektronischer Tanzmusik zollten ihren Respekt: „Their music is hard-edged, mechanised to the ultimate, de-humanised, even inhuman“, so der Melody Maker zum Erscheinen von Man Machine, „but itˈs got to be admitted that in its own terms, this is really a rather good album“474. »Unmenschlich«, »unnahbar«, »kalt« – so lauteten gängige Charakterisierungen Kraftwerks in der britischen Rezeption im Laufe der späten 1970er Jahre. Insgesamt wandelte sich die Wahrnehmung »progressiver« bundesdeutscher Popmusik im Vereinigten Königreich im Laufe der 1970er Jahre und von Gruppe zu Gruppe, nationalisierende Zuschreibungen und Stereotypisierung waren dabei – 472 Way Ahead Nr. 15/1979; Kraftwerk wurden dabei mit Gorgio Moroders kommerziell außerordentlich erfolgreichen »Munich Sound« in Verbindung gesetzt; zum Einfluss von Kraftwerk auf den »Munich Sound« vgl. auch den Beitrag „Eurodisco: Technology with a Beat“ in Los Angeles Times 26.03.1978. 473 New Musical Express 29.04.1978. 474 Melody Maker 06.05.1978.
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wenn auch in wandelnder Intensität und Gestalt – durchgehend präsent. Auch wenn der Begriff »Krautrock« bis auf Einzelfälle dabei nicht auftauchte, wurde die bundesdeutsche Szene einheitlich als »German Sound«, wurden die Gruppen trotz ihrer enormen stilistischen Bandbreite als spezifisch deutscher Beitrag zur Popmusik wahrgenommen. Dabei waren die Zuschreibungen und Assoziationen oft widersprüchlich: Die Spannbreite angeblich »typisch deutscher« Spezifika der Popmusik reichte von gefühlsvoll bis gefühlskalt, von »fearsome« bis „quiet and melodic“, von »de-humanised« bis „romantic“. Die Urteile erfolgten zunächst überwiegend auf Basis der Musik und der Präsentationsformen, später auch auf Basis der jeweiligen konzeptionellen Ausrichtungen; so wurden zunächst offenbar fehlende Hierarchien innerhalb der Gruppen des Krautrock (etwa bei Amon Düül II oder Can) hervorgehoben, während später die Konzeption des (wiederum offenbar) musikalischen »Kollektivs« der »Mensch-Maschinen« von Kraftwerk in den Vordergrund rückte. Die Tatsache, dass Krautrock als erster innovativer Beitrag von außerhalb der angloamerikanischen Sphäre der Popmusik wahrgenommen wurde, spielte bei Zuschreibungen und Stereotypisierungen dieser Art eine zentrale Rolle. Die »Nationalisierung« des Phänomens Krautrock kann als Teil eines Aushandlungsprozesses gesehen werden, der sich um den Versuch einer Einordnung in den ästhetischen Haushalt des bis dato nahezu ausschließlich angloamerikanischen Idioms entfaltete. Für eine Beschreibung der als neuartig wahrgenommenen Stile, die sich zu einem Teil oder wesentlich von diesem Idiom lösten oder gelöst hatten, boten sich nationale Bezugspunkte zunächst offenbar an; zumal deswegen, weil bundesdeutsche Popkultur jungen Briten als außerordentlich exotisch erschien und im Zuge ihrer Wahrnehmung zunächst als etwas Einheitliches begriffen wurde.475 Wie sehr solche Zuschreibungen »von außen« wiederum auf die Entwicklung und das Schaffen der Akteure zurückwirken konnten, wird an anderer Stelle noch deutlich werden. Der Tenor des britischen Popdiskurses der 1970er Jahre jedenfalls war eindeutig: Die Popmusik erfindet sich immer neu, in der ersten Hälfte des Jahrzehnts war der Ort popmusikalischer Innovation die Bundesrepublik.
475 Dazu neben zahlreichen zeitgenössischen Quellen vor allem die retrospektiven Berichte in Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009).
Viertes Kapitel: Ab 1975 „L ANDED “ 1 „Man braucht die deutsche Rockszene nicht mehr aufzublasen, muß ihr nicht mehr Mut und Größe einreden, um sich nicht in zurückgebliebener Provinz zu fühlen. Seit knapp einem halben Jahrzehnt genügt es einfach festzustellen […], welchen Umfang, welche Bedeutung und welche Vielfalt die deutsche Rockmusik angenommen hat.“2 Winfried Trenkler, 1979
Für den Krautrock war die zweite Hälfte der 1970er Jahre analog zu allgemeinen Entwicklungen in der Popmusik von einer fortschreitenden Konsolidierung, Professionalisierung und Ausdifferenzierung geprägt. Nach der Implosion der Ohr Musikproduktion Rolf-Ulrich Kaisers und mit den spektakulären Erfolgen von Teilen des Krautrock im europäischen und außereuropäischen Ausland fanden viele der Protagonisten neue, global agierende Vertriebspartner, während sich auch das nationale Feld – von den Tonstudios bis zu den Labels – zum transnationalen Standard aufschloss, teilweise sogar neue Standards setzte. Ab Mitte der 1970er Jahre kamen den Musikern auch staatliche Maßnahmen zugute, von steuerlichen Erleichterungen bis zur Einrichtung der Künstlersozialkasse; zur lang ersehnten Aufhebung des Verbots der freien Künstlervermittlung (bzw. des »Managementverbots«) kam es allerdings noch nicht.3 In seinem Ausmaß sicherlich überraschend war der ab 1974 einsetzende kommerzielle Erfolg des Krautrock in den Vereinigten Staaten. Insbesondere Tangerine Dream und Kraftwerk erreichten dort hohe Verkaufszahlen, hohe Chartplazierun-
1
Titel das Albums Can, Landed, 1975.
2
Musiker 5/1979.
3
Dazu ausführlich Der Musikmarkt 15.08.1976.
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gen und eine hohe Medienpräsenz.4 Daneben spielten auch die großen westeuropäischen Schallplattenmärkte weiterhin eine zentrale Rolle, generell wurden im Ausland in aller Regel mehr Tonträger abgesetzt als in der Bundesrepublik. Das galt zum einen für Frankreich: Krautrock, so Irmin Schmidt 1979, genieße insbesondere in seiner »elektronischen« Form „bei der französischen Jugend eine fast kultische Verehrung“5; Gruppen wie Tangerine Deam, Kraftwerk und Ashra erhielten in Frankreich „reihenweise Goldene Schallplatten“6, so das Branchenblatt Musikinformation. Nicht viel anders entwickelten sich die Dinge weiterhin auch in Großbritannien: Allein mit Tangerine Dream mache das britische Label Virgin mehr Umsatz als das Label Brain mit allen seinen bundesdeutschen Gruppen zusammen, rechnete Musikinformation vor.7 „In den vergangenen zehn Jahren […] wurden nach vorsichtigen Schätzungen weltweit über 20 Millionen deutsche Rock-LPs verkauft“, so das Resümee des Branchenblatts, „die Spitze halten: »Kraftwerk«, »Tangerine Dream«“8. Zu den Pionieren dieser Entwicklung gehörten die bereits am Ende der 1960er Jahre gegründeten Can. Die „revolutionäre […] Avantgarde-Gruppe“9 aus Köln unterschrieben 1975, nach etwa fünf Jahren und sieben Alben bei Liberty/United Artists, einen neuen Vertrag mit dem Label EMI Electrola für den deutschsprachigen Raum sowie mit Virgin für den weltweiten Vertrieb. Mit der ökonomischen Neuausrichtung veränderte sich auch der musikalische Stil der Band, woran der Abschied von der technologischen »Askese« wesentlichen Anteil hatte. 1974 akquirierte die Gruppe ein modernes 16-Spur-Aufnahmegerät, und die »Technisierung« des Inner Space Studios zeigte erhebliche Auswirkungen auf den Charakter der Musik.10 Zu den Alben Mitte der 1970er Jahre hieß es etwa in Sounds, dass sich „die früher charakteristische Monotonie […] weitgehend aufgelöst“11 habe. An der Begeisterung in der Fachwelt – und weit darüber hinaus – änderte das allerdings 4
Das Interesse des Auslands führte in der Bundesrepublik dazu, heimische Popmusik auch im Inland verstärkt zu vermarkten – und sogar schon zu historisieren. Unter dem (bezeichnenderweise englischsprachigen) Titel History of German Rock erschien 1976 etwa ein Doppelalbum des Labels Brain, vgl. Musikinformation 10/1976.
5
Irmin Schmidt, zitiert nach Musikinformation 4/1979.
6
Ebd.
7
Ebd.
8
Musikinformation 4/1979. Im Jahr 1979 beliefen sich die bis dato erfolgten Verkäufe nach den Angaben des Branchenblattes bei Kraftwerk auf etwa 3,7 Millionen, bei Tangerine Dream auf etwa 3,5 Millionen Tonträger weltweit.
9 10
Der Musikmarkt 01.12.1975. Holger Czukay war sich bereits unmittelbar nach Erwerb des Geräts sicher: „Iˈm sure that 16 tracks will change everything“, vgl. Melody Maker 12.10.1974.
11
Sounds 1/1976.
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nichts: Can produzierten „musikalische Magie und magische Musik“12, die Gruppe sei „mindestens 40 Jahre voraus – avantgardistischer Rock par excellence“13, so nur zwei Beispiele. Neben der »Technisierung« des Inner Space Studios führten Personalwechsel zu Veränderungen innerhalb der Gruppe, auch ihres sozialen Gefüges. Neue Mitglieder bestanden ab 1976/77 auf vertragliche Regelungen etwa über Autorenschaft einzelner Stücke; die jahrelange Praxis, dass jeder Musiker monatlich dieselbe Summe als »Gehalt« erhielt und der Rest als Investition in das gemeinsame Studio wanderte, wurde aufgegeben – und mit dieser Praxis auch ein Grundpfeiler des bisherigen Selbstverständnisses. Damit hörten Can als Gruppenkollektiv de facto auf zu existieren, sie wurden zu einer Band mit transnational üblichen Praktiken und Gepflogenheiten. Auch der musikalische Stil änderte sich mit den neuen Bandmitgliedern abermals erheblich: Can ziehe jetzt „voll vom Leder“14, hieß es etwa Mitte 1977, „manchmal gehtˈs sogar so los, daß man sich plötzlich verwundert fragt, ob das noch die Band ist, die man einst kannte“. Weiterhin allerdings reagierte auch die bundesdeutsche Kritik überwiegend begeistert; angesichts des letzten Albums 1978 war beispielsweise der Kritiker des Musik Express „geradezu fassungslos, wie gut diese Platte ist“15. Das Grundmuster der Rezeption Cans blieb trotz stilistischer und personeller Veränderungen bis zu ihrer Auflösung 1978 weitgehend dasselbe: Der kommerzielle Erfolg stellte sich vor allem im europäischen Ausland ein, in Großbritannien und in Frankreich avancierten Can zu regelrechten Stars – während sie in der Bundesrepublik zwar Lieblinge der Pop-Kritik blieben, kommerziell allerdings weitaus weniger erfolgreich waren. Die Gruppe tourte dementsprechend weniger durch die Bundesrepublik, als vielmehr regelmäßig durch Westeuropa.16 Die Erfolge Cans im 12
Sounds 11/1976; ähnlich auch in Fachblatt 12/1975, Schallplatte 12/1975, Der Musik-
13
Der Musikmarkt 01.12.1975.
markt 1/1976; auch ein mehrseitiger Artikel in Sounds 9/1976. 14
Fachmarkt 5/1977 zum Album Saw Delight, das erste in der Neubesetzung im Jahr 1977; dazu auch Sounds 5/1977. Aus musikwissenschaftlicher Perspektive hieß es nur wenige Jahre später: „Can verschloß sich in keiner Phase ihrer Entwicklung musikalischen Experimenten. Waren es in den ersten Jahren noch die ungewohnten, hypnotisch wirkenden Rhythmen und die eigenartigen Gesangstechniken, so versuchten sie sich mittels Radios und Tonbandgeräten an einer speziellen Collagetechnik ab 1976. Einblendungen jeweils gerade ausgestrahlter Radioprogramme, kurzwelliges Getöse, Alltagsgeräusche und Pfeiftöne konnten mit Hilfe einer Morsetaste mit dem rhythmischen Geschehen synchronisiert werden“, so Kneisel, Kraut, S. 212.
15 16
Musik Express 3/1979; sehr positive Kritik aus in Musikinformation 2/1979. Zur letzten England-Tournee Anfang 1977 vgl. Musik Joker 4/1977; Musik Express 5/1977. Im selben Jahr fanden in Portugal die letzten Konzerte Cans statt.
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Ausland wurden in der Bundesrepublik genau verfolgt, wirkte auf die Bundesrepublik zurück. „Die Engländer waren dann auch das Publikum, das den Deutschen nachdrücklich zeigte, wie gut und interessant diese Gruppe ist, vielleicht sogar, wie sehr das, was Can machen, im besten Sinne »Pop« ist“17 stellte Sounds 1976 fest – die Erfolge im Ausland beeinflussten die bundesdeutsche Rezeption massiv und sind ein besonders plastisches Beispiel für die Rückwirkung, die transnationale Wahrnehmungen auf die nationale Ebene entfalten konnten. Das änderte sich im Prinzip bis zur Auflösung Cans 1978 nicht, die ehemaligen Mitglieder blieben auch danach als professionelle Musiker weit über bundesdeutsche Grenzen hinaus aktiv. Es folgte eine Vielzahl von Kollaborationen, Soloprojekten oder Musikproduktionen für Fernsehen und Film; Irmin Schmidt und Michael Karoli richteten sich eigene Tonstudios in Südfrankreich ein, Jaki Liebezeit wirkte bei einer Vielzahl von Projekten (u.a. bei Michael Rother oder Conny Plank) mit, und Holger Czukay veröffentlichte 1979 sein erstes Solo-Album, dem viele weitere folgen sollten.18 Embryo aus München, wie Can Ende der 1960er Jahre gegründet und damit ebenfalls Pioniere des Krautrock, schlugen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einen vollkommen anderen Weg ein. Stilistisch wandten sie sich zunehmend dem Jazz und musikalischen Einflüssen aus aller Welt zu, was sich unter anderem auch in ihrer Präsenz in entsprechenden Fachzeitschriften manifestierte.19 Gleichzeitig verfolgten Embryo weiterhin einen strikt gegen »die Musikindustrie« gerichteten, konsequent »antikommerziellen« Kurs: „Während sich viele deutsche Gruppen anschicken, in angelsächsischen Größenordnungen zu kalkulieren, herrscht bei Embryo noch immer der Geist der alten Underground-Bands: Unabhängigkeit um jeden Preis“20, hieß es dazu 1975. Dieser »Geist des alten Undergrounds« blieb bei Embryo auch in der Folge erhalten – bis heute. Symptomatisch und in dieser Art außergewöhnlich war eine mehrmonatige Reise auf dem »Hippie Trail«.21 Am Ende der 1970er Jahre, kurz bevor Kriege und Revolutionen die in der transnationalen Gegenkultur längst legendär gewordenen Landroute in den Fernen Osten abschnitten, 17 18
Sounds 9/1976. An den Aufnahmen waren ebenfalls Liebezeit und auch Karoli beteiligt. Zu den umfangreichen Aktivitäten Czukays ab 1978 vgl. zeitgenössisch etwa Sounds 11/1979; Fachblatt 1/1980; Sounds 10/1981; besonders positiv wurde Czukay wiederum in Großbritannien aufgenommen, vgl. als Beispiel etwa die Titelgeschichte in der Fachzeitschrift Electronics & Music Maker 5/1982.
19
Vgl. Jazz Podium 8/1975 und 11/1977; aber nach wie vor auch Musik Express 5/1975; Fachblatt 8/1975.
20 21
Sounds 3/1975. Vgl. dazu die Selbstauskunft sowie ausführliche Interviews und Reiseberichte, die Embryo von unterwegs an Günter Ehnert sandte, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; umfangreiches Material auch im Kabarettarchiv Mainz, Bestand LX/Cc/1.6.
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reisten Embryo mit Begleiterinnen und Begleitern – zusammen etwa 25 Menschen – mit mehreren Fahrzeugen nach Indien. Unterwegs fanden neben Sessions und Aufnahmen mit lokalen Musikern zahlreiche, teilweise von Goethe-Instituten organisierte Konzerte statt. Den Anfang machten Athen und Thessaloniki, die nach Auskunft der Band vom anwesenden Publikum außerordentlich positiv aufgenommen wurden.22 Mehrere Konzerte im weiteren Verlauf der Reise, etwa im Iran, mussten aufgrund der bereits zu instabilen Verhältnisse entfallen; in Kabul fanden sie noch statt, nach Aussage der Band wiederum vor einem außerordentlich begeisterten Publikum.23 Der Weg Embryos führte über Pakistan weiter nach Indien. Im Jahr 1979 veröffentlichte die Gruppe Aufnahmen der Reise auf dem Doppelalbum Embryos Reise, kurz darauf erschien ein Dokumentarfilm mit dem Titel Vagabundenkarawane.24 Beides sind Dokumente sogenannter »Weltmusik«, noch bevor dieser Begriff in den 1980er Jahren in Mode kam und eine entsprechende Vermarktungswelle einsetzte – wiederum insbesondere auf dem Markt der nachdrücklich um Distinktion bemühten »hip consumers«. Ganz im Gegensatz zu Embryo, für die Konzerte und Auftritte wesentlicher Teil ihres Selbstverständnisses waren, blieben Florian Frickes Popol Vuh aus München Zeit ihres Bestehens – abgesehen von einzelnen Ausnahmen – eine Studioband. Ausgeprägte Auslandserfahrungen allerdings teilten beide in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.25 Ende 1975 reiste Fricke mehrere Monate nach Afrika, 1977 folgte ein „Aufenthalt bei den Kurden am Euphrat und im östlichen Himalaya [zum] Studium des tibetanischen Gemeinschaftgesang[s]“26. Parallel zu seinen musikalischen Reisen veröffentlichte Fricke eine Reihe von Alben: 1975 erschien das Album Einsjäger & Siebenjäger als letzte Veröffentlichung Rolf-Ulrich Kaisers, danach wechselten Popol Vuh zu United Artists; dort erschien unter anderem auch die Filmmusik zu Werner Herzogs Film Aguirre, der Zorn Gottes. 1977 und 1978 folgten drei 22
Zum Konzert in Athen vgl. den Bericht des Goethe-Instituts in Athen, 6. Oktober 1978, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; zum Konzert in Thessaloniki, zu dem über 2.000 Zuschauer erschienen, vgl. die Reiseberichte von Embryo, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; nach Informationen Anwesender war die Begeisterung in Griechenland auch deswegen so groß, weil es in den Jahren der Militärdiktatur kaum Möglichkeiten gegeben hatte, westliche Popmusik zu hören oder gar live zu sehen.
23
Die Konzerte in Kabul wurden organisiert von dem Musiker und Komponisten Hartmut Geerken, Mitarbeiter des örtlichen Goethe-Instituts; als Mitarbeiter der Niederlassung in Athen hatte er 1972 auch die Tournee der West-Berliner Agitation Free durch den Nahen Osten organisiert.
24 25
Vagabundenkarawane (D 1980). Vgl. dazu etwa den Brief von Florian Fricke an Günter Ehnert (03.11.1978), KlausKuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
26
Vgl. ebd.
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weitere Alben mit Soundtracks zu Filmen Werner Herzogs, außerdem eine Reihe weiterer Studio-Alben mit wechselnden Musikerinnen und Musikern – wobei auch ehemalige Mitgliederinnen und Mitglieder von Amon Düül II beteiligt waren.27 Einzige personelle Konstante war Florian Fricke, Schwerpunkt blieben Musik und Spiritualität – was am Ende der 1960er Jahre noch als Ausdruck der »Neue Sensibilität« oder »Neuen Spiritualität« galt, knapp zehn Jahre später dann als Teil des »New Age« bezeichnet zu werden begann. Die sich ab den 1970er Jahren in den westlichen Industriestaaten ausbreitende, transnationale Bewegung wurde von Interpreten des Krautrock musikalisch untermalt; insbesondere Popol Vuh, aber auch eine Reihe weiterer Akteure wie Teile der »Berliner Schule« steuerten zum »Soundtracks des New Age« entscheidend bei. Bezüge zu Spiritualität und Orient – wie im Falle vieler Berliner »Elektroniker« oder der beiden letztgenannten Münchner Gruppen Embryo und Popol Vuh – waren bei den Düsseldorfer Protagonisten des Krautrock nicht zu finden. »Motorik«, Rhythmik und eingängige Melodien waren vielmehr die für die »Düsseldorfer Szene« der 1970er Jahre immer wieder hervorgehobenen Charakteristika – ein Aspekt, der auch in der angloamerikanischen Wahrnehmung als wesentliches und besonders bemerkenswertes Stilmerkmal herausgebildet hat.28. „Ich frage mich, woher diese deutschen Elektronik-Spezialisten a la Harmonia, Cluster, Neu, La Düsseldorf dieses feine Gespür für einfache, aber umso vertrauter klingende und äußerst angenehm ins Ohr gehende Harmonien haben“29, fragte sich etwa Sounds Ende 1976. Die genannten, untereinander und mit Kraftwerk personell eng verwobenen Gruppen hatten spätestens zur Mitte des Jahrzehnts einen als distinkt und unverwechselbar wahrgenommenen Sound entwickelt. Eines der medialen »Aushängeschilder« dieser »Düsseldorfer Szene« waren die (unschwer anhand ihres Namens zu lokalisierenden) La Düsseldorf. Das Trio hatte sich nach der Auflösung von NEU! aus dessen Umfeld gebildet. 1976 veröffentlichten La Düsseldorf in Zusammenarbeit mit Conny Plank ihr Debut, dem in den folgenden vier Jahren zwei weitere Alben folgten.30 Die Kombination elektronischer Instrumente mit »klassischem« Instrumentarium verkauften sich gut und kam auch bei der Kritik gut an: „Hochgeschwindige Synthesizer-Ausflüge“31 lobte etwa Der 27 28
Zur Filmmusik Popol Vuhs vgl. Der Musikmarkt 15.11.1978. Vgl. zusammengefasst in Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009). Als Sammlung von Zeitzeugenberichten über die Düsseldorfer Szene auch in den 1970er Jahren vgl. Esch, Electri-Ctiy.
29
Sounds 10/1976.
30
Vgl. Der Musikmarkt 15.11.1978.
31
Der Musikmarkt 15.08.1976; die Journalistin Ingeborg Schober war besonders von dem Album Viva angetan, vgl. Sounds 11/1979; La Düsseldorf waren Sieger des Leser-Polls in der Musikzeitschrift Sounds, Rubrik Beste nationale Gruppe, vgl. Sounds 2/1980.
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Musikmarkt, auch Teile der britischen und US-amerikanischen Pop-Kritik fanden großen Gefallen an der Gruppe.32 Größere transnationale Aufmerksamkeit als La Düsseldorf erlangten jedoch die ebenfalls der »Düsseldorfer Szene« zugerechneten Harmonia. Nachdem sie sich Anfang 1976 bereits aufgelöst hatten, fand sich das Trio im Herbst des Jahres für eine seit längerem geplante Zusammenarbeit mit Brian Eno noch einmal zusammen – ein Name, der der öffentlichen Aufmerksamkeit außerhalb der Bundesrepublik natürlich nicht abträglich war.33 Eno reiste nach den Aufnahmesessions mit Harmonia Ende des Jahres weiter nach West-Berlin, wo er mit David Bowie zu arbeiten begann. 1977 entstanden dort in enger Zusammenarbeit zwischen Eno und Bowie dessen »Berliner« Alben Low und Heroes, die eine ganze Reihe von Anspielungen auf den von beiden geschätzten Krautrock enthielten: Der Titel des Albums Heroes beispielsweise gilt als von dem NEU!-Stück Hero inspiriert, das darauf befindliche Stück V2-Schneider ist eine Hommage an Florian Schneider von Kraftwerk.34 Nach der Auflösung Harmonias Ende 1976 setzten Dieter Moebius und Hans Joachim Roedelius ihre Arbeit als Duo Cluster fort. Am Ende desselben Jahres erschien (wie auch die folgenden Veröffentlichungen auf Sky) das Album Sowieso, das – so der Musik Joker in Anspielung auf die oft als »schwer« empfundenen Klänge der »Berliner Schule« – „frei von teutonischer Wucht, [die] veränderlichen (!) Konstanten des deutschen Elektronik-Rock“35 eindrucksvoll zur Geltung bringe. Zentral für Cluster, laut Conny Plank „musikalische Mönche, die auf meditativem Wege Töne fliegen lassen“36, war die langjährige Zusammenarbeit mit Plank und Eno; aus den Kooperationen gingen in den Jahren 1977 und 1978 zwei weitere Alben hervor.37 Auch über Cluster hinaus blieben die Verbindungen zu Plank eng: Roedelius erstes Solo-Album, das 1978 erschien, war aus der engen Zusammenarbeit mit dem mittlerweile transnational bekannten Tonmeister und Produzenten ent-
32
In Großbritannien vgl. Melody Maker 15.07.1978, 17.02.1979, 09.05.1981; in den Vereinigten Staaten positiv rezensiert als Innovation aus Europa durch The Transoceanic Trouser Press 7/1979.
33
Die daraus entstehenden Aufnahmen wurden erst 20 Jahre später unter dem Titel Tracks and Traces veröffentlicht.
34
Vgl. dazu Los Angeles Times 08.11.1977; Bowie dazu in Washington Post 06.02.1977; Crawdaddy! 01/1978; als Überblick Prendergast, Ambient Century, S. 220–223.
35
Musik Joker 10/1976; ähnlich auch in Sounds 12/1976.
36
Zitiert nach Der Musiker hinter der Scheibe (SR 1979).
37
Zu Einflüssen des Krautrock auf Brian Eno vgl. ausführlich die Los Angeles Times 21.05.1978; zu den Cluster-Alben vgl. Sounds 9/1979 und 11/1979; Cluster sei eine „völlig unterbewertete Gruppe“, so der Musik Joker 10/1979.
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standen;38 Dieter Moebius wiederum wirkte 1978 in dem Projekt Liliental mit, das von Plank und einer Reihe weiterer Musiker aus dem Umfeld des Krautrock zusammen mit dem Komponisten und Klangkünstler Asmus Tietchens aufgenommen wurde.39 Abgesehen davon wurden jedoch auch die Verbindungen nach WestBerlin nie ganz gekappt: Das zweite Solo-Album von Roedelius, auf dem wieder vermehrt »klassisches« (also nicht-»elektronisches«) Instrumentarium zum Einsatz kam, produzierte das ehemalige Tangerine Dream-Mitglied Peter Baumann in dessen neuem Studio in West-Berlin; dazu mehr im folgendem Kapitel. Auch Clusters letztes Album der 1970er Jahre wurde in Zusammenarbeit mit Peter Baumann in West-Berlin aufgenommen: „Ein bißchen Heimweh und der Wunsch, nach zehn Jahren enger Zusammenarbeit mit Conny Plank mal etwas zu probieren (inklusive Großstadt) hatten Cluster dieses Mal nach Berlin verschlagen“40, erklärte das Label Sky zur Veröffentlichung. Die oft vorgenommene Lokalisierung Clusters als Düsseldorfer Gruppe macht abgesehen von ihrem Sound insgesamt folglich eher wenig Sinn: Cluster formten sich in West-Berlin und nahmen vornehmlich in Köln und West-Berlin ihre Alben auf. Wie dem auch sei – Günter Körbers Ein-Mann-Betrieb Sky verfolgte die gängige Marketing-Strategie kleiner Labels: Er richtete sich in eine Marktnische mit entsprechender Zielgruppen ein und legte seine Produkte den »Individualisten« unter den Musikkonsumenten ans Herz. Das Marketing für Cluster war dahingehend symptomatisch: „Wenn unsere Gesellschaft von sich behauptet, eine pluralistische zu sein“41, so der Pressetext, „dann bedarf sie auch in so zentralen Bereichen wie Kunst und Unterhaltung einer Mindestzahl deutlich erkennbarer Alternativen. Musiker von dem Mut und der Eigenart Clusters ermöglichen uns dieses gesellschaftliche Selbstverständnis und vermehren für die Hörer die Chancen der Individualität.“
38
Sehr positive Rezension im Musik Express 8/1978; „Soundcollagen, in denen sich so alles wiederfindet, was in den letzten Jahren auf der deutschen Elektronik-Szene ausprobiert wurde“ und eine der „erfreulichsten Neuerscheinungen auf diesem Sektor“, so Sounds 9/1978.
39
Vgl. Jürgens, Tietchens; auch Fachblatt 4/1978; Sounds 8/1978. Zur eher zufälligen personellen Zusammensetzung bei den Aufnahmen von Liliental meinte Asmus Tietchens, es seien zwei Musiker der Gruppe Kraan nach dem Ende der Aufnahmen für ihr Album gerade bei der Abreise gewesen, als Tietchens bei Plank vorfuhr; man kam ins Gespräch, die Musiker blieben, vgl. das Gespräch mit Asmus Tietchens am 24. Juli 2015.
40
Vgl. Pressemitteilung Sky Records (undatiert, ca. 1979), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
41
Vgl. ebd.
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Abbildung 24: Harmonia Mitte der 1970er Jahre, (v.l.n.r.) Michael Rother, Dieter Moebius, Hans-Joachim Roedelius.
Michael Rothers Solo-Alben, die ab 1976 ebenfalls bei Sky erschienen, wurden ähnlich beworben – allerdings mit unverhofftem Resultat.42 Die erste Veröffentlichung Flammende Herzen wurde nicht nur von der Kritik begeistert empfangen („Ein Schuß ins Schwarze, ein Ohrenschmaus!“43 urteilte etwa Sounds), sondern avancierte auch zu einem in diesem Ausmaß vollkommen unerwarteten kommerziellen Erfolg – und damit zu einem wenig »individualistischen« Produkt für den Massenmarkt. „Rother war meine Rettung und mein Stern“44, so Körber rückblickend. Mit Verkaufszahlen im hohen fünfstelligen Bereich wurde das Album zum Zugpferd des Labels. Der Journalist Winfried Trenkler hatte maßgeblichen Anteil an dem Erfolg, indem er im Radio mit einer Sondersendung für das Album warb.45 Michael Rothers am Ende der 1970er Jahre folgenden Veröffentlichungen verkauften sich in der Bundesrepublik weiterhin sehr gut, wenn auch weniger spektakulär als das Debut.46 Alle drei Produktionen erschienen bei Sky und waren unter der Regie Conny 42
Vgl. die Selbstauskunft Michael Rothers (undatiert, ca. 1978), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
43
Sounds 10/1977; das Album war Soundtrack eines gleichnamigen Films des Kölner Regisseurs Walter Bockmayer, der 1978 für den Goldenen Bären nominiert war und auf der Berlinale in Berlin gezeigt wurde.
44 45
Zitiert nach Esch, Electri_City, S. 184. Vgl. Musik Express 6/1978; Rother hob die zentrale Rolle von Trenklers Radiosendung für den Krautrock insgesamt hervor, vgl. Rother in Esch, Electri_City, S. 183f.
46
Von „Sound mit Herz und pulsierendem Gefühl“ schrieb Der Musikmarkt 15.05.1978; sehr positive Kritik auch in Sounds 5/1978 und 11/1979; mehrseitige Reportage zu Rot-
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Planks in dessen Studio entstanden, auf allen drei wirkte Jaki Liebezeit (ehemals Can) als Schlagzeuger mit. Die unbestritten prominenteste und kommerziell erfolgreichste Gruppe aus Düsseldorf und des Krautrock insgesamt waren ohne Zweifel Kraftwerk. „Die »verrückten« Deutschen, die erstmals Computer zum Tanzen brachten, die Schöpfungsgeschichte umkehrten und die Technik zum Ursprung von allem machten“47, sollten bis zum Ende der 1970er Jahre zu einer der einflussreichsten Bands der Popgeschichte avancieren. Zur Mitte des Jahrzehnts begann sich diese Entwicklung gerade erst abzuzeichnen. Noch bis 1974 hatten Kraftwerk viele Personalwechsel und eine prägende Phase mit Conny Plank als „producer as composer“48 erlebt, bevor der unerwartete Erfolg des unter dessen Regie aufgenommenen Albums Autobahn in den Vereinigten Staaten sowie die folgende US-Tournee den Wendepunkt ihrer Karriere markierten.49 Zum einen bildete sich die Besetzung mit Ralf Hütter, Florian Schneider, Karl Bartos und Wolfgang Flür zum »klassischen« Line-Up der Band aus, das bis Ende der 1980er Jahre Bestand haben sollte; zum anderen unterschrieben Kraftwerk unter Umgehung Planks Verträge mit EMI Electrola bzw. Capitol USA für den weltweiten Vertrieb.50 Für Plank war diese Entwicklung insofern unglücklich, als dass er nicht nur wesentlich für die musikalische Entwicklung der Gruppe mitverantwortlich war, ohne davon letztendlich wirtschaftlich profitieren zu können, sondern auch deswegen, weil die Kontakte in die USA überhaupt erst durch ihn zustande gekommen waren. Plank selbst nahm die Trennung von Kraftwerk und das Übergehen seiner Person zumindest nach außen relativ gelassen und meinte lediglich, die Gruppe habe „sich an das erste beste Produkt geklammert, und es ist ja auch nicht schlecht“51. Mit der Neuorientierung entwickelte sich 1975 die spezifische Ästhetik Kraftwerks, mit der die Band bis heute erfolgreich ist. „Bis vor einem Jahr trugen wir her in Musik Express 6/1978; auch Fachblatt 2/1978. Michael Rother war für die Jahre 1978 und 1979 Sieger der Leser-Polls in der Musikzeitschrift Sounds, Rubrik »Bester nationaler Musiker«, vgl. Sounds 3/1979 und 2/1980. Die drei Solo-Alben wurde innerhalb von fünf Jahren 250.000 Mal verkauft, so Rother in Esch, Electri_City, S. 181. 47
Wolfrum, Demokratie, S. 411; zum transnationalen Erfolg vgl. zeitgenössisch etwa Musik Express 4/1979 oder Sounds 6/1979.
