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German Pages 300 Year 2014
NEUERFINDUNG DER FOTOGRAFIE HANS DANUSER – GESPRÄCHE, MATERIALIEN, ANALYSEN
STUDIES IN THEORY AND HISTORY OF PHOTOGRAPHY VOL. 4 Publication Series of the Center for the Study in Theory and History of Photography (TGF) at the Institute of Art History at the University of Zurich Edited by Bettina Gockel
International Advisory Board Michel Frizot Emeritus Director of Research at the National Center for Scientific Research (CNRS), School for Advanced Studies in the Social Sciences (EHESS), Paris Robin Kelsey Shirley Carter Burden Professor of Photography, Department of History of Art & Architecture, Harvard University Wolfgang Kemp Emeritus Professor of Art History, Institute of Art History, University of Hamburg Charlotte Klonk Professor of Art and New Media, Institute of Art History and Visual Studies, Humboldt University, Berlin Shelley Rice Arts Professor, Department of Photography and Imaging and Department of Art History, New York University Kelley Wilder Reader in Photographic History, De Montfort University, Leicester Herta Wolf Professor of History and Theory of Photography, Institute of Art History, University of Cologne
NEUERFINDUNG DER FOTOGRAFIE HANS DANUSER – GESPRÄCHE, MATERIALIEN, ANALYSEN HERAUSGEGEBEN VON HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL UNTER MITARBEIT VON JOACHIM SIEBER UND MIRIAM VOLMERT
Gedruckt mit großzügiger finanzieller Unterstützung durch die Dr. Carlo Fleischmann-Stiftung (http://www.dcff.org) in Zürich und durch das Kaspar M. Fleischmann-Projekt zur Förderung der Fotografieforschung am Lehrstuhl für Geschichte der bildenden Kunst, Kunsthistorisches Institut der Universität Zürich © Cover: Hans Danuser, KOPFSPRUNG / DIVE, aus THE PARTY IS OVER, 1984, Analoge Fotografie/ Diapositiv auf Kleinbild (24 × 36 mm) und Mittelformat (6 × 6 cm).
ISBN 978-3-11-037818-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 Walter De Gruyter GmbH Berlin/Boston Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Es wurde versucht, sämtliche Urheber- und Reproduktionsrechte zu ermitteln. Bei ausstehenden Ansprüchen oder Korrekturen wird um Mitteilung gebeten. Lektorat: Bettina Gockel, Keonaona Peterson, Joachim Sieber und Miriam Volmert Redaktion der Schriftenreihe: Martin Steinbrück Bildredaktion: Joachim Sieber Transkription der Gespräche: Viviane Ehrensberger, Stefanie Saier Reihengestaltung und Satz: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: DZA Druckerei zu Altenburg GmbH, Altenburg Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. www.degruyter.de
INHALTSVERZEICHNIS
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Editorial
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ZUM AUFTAKT INSERT
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ZEITBILD ZÜRICH: HARLEKINS TOD
HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL Ateliergespräch INSERT
ZEITBILD NEW YORK: BLUE RIDER AND THE BANNED/
SPRAY CAN IN ACTION 55
HANS DANUSER UND RETO HÄNNY Ateliergespräch INSERT
ZEITBILD NEW YORK: ALPHABET CITY II
109 HANS DANUSER UND PHILIP URSPRUNG Ateliergespräch INSERT
ZEITBILD NEW YORK: THE PARTY IS OVER
149 HANS DANUSER UND PETER ZUMTHOR Ateliergespräch INSERT
ZEITBILD NEW YORK: THE PARTY IS OVER
II 175
JOACHIM SIEBER „… dass sich die Grenzen verwischt haben.“ – Schauplätze und Stränge der Fotografie in Zürich, 1975–1990
III 229 URS STAHEL 1955–1985: Fotografie neu gedacht, anders gebraucht 251
STEFFEN SIEGEL Rückkehr nach Photophilia. Ortsbestimmungen der Fotografie, 1970–1990
273 ABIGAIL SOLOMON-GODEAU The Big Picture: Photography, Photographic Discourse, and Photographic History: c. 1970s–1990s INSERT
ZEITBILD NEW YORK: ADAM AND EVE IN PARADISE/
THE CIGARETTE AFTER 289 Dank
EDITORIAL
Mit diesem Buch wird eine Auslegeordnung zur Befindlichkeit der Fotografie in den 1980er-Jahren vorgestellt. Die Ateliergespräche, Dokumentationen und Essays bewegen sich vielstimmig zwischen Kunst und Wissenschaft hin und her, sodass man beim Durchblättern des Buches mal den Eindruck eines Künstlerbuches gewinnen mag, mal den eines Interviewbandes, um sich schließlich in eine analysierende Abhandlung hineinzulesen. Den Herausgebern und Mitarbeitern schien es, als würde das Unternehmen nach weitreichenden Transkriptionen, Überarbeitungen, Überschreibungen, Archivrecherchen und Diskussionen mit Autoren nicht zu sich selbst finden können. Doch das war genau der Zeitpunkt, die jahrelang ausgelegten Fäden zusammenzuführen und aus der ursprünglich allein als Dokumentation geplanten Publikation dieses vielschichtige Werk entstehen zu lassen. Das Atelier an der Ottikerstrasse in Zürich erwies sich als ein Raum voller Geheimnisse, gerade weil sich jahrein und jahraus dort nichts verändert, weder das Gartenstuhlensemble für geladene Gäste, noch die an der hohen Wand in drei Teilen hängende Bildserie, noch der großflächige Schaltafelarbeitstisch, auf dem ab und zu ein Notizblatt oder ein Buch zu liegen kommt, um gleich wieder zu verschwinden. Der Künstler konnte über die lange ausgebrütete Erkenntnis der Kunsthistorikerin, eigentlich sei das ja nur eine raffinierte Empfangshalle, herzlich lachen, ohne die Deutungshoheit aufzugeben. Denn es ist ein Vestibül mit scheinbar unendlich nach unten, tief in die Erde verzweigten Katakomben, ein Vestibül, in dem der Künstler über sein Werk und dessen Auslegung wacht. Da unten im Dunkeln werden sie wohl entstehen, die Bildfotografien, die Oberflächenfotografien, die Bildobjekte, diese niemals Fotografien sein wollenden Installationen darüber, was denn eigentlich Fotografie ausmacht, was sie kann und wie sie uns das Sehen zu lehren vermag. Langjährige Wegbegleiter Hans Danusers mögen die Insistenz, die sich in diesem Vestibül verräumlicht, sogar erstaunlich finden. Doch die ausnehmende Akkuratesse seiner Arbeiten erlaubt keine Sprünge in diese oder jene neue Kunstrichtung, sondern verlangt den fotografischen, die Fotografie erforschenden Basso continuo, selbst wenn Themen von der ANATOMIE in die LANDSCHAFT, von der PSYCHIATRIE in die ENTSCHEIDUNGSFINDUNG wechseln.
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EDITORIAL
Was die Kunsthistorikerin wissen will, nämlich wo und wie der Künstler arbeitet, was ihn genau beschäftigt(e), welcher konkrete historische Kontext heranzuziehen ist, wie und woher überhaupt die Inspiration zu jenen Untersuchungsgegenständen und Sujets kommt – gefrorene Embryos, Gewaltopfer in der Rechtsmedizin, Atomkraft, der Schiefer Graubündens, der natürlich global ist (auch in Portugal und Wales, wie der Künstler versichert, also bloß nichts biografisieren) – bleibt weitgehend verborgen, ungreifbar und weiter im Wissensbesitz des Künstlers aufbewahrt, der zu Recht Drehbuchautor seines Lebens und Werks bleiben will und wird. Er ist unnachgiebig in dieser Sache, ein Künstler, der sich nicht ausforschen lässt und deshalb das Epitheton der Kunstwissenschaft, es gäbe so etwas wie „Künstlerforschung“, ganz beiläufig infrage stellt. Auch mit seinen fotografiehistorischen Thesen, dem Wirken und Werken in der Architektur, den Sprachkunstwerken, dem bewussten Schwanken zwischen Kunst und Wissenschaft entzieht er sich Kategorien, die das Künstlerdasein systemisch bestimmen wollen. Weder Hofkünstler noch Ausstellungskünstler, weder Künstler als Kurator noch Künstler als Wissenschaftler ist er, sodass ganz zum Schluss doch wieder in schönster Klarheit eine Erkenntnis triumphieren darf: Hans Danuser ist Fotograf. Und er hat als erster Visiting Artist in der Geschichte des Zürcher Kunsthistorischen Instituts Studenten die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dargelegt, diesen Umstand, dass er Fotograf ist, definitorisch, analytisch, dokumentarisch und sprachlich überhaupt zu erfassen. Dass eben dies zu einem Großteil unfassbar bleibt, gehört zu seinem Konzept und führt logischerweise wieder zurück zur Topografie dieses Buches. Andeutungen, Erinnerungen, zentrale Fragen, Austasten von Rändern – diese Merkmale prägen die Gespräche im Atelier. Da ist etwa Reto Hänny als visuell hochgradig bewusster Sprachkünstler auf Augenhöhe mit Danusers feinstaubartigen Bestimmungen des Fotografischen – zwei buchstäblich künstlerische Partner, die sich den Graustufen verschrieben haben, für die heutige, von schrillbunt lärmend visueller Kultur angezogene Augen blind sind, bis sie hineinverführt werden in die Endlosschleifen von sprachlichen und bildlichen Schattierungen, die schwebend, fließend und fliegend bleiben wollen, ohne definitorische Bodenhaftung. Wenn Hänny über die Grauwerte spricht, die ein gedruckter Text in verschiedenen Sprachen zur Ansicht bringt, am besten, wenn das Buch auf den Kopf gestellt wird, legt er wahrlich einen schweren Prüfstein für ein pragmatisches Buch serieller Provenienz der heutigen Zeit aus und straft den Eindruck des Künstlerbuchs Lügen. So steckt eine inhaltliche und ästhetische Widersprüchlichkeit zwischen den beiden Buchdeckeln der „Neuerfindung der Fotografie“, die aufrüttelt und anmahnt. Präzise bestimmt sodann Philip Ursprung als jahrelanger Kenner des Werks von Hans Danuser und als Kunsthistoriker, der die Grenzgebiete zwischen Kunst und Fotografie, Kunst und Architektur seit 1960 erkundet, die internationalen Bezugspunkte einer „Neuerfindung der Fotografie“, die in der Ausweitung bildender Kunst und Malerei zuallererst in den Vereinigten Staaten zu lokalisieren ist.
EDITORIAL
Hans Danuser führt den Kunsthistoriker mit seinen Fragen auf alle Schauplätze der damaligen Neuerfindungen der Kunst, die oftmals Erkundungen des Mediumcharakters der Fotografie waren. Und Ursprung konstatiert zu Recht eine Inkommensurabilität von Fotografie und Fotografie als Kunst, wenn er auf die Durchsetzungskraft von Henri Cartier-Bresson und Robert Frank zu sprechen kommt. An dieser Stelle wird schon das ersichtlich, was Abigail Solomon-Godeau am Ende des Buches als die vielgestaltigen Welten innerhalb der Fotografiewelt anspricht, die untereinander weitgehend kontaktlos bleiben und bis heute geblieben sind. Das Eingangsbild der schweizerisch-brasilianischen Fotografin Julieta Schildknecht zum Gespräch zwischen Danuser und Peter Zumthor zeigt den international renommierten Architekten mit schwebend leichter Geste und konzentriert abgewendet vom Künstler, so als müsse er Raum schaffen, um den gemeinsamen Weg erinnern und reflektieren zu können. Ende der 1980er-Jahre verwob sich die Zusammenarbeit des Fotografen und des Architekten im Ausstellungsprojekt „Partituren und Bilder“. In der Retrospektive und Zusammenschau wird deutlich, wie Danuser derartige Kollaborationen herausgefordert hat, um ganz auf der Linie seiner Konzeption die medialen Möglichkeiten der Fotografie auszuloten. Zumthor war und ist sich seinerseits der geradezu ungeheuren Macht der Fotografie bewusst, die Architektur in den Köpfen und Augen der Menschen zu erfinden. Den mäandernden und intensiv ausforschenden Ton der Dialoge lässt der dokumentarische Teil hinter sich. Zahlreiche Bilddokumente illustrieren die Analyse von Joachim Sieber und geben Einblick in die Vielfalt jener Inkubationszeit fotografischer Erneuerungen, die in der Zürcher Städtischen Galerie zum Strauhof unter Helen Bitterli ein wichtiges Forum fanden. Die Archivmaterialien dürfen als wahre Trouvaillen gelten und bringen ein bislang verschüttetes Kapitel Ausstellungsgeschichte ans Licht. Aus heutiger Sicht hat die damals begonnene Entwicklung paradoxerweise dazu geführt, dass die bildende Kunst sich die Fotografie wieder einverleibt hat. Viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler, die mit analogen oder digitalen Techniken arbeiten, sehen sich heute ungern als Fotografen bezeichnet, allzu nah rückt sie das immer noch oder wieder in den Bereich des Journalismus, in den Bereich des Dokumentarischen. Doch dieses Dokumentarische als den Kern der Fotografie zu begreifen und als Instrumentarium eines besseren oder gar erstmaligen Sehens zu verstehen, ist ein oder sogar der künstlerische Auftrag, den sich Hans Danuser gestellt hat. Das Dilemma, dass die bis heute nicht entwickelte Fotokritik auf die Begrifflichkeit des Kunstschrifttums zur bildenden Kunst zurückgreift, kann diesen Auftrag in Präzision nicht bestimmen und nachvollziehen. Auch deshalb hat sich der Künstler Schriftsteller und Wissenschaftler an die Seite geholt, um überhaupt auf das Problem der Versprachlichung seiner und aller Kunst hinzuweisen. Wenn heute in Blogs wieder einmal vom Ende der Fotografie die Rede ist, so hat die Entwicklung einer Fotokritik in einer Zeit, die von fotografischen Bildern geflutet wird, noch gar nicht begonnen. Das dürfte ein Kernpunkt sein, von dem aus die Gespräche geführt wurden.
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EDITORIAL
Trevor Paglen beschreibt im Blog „Still Searching“ des Fotomuseums Winterthur am 3. März 2014 die bombastische Fotografielandschaft unserer Zeit und diagnostiziert zugleich, ausgehend von dem Symposion „Is Photography Over?“ (San Francisco Museum of Modern Art, 2010), eine „deep-seated -seated uneasiness among pho“. Bei genauerem Hinseto-theorists and practitioners about the state of their field“. hen ist diese Zeiterscheinung der enormen Vielfalt fotografischer Techniken und Materialien wie auch ihren diversen diskursiven, zwischen Beanspruchungen von Kunst und Wissenschaft oszillierenden Begleiterscheinungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielleicht nicht ganz unähnlich. Die „uneasiness“ – hat sie nicht immer schon und immer wieder „die“ Fotografie begleitet, produktiv, lebendig, exzessiv, sodass die Todesmetaphern leicht verschmerzt werden konnten in diesem Ambivalenzkonflikt der Fotografie mit sich selbst? Mit der gleichfalls bombastischen Aussage Paglens, das 21. Jahrhundert werde ein „photographic century“ werden, die als Replik auf Michael Frieds „[…] as Never Before“ anmutet, dürfte der Fotograf Hans Danuser jedenfalls zufrieden sein, erlaubt sie ihm doch, die Herausforderung dessen, was das Fotografische sei, in Permanenz als Thema seiner Kunst zu verhandeln. Doch so stringent ist das Werk von Hans Danuser keineswegs, weshalb wir hier unveröffentlichte Werke der 1980er-Jahre als Inserts in die sprachlichen Herantastungen rhythmisch einstreuen, um einen ganz anderen Danuser zu zeigen, der in fast filmisch anmutenden, expressionistischen Fotofolgen etwa die Graffiti auf wie angebrannt wirkenden, verrußten Fassaden New Yorks dokumentierte und dabei autonome Bilder schuf, die nun aus den Katakomben seines Ateliers hervorgeholt wurden. Gelöst der Vergangenheit ins Auge blickend, kann Danuser das eigene Image erweitern, zur Freude, so hoffen wir, der Leserbetrachter. Die Autoren des dritten Teils gehen für uns Leser zurück in die 1970er- bis 1990er-Jahre, um dem staunenswerten Umstand, dass Fotografie heute offenbar noch immer verteidigt werden muss, wie Steffen Siegel schreibt, einen historischen Hintergrund zu geben. So entsteht der Eindruck, die Geschichte der Fotografie sei ein steter Behauptungskampf gewesen. Urs Stahel blickt als Insider auf die Zürcher Szene jener Zeit der Neuerfindung der Fotografie mit der spürbaren Distanz eines Kurators und Autors, der längst zum „global player“ geworden ist. Abigail SolomonGodeau kreiert mit der Souveränität der Zeitzeugin und als unbestechliche, jahrzehntelang aktive und renommierte Doyenne der Fototheorie und Fotogeschichte ein „big picture“ über eine Zeit, jene 1970er- bis 1990er-Jahre, die heute als eine noch weiter zu erforschende historische Zäsur erscheint. Um diese These nicht todernst, abschließend, behauptend stehen zu lassen, erlauben wir uns, mit dem Insert ADAM AND EVE IN PARADISE und THE CIGARETTE AFTER zum Abschluss den „erotischen“ Danuser zu bringen. Wer hätte das gedacht? Bettina Gockel Zürich, im Juli 2014
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Überblicksansicht Atelier Hans Danuser in Zürich während einer Sitzung des Seminars „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“, 2009, mit Peter und Annalisa Zumthor sowie Studierenden des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich, Foto: Julieta Schildknecht und Fabrikationshalle 2/Zürich.
Der folgende Dialog zwischen Bettina Gockel und Hans Danuser leitet in die Ateliergespräche ein, die Hans Danuser im Rahmen des Seminars „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ mit Bettina Gockel, Reto Hänny, Philip Ursprung und Peter Zumthor geführt hat. Aus verschiedenen, künstlerischen wie wissenschaftlichen Perspektiven beschäftigen sich diese Gespräche vertieft mit dem ästhetischen Status von Fotografie seit den 1970er-Jahren und ihren medialen Wechselbeziehungen zu anderen Bild- und Textkünsten. In diesem kurzen Auftaktgespräch wird zunächst über die Bedingungen und die verschiedenen Modi des Sprechens über Kunst diskutiert. Die Erörterungen berühren etwa die generelle Frage nach dem Verhältnis von Kunstgeschichtsschreibung und zeitgenössischer Kunst und umfassen grundsätzliche Überlegungen zu den verschiedenen diskursiven Räumen von Museen, Künstlern, Kunstkritik und Kunstwissenschaft im 20. und 21. Jahrhundert und ihren historischen Wurzeln.
ZUM AUFTAKT – HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
EINE AUSLEGEORDNUNG HANS DANUSER: Ich begrüße Bettina Gockel zur zweiten Sitzung unseres Seminars „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“. Mein Gastspiel bei Ihnen am Institut für Kunstgeschichte verstehe ich als ein Experiment. Es ist reizvoll, mich als Künstler und Fotograf im Rahmen eines Lehrauftrages direkt der Methodik und den Fragestellungen der Kunstwissenschaft auszusetzen. Ich habe mit Bettina Gockel als Thema unseres Seminars den Aufbruch der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren gewählt, weil ich als Künstler in dieser Zeit als subjektiv Handelnder involviert war. Die Ausgangslage sieht folgendermaßen aus: In den 1970er- und 1980er-Jahren haben sich das Selbstverständnis der Fotografie und deren Wahrnehmung radikal verändert. Künstler, Fotografen, Kuratoren, Schriftsteller und die Kunstkritik prägten ein neues Bild der Fotografie, das bis heute die Szene mitbestimmt. Das Seminar „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ konzentriert sich auf diese Entwicklung und Interaktion, einerseits über die Betrachtung meiner fotografischen Bildzyklen und Installationen – IN VIVO (1980–1989), FROZEN EMBRYO SERIES (1996–2000), EROSION (2000–2006) und LANDSCHAFT IN BEWEGUNG (2007–2010) –, ergänzt durch andere fotografische Positionen und Künstler. Andererseits – und das wird unsere wesentliche Arbeit sein – hat das Seminar zum Ziel, das Verhältnis von Kunstgeschichte und Gegenwartskunst, Kunstgeschichte und Künstler auszuloten.1 Bild und Sprache, Kunstpraxis und Kunstwissenschaft sind komplexe Verhältnisse, die am Beispiel eines Werkes und im Dialog zwischen Künstler und Studierenden bewusst gemacht und analysiert werden sollen. Es geht also nicht um eine Deutung bzw. Interpretation der Werke Danusers aufgrund der Kommentare und Auslegungen durch den Künstler, sondern um eine kritische Revision der diskursiven Herstellung einer Neuerfindung der Fotografie durch Kunst, Kunstkritik, Kunstgeschichte und Literatur in den 1970er- und 1980er-Jahren. Immer wieder aber wird versucht, die Fotografie ins Zentrum unserer Recherchen zu stellen. Ich habe Frau Gockel als erste von vier Gästen in unser Seminar eingeladen (neben
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HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
Reto Hänny, Schriftsteller, Philip Ursprung, Kunsthistoriker, und Peter Zumthor, Architekt), um das Seminarthema in improvisierter Gesprächsdynamik auszuleuchten. Manchmal zeigen sich in dieser Form unerwartete Gedankenkonnotationen. Ich gebe, bevor wir das Gespräch beginnen, einen kurzen Überblick über unsere ersten Gedanken. Wir haben an der ersten Sitzung grundsätzlich über das Verhältnis des Künstlers zur Kunstwissenschaft und das der Kunstwissenschaft zum Künstler diskutiert und uns dabei folgende Fragen gestellt: Macht es Sinn, dass das Subjekt der Recherche und Untersuchung physisch präsent ist? Ist es so, dass das Wissen über eine persönliche Begegnung mit dem Künstler Voraussetzung ist zur Wert- und Einschätzung seiner Arbeiten, oder sprechen diese, seine Werke, ganz einfach für sich allein? Und ist es nicht so, dass für die Kunstwissenschaft der ideale Künstler derjenige ist, dessen Werk abgeschlossen ist und der sich nicht mehr äußern kann? Ist es nun aber nicht doch auch wieder so, dass heute in der Wissenschaft der Kunstgeschichte immer mehr auf Zitate, Äußerungen und auch Interviews von Künstlern zur Thesenlegitimation Bezug genommen wird? Ich habe den Studierenden das Bild einer langen und reich bestückten Tafel dargestellt, an deren einem Ende der Künstler und am anderen Ende der Kunsthistoriker sitzt. Beide meinen, sie sehen dasselbe. Die Dinge zeigen sich ihnen aber von der jeweiligen anderen Seite, die absolut keinen Rückschluss auf die entgegengesetzte Ansicht geben muss, manchmal aber kann. Sicher essen und trinken sie dasselbe! Einig sind wir uns also, dass das Verbindende vielleicht dies ist, dass der Künstler wie der Kunsthistoriker ,die Kunst‘ lieben. Damit hat es sich dann aber. Die jeweilige Position ist doch eine fundamental gegensätzliche. Ein zweiter Gegensatz hat sich an unserer letzten Seminarzusammenkunft konkretisiert: Als Künstler kann ich auch manchmal Dinge behaupten. Ich muss dann aber für meine Behauptung eine Darstellungsform in einem Material, einer Bewegung, einem Medium finden. Der Kunsthistoriker aber muss als Basis seiner Argumentation den Wissensstand seiner Zeit kennen und auf wissenschaftlich überprüfbare Fakten und Argumentationsmodelle zurückgreifen können. Andernfalls bewegt er sich in seinem Kreis auf sehr dünnem Eis. In diesem Sinne behaupte ich nun in diesem Seminar, dass in der kurzen Zeitspanne von etwa zehn Jahren von Mitte der 1970er-Jahre bis Mitte der 1980er-Jahre die Fotografie neu erfunden wurde und dass dies bis heute prägende Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung hat. Im Seminar „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ versuchen wir nun, dieser Behauptung auf den Grund zu gehen, mit den Werkzeugen und der Sprache der Kunst und dem Wissen und der Sprache der Kunstwissenschaft. Im heutigen Gespräch wird es daher zunächst darum gehen, einleitend über das Verhältnis von Kunstgeschichtsschreibung und zeitgenössischer Kunst zu sprechen. Es folgt in einem weiteren gemeinsamen Ateliergespräch ein Versuch, die Bildzyklen EROSION – Eine Bodeninstallation mit Fotografie (2000–2006) und LANDSCHAFT
ZUM AUFTAKT
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IN BEWEGUNG (2007–2010) mit einem vergleichenden Blick auf Leonardo da Vincis sogenannte „Sintflutzeichnungen“ zu analysieren. Dies wird uns schließlich generell zu der Überlegung bringen, inwieweit der Moment der ,Neuerfindung der Fotografie‘ auf analoge Schnittstellen in der Geschichte der Kunst bezogen werden kann. Ich werde versuchen, meine Gesprächspartnerin über gesicherte Positionen herauszulocken, und erlaube mir, unser Gespräch mäandern zu lassen, und wenn sich ein neues Schlachtfeld eröffnet, in dieses einzutreten. Sicher wird auch die Fotografie an der Schwelle zur Rezeption in der Kunst zur Sprache kommen und
1:
Ateliersituation, Modell und Planskizze des Werks SCHIEFERTAFEL BEVERIN.
die Rolle der Kunstgeschichte und der Kunstwissenschaften wie auch die der Kunstkritik für die Wahrnehmung der Kunst und der Künstler. Nun gebe ich gern das Wort weiter. BET TINA GOCKEL: Die Tatsache, dass Sie als Künstler an der Philosophischen Fakultät unterrichten, wie auch die konzeptionelle Ausrichtung Ihres Seminars ist auch für das Kunsthistorische Institut ein Experiment. Künstlerinnen und Künstler lehren in der Regel an Kunsthochschulen und Akademien, nicht an Universitäten. Am Kunsthistorischen Institut bietet sich seit einiger Zeit ein gewisser Freiraum oder besser ein Zwischenraum, der etwas langatmig „Lehr- und Forschungsstelle für
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HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
Theorie und Geschichte der Fotografie“ heißt (im Folgenden TGF). Die TGF soll Wissenschaft und Kunst fördern.2 Wie diese Förderungszwecke zusammengehen können, zeigt dieses Seminar: Sie haben sich auf den Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen dem, was an der Universität gelehrt und geforscht wird, und dem, was im Atelier entwickelt und umgesetzt wird, eingelassen. Wir erforschen damit Grenzbereiche von Wissensräumen und deren mögliche Überlappungen, aber auch deren wechselseitige Kritik und Analyse. Bevor ich auf Ihre Ausführungen eingehe, möchte ich noch erwähnen, wie ich auf Ihre Arbeiten aufmerksam
2:
Ateliersituation mit Bleifiguren einer Sequenz aus Struwwelpeter.
ZUM AUFTAKT
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geworden bin. Bei der Entwicklung der Vortragsreihe „Geography of Photography“, mit der die internationale Vernetzung der TGF 2008 begann, schien mir Ihre bildliche Erforschung von Topografien der Erde als zentrales Beispiel, wie Fotografie zum Forschungsinstrument von Materialoberflächen wird, die transnationale Bedeutung haben. Außerdem interessiert mich Ihr Anspruch, Ihre künstlerische Arbeit mit Fotografie und den Materialien der Fotografie sei als Forschung relevant. Geologische und anatomische Aspekte scheinen in Ihrem Werk in einer gewissen Analogie zu stehen und bleiben auch in den jüngsten Arbeiten Fixpunkte, jedoch nicht als Themen und Motive, die abgebildet, sondern als Prozesse, die sichtbar gemacht werden.3 Die Erkundung von Prozessen der Natur in äquivalente Bildprozesse umzusetzen lässt unwillkürlich die Fotografien selbst thematisch werden. Das ist sicher eine zeitgenössische Kunstauffassung. Doch ich möchte im Laufe des Gesprächs am Beispiel von Leonardo da Vincis sogenannten „Sintflutzeichnungen“ zeigen, dass sowohl Ihre analogisch konzipierten Themen wie auch Ihre Bildauffassung Parallelen zu einer Zeit aufweisen, die selbst starke Verbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft aufbaute, sowohl aus inhaltlichen wie strategischen Gründen. Das Seminar soll die Differenzen zwischen Künstler, Kunst und Kunstgeschichte bzw. Kunstwissenschaft nicht auflösen, sondern produktiv machen. Indem sich der wissenschaftliche Diskurs über ein Werk und die Künstlerintention meist unabhängig voneinander konstituieren, macht es Sinn, diese Differenzen als Teil eines Systems der Künste und der Wissenschaften selbst zum Gegenstand von
3:
Ateliersituation mit der Publikation Helldunkel. Ein Bilderbuch von Reto Hänny.
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Reflexion und Analyse zu machen. Deshalb führen wir dieses Gespräch im Atelier und gehen an dieser Bruchstelle zwischen Produktion und Interpretation entlang. Eine Frage, die dabei aufzuwerfen ist, lautet, welche Rolle der Künstler als Gegenwartskünstler für die kunsthistorische Analyse spielt. Schon seit dem berühmten, aber überraschend schmalen Buch von Ernst Kris und Otto Kurz Die Legende vom Künstler (1934) haben sich Kunsthistoriker über die anthropologischen und historischen Funktionen von Legenden, Anekdoten, Erzählungen über Künstlerleben und Kunstwerk Gedanken gemacht.4 Im Dialog oder in Interviews mit lebenden Künstlern kommen unweigerlich Topoi der Künstlerdarstellung als Schlüssel zum Werk vor, zum Teil hoch bewusst von Künstlern gesteuert, durchaus auch als Provokation eines Wissenschafts- und Kunstbetriebs, der sich, besonders wenn es um lebende Künstler geht, doch nicht vom Wahrheits- und Authentizitätspostulat verabschieden mag. Das ist ein ständiger Prozess, in dem es tatsächlich gar nicht um Wahrheit und Lüge geht, sondern um die rhetorische Gestaltung von Inanspruchnahmen, Zuweisungen, Selbstauslegungen, Einflussnahmen. Seit den 1960er-Jahren, in denen sich die westliche Kunstgeschichtsschreibung als kritische Kunstwissenschaft objektivieren wollte, bestand indes eine ungemeine Skepsis gegenüber jedweder Heranziehung vermeintlich biografischer Fakten und Selbstaussagen von Künstlern. Das Werk sollte untersucht werden, nicht der Künstler. So hat es, wenn ich mich recht erinnere, gesprächsweise einmal Wolfgang Kemp formuliert: Auf uns sind die Werke, nicht die Künstler gekommen. Kemp distanzierte sich damit von der mitunter pathetisch unterlegten Forderung von Ernst H. Gombrich, im Zentrum der Kunstgeschichte stünden die Künstler, womit Gombrich eine stark humanistische Prägung seiner Kunstgeschichtsauffassung zum Ausdruck brachte. Diese Polarisierung innerhalb der Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft ist inzwischen weitgehend überwunden, nicht zuletzt, weil das Schlagwort vom ,Tod des Autors‘ ebenfalls einer post-postmodernen Revision unterzogen wurde. Sie sehen also, die von Ihnen und den Studenten erörterte Frage, ob die Kunstgeschichte die toten Künstler bevorzugt, führt unweigerlich auf wissenschaftstheoretisches und wissenschaftsgeschichtliches Terrain. Heute kann es so etwas wie ,Künstlerforschung‘ geben, was im Bereich der Kunstgeschichtsschreibung der zeitgenössischen Kunst als etabliert gelten darf.5 Nicht nur die Rollen der Künstler und die Topoi der Legendenbildung, sondern auch das System der Künste und die in ihm wirkenden Kraftfelder, wie Pierre Bourdieu sie verstehen wollte, sind Gegenstand dieser Forschungen. Insgesamt ist es überraschend, dass Künstlerviten wie auch Selbstaussagen von Künstlern nicht schon längst in ihrer kreativen Konstruiertheit umfassend und systematisch untersucht worden sind, auch wenn diese Thematik in der Forschung immer mehr an Fahrt gewinnt; es geht dabei auch um die Verfasstheit des Künstlers als Icherzähler in diesem dynamischen System.