48
Moorefield, Producer as Composer, S. 89f; auch für Wolfgang Flür und Eberhard Kranemann, ehemalige Mitglieder von Kraftwerk, spielte Plank eine konstitutive Rolle in der Entwicklung Kraftwerks, vgl. Buckley, Kraftwerk, S. 63–69.
49
Zur entscheidenden Rolle der US-Tournee für die weitere Entwicklung Kraftwerks vgl. Grönholm, Kraftwerk.
50
Vgl. Der Musikmarkt 15.12.1975; auch Musikinformation 12/1975; Cash Box 30.08.1975; Record World 30.08.1975.
51
Conny Plank zitiert nach Fachblatt 11/1974.
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lange Haare und Jeans“, erklärte Hütter den Wandel im Herbst 1975, „jetzt treten wir mit schwarzen Anzügen, weißen Hemden, Krawatten und kurzen Haaren auf. Das ist unsere »Show«.“52 Unter dem deutlich sichtbaren Einfluss des Erfolgs und des Aufenthalts in den Vereinigten Staaten konstruierten Kraftwerk diese vorher verpönte »Show«, bauten ein spezifisches Image auf, kreierten ein Konzept. Wesentlicher Bestandteil dieses Konzepts war die Entwicklung der »MenschMaschine«, die 1975 in Form eines Tourneeplakats für den US-amerikanischen Markt zum ersten Mal in Erscheinung trat und 1978 auf dem gleichnamigen Album zur vollen Entfaltung kam.53 Kraftwerk richteten sich dabei thematisch und stilistisch scharf gegen den Zeitgeist aus, als das „krasse Gegenteil einer Hippie-Band“54 bezeichneten sie sich in ihren Selbstdarstellungen nun als »Musikarbeiter«, ausdrücklich nicht als Musiker oder Künstler, was den konzeptionellen Bezug zur industriellen Moderne vertiefen, aber auch eine künstlerische Identität jenseits des angloamerikanischen Einflusses ausdrücken sollte. „Die deutschen Musiker sind nicht so stark wie die Engländer und Amerikaner mit dem Blues und dem Rock verbunden. Wir haben diesen Sound immer nur nachgespielt. Das gelang uns nie so gut, darum hatten wir international keine Chancen. Erst jetzt, wo wir die Musik machen, die die Engländer und Amerikaner noch nicht beherrschen, kommen wir besser an“55, urteilte Hütter. In diesen Aussagen wurden mit Großbritannien und den USA nicht nur die beiden zentralen geographischen Referenzpunkte Kraftwerks deutlich; vielmehr schimmerte auch noch der Einfluss Conny Planks durch, der seine Musiker seit vielen Jahren zur Entwicklung eigener, distinkter Ausdrucksformen ermuntert hatte, sowie auch die Resonanz in den USA, die gerade wegen Kraftwerks als distinkt wahrgenommener Ausdrucksweisen so positiv ausgefallen war. Neben musikalischen Aspekten spielte dabei die visuelle Präsentation der Musik eine zentrale Rolle. Über die Jahre konsequent weiterentwickelt, ähnelte die Bühne Kraftwerks Mitte der 1970er Jahre einer audiovisuellen Installation.56 Experimentelle Dia-Projektionen wurden nach und nach durch Videoinstallationen, dann auch erste Lasershows ersetzt. Besonders außergewöhnlich und innovativ, aber auch störanfällig war ein bereits Mitte der 1970er Jahre benutztes, quaderförmiges Gerüst mit Lichtschranken, das über Fotozellen gesteuert wurde.57
52
Ralf Hütter zitiert nach Bravo 09.10.1975.
53
Zu Topos Mensch und Maschine im Pop vgl. Geisthövel, Lebenssteigerung, S. 177f.
54
Wolfrum, Demokratie, S. 411.
55
Ralf Hütter zitiert nach Bravo 09.10.1975; die Selbstbezeichnung »Musikarbeiter« findet sich auch noch in der Pressemitteilung der EMI Electrola Presse Pop nat. (undatiert, 1981), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
56
Vgl. Buckley, Kraftwerk, S. 75.
57
Vgl. ebd., S. 82f.
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Abbildung 25: Mensch Maschine Kraftwerk. Tourneeplakat von 1975.
1976 erschien das Album Radioaktivität, das erste ohne die Beteiligung Conny Planks, hergestellt im eigenen Kling Klang Studio.58 Das Kling Klang war nach den lukrativen Vertragsabschlüssen Ende 1975 technologisch auf den neuesten Stand gebracht worden und von nun an das kreative Zentrum der Band. Abgemischt wurden die fertigen Bänder allerdings mitunter auch in anderen Tonstudios, Radioaktivität etwa im namhaften Record Plant Studio in Hollywood. Mit Radioaktivität näherte sich die Band zum ersten Mal dem »Industriestandard« der zwischen drei und fünf Minuten langen Songs an, während ihre Stücke bis dato nicht selten über 20 Minuten lang gewesen waren und ganze Schallplattenseiten eingenommen hatten.
58
Die Idee für den Titel des Albums entstammte einer Radio-Rubrik der US-amerikanischen Branchenzeitung Billboard namens Radio Activity, vgl. Buckley, Kraftwerk, S. 78; »Pate« für Teile der Texte (»Hier spricht die Stimme der Energie«) stand höchstwahrscheinlich eine Aufnahme Werner Meyer-Epplers von 1949, in der eine durch einen Vocoder verzerrte Stimme benutzt wurde; Kraftwerk benutzten einen fast identischen Text. Die Anregung kam wahrscheinlich aus dem Nachtprogramm des WDR, das von Hütter und Schneider schon seit den 1950er Jahren gerne gehört wurde, und das Aufnahmen vom Studio für elektronische Musik in Köln sendete, vgl. Broker, Kraftwerk, S. 106.
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Radioaktivität (in der englischsprachigen Version als Radio Activity) wurde zu einem großen Erfolg in Kontinentaleuropa – besonders in Frankreich, wo Album und Single vergoldet wurden59 –weniger jedoch in Großbritannien und den USA. In der Bundesrepublik entging großen Teilen des Publikums die Ironie des Titels, der für eine Hommage an die Atomkraft gehalten und deswegen teilweise abgelehnt wurde.60 1977 erschien das Album Trans-Europa-Express; abgemischt wiederum im Record Plant Studio. „Ironisch vielleicht“61, urteilte Kraftwerks französischer Biograph Pascal Bussy, „daß sie ihrer vom Konzept her europäischsten LP ausgerechnet an der Westküste der USA den letzten Schliff geben wollten“. In der Bundesrepublik wurde das Album, besonders auch die Gestaltung des Covers, von Teilen der Kritik wiederum scharf angegriffen, wobei man der Band Deutschtümelei und kommerzielle Beweggründe unterstellte: „Man hat auch nicht vergessen, dem Album ein vierfarbiges Poster beizulegen, auf dem die Vier-Mann-Band unter deutschen Linden, an einem typisch deutschen Nachmittagskaffeetisch, auf einem typisch deutschen Staudamm, der eine typisch deutsche Talsperre staut, abgebildet ist. Nicht zu vergessen die typisch deutschen Berge, die sich um die Talsperre versammeln. […] Warum diese Scheibe dennoch wieder sehr erfolgreich sein wird? Antwort: Im Ausland läßt sichˈs als deutscher Musiker leichter Geld verdienen, wenn man sich dem immer noch vorherrschenden Klischee über die Deutschen widerspruchslos unterordnet.“62
Die „Heimatmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet“63 wurde in der Tat zu einem kommerziellen Erfolg – ob das allerdings unbedingt mit »Unterordnung« zu tun hatte, mag bezweifelt werden.64
59
EMI Press Report Nr. 6, Februar 1977, Klaus Kuhnke Archiv, Sammlung Ehnert; dazu auch Musik Joker Nr. 22/1976.
60
Vgl. beispielsweise Sounds 2/1976. Zu Beginn der 1980er Jahre gingen Kraftwerk auf ihre bundesdeutschen Kritiker ein und veränderten den Text des Stückes Radioaktivität auf Live-Konzerten zu einer eindeutigen Aussage gegen Atomkraft; man sei in Bezug auf die Rezeption des Titels naiv gewesen, so begründete Hütter die Veränderung in Sounds 8/1981.
61
Bussy, Kraftwerk, S. 83.; dazu auch Musik Joker Nr. 22/1976.
62
Fachblatt 3/1977; in Sounds erschien eine ähnliche Kritik, vgl. Sounds 5/1977.
63
So eine Selbstbezeichnung von Florian Schneider in Musik Joker 2/1977.
64
In den USA erschien das Album mit einer Verspätung von etwa einem Jahr in den Charts, als es sich ausgehend von New York City zum Diskotheken-Hit entwickelt hatte, vgl. Pressemitteilung von EMI Electrola GmbH (14.06.1978), Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert.
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Abbildung 26: Kraftwerk 1975, Florian Schneider (links) und Ralf Hütter.
1978 erschien als letzte Veröffentlichung Kraftwerks in den 1970er Jahren das Album Mensch Maschine.65 Es erwies sich als außerordentlich erfolgreich, von Beginn an auch in der Bundesrepublik. Die besondere Aufmerksamkeit begann wie erwähnt bereits mit der aufwendig gestalteten Release Show in der New Yorker Park Avenue, auf der etwa 250 Journalisten aus aller Welt zugegen waren: „Nach Wagner und Straußmusik begann es, aus den Lautsprechern zu blubbern und zu wabern – das Zeichen für die Überraschung des Abends“66, berichtete der Vertreter des Musik Express. „Da standen sie plötzlich mitten in ihren Klanggebilden […] in knallroten Hemden und dunklen Flanellhosen, auf den schwarzen Krawatten kleine Glühbirnen aufgereiht, deren Licht im Rhythmus tänzelte. Die Überraschung war gelungen: was da nämlich in Lebensgröße von der Bühne herunterlächelte, waren verblüffend echt nachgemachte Schaufensterpuppen. Die echten Hütter und Schneider schlichen sich unterdessen unerkannt unters Volk.“67 Die von nun an häufig eingesetzten, den Mitgliedern Kraftwerks täuschend echt nachempfundenen Schaufensterpuppen und das an Arbeiten des russischen Avantgardisten El Lissitzky angelehnte Design hoben die Konzeptualisierung der Band als Gesamtkunstwerk nach Ansicht der Pop-Kritik auf eine neue Stufe. Das Konzept der »Mensch Ma65
Vgl. ebd.; vgl. auch Musik Joker 5/1978; ein wahres »Meisterwerk« war das Album für das Fachblatt, vgl. Fachblatt 6/1978.
66 67
Musik Express 6/1978. Ebd.; ausführlich zu den Puppen etwa auch Pop 11/1978; Melody Maker 22.04.1978; New Musical Express 29.04.1978.
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schine«, zum ersten Mal aufgetaucht 1975, schien mit dem gleichnamigen Album und den Schaufensterpuppen in roten Hemden und schwarzen Krawatten zu voller Perfektion gereift – und entwickelte sich in den Jahrzehnten danach zu einem geradezu ikonischen Bild der Popgeschichte. Die von Emil Schult konzipierten ästhetischen Bezüge zur klassischen Moderne der 1920er Jahre verschmolzen mit den musikalischen Referenzen zum spätindustriellen Zeitalter und dem eleganten, weltläufigen Stil und Habitus der Band zu einer konzeptionellen Einheit. Die dadurch entstehende, spezifische Ästhetik wurde transnational als einzigartig wahrgenommen und zeigte sich auch in den Folgejahrzehnten als stilprägend. Im Jahr 1981 erschien Computerwelt, das über drei Jahre entwickelt worden war – und deswegen hier ebenfalls kurz zur Sprache kommen soll. Das Ende der 1970er Jahre hatte die Band unter anderem auch darauf verbracht, ihr Equipment an den neuesten technologischen Stand anzupassen: Kraftwerk verwandelten ihr gesamtes Studio in ein transportables, von nun an auch für Live-Auftritte benutzbares Setup.68 „Wir meinen, daß die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, die Musik der achtziger Jahre auch auf den Instrumenten der achtziger Jahre gespielt werden muß“69, so Hütter zur Veröffentlichung des Albums. „Die kann nicht zur Gitarre nachgesungen werden. Die Gitarre ist ein Instrument aus dem Mittelalter.“ Kraftwerk waren zu diesem Zeitpunkt weltweit zu einem Synonym für modernste Instrumenten- und Studiotechnologie geworden, und mit dem Album Computerwelt auf dem Zenit ihres Schaffens angekommen; als Konzeptalbum war Computerwelt ein politisches, zugleich ambivalentes Statement zur einsetzenden digitalen Revolution. Das Album erschien mit landesspezifischen Beilagen in Dutzenden Ländern; die anschließende Welttournee mit mehr als 80 Konzerten in Europa, Nordamerika, Asien und Australien war die letzte Tournee Kraftwerks für fast zehn Jahre. Nicht nur am Rhein, auch in West-Berlin entwickelte sich im Laufe der 1970er Jahre mit der sogenannten »Berliner Schule« eine nach ihrem Sound lokalisierte Variante des Krautrock, die ebenso wie ihre »Schwester« aus Düsseldorf als frühes Beispiel einer „promotion and production of localized difference for global consumption“70 gelten kann. Generell rückten nationale Zuschreibungen am Ende des Jahrzehnts eher in den Hintergrund, während zunehmend lokale oder regionale »Szenen« für Konstruktionen von »Echheit« oder »Authentizität« herangezogen wurden – eine Praxis, die sich in den Folgejahrzehnten verfestigte. Im Falle der 68
Vgl. das mehrseitige Spezial mit vielen technischen Einzelheiten in Keyboard Magazine, Mai 1982; zum Album Computer World vgl. etwa Melody Maker 09.05.1981; New Musical Express 16.05.1981, ausführlicher 13.06.1981.
69
Pressemitteilung der EMI Electrola Presse Pop nat. (undatiert, 1981), Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert.
70
OˈFlynn, Authenticity, S. 29. Zum „Kraut-Rock aus der Berliner Schule“ vgl. zeitgenössisch Der Musikmarkt 15.05.1979.
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»Berliner Schule« galten insbesondere Tangerine Dream, Klaus Schulze und Ashra als „Wegbereiter“71 eines distinkten »Berliner Sounds«. Hinter dem Namen Ashra verbarg sich das Solo-Projekt Manuel Göttschings, ehemals Teil des Trios Ash Ra Tempel, der nach den Aufnahmen und Sessions um Timothy Leary, Sergius Golowin, Walter Wegmüller und die Cosmic Jokers zunächst kurze Zeit unter seinem Echtnamen in Erscheinung getreten war. Sein erstes Album unter dem Namen Ashra, New Age of Earth, erschien 1977 auf Virgin, und bereits der Titel zeigte die weitere musikalische Entwicklung Göttschings für die späten 1970er Jahre an. „Göttschings Musik strahlt Wärme aus und die Zuversicht, daß Deutschlands Avantgarde-Musiker mitten in einer äußerst positiven Entwicklung stehen“72, so der Musik Express. Trotz der insgesamt positiven Kritik in der Fachpresse basierte aber auch der Erfolg Ashras in erster Linie auf guten Verkaufszahlen im europäischen Ausland, insbesondere in Frankreich. Bezeichnend war Göttschings Tournee im Jahr 1977, die knapp zwei Dutzend Konzerte in Frankreich, Benelux, der Schweiz und Großbritannien umfasste, kein einziges jedoch in der Bundesrepublik.73 Für Klaus Schulze, weiterer Wegbereiter des Krautrock und der »Berliner Schule«, gestaltete sich die zweite Hälfte der 1970er Jahre außerordentlich erfolgreich. Auch bei ihm stellte sich der kommerzielle Erfolg insbesondere außerhalb der Bundesrepublik ein.74 Nach einer Zusammenarbeit mit Michael Hoenig und mehreren Auftritten mit Edgar Froese (beide auch Tangerine Dream) entstand Mitte der 1970er Jahre in Schulzes Studio in West-Berlin eine Reihe von Soloalben, deren kommerzielle Erfolge ihn in die Lage versetzt wurde, sein Studio technologisch weiter »aufzurüsten«. Daneben entfaltete Schulze eine Vielzahl von weiteren Aktivitäten: 1974 und 1975 produzierte er zwei Alben der japanischen Far East Family Band, wobei er unter anderem die späteren Solomusiker Akiro Ito und Kitaro in den Gebrauch elektronischer Instrumente einführte.75
71
Der Musikmarkt 15.05.1979.
72
Musik Express 9/1977.
73
Zu Ashra vgl. etwa Sounds 3/1978; Sounds 6/1979; Musik Express 5/1979.
74
Ein frühes mehrseitiges Portrait findet sich in Fachblatt 8/1975; ab 1976 erschienen im Fachblatt mehrseitige und reich bebilderte Artikel über Schulze annähernd im Monatsrhythmus; umfangreich ist auch eine Selbstdarstellung für Günter Ehnert auf einem Briefbogen der Klaus Schulze Productions (»Coordinator: Klaus D. Müller«), Dezember 1977, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. Ein Beispiel für das Gewicht, das Schulze außerhalb der Bundesrepublik bereits in den frühen 1980er Jahren im Hinblick auf die Entwicklung elektronischer Musik beigemessen wurde vgl. Keyboard Magazine, Mai 1983.
75
Kitaro bedankte sich auf seinem ersten Album mit einer Widmung.
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Abbildung 27: Klaus Schulze 1980. Der Computer rechts deutet die einsetzende Digitalisierung an, Schulzes Helm erinnert an ein head mounted display der Gegenwart.
Anfang 1976 war er an den mehrmonatigen Aufnahmen zu Stomu Yamashtas Projekt Go! beteiligt, dem sich neben einer transnational viel beachteten Veröffentlichung zwei Konzerte in London und Paris anschlossen, sowie im Folgejahr ein zweiter Teil namens Go Too.76 Im Herbst 1976 erhielt Schulze ein Angebot des italienischen Regisseurs Lasse Braun, einen Pornofilm zu vertonen: „Meine anfängliche Skepsis – es handelte sich schließlich um einen »Porno« – wich, als ich Lasse kennenlernte. Ein sehr angenehmer Freak und eine sehr schöne Zusammenarbeit“77, resümierte Schulze nach Abschluss der Arbeiten im Jahr 1977. Body Love, so der Titel des Films und des Albums, war insbesondere im europäischen Ausland, aber auch in den Vereinigten Staaten ein kommerzieller Erfolg. Im April 1976 absolvierte er neben den genannten Projekten und Veröffentlichungen knapp zwei Dutzend Konzerte in Frankreich und Benelux, darüber hinaus erhielt er in Frankreich den Grand Prix International Du Disque in der Sparte »aktuelle Tendenzen«; damit befand sich Schulze in einer illustren Reihe mit Preisträgern wie Pink Floyd oder Jimi
76
Für ausführliche Berichte zu den Go-Projekten vgl. Melody Maker 24.04.1976 und 09.04.1977; auch New Musical Express 12.06.1976. Die Projekte wurden transnational breit rezipiert, erfuhren aber in der bundesdeutschen Rezeption eher marginale Beachtung; als Ausnahme vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.09.1976.
77
Selbstdarstellung auf einem Briefbogen der Klaus Schulze Productions, Dezember 1977, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
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Hendrix.78 Als Schulze am Ende der 1970er Jahre auch in der Bundesrepublik zunehmend populär wurde, geschah das nicht ohne Verweis auf den „Umweg über die Anerkennung in der Fremde“79, bevor er „letztendlich hierzulande sein Publikum“ gefunden habe. Schulze produzierte am Ende der 1970er Jahre eine Reihe weiterer Soloalben und Filmmusik.80 Darüber hinaus setzten sich die ausgeprägten Konzert-Aktivitäten Schulzes in den Folgejahren fort: Nach weiteren, knapp zwei Dutzend Konzerten in Großbritannien, Belgien und Frankreich folgte im Mai 1977 die erste groß angelegte Tournee durch die Bundesrepublik, sowie 1978 eine ausgeprägte Europatournee zum zehnjährigen Bühnenjubiläum Schulzes. Neben seinem Bühnenjubiläum feierte er zwei weitere zehnjährige Jubiläen: Zehn Jahre Berufsmusiker und zehn Alben als Solo-Künstler. „Der Dreifach-Jubilar Schulze gilt heute nicht nur in Deutschland als einer von denen, die die gegenwärtige Musikszene stark belebt und sogar zum großen Teil verändert haben – nicht auf spektakuläre Weise, dafür aber professionell und umso nachhaltiger. Mit dem Synthesizer öffnete er der modernen Musik gänzlich neue Dimensionen“81, gratulierte Der Musikmarkt. Wie Schulze zur »Berliner Schule« gehörten Tangerine Dream, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre weltweit kommerziell erfolgreich waren. Als Avantgarde galten Tangerine Dream nicht zuletzt aufgrund ihrer Instrumententechnologien und der Art und Weise, wie sie sie bedienten und präsentierten; in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre spielte die Band auch auf Sonderanfertigungen oder Prototypen namhafter Hersteller. Nach der Trennung von Rolf-Ulrich Kaiser und der Ohr Musikproduktion begab sich die Gruppe zunächst auf die Suche nach einem neuen Label.82 In der Bundesrepublik war keine der in Frage kommenden Schallplattenfirmen an Tangerine Dream interessiert, so dass nach längerer Suche schließlich ein Kontakt mit Virgin zustande kam. Bei Betreten des Büros in London dachte Edgar Froese in Anspielung an Rolf-Ulrich Kaiser zunächst, er sei „vom Regen in die Traufe geraten. In dem Büro stand nur das Notwendigste, und die drei Typen, die da rumhingen, sahen nicht gerade wie dynamische Jungmanager aus. Ich hab dann 78
Vgl. Der Musikmarkt 01.04.1976.
79
Frankfurter Allgemeine Zeitung 12.10.1978.
80
Das Album Mirage (1977) wurde in der bundesdeutschen Kritik als sein bisher „ausgereifteste[s] Werk“ bezeichnet, so Sounds 8/1977; zu diesem und weiteren Alben vgl. auch Sounds 11/1977 und 11/1978. Alle Soloalben Schulzes bis Ende der 1970er Jahre wurden von Brain veröffentlicht; 1979 schloss Schulze einen erneuten Vertrag mit der Hamburger Metronome über 2,5 Millionen DM für vier Jahre (weltweit), vgl. handschriftliche Notiz von Günter Ehnert, undatiert (wahrscheinlich 1979), Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert.
81
Der Musikmarkt 15.09.1978.
82
Vgl. Musik Express 7/1975.
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mit Mike Bronson [die Rede ist von Richard Branson, A.S.] geredet, der mir außer seinen Ideen nichts Konkretes bieten konnte. Aber diese faszinierten mich. Danach hatten wir gesucht.“83 Tangerine Dream wurden von Branson unter Vertrag genommen und blieben über die 1970er Jahre hinaus bei Virgin, ein wesentlicher Faktor für die transnationale Verbreitung und den kommerziellen Erfolg der Band. Ab 1974 wurden Tangerine Dream dementsprechend besonders in Großbritannien und den Vereinigten Staaten populär, auch in Frankreich war die Gruppe – wie alle »Elektroniker« der »Berliner Schule« – außerordentlich beliebt. Der erste transnationale Erfolg des Trios mit der Besetzung Edgar Froese, Christopher Franke und Peter Baumann war das Album Phaedra, aufgenommen in den Tonstudios von Virgin in Oxfordshire. Auf Phaedra folgten die Alben im Jahrestakt, zunächst noch in Oxfordshire, später wieder in West-Berlin produziert.84 Auch zwei Live-Alben waren darunter: das im Herbst 1975 das nach einem französischen Videospiel benannte Ricochet, das in mehreren europäischen Kathedralen aufgenommen worden war, und 1977 das Live-Album der ersten US-Tournee namens Encore.85 Nach der US-Tournee verließ Peter Baumann die Gruppe, die letzten drei Alben der 1970er Jahre wurden mit verschiedenen Besetzungen aufgenommen – wobei Edgar Froese und Christopher Franke weiterhin den Kern Tangerine Dreams bildeten. In der Bundesrepublik blieben Tangerine Dream in den 1970er Jahren ein eher marginales Phänomen: „Während das Trio in anderen Ländern bereits zu den Supergruppen zählt (so ernteten sie in Australien und England bereits Goldene Schallplatten); gilt es für sie, das eigene Land erst noch zu erobern“86, stellte Winfried Trenkler Ende 1976 fest. Trenkler verwies in diesem Zusammenhang auch auf die nicht nur seiner Ansicht nach unsachlichen Attacken, wie sie beispielsweise in verschiedenen bundesdeutschen Popmusik-Lexika gegen Tangerine Dream gefahren wurden.87 Die Marginalisierung Tangerine Dreams in der Bundesrepublik spiegelte sich wiederum auch in dem Tourneeplan der Gruppe, die Hauptaktivitäten lagen im Ausland: Im Laufe der 1970er Jahre unternahmen Tangerine Dream eine Vielzahl von Tourneen Europa (unter anderem Frankreich und Großbritannien) sowie Australien; im Jahr 1977 folgte die besagte erste Konzertreihe in den Vereinigten Staa83
So Edgar Froese in Musik Express 7/1975; dazu auch ein Interview in Fachblatt 1/1980.
84
Vgl. Sounds 12/1976; Der Musikmarkt 15.01.1978; Musikinformation 01/1978.
85
Vgl. Sounds 3/1976; zu Encore vgl. Sounds 12/1977.
86
Der Musikmarkt 01.10.1976; sehr ähnlich auch Musikinformation 11/1976; Musik Joker Nr. 22/1976. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde die Gruppe mit ihren Beiträgen für das Fernsehen, beispielsweise für eine Folge des Tatorts (Mädchen auf der Treppe, D 1982).
87
Musik Joker Nr. 22/1976; als Beispiel für eine „unlexikalische Unverschämtheit“ nannte Trenkler etwa den Abschnitt über Tangerine Dream in der zu diesem Zeitpunkt aktuellen Zusammenstellung Schmidt-Joos/Graves, Rock-Lexikon.
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ten, verbunden mit einer spektakulären Laser-Show, die für große mediale Aufmerksamkeit sorgte; nur vereinzelt fanden Konzerte in der Bundesrepublik statt.88 1980 traten Tangerine Dream als erste westdeutsche Popband im Ost-Berliner Palast der Republik auf – ein geheimer Mitschnitt wurde in der DDR als Bootleg unter dem Namen Staatsgrenze West gehandelt. Tangerine Dream wirkte weit über die jeweils aktuelle Besetzung und Aktivitäten hinaus stilprägend und war eine der langlebigsten Formationen des Krautrock. Gründungs- und einziges dauerhaftes Mitglied Edgar Froese etwa produzierte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre allein fünf Solo-Alben. Auch Peter Baumann nahm noch vor seinem Abschied von der Gruppe sein erstes Solo-Album auf, an dem das Philharmonische Orchester München beteiligt war; 1978 folgte ein zweites.89 1977, dem Jahr seines Abschieds von Tangerine Dream, richtete Baumann ein Tonstudio in West-Berlin ein, das zu einer Anlaufstelle für Produzenten elektronischen Krautrocks avancierte, unter anderem für Alben von Hans Joachim Roedelius, Cluster oder Conrad Schnitzler, bevor Baumann samt Studio 1979 in die USA übersiedelte. Michael Hoenig wiederum, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Mitglied von Agitation Free und Mitte des Jahrzehnts zeitweiliger Partner sowohl Klaus Schulzes als auch Tangerine Dreams, betrieb gegen Ende der 1970er Jahre ebenfalls ein Tonstudio in West-Berlin.90 1978 wurde sein erstes Solo-Album Departure from the Northern Wasteland auf dem Major Label WEA veröffentlicht: „Hoenig ist seit Jahren der erste kontinentale Künstler, der ohne Umweg über ein europäisches Tochterunternehmen direkt in Amerika einen weltweiten Vertrag geschlossen hat“91, so eine Pressemitteilung von WEA. Dass Siegfried E. Loch zu diesem Zeit-
88 89
Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.02.1978. Zu Baumann vgl. etwa Notizen von Günter Ehnert (undatiert) und Press Releases von Ariola Eurodisc GmbH (August 1981), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert. Zu den Alben Baumanns vgl. Musik Express 6/1977, Sounds 7/1977; das erste Album erfuhr relativ breite Resonanz in den Vereinigten Staaten, vgl. die Branchenzeitungen Record World 24.09.1977; Cash Box 24.09.1977; in der US-Musikzeitschrift Trouser Press wurde es ganzseitig beworben, vgl. The Transoceanic Trouser Press 9/1977 und 10/1977; eine positive Kritik fand sich auch in Contemporary Keyboard 01/1978; auch in der New York Times 23.10.1977. „Ein wunderschönes Synthesizer-Album,“ so der Musik Express 8/1978 zum zweiten Album; in den USA dazu Contemporary Keyboard 19/1979.
90
Dazu vgl. Selbstauskunft Michael Hönig (undatiert, ca. 1978), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
91
WEA Press Release, Mai 1978, Klaus Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; das Branchenblatt Der Musikmarkt zu Hoenigs Album vgl. Der Musikmarkt 15.06.1978; Down Beat 05.10.1978; Contemporary Keyboard 06/1978; Synapse Nr. 2/1978; im Januar
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punkt bereits Vizepräsident der WEA International war, mag dabei eine Rolle gespielt haben. „Warner Communications in New York hat Beckenbauer für Cosmos gekauft, Warner Bros. Records holte Hoenig für die Initiative eines neuen »Divertissement« in der amerikanischen Musik nach Los Angeles“, hieß es zu diesem Anlass jedenfalls. Nach einem zweiten Album am Ende der 1970er Jahre wanderte Hoenig 1980 wie zuvor Baumann samt seinem Tonstudio in die Vereinigten Staaten aus und begann Filmmusik zu produzieren.92 Filmmusik wurde auch für Tangerine Dream ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre immer wichtiger, wie im Falle der beiden ehemaligen Mitglieder insbesondere in den Vereinigten Staaten. Damit unterschieden sich die Vertreter der »Berlin School« von anderen Vertretern des Krautrock, die bereits seit 1968 eng mit der Entwicklung des bundesdeutschen Films verbunden waren. Zwar erlebte auch das New German Cinema mit Vertretern wie Wim Wenders, Werner Herzog, Rainer Werner Fassbinder oder Hans-Jürgen Syberberg in den USA einen Boom – allerdings nicht in der breiten Öffentlichkeit, sondern in Marktnischen, als Teil des Art House Angebots insbesondere für Studenten und Intellektuelle.93 Tangerine Dream hingegen stiegen mit der Vertonung von Blockbuster-Produktionen in den USamerikanischen Filmmarkt ein. Im Laufe der 1970er Jahre und besonders im Folgejahrzehnt wurden einem breiten Publikum durch die Produktion einer Vielzahl von Soundtracks bekannt.94 Ihr Beitrag für den Film Sorcerer des Regisseurs William Friedkin bedeutete 1977 den Durchbruch auf dem US-amerikanischen Markt.95 In den 1980er Jahren folgten Vertonungen von Millionenproduktionen wie beispielsweise Thief, Risky Business, Legend oder Near Dark,96 die ihnen insgesamt mehrere Grammy-Nominierungen einbrachten.
veröffentlichte die Fachzeitschrift Contemporary Keyboard ein mehrseitiges Spezial zu Michael Hoenig, vgl. Contemporary Keyboard 01/1979. 92
Vgl. dazu Selbstauskunft Hoenig (undatiert, ca. 1982), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
93
Vgl. Trommler, Kulturpolitik, S. 402f.
94
Zu Tangerine Dreams Filmmusik vgl. unter anderem Stump, Digital Gothic, S. 76–108.
95
Sorcerer (USA 1977; deutscher Verleihtitel: Atemlos vor Angst); der Film wurde in den englischsprachigen Medien massiv beworben, insbesondere und explizit der Soundtrack Tangerine Dreams, vgl. beispielweise Cash Box 02.07.1977; „Tangerine Dream has so completely captured the nail-biting intensity of the cinematic subject matter that the sound track becomes sort of a separate »film for the mind«,“ so die Los Angeles Times 14.08.1977; „their score manages to convey the banality of evil very well, being banal itself and evil in the sense it can give cruel headaches,“ so Crawdaddy! 10/1977.