ZUM AUFTAKT
DREI RÄUME – KUNST, KUNSTWISSENSCHAFT UND KUNSTKRITIK HANS DANUSER: Für mich war hinsichtlich der Kunstkritik in den 1980er-Jahren spannend, wie sehr diese Anteil an einer Neuerfindung der Fotografie hatte. Ich erinnere mich: Es waren Jahre harter und öffentlicher Diskurse, aus denen sich die Kunstwissenschaft der damaligen Zeit herausgehalten hatte. BET TINA GOCKEL: Besonders in Frankreich und den Vereinigten Staaten gab es durchaus kunstwissenschaftliche und theoretische Wegbegleiter dieser öffentlichen Diskurse über den Status der Fotografie, was wir hier nicht weiter vertiefen können. Interessanterweise kamen die Tonangeber im Fach Kunstgeschichte dabei aus der Kunstkritik, wie zum Beispiel Rosalind Krauss und Hal Foster.6 Kunstwissenschaft, Kunstkritik und Museen bzw. Ausstellungen stellen eigentlich verschiedene Wissensräume dar. Mitunter mögen sie untereinander konkurrieren, aber ich würde sie eher als Variablen sehen wollen. Diese Positionen müssen nicht ineinander aufgehen, und sie müssen auch nicht unbedingt harmonieren. Wenn diese Variablen eine Präsenz in der Öffentlichkeit haben, dann wirkt das auf die Kunst, ihre Sichtbarkeit und auf das Denken, das Kunst in Gang setzen kann, zurück. HANS DANUSER: Dem kann ich beipflichten. Es ist selten, dass diese Räume und Diskurse – die Künstler, die Kunstwissenschaft und die Kunstkritik sowie die Museen und Galerien – wirklich zusammenfinden. BET TINA GOCKEL: Ein entscheidender und nachhaltiger Moment der Konstituierung bzw. Annäherung von Kunstkritik und Künstler lässt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verorten. Zu dieser Zeit begann sich mit dem Aufkommen der bürgerlichen Öffentlichkeit und der Entwicklung des Kunstmarkts eine professionelle Kunstkritik zu etablieren. So wurden in London Mitte des Jahrhunderts die ersten Auktionshäuser in der Geschichte der Kunst gegründet: Christie’s und Sotheby’s. Deren Annoncen erschienen in Zeitungen wie dem Morning Chronicle und dem General Advertiser. Letzteres Blatt firmierte dann als Public Advertiser und enthielt immer mehr Texte über Kunst, so auch kurze Kunstkritiken, die mit einem beschränkten und noch kaum kanonisierten Begriffsrepertoire operierten. Die Kontroversen, welchem Werk, welchem Künstler die Siegespalme gebührte, wurden nicht selten in Form einer Künstlerkonkurrenz inszeniert; das generierte Aufmerksamkeit. Diese Strategie hat bis heute im Verhältnis von Künstlern zu Medien der Öffentlichkeit an Gültigkeit nichts verloren. Aus den Kinderschuhen der Kunstkritik entwickelte sich dann bis heute ein kaum vorstellbar schnell gewachsenes Distributionsinstrument zeitgenössischer Kunst. Und selbstverständlich haben Künstler schon immer versucht, sich dieser Tools zu bedienen. Diderot als literarisch begabter und subtil aufklärerischer Kunstkritiker und Chardin als experimen-
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teller Künstler des 18. Jahrhunderts sind für die enge Zusammenarbeit von Kunstkritiker und Künstler ein ebenso wichtiges Beispiel wie die Freundschaft zwischen Émile Zola und Edouard Manet und deren Verhältnis zu Paul Cézanne. Damit war unmittelbar der Kunstmarkt verbunden.7 Ich bin mir übrigens nicht sicher, ob es wirklich stimmt, wenn heute von einer Übermacht des Marktes gesprochen wird. Interessanter finde ich, den Kunstmarkt innerhalb eines dynamischen Systems zu untersuchen, in dem Individuen nicht determinierte Rollen übernehmen, sondern Akteure innerhalb des Kräftefelds bleiben. Andererseits kann ich die Sorge nachvollziehen, das Kapital habe Kontrolle über den kritischen Diskurs erlangt. Sicher gibt es diese Überwältigungsrhetorik, die superlativische Hochsteigerung eines Künstlers oder einer ganzen, gerne althergebracht als ,Schule‘ bezeichneten Künstlerbewegung zugunsten hochgeschraubter Preise. Hier müssen sich Kunsthistoriker und Kuratoren ihrer Verantwortung bewusst sein und ausdifferenziert, nicht nur exegetisch zeitgenössische Kunst präsentieren, in Worten und im Ausstellungsraum. Auch wenn der Druck der eigenen Institutionen, schnelle, sichtbare Erfolge und Diskurshoheit nachzuweisen, ungeheuer groß geworden ist, sind die Freiheiten, die akademischen und die kuratorischen, viel größer, als man annimmt. Man muss sie nur nutzen, denn es wäre natürlich extrem problematisch, wenn das Denken über Kunst in der Öffentlichkeit nicht mehr stattfände. Ich würde auch bestätigen wollen, dass die 1980er-Jahre besonders lebendig waren in diesem öffentlichen Denken über Kunst und der neuen Reflexion über den Status der Fotografie. HANS DANUSER: Das Neue war, dass nicht die Fotografie in die Kunst drängte, sondern die Kunst die Fotografie für ihre Erneuerung suchte, und die neue Fotografie suchte neue Räume. Dies war eine doch einmalige Konstellation in den 1970er- und 1980er-Jahren, auch mit Blick auf den oben erwähnten Dreiklang der Räume: Die 1980er-Jahre brauchten neue Bilder, somit neue Räume und eine neue Geschichtsschreibung und deren Wissenschaft.
ANMERKUNGEN
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Das Seminar fand im Frühjahrssemester 2009 am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich unter der Leitung von Hans Danuser (zu dem Zeitpunkt Visiting Artist an der Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie) und mit der Assistenz von Aline Juchler statt. SeminarteilnehmerInnen waren: Mirko Baselgia, Barbara Bruner, Patrizia Ecker, Atossa Hadjigoli, Asia Kinzel, Sonja Kreis, Cornelius Krell, Patrizia Munforte, Corinne Odermatt, Lara Rohrer, Ana Rosca, Julieta
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Schildknecht und Daniela Wegmann. Allen Studierenden und der Seminarassistentin sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Dieser Förderzweck ergibt sich auch durch die Unterstützung, die die Dr. Carlo Fleischmann-Stiftung der TGF zuteil werden lässt. Der Stiftungszweck dient ausdrücklich besagten, allgemein formulierten Förderungszielen, die aufgrund der Initiative von Kaspar M. Fleischmann seit 2005/2006 auf die Theorie und Geschichte der Fotografie
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ausgerichtet wurden. Vgl. zur Geschichte der Stiftung die Geleitworte von Kaspar M. Fleischmann für den ersten Band der Studies in Theory and History of Photo graphy, vgl. „Grußwort“, in Nanni Baltzer und Wolfgang Kersten (Hg.), Welten bilder, Studies in Theory and History of Photography 1 (Berlin: Akademie Verlag, 2011), vii–viii. Neuere und grundlegende Werke von Hans Danuser klingen durch die Ateliersituation in den Abbildungen dieses Auftaktgesprächs an: Abb. 1: „Kunst in Architektur“-Projekt SCHIEFERTAFEL BEVERIN (2000–2001), vgl. Marco Baschera, „Von der vorzeitlichen Präsenz eines Platzes“, in Marco Baschera und André Bucher (Hg.), Präsenzerfah rung in Literatur und Kunst. Beiträge zu einem Schlüsselbegriff der ästhetischen und poetologischen Diskussion (München: Fink, 2008), 75–100. Abb.2: Publikationsprojekt BURG AUS HOLZ (2012–2013), vgl. Wulf Rössler und Hans Danuser (Hg.), Burg aus Holz. Von der Irrenanstalt zur Psychiatrischen Universi tätsklinik Zürich. Entwicklungen, Innen und Aussensichten, mit Beiträgen von Jules Angst, Elisabeth Bronfen, Hans Danuser, Gerd Folkers, Angela Graf-Nold, Michael Hagner, Paul Hoff, Daniel Libeskind, Peter von Matt, Siebke Melfsen, Adolf Muschg, Franz G. Otto, Wulf Rössler, Christian K. Schmid, Juri Steiner, Jörg Stollmann, Jakob Tanner, Philip Ursprung, Stefan Vetter, Barbara Villiger Heilig, Susanne Walitza, Robert M. Wilson, Cristina Zilioli und Stefan Zweifel (Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2013). Abb. 3: Reto Hännys Buch Helldunkel. Ein Bilderbuch nimmt Bezug auf Hans Danusers Serien LANDSCHAFTEN (1993– 1996) und darauf aufbauend EROSION (2000–2006) sowie IN VIVO (1980–1989) und die Schrift-Bild-Installation INSTITUTSBILDER (1990–1993), vgl. Reto Hänny, Helldunkel. Ein Bilderbuch (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1994). Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch (Wien: Krystall-Verlag, 1934).
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Vgl. u. a. in chronologischer Reihenfolge: Pascal Griener und Peter J. Schneemann (Hg.), Images de l’artiste, Neue Berner Schriften zur Kunst 4 (Bern: Lang, 1998); Fotis Jannidis et al. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs (Tübingen: Niemeyer, 1999); Martin Hellmold et al. (Hg.), Was ist ein Künstler? Das Subjekt der moder nen Kunst (München: Fink, 2003); Julia Gelshorn (Hg.), Legitimationen. Künstlerin nen und Künstler als Autoritäten der Gegen wartskunst, Kunstgeschichten der Gegenwart 5 (Bern: Lang, 2004); Bettina Gockel und Michael Hagner (Hg.), Die Wissen schaft vom Künstler. Körper, Geist und Lebensgeschichte des Künstlers als Objekte der Wissenschaften. 1880–1930, Preprint 279 (Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2004); Ulrich Pfisterer und Valeska von Rosen (Hg.), Der Künstler als Kunstwerk. Selbstporträts vom Mittelal ter bis zur Gegenwart (Stuttgart: Reclam, 2005); Theresa Georgen und Carola Muysers (Hg.), Bühnen des Selbst. Zur Autobio graphie in den Künsten des 20. und 21. Jahr hunderts, Gestalt und Diskurs 6 (Kiel: Muthesius Kunsthochschule, 2006); Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie. Heilsbringer. Antikünstler. Eine Ideen und Kunstgeschichte des Schöpferischen (Köln: Deubner, 2007); Linda Hentschel et al. (Hg.), Fragmente einer Kunst des Lebens. Kunst und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Biografie, den Künsten und Medien (Freiburg: Fördergemeinschaft wissenschaftlicher Publikationen von Frauen e. V., 2008); Bettina Gockel, Die Pathologisierung des Künstlers. Künstler legenden der Moderne (Berlin: Akademie Verlag, 2010); Peter Chametzky, „Artists as Avatars“, in Modern Intellectual History 11, Nr. 1 (2014), 237–252. Mit Anwachsen der Forschungen über Künstlerviten, Künstlerbiografien und über das künstlerische Subjekt gerät mitunter aus dem Blick, dass die kritisch-analytischen Ansätze hierzu in der Frauenforschung entwickelt wurden: Vgl. Sabine Brombach und Bettina Wahrig (Hg.), Lebens bilder. Leben und Subjektivität in neueren
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CREDITS/ BILDNACHWEISE
Ansätzen der Gender Studies (Bielefeld: Transcript, 2006). Die bekannte Bedeutung der Zeitschrift October für den Diskurs über Fotografie wurde zuletzt von Robin Kelsey und Blake Stimson gewürdigt. Vgl. die Einleitung beider Autoren in Robin Kelsey und Blake Stimson (Hg.), The Meaning of Photography, Clark Studies in the Visual Arts (Williamstown, MA: Sterling and Francine Clark Art Institute, 2008), vii–xxxi. Gerade Diderots zum Teil selbstironische Überlegungen zu seiner Haltung und
Position als Kunstkritiker, der Künstlern eine authentische Stimme geben will und doch dabei seine eigene Position als künstlerisch ambitionierter Autor nicht aufgibt, während er sich auch das eine oder andere in die Feder diktieren lässt, machen ihn zu einer Art Prototyp des modernen Kunstkritikers. Dazu arbeitet Beate Söntgen in einem groß angelegten Forschungsprojekt, das Diderots Werk auf das 20. und 21. Jahrhundert bezieht. Vgl. Beate Söntgen, „Warum Diderot? Eine Projektskizze“, in Texte zur Kunst 23, Nr. 90 (Juni 2013), 60–69.
H. D. Casal, Bildzyklus Fabrikationshalle 2, 2009, Fotografie/Digital, 5-teilig, je 90 × 140 cm.
ZEITBILD ZÜRICH Hans Danuser, HARLEKINS TOD, 1982, Fotografie/Analog in Silbergelatine auf Barytpapier, 5-teilig, auf Grundformat 40 × 50 cm. Fotografische Dokumentation und Fiktion zur Zürcher Bewegung, 1980–1982 parallel entstanden zur Arbeit und mit Motiven aus A-Energie aus dem Zyklus IN VIVO, 1980–1989, Harlekin: Ernst C. Sigrist, Maske: Brigitte Schmid-Gugler.
HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL ATELIERGESPRÄCH
Bettina Gockel und Hans Danuser im Ateliergespräch während der Seminarsitzung vom 27. März 2009, Foto: Aline Juchler.
Das Ateliergespräch von Hans Danuser und Bettina Gockel widmet sich materialund medienästhetischen Aspekten künstlerischer Produktion und Rezeption in Malerei und Fotografie. Im Zentrum stehen historische Neudefinitionen von Bildlichkeit in der Malerei des 16. Jahrhunderts und der Fotografie der 1970er- und 1980erJahre. In einem zeitübergreifenden, vergleichenden Blick auf Hans Danusers fotografischen Zyklus EROSION und Leonardo da Vincis sogenannte Sintflutzeichnungen wird diskutiert, inwieweit beide Darstellungskonzepte auf die Sichtbarmachung von Bildschöpfungsprozessen angelegt sind, die einer fixierenden kontextuellen Bedeutungszuschreibung entgegensteht. An diese Überlegung knüpfen sich vertiefende Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen bildbeschreibender (Wissenschafts-) Sprache.
LANDSCHAFT ALS SEHPROZESS In unserem heutigen Gespräch wird es darum gehen, die Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft von einer konkreten bzw. exemplarischen Seite aus zu reflektieren. Unternehmen wir doch einen gewagten Sprung ins frühe 16. Jahrhundert, in die Betrachtung der Landschaft in der Zeit der Renaissance mit dem Konvolut von Zeichnungen Leonardo da Vincis über einen Umweg in die Schiefergebirge von Wales und mit einer Alpenüberquerung durch Schiefergeschiebe im fotografischen Bildzyklus EROSION – Eine Bodeninstallation mit Fotografie (2000–2006). Es ist ja nicht nur ein Zeitensprung, sondern auch ein Sprung in verschiedene Techniken, wie Malerei, Zeichnung und Fotografie. HANS DANUSER :
BET TINA GOCKEL: Die Gegenüberstellung von Leonardos meist als „Sintflutzeichnungen“ oder „Sintflut-Serie“ benannten Blättern mit Ihrem Bildzyklus EROSION ist nicht dazu da, das eine durch das andere erklären zu wollen. Das wäre schon deshalb irreführend, weil der Inhalt von Leonardos Zeichnungen umstritten ist, ja auch ihr Bezug zur Geologie infrage gestellt wurde. Darüber hinaus würde ich Ihnen, Herr Danuser, zubilligen, dass Ihre Bilder „Bilder ohne Vorbilder“ sind, wie Sie in einem Gespräch mit Hartmut Böhme formuliert haben.1 Wozu also dieser Vergleich? Er kann helfen, die Art und Weise der Bildherstellung und deren Relevanz für das Thema der Erosion schärfer zu fassen. Leonardo arbeitete in diesen heute in der Royal Library in Windsor Castle aufbewahrten Werken vor allem mit schwarzer Kreide (Abb. 6–11), die eine kaum quantifizierbare Variationsbreite des Helldunkels hervorbrachte. Von Schwarz-Weiß kann man angesichts der nebeneinander gleichsam agierenden Schattierungen, die optisch weitere, vibrierende Tönen erzeugen, nicht sprechen. Die schwarze Kreide ist als Material präsent und verleiht diesen Farben eine haptische Qualität, so, als seien diese Bilder nicht nur für die Augen allein gemacht. Sie haben einmal erwähnt, dass für Sie das Schwarz-Weiß der Fotografie als Farbe zu verstehen sei. Was meinen Sie damit?
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Der Erosionszyklus war der Beginn, wo ich mich neben Proportionen und der Maßstäblichkeit auch mit der Farbe in der Fotografie auseinandergesetzt hatte. Ich bemerkte, dass ich mit meiner Motivwahl in eine Farbigkeit komme, die sich über das fotografische Papier selbst formuliert. Es hat sich dann in der Rezeption der Begriff ,Echtfarbe‘ durchgesetzt. Also: Die Farbigkeit des Silberbromids der fotografischen Emulsion entspricht der Farbigkeit des Schiefers, der auf dem Papier dargestellt ist. Es ist ein Unterschied, ob ich ein digitales Bild sehe, ob ich ein Lichtbild sehe oder ob ich eine Farbe über ein Material wahrnehme, das auch ein Körper ist. Das Silberbromid ist ein Körper und hat auch all die Reflexionsschattierungen und damit das Facettenspiel, das nur ein dreidimensionaler Körper aufführen kann. Sobald Farbe dreidimensional ins Spiel kommt, wird die Farbe anders wahrgenommen. HANS DANUSER :
Das heißt, dass das Silberbromid auch eine mimetische, eine zur Materialbeschaffenheit des Schiefers äquivalente Funktion hat.
BET TINA GOCKEL:
HANS DANUSER :
Ja. Absolut.
Vielen Betrachtern wird das nicht bewusst sein. Dieser materialästhetische Aspekt trägt fast alchemistische Züge, könnte man meinen. Ich meine das als produktive Überspitzung, um den Materialbegriff nicht so stumpf neben dem theoretisch und aktuell viel stärker aufgeladenen, auch schillernden Medienbegriff stehen zu lassen.
BET TINA GOCKEL:
HANS DANUSER :
Ja. Diesen Faden sollten wir doch noch kurz weiterspinnen.
Man sollte in unserem Zusammenhang bedenken, dass Alchemie vor und während der Frühen Neuzeit zu einer anerkannten Wissenschaft wird. Wir nehmen derartige historische Weisen der Naturphilosophie nicht ernst, weil wir einen objektivierenden, positivistischen Naturwissenschaftsbegriff seit dem 19. Jahrhundert ausgebildet haben. Aber unsere Auffassung von Naturwissenschaft ist noch relativ jung und von der Ausdifferenzierung der Disziplinen und damit einhergehender Zuständigkeiten geprägt. In früheren Zeiten hätte man einen, wie ich es probeweise nennen möchte, ganzheitlichen Begriff der Naturwissenschaften hingegen ernst genommen. Mich interessiert an den frühneuzeitlichen Naturforschungen die Aufmerksamkeit für Prozesse der Umwandlung und deren Verbildlichung. Insgesamt geht es also um die Aufmerksamkeit für Bewegung und Wandlung, nicht für Endprodukte. Bezogen auf das Bild gilt, dass auch hier der Prozess der Herstellung an einem bestimmten Punkt interessanter ist, als sich deutend dem Endprodukt Bild zu widmen. Man käme so auch von der Frage der Abbildung weg, wenn man gerade hinsichtlich der Fotografie die Fixierung der Forschung auf das vermeintlich reproduzier-
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1: Hans Danuser, EROSION VI – eine Bodeninstallation, 2000–2006, Fotografie auf Barytpapier, 9-teilig (VI 1–VI 9), je 150 cm × 140 cm, aufgezogen auf eine 2mm-Aluminiumplatte, ausgelegt auf Kantholz mit einem Durchmesser von 6 cm, Bild: Installation im Fotomuseum Winterthur / Courtesy Sammlung Fotomuseum Winterthur.
bare Endprodukt zugunsten der auch kontextbezogenen Prozesse, die auf das Bild hinführen, aufgeben würde. HANS DANUSER :
Man gelangt dann in einer Art alchemistischem Prozess vom
Abbild zum Bild. Wenn ich Sie richtig verstehe, widmen Sie sich diesen Prozessen experimentell und auf die Erforschung fotografischer Materialien orientiert. Alchemie ist die Umwandlung von Materie. Deswegen finde ich diesen alchemistischen Prozess als Hilfsbegriff für die Kunst interessant – und nicht zuletzt in unserem Zusammenhang, wenn Sie bei Ihrem Erosionszyklus das Verhältnis vom Schiefer zum Material des Mediums ausloten. Aber, wie gesagt, Alchemie soll in diesem Moment nicht mehr und nicht weniger als eine Denkfigur sein, jedoch nicht ein Erklärungsmodell für Ihre Kunst. Aus dieser offenen, werkprozessbetonten Perspektive lassen sich diese Arbeiten viel besser verstehen, als wenn ich sage: Der Erosionszyklus von Hans Danuser ist eine Metapher für Bewegung und durch Gewalt in Bewegung geratene Gesellschaft. Oder: Erosion ist Metapher für eine zerstöreri-
BET TINA GOCKEL:
2: Hans Danuser, EROSION IV – eine Bodeninstallation, 2000–2006, Bild IV 1, Fotografie auf Barytpapier, 9-teilig (IV 1–IV 9), je 150 cm × 140 cm, aufgezogen auf eine 2mm-Aluminiumplatte. 3: Hans Danuser, EROSION III – eine Bodeninstallation, 2000–2006, Bild III 7, Fotografie auf Barytpapier, 9-teilig (III 1–III 9), je 150 cm × 140 cm, aufgezogen auf eine 2mm-Aluminiumplatte. 4: Hans Danuser, EROSION VI – eine Bodeninstallation, 2000–2006, Bild VI 1, Fotografie auf Barytpapier, 9-teilig (VI 1–VI 9), je 150 cm × 140 cm, aufgezogen 5: Hans Danuser, EROSION VI – eine Bodeninstallation, 2000–2006, Bild VI 3, auf eine 2mm-Aluminiumplatte. Fotografie auf Barytpapier, 9-teilig (VI 1–VI 9), je 150 cm × 140 cm, aufgezogen auf eine 2mm-Aluminiumplatte.
6: Leonardo da Vinci, Eine Bergkette wird vom Wasser aufgerissen, und durch die herabstürzenden Felsen werden riesige Wellen in einem See aufgerührt, 1517–1518, Schwarze Kreide mit brauner und gelber Tinte, 16,2 × 20,3 cm, Royal Library, Windsor, Inv.-Nr. RCIN 912380. 7: Leonardo da Vinci, Sintflut über einer Stadt auf einem Hügel, 1517–1518, Schwarze Kreide, 15,8 × 21,0 cm, Royal Library, Windsor, 8: Leonardo da Vinci, Eine Stadt im Zentrum des Wirbels, 1517–1518, Schwarze Inv.-Nr. RCIN 912385. Kreide, 16,3 × 21,0 cm, Royal Library, Windsor, Inv.-Nr. RCIN 912378. 9: Leonardo da Vinci, Sintflut und Gewitter über einer waldigen Gegend, 1517–1518, Schwarze Kreide, 16,5 × 20,4 cm, Royal Library, Windsor, 10: Leonardo da Vinci, Sintflut über zusammenstürzenden Bäumen, 1517–1518, Inv.-Nr. RCIN 912384. 11: Leonardo da Vinci, Schwarze Kreide, 16,1 × 21,0 cm, Royal Library, Windsor, Inv.-Nr. RCIN 912386. Sintflut über dem Meer, 1517–1518, Schwarze Kreide, 15,8 × 21,0 cm, Royal Library, Windsor, Inv.-Nr. RCIN 912383.
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sche Politik, und der Erosionsprozess der Erde, der ein geologischer Prozess ist, ist eine Metapher für politische Prozesse. Solche Übertragungen und Schlussfolgerungen sind in der Rezeption Ihres Werks aufgekommen. Doch gelangen derartige Deutungsweisen oft sehr rasch zu diesem Punkt, wo ein Sinnbild für etwas gesetzt und ausgesprochen wird. Man (also ggf. auch der Künstler selbst, wenn er diese Vorgaben zum Beispiel in Interviews liefert) gibt damit der Kunstkritik oder auch dem Betrachter meines Erachtens zu schnell eine Lösung bzw. einen Schlüssel zur Deutung an die Hand. Denn aus meiner Sicht verdeckt eine solche schlussfolgernde, auf fixierte Sinnbilder fokussierte Argumentation den Blick auf das Gemachte eines Bildes und darauf, was dieses in seiner Materialität, auch im Werkprozess, charakterisiert: Das Sehergebnis oder der Sehprozess, sich auf das Werk einzulassen und dann einen Denkprozess zu beginnen oder auch nachzuvollziehen, wird durch diese Zuschreibungen gleichsam gestockt. Mit Blick auf das Natur- und Kunstverständnis von Leonardo da Vinci, auf dessen Zeichnungen wir ja zu sprechen kommen wollen, lässt sich diese Problematik eines schnellen Kurzschlusses von Bedeutungszuschreibung als Sinnbild gut erklären. Verschiedene Forscher haben sich über Dekaden hinweg verschiedenen Werken Leonardos gewidmet und sind jeweils zu Schlussfolgerungen gekommen, die widersprüchlich sind.2 Stattdessen wird neuerdings versucht, diese verschiedenen Herangehensweisen zu bündeln und miteinander in Kontakt zu bringen, um die ambivalenten Vorstellungen von Natur, die für Leonardo relevant waren, historisch und philosophisch herauszuarbeiten.3 Damit entfernt man sich auf konstruktive Weise von älteren Deutungsversuchen, die eine Sinnbildlichkeit von Leonardos „Sintflutzeichnungen“ postulierten und fixierten. Mich interessiert der Vergleich zwischen Leonardo und Ihrem Erosionszyklus, weil es im sprachlichen Umgang mit der zeitgenössischen Kunst einen ganz ähnlichen Ansatz gibt, Sinnbildhaftes und die vermeintliche Bedeutung zu postulieren, wie in der älteren Kunstgeschichtsforschung. Wenn ich mich im Folgenden auf Alexander Perrigs Text über dieses vermutlich 1514/1516 gefertigte Konvolut von Zeichnungen Leonardos beziehe, dann, weil er einer der Ersten war, der in überspitzter Form diesen Deutungsimpuls hinterfragt hat.4 Er hat sich mit seinen Formulierungen im Fach unbeliebt gemacht, was heute als eine lange zurückliegende Episode betrachtet werden kann, die Frank Fehrenbach ausziseliert in seinem brillanten Aufsatz über die Deutungsgeschichte dieser Zeichnungen analysiert hat.5 Umso gelassener kann man Perrigs Ausführungen heute wieder hervorholen und ihnen unaufgeregt begegnen, eingedenk der neuesten Forschungen, die geleistet wurden und werden.6 Man ist früher davon ausgegangen, dass diese Zeichnungen Bilder der Sintflut und damit apokalyptische Sinnbilder darstellen.7 Perrig will in seinem Text zeigen, dass über diese allgemeine Deutung das wirkliche Hinschauen auf das, was Leonardo tatsächlich bildlich gestaltete, verdeckt, wenn nicht verstellt wird. Er hat von den kunsthistorischen Nebelschwaden gesprochen oder der nebulösen Sprache der Kunstwissenschaft,
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12: Hans Danuser, EROSION III – eine Bodeninstallation, 2000–2006, Fotografie auf Barytpapier, 9-teilig (III 1–III 9), je 150 cm × 140 cm, aufgezogen auf eine 2mm-Aluminiumplatte, ausgelegt auf Kantholz mit einem Durchmesser von 6 cm, Bild: Installation im Kunsthaus Zürich (Böcklinsaal) / Courtesy Stiftung Walter A. Bechtler.
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die sehr schnell zu einer übergeordneten Deutung kommt.8 Wenn der Künstler mit seinen Darstellungen von etwas, das zerbirst und überflutet wird, die Sintflut gemeint hat, dann brauche ich, so könnte die Schlussfolgerung für den Betrachter lauten, eigentlich nicht mehr weiter darüber nachzudenken. Ich greife einen Sinngehalt, einen Diskurs auf und übertrage ihn auf das Werk, dem somit quasi monolithisch Sinn zugeschrieben wird. Wenn man diesen Prozess aufbrechen will, und das hat Perrig modellhaft an den Zeichnungen Leonardos erprobt, kommt möglicherweise etwas ganz anderes, etwas sehr viel Irritierenderes oder möglicherweise viel Komplexeres dabei heraus. Unabhängig davon, wie überholt und umstritten Perrigs Auffassungen heute sind, geben sie ein gutes Beispiel, wie ein Wissenschaftler an der Wegscheide zwischen Interpretation und wissenschaftlicher Sehleistung stehen und in einem kritischen Durchgang beides wieder verbinden kann. Es sind bezeichnenderweise Bildhintergründe, genauer die Landschaftshintergründe in Leonardos Porträts, mit denen Perrigs Text beginnt: Das Geheimnisvolle des Porträts der „Mona Lisa“ ist aus Perrigs Sicht nicht die Mona Lisa selbst, sondern der Landschaftshintergrund. Diese Felsen, diese Wasser, die dort dargestellt sind, hatten bislang keine Erklärung gefunden, außer dass assoziativ und wohl auch etwas hilflos gesagt wurde: Das sind Traumlandschaften. So, wie die Zeichnungen Sintflutdarstellungen sind, sind die Bildhintergründe Traumlandschaften, also muss man sich nicht mehr weiter damit beschäftigen. Es ist sicher richtig, dass Natur für Leonardo als Künstler und Wissenschaftler auch mit Fantasie zu tun hatte. Gleichzeitig war Natur aber für Leonardo, wie für viele Künstler, ein ambivalenter Faktor im künstlerischen Werk – als Material und Form, als Gestalt und Idee. Die Herausforderung besteht darin, diese Komplexität zu erfassen, sich ihr zu stellen, auch im Schreiben und Forschen über künstlerische Werke. Perrig meint also, man habe es sich zu leicht gemacht und müsse die Naturauffassung, die den Landschaftshintergründen der Porträts zugrunde liegt, erforschen, besonders auch deshalb, weil diese den Erwartungen damaliger Zeitgenossen nicht entsprochen hätte. Zudem wurden diese ungewöhnlichen Landschaftsdarstellungen von Kopisten nicht übernommen, sondern durch einen monochromen Hintergrund oder eine Gartenidylle ersetzt. Wenn man Perrig bis hierher folgen will, muss man zugeben: Er hat damals, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Studie, ein außerordentliches Forschungsdesiderat entdeckt, das Kunsthistoriker bis heute beschäftigt. Um diese geheimnisvollen Landschaften nun näher zu analysieren, geht Perrig auf die besagten Zeichnungskonvolute zurück. Indem er die Schriften von Leonardo heranzieht, wo dieser über die Entstehung der Erde und die Relation von Mensch und Erde schreibt, zeigt Perrig auf, dass die Zeichnungen etwas ganz anderes als die Darstellung der Sintflut bedeutet haben mögen und sich auf ein wissenschaftliches Weltbild bezogen, in dem der Erdkörper und der menschliche Organismus analog zueinander gedacht wurden. Leonardo formulierte das so:
ATELIERGESPRÄCH
„Der Mensch wird von den Alten Mikrokosmos genannt. Und gewiß ist diese Bezeichnung gut gewählt; denn wie der Mensch so besteht auch dieser Körper der Welt aus Erde, Wasser, Luft und Feuer. Wenn der Mensch in sich Knochen, die Träger und das Gerüst des Fleisches sind, hat, so hat die Welt die Gesteine, die Stützen des Erdreichs. Wenn der Mensch in sich den Blutsee hat, durch den sich die Lunge ausdehnt und zusammenzieht beim Atmen, so hat der Erdkörper seinen Ozean, der seinerseits alle sechs Stunden anschwillt und abschwillt durch das Atmen der Welt. Und wie von diesem Blutsee Adern ausgehen, die sich durch den menschlichen Körper verzweigen, so ähnlich durchzieht der Ozean den Körper der Erde mit unzähligen Wasseradern […].“9 Perrig zeigt nun, dass Leonardo in seinen Zeichnungen dieses Vorstellungsbild, das er von der Entstehung und organischen Lebendigkeit der Erde hat, darzustellen versuchte. Martin Kemp hat 2004 sehr schön formuliert, wie Leonardo das der Antike und dem Mittelalter geläufige Analogiedenken visuell ausschöpft: „Die Neuartigkeit seiner [Leonardos, B. G.] Ausdrucksweise ist primär visueller Natur. Nicht nur hatte keiner vor ihm hinsichtlich des Mikrokosmos überzeugendere Darstellungen des Ganzen und der einzelnen Teile vorgelegt, sondern es hatte auch niemand erkannt, dass die Darstellungsprozesse selbst die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Analogien waren, die so ihr volles Potential entfalten konnten. […] Indem er sich des einzigartigen Potentials seines bildhaften Denkens und seiner graphischen Fähigkeiten bediente, war er imstande, über die Allgemeinheit der Analogie hinauszugelangen und die Darstellung in ein wirkungsvolles analytisches Werkzeug zu verwandeln, das sich auf verwandte physische Phänomene jeglicher denkbaren Größenordnung anwenden ließ.“10 Sind die Zeichnungen Naturstudien im tradierten Sinne – wir sehen das gurgelnde Wirbeln des Wassers, das sich tatsächlich in der Natur abspielt –, erarbeiten sie visuell zugleich eine Theorie, ein Vorstellungsbild. Leonardo gelingt es, das, was eigentlich nicht mit dem bloßen Auge zu sehen ist, zu zeichnen und parallel auf das Gesehene dabei zurückzugreifen – insgesamt eine paradoxe Leistung gemessen an unseren herkömmlichen, immer noch an der Abbildungswirklichkeit ausgerichteten Kategorien des zeichnerischen und fotografischen Bildes. In meinem Bildgedächtnis haben sich diese Zeichnungen mit Ihren Erosionsfotografien überlagert, bzw. es eröffnen sich im Vergleich Einsichten in analoge Bildstrategien. Offensichtlich ist zum Beispiel, dass Oben und Unten im Bild aufgehoben sind. Die Sicherheit aufzugeben, wo eigentlich der Mittelpunkt des Bildes und wo oben und unten ist, ist an sich schon eine bildgestalterische und ästhetische Leistung. Darum ging es vermutlich auch in diesen Zeichnungen, die nie ausgestellt wurden und zum privaten Repertoire, zum Zeichnungskonvolut dieses Künstlers,
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gehörten. Das Wirbelnde, die Permanenz und Präsenz von Veränderung und Zerstörung werden so weit verbildlicht, dass die Hierarchien von Räumlichkeiten im Bild aufgegeben werden und an deren Stelle die Plastizität von Formen gesetzt ist, aus denen sich der Raum dezentral bildet. Hat Leonardo hier ein bildgestalterisches Modell für sich erarbeitet, also etwas, das bildtheoretisch für ihn relevant erschien? Die Vermutung, er habe die Blätter für das Trattato della Pittura vorgesehen, weist in die Richtung dieser weit über konkrete oder gleichnishafte Bildinhalte hinausgehenden Bedeutung der Zeichnungen. Leonardos ästhetische Auseinandersetzung mit Naturprozessen, die er in seinen Schriften, wie eben zitiert, in Relation zum menschlichen Organismus betrachtet, hat mich im vergleichenden Blick auf Ihre Werke darüber hinaus auch an die Analogie erinnert, die wir vorher besprochen haben, nämlich dass Erosion der Landschaft in Ihrer Fotografie eine Analogie zu der Erosion und Zerstörung ist, die dem Menschen in Kriegszeiten oder durch Gewalt geschehen kann. Und vielleicht auch im Alltag. Das ist das Eindrückliche bei der Erosion, beim Beobachten im Gebirge bei den Arbeiten am Erosionszyklus, dieser alltägliche, immerwährende, permanente, mit dem Auge fast nicht wahrnehmbare, aber doch konstante Prozess. HANS DANUSER :
BET TINA GOCKEL: Damit wird Erosion nicht nur zu einer Metapher, sondern auch zu einem Erklärungsmodell, wie man diese permanente Zerstörung, die dem Leben innewohnt, als Mensch in der Natur wahrnimmt und erlebt. Erosion ließe sich als etwas verstehen, das diese Zerstörung, die fast unsichtbar vor sich geht, gedanklich und dann im Bild sichtbar werden lässt. Bevor man also dazu übergeht, diese Sichtbarkeit von Naturprozessen als einen Verweis zu verstehen, einen Verweis auf die permanente Wandelbarkeit der Natur und den Versuch des Menschen, diese zu nutzen und zu kontrollieren, geht es zunächst darum, konkret zu erfassen, was eigentlich Gegenstand des Bildes ist und welche Vorstellungswelt der Künstler damit verbindet. Es ist diese Perspektive, die die Analogien zwischen Ihrem Erosionszyklus und Leonardos Naturdarstellungen erhellt.
Leonardos Zeichnungen haben, wie Sie sagen, keine Bezüge zu einem Oben oder Unten bzw. zu irgendwelchen Größenordnungen.