96
Thief (USA 1981; deutscher Verleihtitel: Der Einzelgänger); zu Thief vgl. etwa Stereo Review 08/1981; Risky Business (USA 1983; deutscher Verleihtitel: Lockere Geschäf-
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Mit Düsseldorf und West-Berlin bildeten sich in den 1970er Jahren zwei lokale Schwerpunkte des Krautrock heraus, in Anbetracht derer sich nationale Zuschreibungen gegen Ende des Jahrzehnts langsam auflösten – mit der Ausnahme Kraftwerks, von der bereits die Rede war. Sie wurden transnational als distinkte Szenen mit einem jeweils charakteristischen Sound wahrgenommen; inwieweit die entsprechenden Gruppen und Interpreten des Krautrock tatsächlich an diese Lokale rückgebunden waren, sei dahingestellt. Einfacher zu identifizieren war der sprachliche Unterschied: Während die »Berliner Schule« fast gänzlich ohne Text auskam und ihre Stücke wie Alben überwiegend englischsprachig betitelte, waren die Titel in der »Düsseldorfer Szene« überwiegend deutschsprachig – und wiesen mehr Text auf. Eine Ausnahme bildeten wiederum Kraftwerk, die ab 1976 jedes Album in zwei Versionen veröffentlichten: englischsprachig für den globalen und deutschsprachig für den nationalen Markt. Die Mehrsprachigkeit Kraftwerks war Teil ihrer konzeptuellen Ausrichtung, die in der beabsichtigten Konstruktion einer europäischen Identität begründet war und ein kosmopolitisches Image transportieren sollte.97 Mit zunehmender Transnationalisierung und der Entstehung neuer lokaler Szenen weit über die Bundesrepublik hinaus rückten im letzten Drittel der 1970er Jahre zunehmend auch nationale Zuschreibungen und Stereotype in den Hintergrund, mit denen der Krautrock bis Mitte der 1970er Jahre bedacht worden waren. Gleichzeitig veränderten sich die Konstellationen: Die Gruppen der frühen Jahre lösten sich auf oder verschwanden aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Neben Kraftwerk und Tangerine Dream, die zunächst weiter im Zentrum des Interesses standen, rückten zunehmend andere Akteure und Interpreten in den Fokus, die sich aus der KrautrockSzene heraus entwickelten. Dazu gehörten neben vielen Musikern die beiden Tonmeister und Produzenten Dieter Dierks und Conny Plank, die zu global gefragten Meistern ihres Metiers avancierten. Der experimentelle Charakter der späten 1960er bis mittleren 1970er Jahre trat bei den meisten Akteuren zunehmend in den Hintergrund; am Ende der 1970er Jahre waren Beiträge aus der Bundesrepublik in der allgemeinen Wahrnehmung zunehmend Teil eines »transnationalen flows« der Popmusik.
te); Legend (USA/GB 1985; deutscher Verleihtitel: Legende); Near Dark (USA 1987; deutscher Verleihtitel: Near Dark – Die Nacht hat ihren Preis). 97
„Die Begegnung mit Amerika hat uns ein neues europäisches Bewußtsein gegeben,“ so Florian Schneider und Ralf Hütter in Sounds 3/1977. Zugleich lokalisierten sich Kraftwerk auch selbst innerhalb Europas und unterhalb der nationalen Ebene: „Es geht nicht um politische Einheiten […]. Wir sind uns dessen bewußt, daß wir von hier sind […]. Von Rhein und Ruhr, von Düsseldorf und Krefeld“, so Ralf Hütter, zitiert nach einer Pressemitteilung der Firma EMI zum Erscheinen des Albums Trans Europa Express (undatiert, ca. 1977), Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert.
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„S CHWINGUNGEN “ 98: I NSTRUMENTE
UND
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T ONSTUDIOS
„Die Revolution der Pop-Musik ist die Emanzipation der modernen Elektronik.“99 Sounds, 1969 „Der anglo-amerikanische Vorsprung in der StudioTechnik ist aufgeholt […]. Leute wie Dieter Dierks und Conny Plank zählen zu den profiliertesten Tonkutschern der Welt.“ Winfried Trenkler, 1979
Die Technologie- und Klanggeschichte, insbesondere die Entwicklung der Studiound Instrumententechnologie sowie mit sich verändernden Aufnahmekonzeptionen sind wesentliche und zugleich oft unterschätzte Bestandteile der Popgeschichte. Rasante technologische Entwicklungen und verschiedene Arten der Nutzung und Anwendung waren grundlegende Faktoren der Entstehung von Popmusik seit den 1950er Jahren. Technologie spielte „insgesamt eine viel größere Rolle als gemeinhin angenommen“, so etwa der Musikwissenschaftler Peter Wicke, „da nur das, was im Studio technisch realisierbar ist, Popmusik sein oder werden kann.“100 Die Wahrnehmung des Phänomens Krautrock als konstitutiver Säule der Popmusik beruht wesentlich auf der zu diesem Zeitpunkt unkonventionellen Anwendung »klassischer«, oder der besonders frühen Anwendung neuester Instrumenten- und Studiotechnologie; darüber hinaus aber auch auf neuartigen Aufnahmekonzeptionen zweier bundesdeutscher Tonmeister bzw. Produzenten, von denen folgend ausgiebig die Rede sein wird. Popmusik war von Vornherein eine »elektrifizierte Musik« – im Gegensatz zu anderen populären Genres wie etwa Jazz, Blues oder Folk, in deren Entwicklungsgeschichte elektromechanische Instrumente erst zu einem späteren Zeitpunkt auf tradierte »akustische« Strukturen stießen und nur langsam, oft gegen große anfäng-
98
Titel des Albums Ash Ra Tempel, Schwingungen, 1971.
99
Sounds 12/1969.
100 Wicke, Umgang, S. 47; Frith, Aesthetic, S. 135; Ruppert (Hg.), Kulturgeschichte der Alltagsdinge; Siegfried, Klang und Revolte, S. 258; Coopey, Music Industry, S. 156; zeitgenössisch Zeppenfeld, Tonträger; Blaukopf (Hg.), Technik, Wirtschaft und Ästhetik; auch Conny Plank in Der Musiker hinter der Scheibe (SR 1979).
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liche Widerstände Einzug hielten.101 Die Besetzung einer »klassischen« Rock & Roll-Band hingegen bestand von Beginn an im Wesentlichen aus E-Gitarre(n), EBass sowie Schlagzeug und Gesang, die über Mikrophone ebenfalls elektrisch »abgenommenen« und verstärkt wurden. Diese Art und Weise der besonders am Beispiel des Rock & Roll sichtbar gewordenen »Elektrifizierung« der Populärmusik hatte enorme kulturelle Implikationen; sie veränderte die Rollen aller am Produktionsprozess beteiligten Akteure, aber auch der Konsumenten fundamental.102 Sie stand für die Verbindung von Musik mit der industriellen Moderne und eröffnete die Möglichkeit „das ganze industrielle Ensemble akustisch zu simulieren und zu interpretieren. Die Technologie selbst war es, die derartige künstlerische Deutungen ermöglichte, ja sogar auf die Tagesordnung setzte“103 – ein Prozess, der in der Soziologie als Übergang von der »Jazz-« zur »Rock-Ästhetik« bezeichnet worden ist.104 Ein ähnlich fundamentaler Einschnitt in der Klang- und Technikgeschichte der Popmusik ist etwa 20 Jahre später zu konstatieren, als elektronische Instrumente und Aufnahmetechniken Einzug hielten: Dieses Mal waren es das Space Age, die digitale Revolution und das Heraufziehen der postindustriellen Gesellschaft, die akustisch simuliert und interpretiert wurden, und wiederum war es die Technologie, die entsprechende popmusikalische Deutungen erst ermöglichte.105 Ein Übergang von der Rock- zur »Techno-Ästhetik«, wenn man so will.106
101 Berühmt geworden ist dahingehend zum Beispiel die so genannte Electric Dylan Controversy, die sich um den ersten Auftritt Bob Dylans mit E-Gitarre auf dem Newport Folk Festival im Jahr 1965 entfaltete. 102 Es handele sich nicht nur um eine neue Vermittlungsweise, sondern eine vollkommen neue Qualität von Musik, so bereits Blaukopf/Gaisbauer, Musikalische Verhaltensweisen, S. 48; durch die Elektrifizierung der Popmusik wurde die gesellschaftliche Rolle des Sängers, der Musiker, des Songwriters, aber auch des Publikums grundlegend verändert, so Harker, One for the Money, S. 29. 103 Siegfried, Time, S. 279. 104 Vgl. Peterson, Why 1955. 105 Zum Zäsurcharakter elektronischer Popmusik vgl. zeitgenössisch Griffiths, Electronic Music, S. 29; den transnationalen Charakter der Entwicklung betont Young, Roll Tape, S. 17; vgl. auch Pinch/Trocco, analog days, S. 6f. Die Tonerzeugung elektronischer Instrumente, so die lexikalische Unterscheidung, basiert allein auf Frequenzgeneratoren; im Gegensatz zu elektromechanischen Instrumenten wie der E-Gitarre beinhalten elektronische Instrumente keine mechanischen Bauteile zur Tonerzeugung und keine Tonabnehmer. 106 Bereits 1975 war in der US-amerikanischen Musikzeitschrift Creem angesichts bundesdeutscher Bands und ihres Umgangs mit Instrumenten- und Aufnahmetechnik von einem „Techno-Flash“ die Rede, vgl. Creem 3/1975.
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Die technologischen und ästhetischen Fundamente elektronischer Musik wurden spätestens in den 1940er Jahren gelegt – zunächst vorwiegend in mit öffentlichen Mitteln finanzierten, staatlichen oder halbstaatlichen Institutionen.107 Vor allem aufgrund seiner Größe, der Anfälligkeit für Defekte und der enormen Anschaffungs- und Unterhaltskosten blieb elektronisches Instrumentarium jedoch vorerst eine Angelegenheit öffentlicher und akademischer Einrichtungen. Köln entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem mit US-amerikanischer Unterstützung aufgebauten Studio für elektronische Musik des NWDR neben Paris und New York zu einem frühen Zentrum elektronischer Musik, bevor sich entsprechende Einrichtungen ab Mitte der 1950er Jahre über die Industriestaaten östlich und westlich des Eisernen Vorhangs auszubreiten begannen: prominent etwa in Mailand, Tokio, Warschau, München, Eindhoven, London und Stockholm. Erste Spuren außerhalb staatlicher bzw. öffentlicher Institutionen hinterließen die elektronischen Sounds mit ihrer als »mystisch« und fremdartig empfundenen Aura ab den 1950er Jahren als Soundtrack des mit dem frühen Space Age einhergehenden Science-FictionBooms und in der Werbung.108 Ab Ende der 1960er Jahre tauchten elektronische Instrumente in der Popmusik auf, zunächst noch als begleitender oder ergänzender Faktor des »traditionell« elektromechanischen, vornehmlich auf der E-Gitarre basierenden Instrumentariums.109 Ab 1970 rückten sie zunehmend in das Zentrum der Popmusik; dabei spielten Krautrock-Interpreten und Gruppen weltweit wegweisende Rollen: „With the rise of popularity of bands like Tangerine Dream or Kraftwerk, electronic music is reaching a new boom period“110, stellte der Melody Maker 1975 fest. Im Jahr 1964 kam mit dem Moog Synthesizer die erste frei erhältliche Generation von Synthesizern auf den Markt, wobei sich die Bezeichnung »Synthesizer« für das neue Instrument erst retrospektiv, etwa um 1970 durchsetzte.111 Der USamerikanische Physiker Robert Moog, für den Melody Maker „the man who 107 Vgl. Griffiths, Electronic Music, S. 15f. 108 Zum Einsatz im Genre der Science Fiction vgl. Pinch/Trocco, analog days, S. 33f. 109 Grateful Dead waren eine der ersten Gruppen der Popmusik, die elektronisches Instrumentarium einsetzten. Andere Pioniere auf diesem Gebiet waren The Beatles, die Silver Apples oder Frank Zappa. Allesamt nannten dabei Karl-Heinz Stockhausen als entscheidenden Einfluss, vgl. Young, Roll Tape, S. 20. 110 Melody Maker 04.10.1975; Karlheinz Stockhausen erschien auch in diesem mehrseitigen Artikel als wichtigster Vordenker und Vorbild der elektronischen Popmusik. Neben Kraftwerk und Tangerine Dream wurden Klaus Schulze, Cluster und Harmonia, Ash Ra Tempel und Popol Vuh als entscheidende Akteure genannt. Zum hohen Anteil bundesdeutscher Interpreten, Bands und Tonmeister bei der Entwicklung elektronischer Popmusik vgl. bereits Sandner, Sound & Equipment, S. 91. 111 Vgl. Pinch/Trocco, analog days, S. 53–67.
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brought rock into the space age“112, vereinte mit dieser Entwicklung zum ersten Mal alle zu diesem Zeitpunkt gängigen technologischen Komponenten zur Produktion und Bearbeitung elektronischer Sounds kompakt in einem Gerät. Durch seinen modularen Aufbau war es zudem frei kombinierbar, die einzelnen Elemente zur Klangerzeugung, Klangveränderung und Steuerung (wie etwa Oszillatoren, Filter oder Klaviatur) wurden über Kabel und Steckverbindungen miteinander verbunden.113 Ein großer Vorteil dieser Instrumente war, dass eine bisher ungekannte Menge an verschiedenen Klängen produziert werden konnte – der Nachteil, dass sich ihre Bedienung als umständlich und aufwendig erwies und einmal »gefundene« Klänge nur schwer wieder reproduziert werden konnten. Zudem war auch der Moog ausgesprochen teuer, groß, anfällig für Defekte und umständlich bis nahezu unmöglich zu transportieren. Erste breite Aufmerksamkeit über Science-Fiction und Werbung hinaus erlangte der Moog mit dem Album Switched-On Bach von Walter Carlos im Jahr 1968, einer elektronischen Neuinterpretation von Werken Johann Sebastian Bachs, dem eine ganze Reihe weiterer »Switched-On«-Alben nach demselben Muster (der elektronischen Interpretation »klassischer« Musik) folgten. In etwa zeitgleich begann sich die US-amerikanische Gegenkultur für Robert Moogs Arbeit zu interessieren: In Verbindung mit psychedelischen Drogen und den »Acid Tests« Ken Keseys fanden elektronische Instrumente Eintritt in die Pop- und Gegenkultur der Bay Area.114 Auf dem Monterey Pop Festival 1967 fand ein von der Firma Moog betriebener Informationsstand großes Interesse unter den zahlreich anwesenden Musikern und Vertretern der Musikindustrie – Monterey wird als der Ort gehandelt, an dem der Synthesizer zu einem Instrument der Popmusik wurde.115 112 Melody Maker 16.02.1974; dort auch eine ausführliche Reportage über die Entwicklungsgeschichte des Moog Synthesizers. Bereits Mitte der 1970er Jahre galten Moog Synthesizer für die Zeitschrift Rolling Stone als Instrumente „[that] have bent the course of music forever,“ vgl. Rolling Stone 13.02.1975; ähnlich, mit Heraushebung der Wirkung des Instruments auf die Popmusik und konkreten Beispielen vgl. die Fachzeitschrift Contemporary Keyboard 10.09.1975; für die Bundesrepublik vgl. ein Interview mit Moog im Fachblatt 12/1975. 113 Vgl. Griffiths, Electronic Music, S. 19; Rhea, Modern Age, S. 56–59. 114 Dazu etwa der Rolling Stone 03.05.1969. Ken Kesey (1935-2001) ist insbesondere für seinen Roman One Flew Over the Cuckooˈs Nest (1962) bekannt, der ebenfalls bereits auf Experimenten mit psychoaktiven Substanzen sowie (und während) seiner Arbeit in einer psychiatrischen Anstalt beruhte. Kesey wird im Allgemeinen als höchst einflussreiche Persönlichkeit der späten Beat Generation und der US-amerikanischen Gegenkultur ab Mitte der 1960er Jahre zugleich betrachtet, mit einer entsprechenden Wirkkraft auch in gegenkulturelle bzw. alternative Kreise der Bundesrepublik. 115 Vgl. die detaillierte Beschreibung bei Pinch/Trocco, analog days, S. 117–130.
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Viele Musiker waren von den neuartigen, als schier »unendlich« wahrgenommenen Klangmöglichkeiten des Moog begeistert. Dazu gehörte eine Reihe von Gruppen und Interpreten des Krautrock, unter anderem und besonders früh die Münchner Popol Vuh. „Für uns ist der Moog Synthesizer die Möglichkeit, Klänge zu erzeugen, die wir noch nie gehört, immer nur geahnt haben“116, so Florian Fricke Anfang der 1970er Jahre über die Möglichkeiten und die Wirkung des neuartigen Instruments. „Du kannst etwa sieben Milliarden verschiedene Klänge erzeugen, und in jedem Klang manifestiert sich ein anderes Gefühl von dir. Die Musik, die man mit dem Moog machen kann, umfaßt schlechthin die Empfindungsmöglichkeit des Menschen.“ Gefühl, Empfindung und Emotion, ja sogar eine bewusstseinserweiternde Wirkung waren in Frickes Wahrnehmung zentrale Aspekte bei der Arbeit mit dem neuartigen Instrument: Der Moog sei „eine der wesentlichen großen, geistigen Zusammenfassungen unserer Zeit. Der elektronische Ton ist eine Nachbildung einer umfassenden Erfahrung. […] Die Musik, die man mit dem MOOG machen kann, umfaßt so die Empfindungsmöglichkeit des Menschen schlechthin, und so zeigt uns die Maschine einen ungeheuerlichen Weg, sich selbst in seinen ganzen Möglichkeiten zu erfahren. So verstehen wir unsere Musik auch in der Vermittlung als bewußtseinserweiternde Musik.“117
An kaum einer anderen Stelle wird man den Zeitgeist der »neuen Spiritualität« in Verbindung mit Popmusik und ihren neuen technologischen Möglichkeiten kondensierter finden; auch die Wahrnehmung des Sounds als potentiell bewusstseinserweiterndes Medium wird erneut deutlich. Fricke hatte wie erwähnt über den Komponisten Eberhard Schoener Zugang zum Moog erhalten, konnte privat entsprechende Geldmittel aufbringen und bereits am Ende der 1960er Jahre ein gebrauchtes Instrument erwerben.118 Damit war er der erste Akteur des Krautrock, der über einen Moog-Synthesizer (und überhaupt über einen Synthesizer) verfügte. Aber auch spätere »Elektroniker« des Krautrock in West-Berlin machten in etwa zu dieser Zeit erste Bekanntschaft mit elektronischem Instrumentarium in Thomas Kesslers Electronic Beat Studio in Wilmersdorf;
116 Zitiert nach Kaiser, Rock-Zeit, S. 300f. 117 Sounds 1/1971. Auch Edgar Froese (Tangerine Dream) war der Ansicht, elektronische Musik habe bewusstseinserweiterndes Potential, da es die Hörgewohnheiten weiter verändern und „einen positiven Einfluss auf unser gesamtes Bewusstsein nehmen“ würde, so in Pop 9/1973. 118 Eberhard Schoener hatte den Moog auf einer USA-Reise direkt beim Hersteller in Upstate New York erworben und (als wahrscheinlich erstes Instrument dieser Art) mit in die Bundesrepublik gebracht.
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einige Akteure im Kölner Raum nutzten die Möglichkeit, im dortigen Studio für elektronische Musik unter der Leitung Karlheinz Stockhausens zu experimentieren. Im Laufe der 1970er Jahre erschienen zunehmend leichter zu handhabende, robustere und zuverlässigere, vor allem aber auch günstigere Synthesizer, die wachsende Konsumentenkreise ansprachen. Mit der zunehmenden Verbreitung begann sich auch die mystische Aura, die elektronische Instrumente und ihre Klänge bis dahin umgab, langsam aufzulösen; ab etwa Mitte der 1970er Jahre wurden elektronische Instrumente „accessible to any musician who wanted them“119. Zentrale Bedeutung erreichten dabei Hersteller in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Frühe »tragbare« Modelle auf dem Markt waren etwa der EMS VCS3 der britischen Firma EMS und der Minimoog, die beide enorme Popularität erreichten.120 Im Laufe der 1970er Jahre folgten die populären Modelle Odyssey, Pro Soloist, ARP 2600 oder Omni der Firma ARP Instruments aus Massachusetts, der Polymoog und der Synthi 100 von EMS, der besonders in Europa populär war, und gegen Ende des Jahrzehnts schließlich die ersten digitalen Geräte. Zu diesem Zeitpunkt war der Synthesizer zu einem gängigen und weit verbreiteten Instrument der Popmusik geworden: „If there is one technological development that has changed the course of music, it is the electronic music synthesizer“121, so die US-amerikanische Musikzeitschrift Creem symptomatisch. 119 Prendergast, Ambient Century, S. 3. 120 Vom Minimoog wurden in 13 Jahren Produktion letztendlich 12.000 Stück verkauft, vgl. Pinch/Trocco, analog days,, S. 214. Westeuropa spielte als Markt dabei eine wichtige Rolle; Robert Moog selbst stellte das Modell im Jahr 1971 vor einer Reihe bekannter Interpreten und Gruppen in London vor, worüber in der Fachwelt ausführlich berichtet wurde, vgl. etwa Musikinformation 4/1971. 121 Creem 10/1977. Die britische International Musician and Recording World sah angesichts dieser Entwicklungen die Zeit reif dafür, den Synthesizer zu entmythologisieren und als »normales«, prinzipiell von jedem erlernbares Instrument zu präsentieren, vgl. eine mehrmonatige Serie beginnend in International Musician and Recording World 7/1976; Klaus Schulze wunderte sich noch Ende der 1970er Jahre über die negativablehnende, wahlweise unkritisch positive Mythologisierung des Synthesizers, vgl. einen Beitrag von Klaus Schulzes in Fachblatt 4/1978. Insgesamt beschäftigten sich die Fach-, Musik- und Branchenzeitschriften in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik ab Mitte der 1970er Jahre ausführlich und wiederholt mit Fragen der Funktionsweise, Herkunft und Entwicklungsgeschichte »elektronischer« Instrumente. In der Bundesrepublik erschien zum Beispiel eine mehrmonatige, außerordentlich umfangreiche Serie über Synthesizer in Fachblatt 12/1977 und folgenden Ausgaben; über die Entwicklung polyphoner Geräte am Ende der 1970er Jahre vgl. beispielsweise die ausführliche Übersicht in Contemporary Keyboard 4/1978, in der Bundesrepublik dazu Jürgen Dollase in Spotlight 5/1979 und 7/1980; auch die digitale Entwicklung bahnte
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Synthesizer gehören zu den optisch und klangästhetisch spektakulärsten und wirkmächtigsten Neuerungen im instrumentalen Bereich, die einzigen waren es keineswegs. Ab etwa Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich ein wachsender Markt für »Zusatzgeräte« und elektronische Gadgets, die teils auf älteren Entwicklungen basierten, nun aber mit Synthesizern relativ einfach verbunden werden konnten. Auf diesem Markt spielten auch bundesdeutsche Hersteller eine wichtige Rolle.122 Der Sequenzer beispielsweise war für die Entwicklung der elektronischen Popmusik von großer Bedeutung, er erlaubte eine neue Ebene der Präzision und Synchronisation zwischen den verschiedenen elektronischen Komponenten.123 Auch erste Rhythmusmaschinen kamen auf den Markt, die allerdings zunächst noch nicht frei programmierbar waren, sondern lediglich vorprogrammierte Rhythmen abspielen konnten. Der bereits in den 1930er Jahren in den USA entwickelte Vocoder, benutzt vor allem zur Verfremdung der menschlichen Stimme, avancierte zu einem zentralen Element der elektronischen Soundgestaltung; besonders prominent und früh im Falle Kraftwerks, die bereits 1973 ein von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt entwickeltes Gerät benutzten, zu hören in dem Stück Ananasymphonie auf dem Album Ralf und Florian und abgebildet auf der Rückseite des Covers.124 Kraftwerk verwendeten für ihre Produktionen auch historisches Tonmaterial: Im Rahmen der Vorführung eines Vocoders durch den Physiker und Klangpionier Werner MeyerEppler im Studio für elektronische Musik in Köln fiel 1951 der Satz »Hier spricht die Stimme der Energie«, den Kraftwerk auf dem Album Radio-Aktivität von 1975 als Sample verwendeten.125 Die klanglichen Bezüge auf den Alben Kraftwerks zu sich bereits im Laufe der 1970er Jahre an, das bundesdeutsche Fachmagazin Stereo fragte sich bereits 1975, ob „Rockmusik auf dem Weg zur Computerästhetik“ sei, vgl. Stereo Nr. 28/1975. Ein sehr umfangreicher Beitrag über „Audioˈs Digital Future“ fand sich in dem US-amerikanischen Fachmagazin Stereo Review 7/1977; „ein Computer ist das Neueste im Tonstudio“ vermeldete das Branchenblatt Der Musikmarkt am 01.08.1977. Das traditionsreiche, auf Jazz und Blues fokussierte US-Musikmagazin Down Beat stellte im Jahr 1977 (nicht ohne skeptischem Unterton) fest: „Electronic instrumentation is here to stay“, so Down Beat 13.01.1977. 122 In Köln, West-Berlin und an anderen Orten der Bundesrepublik etablierten sich Spezialläden für elektronische Instrumententechnik, die importierte Bauteile, aber auch Spezialanfertigungen etc. anboten. Manche erarbeiteten sich unter Musikern im Laufe der Jahre einen geradezu legendären Ruf. 123 Vgl. Reinecke, Musical Time Keeping, S. 615. 124 Vgl. Tompkins, Vocoder, S. 185. 125 Werner Meyer-Eppler (1913-1960) war promovierter Physiker, später erhielt er eine Professur für Phonetik und Kommunikationsforschung an der Universität Bonn. Er beschäftigte sich bereits während der frühen 1940er Jahre mit elektronischer Klangsynthese und war nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich an dem Transfer elektronischen In-
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entscheidenden Momenten und Persönlichkeiten der frühen elektronischen Musik des akademischen Feldes spiegeln die klanglich-ästhetischen Wurzeln des elektronischen Krautrock sowie dessen Rolle als Transmitter elektronischer Klänge in die Popmusik besonders eindrücklich wider. Die raschen technologischen Entwicklungen in der Instrumententechnik wurden allerdings keineswegs uneingeschränkt als Segen für die Popmusik empfunden. Transnational reagierten Rezipienten und Kritiker ambivalent: Auf der einen Seite wurden mit den elektronischen Klängen Bilder von Losgelöstheit, Weite und Transzendenz verbunden, auf der anderen Seite Entmenschlichung, Maschinenhaftigkeit und Kälte unterstellt. Das Publikum auf Live-Konzerten etwa war irritiert, anstatt der schweißtriefenden, »echten Arbeit« des Rockmusikers nun weitgehend bewegungslose, vor blinkenden Dioden sitzende Gestalten beim Drehen von Knöpfen und Schieben von Reglern zu beobachten. Beiderseits des Atlantiks kreiste der Diskurs um die Fragen, ob »synthetisch« erzeugte Klänge überhaupt als Musik, ob Synthesizer als Instrumente und die sie bedienenden Menschen als Musiker zu betrachten seien. Elektronische Musik war für ihre Gegner keine »echte« Musik von »echten« Menschen mit »echten« Instrumenten, kurz: nicht »authentisch«. „Die Maschine machtˈs, und nicht der Meister“126, so die bundesdeutsche Musikzeitschrift Sounds symptomatisch. Der Diskurs um die »Authentizität« elektronischer Popmusik erscheint in der Rückschau angesichts des erwähnten, allgemeinen »Authentizitätskults« der 1970er Jahre und angesichts der Tatsache, dass Popmusik von Beginn an mit dem Konzept der »Authentizität« eng verknüpft war, als unvermeidstrumentariums in die Bundesrepublik beteiligt; Meyer-Eppler führte den Begriff »elektronische Musik« in die deutsche Sprache ein. 126 Sounds 11/1977. „Damit bricht die Technologie auch in eines der letzten Reservate ein, die bisher von solchen Neuerungen weitgehend verschont geblieben waren“, stellte Sounds mit skeptischem Unterton bereits zuvor fest, vgl. Sounds 3/1976. Die Debatte wurde im Zusammenhang mit Krautrock auch in der britischen Musikpresse geführt: „Do Tangerine Dream, wizzkids of organic electronic rock, play their instruments? Or do the instruments play them?“, so der New Musical Express am 12.04.1975. Artikel, die Synthesizer erklärten, seine verändernde Kraft betonten und über weitere Veränderungen spekulierten, waren in den 1970er Jahren Legion; auch Anzeigen und Artikel über Synthesizer-Schulen und Kurse, oft in akademischem Rahmen, fanden sich zuhauf. Ab 1977 war dann zunehmend von der Digitalisierung der Instrumententechnologien die Rede. Kritische Stimmen verwiesen nicht nur auf angeblich mangelnde »Authentizität« oder ästhetische Vorbehalte; in den Vereinigten Staaten forderte die Musikergewerkschaft American Federation of Musicians (AFM) noch Ende der 1960er Jahre sogar, elektronische Instrumente ganz zu verbieten, weil durch die »Rationalisierung des musikalischen Produktionsprozesses« Arbeitsplätze in Gefahr seien, vgl. Rolling Stone 19.04.1969.
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lich. Apologeten elektronischer Musik hatten es vor diesem Hintergrund schwer, ihre Sicht der Dinge stark zu machen; sie verwiesen auf die ihrer Ansicht nach unsinnige Konstruktion, »traditionelle«, elektroakustische Musikinstrumente als »natürlich« zu betrachten, die neuartigen elektronischen hingegen nicht.127 Auch Geige oder Klavier seien zum Zeitpunkt ihrer Entstehung technologische Innovationen gewesen, die das technologische Potential ihrer Zeit voll ausgereizt hätten, so eine gängige Argumentation; Elektronik als Technologie des späten 20. Jahrhunderts lieferte nun folgerichtig die entsprechenden technologischen Innovationen im Instrumentenbau. Auch als Synthesizer im Laufe der 1970er Jahre „zum Gestaltungselement der gesamten Pop- und Rockmusik“128 geworden waren, brachen die Debatten über Sinn und Unsinn elektronischer Instrumente zunächst nicht ab. Viele Musiker fühlten sich nach wie vor dazu veranlasst, ihren Gebrauch nicht nur zu erklären, sondern auch zu rechtfertigen; als besonders frühe Innovatoren der elektronischen Popmusik gehörten dazu insbesondere auch Akteure des Krautrock. „Seine Instrumente sind Synthesizer und moderne Tonstudios“129, hieß es etwa in einer Pressemitteilung Klaus Schulzes noch zum Erscheinen seines zehnten Albums X im Jahr 1978. „Diese von Menschen geschaffenen Mittel sind weder korrupt noch erniedrigend, sind weder schlechter noch besser als eine Violine oder ein Piano. Ein Synthesizer ist kein »synthetisches« Instrument. Der Sinn des Wortes Synthese liegt woanders: in der Verknüpfung zur Einheit.“ Zwei Jahre später führte Schulze in einem Aufsatz im Fachblatt erneut aus, dass der Synthesizer ein Instrument sei wie jedes andere auch, und dass es zu Unrecht gehasst und zu Unrecht mythologisiert werde.130 In Rechtfertigungen und Erklärungen dieser Art schwang noch die Reaktion auf die teilweise massiven Widerstände und Angriffe mit, denen die frühen Nutzer der neuartigen elektronischen Instrumententechnik ausgesetzt waren – vor allem diejenigen, die sich auf deren ausschließlichen Gebrauch festlegten oder ihn ins Zentrum der Klangproduktion rückten, so wie Klaus Schulze.
127 Eine Zusammenfassung der Argumentation für elektronische Instrumente am Beginn der 1980er Jahre lieferte Robert Moog selbst, vgl. Moog, Technology and Art, S. iv. 128 Haring, Heimatklang, S. 34. 129 Pressemitteilung von Metronome, August 1978, Klaus-Kuhnke-Archiv, Sammlung Ehnert; vgl. dazu auch das ausführliche Interview mit Klaus Schulze in Fachblatt 11/1976. 130 Vgl. Fachblatt 4/1978.
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Abbildung 28: Zeichnung Klaus Schulzes, Erklärung seines Equipments. Bezeichnend die Beschriftung seines Umrisses: „Ohne ihn geht nix“. Die gegen Widerstände durchgesetzte Popularisierung elektronischer Instrumente und Sounds in der Popmusik gilt neben spezifischen Gestaltungselementen als wesentlicher Aspekt der Avantgardefunktion, die Krautrock zugesprochen wurde und
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wird. Sie fand noch im Laufe der 1970er Jahre ihren Niederschlag: Einige der »elektronischen« Vertreter des Krautrock traten gegen Ende des Jahrzehnts zunehmend in der Fach- und Musikpresse nicht nur als »Verteidiger« elektronischer Instrumente, sondern auch als Experten auf, die »aus erster Hand« und von der »Praxisfront« über den Gebrauch elektronischer Gerätschaften zu berichten wussten.131 Sie avancierten zu Referenzen elektronischer Instrumententechnik und elektronischer Musik schlechthin, in Musik- und Fachzeitschriften wurde ihre Instrumente und Spielweisen in Beiträgen und Leserbriefen ausgiebig diskutiert. Auf Konzerten Tangerine Dreams in den Vereinigten Staaten wurden Teile des Publikums beobachtet, die technische Details der Show und Anmerkungen zur spezifischen Handhabung der Elektronik auf Handzettel notierten.132 Darüber hinaus tauchten Tangerine Dream und andere Gruppen des Krautrock am Ende der 1970er Jahre (nicht selten ganzseitig und in Hochglanz) als Werbeträger für Innovationen der elektronischen Instrumententechnik auf – in Westeuropa wie in den Vereinigten Staaten. Eng verwoben mit der Instrumententechnik waren die Entwicklung der Studiotechnik und die sich verändernden Aufnahmekonzeptionen im Laufe der 1970er Jahre. In den Aufnahmestudios fanden dabei technologische Entwicklungssprünge statt, die die verschiedenen Aspekte des Produktionsprozesses ineinander verschmelzen ließen; die wachsenden technologischen Möglichkeiten der Manipulation aufgenommenen Klangmaterials wurden in zunehmendem Maße selbst Teil des kreativen Prozesses. Dabei ging es immer weniger darum, (wie bis dato) den »natürlichen« Klang der Instrumente möglichst »originalgetreu« abzubilden; ganz im Gegenteil wurden die Erforschung und Einbeziehung neuartiger, »unnatürlicher« Klangwelten in den Mittelpunkt gerückt. Die absichtliche Verfremdung des Sounds führte unter anderem dazu, dass es immer schwerer möglich wurde, die im Aufnahmestudio erschaffenen Klangwelten live zu reproduzieren – eine glatte Umkehrung des Klangideals des frühen Pop, das noch danach strebte, den Live-Sound bei Aufnahmen möglichst »originalgetreu« auf dem Tonträger abzubilden.133 131 Vgl. dazu beispielsweise Pop Nr. 9/1973; auch Melody Maker vom 07.06.1975 oder Trouser Press 1/1981. Klaus Schulzes Instrumentarium wurde ab Mitte der 1970er Jahre zu einem viel beachteten Aspekt, regelmäßig wurde er zu technischen Einzelheiten und der Funktionsweise seiner Gerätschaften befragt, vgl. beispielsweise zwei mehrseitige Interviews in Fachblatt 10/1976 und 11/1976. 132 Vgl. das Kapitel »The Teutonic Invasion: In den Vereinigten Staaten«. 133 In der ersten Phase der Tonaufzeichnung bis in die 1940er Jahre galt eine Aufnahme noch als »natürlich«, wenn die gewohnte Umgebung eines Live-Konzertes möglichst erfolgreich suggeriert werden konnte. Nach Erfindung der Tonbandaufzeichnung am Ende der 1940er Jahre wurde zunehmend dazu übergegangen, durch Manipulation des Klangs einen fiktiven Klangraum zu erzeugen, der jedoch klanglich noch an reale Erfahrungshorizonte gebunden war. In einer dritten Phase ab den 1960er Jahren wurden
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Abbildung 29: Krautrock (hier: Irmin Schmidt) als Werbeträger für innovative Instrumententechnologie.
Zuvor als störend empfundene Nebengeräusche wurden nun absichtlich in die Klangproduktion mit einbezogen, Gruppen wie Can spielten dabei eine Vorreiterrolle. Insgesamt hatten diese Entwicklungen schwerwiegende Folgen auf den Produktionsprozess: Das Studio und seine Technik verwandelten sich von einem Aufnahmeinstrumentarium in ein „Instrument“134, das eine immer wichtigere Rolle spielte. Produzenten und Tonmeister gewannen im Zuge dessen zunehmend an Einfluss auf kreative Prozesse in der Popmusik und wurden nicht selten zu »stillen Mitgliedern« von Bands, deren spezifischen Sound sie massiv beeinflussten, mitunter konstituierten.135
elektronisch erzeugte, nicht mehr mit realen Erfahrungen zu verbindende Klangräume kreiert. Als frühe Beispiele in der Popmusik erscheinen hier die ersten Alben von Velvet Underground aus den Jahren 1966 und 1967, vgl. Smudits, Journey Into Sound, S. 79– 81; auch Appen, The Rougher the Better, S. 101. 134 Klaus Schulze in einer Pressemitteilung von Metronome, August 1978, Klaus-KuhnkeArchiv, Sammlung Ehnert. 135 Vgl. zeitgenössisch Kaiser, Pop-Musik, S. 153; Cable, Pop Industry, S. 79.
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Eine der wichtigsten technologischen Innovationen im Tonstudio war die Evolution des Mehrspur-Aufnahmegerätes.136 Seit 1956 auf dem Markt, hatte es sich zu Beginn der 1960er Jahre bereits als Standard in den Aufnahmestudios etabliert. Mitte der 1960er Jahre lag der Standard bei vier Spuren, ab 1967 gab es 8-Spur-Geräte, im Laufe der 1970er Jahre vervielfachten sich Tonspuren der Geräte auf 16, 32 und mehr. Der schnelle technologische Fortschritt führte in Verbindung mit der steigenden Nachfrage (wie auch bei den elektronischen Instrumenten) zu einer schrittweisen Preissenkung, mit dem Resultat, dass Tonstudios im Laufe der 1970er Jahre nicht nur zahlreicher wurden, sondern sich manche Bands und Interpreten selbst mit professionellen Aufnahmegeräten ausstatten konnten. „Die zukünftigen Möglichkeiten kreativer Freiheit sind noch nicht abzusehen“137, so Rolf-Ulrich Kaiser 1970. Angesichts der stilistischen Heterogenität des Krautrock liegt es auf der Hand, dass Instrumenten- und Aufnahmetechnologien bei den einzelnen Gruppen und Interpreten in höchst unterschiedlicher Dosierung und Weise zum Einsatz kamen. Während vor allem zu Beginn oft noch fehlendes Geld der Grund für eine unfreiwillig schlechte oder semiprofessionelle Aufnahmequalität war – Klaus Schulze etwa nahm sein erstes Album Irrlicht mit einem alten Tonbandgerät und dem Mikrophon eines Kassettenrecorders auf138 – wurde der bewusste Gebrauch oder NichtGebrauch von Technologie zu einer konstitutiven Säule der jeweiligen kreativen Grundausrichtung. Can beispielsweise ließen sich bewusst nur sehr zögerlich auf neue Entwicklungen ein. Der spärliche Einsatz technologischer Möglichkeiten war dabei zunächst prekären finanziellen Bedingungen geschuldet, darüber hinaus war es der Band aber wie dargelegt auch aus politischen Gründen (und ganz im zeitgenössischen Duktus) wichtig, „eigene Produktionsmittel“139 zu besitzen: Kredite oder Vorschüsse aus der Musikindustrie, sonst bei Abschluss eines Schallplattenvertrages gang und gäbe, kamen für Can nicht in Frage. Man wollte mit dem Besitz »eigener Produktionsmittel« aber auch künstlerisch weitestgehend autonom bleiben, die einfache technologische Ausrüstung war Teil des Konzepts, die Arbeitsweise in einem eigenen, mit einfachen Mitteln eingerichteten Studio garantierte die Kontrolle über den gesamten Produktionsprozess. Das hat Cans Musik maßgeblich geprägt und unterschied sie fundamental von den gängigen Gepflogenheiten im zeitgenössischen Popmusikbetrieb.
136 Vgl. Smudits, Journey Into Sound, S. 71. 137 Kaiser, Pop-Musik, S. 153. 138 Vgl. Layer, Klaus Schulze, S. 18. 139 Zitiert nach Hoffmann, Neue Popmusik, S. 203.
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Abbildung 30: Das Inner Space Studio Cans, 1974.
Bis 1973 benutzten Can beispielsweise keine Mehrspurtechnik bei ihren Aufnahmen. Das Inner Space Studio bei Köln war lediglich ausgerüstet mit zwei zweispurigen Aufnahmegeräten der Firma Revox (Typ A77), einem Tonbandgerät von Studer, einem selbstgebauten 8-Kanal-Mischpult sowie Mikrophonen der Firmen Sennheiser und Neumann. Jedes der Mitglieder regelte sich bei Aufnahmen mithilfe von Kopfhörern und Vorverstärkern selbst, Holger Czukay bediente das Mischpult. „Technische Armut muß eben in musikalischen Reichtum umgewandelt werden“140, so Czukay 1973; ein charakteristischer Sound ergebe sich „aus der jeweiligen Aufnahmesituation, [die] von keinem noch so exklusiven und teuren Studio in der Welt nachgemacht werden kann“. Nach der Aufnahme der Stücke, so eine retrospektive Beschreibung des Musikwissenschaftlers Robert von Zahn, wurde bei Can „alles durch Schneiden geregelt. Die Grundbedingung der Musiker für Eingriffe in eine aufgenommenes Stück Musik mit Schnitten war, dass der Rhythmus des Stückes nach dem Urteil aller die richtige Grundlagenqualität gewonnen hatte. Dort wo der Rhythmus so zwingend und kontinuierlich lief, dass man Taktgruppen oder auch einzelne Takte unbemerkt herausschneiden und neu formieren konnte, gestalteten die Musiker mittels der Schnitttechnik die über den Rhythmus fließenden Partien neu. In ihrer Terminologie formten sie Bilder und stellten sie um. Die Bilder enthielten zur Kennzeichnung in der Umstrukturierung Namen. Es war eine Vorstufe der späteren Sampletechnik.“141
140 Fachblatt 2/1973. 141 Zahn, Can, S. 88.
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Es wird deutlich, wie Can zu einer der in gängiger Wahrnehmung innovativsten Gruppen des Krautrock avancieren konnte, ohne sich neuer Technologien zu bedienen – im Gegenteil, sogar mit bewusst einfach gehaltener Ausrüstung, die allerdings unkonventionell und experimentell bedient wurde. Als Can sich Mitte der 1970er Jahre zur Nutzung der Mehrspurtechnik und damit für eine Veränderung ihres Konzepts entschieden, änderte das die Dynamik und die Klanggestaltung des Kollektivs grundlegend: „Den Zwang, auf eine Spur gemeinsam aufzunehmen, sich unterzuordnen und den Gesamtklang immer im Ohr zu haben, den hat man bei Mehrspuraufnahmen nicht“142, so Irmin Schmidt rückblickend. „Man spielt immer mit dem Bewusstsein, dass man hinterher noch korrigieren, die Spur löschen und etwas anderes einspielen kann. Dieses Bewusstsein hat zunächst einmal negative Folgen gehabt […] Es hat zunächst einmal die Ästhetik verändert.“ Was die Anwendung von Instrumenten- und Studiotechnologien oder bestimmte Aufnahme- und Bearbeitungskonzeptionen angeht, ist die Geschichte des Krautrock nicht arm an Außergewöhnlichem. Die erwähnten Lebens- und Arbeitsumstände der Gruppe Faust als Kommune in einem für sie umgebauten, ehemaligen Schulhaus stellten jedoch auch in dieser Hinsicht einen Sonderfall dar.143 Nicht nur war das gesamte Haus verkabelt, so dass die einzelnen Musiker gleichzeitig, aber in verschiedenen Räumen miteinander Musik machen oder aufnehmen konnten; auch stand der Band ein exklusiver Probe- und Aufnahmeraum inklusive Tonmeister zur Verfügung. Um das politische Programm der Egalität und Gleichberechtigung unter den Bewohnern und Mitgliedern der Band auch musikalisch umsetzen zu können, eröffneten Faust darüber hinaus jedem Mitglied der Gruppe die technische Möglichkeit, nicht nur seinen eigenen, sondern den Sound der gesamten Gruppe zu kontrollieren. Die dafür notwendigen Gerätschaften wurden unter Anleitung des Tonmeisters Kurt Graupner in Sonderanfertigung hergestellt und funktionierten als Synthesizer und Multi-Effektgeräte zugleich: Sie waren jeweils etwa einen Meter lang, ausgestattet mit Reglern, einem Verbindungsfeld und Pedalen, sowie Tongeneratoren und Effektmodulen – eine zu dieser Zeit sicher einzigartige Kombination aus Instrument zur Klangerzeugung und der Manipulation eigener und »fremder« Klänge. Wie Can betrieben also auch Faust ein eigenes Aufnahmestudio, beide Gruppen galten zeitgenössisch und gelten retrospektiv als höchst innovative Protagonisten der Popmusik. Zwar verfolgten sie höchst unterschiedliche Konzeptionen – bewusst einfache Technologie auf der einen, Spezialanfertigungen auf neuestem technologischen Stand auf der anderen Seite – gemeinsam war ihnen jedoch die zentrale Rolle des Experiments, des Ausprobierens, des Tüftelns, und einer politisch fundierten und begründeten DIY-Ästhetik.
142 Irmin Schmidt zitiert nach Dedekind, Krautrock, S. 181f. 143 Vgl. Wilson, Faust, S. 24–26.
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Auch andere Gruppen und Interpreten des Krautrock verfügten in den 1970er Jahren über eigene Aufnahmestudios, die mit oft in Eigenbau produzierten oder in hochspezialisierten Läden hergestellten Spezialanfertigungen bestückt waren. Besondere Prominenz wurde dahingehend etwa dem Düsseldorfer Kling Klang Studio von Kraftwerk zuteil. Jenseits dieser Möglichkeiten hatte eine Mehrheit der bundesdeutschen Bands, was professionelle Aufnahmen angeht, allerdings noch lange mit Widrigkeiten zu kämpfen: Es gab wenig geeignete Tonstudios, zudem waren die Schlagermusik gewohnten Studiotechniker und Tonmeister oft nicht willens und auch nicht in der Lage, die Vorstellungen der jungen Akteure von »progressiver« Popmusik umzusetzen.144 Gleichzeitig jedoch erschien eine junge Generation von Tonmeistern, die eine „zeitgemäße, musikalische Auffassung“145 mit in bestehende Studios brachten – oder selbst welche gründeten. Der Markt expandierte zusammen mit anderen Bereichen der Musikindustrie im Laufe der 1970er Jahre massiv, und bereits am Ende des Jahrzehnts hatten bundesdeutsche Tonstudios Weltspitze erreicht.146 Anstatt wie in den Jahren zuvor Studios in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich zu kopieren oder für Aufnahmen britische und US-amerikanische Tonmeister einzufliegen, entwickelte sich in den Studios der Bundesrepublik ein distinkter Sound, den man am Ende des Jahrzehnts außerhalb des Landes zu kopieren versuchte. Die Vorteile der bundesdeutschen Studios gegenüber der angloamerikanischen Konkurrenz wurden in der hervorragenden Ausstattung, dem hochqualifizierten Personal und den im Vergleich niedrigeren Preisen gesehen. Zwei der Tonmeister und Studiobesitzer, die an diesem Wandel von einer Diaspora zu einem transnational gefragten »El Dorado« der Tontechnik wesentlich beteiligt waren, sind Conny Plank und Dieter Dierks – beide zugleich zentrale Akteure des Krautrock. Plank und Dierks begannen ihre Unternehmungen zu Beginn des Jahrzehnts unter einfachsten Bedingungen, und beide unterhielten am Ende der 1970er Jahre Aufnahmestudios, die zu den begehrtesten weltweit gehörten – wenn auch, wie zu sehen sein wird, wiederum mit verschiedener Konzeption und Ausrichtung. Sie sollen folgend Thema sein. Dieter Dierks wuchs in Stommeln bei Köln auf.147 Seine Mutter betrieb einen Einzelhandel, der Vater war Musiker. Die musikalische Sozialisation erfuhr Dierks über die Soldatensender der Alliierten, AFN und BFBS. Interessiert war er nach ei144 Vgl. zeitgenössisch Kaiser, Pop-Musik, S. 153. 145 Der Musikmarkt Nr. 13/1972. 146 Vgl. etwa Der Musiker 5/1979. Insbesondere in der angloamerikanischen Sphäre genossen bundesdeutsche Tonstudios am Ende der 1970er Jahre einen exzellenten Ruf, vgl. Billboard am 02.06.1979; „German recording studiosˈ status at international level is on the up-and-up,“ so etwa auch wenig später in Billboard am 26.07.1980. 147 Folgende Angaben stammen zum Teil aus einem schriftlichen Interview des Autors mit Dieter Dierks, erhalten am 4. April 2015.
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gener Aussage zunächst in erster Linie an US-amerikanischem Rock & Roll; auch später bevorzugte er US-amerikanische gegenüber britischer Musik, wobei er durch sein Hauptmedium Radio mit einer wachsenden Zahl von Stilen und Genres in Berührung kam. Trotz seiner Begeisterung für Musik studierte Dierks in den 1960er Jahren zunächst Theaterwissenschaften, besuchte eine Schauspielschule und arbeitete mehrere Jahre als Regieassistent, bevor er im elterlichen Haus ein erstes Tonstudio einrichtete. „In diesem Studio standen zwei Revox-Tonbandmaschinen, ein kleines Mischpult – neben den Bohnen- und Erbsenkonserven – und ein paar Dynachords, Echoletten und Marshall-Verstärkerboxen“148, so Gerhard Augustin rückblickend. Dierks expandierte jedoch schnell: Bereits 1971 errichtete er neben seinem Elternhaus ein Gebäude für das Tonstudio, während Teile des Wohnhauses zu einem Gästehaus für die Musiker ausgebaut wurden. Noch im Rohbau erschienen als erste Band die Nürnberger Ihre Kinder zu Aufnahmen; nach Aussage von Dierks lebte man während der Aufnahmen zusammen „wie eine Kommune“149. Das Studio kam zu Beginn der 1970er Jahre mit seiner Lage in dörflichem Idyll zwischen Bauernhöfen und der Idee des Arbeitens und Wohnens »unter einem Dach« „dem Hippie-Trend entgegen“150. Die familiäre Atmosphäre wirkte dabei offenbar ebenso anziehend wie das Studio und die innovative Arbeit des Tonmeisters: „Seine Mutter, die auch im Studio rumschwirrt, ist eine Wucht. Hier gibtˈs auch spät abends was zu essen, zu trinken“151, begeisterte sich ein Musiker Anfang der 1970er Jahre; „Dieter Dierks denkt sich ständig Neues aus, so ändert sich im Studio eigentlich täglich etwas.“ »Sich Ausdenken« war nicht weit hergeholt, denn eine formale Ausbildung zum Tontechniker erhielt Dierks nie; als Autodidakt brachte er sich seine Fähigkeiten „durch »learning bei doing« und – ganz wichtig – »experimenting«“152 selbst bei. „Ich bin immer nach meinem Bauch und meinem musikalischen Gefühl gegangen. Die geläufigen Kommerzregeln habe ich ignoriert, ich wollte anders sein und anders klingen. Damals wollte sich jeder verwirklichen; kommerzielle Erwägungen spielten kaum eine Rolle. Beim Sound und Produzieren war es mir wichtig dreidimensional zu klingen und die Musik der Künstler und deren Phantasien optimal ´rüberzubringen“,
so Dierks. Am Anfang standen beschränkte Mittel, kaum Geld und den von den Eltern zur Verfügung gestellte Räumlichkeiten. Erst mit dem Erfolg wuchs das Studio, und die aus der Not geborenen Umstände entwickelten sich mitunter zu kon148 Augustin, Pate, S. 57; ähnlich beschrieben auch in Fachblatt 8/1975 und 9/1975. 149 Ebd. 150 So der ehemalige Studioleiter Fred Hoock in Kraut und Rüben, Folge 1 (D 2006). 151 Zitiert nach Fachblatt 11/1972. 152 Schriftliches Interview des Autors mit Dieter Dierks, erhalten am 04.04.2015.
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zeptuellen Ansätzen. Dazu gehörte die Produktion von Musik in ländlicher Abgeschiedenheit. Insbesondere das „Zauberhändchen“153 des Tonmeisters machte die Dierks-Studios zu einem zentralen Ort des Krautrock; als „Mann der ersten Stunde“154 war Dierks unter anderem Produzent vieler Aufnahmen von Gruppen wie Amon Düül, Ash Ra Tempel, Can, Embryo, Guru Guru, Popol Vuh, Tangerine Dream oder Witthüser & Westrupp. Nicht zuletzt war er als Musiker und Tonmeister an Rolf-Ulrich Kaisers Kosmischen Kurieren beteiligt, „spontane, im Studio entstandene Produktionen […], stimmungsabhängig im Studio entwickelt“155. Ab Mitte der 1970er Jahre gehörten die Dierks-Studios zur technologischen Avantgarde in der Bundesrepublik.156 Dierks betrieb und testete gerne Prototypen, seine Ausrüstung bestand zu einem großen Teil aus Spezialanfertigungen. Das »Herzstück« des Studios war zu diesem Zeitpunkt das zentrale 40-Kanal-Mischpult, zum Teil von Mitarbeitern mit aus den Vereinigten Staaten importierten Bauteilen angefertigt. Wie auch das ebenfalls speziell angefertigte 32-Spur-Aufnahmegerät war es State of the Art, Klimaanlagen und Spezialbeleuchtungen komplettierten das Dierks-Studio als „eines der modernsten der Welt“157. Bereits wenige Jahre später, am Ende der 1970er Jahre, galten die Dierks-Studios transnational als „Birthplace of German Rock Music“158 und waren ein weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus bekannter Ort der Musikproduktion.159 Mit Conny Plank unterhielt Dieter Dierks ein freundschaftliches, wenn auch kein enges Verhältnis. Plank war der zweite zentrale Tonmeister des Krautrock und wirkte ebenfalls von Beginn an prägend auf dessen Entwicklung.160 Bereits in jun153 Walter Westrupp in Kraut und Rüben, Folge 1 (D 2006). 154 Ebd. 155 Schriftliches Interview des Autors mit Dieter Dierks, erhalten am 04.04.2015. 156 Vgl. etwa die detaillierten Beschreibungen des Studioaufbaus in dem Branchenblatt Der Musikmarkt 01.07.1973; auch Der Musikmarkt 01.08.1974; ein Jahr später bereits ganzseitig und reich bebildert, vgl. Der Musikmarkt 01.08.1975; dort stellte Dierks auch sein mobiles Aufnahmestudio (das erste seiner Art) vor. 157 Fachblatt 9/1975. 158 Cash Box 07.04.1979. 159 Vgl. etwa Berichte in Billboard am 02.06.1979 und 26.07.1980; zur Ausstattung des Studios am Ende der 1970er Jahre vgl. etwa Fachblatt 4/1978; auch Jürgen Dollase in Musiker 12/1978. 160 Folgende biographische Angaben stammen zu einem Teil aus einem Gespräch mit Conny Planks Sohn Stephan E. Plank am 09.07.2012 in Berlin. Vgl. außerdem Haring, Heimatklang, S. 222–229; auch Albiez, Synth-Pop, S. 147f; Buckley, Kraftwerk, S. 35f; zeitgenössisch Fachblatt 6/1976; vgl. auch das Interview mit Plank in der zweiteiligen Radiosendung des Saarländischen Rundfunks Der Musiker hinter der Scheibe – der fünfte Mann in der Band (SR 1, Europawelle Saar: Pop Nonstop, 1979).
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gen Jahren spielte Plank Jazz in Amateurbands und war wie auch Dierks nach eigenem Bekunden stark vom Hören des Soldatensenders AFN beeinflusst; auch ihn hatten es insbesondere US-amerikanische Gruppen und Interpreten angetan, allen voran afroamerikanische Musik, britischer Pop interessierte ihn weniger.161 Im Unterschied zu Dierks absolvierte Plank im Laufe der 1960er Jahre eine professionelle Ausbildung als Tonmeister, bereits ab 1963 arbeitete er beim Saarländischen Rundfunk. Mit seiner demonstrativen Lockerheit und seiner Experimentierfreudigkeit mit der Rundfunktechnik war er unter Kolleginnen und Kollegen sehr beliebt, machte sich aber nicht nur Freunde: Vor allem den älteren Kollegen war er ein Dorn im Auge, und die Abneigung basierte offensichtlich auf Gegenseitigkeit. Immer wieder nahm Plank die ältere Generation der „Reichsrundfunkingenieure“162 – also Kolleginnen und Kollegen, die bereits während der NS-Zeit beim Rundfunk beschäftigt gewesen waren – als negatives Abziehbild, wenn er etwa sein grundsätzlich andersartiges Verständnis von Studiotechnik und ihrem Gebrauch, aber auch von zwischenmenschlichem Umgang deutlich machen wollte. Sein »Erweckungserlebnis« als Tonmeister war nach Plank das Stück Good Vibrations der Beach Boys (1966): Seiner Ansicht nach eine „Meisterleistung tontechnischer Art, […] ein fantastisches Zusammenspiel von Technik und Musik, einfach eine tolle Gefühlseinheit […] genau das war mein Anliegen, diese beiden Sachen zusammenzubringen.“163 Plank verließ Ende 1966 den Saarländischen Rundfunk und begann 1967 im Rhenus Tonstudio in Köln zu arbeiten. Dort war er in einige der frühesten Produktionen des Krautrock mit eingebunden. Unter anderem konzipierte er 1969 das Album Tone Float der Gruppe Organisation (später Kraftwerk), das eigentlich nur als Demo geplant war, dann aber auf Betreiben Planks exklusiv in Großbritannien veröffentlicht wurde. Im selben Jahr wirkte er bei den Aufnahmen des Albums Klopfzeichen von Kluster mit. Anschließende, kurze Kooperationen mit den beiden Komponisten Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel erwiesen sich nach Planks Geschmack als zu »trocken« und »akademisch«.164 1970 zog Plank von Köln nach Hamburg und lebte einige Zeit in der Wohngemeinschaft Villa Kunterbunt, wo er sich die Räumlichkeiten mit zentralen Akteuren der »Hamburger Szene« der 1970er Jahre wie Udo Lindenberg, Marius Müller-
161 “Eigentlich suchte ich einen Rausch in der Musik. Und da war ich mit der schwarzen Musik eigentlich besser bedient,“ so Plank in Der Musiker hinter der Scheibe. 162 Fachblatt 11/1974; auch Fachblatt 12/1975. 163 Zitiert nach Der Musiker hinter der Scheibe. Als weitere wesentliche, konkrete Einflüsse auf seine Arbeit und Entwicklung als Tontechniker nannte Plank Jimi Hendrix und Velvet Underground. 164 Vgl. Albiez, Synth Pop, S. 147f.
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Westernhagen oder Otto Waalkes teilte.165 Da Plank freiberuflich in den Tonstudios Windrose Dumont Time und Star Musik arbeitete, konnte er mitunter nicht vermietete Studiozeiten dort kostenfrei nutzen; in diesem Kontext entstand an beiden Orten unter Planks Regie eine Vielzahl von Aufnahmen des Krautrock der frühen 1970er Jahre. Ende 1972 startete Plank eine über mehrere Jahre unregelmäßig erscheinende Rubrik in der Fachzeitschrift Fachblatt.166 Dort wollte er den ambitionierten Musikernachwuchs nach „zwei Jahren intensiver Hebammentätigkeit“167 mit Informationen und Tipps versorgen. Diese Rubrik ist auch deswegen interessant, weil sie wesentliche Eckpunkte seines Studio-Konzepts abbildete: So strich er etwa die Wichtigkeit der Gruppendynamik und des menschlichen Miteinanders zwischen allen Beteiligten heraus, vor allem aber riet er zum Mut, den starken angloamerikanischen Einfluss einerseits zu nutzen, andererseits jedoch auf dieser Basis etwas Eigenes, Neuartiges zu kreieren: „Wir müssen uns mit deutscher musik, ohne jetzt einen nationalstolz produzieren zu wollen, aus der englischen und amerikanischen kiste heraushalten und es von einer ganz anderen art und mache bringen.“168 Dabei stand für Plank wie auch für Dierks die Experimentierlust im Mittelpunkt. Elektronische Instrumente waren für Plank beispielsweise erst dann besonders interessant, wenn sie dysfunktional und entgegen der Konventionen benutzt wurden; so hervorgebrachte, klangliche »Mutationen« standen im Zentrum der Entwicklung eines distinkten Sounds. »Klangverformungen« dieser Art müssten dabei aber immer „im Dienste der Musik stehen“169, so Plank; Effekthascherei sei uninteressant. Ein eigenes Tonstudio eröffnete Plank im Sommer 1973 auf einem ehemaligen Bauernhof in Wolperath bei Köln.170 Das Geld für die Ersteinrichtung finanzierte er über Kredite, der Umbau des alten Fachwerk-Bauernhofes erfolgte etwa ein Jahr lang in Eigenarbeit zusammen mit Freunden. Die Ausrüstung des Studios, einge165 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die genannten Akteure dieser »Hamburger Szene« im Laufe der 1970er Jahre einen enormen Bekanntheitsgrad erreichten und zu Stars avancierten – allerdings nur im nationalen Rahmen. Außerhalb des deutschen Sprachraums blieben sie weitgehend irrelevant. Im Gegensatz dazu wurden die teilweise aus Hamburg stammenden Krautrocker Faust zu transnational vielbeachteten Avantgardisten, während sie in der Bundesrepublik der 1970er Jahre selbst eher als größenwahnsinnige Dilettanten galten – falls sie überhaupt beachtet wurden. Anhand einer lokalen Szene wird so (allein) aus transnationaler Perspektiv deutlich, wie unterschiedlich »Ökonomien der Aufmerksamkeit« in nationalen Kontexten funktionieren können. 166 Die Rubrik erschien erstmals in Fachblatt 9/1972. 167 Ebd. 168 Conny Plank zitiert nach Fachblatt 11/1974; Kleinschreibung im Original. 169 Fachblatt 3/1973. 170 Vgl. dazu etwa Fachblatt 10/1973.
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richtet in dem etwa 50qm großen, ehemaligen Schweinestall, basierte zwar auch in hohem Maße auf Eigenbau und Spezialanfertigungen im DIY-Verfahren; bestehende technologische Möglichkeiten schöpfte Plank dabei allerdings bewusst nicht voll aus. Wiederholt sprach er sich gegen allzu »glatte«, perfekte Produktionen aus, mit „Müll-Technologie“171 sei wesentlich einflussreichere Musik produziert worden: „viel interessanter. Viel erdiger, viel lebendiger, viel mehr Stimmung, viel mehr Dimensionen in der Musik.“ Eine »Spezialität« Planks war etwa sein Insistieren auf die »natürliche« Interaktion eines Klangs mit dem Raum „in Form von Resonanz, Reflexion, Interferenz“172. Ebenso wenig wie neueste Studiotechnik sei dafür perfekte Spieltechnik der Musiker vonnöten, vielmehr müsse eine Gruppe ein „lebender Organismus“173 sein, der sich »austariere«. Der musikalische Stil war Plank dabei nicht wichtig: „Ich sehe nicht in der Stilistik einer Musik ihre Kraft, sondern in ihrem Ausdruck.“174 So ist auch die enorme stilistische Breite seiner Produktionen im Laufe der 1970er und 1980er Jahre zu erklären. Ungewöhnlich war über künstlerische Konzeptionen hinaus Planks oft praktizierte Vorgehensweise, Musikerinnen und Musiker erst auf eigene Kosten zu produzieren und anschließend fertige Aufnahmen unter eigener Beteiligung an Labels zu verkaufen. Er schloss mit Musikern so genannte »Bandübernahmeverträge« und schuf ihnen damit eine komfortable Verhandlungsposition gegenüber den Labels, die für die Distribution der Aufnahmen sorgten. Vielen Gruppen eröffnete er mit dieser Vorgehensweise überhaupt erst die Möglichkeit einer professionellen Aufnahme, die über den »direkten« Weg einer Zusammenarbeit mit der Musikindustrie und die üblichen Kosten für vergleichbare Aufnahmestudios kaum vorhanden gewesen wäre.175 Planks Einstellung gegenüber »der Musikindustrie«, besonders den Major Labels, war von Misstrauen bis Abneigung geprägt; auf seine wachsenden kommerziellen Erfolge im Laufe der 1970er Jahre angesprochen meinte Plank etwa: „Mein Marktwert innerhalb dieser Systeme wurde zwar angehoben, aber immer noch gelte ich als durchaus unzuverlässige Persönlichkeit. Das finde ich sehr gut. Dadurch können sie keinen Einfluß auf mich nehmen.“176 Dass er die Zusammenarbeit mit einer Reihe globaler »Stars« von David Bowie bis U2 als uninteressant ab171 Conny Plank zitiert nach Haring, Heimatklang, S. 226. 172 Ebd., S. 222. 173 Ebd., S. 224. 174 Ebd., S. 223. Planks Auswahlprinzip für eine Zusammenarbeit war es, „Leute zu finden, deren Musik ich empfinden konnte, und die meine Arbeit damit akzeptierten“, so Plank in Der Musiker hinter der Scheibe. 175 Vgl. Broker, Kraftwerk, S. 99; auch Asmus Tietchens streicht bis heute heraus, dass Plank den Musikern aus idealistischen Gründen oft weit entgegenkam (Gespräch mit Asmus Tietchens am 24. Juli 2015). 176 Haring, Heimatklang, S. 228.