HANS DANUSER :
Das Besondere an Leonardos Arbeiten ist, dass der Bezug zu erlernten, gewohnten und womöglich subjektiv erfahrenen Wirklichkeitsverhältnissen von Raum und Sehen gekappt ist.
BET TINA GOCKEL:
HANS DANUSER :
Ja – das hat eine gewisse Einmaligkeit.
ATELIERGESPRÄCH
BET TINA GOCKEL: Es hat wirklich eine gewisse Einmaligkeit, vor allem ist es eben nichts, was in Auftrag gegeben wurde und einen öffentlichen bzw. offiziellen Charakter hat. Ein Freund Leonardos hat diese Bilder aufbewahrt. Es ist nichts, was in dem visuellen Diskurs der Zeit etabliert gewesen wäre.
MEDIEN UND MATERIALIEN DES DENKENS Wie weit haben Leonardos Kenntnisse der Anatomie für seine Bildauffassung eine Rolle gespielt? Und wie verhielt es sich mit der Proportionalität?
HANS DANUSER :
Anthropozentrische Proportionslehren spielen in der Kunsttheorie wie letztlich auch in der Naturwissenschaft der Renaissance eine große Rolle. Leonardos anatomische Zeichnungen oder Studien beschäftigen sich etwa mit Fragen, wie der Blutkreislauf des Menschen funktioniert. Das setzt Leonardo in Analogie zu den Erdentstehungstheorien seiner Zeit, wie wir schon gehört haben. Die Leonardo-Forschung erarbeitet heute ein ausdifferenziertes philosophisches und ideengeschichtliches Bezugsfeld für Leonardos Vorstellungen. Was Leonardos Naturvorstellung und Thematisierung von Natur betrifft, so hat diese vielleicht auch deshalb immer wieder an Anziehungskraft für die Forschung gewonnen, weil im 20. und 21. Jahrhundert die seit dem 19. Jahrhundert ausdifferenzierten naturwissenschaftlichen Disziplinen und die daraus erwachsenen Technologien nicht zuletzt angesichts der vom Menschen mit verursachten Naturkatastrophen auf Skepsis und Kritik gestoßen sind. Ein naturphilosophischer, vormoderner Ansatz hält dem Impuls, die Natur in ihre Bestandteile zu zerlegen und für eine prekäre Zivilisation ausbeuten zu wollen, den Spiegel vor. BET TINA GOCKEL:
Entsprach diese Ansicht Leonardos Zeit, oder hat er selbst diese Sicht ins Spiel gebracht?
HANS DANUSER :
Leonardos Sichtweise entspricht Vorstellungen, die es in der Antike und auch im Mittelalter gab, die aber vielleicht in seiner Zeit nicht allgegenwärtig waren. Insofern ist man wohl in der Forschung so spät darauf gekommen, dass sich Leonardo möglicherweise in seinen wissenschaftlichen Studien mit den geologischen – wie wir es heute nennen würden – Phänomenen auseinandergesetzt hat. Was bei dieser Erforschung herauskommt, ist: Die Bilder selbst, die gezeichnet wurden, sind als etwas sehr Konkretes zu verstehen, nicht als Sinnbilder, sondern als Denkbilder Leonardos. Er verstand, wie wir bereits ausgeführt haben, im Grunde das Zeichnen selbst als ein Mittel, um über diese Theorie nachzudenken und ihr seine Vorstellungen hinzuzufügen. Er führt sich mit seinem Arbeitsprozess etwas vor Augen, was er nicht in dieser Präsenz vor Augen haben kann. Um an dieser Stelle noch einmal auf den Vergleich mit Ihren Arbeiten zurückzukommen: Ich verstehe die Verbindung zwischen den Landschaften von Leonardo und Ihrem fotografischen
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Erosionszyklus darin, dass Sie sich etwas vor Augen führen wollen, was permanent stattfindet und uns dadurch bewusst gemacht werden soll. Der Lebensprozess, der auch allen Materialien inhärent ist, ist für mich eine konkrete Wirklichkeit, die dargestellt wird. Deswegen, und dies möchte ich an dieser Stelle noch einmal betonen, genügt es nicht, vom Sinnbild zu sprechen. Ich denke, dass die Fotografie wie die Kunst des Zeichnens auch Medien des Denkens sind. Ist das eine Aussage, die Sie für sich in Anspruch nehmen würden? Ja. Und zweitens natürlich, das finde ich auch wichtig, und Sie haben es mehrfach angesprochen, da ist die Materialwahl der Technik: Leonardo da Vinci hat den Stift benutzt. Es ist eine Zeichnung. Ich habe wesentlich gefunden, wie Sie gesagt haben, dass etwas sich ihm über das Zeichnen zeigte, über das Material und die Handlung. Ich bin fast sicher, das ist das Entscheidende. So verstehe ich meine Bildfindung in der analogen Fotografie. Ich habe ein Papier, und darauf ist Silber, Silberbromid. Diese Materialien zeigen mir ergänzend zu dem, was angesichts der Natur beschreibbar und sichtbar ist, zusätzliche Möglichkeiten auf. Das ist für mich Fotografie. Ich arbeite nach der Beobachtung der Landschaft und deren Aufzeichnung mit der Kamera auf einen Film und in Folge weiter auf dem fotografischen Papier mit dem Silber und seinen spezifischen Potenzialen. Diese Facetten zeigen mir neue Möglichkeiten der Wahrnehmung einer Realität, die nur über dieses Material sichtbar werden. Hier sehe ich auch wieder eine Verbindung zu Ihrem Eingangsstatement über die Ambivalenz einer Metapher. Ich bin da Ihrer Meinung: Die Kunstgeschichte und auch die Kunstkritik sind in diesem Punkt sicher anfällig. Dabei werden in der Tat Dinge totgeschlagen und über lange Zeit Vorurteile gepflegt, weil sie dann in jeder Schublade greifbar sind. HANS DANUSER :
Genau das meine ich. Außerdem thematisieren Sie mit Ihren Arbeiten das genaue Hinsehen, das nicht zu schnell durch eine erklärende Bezeichnung abgebrochen werden sollte. Das sollte uns über das spezifische Beispiel hinaus zur Frage nach dem Verhältnis der Künste zueinander führen, mit dem Sie als künstlerischer Fotograf und Schriftbildner zu tun haben. Auch für diesen Aspekt ist Leonardo da Vinci ein aufschlussreicher Fall. Leonardo ging es in seiner Zeit darum, die Malerei als eine freie Kunst und Wissenschaft zu etablieren. Geht man über den komplexen und vielleicht auch strategischen Zusammenhang von Kunst und Wissenschaft in Leonardos Werk hinweg, um die Zeichnungen mit einem biblischen Gehalt auszustatten, dann kann die Funktion des Zeichnens an sich nicht erfasst werden. Es scheint so, dass Leonardo das Zeichnen selbst als ein wissenschaftliches Medium verstehen wollte, als eines, das im Denkprozess selbst eine Rolle spielt. Nimmt man das ernst, so wird nicht nur der verbildlichte Prozess der Erdentstehung, sondern auch der Prozess der Verbildlichung selbst interessant. Für mich ist diese Frage mit Blick auf die Fotografie so wichtig, weil das Diskursive der Fotografie seit ihrer Erfindung immer wieder zurückzukommen scheint auf BET TINA GOCKEL:
ATELIERGESPRÄCH
das Paradigma der Abbildung. Notwendigerweise wird so die Aufmerksamkeit für die Materialien und Prozesse des fotografischen Bildes getrübt. Mir kommt die Beanspruchung des Abbildungscharakters der Fotografie wie Geröll vor, das in der gesamten Geschichte der Fotografie mitgeführt wird. HANS DANUSER :
Es ist Zeit wegzuräumen!
Ja. Und entscheidend für dieses Wegräumen bzw. diese Neupositionierung ist die eben von uns angesprochene Perspektive, dass Fotografie als ein Medium des Denkens fungieren kann.
BET TINA GOCKEL:
Da sind wir als weiterem Faktor für diesen Denkprozess auch wieder bei dem Material und bei den Farben. Es ist Kreide, die wie Bleistift erscheint, mit der Leonardo arbeitet. Es ist also, wie ich frei assoziieren möchte, das Graphit, und das Graphit findet eine Analogie in der Fotografie. Da bewegen wir uns immer näher in einen deckungsgleichen Wahrnehmungsmoment … HANS DANUSER :
… und auf einen Moment der Abstraktion zu. In der Praxis der Zeichnung könnte man sagen: Das Denken ist in dieser Abstraktion im Bild, es findet dort statt. Vielleicht könnte man das auch über Ihre Erosionsfotografien sagen, womit wir den Prozess Ihrer Arbeit am Bild noch einmal anders fassen. BET TINA GOCKEL:
HANS DANUSER : Mich interessiert in diesem Kontext die Rolle der Sprache, die die Bedeutungszusammenhänge im Werk immer wieder fixiert.
Was ich – um noch einmal an mein obiges Beispiel anzuknüpfen – mit dem Verweis auf Perrigs Leonardo-Forschungen betonen wollte, ist, dass Sprache Kunst ebenso verdecken wie sichtbar machen kann. Sprache, wie sie in dem Seminar „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ als Sprechen und Schreiben über Kunst thematisiert wird, kann auch blind machen für wesentliche Aspekte eines Werks. Deshalb ist Perrigs Text, gleichgültig, ob man jetzt einer möglichen Wahlverwandtschaft der Landschaften Hans Danusers und Leonardo da Vincis weiter nachgehen will oder nicht, für diese universitäre Unternehmung meiner Ansicht nach wichtig. Seine ausgeklügelte, sehr nah am Bild arbeitende Sprache als Beschreibung des Werks ist für ihn ein Erkenntnisinstrument. Es ist nicht so, dass Beschreibung einfach nur zeigt, was man sieht; allein schon die komplexe Geschichte der Ekphrasis macht das deutlich.11 Perrigs Text kann für die genaue und um Erkenntnis über das Werk ringende Beschreibung so etwas wie ein Initiationstext sein, besonders auch für Werke der Gegenwartskunst, die in ihrer Absenz zum Beispiel der klassischen Perspektive oder auch in der Art, wie sie sich einer schnellen Entschlüsselung entziehen, gerade dieses Höchstmaß präziser Beschreibung erfordern. Diese sind dann in ein erhellendes, kritisches
BET TINA GOCKEL:
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I HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
Verhältnis zu übergeordneten Begriffen wie Abstraktion zu setzen. Das scheint mir im Hinblick auf Ihr Werk so wichtig, weil Sie bei einer unserer ersten Begegnungen gleich klarstellten, dass das, was Sie machen, keine „abstrakte Kunst“ sei. HANS DANUSER : Auch der Künstler ist da manchmal Täter. Er kann solche „Nebelschwaden der Sprache“ – eine ganz wunderschöne Metapher – natürlich auch selbst zur Inszenierung seiner Kunst einsetzen.
Ich denke, dass wir mit dieser Betrachtung über Sprache jetzt auch an einen Punkt gekommen sind, an dem wir das bislang Gesagte noch einmal resümieren können. Aus meiner Sicht ist es interessant, dass Sie in Ihren Fotografien die Zentralperspektive und die Eindeutigkeit von Oben und Unten ganz ähnlich auflösen wie Leonardo in seinen Zeichnungen. Beide Werke sind Medien, um Prozesse der Umwandlung von Materialien, der Erde, der Luft, des Lichts zu erkunden. Für das Bildthema der Erd- und Landschaftsdarstellung sind beide Serien eine Revolution in der Landschaftskunst. Auch wenn Oben und Unten nicht definiert sind, erlauben die unendlich variiert erscheinenden Farbtöne (und als Farben seien hier auch Schwarz, Weiß und Grau angesprochen, als unbunte Farben) und Formen, Wirbel, Hügel, Täler und Flüsse zu imaginieren, Felsformationen, Oberflächen, die sich bei der Suche des Betrachters nach einem Bildmotiv durchaus zusammenfügen. Wenn man andererseits sagen kann, dass Betrachter heute in eine Landschaft schauen und unweigerlich ikonografische Motive wiederzuerkennen meinen, dann wird das in Ihrem Werk wie auch in dem von Leonardo umgekehrt. Der Betrachter schaut vielmehr auf die Zeichnungen und die Fotografien, als würde er in eine sich permanent verändernde Natur sehen, die sich eigentlich nicht abbilden und mit einem festen Begriff fassen lässt. Deutlicher hätten der Renaissancekünstler, der eine Autonomisierung und Nobilitierung seiner künstlerischen Arbeit anstrebte, und der Fotograf nicht darauf hinweisen können, dass Bilder keine Abbilder sind. Diese analogen Formen einer Autonomisierung von Kunst lenken den Blick auch weiterführend und über die einzelnen Bildebenen hinaus auf die Frage der freien Künste. Ich würde vorschlagen, dass wir nun darüber sprechen sollten, was uns dann auch unweigerlich auf den Status der Fotografie in den von Ihnen als Umbruchzeit – als „Neuerfindung“ – beschriebenen 1970er- und 1980er-Jahren bringen wird. Was meinen Sie damit?
BET TINA GOCKEL:
FREIE KUNST UND FREIE FOTOGRAFIE. ZEITENSPRÜNGE Um vertiefend über den Status des freien Künstlers bzw. der freien Kunst zu sprechen, machen wir vielleicht doch noch einmal den Umweg über das 15. Jahrhundert, wo sich die Malerei erneuert hat? Wie war das zu Leonardo da Vincis Zeit? Wie hat die Renaissance über Bilder gesprochen? Gab es so etwas wie einen Salon – und wurde dort diskutiert über die Bilder? HANS DANUSER :
ATELIERGESPRÄCH
Selbstverständlich wurde über Kunst diskutiert, es gab Gelehrte, Philosophen. Es gab, wenn wir an Vasari denken, auch das Schreiben über Kunst und Künstler. Mit Vasaris Viten setzt das ein, worüber wir hinsichtlich der Legendenbildung des Künstlers schon gesprochen haben. Der Aufstieg der bildenden Kunst an den Höfen der Renaissance gehört zum Kontext der kunsttheoretischen Debatte über die Stellung der Kunst im 15. und 16. Jahrhundert. Leonardo hat sicher eine zentrale Position in der Aufwertung der Malerei als freier Kunst eingenommen. Seine Kriterien, die er in seiner Reflexion über eine Überlegenheit der Malerei gegenüber der Bildhauerei schärft – ingegno, difficultà, perfezione –, werden später durch eine Differenzierung des Ursprungs der bildenden Kunst abgelöst. Disegno, also die Zeichnung, wird als disegno interno und als disegno esterno gleichsam aufgeteilt, sodass die Nobilitierung der Kunst durch die Idee, nicht durch die praktische Umsetzung erfolgt.12 So entfernt sich die theoretische Auffassung der Kunst von dem Grundproblem, dass die Malerei wie die Bildhauerei als Handwerk eigentlich keinen Ort im Reigen der Artes liberales haben, den sie aber beanspruchen. Alle großen Namen der Kunsttheorie der Renaissance und Hochrenaissance, von Cennini über Alberti bis Lomazzo, sind mit diesem, wie wir heute sagen würden, Diskurs beschäftigt.
BET TINA GOCKEL:
War die Renaissance also die erste Kunstepoche, in der die freie Kunst explizit ausformuliert wurde? Kann man das so sagen?
HANS DANUSER :
Diese Frage gehört letztlich zu einer großen Debatte, der sich Peter Cornelius Claussen gewidmet hat.13 Zu seinen zentralen Überlegungen gehört zum Beispiel, ob es das Künstlerindividuum bzw. ein Selbstbewusstsein und ein Selbstverständnis von Künstlern schon im Mittelalter gegeben hat. Er vertritt die These, dass man dies auch für das Mittelalter konstatieren kann, während in der Kunstwissenschaft lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass sich Formen künstlerischen Selbstbewusstseins in der Antike und dann erst wieder in der Renaissance nachweisen lassen.
BET TINA GOCKEL:
HANS DANUSER :
Wie verläuft da die Spurensuche?
Entlang der Geschichte der Künstlersignatur. Das würde ich jetzt gerne auch noch mit einem Blick auf die Fotografiegeschichte fragen: Signatur, ist das überhaupt jemals eine Option gewesen? Welche Rolle spielt sie in der Fotografie? BET TINA GOCKEL:
Keine. Die Datierung, die Verortung und die Ordnung waren wichtiger. Die Erfinder der Fotografie verstanden sich als Wissenschafter, als Naturwissenschafter. Ihre Motivwahl zeigt dies sehr schön. Sie fotografierten das ihnen Naheliegendste: den Blick aus dem Fenster ihres Labors oder vom eigenen Garten aufs Nachbarhaus, ihr Mädchen vielleicht noch. Was zeigt, dass es ihnen primär HANS DANUSER :
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I HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
einmal darum ging, überhaupt ein Bild mit Licht herzustellen und dann auch die Natur besser kennenzulernen: Makroaufnahmen von Blättern, Eiskristallen und dann schon hohe Kür wie Schneeflocken etc. Die ersten Fotografien repräsentieren das Auge und die Wissenslust der damaligen Naturwissenschaft. BET TINA GOCKEL:
Also keine Signatur?14
Da die Fotografie sich zunächst nicht als Kunst verstand, war die Signatur nicht wichtig. Heute ist es anders, meist ist die Signatur rückseitig angebracht. Im Gestus der Malerei kenne ich keine Beispiele. Beim Aufkommen der großen Fotografieateliers um die Jahrhundertwende des 19. Jahrhunderts setzten sich Prägestempel durch; auch als Werbeträger. Diese wurden dann durch Copyrightstempel ersetzt. Man darf nicht vergessen, bis in die 1970er-Jahre waren der Verdienst und der Gewinn des Fotografierens nicht das „Original“, sondern dessen Publikation, dessen Reproduktion in einem Druckerzeugnis.15 HANS DANUSER :
BET TINA GOCKEL: Da würde ich gern noch vertiefend einhaken wollen. Es geht um das Original, und es geht um Dauerhaftigkeit. Wie verhalten sich diese Werte im Bezug auf Ihre Werke, vor allem bezogen auf die Materialität und auch den Werkprozess? Wie wichtig ist der Aspekt der Veränderung im Material für Ihre Arbeit?