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lehnte, und gleichzeitig die Karrieren einer Vielzahl werdender »Stars« wesentlich mit initiierte und begleitete, hat ihm vor allem in Großbritannien ein geradezu mythisches Image beschert. Plank galt besonders in den 1970er Jahren eine Schlüsselfigur der Experimentalmusik, für die westdeutsche ebenso wie für die britische Szene. Seine Arbeit wird als „höchst einflussreich“177 bezeichnet, und die Liste seiner Kontributionen im Zusammenhang mit Krautrock ist lang. Neben den bereits erwähnten Produktionen mit Ash Ra Tempel, Kluster bzw. Cluster und NEU! arbeitete Plank unter anderem mit Can, Holger Czukay, Guru Guru, Kraan, La Düsseldorf, Eno, Moebius & Roedelius, Michael Rother, Michael Hoenig sowie bei einer Vielzahl von Projekten auch als Musiker. Im Vergleich mit Dieter Dierks sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichermaßen festzustellen. Als Parallelen zu den wenige Jahre zuvor im nahen Stommeln gegründeten Dierks Studios fallen bei einer Betrachtung von Conny Planks Studio zunächst das ebenfalls ländliche Umfeld, die oft beschriebene familiäre Atmosphäre (etwa die kulinarische Verpflegung durch Familienmitglieder und das gemeinsame Essen) sowie das Konzept des Wohnens und Arbeitens unter einem Dach ins Auge. Dierks und Plank betonten zudem wiederholt einen starken Einfluss US-amerikanischer Kultur, eine strikt antikonventionelle Einstellung und die zentrale Rolle des auf ihrem »Gefühl« beruhenden Experiments; interessant ist etwa auch das Streben beider nach einer »Vieldimensionalität« des Klangs. Gefühl, Technologie und Musik verschmolzen bei Dierks und Plank zu einer Einheit. Auch Unterschiede waren in den Arbeitsweisen und Konzeptionen beider von Beginn an vorhanden, zudem entwickelten sich ihre methodischen und ästhetischen Ausrichtungen während der 1970er Jahre auseinander. Der viele Jahre in professionellen Tonstudios ausgebildete Plank setzte in erster Linie auf den unkonventionellen Umgang mit einfacherer Technologie und stellte Aspekte wie Gruppendynamiken oder die Interaktion von Klang und Raum in den Mittelpunkt. In Planks Vorstellungen von Einfachheit, Unkompliziertheit und »Natürlichkeit«, seinen unkonventionellen Wegen auch in wirtschaftlicher Hinsicht (etwa seiner Positionierung gegenüber der Musikindustrie als unabhängiger Freigeist), insbesondere aber in seinem Insistieren auf Eigenständigkeit gegenüber der kreativen und ökonomischen Dominanz angloamerikanischer Popmusik schwang eine vielschichtige Emphase auf das DIY-Prinzip und auf »Authentizität« mit. Dierksˈ Verständnis von DIY und experimenteller Arbeit wiederum äußerte sich in Spezialanfertigungen mithilfe neuester technologischer Errungenschaften, in dem Ausreizen des aktuell jeweils technologisch Machbaren in der Klangerzeugung: Die Dierks-Studios gehörten Mitte der 1970er Jahre zu den technologisch modernsten in der Bundesrepublik und gegen Ende des Jahrzehnts zu den modernsten weltweit. Auch war seine Haltung ge177 Albiez, Synth Pop, S. 148. Plank sei „der Meister schlechthin“ gewesen, so HansJoachim Roedelius in Kraut und Rüben, Folge 1 (D 2006).
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genüber »der« Musikindustrie eine andere; 1974 gründete Dierks unter dem Namen Breeze Music ein eigenes Label und bewies unter anderem mit der Produktion von Bands wie Scorpions, Atlantis, Jane oder Birth Control, dass auch bundesdeutsche Akteure, die sich sprachlich wie musikalisch klar innerhalb des angloamerikanischen Idioms der Popmusik bewegten, transnational höchst erfolgreich sein konnten. Insgesamt sind nach der Betrachtung des technologischen Aspektes im Zusammenhang mit dem Phänomen Krautrock eine Reihe von Ergebnissen interessant. Zunächst ist es eine (wenn auch unterschätzte) Binsenweisheit, dass den Entwicklungen in der Instrumenten- und Studiotechnologie eine konstitutive Rolle in der Evolution der Popmusik zugesprochen werden muss. Für den Krautrock gilt genau das in besonderem Maße, seine Innovationskraft beruht zu einem wesentlichen Teil auf dem experimentellen Umgang mit Technologie. Dabei konnte es für Bands und Tonmeister bzw. Produzenten gleichermaßen sowohl der unkonventionelle Umgang mit einfach gehaltener Ausrüstung, oder aber auch die Anwendung neuester technologischer Möglichkeiten sein, die Krautrock als besonders innovativ hervortreten lassen. Der zentrale Begriff in diesem Zusammenhang ist der des »Experiments« – trotz der zum Teil höchst unterschiedlichen Ansätze, die sich zwischen »Technophilie« auf der einen und Skepsis gegenüber Technologie auf der anderen Seite bewegten. Der experimentelle Charakter und die DIY-Ästhetik des Krautrock auch in technologischer Hinsicht (ob beruhend auf Mangel, politischen oder konzeptionellen Gründen) waren grundlegende Voraussetzungen dafür, dass Conny Plank und Dieter Dierks im Laufe der 1970er Jahre zu weltweit gefragten Tonmeistern und Produzenten, und dass eine Reihe von Gruppen und Interpreten des Krautrock zu konstitutiven Säulen der Popmusik avancierten. Auch in der Rezeption des Krautrock spielte der technologische Aspekt transnational eine entscheidende Rolle, sei es angesichts der Tatsache, dass einige seiner Protagonisten als Ratgeber in der Fachpresse oder als Werbeträger für neueste Instrumente in Erscheinung traten, sei es vor allem hinsichtlich des Authentizitätsdiskurses in Zusammenhang mit elektronischer Popmusik. Er spielte insbesondere in der US-Rezeption eine entscheidende Rolle und war, wie bereits zu sehen war und anschließend erneut zu sehen sein wird, eng mit nationalen Zuschreibungen und Stereotypisierungen verknüpft.
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„T HE T EUTONIC I NVASION “: I N
DEN
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„Rare indeed it is that we have the opportunity to observe another culture in the throes of its own transition. […] It seems there is such a change going on in Germany right now. […] The German rock scene is shaping up.“178 Rolling Stone, 1972 „Rock music is entering into the Teutonic phase of its evolution.“179 Variety, 1975 „Die Musikbranche staunt über Spitzenerfolge westdeutscher Popmusik-Bands in den USA.“180 Der Spiegel, 1975
Während der Krautrock in Europa bereits in den frühen 1970er Jahren breit rezipiert wurde und kommerzielle Erfolge erzielen konnte, nahm ab Mitte der 1970er Jahre das Interesse an dem Phänomen auch in der US-amerikanischen Öffentlichkeit stark zu. In der Bundesrepublik rief dieser Erfolg Erstaunen hervor, schien der USamerikanische Pop-Markt doch bis dato in unerreichbarer Ferne, allenfalls Referenz, positives oder negatives Abziehbild. Nun aber hatte elektronische Musik aus der Bundesrepublik „sogar in den USA“181, „sogar in Hollywood“ Erfolg. Entscheidend war vor allem die unerwartete Resonanz des Stückes Autobahn von Kraftwerk, das 1975 zu einem der meistgespielten Radio-Hits des Jahres avancierte; bereits zuvor waren Tangerine Dream breit rezipiert worden, die sich auf dem USamerikanischen Markt neben Kraftwerk als kommerziell erfolgreichste Gruppe des Krautrock etablierten.182 Die mediale Wahrnehmung des Krautrock auf dem welt-
178 Rolling Stone 26.10.1972. 179 Variety 02.04.1975. 180 Der Spiegel 20/1975. 181 Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.09.1977. 182 Neben Krautrock waren Mitte der 1970er Jahre auch andere bundesdeutsche Bands erfolgreich in den USA, darunter Triumvirat oder Atlantis, etwa später die Scorpions. Ihre Musik war allerdings (so auch die Kategorisierung Elmar Siepens) am angloamerikanischen Mainstream orientiert und wurde nicht als spezifisch bundesdeutscher Beitrag wahrgenommen.
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größten Musikmarkt zeigte im Vergleich zur britischen Rezeption einige Besonderheiten, die folgend ebenso im Mittelpunkt stehen sollen wie einige Akteure und Multiplikatoren des Phänomens in den USA. Der US-amerikanische Markt für Pop-Medien unterschied sich in den 1970er Jahren nicht nur aufgrund seiner Größe von dem Großbritanniens und der Bundesrepublik, sondern auch aufgrund seiner bereits weiter fortgeschrittenen Ausdifferenzierung.183 Auf der einen Seite existierten die drei jahrzehntealten, wöchentlich erscheinenden Branchenzeitungen der Musikindustrie Billboard, Cash Box und Record World, auf der anderen Seite entstand ab Mitte der 1960er Jahre aus gegenkulturellem Umfeld und aus der Alternative Press eine Vielzahl von neuartigen Zeitschriften wie beispielsweise Crawdaddy!, Creem oder Rolling Stone, die eine transnational wegweisende Form des Popjournalismus hervorbrachten. Viele der Zeitschriften, die »von unten« aus einfachsten Verhältnissen entstanden waren, erlebten im Laufe der 1970er Jahre Millionenauflagen und konnten sich dauerhaft auf dem Markt behaupten. Eine starke Wirkmacht entfalteten aber auch viele kurzlebige Periodika jener Jahre: sei es durch die Einführung eines distinkten Stils, sei es als Ausgangspunkt späterer Karrieren einzelner Akteure im Popjournalismus. Billboard (seit 1894) war die einflussreichste, größte und älteste Branchenzeitung der US-amerikanischen Musikindustrie.184 Gegründet als Entertainment Weekly und erst seit den 1960er Jahren auf Musik spezialisiert, umfasste die Berichterstattung alle populärmusikalischen Stile, wobei Popmusik in den 1970er Jahren dominierte und andere Genres nur mehr am Rande erschienen. Billboard bestand in der Regel aus 80 bis 100 Seiten mit Hintergrundberichten, News-Seiten, Reportagen über technische Entwicklungen, Medien und zur Musikindustrie, sowie Kritiken zu Konzerten und Tonträgern. Bereits seit 1936 druckte Billboard die weltweit erste Hitparade, die über gemeldete Verkaufszahlen sowie Spielzeiten im Radio erhoben wurde; sie war auch in den 1970er Jahren zentraler Referenz- und Orientierungspunkt der globalen Musikindustrie. Mit dem wachsenden Erfolg bundesdeutscher Gruppen fanden sich ab Mitte der 1970er Jahre zunehmend Berichte 183 Die britische und die US-amerikanische Musikpresse der 1970er Jahre waren eng miteinander verwoben. Publikationen hatten Tausende von Abonnenten und regelmäßige Abnehmer im jeweils anderen Land, ab den frühen 1970er Jahren oft auch Dependenzen. Meist waren es die Multiplikatoren innerhalb der Popmusik-Szenen, wie etwa DJs, Popjournalisten, Vertreter der Musikindustrie und besonders auch Musiker, die Zeitschriften anderer Länder konsultierten. Zudem wurde rege mit Artikeln und Beiträgen gehandelt, die meist nur leicht verändert auf der anderen Seite des Atlantiks erneut veröffentlicht wurden. Nicht zuletzt entwickelte sich ein umfangreicher personeller Austausch, der den Austausch von Ideen und Konzepten komplementierte, vgl. Johnstone, Melody Maker. S. 188. 184 Zum enormen transnationalen Einfluss von Billboard vgl. Wicke, Popmusik, S. 57.
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über Krautrock; im Dezember 1979 wurde in einem 30-seitigen Special über den bundesdeutschen Musikmarkt berichtet, ab 1980 wurden in einer regelmäßigen, einbis dreiseitigen Rubrik Nachrichten aus »West-Germany« angeboten – Indizien für den Bedeutungszuwachs, den der bundesdeutsche Markt im Laufe des Jahrzehnts erfuhr. Cash Box – The International Music-Record Weekly war eine seit 1942 erscheinende wöchentliche Branchenzeitung in etwas kleinerem Format. Der Inhalt unterschied sich in den 1970er Jahren nicht wesentlich von Billboard, der Umfang schwankte stark zwischen etwa 50 und manchmal über 160 Seiten. Ab Ende der 1960er Jahre betrieb Cash Box eine mehrseitige International Section, die von Außenbüros in europäischen, südamerikanischen und asiatischen Metropolen mit Informationen versorgt wurde; eine klar globale Ausrichtung, die von den Konkurrenzblättern in unterschiedlichen Schattierungen geteilt wurde. Die Bundesrepublik spielte bis Mitte der 1970er Jahre praktisch keine Rolle, erst ab Ende August 1975, mit den ersten Erfolgen Tangerine Dreams und Kraftwerks, wurde die bundesdeutsche Szene verstärkt wahrgenommen. Im Februar 1978 übernahm Gerhard Augustin mit einem Büro in München die Vertretung für Westdeutschland, ab März 1978 fand sich eine regelmäßige Kolumne namens »German News« unter der Rubrik International. Record World – Dedicated to Serving the Needs of the Music & Record Industry (gegründet im Jahr 1946 unter dem Namen Music Vendor) war die drittgrößte USamerikanische Branchenzeitung der 1970er Jahre. Sie erschien großformatig mit einem stark schwankenden Umfang von 50 bis etwa 300 Seiten. Der Inhalt deckte sich auch hier im Groben mit dem der Konkurrenz: Nachrichten aus der Industrie, Tonträger- und Konzert-Kritiken, Charts, Radio News, Hintergrundberichte. Allerdings hob sich Record World etwa mit regelmäßigen Rubriken wie Notes from the Underground, Campus Report oder College Radio Airplay Report von anderen Branchenzeitungen ab, gab sich eine alternative Note, indem sie sich an Entwicklungen jenseits des Mainstreams interessierte. Auch Record World hatte eine umfangreiche transnationale Sektion, die sich insbesondere mit Lateinamerika (in spanischer Sprache), später zunehmend auch mit Europa beschäftigte. Die bundesdeutsche Berichterstattung beschränkte sich dabei zunächst weitgehend auf die Sparten Schlager und Klassik, und rückte erst ab 1976 die »neue Popmusik« in den Fokus, wiederum zeitgleich mit dem Erfolg bundesdeutscher Gruppen in den USA. Neben den Branchenzeitungen entstanden ab Mitte der 1960er Jahre in programmatischer Abgrenzung alternative Periodika, die sich mit den Zusammenhängen von Popmusik, Politik und neuen Lebensstilen beschäftigten. Zeitschriften wie Crawdaddy!, Rolling Stone oder Creem waren im Wesentlichen auf „dope, sex and revolution“185 ausgerichtet und berichteten mit unterschiedlichen Schwerpunktset185 Frith, Sociology, S. 143f.; allgemeiner dazu Jones, Pop Music.
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zungen aus der Gegenkultur und der »neuen« Popmusik. Trotz eines improvisatorischen DIY-Charakters der Gründungsphase waren sie mehrheitlich von Beginn an bestrebt, sich auf dem Zeitschriftenmarkt als professionelle Alternativen zu den Branchenblättern der Musikindustrie zu etablieren. Im Gegensatz zum Vereinigten Königreich, wo sich diese neuartigen, alternativen Musikzeitschriften abgesehen von einer kurzen Blütezeit am Ende der 1960er Jahre nur in wenigen Ausnahmefällen behaupteten, konnte sich in den USA (wie später auch in der Bundesrepublik) eine Reihe dieser Periodika dauerhaft einrichten. Bereits ab 1966 erschien Crawdaddy! als frühes Beispiel eines gesellschaftspolitisch ausgerichteten, kritisch-anspruchsvollen Popjournalismus, wie er im Laufe der späten 1960er und der 1970er Jahre transnational Schule machen sollte.186 Crawdaddy! entstand in New York in studentischem Umfeld und war für ältere Leser mit gehobener formaler Bildung konzipiert; Popmusik und Popkultur wurden in Form eines „experimental stream of consciousness“187 präsentiert. Viele Protagonisten der ersten Generation US-amerikanischer Popjournalisten begannen ihre Karrieren in dieser Zeitschrift. Etwa ein Jahr nach Crawdaddy! erschien in San Francisco die erste Ausgabe des Rolling Stone, von Beginn an 14-tägig als Zeitung in Großformat.188 Die ersten Auflagen lagen bei ungefähr 40.000 Stück, am Ende der 1970er Jahre bei etwa einer halben Million; rückblickend ist der Rolling Stone das transnational wirkmächtigste und zugleich langlebigste der in den 1960er Jahren entstandenen, alternativen US-Zeitschriften. Obwohl keine reine Musikzeitschrift, stand die »neue« Popmusik als zentraler Kommunikationsraum der transnationalen Gegenkultur im Mittelpunkt der Berichterstattung. Berühmt wurden umfangreiche, heute oft als ikonisch betrachtete Auseinandersetzungen mit Schlüsselmomenten der Pop- und Gegenkultur um 1970, von Monterey über Woodstock bis Altamont, vom frühen Tod Janis Joplins über Jimi Hendrix bis Jim Morrison. In der ersten Hälfte der 1970er Jahre kam es zu ersten inhaltlichen Veränderungen, die als Anpassung an das »alternde« Zielpublikum gewertet werden können, das mittlerweile überwiegend aus um die 30 Jahre alten, weißen, wohlhabenden Konsumenten aus der Mittelschicht bestand. Im vorliegenden Fall ist der Rolling Stone vor allem aufgrund seines frühen Interesses für Krautrock interessant: Die bundesdeutschen Bands waren die ersten popmusikalischen Beiträge von außerhalb der angloamerikanischen Sphäre, die im Rolling Stone als innovative Beiträge besprochen wurden. Die Zeitschrift Creem wurde Ende 1969 ebenfalls in urbanem Umfeld gegründet. 1971 zog die Redaktion von Detroit auf einen Bauernhof außerhalb der Stadt 186 Zu Crawdaddy! vgl. Ginsburg, Way of Life, S. 31; Chapple/Reebee, Rock-Musik, S. 183; Denisoff, Tarnished Gold, S. 292. 187 Denisoff, Tarnished Gold, S. 292. 188 Zum Rolling Stone vgl. Frith, Sociology; Chapple/Reebee, Rock-Musik; Denisoff, Tarnished Gold.
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und gründete eine Kommune, in der das Private und die Produktion der Zeitschrift unter einem Dach vereint wurden. Creem wurde im Laufe der 1970er Jahre zu einem auflagenstarken, zentralen Forum des »neuen« Popjournalismus in den Vereinigten Staaten; viele der Mitarbeiter wie etwa Lester Bangs oder Greil Marcus gelten heute als Teil seiner Gründergeneration und fanden weltweit unzählige Bewunderer und Nachahmer. Der Stil von Creem zeichnete sich durch einen ironischen, oft sarkastischen Unterton aus; im Gegensatz etwa zum Rolling Stone wurde ein entschieden linker und kritischer Kurs auch über die 1970er Jahre beibehalten und dabei kaum Rücksicht auf finanzielle Implikationen genommen. Beispielsweise wurden auch Teile der Musikindustrie (und damit potente Werbekunden) immer wieder scharf attackiert und meist ironisch auf die Schippe genommen. Krautrock war auch in Creem das erste, nicht aus den USA oder Großbritannien stammende Phänomen der Popmusik, über das ausführlich berichtet wurde – dabei fällt in der retrospektiven Betrachtung ein gewisser Traditionalismus ins Auge, als insbesondere elektronische Instrumente und deren Interpreten zunächst scharfe Ablehnung erfuhren, als unecht, manipulativ und »nicht authentisch« gebrandmarkt wurden. Neben Branchenmagazinen und Musikzeitschriften spielten unter den Printmedien nicht zuletzt auch Fanzines bzw. die Alternative Press eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Krautrock in den Vereinigten Staaten.189 Bereits ab März 1973 zirkulierte beispielsweise das Fanzine Eurock, initiiert von dem Radio-DJ und Schallplattenimporteur Archie Patterson.190 Die ersten Ausgaben erschienen in einfacher Aufmachung und geringer Auflage, die in den Folgejahren jedoch beständig wuchs und vor allem von Multiplikatoren wie Importeuren, Musikjournalisten und Musikern rezipiert wurde. Eurock war bis Ende 1975 exklusiv auf Krautrock spezialisiert, neben Album-Kritiken und Diskographien erschienen zahlreiche Reportagen und Interviews mit dessen Protagonisten, die die Entstehungsgeschichten und Hintergründe der Gruppen des Krautrock beleuchteten. In seiner Funktion als Radio-DJ in Zentral-Kalifornien von 1971 bis 1974 trug Patterson auch mit seiner wöchentlichen Sendung selben Namens wesentlich zur Verbreitung progressiver bundesdeutscher Popmusik bei. Das initiale Interesse für Krautrock wurde bei Patterson übrigens durch das Abonnement einer der britischen Music Weeklies geweckt, das er als Teenager von seinem Großvater geschenkt bekommen hatte. Neben den Printmedien war auch in den USA der 1970er Jahre das Radio der wesentliche Faktor bei der Verbreitung von Popmusik – und nicht das Fernsehen. Das Rundfunksystem war dabei allerdings grundsätzlich anders organisiert als in Europa, öffentlich-rechtliche Anstalten wie etwa in Großbritannien und Deutsch-
189 Vgl. Ginsburg, Way of Life. 190 Die Angaben stammen aus einem Gespräch mit Archie Patterson in Portland, Oregon, Herbst 2012.
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land existierten in dieser Form nicht.191 Dadurch ergaben sich größere Freiheiten der Programmgestaltung, auf der anderen Seite war die Reichweite aufgrund der schieren Größe des Landes immer auf bestimmte Bundesstaaten oder Regionen, oft auch Städte begrenzt – insbesondere mit dem Aufkommen des qualitativ wesentlich besseren FM-Radios, das eine wesentlich geringere Reichweite besaß. Mitte der 1970er Jahre existierten etwa 7.000 Radiostationen in den Vereinigten Staaten, an Krautrock waren darunter ab den frühen 1970er Jahre zunächst insbesondere College Radios oder andere Stationen mit alternativem Anspruch interessiert, die größere Experimentierlust an den Tag legten.192 Besorgt wurde die Musik über Importfirmen oder über Kontaktleute in der Bundesrepublik; als ein zentraler Akteur besonders in der Frühphase wirkte dabei wiederum Archie Patterson.193 Im Gegensatz zu den Printmedien sind Sendungen und Playlists in der überwiegenden Mehrheit der Fälle nicht überliefert, für eine Rekonstruktion der Verbreitungsdichte und Schwerpunkte scheiden sie daher aus. Anhaltspunkte geben neben zeitgenössischen Angaben von Importfirmen statistische Erhebungen wie beispielsweise die Gavin Reports, der die meistgespielten Stücke des US-amerikanischen Radios anhand der Datenübermittlungen ausgesuchter Radiostationen erfassten – und damit zumindest eine grobe Annäherung liefern können.194 Die gerade für den Krautrock wichtigen Sendungen der College Radios und alternativer Radiostationen sind darin allerdings in der Regel nicht erfasst. Als Zeichen eines sich andeutenden breiteren Interesses der US-amerikanischen Medien an Krautrock, angestoßen durch die importierte britische Musikpresse und die Sende- und Printaktivitäten des heimischen Undergrounds, konstatierte der Rolling Stone Ende 1972: „There is something going on here, but we donˈt know what it is at the moment.“195 Porträtiert wurden auf einer reich bebilderten Doppelseite mehrere bundesdeutsche Gruppen der Labels Ohr und Pilz von Rolf-Ulrich Kaiser, 191 Vgl. Kleinsteuber, Hörfunk und Populärkultur, S. 520; Haring, Heimatklang, S. 105. 192 Zum alternativen US-Radio in den 1970er Jahren und seiner Wirkkraft vgl. Denisoff, Tarnished Gold, S. 231–288; auch Denisoff, Broadcasting. Mitte der 1970er Jahre bestätigten die Verantwortlichen das besondere Interesse von Radiostationen an kontinentaleuropäischen Importplatten, weil sie die Aura des »Außergewöhnlichen« böten, und zudem die Tatsache, dass besonders Studierende an diesen Importen interessiert seien, vgl. Rolling Stone 21.11.1974. 193 Patterson war neben seinen Tätigkeiten als Radio-DJ und Macher des Fanzines Eurock Mitbegründer der Importfirma Intergalactic Trading Company in Portland, Oregon; daneben war die Firma Jem Records aus New Jersey als größter Schallplatten-Importeur der 1970er Jahre an Krautrock interessiert. 194 Einzusehen sind die wöchentlichen Gavin Reports beispielsweise in den Rock & Roll Hall of Fame Library and Archives, Cleveland/Ohio, Bestand XG.A856. 195 Rolling Stone, 26.10.1972.
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die in der US-Rezeption danach kaum mehr eine Rolle spielten; die Bilder hatte Kaiser zur Verfügung gestellt, und es spricht einiges dafür, dass er das Interesse der Redaktion des Rolling Stone mit seinen Werbeaktivitäten geweckt und den Artikel angestoßen hatte. Gegen Ende 1973 kam ein Autor derselben Zeitschrift in die Bundesrepublik, dieses Mal »offiziell« auf Einladung Kaisers. Grund war die Pressekonferenz zur Vorstellung des Labels Kosmische Kuriere, die im Studio von Dieter Dierks stattfand. Kaiser, der den Gast nach dessen Beschreibung „pale, polite and stoned“196 empfing, wurde in dem Bericht als zentraler Akteur der Entwicklung einer bundesdeutschen Popszene hervorgehoben. Dabei blieb die Begegnung von Teilen des Krautrock mit Timothy Leary nicht unerwähnt, einer der zentralen Figuren der US-amerikanischen Gegenkultur. Die im Rahmen seines Besuchs in der Bundesrepublik wahrgenommene Atmosphäre beschrieb der Autor durchaus zwiespältig: Die Umgebung Kölns erschien in dem Artikel als „glum“197, und „as the day wore on, it became hard to avoid a patronizing nostalgia for the mid-Sixties, as if the reverberations from the West Coast had only just been translated into a rather stodgy German terminology. The exotic costumes. The hazy cosmic jive. And acid. The ghost of Timothy Leary.“ Die bundesdeutsche Popmusik-Szene sah er angesichts dessen in einer „nascent stage“, das Konzert Tangerine Dreams am Ende der Veranstaltung allerdings erschien ihm in einem gänzlich anderen Licht: „Tangerine Dream […] were something special“. Ein Jahr später sollten die »Elektroniker« aus West-Berlin, mittlerweile von dem britischen Label Virgin direkt in den USA vertrieben, bereits breit rezipiert werden. Tragisch für Rolf-Ulrich Kaiser war sicherlich, dass sich das US-amerikanischen Interesse für bundesdeutsche Popmusik, das er jahrelang und unermüdlich zu wecken versucht hatte, erst dann entfaltete, als er die Pop-Bühne bereits verlassen hatte. Das US-amerikanische Interesse am Krautrock unterschied sich in vielerlei Hinsicht von der Rezeption in Großbritannien, und dieser Unterschied zeichnete sich von Beginn an ab. Gruppen wie Faust, NEU! oder insbesondere Can, in der britischen Musikpresse über Jahre als Pop-Avantgarde gefeiert, spielten in der USamerikanischen Wahrnehmung eine sehr viel geringere Rolle. Das mussten auch Amon Düül II erfahren, die Mitte der 1970er Jahre zwar zumindest in Branchenzeitungen und Musikzeitschriften einige Resonanz erhielten, nachdem einer mehrmals geplatzten Tournee durch die Vereinigten Staaten letztendlich aber schnell wieder aus dem Fokus verschwanden.198 Das ist zum einen heute, in der retrospektiven 196 Rolling Stone, 30.08.1973. 197 Ebd. 198 Überwiegend positive Kritiken und Berichte fanden sich etwa in Creem 6/1973, 1/1974 und 1/1976; Stereo Review 10/1973, 9/1974 und 1/1976; Cash Box 26.01.1974 und 12.04.1975; Circus 09.12.1975. Weitere Beispiele gibt es in Fülle: Bereits 1973 erschien etwa das erste Album von Neu! direkt in den USA, wurde allerdings kaum ver-
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Wahrnehmung anders, zum anderen darf das auch nicht über das zweifelsohne bereits zeitgenössisch innerhalb der Popmusik-Szenen vorhandene Interesse hinwegtäuschen, insbesondere unter Musikern. Die Musikjournalistin Ingeborg Schober, 1973 beruflich in den Vereinigten Staaten, stellte beispielsweise überrascht fest, dass sie „inmitten von Amerikas neuaufblühendem Musikzentrum, in Georgia, das sich mit dem Southern Rock […] internationalen Ruf verschaffte, die überzeugtesten Fans deutscher Rockmusik kennenlernte. Nicht nur Namen wie Amon Düül II, Can oder Tangerine Dream wurden mit Ehrfurcht ausgesprochen, sondern Gruppen, die man nicht einmal bei uns besonders kannte. Natürlich täuschte das über die tatsächliche Lage hinweg, war verführerisch, denn schnell kam ich dahinter, daß es für eine kleine Minderheit besonders campy und shic war, deutsche Musik zu hören, besonders in einem Land, dem nichts exotischer als deutsche Kultur erschien. Dennoch, die Chance für einen Erfolg war da, aber nicht die Mittel, um sie zu nutzen.“199
Anhaltende Erfolge in Marktnischen und auf dem Importmarkt weckten nichtsdestotrotz ein wachsendes Interesse der US-amerikanischen Musikindustrie für einen Direktvertrieb bundesdeutscher Tonträger. Ende 1974 kam es zu einem wegweisenden Vertragsabschluss durch die New Yorker Firma Mr. I. Mouse Ltd., vertreten durch ihren Manager Ira Blacker, mit vier bundesdeutschen Labels für den Direktvertrieb in den USA – darunter Metronome und Ohr. Laut Cash Box war das ein deutliches Signal für die „gaining recognition for Germanyˈs increasing influence on the international music scene“200. Ira Blacker trat neben seiner Management-Tätigkeit zunehmend auch als Fachmann für das bundesdeutsche Phänomen in Erscheinung.201 Seine Einschätzungen basierten dabei auf umfangreichen Erfahrungen in der europäischen Popmusik-Szene: Bis Juli 1970 arbeitete er als Manager bei einer New Yorker Agentur, bevor er als Mitbegründer der Firma Action Talent Inc. (ATI) in Erscheinung trat.202 Dort war er für kauft; 1974 sandte Brain ein Magnetband des Albums Picture Music von Klaus Schulze an Labels in den USA, offensichtlich erfolglos: Das Album wurde dort erst zehn Jahre später veröffentlicht, vgl. Rock & Roll Hall of Fame Archives, Sire Records Collection, Series II Audiotapes, Box 50, Reel 8, datiert vom 20. Dezember 1974. Im selben Archiv findet sich umfangreiches Material zu Can, vgl. Michael Ochs Collection und Jeff Gold Collection. 199 Schober, Tanz der Lemminge, S. 194. 200 Cash Box 28.12.1974; noch einmal in Cash Box 15.03.1975. 201 Vgl. Cash Box 12.04.1975. 202 Zu seiner Tätigkeit in der New Yorker Agentur vgl. Billboard 27.12.1969 und 28.03.70; Variety 07.01.70; zum Wechsel zu ATI vgl. Variety 08.04.70 und 16.12.1970; Billboard
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den Underground bzw. Progressive Rock zuständig, spezialisiert auf britische Acts und deren exklusivem Vertrieb in den USA. Etwas später übersiedelte Blacker in das Vereinigten Königreich und vermittelte dort US-Bands für Tourneen in Europa.203 Dort kam er mit Krautrock in Berührung, der in Großbritannien gerade eine erste Hochphase erlebte – weiteres Beispiel für die zahlreichen transnationalen Erfahrungshintergründe der Protagonisten des Krautrock, auch auf US-amerikanischer Seite. 1975 gründete er (zurück in New York) sein eigenes Unternehmen Mr. I Mouse Ltd. und begann die bundesdeutsche Szene in den Fokus zu nehmen. Unter anderem kontaktierte er Dieter Dierks, den er „eines nachts“204 anrief, um sich nach möglichen Auftritten bundesdeutscher Gruppen (in diesem Fall Atlantis) in den USA zu erkundigen. Interessiert war Blacker beispielsweise auch an Neu! und Harmonia, insbesondere aber an Kraftwerk, dessen Album Autobahn er als importiertes Exemplar in einem New Yorker Schallplattenladen gefunden hatte. Nach weiteren Kontaktaufnahmen und Verhandlungen unterschrieb Blacker im Juli 1975 nach Verhandlungen mit Hütter und Schneider einen Vertrag zum exklusiven Management Kraftwerks in den USA und vermittelte deren Schallplattenvertrag mit Capitol Records.205 Angesichts des steigenden Interesses und steigender Verkaufszahlen für bundesdeutsche Bands war Anfang 1975 in der Musikzeitschrift Creem, wie bereits erwähnt, von einem „Techno-Flash“206 die Rede. Die Kurzvorstellung einiger Beispiele der progressiven bundesdeutschen Popmusik, die nach Ansicht des Blattes einen „sound like science fiction“207 produzierten, setzte den Ton, der den Diskurs über das Phänomen in den Folgejahren mitbestimmen sollte: Auseinandersetzungen mit der »Technisierung« der Popmusik und die Verknüpfung des Krautrock mit dem Space Age und der Science Fiction blieben zentrale Bezugspunkte. Diese beiden Aspekte waren es auch, die nur wenige Wochen später einen Autor der Branchenzeitung Variety dazu veranlassten, Popmusik nun „into the Teutonic phase of its evolution“208 eintreten zu sehen: „Virtually every U.S. label is in the market for the socalled »German Sound«“. Die Begeisterung für die neuartigen Klänge aus der Bundesrepublik basierten nicht zuletzt auf einer (von vielen Beobachtern so wahr-
30.05.70 und 07.08.71; zu den folgenden Angaben vgl. außerdem ein schriftliches Interview mit Ira Blacker, November 2015. 203 Vgl. Billboard 07.08.71; Melody Maker 28.04.73; New Musical Express 26.05.73. 204 Schriftliches Interview mit Dieter Dierks, erhalten am 04.04.2015. 205 Vgl. Variety 30.07.75; Billboard 21.02.76. 206 Creem 3/1975. 207 Ebd.; vgl. auch Crawdaddy! 6/1975. 208 Variety, 02.04.1975. „German Scene Expands To U.S.; Discs Amass Surprising Sales“, so Cash Box 12.04.1975.
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genommenen) Phase der Stagnation in der angloamerikanischen Popmusik;209 die elektronischen Klänge hätten sich besonders dynamisch entwickelt, so der Tenor, und sich zunehmend vom angloamerikanischen Idiom entfernt. Sie böten daher etwas bisher Ungehörtes, Neuartiges. Neueste Technologien, Assoziationen mit dem Space Age und futuristische Utopien oszillierten in der US-amerikanischen Wahrnehmung in einen – eben als spezifisch deutsch empfundenen – »German Sound«, in dem die Zukunft der Popmusik anzuklingen schien. Vor diesem Hintergrund schälten sich ab Mitte der 1970er Jahre in den Vereinigten Staaten zwei zentrale Referenzpunkte heraus: Tangerine Dream und Kraftwerk. Tangerine Dream waren die ersten Vertreter des Krautrock, die in den USA breit rezipiert wurden. Ihr von Virgin direkt auf dem US-amerikanischen Markt veröffentlichtes Album Phaedra wurde dem Handel von der Branchenzeitung Billboard als Geheimtipp mit großem Potential ans Herz gelegt: Tangerine Dream „has been big on the Continent for years, but this is their first effort here […] an ethereal, almost perfectly flowing set. […] Should get very heavy FM play“210. Cash Box machte ein „amazing and dazzling display of musical virtousity“211 aus, und auch Variety hielt das Album für ein „fascinating program“212, wobei die Branchenzeitung Tangerine Dream zu diesem Zeitpunkt (vielleicht aus Macht der Gewohnheit) noch als ein „Berlin-based British instrumental trio“ anpries. Viele Beobachter versuchten sich angesichts der ungewohnten Klänge an ersten Kategorisierungen und Einordnungen in das Idiom der Popmusik: Die Musik sei etwa „hypnotic“213 oder zeichne sich durch konzeptionelle und personelle Verbindung zur »E-Avantgarde« aus, so war oft in Übereinstimmung mit der britischen Wahrnehmung des Phänomens zu lesen. Im Zentrum aber stand besagter Bezug zum Space Age, oft phantasievoll in Szene gesetzt: „The next time youˈre out near Alpha Centauri and blunder into the gravitational pull of a black hole, being pulled inexorably downward thru warps of space and time while your body is compacted to a pinpoint and ultimately spit out into an alternate universe, »Phaedra« [Virgin] by Tangerine Dream would be really terrific on your dashboard radio.“214 209 Dieser Aspekt kam in der US-Rezeption des Krautrock des Öfteren zur Sprache. Im Falle Kraftwerks beispielsweise hieß es, die Gruppe „is simply offering American ears something different – a musical commodity thatˈs currently in notoriously short supply“, vgl. Chicago Tribune 13.04.1975; ähnlich auch in Creem 6/1975; als Überblick Haring, Heimatklang, S. 104–107. 210 Billboard 01.06.1974. 211 Cash Box 01.06.1974. 212 Variety 12.06.1974. 213 New York Times 14.06.1974 und Chicago Tribune 21.07.1974; Tangerine Dream als Teil eines globalen Trends zur „Trance Music“, so New York Times 12.01.1975. 214 Chicago Tribune, 21.07.1974.
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Abbildung 31: »Mind expanding music from Tangerine Dream«, beworben durch Richard Branson’s Virgin im Rolling Stone 1975.
Der futuristische Pop aus der Bundesrepublik rief als „genuine listening experience […] from outer space“215 auch in den Vereinigten Staaten allerdings keineswegs nur Begeisterung hervor. Letztendlich zirkulierten die Meinungen zu den als »German Sound« identifizierten Klängen im Allgemeinen und Tangerine Dream im Besonderen um zwei Pole: Die einen machten „incredibely visionary German kids“216 aus, deren Musik „the most effective mating of the mellotron and synthesizer to date“ sei, während die anderen den „hype“217 nicht nachvollziehen konnten und die Musik schlicht als „cold“218 beschrieben. Zugrunde lagen diesen Beurteilungen auch hier verschiedene Auffassungen bezüglich elektronischer Instrumente bzw. elektronischer Musik. Von den einen als neue und zukunftsträchtige Innovation mit
215 Cash Box 03.05.1975. „23rd-century lounge schmaltz“, so Rolling Stone 11.09.1975. 216 Rolling Stone 12.09.1974. 217 Creem 9/1974; Creem behielt (in der Gestalt unterschiedlicher Kritiker) einen skeptischen Ton gegenüber Tangerine Dream auch in der Folge bei, vgl. beispielsweise Creem 3/1975, 8/1975 und 6/1976; Crawdaddy! beurteilte Tangerine Dream als „the real champions of electronic sound,“ vgl. Crawdaddy! 11/1974. 218 Creem 8/1975. Fachzeitschriften für elektronische Instrumente wiederum fanden genau in der »Kühle« der Musik ihre innovative Qualität und hoben Tangerine Dream ob ihrer Zurückhaltung heraus: „One of the truly easy listening synthesizer LPˈs amid the sea of violent overstatement“, so Contemporary Keyboard 9-10/1975.
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schier unendlichen Möglichkeiten der Klanggestaltung gefeiert, galten sie anderen als kalt und synthetisch, als unecht, manipulativ – als nicht »authentisch«. Diese Wahrnehmungen gaben auch den Rahmen für die Beurteilung der ersten Konzerttournee Tangerine Deams in den Vereinigten Staaten Mitte 1977. Das Publikum reagierte – glaubt man den medialen Beschreibungen – überwiegend begeistert, es schien „absorbed by the intricate nature of Tangerine Dreamˈs music“219. Höchst erstaunt reagierte die Popkritik auf die Präsentationsformen der Gruppe, die allen Erfahrungen und gängigen Erwartungen zuwiderliefen: Man wunderte sich über „3 men who alternately sit or stand at three massive banks of sophisticated electronic gadgetry, seemingly unconcerned with presenting the audience with physical contortions“220. Die Instrumententechnologie war auch hier im Fokus: „Itˈs fascinating to see what technology can accomplish“221, stellte man erstaunt fest; „rarely has the impact of modern technology on music been more strikingly illustrated“222. Offenbar waren die Konzerte auch Anlaufstellen für interessierte Musiker: „Musicians frantically wrote notes and musical notations“223, so der Beobachter von Cash Box. Ein Aspekt, der bereits im Zusammenhang mit Instrumententechnologie eine Rolle spielte und der erneut die Wahrnehmung des Krautrock als Pop-Avantgarde unterstreicht. Die elektronischen Klänge, die statische Präsentation und das Fehlen der gewohnten Showeinlagen rief allerdings wiederum auch Ablehnung hervor, manch Beobachter fühlte sich „vaguely cheated“224. Von „tricks“225 und „simulations“ war mitunter die Rede, auch von einer „occasionally intimidating“226 und „menacing“227 Erfahrung einer sich offenbar vollziehenden »Technisierung« der Popmusik. Davon unberührt blieb der Bezug auf das Space Age, der positiv wie negativ gelesen werden konnte, ebenso wie die Charakterisierung als spezifisch deutsche Form der Popmusik: „Cosmic music for cosmically inclined audiences“228 und „space tripping […] future music“229 würde dem Publikum geboten, produziert mit Instrumen219 Cash Box 18.06.1977; von einer „thunderous round of applause“ war auch zwei Monate später die Rede, Tangerine Dream waren „more than capable of holding the crowd spellbound,“ vgl. Cash Box 20.08.1977. 220 Cash Box 18.06.1977. 221 Variety 13.04.1977. 222 Washington Post 05.04.1977. 223 Cash Box 18.06.1977. 224 Chicago Tribune 04.04.1977. 225 New York Times 07.04.1977. 226 Washington Post 05.04.1977. 227 Washington Post 03.04.1977; ähnlich Crawdaddy! 7/1977. 228 Billboard 30.04.1977. 229 Los Angeles Times, 24.04.1977.
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ten, die zu „symbols of the space age“230 stilisiert wurden. Der futuristische Pop wurde dabei als »German Sound« der „three young Teutonic bloods“231 charakterisiert und galt manchem als „cross between Goethe and Rommel, between the Ode to Joy and Deutschland uber Alles“ – eine Art der Stereotypisierung, die bereits in Großbritannien aufgetaucht war und an anderer Stelle noch eine gewichtige Rolle spielen wird. Nur wenige Monate nach Tangerine Dream waren ab Anfang 1975 Kraftwerk mit ihrem Album Autobahn erfolgreich und erreichten – ein bis zu diesem Zeitpunkt für eine bundesdeutsche Gruppe einmaliger Erfolg – innerhalb weniger Wochen nach Erscheinen die Top Five der Billboard Album-Charts.232 Bei der Verbreitung spielte das Radio eine entscheidende Rolle: Autobahn wurde durch das Label Mercury einem lokalen Radiosender in Chicago zur Verfügung gestellt, von dort breitete sich das Stück rasch über das ganze Land aus.233 Dabei war es zuvor von über 20 Minuten Länge auf den Radio-Standard von dreieinhalb Minuten gekürzt worden. Für Kraftwerk kein Problem: „Making a short version was easy,“ so Ralf Hütter in einem Interview, „listening to the long version is like taking a long ride on the Autobahn. Listening to the short version is like taking a short ride on the Autobahn.“234 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Textverständnis der USamerikanischen Rezipienten; denn zwar hatte das Stück einen spärlichen deutschsprachigen Text (»Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn«), der wurde allerdings (wenn auch falsch) verstanden: als »Fun fun fun on the Autobahn«. Beides, Länge und Text bzw. Sprache, waren dahingehend gegen Ender der 1970er Jahre kein Thema mehr, als Kraftwerks Stücke von Vornherein in Standardlänge produziert wurden und zudem mehrsprachig erschienen.
230 Washington Post 05.04.1977. 231 Stereo Review 11/1975. 232 Die Verkaufszahlen des ursprünglich auf eine Auflage von 4.000 Stück limitierten Albums stiegen letztendlich auf mehrere 100.000 Stück an, vgl. Cash Box, 12.04.1975. Selbst für das auf den Teenager-Markt ausgerichtete, monatliche erscheinende Musikmagazin Circus war das Album „one of the most important new acts […] this year“, so Circus 6/1975; übrigens einer der wenigen zeitgenössischen Artikel in den Vereinigten Staaten, in dem der Begriff »Krautrock« vorkam. 233 Vgl. Record World 12.04.1975; der Gavin Report listete Kraftwerk unter den Top Prospects zum ersten Mal im März 1975, im April 1975 war Kraftwerks Autobahn unter den Top 10 und gehörte damit zu den am meisten gespielten Songs im US-amerikanischen Radio, vgl. Gavin Reports 1040-B, 12.03.1975 und 1044-B, 9.04.1975; zur Bedeutung des Stücks Autobahn in den USA vgl. die Laudatio zur Grammy-Verleihung unter http://www.grammy.com/news/lifetime-achievement-award-kraftwerk [12.10.2014] 234 Los Angeles Times 18.05.1975.
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Abbildung 32: Top of the charts Dank Radio.
Mit dem wachsenden Erfolg begannen sich ab Anfang 1975 die US-amerikanischen Medien, zunächst insbesondere die Branchenzeitungen für das Phänomen zu interessieren. Billboard beschrieb Kraftwerk als „fascinating mix of guitars, percussion, strings and electronics, the last of which has placed them near the nadir of the German electronic trend”235. Dieser »elektronische Trend« aus der Bundesrepublik habe bereits über Importe eine große Anhängerschaft für sich gewinnen können, mit Kraftwerk sei nun eine neue Qualität erreicht. Cash Box pflichtete dem Konkurrenzblatt bei und beschrieb Kraftwerks Album als „dynamic new sound made up of some tremendously catchy themes“236. Wie bereits im Falle Tangerine Dreams wurden im Zuge der Kategorisierungs- und Einordnungsversuche Bezüge zur »EAvantgarde« hergestellt,237 gleichzeitig der avantgardistische Charakter und die Neuartigkeit der Klänge unterstrichen: „The quartett is pushing new frontiers […] we look for them to become a significant part of progressive music“238.
235 Billboard 11.01.1975. 236 Cash Box 11.01.1975. 237 Vgl. Billboard 19.04.1975; Record World 19.04.1975; New York Times 07.04.1975 und 30.06.1975; Los Angeles Times 19.05.1975; Rolling Stone 03.07.1975; Down Beat 03.06.1976. 238 Cash Box 11.01.1975.
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Das Urteil war allerdings wiederum ambivalent und keineswegs einstimmig positiv. Kritiker der an alternativem und progressiver Popmusik orientierten Rolling Stone und Creem beispielsweise nahmen den Sound Kraftwerks zunächst insbesondere als maschinenhaft und kalt wahr; ihre deutschen Texte begründeten nicht zuletzt Kraftwerk selbst vor US-amerikanischem Publikum damit, dass sie wie ihre Musik „machinelike“239 sei. Lester Bangs setzte sich gewohnt ironisch mit dem Phänomen auseinander: „I donˈt like rock anymore. I like Kraftwerk. […] They are a precision tooled, airtight machine. And this is the cleanest piece of program music in years“240. Im Zentrum der Kritik standen Wahrnehmungen von maschinenhafter Präzision und kontrollierter Emotionslosigkeit, von einer „clearly mechanical music for a machine age“241, „totally in control, unemotional and detached“242 und „hypnotically structured“243. Sogar von „trance“244 und „trance rock“245 war die Rede, knapp 20 Jahre bevor der Begriff als Genrebezeichnung wiederauftauchte. Florian Schneider und Ralf Hütter selbst bezogen sich – einerseits in Reaktion auf diese Zuschreibungen – auf die zentralen Rollen von Technologie und Maschinenhaftigkeit für das Konzept der Gruppe; andererseits hatten sie bereits vor der Reise in die Vereinigten Staaten „very distinct ideas as to their identity“246. Beides kulminierte auf dem Plakat für die US-Tournee Kraftwerks 1975: die »MenschMaschine« war geboren.247 Ein in Creem im September 1975 veröffentlichter Artikel, wiederum von Lester Bangs, überspitzte die (Selbst-)Zuschreibungen und Stereotypisierungen um Kraftwerk und verknüpfte sie mit NS-Symbolik. Das mehrseitige, sogenannte »Kraftwerkfeature« beschrieb die Gruppe unter einer Abbildung von Hakenkreuz und Reichsadler, wobei einige im Interview gemachte Aussagen Kraftwerks und eine bewusst »maschinenhafte« Selbstdarstellung einige Verwirrung stifteten – weniger in den USA als in der Bundesrepublik. Hütter ließ sich in dem Gespräch mit Bangs 239 Rolling Stone 03.07.1975. 240 Creem 6/1975; vgl. auch Rolling Stone 19.06.1975. 241 Washington Post 03.04.1977; von einer „highly industrialized, colder, and more machinelike“ Musik schrieb der Chicago Tribune 13.04.1975. 242 Circus, 06/1975; „icy, remote and low-pulsed,“ so die Los Angeles Times 26.03.1977; „music made by machines on ice,“ so Creem 6/1975. 243 New York Times, 7.04.1975; zur Beschreibung der Musik Kraftwerks als »hypnotisch« vgl. auch Chicago Tribune 09.07.1978; Circus 6/1975; „at its best, the music has a psychic effect not unlike medetation,“ vgl. Contemporary Keyboard 04.03.1976; ähnlich auch in Contemporary Keyboard 8/1978. 244 Circus 6/1975. 245 Los Angeles Times 09.03.1975. 246 Schriftliches Interview mit Ira Blacker, erhalten am 22.11.2015. 247 Vgl. Rolling Stone 03.07.1975.
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unter anderem zu der Aussage verleiten, die „German mentality“ sei „more advanced“248 – was (in Kenntnis des Stils von Lester Bangs und der Zeitschrift Creem) in den Vereinigten Staaten keine weitere Aufmerksamkeit erregte, in der Bundesrepublik jedoch zu teils scharfen Reaktionen führte. Das lag auch daran, dass der in der Bundesrepublik wesentlich breiter rezipierte, britische New Musical Express den Artikel nachdruckte: denselben Text, allerdings mit anderer Aufmachung, verbunden mit noch gravierenderer NS-Symbolik und unter der weitaus drastischeren Überschrift „Kraftwerk: The final Solution to the Musical Problem“249. Rechtes Gedankengut oder gar eine angebliche Nähe zur NS-Ideologie, die aus diesen Artikeln, manch anderen Aussagen Hütters und auch aufgrund der Ästhetik der Gruppe in der Bundesrepublik immer wieder konstruiert wurden, haben Kraftwerk wiederholt scharf zurückgewiesen.250 Ganz im Gegenteil kultivierten sie wie erwähnt auch in den 1970er Jahren ein betont kosmopolitisches Image, beriefen sich auf eine europäische Identität, und pflegten lediglich gegenüber den USA eine gängige Mischung aus Bewunderung und Abwehr. Diese Mischung spiegelte sich in ihren musikalischen Einflüssen und ihren Bemühungen auf dem USamerikanischen Markt einerseits, und der Ausbildung eines distinkt europäischen Images andererseits. Innerhalb der Vereinigten Staaten wiederum spielten diese Vorwürfe von Vornherein keine Rolle: Dort war das Spiel mit überspitzt vorgetragenen deutschen Stereotypen Teil dieser außerordentlich erfolgreich gestalteten Imagekonstruktion, die ohne Zweifel auch in Reaktion auf den Erfolg und die Zuschreibungen »von außen« mitgestaltet und weiterentwickelt wurde. Besondere Resonanz ergab ihre erste US-Konzerttournee im April 1975, und die Präsentationsformen unterstrichen in der allgemeinen Wahrnehmung dieses sorgfältig aufgebaute Image Kraftwerks: Das nahezu bewegungslose, statische Auftreten als »MenschMaschinen« mit kurzen Haaren, Anzug und Krawatte (wie „chamber musicians“251) wurde einmal mehr und wie intendiert als maschinenhaft, emotionslos und kalt empfunden: Kraftwerk „posed like imperturbable statues amid their neat cluster of keyboards and control panels“, so etwa die Los Angeles Times, „the only words to emerge from the eerie neon glow were those to distinguish the tuning-up from the compositions proper.“252
248 Creem 9/1975. 249 New Musical Express 06.09.1975. 250 Vgl. zusammengefasst Buckley, Kraftwerk. 251 Variety 9.04.1975. 252 Los Angeles Times 19.05.1975; vgl. auch Variety 9.04.1975; Cash Box 19.04.1975; Rolling Stone 03.07.1975.
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Abbildung 33: »Kraftwerkfeature« in Creem, 1975.
Die Tournee hatten Hütter und Schneider aufgrund ihres soliden finanziellen Backgrounds selbst finanzieren und daher ohne langwierige Vorverhandlungen »auf der Welle« ihres Chart-Erfolges absolvieren können.253 Auch dadurch, dass die Tour zeitgleich zum Charterfolg stattfand, war die Gruppe im Frühjahr 1975 in allen großen Branchenzeitungen der USA präsent.254 Ein Auftritt als erste bundesdeutsche Gruppe in der Fernsehshow Midnight Special, der zentralen TV-Sendung für Popmusik in den USA und vergleichbar mit der Rolle des Beat Clubs in der Bundesrepublik oder Top of the Pops in Großbritannien, war ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zu der enormen Popularität Kraftwerks in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre.255 Auch als sich das Album Radio Activity (1976) im Gegensatz zu
253 Vgl. Rolling Stone 03.07.1975. 254 In der zweiten Aprilwoche 1975 vgl. Billboard 12.04.1975; Cash Box 12.04.1975; „amidst the current flurry of German rock activity Stateside, the group thatˈs making the most spectacular impact on the charts is Kraftwerk“, so Record World 12.04.1975. 255 Vgl. Midnight Special, Folge 126 (USA 1975).
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Europa und insbesondere Frankreich schlechter verkaufte als Autobahn,256 galt die nächste Veröffentlichung Trans-Europe Express (1977) bereits wieder als „one of the surprise delights of the season“257; „Kraftwerkˈs album should erase much of the doubt about the viability of techno-rock. The album bristles with energy and imagination“258. Men Machine (1978) als letztes Album der 1970er Jahre verfestigte den Ruf der Gruppe als „forerunner of a new musical style“259, die Fachzeitschrift Contemporary Keyboard nannte es schlicht einen „technical triumph“260. Am Ende der 1970er Jahre begann sich der Ruf des Krautrock als konstitutiver Beitrag eines transnationalen Idioms der Popmusik zu verfestigen. „While the Americans and the British have been busy playing their country-rock and their heavy metal“, so beispielsweise die Washington Post 1977, „the Germans have quietly been developing a form of music that effectively and even frighteningly puts advanced musical technology to use.“261 Mit dem Erfolg des »elektronischen« Krautrock sei der Beginn einer neuen Ära der Popmusik eingeleitet worden: „Like it or not, the age of synthetic music is upon us“262. Weiterhin blieben auch die „progressive melodies and the outer space vision“263 Tangerine Dreams und anderer bundesdeutscher Elektroniker fester Bestandteil der US-amerikanischen Rezeption. Zunehmend gerieten weitere »elektronische« Interpreten des Krautrock in den Blick, wie (nicht zuletzt in Form der erwähnten Aktivitäten als Filmmusiker) etwa die ehemaligen Tangerine Dream-Mitglieder Klaus Schulze, Peter Baumann oder Michael Hoenig, aber auch die Kooperationen von Dieter Moebius und Hans-
256 Vgl. Record World 01.11.1975; Cash Box 22.11.1975; Stereo Review 12/1975 und 5/1976; Chicago Tribune 11.01.1976; Creem 1/1976; Rolling Stone 12.02.1976; Crawdaddy! 5/1976; Down Beat 03.06.1976; zum geringen kommerziellen Erfolg des Albums rückblickend Los Angeles Times 26.03.1977. 257 Los Angeles Times 26.03.1977. 258 Los Angeles Times 26.03.1977 und (mit Trans Europe Express als einem der »Top 10«Alben der Saison) 17.07.1977; auch Record World 02.04.1977; Cash Box 09.04.1977; Creem 6/1977. 259 Cash Box 29.04.1978; vgl. auch Los Angeles Times 21.05.1978; New York Times 30.06.1978; Synapse 5/6 1978. 260 Contemporary Keyboard 8/1978; ähnlich in Stereo Review 8/1978. 261 Washington Post 3.04.1977; dazu auch Variety 13.04.1977. 262 Washington Post 5.04.1977; ähnlich Cash Box 18.06.1977; auch Creem 06/1977 oder Contemporary Keyboard 07/1977. 263 Cash Box 05.11.1977; vgl. auch Washington Post 11.12.1977; Contemporary Keyboard 3/1977; Cash Box 18.06.1977. Tangerine Dream tauchten bereits in den ersten Monographien über elektronische Musik als konstituierender Faktor auf, vgl. Griffiths, Electronic Music; vgl. auch Down Beat 3/1981 und 12/1981.
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Joachim Roedelius mit Brian Eno oder die beiden Tonmeister und Produzenten Dieter Dierks und Conny Plank.264 Wesentlich initiiert war das US-amerikanische Interesse an Krautrock, so kann man resümieren, zunächst über die dortige Rezeption britischer Popmedien. Auch Rolf-Ulrich Kaiser spielte bei der Promotion des Krautrock in den USA offenbar eine wichtige Rolle, die allerdings durch sein Ausscheiden Mitte der 1970er Jahre abbrach, bevor sich der Erfolg in den USA einstellte. Daneben erfolgte der Transfer über so unterschiedliche Multiplikatoren wie Archie Patterson als Importeur, RadioDJ und Macher eines Fanzines, Ira Blacker als Manager und Vertreter der Musikindustrie, oder den Briten Richard Branson als Initiator und Macher eines weltweit erfolgreichen Labels mit ausgeprägtem Interesse an experimentellen Klängen. Trotz eines durchaus vorhandenen Interesses in der US-amerikanischen Gegenkultur und in der US-Popmusikszene ab Beginn der 1970er Jahre, das über besagte britische Medien transportiert wurde und dort breit rezipierte Gruppen wie Amon Düül II, Can oder Faust miteinschloss, fokussierte die zeitgenössische US-amerikanische Rezeption des Krautrock in erster Linie die »Elektroniker«. So standen mit Tangerine Dream und Kraftwerk ab Mitte der 1970er Jahre zwei Gruppen im Mittelpunkt, die zu diesem Zeitpunkt – auch in der US-amerikanischen Wahrnehmung – besonders radikal mit der »traditionellen« Pop-Ästhetik gebrochen hatten. So radikal, dass sich auch hier wie bereits in der Bundesrepublik und in Großbritannien die Frage stellte, welchem Genre der »German Sound« zuzuordnen sei: „A musical style so removed from the blues-based fervor of 1950ˈs rock […] except that itˈs sold through the same market“265. Die Assoziationen, die in der US-amerikanischen Rezeption des Krautrock als »Popmusik der Zukunft« eine besondere Rolle spielten, zirkulierten um den sogenannten »Techno Flash« bzw. die »Technisierung« der Popmusik, um die Verbindung elektronischer Klänge mit dem Space Age und der Science Fiction, aber auch um (scheinbare oder tatsächliche) Verbindungslinien zur sogenannten »E-Avantgarde«. Weitgehend einig war man sich spätestens im letzten Drittel der 1970er Jahre, dass die Popmusik nun in die »Teutonic phase of its evolution« eingetreten sei – dass Krautrock einen konstitutiven Beitrag zur Popmusik geleistet habe. Die Wahrnehmung des »German Sounds« als konstitutive Säule der Popmusik rief allerdings nicht nur positive Reaktionen hervor. Wie bereits im Vereinigten Königreich wurde der bundesdeutsche Beitrag zugleich negativ gewendet als kalt, unecht, manipulativ, ja sogar als furchteinflößend und bedrohlich empfunden und beschrieben. Verwoben wurden diese Wahrnehmungen mit scheinbar »typisch 264 Vgl. beispielsweise Billboard 02.06.1979; Contemporary Keyboard 1/1978, 6/1978, 1/1979, 10/1979 und 11/1979; Downbeat 05.10.1978; Synapse 5/6 1978; Trouser Press 5/1979, 5/1980, 6/1980 und 1/1981. 265 New York Times 30.06.1978.
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deutscher« Maschinenhaftigkeit, Affinität zu Technologie und kalter Emotionslosigkeit. Die Konstruktion eines distinkten »German Sound« konnten sich mitunter mit stereotypen Bildern »des Deutschen« verbinden und mit NS-Symbolik bzw. NS-Duktus vermischen.266 Auch im Falle der USA ist davon auszugehen, dass es sich dabei nicht zuletzt um Hilfskonstruktionen handelte, anhand derer das neuartige Phänomen in den Sinnhaushalt des bis dato »Anglo-American closed shop« der Popmusik integriert wurde. Als Indiz für den zunehmend »transnationalen flow« der Popmusik ist zudem zu werten, dass sich Kraftwerk diese Stereotypisierungen außerordentlich erfolgreich zunutze machten und als »Promotion des lokalen Unterschieds für den globalen Konsum« in ihr Marketing integrierten – heute gang und gäbe, Mitte der 1970er Jahre in diesem Ausmaß und mit diesem Erfolg unerhört. Verwoben waren diese Stereotypisierungen auch in den USA mit dem poptypischen Authentizitätsdiskurs der 1970er Jahre, der sich damit einmal mehr als ein transnationaler Diskurs auszeichnet. Er zirkulierte grenzübergreifend um musikalische Ausdrucksweisen und ihre Präsentationsformen, die im Falle des Krautrock aufgrund seines avantgardistischen und vollkommen neuartigen Charakters besonders zugespitzt in Erscheinung traten.
266 Noch im Jahr 2003 benannte der US-amerikanische Popjournalist Jim DeRogatis das entsprechende Kapitel seines Buches mit dem Titel „Krautrock Blitzkrieg“ (Kap. 9) und schrieb die Entwicklung einer »teutonischen« Faszination für Technik zu, vgl. DeRogatis, Psychedelic Rock, S. 261.
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N ACH 1978: W IRKUNG UND AUSBLICK „Globally, the history of popular music during the last 25 years is an account of just three nations: the United States, the United Kingdom and, well, Germany.“267 Washington Post, 1996 „Some of the most influential sounds ever […] some of the worldˈs most extraordinary music.“268 The Guardian, 2010 „Als Lösung erschien uns der Weltraum. Die Zukunftsmusik von vor 40 Jahren ist immer noch die Zukunft.“269 Süddeutsche Zeitung, 2010
„Man kann sich fragen, was auf einmal passiert ist, daß sich die sprichwörtliche deutsche Steifheit mit der für die Popkultur so wichtigen lockeren Haltung verträgt“270, wunderte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Ende des Jahres 1978. Und weiter: „Man kann sich auch fragen, wieso die harte deutsche Sprache, der man ein Vierteljahrhundert lang die Untauglichkeit für den weichen Popgesang attestiert hatte, plötzlich so en vogue ist. Und schließlich kann man noch rätseln, warum die Popkultur-Nationen Amerika und Großbritannien gerade in dem Moment anfangen, den »German Rock« ernst zu nehmen, da sie ihn nicht mehr verstehen. Einer der Gründe für das neu erwachte Interesse am »Teutonic Sound« mag vielleicht sein, daß der deutsche Sang und Klang gar nicht so deutsch ist, wie er einigen vorkommt.“
Die Verwunderung über den Erfolg bundesdeutscher Popmusiker im Ausland war mit Sicherheit verständlich, besonders aber die abschließende Bemerkung ist im vorliegenden Fall interessant. Denn in der Tat fielen die Vertreter des Krautrock in der angloamerikanischen Rezeption weder durch ihre Lockerheit auf, noch spielten die Sprache oder Texte eine herausragende Rolle. Es waren vielmehr ein spezifi267 Washington Post 21.01.1996. 268 Der britische Guardian über die Wirkkraft des Krautrock, The Guardian 02.04.2010. 269 Die Süddeutsche Zeitung über Krautrock, Süddeutsche Zeitung 02.08.2010. 270 Frankfurter Allgemeine Zeitung 16.11.1978.