Natürlich verändern sie sich mit der Zeit, aber dies ist nicht ein zentrales Thema meiner Bildfindung. In meiner Arbeit ist es mir wichtig, dass es Material ist, und ein Material kann alt werden. In der Alterung ist es einem Prozess unterworfen. Die Fotografie verändert sich; aber sie verschwindet nicht. Darum sind die Erosionszyklen, über die wir gesprochen haben, mit analoger Fotografie hergestellt. In der digitalen Fotografie kann das Bild ganz verschwinden. Hat das eine Bedeutung in der Rezeption und für Sie?
HANS DANUSER :
Ja, es hat natürlich eine große Bedeutung. Also erst einmal ist generell für Werke der Kunst festzuhalten: Jedes Werk verändert sich.
BET TINA GOCKEL:
HANS DANUSER :
Ja. Auch das der Malerei, der Skulptur …
Und es trägt Spuren der Zeit. Häufig wird dabei überhaupt nicht mitgedacht, dass die fulminanten Aktivitäten der Restaurierung im 19. Jahrhundert enorm viele Gemälde, die wir heute sehen, der Renaissance, des Barock, verändert haben. Oder dass ein Firnis ein Bild vollkommen verändern kann, sodass wir heute gar nicht mehr sehen können, wie dasselbe Bild zu der Zeit seiner Entstehung ausgesehen hat. Aber der Zerfallsprozess ist nicht so stark. Man wirkt ihm natürlich auch insofern entgegen, als man neben der Restaurierung der Werke selbst große Digitalisierungs- und Scanprojekte durchführt. Hier begegnet mir dann BET TINA GOCKEL:
ATELIERGESPRÄCH
andererseits sehr häufig das Problem, dass man in der Forschung zum Teil überhaupt nicht mehr die Originale sehen darf, damit sie nicht dem Licht ausgesetzt werden. Man muss sich mit den digitalen Aufnahmen begnügen, was natürlich, wie wir alle wissen, insofern problematisch ist, als sich digitale Aufnahmen manipulieren lassen, etwa in Einstellungen zu Farbkontrasten und Ähnlichem. Also ich glaube, man kann auch über Fotografie gar nicht arbeiten, wenn man die Originale nicht sieht. Aber wir gehen eben auch hier in diese Richtung, dass viele von den archivierten Fotografien einfach nur noch digital zugänglich sind. Da bin ich absolut Ihrer Meinung. Auch meine Arbeit kann sich über die Reproduktion dem Betrachter nicht erschließen; aber ich denke, es darf ja auch etwas verschwinden, vielleicht. Es ist eine Frage des jeweiligen Zeithorizonts. So lange, wie wir jetzt hier sitzen und über das Bild reden, möchte ich es sehen. Natürlich ist es grundlegend, dass wir etwa das Zeichnungskonvolut von Leonardo da Vinci noch greifbar und sichtbar haben, damit jede Generation vom ,Original‘ ausgehend ihre Sicht formulieren kann. Eine eigene Seherfahrung vor dem ,Original‘ ist essenziell.
HANS DANUSER :
Kommen wir doch an dieser Stelle, auch mit Blick auf die seit den 1970er-Jahren betriebene Aufwertung des Originals in der Fotografie, noch einmal vertiefend zu dem Moment, den Sie als Neuerfindung der Fotografie beschreiben. Paradigmatische Auseinandersetzungen gehen ja oftmals, wie auch bei Leonardo und seinen Zeitgenossen und Nachfolgern, mit Begriffsbildung einher, die dem neuen Wertesystem oder Kanon zum Durchbruch und Ausdruck verhelfen sollte. Ist Ihre Erfahrung der 1970er- und 1980er-Jahre mit einer ähnlichen Situation verknüpft? BET TINA GOCKEL:
Ihre Frage ist sehr spannend. Denn ist das nicht der Schritt, den die Fotografie in den 1970er- bis 1980er-Jahren vollzogen hat? Wir haben in dieser Zeit in Zürich den Begriff der ,freien Fotografie‘ eingeführt. ,Freie Fotografie‘ und eben nicht ,Kunstfotografie‘, wie in den USA, im damals schon etablierten Galerienmarkt mit Fotografien der Geschichte und als Abgrenzung zur angewandten Auftragsfotografie wie der Reportagefotografie, der Werbung u. a. In meinem Seminar „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ gehen wir auf den Begriff der ,freien Fotografie‘ in einer Reflexion der 1980er-Jahre ein. So auch zu den Ausstellungen „Fotografien III“ im Strauhof Zürich, 1982/1983, und „Wichtige Bilder“, 1990, im Museum für Gestaltung in Zürich. HANS DANUSER :
Könnte man von dieser ‚Neuerfindung der Fotografie‘ sagen, dass dem Wert des Freien gegenüber dem Wert des Bildenden eine größere Bedeutung zugesprochen wurde? Vergleichbare Tendenzen ließen sich bei früheren künstlerischen Autonomisierungsbestrebungen beschreiben. BET TINA GOCKEL:
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I HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
Das trifft den Kern der selbst erlebten 1980er-Jahre, dass das Freie essenzieller ist als das Bildende. Die Nobilitierung, wie Sie es bei Leonardo da Vinci erwähnen, war dann der logisch einsetzende Einbindungsprozess der freien Fotografie in die Kunst. Unser am Anfang des Gesprächs angekündigter „gewagter Sprung ins frühe 16. Jahrhundert“ hat uns nun mitten in der Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren des 20. Jahrhunderts landen lassen. Diese formulierte sich auch aus einer Kampfsituation. Die Ausgrenzung der Fotografie und der Kult der Malerei. Aus heutiger Sicht ist es fast undenkbar, dass sich das alles, diese ‚Neuerfindung der Fotografie‘, im Schatten einer kurzen Hochblüte der Malerei formuliert hat. HANS DANUSER :
ANMERKUNGEN
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„Die Oberflächen sind niemals stabil. Hans Danuser und Hartmut Böhme im Gespräch“, in Thomas Macho und Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes (München: Fink, 2007), 427–461. Vgl. u. a.: Kenneth Clark, A Catalogue of the Drawings of Leonardo da Vinci in the Collection of His Majesty the King at Windsor Castle (London: Phaidon, 1935); Kenneth Clark, The Drawings of Leonardo da Vinci in the Collection of Her Majesty the Queen at Windsor Castle, 2. Aufl., bearbeitet unter Mitarbeit von Carlo Pedretti, 3 Bde. (London: Phaidon, 1968/1969); Joseph Gantner, Leonardos Visionen von der Sintflut und vom Untergang der Welt. Geschichte einer künstlerischen Idee (Bern: Francke, 1958); Carlo Pedretti (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur und Landschaft, Naturstudien aus der Königlichen Bibliothek in Windsor Castle, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle, Hamburg (Stuttgart: Belser, 1983); Frank Fehrenbach, Licht und Wasser. Zur Dynamik naturphilo sophischer Leitbilder im Werk Leonardo da Vincis, Tübinger Studien zur Archäologie und Kunstgeschichte 16 (Tübingen: Wasmuth, 1997); Frank Fehrenbach, „Leonardos Vermächtnis? Kenneth Clark und die Deutungsgeschichte der ‚Sintflutzeichnungen‘“, in Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 28 (2001), 7–51.
3
Vgl. Frank Fehrenbach (Hg.), Leonardo da Vinci. Natur im Übergang. Beiträge zu Wis senschaft, Kunst und Technik, Bild und Text (München: Fink, 2002). 4 Alexander Perrig, „Leonardo. Die Anatomie der Erde“, in Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 25 (1980), 51–80; zugleich Supplement des Hamburger Ausstellungskatalogs (siehe Anm. 2), 3–[32], woraus im Folgenden zitiert wird. 5 So schreibt Fehrenbach über die ihrerseits „höchst problematische Deutung“, die Perrig vorlegt: „Perrigs Polemik ist jedoch verständlich angesichts einer eindrucksvollen Deutungskontinuität, die von Apokalypse und Künstlerpsychologie nicht lassen will.“ Vgl. Fehrenbach, „Leonardos Vermächtnis?“ (siehe Anm. 2), 8. 6 Vgl. u. a. Frank Zöllner, „,Hintergründe‘: Ein Versuch über Leonardos ,Landschaften‘“, in Sprachen der Kunst. Fest schrift für Klaus Güthlein zum 65. Geburts tag, hg. von Lorenz Dittmann, Christoph Wagner und Dethard von Winterfeld (Worms: Wernersche Verlagsgesellschaft, 2007), 37–46; Frank Zöllner, Leonardo da Vinci 1451–1519. Sämtliche Gemälde und Zeichnungen (Köln: Taschen, 2003); Fehrenbach, Leonardo da Vinci. Natur im Übergang (siehe Anm. 3). 7 Vgl. zur Deutungsgeschichte der Bilder Fehrenbach, „Leonardos Vermächtnis?“ (siehe Anm. 2).
ATELIERGESPRÄCH
8 Vgl. Perrig, „Supplement des Hamburger Ausstellungskatalogs“ (siehe Anm. 4), 10. Panofsky hat im amerikanischen Exil dazu 1953 einen lesenswerten Text verfasst, der die Unschärfen der deutschen Sprache als Ursachenpotenzial jener von Perrig gegeißelten inhaltlich-analytischen Nebulösität ausmacht. Vgl. YveAlain Bois, Painting as Model (Cambridge, MA: MIT Press, 1990), xxviii–xxix; Erwin Panofsky, „The History of Art“, in Franz L. Neumann et al. (Hg.), The Cultural Migration. The European Scholar in America, mit einer Einleitung von W. Rex Crawford, The Benjamin Franklin Lectures 5 (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 1953), 82–111. 9 Zit. nach Perrig, „Supplement des Hamburger Ausstellungskatalogs“ (siehe Anm. 4), 10. 10 Martin Kemp, Leonardo, übers. v. Nikolaus G. Schneider (München: Beck, 2008 [Oxford: University Press, 2004]), 160. 11 Vgl. u. a. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer (Hg.), Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, Bild und Text (München: Fink, 1995). Vgl. jüngst vor allem Dieter Mersch, „Kritik der Kunstphilosophie. Kleine Epistemologie künstlerischer Praxis“, in Violetta L. Weibel und Konrad Paul Liessmann (Hg.), Es gibt Kunstwerke. Wie sind sie möglich? (München: Fink, 2014), 55–82. 12 Vgl. Wolfgang Kemp, „Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“, in Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), 219–240. 13 Vgl. Peter Cornelius Claussen, „Früher Künstlerstolz. Mittelalterliche Signaturen als Quelle der Kunstsoziologie“, in Karl Clausberg et al. (Hg.), Bauwerk und Bildwerk im Hochmittelalter. Anschauliche Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte, Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins 11 (Gießen: Anabas, 1981), 7–34; Peter Cornelius Claussen, „Kathedralgotik und Anonymität 1130–
CREDITS/ BILDNACHWEISE
1250“, in Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 46/47, Beiträge zur mittelalterlichen Kunst – Gerhard Schmidt zum 70. Geburtstag (1993/1994), 141–160. 14 Vgl. hier etwa das Themenheft „Die Rückseite der Fotografie“, Fotogeschichte 23, Nr. 87 (2003). Vgl. auch Jacques Derrida, „Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur. Im Gespräch mit Hubertus von Amelunxen und Michael Wetzel“, in Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. 4 (München: Schirmer/ Mosel, 2000), 280–296; Hubertus Butin, „Die Crux mit der Signatur. Der Namenszug in der modernen und zeitgenössischen Kunst zwischen Affirmation und Dekonstruktion“, in Nicole Hegener (Hg.), Künstlersignaturen von der Antike bis zur Gegenwart (Petersberg: Imhof, 2013), 392–405. 15 Nachträglich merkte Hans Danuser hierzu noch an: „Wunderschön zeigte sich dies in der Ausstellung zur Fotografie von Steichen, die kürzlich im Kunsthaus Zürich zu sehen war. Die ausgestellten Prints von Steichen waren sehr schlecht erhalten. Er hat sie nur in der Haltbarkeit einer Druckvorlage hergestellt. So ist auch der Druck heute die Referenz. Da aber alle heute scharf sind auf ,Originale‘, kommen diese auf den Markt und in ein Kunsthaus. Manchmal wurden von einzelnen Fotografen hervorragende Prints gemacht, auch von Steichen natürlich, mehr aber für einen Freundeskreis und ohne finanzielle Absicht. Der Markt fürs ,Original‘, das kam später.“ Vgl. William A. Ewing und Todd Brandow (Hg.), Edward Steichen. In High Fashion. Seine Jahre bei Condé Nast 1923–1937, Ausstellungskatalog, Jeu de Paume, Paris; Kunsthaus Zürich; Chiostri di San Domenico, Reggio Emilia; Museo del Traje, Madrid; Kunstmuseum Wolfsburg; International Center of Photography, New York; Williams College of Art, Williamstown; Art Gallery of Ontario, Toronto (Ostfildern: Hatje Cantz, 2007).
© 2014 der Werke von Hans Danuser: Hans Danuser; 1, 12: Foto: Christian Schwager; 6–11: The Royal Collection Trust/© HM Queen Elizabeth II 2014.
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ZEITBILD NEW YORK Hans Danuser und Brigitta Nideröst, BLUE RIDER AND THE BANNED, 3-teilig, und SPRAY CAN IN ACTION, aus STANCEL FICTION, 1984, 58 Fotografien mittels Color Xerox nach Diapositiv/Analog auf das Format 21 × 29,6 cm oder 29,6 × 21 cm. Aufgenommen in Soho und Alphabeth City/Lower East Side in Manhattan, New York 1984.
HANS DANUSER UND RETO HÄNNY ATELIERGESPRÄCH
Reto Hänny und Hans Danuser im Ateliergespräch während der Seminarsitzung vom 3. April 2009, Foto: Julieta Schildknecht.
Das Ateliergespräch von Hans Danuser und Reto Hänny beschäftigt sich mit ästhetischen Wechselbeziehungen von Fotografie und Literatur. Ausgangs- und Schwerpunkt der gemeinsamen Betrachtungen sind verschiedene Momente der jahrelangen künstlerischen Begegnung und Zusammenarbeit der beiden Gesprächspartner. Ein zentraler Aspekt sind die Sprachbilder in Hännys Werk Helldunkel, die ihrerseits Danusers fotografische Serien reflektieren. Die Perspektive richtet sich unter anderem auf die Möglichkeiten und Grenzerfahrungen des medialen Austauschs, auf die unterschiedlichen Formen literarischer und fotografischer Schaffensprozesse sowie auf die Bedeutung des sprachlichen Klangmaterials in den Arbeiten von Reto Hänny. Am Beginn und am Ende des Gesprächs erfolgt jeweils eine Lesung von teils überarbeiteten Passagen aus Helldunkel.