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scher Sound und spezifische Präsentationsformen, die im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten als anders- und neuartig wahrgenommen wurden. Im Zuge dieser Wahrnehmung wurde Krautrock in beiden Ländern als »German« identifiziert und national aufgeladen. Aber war der Sound des Krautrock wirklich »deutsch«? Wenn ja, was daran genau? Wenn nein, warum wurde er so wahrgenommen? Das britische Label Virgin charakterisierte Krautrock zu Beginn der 70er Jahre mit Begriffen wie »rootless«, »industrial«, »urban«, »modern« oder »experimental«. Hinter diesen Charakterisierungen steckte die Wahrnehmung als Phänomen, das die Wurzeln zur Popmusik angloamerikanischer Provenienz weitgehend gekappt hatte. Das Neuartige verkörperte sich konkret in einer spezifischen Tonalität und/oder Rhythmik, in der experimentellen Anwendung von Aufnahme- und Instrumententechnologien, der bewussten Einbeziehung von Alltags- und Störgeräuschen, aber auch in dem sozialen, politisch aufgeladenen Gefüge innerhalb der Gruppen und den daraus resultierenden, distinkten Präsentationsformen auf Konzerten. Trotz seiner stilistischen Heterogenität und seiner vielfältigen Ausdrucksformen wurde Krautrock außerhalb der Bundesrepublik über Jahre als einheitliches Phänomen betrachtet, weniger auf Basis der verschiedenen Stilmittel, vielmehr auf Basis seiner Herkunft charakterisiert – eben als »German Sound« mit angeblich spezifisch deutschen Gestaltungselementen. Die Wahrnehmung dieser Gestaltungselemente konnte sich allerdings diametral widersprechen: Wie die Beispiele gezeigt haben, war die Aufladung des Krautrock als nationales Phänomen – angesichts seines heterogenen Charakters kaum verwunderlich – zum Teil höchst widersprüchlich. In der britischen Rezeption beispielsweise erschienen Gruppen der freien Avantgarde wie Amon Düül II, Can oder Faust als dionysisch, wagnerianisch, emotional und intensiv – während die elektronische Avantgarde um Tangerine Dream und insbesondere Kraftwerk als kühl und unnahbar, roboterhaft und technikaffin beschrieben wurden. Diese Ausprägungen galten trotz ihrer Widersprüchlichkeit allesamt als »typisch deutsch«, die Musik als »German Sound«. Der Grund für diese Wiedersprüche mag darin gelegen zu haben, dass es sich mit Krautrock um den ersten und damals einzigen konstitutiven und als eigenständig wahrgenommenen Beitrag zum Idiom des Pop handelte, der nicht nur von außerhalb der angloamerikanischen Sphäre kam, sondern eben aus der Bundesrepublik; bundesdeutsche Popkultur, die jungen Briten und US-Amerikanern in den 1970er Jahren besonders »exotisch« vorkam, legte eine Lokalisierung als »teutonic« wohl nahe. Auch andere Gründe sprechen gegen die Annahme, dass der Sound, oder besser die verschiedenen Sounds »typisch deutsch« gewesen seien. Zum einen war die Nationalisierung mit dem Selbstverständnis der Protagonisten unvereinbar, die sich in vielschichtiger Weise als Teil einer transnationalen Gegenkultur verstanden. Diese Tatsache spiegelte sich nicht zuletzt auch in den musikalischen Einflüssen, die gar nicht weit genug von »deutschen Traditionen« entfernt sein konnten. Deutsches galt einer Mehr-
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heit junger Menschen in der Bundesrepublik der späten 1960er und der 1970er Jahre als »hinterwäldlerisch« – vielleicht auch ein Grund dafür, dass Krautrock unter bundesdeutschen Konsumenten generell weniger »angesagt« war als anderswo. Gleichzeitig bestand unter jungen Menschen der Bundesrepublik großes Interesse am Ausland, am westlichen Ausland ebenso wie am Orient und der sogenannten »Dritten Welt«. Im Falle der Produzenten progressiver Popmusik verhielt sich das nicht anders; lediglich Karlheinz Stockhausen als bundesdeutscher Vertreter der sogenannten »E-Avantgarde«, neben Free Jazz und angloamerikanischer Popmusik dritte musikalische Säule des Krautrock, fand das Interesse einzelner Akteure. Als Vorbild und Ideengeber für große Teile der transnationalen Popmusikszene war er allerdings ebenso wenig an Nationalem interessiert, orientierte sich vielmehr am »Kosmischen« – was er wiederum mit Akteuren des Krautrock teilte. Einzige Ausnahme waren zumindest zeitweise Kraftwerk, die sich ab Mitte der 1970er Jahre konträr zum Zeitgeist Klischees und Stereotypen bedienten, die als national gelesen werden konnten. Sie waren damit insbesondere im Ausland höchst erfolgreich – sie bedienten die Erwartungen, die an den »German Sound« und seine Präsentation gestellt wurden. Ausnahme waren aber auch sie wiederum nur bedingt, denn ihre Selbstlokalisierung fand tatsächlich zum einen mit der Bildung einer europäischen Identität »oberhalb« der nationalen Ebene, und mit der Betonung ihrer Herkunft aus dem Rhein-Ruhrgebiet »unterhalb« der nationalen Ebene statt. Im Verlauf der 1970er Jahre erfuhren die unterschiedlichen stilistischen Ausprägungen des Krautrock zunehmend lokalisierende Zuschreibungen, die »unterhalb« der nationalen Ebene angesiedelt waren. Kraftwerk gehörten zu den ersten, die diese Zuschreibungen offensiv benutzten, und waren damit an ihrer Konstruktion mit beteiligt. Am Ende des Jahrzehnts war in der angloamerikanischen Rezeption vermehrt von der »Berlin School« oder der »Kraft of Düsseldorf« die Rede, dasselbe Phänomen war in der Bundesrepublik zu beobachten: frühe Beispiele für die erwähnte Produktion des lokalen Unterschieds für den globalen Konsum. Mit dem erwachenden Interesse für lokale Szenen gerieten zunehmend Interpreten des Krautrock in den Fokus, die im Laufe der 1970er Jahre weniger eine Rolle spielten, heute aber auch im Zuge dieser Translokalisierung in beiden Ländern zum festen Bestandteil des Krautrock-Kanons geworden sind. Interessant sind in dieser Hinsicht auch die Auswirkungen auf die Narrative lokaler Popgeschichten: Sowohl West-Berlin als auch Düsseldorf gelten rückblickend – je nach Sichtweise –als „Mekka“271 elektronischer Popmusik. Das »Kosmische« als räumliche Kategorie und Vorstellung spielte im Falle des Krautrock in vielen Facetten eine Rolle. Zum einen in der Rezeption: Beschreibungen als »Musik der Zukunft«, als »futuristische« Popmusik, als Soundtrack des 271 Für West-Berlin vgl. Wagner, Klang der Revolte, S. 71; für Düsseldorf vgl. Esch, Electri_City, Klappentext.
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Space Age oder der Science-Fiction sind Legion. Diese Zuschreibungen deckten sich im Unterschied zu den Nationalisierungen auch mit dem Selbstverständnis vieler Akteure, auch jenseits derer, die zu Beginn der 1970er Jahre offen als Produzenten »Kosmischer Musik« oder als »Kosmische Kuriere« in Erscheinung traten. Das hatte nicht zuletzt mit dem Konsum psychoaktiver Substanzen wie LSD und damit eng verwobener, dauerhaft veränderter Wahrnehmungen von Raum und Zeit und deren Auswirkungen auf die musikalische Produktion zu tun. Oft war es viel konkreter auch darin begründet, zum einen nicht weiter die Vorbilder aus den USA und Großbritannien kopieren, zum anderen aber ebenso wenig auf Deutsches zurückgreifen zu wollen. Daraus entwickelten sich jene spezifischen Ausdrucksweisen, die als Emanzipation vom angloamerikanischen Vorbild charakterisiert worden sind und in den 1970er Jahren (auch über die »elektronischen« Varianten des Krautrock hinaus) den »Sound des Space Age« repräsentierten. Die Orientierung am Kosmos und die Affinität für psychedelische Raumzeit-Erfahrungen wurden mitunter als »Flucht« gelesen; viel mehr noch als eine Flucht handelte es sich jedoch die Ablehnung des als beschränkt und beschränkend empfundenen Nationalen auf der einen, und das explorative Austesten neuer Raum- und Zeitwahrnehmungen auf der anderen Seite – ausgedrückt durch Musik. An dieser Stelle klingt übrigens auch die »Veränderung der historischen Zeit« an, von der eingangs als einem Signum der 1970er Jahre die Rede war. Kann Popgeschichte dazu mehr erzählen? Sicher eine spannende Frage. Krautrock jedenfalls steht für den Klang einer Phase des Umbruchs und des Aufbruchs – wer sonst als die transnational erfolgreiche PopAvantgarde mit ihrem »sound like science fiction« sollte dafür Pate stehen? Die Neuartigkeit des Krautrock als »Sound der Zukunft« stand für seine Rezipienten außer Frage, für seine Bewunderer ebenso wie für die Skeptiker. Sie offenbarte sich auch in den spezifischen Präsentationsformen vieler Gruppen und Interpreten, die insbesondere in der britischen und US-amerikanischen Wahrnehmung eine herausragende Rolle spielten; nicht zuletzt deswegen, weil die weiter fortgeschrittene Professionalisierung des Marktes auch dahingehend ganz andere Erwartungshaltungen und Gewohnheiten geschaffen hatte. Die meist statische Bühnenpräsenz, das Fehlen eines Bandleaders, die Ablehnung des Star-Prinzips, die (scheinbare oder tatsächliche) Egalität der einzelnen Bandmitglieder, bis hin zur fehlenden verbalen Kommunikation mit dem Publikum riefen Erstaunen hervor; sie waren eng mit der Wahrnehmung des Krautrock als neuartiges und exotisches Phänomen verwoben. Die Präsentationsformen waren ebenso wie die musikalischen Gestaltungsprinzipien Ausdruck einer generellen Ablehnung von Hierarchien und eines demokratischen Ideals, Aspekte, die den Ursprung des Krautrock in der »politisch-kulturellen Revolte« (Axel Schildt) um 1970 deutlich machen: Die Gestaltungselemente wurzelten im politischen Selbstverständnis der Protagonisten als Teil einer transnationalen Gegenkultur. Eine textlich artikulierte Agitation, wie sie etwa zeitgleich populäre Politrock-Gruppen betrieben, spielte dabei keine Rolle. Auch war Krautrock
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weitaus weniger eindeutig mit den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre verbunden, im Gegensatz etwa zu Floh de Cologne (z.B. Lehrlingsbewegung) oder Ton Steine Scherben (z.B. Jugendzentrumsbewegung).272 Zwar waren einige Bands um 1970 wiederholt Teil studentischer Protestveranstaltungen, verkehrten im Umfeld oder hatten Kontakte zur radikalen und militanten Linken; explizite politische Äußerungen in deren Duktus allerdings waren selten. Die zeitgenössischen Verbindungen zur frühen RAF oder den Tupamaros, auch zu den Kommune 1 und Kommune 2 in West-Berlin werden von den Akteuren zumindest retrospektiv (von Ausnahmen abgesehen) als eher negatives Erlebnis dargestellt. Der politisch klar linke, bis Anfang der 1970er Jahre oft revolutionäre Impetus des Krautrock transportierte sich in erster Linie über den künstlerischen Ausdruck, im experimentalen Aufbrechen musikalischer Konvention ebenso wie in den Präsentationsformen, in Stil und Habitus der Akteure, in ihren Lebensformen und Arbeitsweisen, in Formen kollektiven Wirtschaftens oder als Avantgarde einer neuen »Drogenkultur«. Tatsache ist, dass »das Politische« den Sound des Krautrock entscheidend prägte; Tatsache ist aber auch, dass der politische, mitunter utopische Gehalt des Sounds die Rezipienten nicht in dem Maße erreichte, wie es sich viele Protagonisten um 1970 erhofft hatten. Am Ende der 1970er Jahre machte sich dahingehend Ernüchterung breit. Sichtbar wurden im Umfeld des Krautrock auch Widersprüche, wie sie in zeithistorischen Forschungen zu »1968« und zur transnationalen Gegenkultur der Global Sixties allgemein herausgearbeitet worden sind. Dazu gehört die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des emanzipatorischen Ideals im Hinblick auf die Geschlechterrollenbilder, zu jenem Zeitpunkt diskursiv eingebunden in ein binäres Geschlechtermodell. Zwar ist ein grundlegender Wandel im Laufe der 1960er und 1970er Jahre unbestreitbar, andererseits jedoch hielt die Gegenkultur trotz ihres emanzipatorischen Anspruchs überaus problematische Rollen für Frauen bereit – im vorliegenden Fall wurde dahingehend etwa die Praxis der »sexuellen Befreiung« in Musikkommunen thematisiert. Aber auch der industrielle Rahmen des Krautrock war strukturell männlich geprägt: Alle Machtpositionen der globalen Musikindustrie waren männlich besetzt, die gesamte Industrie war männlich dominiert; eine Dominanz, die nicht zuletzt auch die Rolle von Frauen innerhalb der Popmusik definierte. Das hatte wiederum enorme Auswirkungen auf ihren musikalischen Ausdruck und ihre Präsentationsformen. An dieser Stelle erscheint Krautrock retrospektiv als Teil einer Avantgarde, die sich erst ab Ende der 1970er Jahre in der Breite zu entfalten begann: Zum einen durch Protagonistinnen wie Hildegard Schmidt von Can, der ersten (de facto) Managerin einer Popgruppe in der Bundesrepublik, oder der aufs Engste mit dem Krautrock verbundenen Popjournalistin Ingeborg Schober. Zum anderen zeichnete sich Krautrock durch die Ablehnung gängiger Formen von 272 Zu den diesbezüglichen Verbindungen bundesdeutscher Popmusik mit den neuen sozialen Bewegungen vgl. Templin, Freizeit; Andresen, Lehrlingsbewegung.
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Pop-Männlichkeit, etwa in Form des angloamerikanischen cock rock aus; sein Sound und seine Präsentationsformen weckten nicht zufällig das Interesse der weltweit breit rezipierten, androgynen Pop-Erscheinungen Brian Eno und David Bowie. Inwiefern Androgynität in der Popmusik im Allgemeinen und Krautrock im Besonderen dahingehend als neue Form »subkultureller Männlichkeit« (Kirsten Heinsohn) gelesen werden kann, ist sicher eine spannende Frage. Die Verschmelzung neuer Lebensstile mit experimenteller Popmusik markiert Krautrock als zentralen Aspekt der Kulturrevolution um 1970. In Anbetracht der Tatsache, dass Popmusik als zentraler Kommunikationsraum und als »Soundtrack« der transnationalen Gegenkultur in außerordentlichem Maße stil- und bewusstseinsbildend wirkte, wird die Bedeutung des Krautrock für die kulturelle Entwicklung in der Bundesrepublik und ihre Wahrnehmung »nach außen« besonders deutlich. Die starke politische, oft utopische Aufladung von Popmusik in der Bundesrepublik spiegelte sich folgerichtig auch in den Produzenten ihrer bundesdeutschen Variante, zumindest bis etwa Mitte der 1970er Jahre. Dieser Aspekt vielleicht konnte als »spezifisch deutsch« wahrgenommen werden und das Bild einer trotz stilistischer Heterogenität und trotz gegenläufiger Selbstverständnis der Protagonisten einheitlich imaginierten bundesdeutschen Popmusikszene evozieren: Das bereits zeitgenössisch diagnostizierte „ideologisch-metaphysische Gewicht der deutschen Musik“273, die auch im Krautrock für manchen auffindbare „Tradition der Überhöhung von Musik zum visionär-mystischen Dienst an der ganzen Menschheit“. Die spezifischen Ausprägungen des Krautrock haben aber nicht nur mit einer besonders starken politischen oder mystizistischen Aufladung im Sinne einer »neuen Spiritualität« zu tun, sondern wurzeln auch in den nationalen Produktionsbedingungen. Technologisch, organisatorisch und strukturell war die Bundesrepublik am Ende der 1960er Jahre im Vergleich zu den angloamerikanischen Zentren popmusikalische Diaspora: Das staatliche, sogenannte »Management-Verbot« beispielsweise stellte ohne Zweifel eine massive Einschränkung in der Entwicklung einer bundesdeutschen Popmusik-Szene dar. Die überwiegende Mehrheit der bundesdeutschen Musikindustrie zeigte sich verkrustet und innovationsfeindlich, alternative Labels existierten nicht. In den wenigen, technologisch veralteten Tonstudios war man an Aufnahmen progressiver Popmusik nicht interessiert, auch kaum dazu in der Lage. Auftrittsorte für experimentelle Klänge waren Mangelware und erste, an Popmusik interessierte Medien begannen sich gerade erst zu entwickeln. Die Liste ließe sich durchaus fortführen. So sehr diese Defizite die Entwicklung der Bands hemmten, so ermöglichten sie andererseits auch Freiräume, die es in den professionalisierten Strukturen und Organisationsformen Großbritanniens und der USA in dieser Form schlicht nicht mehr gab – vielleicht ein wesentlicher Grund, weshalb der angloamerikanischen Szene nach 1970 ein Mangel an Innovation nachgesagt wurde. Neben 273 Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.10.1976.
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der politischen, oft mystischen Aufladung war der strukturelle Rahmen in der Bundesrepublik sicher einer der Hauptgründe für das Entstehen einer besonders im Ausland als distinkt und progressiv wahrgenommenen Popmusik. Man kann davon ausgehen, dass es die eine oder andere, heute als progressives Juwel verehrte Veröffentlichung in bereits professionalisierten Rahmenbedingungen nicht gegeben hätte. Nicht zuletzt hier ist erneut die zentrale Rolle Rolf-Ulrich Kaisers als Multiplikator des Phänomens Krautrock hervorzuheben, ohne den es eine ganze Reihe von Gruppen und Interpreten wohl nie zu einer Veröffentlichung gebracht hätten – ohne den es das initiale Ereignis der Internationalen Essener Songtage 1968 höchstwahrscheinlich nicht einmal gegeben hätte. Zentrale Akteure des Krautrock trugen im Lauf der 1970er Jahre wesentlich dazu bei, die strukturellen Defizite in der Bundesrepublik zu überwinden. Besagte Musiker, Tonmeister, Manager (die nicht so heißen durften), Veranstalter, Impresarios, Vertreter der Musikindustrie oder Popjournalisten, die den Krautrock entwickelten oder zu entwickeln halfen, waren wesentlich dafür verantwortlich, dass die Bundesrepublik am Ende der 1970er Jahre zu einem Zentrum der Popmusik mit globaler Strahlkraft geworden war, ökonomisch wie kreativ. Das Jahrzehnt stellte insbesondere für die bundesdeutsche Musikindustrie eine beispiellose Boomphase dar, der Grad und die Geschwindigkeit der Professionalisierung innerhalb von nur einer Dekade sind in hohem Maße erstaunlich. Experimentierfreudige Labels, modernste Tonstudios, weltweit gefragte Produzenten und Tonmeister, ein Netz an Auftrittsorten und institutionalisierten Festivals – was noch zehn Jahre zuvor praktisch nicht vorhanden war, schien nun plötzlich selbstverständlich. Auffällig ist ein überproportional häufiger transnationaler Erfahrungshintergrund der Protagonisten, insbesondere auch die professionelle Sozialisation zahlreicher Akteure der Musikindustrie in den Vereinigten Staaten; als Kenner der US-amerikanischen PopmusikSzene und Musikindustrie wirkten sie als zentrale Mittler US-amerikanischer Ideen, Strukturen und Methoden in die Bundesrepublik. Aber auch die Erfahrungshintergründe zentraler Multiplikatoren in der angloamerikanischen Sphäre waren transnational geprägt: des Briten John Peels beruflicher Aufenthalt in den Vereinigten Staaten ist hier ebenso zu nennen wie des US-Amerikaners Ira Blackers berufliche Jahre in London. In hohem Maße trugen auch die zahlreicher werdenden PopMedien und ihre transnationale Rezeption zum grenzübergreifenden Austausch bei. Das rückt erneut die Kategorie des Raumes ins Zentrum, und mit ihr Krautrock als transnationales Phänomen. Der Blick auf die Konzeption und die empirische Wirklichkeit des Krautrock aus transnationaler Perspektive offenbart einen Transfer von Ideen, Praktiken, Symbolen, Zeichen, Personen und Objekten, der in den verschiedenen nationalen Kontexten von fortwährenden, sich mit der Zeit verändernden Re-Kontextualisierungen und Re-Semantisierungen, von sich verändernden diskursiven Rückwirkungen geprägt war. Produktion, Distribution und Rezeption des Krautrock waren früher Teil eines zunehmenden transnationalen, spätestens ab
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Ende der 1970er Jahre auch translokalen flows in der Popmusik – wobei sich die zunehmende Transnationalisierung keineswegs als linearer, sondern als dialektischer Prozess erwiesen hat. Auch im Falle des Krautrock wurde deutlich, wie der transnationale flow befeuert wurde von einem gleichzeitig wachsenden Interesse an Lokalem, Regionalem, Nationalem. Dementsprechend ist auch die Geschichte des Krautrock eine Verflechtungsgeschichte jenseits simpler Transfermodelle, nicht zuletzt etwa als Ausdruck und zugleich Abwehr und Umkehrung des bis dato als »Amerikanisierung« bezeichneten kulturellen Transfers; angloamerikanischer Einfluss und dessen Abwehr zugleich waren Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines distinkten Sounds. Diese räumliche Verflechtungsgeschichte ist wiederum fest rückgebunden an den Untersuchungszeitraum der späten 1960er bis späten 1970er Jahre. Mit der Historisierung des Krautrock wurden Rück- und Wechselwirkungen sichtbar, die keinesfalls das Nationale statisch und das Transnationale als dynamisch erscheinen lassen, sondern Wandel auf unterschiedlichen Ebenen verorteten lassen.274 Das Stichwort »Amerikanisierung« war zeitgenössisch und ist in der historischen Forschung eng verwoben mit dem Massenkonsum zur »Lebensform der Moderne« (Wolfgang König), sowie mit der »Technisierung« und der Medialisierung der westlichen Konsumgesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie einleitend festgestellt ist Popmusik implizit verwoben mit diesen drei Phänomenen und ohne sie nicht vorstellbar. Ebenso wenig vorstellbar ist Popmusik ohne die immer wiederkehrende und damit verwobene Frage nach ihrer »Authentizität«, und in besonderem Maße gilt das für die »neue« Popmusik in der transnationalen Gegenkultur der 1960er und 1970er Jahre. Die Aneignung und Zuschreibung von »Authentizität« war elementar für die Grundierung und Ausbildung transnationaler Identitäten; die »imagined communities« (Benedict Anderson) der Gegenkultur formierten sich wesentlich über In- und Exklusionsstrategien in Bezug auf Popmusik, Gegenentwürfe wurden über »Authentizität« entwickelt und begründet. Der für den Untersuchungszeitraum diagnostizierte »Authentizitätskult« (Detlef Siegfried) als Reaktion auf eine vermeintliche Entfremdung und Manipulation in modernen, »technisierten« und medialisierten Industriegesellschaften äußerte sich auch in Bezug auf Musik in Idealen wie Ganzheitlichkeit, Autonomie und Unabhängigkeit, Unmittelbarkeit und Direktheit, oder in Form eines musikalisch ausgedrückten Radikalismus; sie mischten sich mit (in der Musik sowieso zentralen) Vorstellungen von Echtheit, Ursprünglichkeit und »handwerklichem« Können, aber auch mit bestimmten Vorstellungen der Vermarktung und Verbreitung, oder von Präsentation und Imageproduktion. Im Krautrock fanden sich Authentizitätsaneignungen und Zuschreibungen sowohl in der Produktion, als auch auf Seite der Rezeption in besonders ausgeprägtem 274 Vgl. Epple, Dimensionen.
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Maß. Auf Produktionsseite manifestierten sie sich in der leitmotivischen Suche nach einer »eigenen« und »unverfälschten« künstlerischen Identität, unter anderem in dem weitgehenden Bruch mit der Ästhetik der angloamerikanischen Vorbilder. Damit entfernte sich der Krautrock ein gutes Stück weit von Norman Mailers white negro – interessant deswegen, weil das Bild des white negro bis dato ganz im Gegenteil wesentlicher Faktor einer gegenkulturellen Authentifizierungs- und Identifizierungsstrategie war. Das Ideal der Ganzheitlichkeit spiegelte sich besonders in der Produktion des Krautrock, beispielsweise in der Verknüpfung von Alltag und Kunst in den zahlreichen Musik-Kommunen, aber auch in bestimmten Aufnahmestrategien: etwa in der Live-Aufnahme der gesamten Band, inklusive der Raumatmosphäre und eventueller Störgeräusche, lange bevor diese Gestaltungsmerkmale zu gängigen Strategien in der Popmusik wurden. Generell wurden spezifische Anwendungen von Technologien als »authentisch« empfunden, beispielsweise bewusst veralteter oder minderwertiger Technologien, die einen absichtlich »dreckigen«, das heißt nicht gängigen Vorstellungen oder der state of the art entsprechenden Sound erzeugten. Der Umgang mit Technologien deckt auch weitere Beispiele für Authentifizierungsstrategien auf Produktionsseite des Krautrock auf, nicht zuletzt das DIY-Prinzip als leitendes Produktionsmerkmal, von einzelnen Instrumenten bis ganzen Aufnahmestudios. Beispiel für beides war das legendäre Inner Space Studio der Gruppe Can, gedämmt mit alten Bundeswehr-Matratzen, bis in die Mitte der 1970er Jahre ausgerüstet mit bewusst einfach gehaltener, unkonventionell zusammengestellter und bedienter Technologie. Auf Rezeptionsseite des Krautrock manifestierte sich der »Authentizitätskult« der 1960er und 1970er Jahre ebenfalls, wenn auch anders gewendet, in dem Aspekt Technologie. Dabei stand die elektronische Avantgarde des Krautrock im Zentrum eines transnationalen Diskurses um die Rolle elektronischer Klanggeneratoren wie Synthesizern, bis hin zu den rasch zunehmenden Möglichkeiten der Klangverfremdung, bzw. (so zeitgenössisch mit negativer Konnotation) »Klangmanipulation«. Der Pop-Diskurs der frühen 1970er Jahre zirkulierte wesentlich um die Frage, ob Synthesizer überhaupt Instrumente seien, ob die Musiker wirklich Musiker seien oder nur Maschinen bedienten. Als besonders frühen Vertretern elektronischer Popmusik wurden Krautrock-Interpreten wie Tangerine Dream, Klaus Schulze, Ash Ra Tempel und andere über Jahre mit dem Vorwurf konfrontiert, keine »echte« Musik zu machen, keine »echten« Musiker zu sein, mit Technologie nur zu täuschen und zu manipulieren. Insbesondere in Teilen der bundesdeutschen Gegenkultur wurde elektronischer Musik lange jegliche »Authentizität« abgesprochen, mussten die Elektroniker des Krautrock die Funktionsweisen von Synthesizern erklären und die Tatsache erläutern, warum sie Synthesizer für Instrumente und sich selbst für Musiker hielten. Eine andere Wendung erfuhr der »Authentizitätskult« in der Popmusik in den späten 1970er Jahren, als die erwähnten lokalisierten Unterschiede zu gängigen Mitteln der Vermarktung für den globalen Konsum avancierten. Die Kon-
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struktion von lokaler Originalität bzw. »Authentizität« als globale Verkaufsstrategie war ab Ende der 1970er Jahre ein gängiges Phänomen, man denke an den angeblich »authentisch«-jamaikanischen Reggae oder eine angeblich »authentische« australische Rockmusik. Auch der Krautrock wurde am Ende der 1970er Jahre in zunehmendem Maße über Lokalisierungen vermarktet, die allerdings nun unterhalb der nationalen Ebene angesiedelt waren; dazu gehörten besagte Düsseldorfer und WestBerliner Varianten, denen jeweils bestimmte stilistische Distinktionsmerkmale zugeschrieben wurden. Krautrock, so die zeitgenössisch und retrospektiv dominierende Meinung insbesondere in Großbritannien und den USA, hatte konstitutive Wirkkraft auf die weitere Entwicklung der Popmusik und war konstitutiver Meilenstein ihrer zunehmenden transnationalen Ausdifferenzierung. Die Wirkungsgeschichte des Krautrock wäre ein Forschungsprojekt für sich, eine kurze Aufzählung aber macht die enorme Bandbreite bereits in Umrissen deutlich. Mit Blick auf bestimmte Genres und lokale Szenen sticht die Popularität des »elektronischen« Krautrock besonders in der afroamerikanischen Rezeption hervor, beispielsweise im entstehenden Hip Hop in New York um 1980 oder im frühen Techno in Detroit um 1990.275 Eine naheliegende Verbindung besteht zu verschiedenen Stilrichtungen der elektronischen Popmusik ab Ende der 1970er Jahre, in deren Zusammenhang Krautrock ebenfalls ein anhaltender globaler Einfluss zugesprochen wird.276 Eher überraschend erscheinen die Krautrock-Bezüge zentraler Akteure des Punk, einem Genre, das ansonsten auf einer schroffen Ablehnung psychedelischer oder progressiver Popmusik der 1960er und 1970er Jahre gründete; Krautrock wurde vom Bildersturm explizit ausgenommen.277 Auch die weiteren Wege der Protagonisten des Krautrock nach 1978 sind dahingehend interessant: Die Karrieren von Vertretern der Musikindustrie wurden erwähnt, ebenso die Entwicklung der beiden zentralen Tonmeister und Produzenten, die bereits Ende der 1970er Jahre weltweit gefragt waren. Einige Gruppen wie Kraftwerk oder Tangerine Dream bestanden weiter fort, andere gründeten sich später neu, viele ehemalige Musiker waren als einflusseiche Solomusiker oder Produ275 Zum Hip Hop vgl. etwa Tompkins, Vocoder; Seago, Kraftwerk-Effekt, S. 92; zum Techno vgl. etwa Einbrodt, Krautrock; Littlejohn, Kraftwerk; vor allem Denk/Thülen, Klang der Familie, S. 195–215. Eine unüberschaubare Vielzahl von Referenzen und Verweisen findet sich dazu im Internet. 276 Vgl. beispielsweise Seago, Kraftwerk-Effekt, S. 92; Prendergast, Ambient Century; Pinch/Trocco, analog days; Reynolds, Kosmik Dance; Anderton, Progressive Rock; Albiez, Future Past, S. 130; Denk/Thülen, Klang der Familie, S. 303f.; Littlejohn, Introduction, S. 577; Kopf, Autobahn, S. 143f; Brian Eno im Vorwort von Iliffe, Roedelius, S. 7. 277 Vgl. Albiez, Know History, S. 359–364; Büsser, Geschichte der Popmusik, S. 57; Bussy, Kraftwerk, S. 82; Reynolds, Kosmik Dance, S. 34; Stubbs, Introduction, S. 13.
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zenten aktiv. Tangerine Dream traten in den 1980er Jahren vielfach östlich des Eisernen Vorhangs auf, unter anderem als erste westdeutsche Popgruppe 1980 im OstBerliner Palast der Republik – wiederum ein Aspekt des Krautrock, der unterforscht erscheint, schließlich fand dieses Konzert drei Jahre vor Udo Lindenbergs vielbeachteten und eng in das gängige bundesdeutsche Pop-Narrativ eingewobenen Auftritt in Ost-Berlin statt. Auffallend ist darüber hinaus die fortbestehende, enge Verbindung vieler Akteure zu Film und Fernsehen, in der Bundesrepublik und in den USA. Mitte der 1990er Jahre schließlich kam es im Zuge einer neuen Welle transnationaler Aufmerksamkeit zu mehreren Reunions und Tourneen; bemerkenswerter Ausdruck der Verehrung in Japan war die Ausstellung mehrerer Krautrock-Musiker als Wachsfiguren in einem Tokioter Kabinett. Dieser kurze Überblick ist sicher einigermaßen unvollständig, gibt aber einen ersten Eindruck der enormen agency des Krautrock in der transnationalen Popgeschichte. Damit geraten abschließend eingangs skizzierte, zeitgeschichtliche Metanarrative und Periodisierungen in den Blick. Des Öfteren ist auf die Tatsache hingewiesen worden, dass sich popgeschichtliche Periodisierungen generell nicht an den üblicherweise angelegten ökonomischen oder politischen Zäsuren der Zeitgeschichte orientieren.278 Das Jahr 1955 ist hierfür Beispiel, das aus popgeschichtlicher Perspektive mit dem Auftauchen des Rock & Roll als Ursprungsjahr der Popmusik und als Schlüsseljahr des Übergangs von der »Jazz-« zur »Rock-Ästhetik« (Richard A. Peterson) bezeichnet werden kann, politisch oder ökonomisch aber als eher unauffällig gilt, als Zäsur jedenfalls keine Rolle spielt. Interessanter im vorliegenden Fall sind die 1970er Jahre, konzipiert üblicherweise mit dem ersten Ölkrisenjahr 1973 als epochaler »watershed« (Eric Hobsbawm) zwischen Ende des Nachkriegsbooms und des »golden age« auf der einen, und Beginn eines Strukturbruchs »nach dem Boom« (Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael) auf der anderen Seite. Die gesamten 1970er Jahre erscheinen bei einem Blick auf die Geschichte der Popmusik ganz im Gegenteil als beispielloses Boomjahrzehnt mit enormen Zuwachsraten, einer zunehmenden Professionalisierung, Transnationalisierung und Ausdifferenzierung, als globaler Wachstumsmarkt. Dieser Boom fand in der gesamten westlichen Welt statt, war aber in der Bundesrepublik besonders ausgeprägt; das stellten um 1980 nicht nur die zu Beginn des Buches zitierten, hiesigen Popjournalisten erstaunt fest, sondern auch die weltweit größten Branchenblätter aus den USA und dem Vereinigten Königreich. Das Jahr 1973 als Bruch und Zäsur fand in der Popgeschichte nicht statt – trotz einer kurzzeitigen Aufregung um die drohende Knappheit des erdölbasierten Schallplatten-Rohstoffs Vinyl. Auch bei einem Fokus auf Krautrock liegt 1973 inmitten einer Phase des Booms, der Expansion, der Erfolge im Ausland und der zunehmenden Professionalisierung, insgesamt für eine Verstetigung der kulturellen Transformation der Bundesrepublik. Die 278 Vgl. als Überblick Geisthövel/Mrozek, Einleitung, S. 20f.