Unser Gast beim zweiten Ateliergespräch im Rahmen des Seminars „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ ist der Schriftsteller Reto Hänny. Mit ihm betrachten wir den Transfer des Bildes in das Wort; was geschieht, wenn ein Bild Raum in der Sprache, in der Literatur findet. Reto Hänny, geboren 1947, wuchs in Graubünden auf und arbeitet seit Jahren in Zürich sowie zeitweilig in Berlin und Paris. Seine Bücher erscheinen seit 1979 im Suhrkamp Verlag, überspitzt wage ich zu sagen, dort sei seine Heimat. Die intime Ateliersituation soll unserem Diskurs die Weite einräumen, auch überraschende Pfade einzuschlagen. Zu Beginn tauchen wir mit einer Lesung ein in Hännys Sprachbilder. Anschließend führen wir unser Gespräch, und zum Schluss gibt es nochmals eine Lesung. HANS DANUSER :
Ob der Verlag meine Heimat sei, ist zu bezweifeln; da aber der Verleger Siegfried Unseld von Helldunkel so sehr angetan war, dass ich weitestgehende Freiheiten bei der Gestaltung hatte, gelang es damals immerhin – was heute kaum mehr möglich wäre –, das Buch, dessen Typografie ich verlagsextern mit dem Buchgestalter und Designer Lars Müller entwickelte, meinen Vorstellungen entsprechend bei Suhrkamp zu verlegen. Helldunkel, kurz gesagt, besteht aus drei Teilen, und jedem der drei Teile oder Sätze ist ein architektonisches Modell zugeordnet, dem ersten der Zylinder; dem zweiten das Labyrinth, perspektivisch gesehen, d. h. so, wie es ein ,Reisender‘ erlebt, auf der Suche nach Zentrum und Ausweg sich darin verlierend; dem dritten Teil erneut das Labyrinth, aber diesmal in der Aufsicht, d. h. mit dem Blick aus der Flugperspektive von Daidalos und Ikaros auf das, was davon übrig geblieben ist: erodierte, verheerte Landschaft. Die Passagen meiner Kurzlesung stammen aus dem dritten Teil, wobei ich den Text für den Anlass überarbeitete. Ausgehend von der Landschaft, sind sie als eine Art Flug über das Labyrinth zu verstehen. Nur so, aus der Vogelschau, ist der Ausweg aus dem Labyrinth zu erkennen …
RETO HÄNNY:
EROSIONEN Aus großer Höhe zukünftige Vergangenheit; Urlandschaften, Glacialschliff, mächtige Buckel, da und dort wie Eiterbeulen aufgeplatzt; daneben Becken und Wannen; vom Fluß modelliert darin Töpfe und Schratten: die Formen und Gesetze des Fließens. Als hätte das Wasser sich noch nicht recht entschieden, wohin es will, hier ein von zahllosen Prielen durchzogenes Wattgebiet, ein Mosaik von Mooren, von Quellfluren und Bächen, die träumend in trägen Windungen dahinmäandern; dort ein Gewirr von Ebenen und sich verzahnenden, flach geneigten Schwemmfächern. Früh im Lenz, wenn Schmelzwasser kalt vom grauen Berghang rieselt, wenn dem Tauwind mürb die Krume sich auftut, bröckelt hoch im Gebirge ein Stückchen Fels weg, von eisigen Wassern erfaßt und fortgerissen, als Teil der gewaltig angewachsenen Schuttfracht Tausende Kilometer weitergetragen, auf dem sich breit hinausfächernden Mündungsdelta an der Gezeitengrenze draußen ins Meer gekippt. Anderswo von einer küstenparallelen Strömung im Lee einer Landzunge abgelagertes Schwemmaterial, um das Marschgebiet ein Sandhaken, in welchen der Sturm einen Durchbruch gebahnt, eine Nehrung mit verlandender Lagune, und an einem in den Saum gerissenen Durchlaß fächerförmige Sandbänke; festes Land, so die Wasser eines Tages zurückgehen. Ein Raum des Kompromisses, des Kampfes, der ständigen Veränderung Im Sinkflug, ein Delta anpeilend, ließen sich kleinräumigere Landschaften unterscheiden, im Sucher – wiederum ein kleiner Ausschnitt daraus – von der Formation her einen Moment lang an die Bucht von Vasilitsi erinnernd, wo man einst, sich vor der Mittagssonne schützend, zusammen mit den Alten, wobei die Frauen zwischendurch, wenn die Kinder sich draußen in den Wellen tummelten, die Röcke raffend ein paar Schritte vom Ufer im glasklaren Meer kurz die Krampfadern kühlten, in der Höhle gedöst hatte, inmitten des Schwarms schwarzer Krähen, deren Gesichter und im Schoß verschränkten Hände mehr erzählen, als je einer in den Sand zu ritzen imstande sein wird, im Schatten wartend, bis das Sonntagsmahl, zu welchem die Dorfgemeinschaft einen geladen hatte, die von Jannis geschlachtete Ziege, deren markdurchdringend heiseres Schreien, als ihr, an den Hinterläufen eingefangen und kopfunter an eine Zypresse gehängt, bei Tagesanbruch die Kehle durchgeschnitten wurde, der Gast nicht mehr aus dem Ohr kriegen wird, am Spieß über dem Feuer gar war, vorn, an der Schattengrenze
jenes als Fortsetzung des kleinen Mündungsdeltas in der Sonne glühenden Sandhalbmonds, der hinten von der Steilküste gefaßt wird, über der am Hang das Dorf klebt und in der sich, entlang Störungszonen im Gestein, aus dem Fels geschwemmte Brandungshohlkehlen öffnen, bis die überhängenden Kliffteile eines Tages nachstürzen, sich am Fuß als Grobschutt sammelnd, vom Wellengang der Winterstürme allmählich zu Sand zerkleinert – wobei tiefer sinkend deutlich würde, das Dorf vorn auf dem kahlen Sporn ist verlassen, unbehaust nur mehr ein stummes Gewirr in der Augusthitze gebleichter Mauern, vor sich hinbröckelnd, im Winterregen in sich zusammenfallend, in den Abgrund kollernd Abstufungen von Grau; aus großer Höhe. Abstufungen vom Hellen zum Dunklen – es gibt nicht nur Farben, auch Töne, Schwarztöne, wie es, gleichfalls, eine Vielzahl von Weißtönen gibt: Schwarz, helles Schwarz, grauschwarz, dunkelschwarz, glänzendschwarz, seidenschwarz, samtschwarz, rauchschwarz, rußschwarz, pechkohlrabenbrandschwarz. Schwarzweiß, nur Schwarzweiß, sehen nur Tonblinde. Flysch etwa – dem Geologen Sedimente, die sich während der alpinen Faltung, zu Zeiten, als der Meeresboden sich in Teiltrögen vertiefte und die Erosion so stark war, daß Geröll und Grus bis in tiefste Tiefen der Tethyssee gelangten, aus dem Verwitterungsschutt der bereits den Meeresfluten entstiegenen Bergketten ablagerten, Schuttmengen, die im noch nicht verfestigten Sediment wiederum unterirdische Schlammströme bildeten –, Flysch ist den Bewohnern des Hinterlandes nichts als faules Gestein, verantwortlich, daß ihre Hänge, durch die Fließneigung gefördert, von Rutschen aufgerissen werden. Und wie mit dem Flysch ist’s mit dem Bündnerschiefer: Dreck. Obgleich der, dem sich die eintönigste Landschaft als Vielfalt präsentiert, der darin zu lesen versteht, zwischen den weichen, morschen Decken und Schieferzügen, jenen Teilen eines nach Osten abfallenden Dachs, einer von Nord nach Süd quer zum Gebirge laufenden Aufwölbung, deren Scheitel im zentralen Hinterland liegt, in welche Bäche und Flüsse tiefe Schluchten gesägt haben, Injektions- und Granitgneise, Feldspate und Quarze ausmachen könnte, dünnblättrige Phylliten mit Einlagerungen von Dolomit und Einschlüssen von Grauwacke – die ihrerseits wiederum Geröll noch älterer Grauwacken einschließen –, Glimmerschiefer und Grünschiefer, schwarze Kalke, Rauhwacken, dunkle Tonschiefer, mit Kristallin und blaugrauen bis schwarzen Mergeln verschuppt, hart an die Grate hinaufreichend, und darüber, als Schubschlitten auf der gegen Süden – und Osten – abfallenden Unterlage, mehrere in
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I HANS DANUSER UND BETTINA GOCKEL
sich gefaltete, nordwärts getriebene Schuppen Fremdgesteins, deren Überreste die Kämme und Gipfel aufbauten, mit ihren schroffen Formen, den brüsken Abstürzen, öden Schutthalden und den hellen Flecken dazwischen wie verwitterte Crèmeschnitten. Grau in grau. Abstufungen von Schwarztönen. Aus dem Orlogkobel Beim Aufstieg vom Paß, von dort an, wo die Furkel gegen Osten mit einem schiefergrauen, bröckelnden Hang in eine weite, von grobem Schutt gefüllte Mulde sinkt, an die sich, hinten zu dunkelgrünen Hügeln ansteigend, über denen ein Gebirgszug gleißende Sättel und Schneegipfel in den blauen Himmel hebt, rechts begrenzt vom weißgrau schimmernden, nackten Rücken der Karrenwüste und links zur Waldgrenze hin abfallend, eine mannigfaltig gestaffelte, hellgrüne Alpweide anschließt, während der Blick über den obersten Saum der dunklen Tannengipfel hinweg haltlos in gähnende Tiefe stürzt, um sich jenseits an steilen Waldhängen wieder aufzurichten, hinauf zu Wildheuerplanken und zu einer Kette von Weidebergen, die auf gleicher Höhe wie die Furkel falb in der leuchtenden Bläue stehen, so hat es der Reisende – falls diese Annahme wieder aufgenommen werden soll – jedenfalls gelesen, kreuze der Pfad, wie das Profil zeige, nacheinander Bündnerschiefer und Flysch, darüber, auf circa zweitausendsiebenhundert Metern über Meer, eine Schuppenzone, darauf helle Kalke, Sandsteine, dann Tonschiefer, Ölquarzit, am Südgrat grünliche Marmore und auf dem Gipfel wiederum Flysch Wenn aus dem Grau der Felsen und dem weichen Grün der Triften die Alpenrosen hervorbrechen, wenn tiefblau der Himmelsbogen sich in den Augen der Erde spiegelt und der Duft des Phlox, der einen in fern zurückliegende Zeit versetzt, als man Daumen lutschend mit seinen Zehen spielend in dessen Schatten gelegen, sommers beim Einnachten in den Gärten sein violettes Zelt baut, fühle ich einen Jubel in mir: hob nicht das Märchen so an Verheerte Landschaft; schwarzgraue Erosionswüsten Den Strand entlang, von Möwen begleitet, die am Himmel ineinanderverschlungene Schleifen beschreiben, bald auf gleicher Höhe nebeneinander kreisend, eine linksum, die andere rechts herum, bald in der leichten Brise die Bahnen sicher untereinander austauschend, so daß die Kurslinie eine vollendete Acht bildet, die ihnen ohne den geringsten
ATELIERGESPRÄCH
Schwingenschlag allein durch die Änderung ihrer Neigung gelingt, bei leicht zur Seite gedrehtem Kopf das eine Auge, rund und ausdruckslos, den lidlosen Fischaugen gleich, als hätte eine vollkommene Unempfindlichkeit es vor jeglichem Blinzeln bewahrt, nach unten gerichtet, das rhythmisch steigende und wieder sinkende Wasser überwachend, um niederstechend im nächsten Augenblick jäh auf die sanft ausrollenden Wellen zu klatschen, könnte man an einem Kind vorüberkommen, das an der Wasserkante eine Sandburg baut, ungerührt von den Wellen, der steigenden Flut, wenn im Vorbeigehen der Schatten es streift, versunken in sein Tun kaum aufschauend, oder wenn man stehenbleibend fragt, was es da gebaut, mit dem Finger lediglich stumm die verschlungenen Windungen nachzeichnend, die es um sein Werk gelegt hat Ein Stück Küste, eine Landzunge, von rechts oben diagonal nach unten sich ins Bild schiebend: ein Abbruch; davor auf schwarzem, sandigem Grund gröberer, quarziger Schwemmkies, ein auf dem Kopf stehendes T andeutend Schwemmland, Landschaftsverwerfungen, dazwischen Kunstbauten. Abstufungen von Grau. Auswaschungen. Karren und Grate, Schratten und Runsen. Schorfige, zerschrundete Kuppen, darin, tief eingefressen, die Rüfe, ihre sich spreizende, deltaförmig sich weitende Wunde, das in die Flanken gerissene tiefschwarze V. Wo geht es nach Norden, wo nach Süden? Als ob die Windrose noch gälte. Über allem Trittspuren, hart und weniger hart zeichnend, riesige, grobe Profilsohlenabdrücke. Schwarztöne. Die Spuren von Gulliver, der, allein seiner Größe wegen und ohne böse Absicht, wie ein tumber, ungeschlachter Tor einherstapfend, Gebautes zertrampte Jemand – niemand als das Kind, unter dem einen Arm einen zerbeulten Blechflieger, im andern einen havarierten Teddybären – könnte in einer leeren, ausgebrochenen Tür eines Abends einen Engel gesehen haben, die Flügel gespreizt ihm den Rücken zukehrend, zurückschauend auf den ihm vor die Füße geschleuderten Trümmerhaufen: Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen; aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann, heißt es im Märchen Die nächste Seite ist weiß
aus Helldunkel1, arrangiert nach S. 148–173 © Reto Hänny 2012 / Suhrkamp Verlag 1994
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BILDSPRACHEN UND SPRACHBILDER Vorlage zu dem eben gehörten Text sind meine Fotografien zur Landschaft sowie mein fotografischer Bildzyklus EROSION (2000–2006).2 Unsere eigentliche Zusammenarbeit begann, als ich Reto Hänny um einen Katalogbeitrag für die Ausstellung „Wildwechsel“ im Bündner Kunstmuseum 1994 bat. Ich kannte Retos Arbeitsweise und seine Prosa, denn wir trafen uns seit Mitte der 1970er-Jahre oft. Dieser Einblick in seinen Arbeitsprozess hatte mich damals bestärkt, ihn um einen Text zu bitten. Für mich war auch die Frage wichtig, wie und ob überhaupt man über Fotografie, über Bilder schreiben könne. Die Sprache der Kunstgeschichte und jene der Philosophie fanden damals keine adäquaten Worte für die neue Fotografie. Davon ging ich aus, als ich den Schriftsteller Hänny bat, einen Beitrag für die Publikation zum Manor-Kunstpreis zu verfassen. Was dachtest du, als ich dich fragte, nicht als Essayist, Philosoph oder Kunsthistoriker, sondern als – Spracharbeiter zu meinen Fotografien zu schreiben?
HANS DANUSER :
Gar nichts, sonst hätte ich den Auftrag kaum angenommen; ich hatte IN VIVO ursprünglich zwar in einer Zeitung besprechen wollen, aber es kam dann einiges dazwischen, nicht zuletzt im Herbst 1989 mein längerer Aufenthalt in Polen, wohin ich zu einer Lesereise eingeladen war, verbunden mit dem Auftrag, für die Zeitschrift Du eine Reportage über Warschau zu schreiben – die dann zu einem Buch über Polen und die Schweiz anwachsen sollte, mit dem ich 1992 nochmals in Polen unterwegs war.3 Als deine Anfrage kam, dachte ich spontan, ich könne das Verpasste mit dem Katalogbeitrag nachholen, ergänzt mit allem, was ich in der Rezension ohnehin nicht untergebracht hätte, merkte jedoch rasch, dass ich mich da auf etwas einließ, das nicht leicht zu realisieren sein würde; schlimmer: Als ich mich den 93 Fotografien, die du zu sieben Serien gegliedert ohne jeden Kommentar in dem streng durchkomponierten Band vereint hattest und die ich eigentlich zu kennen glaubte, im Hinblick auf das Katalogprojekt konkret stellte, wurde mir klar: Ohne kunstwissenschaftlichen Halt – und von mir ist ja, wie du sagtest, ausdrücklich ein literarischer Text verlangt worden – ist dem, was mich in und mit diesen Bildwelten überfällt, schwer etwas entgegenzusetzen. Da gewisse Bilder mich an Gelesenes erinnerten, Sätze oder Satzfragmente wachriefen, machte ich, um nicht zu kapitulieren, nach diversen Anläufen, die alle in Sackgassen endeten, in der Not dasselbe, was der Fotograf im Alltag tut: Ich sah mich um in meinem literarischen Handgepäck und wurde so in gewisser Weise erst einmal selber zum Fotografen, indem ich (ähnlich, wie ein Fotograf den Ausschnitt wählt) diesen Fremdtexten die kleinen Exzerpte entnahm, auf die mich deine Bilder verwiesen hatten, Textpartikel aus Werken und von Autoren, die sich, wie unterschiedlich auch immer, intensiv mit dem Bild auseinandersetzten, die, wenn man so will, Bilder setzten. Sätze etwa von Samuel Beckett für Bilder aus der ersten Serie. Ein anderes Beispiel: Das neunte Foto aus der Serie Medizin I, eine AufRETO HÄNNY:
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nahme aus der Pathologie, von dir auf dem Beiblatt zu IN VIVO mit „Tisch“ betitelt, zeigt auf einem Seziertisch, gleichsam als Backslash in den Bildraum gestellt dem Blick preisgegeben, ein Bein, dessen Haut und Fettgewebe an der Rückseite des Oberschenkels von der Kniekehle an aufwärts durchtrennt und wie die Seiten eines Buches, einer wertvollen Inkunabel, ausgeklappt sind; dieses Bild evozierte mir ein Zitat aus dem I Ging, das Motto zum 43. Ideogramm, überschrieben mit Kuâi: „An den Oberschenkeln ist keine Haut, und das Gehen fällt schwer“ (im altchinesischen Orakelbuch wird der Satz ergänzt durch zwei weitere Verse: „Ließe man sich führen wie ein Schaf, so würde die Reue schwinden. / Wenn man aber diese Worte hört, so wird man sie nicht glauben.“).4 Da es sich bei deinen Fotos aus IN VIVO nicht um Einzelbilder handelt, sondern um Bildserien, plante ich zunächst, eine Art Stummfilm aus Bild und Text zu schaffen: eine stark verkleinerte Bildfolge, und gleichsam als Schwarztitel dazwischengeschoben meine Textfragmente. Sobald man zwei Sachen nebeneinanderstellt, beeinflussen sie sich, ergibt sich daraus eine Verbindung. Als Beispiel das Gesicht der Mutter, das Sergei Eisenstein im Panzerkreuzer Potemkin in der berühmten Treppensequenz als Großaufnahme mehrfach und in immer kürzerem Abstand zwischen die Reihen der von oben her die Treppe hinab alles niederstampfenden Soldateska schneidet: Obwohl stets das gleiche Bild, nehmen wir den Gesichtsausdruck als immer schmerzverzerrter wahr. In dem Moment begann meine Spracharbeit, weil nämlich die Zitate, die sowohl untereinander wie kombiniert mit den Bildern in einen Diskurs traten, um zu ,funktionieren‘, nach Modifikation verlangten, angefangen bei grammatikalisch nötigen Angleichungen, kurz: Ich fing an, die ,Stummfilmtitel‘, das aus dem Zusammenhang isolierte Fremdmaterial, weiterzuentwickeln, unterzog sie in meiner Sprach-Dunkelkammer – die „helle Kammer“ nennt sie Roland Barthes5 – einem Prozess, dessen Ausgang offen blieb, in der Einsicht aber, dass es mir unter Zuhilfenahme von Fremdmaterial und mit dessen Montage gelingen könnte, der Irritation, dem Schock, den ich angesichts der Fremdheit der Bilder empfand (gerade weil noch die radikalsten von deinen Bildern das Gegenteil von Schockbildern im abgegriffenen Sinne sind, vermögen sie mich zu schockieren), etwas entgegenhalten zu können. Daraus wuchs ein Text, der vom Umfang wie von der Materialfülle her bald weit über das hinausging, was als Nachwort geplant war; der Text, was mir selten passiert, explodierte buchstäblich, und es galt in jenem Sommer nur noch, aus dem vorhandenen, aber noch unfertigen Material die für das Katalogbuch Wildwechsel geeigneten Passagen auszuwählen und für die Publikation daran zu feilen und den Rest vorerst beiseitezulegen.