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1970er Jahre waren für den Krautrock und sein Umfeld (wie auch in der Popmusik insgesamt) überwiegend eine Phase des Aufbruchs und des Neuanfangs, eine Phase der Utopien, ja des »Utopieüberschusses« – eine Phase also, die so gar nicht in gängige Krisennarrative von »Nach dem Boom« bis zum „Ende der Zuversicht“279 passen wollen. Während zeitgeschichtliche Periodisierungen als wenig kompatibel erscheinen, gibt es hinsichtlich einiger Metanarrative durchaus Überschneidungen. Grundlegende Beiträge der zeitgeschichtlichen Forschung zur Popgeschichte wie die Arbeiten Kaspar Maases, Uta Poigers oder Detlef Siegfrieds beispielsweise haben eindrucksvoll gezeigt, wie gewinnbringend die popgeschichtliche Perspektive im Hinblick auf den Einfluss der sogenannten »Amerikanisierung«, den Wandel der Geschlechterrollenbilder oder das Liberalisierungsparadigma sein kann. Sie legen offen, wie Pop und Popmusik als massenkulturelle Ausdrucksformen und somit Ausdruck übergeordneter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse für die zeitgeschichtliche Forschung nutzbar gemacht werden können. Das Phänomen Krautrock lässt sich nicht nur auf vielfache Weise in diese und andere Narrative einbetten; es verfeinert, präzisiert, und differenziert. So deckt sich die Beobachtung eines allgemein beschleunigten kulturellen Wandels in den »langen« 1960er Jahren und einer anschließenden Verstetigung und Professionalisierung mit dem empirischen Befund des Krautrock und des popmusikalischen Feldes der Bundesrepublik; ähnliches gilt für den »Authentizitätskult«, eine »neue Sensibilität« und eine »neue Spiritualität«, für die zunehmend grenzübergreifende kulturelle Verflechtung der Bundesrepublik, oder aber auch – wie sich gezeigt hat – für die mit gesellschaftlichem Wandel der 1960er und 1970er Jahre verbundenen Paradigma der Demokratisierung, EntHierarchisierung und Individualisierung. Krautrock hat sich bisweilen als Avantgarde dieser Entwicklungen erwiesen, teils als deren Ausdruck. Was heißt das nun letztendlich für Popgeschichte als Gegenstandsfeld der Zeitgeschichte? Angesichts eines seit einigen Jahren verstärkten Interesses für Klang und Musik, weit über Popmusik hinaus, ist in letzter Zeit oft von einem sogenannten »acoustic turn« die Rede. Das bereitet manch einem Ohrenschmerzen, denn „die allzu vielen turns sind bekanntlich nur etwas für Epigonen“280. Außerdem bleibt bei einem angeblichen »acoustic turn« nicht nur unklar, was genau man sich darunter vorzustellen hat, in Bezug auf Popmusik greift die Fixierung des Akustischen auch viel zu kurz. Schließlich ist Popmusik nicht nur ein auditives Phänomen, sondern weit darüber hinaus und unter anderem ein kulturelles, soziales, politisches, linguistisches. Insofern macht auch in der zeithistorischen Betrachtung eine interdisziplinäre Annäherung Sinn, sei es unter Rückgriff auch gegenwärtige Forschung anderer Disziplinen, sei es unter Berücksichtigung zeitgenössischer Forschung als 279 Jarausch (Hg.), Ende der Zuversicht. 280 Schildt, Aufmerksamkeit, S. 82.
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Quelle. Ihre strukturelle Vielfalt sowie ihre implizite Transnationalität machen Popgeschichte jedenfalls für die Analyse übergeordneter gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders fruchtbar, daran besteht kein Zweifel; das hat auch die vorliegende Beschäftigung mit dem Phänomen Krautrock erwiesen. Popgeschichte mag zudem, wie bereits mehrfach festgestellt, aufgrund der Allgegenwart und der zentralen Stellung ihres Untersuchungsgegenstandes in der Lebenswirklichkeit der Menschen gängige Periodisierungen und Metanarrative der Zeitgeschichtsforschung durchaus in Frage stellen; ob sich „Gesellschaften der Zeitgeschichte nach 1945 kaum mehr verstehen lassen ohne die Sphäre der Popkultur“281, sei dabei zunächst dahingestellt. Eine pophistorische Perspektive läuft jedenfalls aufgrund der strukturellen Vielfalt und des implizit transnationalen Charakters des Pop kaum Gefahr, als Authentifizierungsinstrument nationaler Erinnerungskulturen herhalten zu müssen.282
281 Mrozek/Geisthövel, Einleitung, S. 12. 282 Vgl. dazu Raphael, Geschichtswissenschaft.
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Q UELLEN Gesichtete Periodika (Tages- und Wochenzeitungen sowie Nachrichtenmagazine sind nicht aufgeführt) Bundesrepublik Bravo Backstage BlueBeat BuBu / Eiapopeia Chatterbox Flash – Zeitschrift für Rockmusik Germania Gorilla Beat – Collectors’ Magazine HiFi Stereophonie. Musik-Musikwiedergabe. Offizielles Organ des Deutschen High-Fidelity Institutes e.V. Image – Das Magazin für Pop-Blues-Soul-Jazz IVW-Auflagenliste / Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.: Auflagenlisten Konkret Melodie und Rhythmus Musik & Bildung Musik-Informationen. Unabhängige Zeitschrift für die Musikwirtschaft Musik Express Musik Joker. Zeitung für Musik und Freizeit music report Musiker & Tontechnik Musiker. Zeitschrift für die Musikscene Der Musikmarkt Neue Musikzeitung Neue Zeitschrift für Musik PoPoPo Rocking Regards. Die Zeitschrift für Rock 'n' Roll, Blues & Country Music Pop Popfoto Riebe’s Fachblatt/Fachblatt Musikmagazin Schallplatte Song. Zeitschrift für progressive Subkultur Sounds Spex Spotlight. Fachzeitschrift für Musik Stereo. Das deutsche Hi-Hi- und Musikmagazin
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Twen Underground Zoom Vereinigtes Königreich Cream Dark Star Disc Electronics and Music Maker Magazine (E & MM) Hit Parader International Musician and Recording World Melody Maker New Musical Express Nuggets Omaha Rainbow Oz Record Mirror & Disc Sounds [GB] Way Ahead Zig Zag USA The Absolute Sound Audio Billboard Bomp! Who Put the Bomp? Broadside Cash Box Circus Circus Raves Crawdaddy! Creem Down Beat Eurock Gavin Report Hit Parader Contemporary Keyboard. The Magazine For All Keyboard Players The Mix – Professional Audio and Music Production Music America. Musician, Player and Listener New York Rocker Record World Rolling Stone
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Stereo Review Synapse Trans-Oceanic Trouser Press Trouser Press Collector’s Magazine Variety Village Voice Audioquellen Conny Plank, (NDR 3 Info: Nachtclub Classics, 2006) Der Musiker hinter der Scheibe – der fünfte Mann in der Band. Teil 1 und 2 (SR 1, Europawelle Saar: Pop Nonstop, 1979) Klangvisionär. Der Schallplattenproduzent Rolf-Ulrich Kaiser (SWR 2: Musikpassagen, 2013) »Miesbach, der Moog und die Mayas«. Klangmystiker Florian Fricke und seine Band Popol Vuh (Deutschlandradio: Freistil, 2011) Rolf-Ulrich Kaiser 70: The Godfather of Kraut. Geschichten zwischen APO und LSD, Zappa und Leary, New People und New Age (WDR 3: open FreiRaum, 2013) Videoquellen Aguirre, der Zorn Gottes (D 1972) Alabama: 2000 Light Years from Home (D 1969) Alice in den Städten (D 1974) Amon Düül II spielt Phallus Dei (D 1969) Beat Club: Folgen 60, 66, 67, 70, 77 (D 1970-72) Berlin Alexanderplatz (D/I 1980) Body Love (I 1977) Can (D 1972) Carlos (D 1971) Chinesisches Roulette (D 1976) Cobra Verde (D 1987) Das Messer (D 1971) Deadlock (D 1972) Deep End (D/GB 1970) Die Niklashauser Fart (D 1970) Ein großer graublauer Vogel (D 1971) Fitzcarraldo (D 1982) Flammende Herzen (D 1977) Galerie der Entertainer [Folge unbekannt] (D 1971) Herz aus Glas (D 1976) Kraut und Rüben. Über die Anfänge deutscher Rockmusik: Folgen 1-3, 6 (D 2006) Krautrock – The Rebirth of Germany (GB 2009)
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Kuckucksei im Gangsternest (D 1969) Legend (USA/GB 1985) Mein schönes kurzes Leben (D 1970) Midnight Special, Folge 126 (USA 1975) Near Dark (USA 1987) Nosferatu, Phantom der Nacht (F 1979) Pop 2000. 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland: Teil 5 (D 1999) Pop und Co – Die andere Musik zwischen Protest und Markt: Ende Offen (D 1971) Risky Business (USA 1983) Sorcerer (USA 1977) Summer in the City (D 1970) Tangerine Dream – Live at Coventry Cathedral (GB 1975) The Old Grey Whistle Test [Folge unbekannt] (GB 1975) Thief (USA 1981) Vagabundenkarawane (D 1980) Zwischen Pop und Politik. Die Internationalen Essener Songtage 1968 (D 1968) Interviews Ira Blacker (via E-Mail) Holger Czukay (via E-Mail) Dieter Dierks (via E-Mail) Archie Patterson (Gespräch am 12. Oktober 2012) Stephan Plank (Gespräch am 9. Juli 2012) Asmus Tietchens (Gespräch am 24. Juli 2015)
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ARCHIVE , B IBLIOTHEKEN , S AMMLUNGEN Archive Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik, Bremen: Sammlung Ehnert, Tonträgerund Zeitschriftenbestände Deutsches Kabarettarchiv, Mainz: Bestände „Pop-Szene“, „Underground Allgemein“, „Zeitschriften“, „Rolf-Ulrich Kaiser“, „Polit-Rockgruppen“, Nachlass „Floh de Cologne“ Lippmann und Rau Musikarchiv, Eisenach: Sammlung Schmidt-Joos, Sammlung Rainer Bratfisch, Zeitschriftenbestände Deutsches Rundfunkarchiv, Potsdam Archiv der Jugendkulturen e.V., Berlin Archiv für Alternativkultur am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin: Bestände B95, B96 und B97 Archive der Stasi-Unterlagen-Behörde, Archiv der Außenstelle Potsdam, Bestand 119/88 Stadtarchiv Essen: Bestand IEST 1968, Signaturen 854 Nr. 1174, 854 Nr. 1420, 854 Nr. 1616, 1048 Nrn. 1006, 1007, 1008 Stadtarchiv Landshut, Zeitungssammlung Rock & Roll Hall of Fame: Library and Archives, Cleveland, Ohio: Michael Ochs Collection, Jeff Gold Collection Bibliotheken Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz: Haus Potsdamer Straße; Haus Unter den Linden, Musiklesesaal Bibliothek des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, Berlin Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin: Lipperheidische Kostümbibliothek, Sammlung Modebild Humboldt Universität zu Berlin: Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum; Zweigbibliothek Musikwissenschaft, Am Kupfergraben Freie Universität Berlin: Bibliothek für Sozialwissenschaften und Osteuropastudien; Bibliothek des John-F.-Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin Zentral- und Landesbibliothek Berlin: Zentralbereich Berlin-Studien; AmerikaGedenkbibliothek Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Carl von Ossietzky University of Michigan, Ann Arbor: Special Collections / Labadie Collection; Hatcher Graduate Library; Music Library; Art, Architecture & Engineering Library Bowling Green State University, Ohio: Music Library; Popular Culture Library; Northwest Ohio Regional Book Depository, Perrysburg
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San Francisco History Center at the San Francisco Public Library National Library of Scotland, Edinburgh Sammlungen Nachlass Ingeborg Schober Privatsammlung Uwe Husslein (ehem. Musik Komm.-Archiv), Köln Privatsammlung Stephan Plank, Berlin Privatsammlung Archie Patterson, Portland, Oregon
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D ISKOGRAPHIE Agitation Free Malesch (1972) 2nd (1973) Last (1976, aufgenommen 1974) Amon Düül Psychedelic Underground (1969) Collapsing/Singvögel Rückwärts & Co. (1969) Paradieswärts Düül (1970) Disaster (1972) Amon Düül II Phallus Dei (1969) Yeti (1970) Tanz der Lemminge (1971) Carnival in Babylon (1972) Wolf City (1972) Vive La Trance (1973) Hijack (1974) Made in Germany (1975) Pyragony X (1976) Almost Alive... (1977) Only Human (1979) Ash Ra Tempel, Ashra Ash Ra Tempel (1971) Schwingungen (1972) Seven Up (1972) Join Inn (1973) Starring Rosi (1973) Le Berceau de Cristal (1975) New Age of Earth (1976) (als Ashra) Blackouts (1977) (als Ashra) Correlations (1979) (als Ashra) Can Monster Movie (1969) Soundtracks (1970) Tago Mago (1971)
Ege Bamyasi (1972) Future Days (1973) Soon Over Babaluma (1974) Landed (1975) Flow Motion (1976) Saw Delight (1977) Out of Reach (1978) Can (1979) Cluster Cluster (1971) Cluster II (1972) Zuckerzeit (1974) Sowiesoso (1976) Cluster & Eno (mit Brian Eno, 1977) Grosses Wasser (1979) The Cosmic Jokers The Cosmic Jokers (1974) Galactic Supermarket (1974) Planeten Sit-In (1974) Sci Fi Party (1974) Gilles Zeitschiff (1974) Holger Czukay Canaxis 5 (1969) Movies (1979) Eno, Moebius and Roedelius After the Heat (1978) Faust Faust (1971) Faust So Far (1972) Outside the Dream Syndicate (mit Tony Conrad, 1973) The Faust Tapes (1973) Faust IV (1973)
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Edgar Froese Aqua (1974) Epsilon in Malaysian Pale (1975) Macula Transfer (1976) Ages (1978) Stuntman (1979) Sergius Golowin Lord Krishna von Goloka (1973) Manuel Göttsching Inventions for Electric Guitar (1975) New Age of Earth (1976) E2-E4 (1984, aufgenommen 1981) Harmonia Musik von Harmonia (1974) Deluxe (1975) Kluster Klopfzeichen (1970) Zwei-Osterei (1971) Eruption (1971) Kraan Kraan (1972) Wintrup (1973) Andy Nogger (1974) Kraan Live (1975) Let It Out (1975) Wiederhören (1977) Flyday (1978) Kraftwerk Kraftwerk (1970) Kraftwerk 2 (1972) Ralf & Florian (1973) Autobahn (1974) Radio-Aktivität (1975) Trans-Europa Express (1977) Die Mensch-Maschine (1978) Computerwelt (1981)
La Düsseldorf La Düsseldorf (1976) Viva (1978) Individuellos (1981) Liliental Liliental (1978) Moebius & Plank Rastakraut Pasta (1980) Material (1981) NEU! NEU! (1972) NEU! 2 (1973) NEU! ´75 (1975) Organisation Tone Float (1969) Popol Vuh Affenstunde (1970) In den Gärten Pharaos (1971) Hosianna Mantra (1972) Seligpreisung (1973) Einsjäger und Siebenjäger (1974) Das Hohelied Salomos (1975) Aguirre (1975) Letzte Tage – Letzte Nächte (1976) Herz aus Glas (1977) Brüder des Schattens – Söhne des Lichts (1978) Nosferatu (1978) Michael Rother Flammende Herzen (1977) Sterntaler (1978) Katzenmusik (1979) Klaus Schulze Irrlicht (1972) Cyborg (1973)
A NHANG
Blackdance (1974) Picture Music (1975) Timewind (1975) Moondawn (1976) Body Love (Soundtrack, 1977) Mirage (1977) Body Love Vol. 2 (1977) X (1978) Dune (1979) Tangerine Dream Electronic Meditation (1970) Alpha Centauri (1971) Zeit (1972) Atem (1973) Phaedra (1974) Rubycon (1975) Ricochet (1975) Stratosfear (1976) Encore (1977)
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Cyclone (1978) Force Majeure (1979) Walter Wegmüller Tarot (1973) Witthüser & Westrupp Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten (1970) Trips & Träume (1971) Der Jesuspilz (1971) Bauer Plath (1972) Live 68-73 (1973) Xhol Get in High (als Soul Caravan, 1967) Electrip (als Xhol Caravan, 1969) Hau-RUK (1970) Motherfuckers GmbH & Co. KG (1972)
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N AMENSREGISTER Adorno, Theodor W. 24, 192 Agitation Free 58, 61, 67f., 77, 81f., 84, 109, 113, 141, 152-154, 157, 169, 187, 199f., 266, 315 Alpert, Richard 176 Amon Düül 54, 58, 61f., 68, 70f., 74f., 77, 80, 85, 91, 95, 97, 100f., 181, 186, 199, 201, 213, 217 Amon Düül II 71-75, 77, 82, 86, 91, 98-100, 103, 106, 108f., 120, 136, 140-145, 153f., 156f., 167, 210-212, 227, 231-233, 235, 237, 245, 252, 298f., 310, 313 Anderson, Benedict 51, 319 Anima 68, 103, 108, 115, 199 Ash Ra Tempel 58, 84, 136, 157, 159, 164f., 167, 169, 171-174, 181, 183, 187, 198, 217, 221f., 262, 286, 290 Ashra 241, 248, 262 Atlantis 55, 291, 300 Augustin, Gerhard 58, 82, 144, 186, 285, 294 Baacke, Dieter 124 Bach, Johann Sebastian 272 Baez, Joan 215 Bangs, Lester 58, 296, 306f. Barritt, Brian 183 Bartos, Karl 92, 160, 256 Baumann, Peter 169, 171, 241, 254, 265, 266f., 309 The Beach Boys 287 The Beatles 42, 87, 113, 142, 179, 181, 233 Bell, Daniel 13, 47 Benjamin, Walter 24, 176, 192, 215, 222 Beuys, Joseph 67f., 112, 160 Bibra, Ernst von 176 Birth Control 55, 291
Blacker, Ira 58, 299f., 310, 318 Blome, Rainer 126f., 142 Borris, Siegfried 37, 86 Bowie, David 22, 253, 289, 317 Branson, Richard 58, 139f., 171, 235, 239, 265, 302, 310 Braun, Lasse 263 Broder, Henryk M. 95 Brummbär, Bernd 98, 100, 131 Burchardt, Christian 75, 156 Cage, John 84, 88 Can 10, 23, 58, 61, 65f., 70, 77, 82, 86f., 91f., 108-110, 115, 120, 127f., 136, 145-151, 157, 190, 193, 197, 199, 210-212, 227, 231, 233-235, 237, 245, 248-250, 256, 280-283, 286, 290, 298f., 310, 313, 316, 320 Carlos, Walter 76, 272 Checkpoint Charlie 55 Cluster/Kluster 58, 68-70, 77, 81f., 85, 91, 113, 157, 161-164, 198, 212, 224, 252-254, 266, 287, 290 Coltrane, John 85 Conrad, Sebastian 28 Conrad, Tony 139 Cosmic Jokers 174, 184, 262 Costard, Hellmuth 137 Czukay, Holger 58, 66, 87, 146f., 150, 233, 250, 282, 290 Dammers, Rolf 87 Degenhardt, Martin 95, 102 Dierks, Dieter 58, 92, 156, 170, 172, 183f., 209, 224, 226, 237, 268f., 284-288, 290f., 298, 300, 310 Dinger, Klaus 158f., 161 Doering-Manteuffel, Anselm von 322 Doldinger’s Passport 86 Dollase, Jürgen 221
A NHANG
The Doors 69, 85 Dylan, Bob 49, 85 Eckert, Andreas 28 Ehnert, Günter 213 Eloy 55 Embryo 55, 57, 61f., 75, 108, 136, 154-157, 199, 212, 217, 225, 250-252, 286 Eno, Brian 22, 224, 253, 290, 310, 317 Fassbinder, Rainer Werner 144, 267 Faust 54, 58, 90, 137-140, 157, 187, 199, 227, 235f., 283, 298, 310, 313 Fichelscher, Daniel 167 Fischer, Hansi 63 Fischer-Lueg, Konrad 114 Floh de Cologne 55, 99, 221, 316 Flür, Wolfgang 84, 92, 160, 256 Franke, Christoph 169, 171, 265 Franz K. 55 Fricke, Florian 75-77, 81, 165-167, 170, 198, 221, 251f., 273 Friedkin, William 267 Frith, Simon 51, 53 Froese, Edgar 61, 69f., 79, 82, 99, 113, 165, 169, 171, 197f., 200f., 212, 221, 238, 262, 264-266 Frumpy 55 Fuchs, Limpe 103, 153 Fuchs, Paul 103, 153 The Fugs 99, 215 Garcia, Jerry 215 Geissendörfer, Hans Werner 147 Genrich, Ax 85 Genscher, Hans Dietrich 144 Gila 108 Ginsberg, Allen 182 Globe Unity Orchestra 86 Golowin, Sergius 173f., 219, 262 Göttsching, Manuel 58, 172, 241, 262
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Graham, Bill 215 The Grateful Dead 85, 87, 187 Graupner, Kurt 137, 283 Grof, Stanislav 177f., 185 Gronow, Pekka 203 Hampel, Gunter 86 Hapshash and the Coloured Coat 74, 85 Harmonia 58, 81f., 91, 161, 163, 198, 212, 252f., 255, 300 Heinsohn, Kirsten 317 Hendrix, Jimi 69f., 85, 88, 264, 295 Herzinger, Richard 32 Herzog, Werner 76f., 251f., 267 Hippen, Reinhard 95, 215 Hobsbawm, Eric 322 Hoenig, Michael 153, 262, 266f., 290, 309 Hoffmann, Raoul 94 Hofmann, Albert 176-178, 185 Horkheimer, Max 24, 192 Human Being 68 Hütter, Ralf 66f., 157-160, 256f., 260f., 300, 304, 306-308 Huxley, Aldous 182 Ideal 225 Ihre Kinder 285 Irène Schweizer Trio 86 Ito, Akiro 262 Jane 291 Jefferson Airplane 85, 87 John L. 172 Joplin, Janis 295 Judt, Tony 19 Kagel, Mauricio 287 Kaiser, Rolf-Ulrich 19, 25, 41, 58, 74, 86, 89f., 95-98, 100-102, 127, 130, 132, 135f., 150, 156, 164, 167-169, 172-174, 181, 183-185, 195, 202, 205, 208, 212-224, 226, 237, 247, 251, 264, 281, 286, 297f., 310, 318
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Karoli, Michael 66, 150, 250 Kesey, Ken 186, 272 Kessler, Thomas 70, 153, 169, 273 Kitaro 262 Klages, Helmut 13 Kluster [siehe Cluster] Kneisel, Christian 161 Körber, Günter 212, 224, 226, 254f. Kraan 109, 157, 212, 290 Kraftwerk/Organisation 58, 61, 66f., 77, 80, 82, 84, 92, 106, 115, 120, 157-163, 168, 198f., 227, 232, 242-245, 247f., 252f., 256-261, 268, 271, 275, 284, 287, 292, 294, 300f., 304-311, 313f., 321 Kranemann, Eberhard 67 Kriwet, Ferdinand 98, 114 Kübler, Olaf 72, 86, 144 La Düsseldorf 161, 252f., 290 Langhans, Rainer 68, 72, 74, 198 Leary, Timothy 135, 173f., 176, 182184, 186, 189, 219, 262, 298 Leckebusch, Michael 111, 117, 120, Legath, Jürgen 127 Lemke, Klaus 147 Lennon, John 81 Leopold, Peter 71, 186 Lettmann, Gille 102, 174, 220, 223 Liebezeit, Jaki 10, 65f., 82, 86, 150, 250, 256 Ligeti, György 83 Liliental 254 Lindenberg, Udo 55, 86, 287, 322 Lippmann, Horst 16, 62, 86, 109 Lissitzky, El 260 Loch, Siegfried E. 58, 82, 111, 210f., 226, 266 Luther, Adolf 114 Maase, Kaspar 33f., 323 Mack, Heinz 113 Mailer, Norman 48, 320 Manfred Schoof Quintett 86
Marcus, Greil 296 Marcuse, Herbert 47 Marquard, Jürg 130 McDonald, Ian 238 McDonald, Joe 215 McLuhan, Marshall 98 Meid, Lothar 86 Meisel, Peter 58, 63, 71, 82, 100, 213f., 216, 218-220, 223, 226 Melly, George 9, 39, 42 Metzner, Ralph 176 Meyer-Eppler, Werner 275 Missus Beastly 55, 225 Moebius, Dieter 68f., 82, 85, 113, 162f., 224, 253f., 255, 290, 309 Moog, Robert 271f. Mooney, Malcolm 147 Morrison, Jim 295 Mothers of Invention 62, 75, 85, 99, 113 Müller-Westernhagen, Marius 55, 288 Nettelbeck, Uwe 79, 137-140, 236 NEU! 58, 82, 136, 157, 159, 161f., 212, 252f., 290, 298, 300 Neumaier, Manni 64, 86 Nico 154 Nixon, Richard 181f. Obermaier, Uschi 71f., 74, 100 Organisation [siehe Kraftwerk] Pallat, Nikel 218 Patterson, Archie 296f., 310 Peel, John 58, 122, 138f., 149, 171, 237f., 318 Peterson, Richard A. 322 Pink Floyd 69, 85, 106, 149, 263 Piper, Tommy 145 Plank, Konrad »Conny« 54, 58, 67, 69, 92, 146, 151, 157-159, 161163, 172, 209, 212, 224, 226, 237, 250, 252-254, 256-258, 268f., 284, 286-291, 310
A NHANG
Poiger, Uta 323 Popol Vuh 58, 61, 75-77, 81, 120, 156f., 162, 164, 166f., 170, 172, 174, 181, 198, 210, 212, 221, 225, 237, 251f., 273, 286 Przygodda, Peter 148 Raphael, Lutz 322 Rau, Fritz 62, 106f., 192 Reichardt, Sven 47, 188 Richter, Gerhard 114, 160 Rickey, George 114 Riebesehl, Hans G. 129f. Riesman, David 9, 19 Riley, Terry 83 Roedelius, Hans-Joachim 68f., 82, 85, 112f., 162f., 198f., 224, 253255, 266, 290, 310 The Rolling Stones 42, 85, 104f., 179, 181 Rother, Michael 58, 82, 84, 158f., 161-163, 224, 250, 255, 290 Rudorf, Reginald 196 Salzinger, Helmut 79, 127, 222 Schildt, Axel 315 Schittenhelm, Julius 150, 225 Schlippenbach, Alexander von 86 Schmidt, Hildegard 23, 148, 316 Schmidt, Irmin 65f., 88f., 147f., 150, 190, 193, 197, 199, 233f., 248, 250, 280, 283, 316 Schneider, Florian 66f., 80f., 157160, 253, 256, 260, 300, 306, 308 Schnitzler, Conrad 54, 68f., 82, 112f., 162-165, 169, 266 Schober, Ingeborg 10, 23, 58, 99, 160f., 186, 196, 299, 316 Schoener, Eberhard 81, 273 Schroeder, Tom 95, 135, 217 Schroyder, Steve 169 Schult, Emil 92, 160, 261, Schulze, Klaus 58, 69f., 84, 113, 157, 159, 164f., 167-169, 172f.,
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184, 208, 212, 217, 221, 223226, 241, 262-264, 266, 277f., 281, 309, 320 Schwendter, Rolf 98, 184 Scorpions 55, 162, 291 Seeger, Pete 215 Siegfried, Detlef 319, 323 Siepen, Elmar 54-56, 57 Soul Caravan [siehe Xhol] Sparifankal 225 Spoerri, Daniel 114 Stockhausen, Karlheinz 66, 83, 87, 147, 231, 233, 274, 287, 314 Stubbs, David 53 Suzuki, Kenji »Damo« 147-150 Syberberg, Hans Jürgen 144, 267 Sydow, Rolf von 147 Tangerine Dream 58, 61f., 68-70, 82, 85, 95, 97, 99, 102, 109, 113, 115, 136, 151, 153, 157, 159, 164-167, 169-172, 181, 196f., 199, 212, 217, 221, 223, 227, 232, 237-242, 247f., 254, 262, 264-268, 271, 279, 286, 292, 294, 298f., 301-305, 309f., 313, 320-322 Thiele, Christian 74 Tietchens, Asmus 254 Ton Steine Scherben 55, 113, 218, 225, 316 Tratter, Louis 98 Trenkler, Wilfried 10, 58, 163f., 247, 255, 265, 269 Trepte, Uli 64f., 86, 140, 186f. Triumvirat 55 U2 289 Uecker, Günther 113 The Velvet Underground 74, 85, 88, 154, 231, 236 Vostell, Wolf 112 Waalkes, Otto 288
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Wagner, Richard 232f., 243, 260, 313 Waldmann, Helmut 19 Wallenstein 221 Warhol, Andy 113, 215, 231 Wegmüller, Walter 173f., 262 Wenders, Wim 74, 144, 147, 267 The Who 85 Wicke, Peter 269 Witthüser & Westrupp 109, 181, 187f., 217, 286
Witthüser, Bernd 95, 99, 102 Xenakis, Iannis 83 Xhol/Xhol Caravan/Soul Caravan 58, 61-64, 77, 82, 90, 95, 97, 99, 102, 108, 156f., 187, 213, 217 Yamashta, Stomu 263 Zahn, Robert von 282f. Zappa, Frank 62, 75, 85, 88, 99, 215
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Who Put the Bomb / Greg Shaw Abbildung 2: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz (Pressefoto) Abbildung 3: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz Abbildung 4: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz Abbildung 5: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz Abbildung 6: Privatarchiv Werner Jäger Abbildung 7: Privatarchiv K. Håkan Nilsson Abbildung 8: Sounds / Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik Abbildung 9: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz Abbildung 10: Privatarchiv Archie Patterson / Eurock Archiv Abbildung 11: Privatarchiv Beat Club Langelsheim Abbildung 12: [unbekannt] Abbildung 13: Privatarchiv Archie Patterson / Eurock Archiv Abbildung 14: Underground / Progressive Pop Festival Abbildung 15: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz (Pressefoto) Abbildung 16: Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik, Sammlung Ehnert Abbildung 17: Stadtarchiv Essen Abbildung 18: Ohr Musikproduktion GmbH / Fachblatt Abbildung 19: Ohr Musikproduktion / Lippmann und Rau Musikarchiv, Eisenach Abbildung 20: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz Abbildung 21: New Musical Express / Time Inc. UK Abbildung 22: New Musical Express / Time Inc. UK Abbildung 23: New Musical Express / Time Inc. UK Abbildung 24: Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik, Sammlung Ehnert Abbildung 25: Billboard Magazine Abbildung 26: Deutsches Kabarettarchiv, Mainz Abbildung 27: Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik, Sammlung Ehnert Abbildung 28: Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik, Sammlung Ehnert Abbildung 29: Fachblatt Music Magazin Abbildung 30: Pop Abbildung 31: Rolling Stone Abbildung 32: Billboard Magazine Abbildung 33: Creem Magazine
Histoire Stefan Poser Glücksmaschinen und Maschinenglück Grundlagen einer Technik- und Kulturgeschichte des technisierten Spiels Dezember 2016, ca. 340 Seiten, kart., Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3610-9
Dae Sung Jung Der Kampf gegen das Presse-Imperium Die Anti-Springer-Kampagne der 68er-Bewegung September 2016, ca. 360 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3371-9
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.) Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie August 2016, ca. 310 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3021-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.) Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 Seiten, kart., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3303-0
Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.) Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, 394 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3084-8
Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Dietmar Hüser (Hg.) Populärkultur transnational Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre August 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3133-3
Edoardo Costadura, Klaus Ries (Hg.) Heimat gestern und heute Interdisziplinäre Perspektiven August 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3524-9
Maria Höhn, Martin Klimke Ein Hauch von Freiheit? Afroamerikanische Soldaten, die US-Bürgerrechtsbewegung und Deutschland April 2016, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3492-1
Juliane Scholz Der Drehbuchautor USA – Deutschland. Ein historischer Vergleich März 2016, 414 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3374-0
Simon Hofmann Umstrittene Körperteile Eine Geschichte der Organspende in der Schweiz Februar 2016, 334 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-3232-3
Stefanie Pilzweger Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution Eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung
Cornelia Geißler Individuum und Masse – Zur Vermittlung des Holocaust in deutschen Gedenkstättenausstellungen 2015, 396 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2864-7
Sebastian Klinge 1989 und wir Geschichtspolitik und Erinnerungskultur nach dem Mauerfall 2015, 438 Seiten, kart., z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2741-1
Stefan Brakensiek, Claudia Claridge (Hg.) Fiasko – Scheitern in der Frühen Neuzeit Beiträge zur Kulturgeschichte des Misserfolgs 2015, 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2782-4
Felix Krämer Moral Leaders Medien, Gender und Glaube in den USA der 1970er und 1980er Jahre 2015, 418 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2645-2
Karla Verlinden Sexualität und Beziehungen bei den »68ern« Erinnerungen ehemaliger Protagonisten und Protagonistinnen 2015, 468 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2974-3
2015, 414 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3378-8
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