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Der Katalogbeitrag war dir somit eine Hilfe. Du kamst nicht darum herum, einen in sich geschlossenen Text aus dem umfangreichen Material zu verfassen, der mehr als eine Zitatensammlung sein musste. HANS DANUSER :
Zum Glück. Denn die Idee mit dem Stummfilm-Modell führte nicht allzu weit, da mir die Zitate bald ausgingen. Weil ich bei der Bildlektüre merkte, dass ich diesen Bildern nicht gerecht werde, wenn ich ihnen als Autor oder Logotechniker einfach nur nachreiche, was der Fotograf oder Lichtschreibkünstler Hans Danuser – der IN VIVO zwar das erwähnte Blatt mit den Bildtiteln beilegte, die mir jedoch kaum weiterhelfen – bewusst ausspart: die Bildlegenden. Um das, womit mich die Bilder konfrontieren, zu entschärfen, wie das bei der Zeitungslektüre geschieht, wo uns die Bildlegende, indem sie einem suggeriert, verstanden zu haben, was nicht zu verstehen ist, über das grässlichste Kriegsbild hinweghilft, damit wir erleichtert umblättern können, uns dem nächsten Gipfeli zu widmen, an der nächsten Werbeschönheit zu erfreuen. Die Bildserien aus IN VIVO, wo mir keine flinke Legende erklärt, was ich nicht verstehe, lassen mich erst einmal mit mir allein, indem sie mich, ganz auf meine Wahrnehmung zurückgeworfen, in Tabuzonen unserer Zivilisation entführen, die lieber verdrängt werden, von der Atomenergie über die Pathologie bis hin zu Genforschung und Biotechnologie Bereiche, die Abertausenden täglicher Arbeitsplatz sind, ohne dass diese auf die Idee kämen, was sie täglich umgibt, je mit einem Rahmen zu versehen, Bereiche, die sich, vielleicht gerade weil die Zentren des Wissens und Verbergens Schaltzonen einer allfälligen Zukunft sind, der Visualisierung, der Abbildbarkeit im traditionellen Sinne immer stärker entziehen. Diesen Bildwelten ist mit Legenden nicht beizukommen; auch nicht mit Gesinnungsprosa. So viel spürte ich. Aber was dann? Ich versuchte, den Fotos Sprachbilder gegenüberzustellen – und kam damit meinem Auftrag ein gutes Stück näher –, Sprachbilder, die wiederum ein Eigenleben entwickeln. So entfernte sich meine Arbeit, vor allem im dritten Teil, immer weiter von den eigentlichen Bildvorlagen, emanzipierte sich der Text nach und nach. RETO HÄNNY:
Ich erinnere mich, wie du damals regelmäßig ins Böcklin-Atelier kamst, wo ich arbeitete, und mir neue Passagen vorlasest und Überarbeitungen davon. Mir wurde so bewusst, wie viele Wörter es allein für ,grau‘ gibt; ich verzichtete ab dann auf die damals übliche Bezeichnung Schwarz-Weiß-Fotografie und nannte meine Arbeit konsequent Hell-Dunkel-Fotografie, analog zu deinem Buchtitel …
HANS DANUSER :
RETO HÄNNY: … auf den ich kam, weil der Verleger mit Chiaroscuro, meiner ursprünglichen Titelidee, nichts anfangen konnte und mich fragte, was das auf Deutsch heiße: helldunkel – hinter dem sich gleich noch einiges mehr verbirgt als ein maltechnischer Terminus: etwa der Schriftsteller H und der Fotograf D, aber
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auch, losgelöst von allem persönlichen Äußeren, die Initialen zweier Protagonisten, des Hageren und des Dicken, die im Text immer wieder aneinandergeraten. Ich glaubte damals auch noch, die fotografische Reproduktion eines Bildes, insbesondere einer Fotografie, sei präzis. Die ganze Kunstgeschichte stützt sich ja, salopp gesagt, auf Katalogbilder. Meine Bilder aber, die du mit Wörtern nachzeichnest, finden in deiner geformten Sprache, deiner Literatur eine neue Vielschichtigkeit und eine zusätzliche Präzision im Detail sowie eine räumliche Tiefe, die man – wenn überhaupt – nur im Original wiederfinden kann.
HANS DANUSER :
Ich versuchte, deinen Bildern das Verunsichernde zu lassen. Denn ich arbeite ja nicht wie ein Gesinnungsjournalist, sondern eher wie ein Musiker oder Maler, der mit Zwischenstufen arbeitet, mit Tönen und Tonwerten, mit Valeurs, mit Abstufungen von Grautönen anstelle von simplem Schwarz-Weiß – wobei Malen für mich nicht Nachahmen heißt, sondern Übersetzen; selbst das Trompe-l’Œil stellt nicht dar, es rekonstruiert, setzt gleichzeitig Wissen, selbst dessen, was es nicht zeigt, und Reflexion voraus. Obwohl ich farbenblind Rot und Grün zu unterscheiden Mühe habe, kann ich mir Farben – auch Rot- und Grünwerte – sehr gut vorstellen. Auch wenn ich die ,Landschaft‘, die Sie eben hörten, ausschließlich als grau beschrieben habe, zumindest dürfte das Ihr erster Eindruck gewesen sein, ist es zugleich eine farbige Landschaft, deren Farbwerte allein vom Klang der Wörter herrühren. Die Farben erzeugen jedoch Sie als Zuhörende. Ich organisiere nur die Wörter, male damit. Literatur bildet nicht ab. Das, was Sie hörten, hat mit der Realität, was gemeinhin darunter verstanden wird, etwa so viel oder so wenig gemein wie ein gemalter Apfel (Farbpigmente auf Leinwand) oder eine fotografierte Birne (dem Licht ausgesetztes Silberchlorid) mit einem Apfel oder einer Birne, in die ich beißen kann. Während des Vorlesens hatte ich die drei Erosionsbilder an der Atelierwand im Blick,6 vom Eindruck her aus noch größerer Höhe festgehaltene Landschaftsausschnitte als die WildwechselAufnahmen – oder sind es Makroaufnahmen von Schlick aus einem abgesenkten Stausee? Jedenfalls, sie versetzen mich in die Optik des Luftschiffers Giannozzo, des Protagonisten eines meiner Lieblingstexte, Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten, ein nach dem Prinzip der progressive digression, der ,fortschreitenden Abschweifung‘ im Stile von Laurence Sterne, gefertigtes Kabinettstück, das der Romantiker Jean Paul als „Komischen Anhang“ seinem Roman Titan beigab. So wie Jean Paul den Luftschiffer in der Montgolfière, seinem „Orlogkobel“ oder eben Kriegsluftschiff (oorlog heißt holländisch Krieg; die Romantik war eine kriegerische Epoche), mal höher, mal tiefer über verheerte Landschaften schweben lässt, kann ich, ähnlich dem Zoom der Kamera, mit der Sprache Dinge näher heranziehen oder wegrücken.
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Das Wechselspiel von nah und fern und in Umkehrung davon das Auflösen der Sicherheit des persönlichen Standorts und der Sicht auf die eigene Position sowie auf die Größenverhältnisse der Dinge wollte ich in meinen Landschaftsfotografien und in den Erosionszyklen ausloten, und es ist auch Thema in deiner Literatur, ich erinnere an dein Buch Flug. Wie weit konntest du in unserem Projekt deine eigenen Themen aufgreifen, deine eigene Sprache finden? War die Carte blanche letztlich die Voraussetzung, dass du mit deiner Sprach- und Literaturerfahrung in den Text einsteigen konntest? HANS DANUSER :
Gewiss; ich habe ja nur meine Erfahrung und keine andere Sprache als die, welche mir eher zugefallen ist, als dass ich sie gewählt habe. Das Herausfordernde bei der Arbeit an Helldunkel – und letztlich auch meine Rettung – war mein Einfall, meine Setzung, deine Fotografien nicht als Abbilder, sondern als Realitätsebene zu nehmen, von der ich auszugehen hatte. Fotos, die das, was man gemeinhin ,Anekdote‘ nennt, fast vollständig aussparen und anstelle von Anekdoten in mir zuallererst einmal einen Sturm weiterer Bilder freisetzen, von denen ich bis anhin kaum gewusst hatte und die, so erschreckend sie sind – und so erschreckend das ist –, zuzulassen statt zu verdrängen waren, die es sprachlich einzufangen galt, ohne zu interpretieren. Das versuchte ich umzusetzen, mittels nichtlinearer, von Sprüngen gekennzeichneter Gedankenwucherungen, in Assoziationsstrudeln, die mich während des Schreibens gleich der Figur des ,Reisenden‘ mitrissen; wobei ich mich mit Helldunkel wohl am weitesten von der konventionellen Erzählung entfernte. Aber das konventionelle Erzählen – das, ohne Leidenschaft für den Geschmack der Wörter schnurgerade auf die Pointe zielend, heute mit Erfolg munter gepflegt und von Verlagen und Kritik gefördert wird, als hätte es die Moderne samt dem Nouveau Roman oder deren Vorgänger Gustave Flaubert nie gegeben (Flaubert, den Begründer des modernen Romans, dem zu Lebzeiten vorgeworfen wurde, er schreibe mit dem Skalpell, und der nicht zuletzt darum mit seinem Beschreibungsfuror, seiner manischen Genauigkeit der Sprache im Wissen um die Bedeutung jedes einzelnen Wortes sowie die Melodie eines Satzes bereits mit Madame Bovary, seinem Erstling, als Erster in einem Roman, einer bis dahin als minderwertig angeschauten Gattung, die höchsten Ansprüche der Poesie erfüllte, ohne den die Erzählkunst des 20. und 21. Jahrhunderts nicht denkbar ist; von Laurence Sterne und Tristram Shandy ganz zu schweigen, wo wir nach Hunderten von Seiten und einer Unzahl aberwitziger Geschichten am Ende weniger weit sind als zu Beginn) –, konventionelles Erzählen, Literatur ausschließlich als mehr oder weniger kunstvolles Arrangement von Geschichten, hat mich eigentlich nie sonderlich interessiert; spannend für mich ist das Ausloten der Möglichkeiten, die im sprachlichen Material angelegt sind, oder im Sinne von Raymond Roussel: Zuerst kommt das Wort, dann der Sinn.7 RETO HÄNNY:
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BILDPERSPEKTIVEN UND SPRACHPERSPEKTIVEN Soviel ich aus unseren Gesprächen weiß, verfasst du nie einen konkreten Plan, bevor du dich an die eigentliche Schreibarbeit machst. Verfährst du also eher wie ein bildender Künstler, der das Darzustellende als Einheit erfassen will? Vielleicht erklärst du uns deine Arbeitsweise noch präziser. Gibt es kein Exposé zum Text, weil dir diese Art von Autorenarbeit vielleicht sinnvoll für Sachbücher erscheint, du sie aber bei Literatur als veraltet betrachtest? Oder ist sie hier bestenfalls für Triviales geeignet? HANS DANUSER :
Das gradlinige Erzählen kann man dem Fernsehen überlassen. Plots – jede Vorabendserie zeigt es – gibt es ja wie Sand am Meer; ob einer was taugt, erweist sich, wenn es gelingt, ihm eine Form zu geben. Hier, mit der Arbeit an Helldunkel, war ich gezwungen, eine neue Position zu entwickeln, wie eigentlich bei jedem neuen Projekt praktisch bei null anzufangen, im Vertrauen in die Sprache nicht einfach etwas nachzuerzählen oder abzubilden, sondern im Versuch, mittels Sprache ein Klima zu schaffen, eine deinen Bildern adäquate Atmosphäre. Novalis äußerte am Ende des Zeitalters der Aufklärung, noch bevor der unheilvolle Mythos ,Realismus‘ sich formte, mit erstaunlicher Hellsicht etwas im ersten Moment Paradoxes: Mit der Sprache, sagt er, ist es wie mit den mathematischen Formeln, sie stellen eine Welt für sich dar, sie spielen nur und ausschließlich untereinander, drücken nur ihr eigenes wunderbares Wesen aus, und gerade das bewirkt, dass sie so ausdrucksstark sind, dass sich in ihnen das Spiel der Beziehung zwischen den Dingen widerspiegelt.8 Was heißt: Sobald ich die Literatur als Kunst begreife, treffe ich auf die der Mathematik eigenen Regeln, wie sie auch für die Fotografie, die Malerei, die Musik, die Architektur gelten. Als ich in deinen Arbeiten – als Beispiel – auf das Zeichen Delta stieß und, um zu erfahren, was es bedeute, bei meinem alten Physiklehrer, dem Mathematiker und Philosophen Marc Eichelberg, Rat suchte, erwiderte er, das Zeichen – abgesehen davon, dass Δ die griechische Majuskel für unser D sei und mit den zwei Schenkeln und der sie verbindenden Horizontale einem Dreieck gleiche, so wie sich ein A aus einer Schräge nach rechts, einer nach links und einer Horizontale im unteren Drittel zwischen den zwei Schrägen zusammensetze – bedeute erst mal gar nichts. Erst wenn zumindest zwei dem Zeichen den gleichen oder annähernd gleichen Wert beimäßen, beispielsweise in einer mathematischen Formel, könnten sie damit kommunizieren. Ähnlich funktioniert es hier: Wir verständigen uns auf Hochdeutsch, einigten uns in diesem Seminar auf diese allen geläufige Sprache, und da wir alle an Kunst interessiert sind und uns darüber äußern, ist es mehr oder minder sogar derselbe Jargon – Sprache hat sehr viel mit Jargon zu tun, kommuniziert darum nicht, sondern grenzt in erster Linie aus; je spezialisierter, ,wissenschaftlicher‘ der Diskurs, umso stärker. Schon wer unseren Jargon nicht kennt, kann dem Gespräch, selbst wenn er Deutsch versteht, nicht folgen; der Jargon ist ihm Fremdsprache. Als Schriftsteller
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kann ich Sprache zu formen versuchen, dass der Leser das, was der Text ,zeigen‘ will, gleich oder ähnlich sieht. Ein schwieriges Unterfangen – der bildende Künstler mag es diesbezüglich etwas leichter haben, doch wer mit Sprache arbeitet, hat es stets mit Experten zu tun: Wir lernten in der Schule ja alle schreiben und lesen, und da wir das Schreiben selbst im Zeitalter von Computer und Handy noch nicht gänzlich verlernt haben, glauben wir automatisch, auch lesen zu können. Ich bin mir da längst nicht mehr so sicher; ich habe im Laufe der Zeit bereits mehrfach lesen gelernt, auf sehr unterschiedliche Weise, muss es dennoch stets wieder neu lernen und traue mich immer weniger zu sagen, dass ich es könne. Aber wie gesagt, einigermaßen verstehen wir uns: In dem Moment, wo ich ,Tisch‘ sage, haben Sie alle einen Tisch vor Augen; wenn ich Sie diesen Tisch jedoch in strengster Klausur bauen ließe, hätten wir hier im Atelier am Ende nicht einen, sondern fünfzehn sehr unterschiedliche Tische stehen, weil nämlich alle ihren Tisch gebaut hätten. Als Autor kann ich einen Tisch zu beschreiben versuchen, wie ich ihn haben möchte, ihn ausschmücken, dass Sie bei der Lektüre vor Ihrem inneren Auge, von Ihrem Tisch ausgehend, annähernd meinen Tisch nachbauen; ich kann das Spiel so weit treiben, dass Sie am Schluss nichts mehr sehen, weil sich das, was da vor Ihnen mittels Sprache aufgebaut wird, jeder Vorstellung entzieht, wie ein Zeitungsbild, das Sie durch eine immer stärker vergrößernde Lupe betrachten, schließlich in Rasterpunkte zerfällt. Sprache lässt viel Raum – und engt zugleich ein; das ist das Faszinierende daran. Dieses präzise Beobachten und Beschreiben ist eine im Medium Fotografie ursprünglich angelegte Qualität. Je mehr die technische Entwicklung diese Qualität der objektiven Zeichnung eingelöst hat und auch präziser und detaillierter als das Auge des Menschen wurde, desto eher entstand eine Unsicherheit beim Betrachter. Er kann das Abgebildete, das, was er auf der Fotografie sieht, nicht erkennen und flüchtet sich in die Terminologie der Kunst, sagt, das Foto sei abstrakt. Für meine fotografische Sicht auf die Dinge benutzte ich Objektive, die im Bereich der analogen Sichtweise unseres Auges sind, dennoch wird der Begriff der Abstraktion häufig angeführt. Dabei ist das Bild der Versuch einer ganz einfachen Beschreibung dessen, was ich sehe, was das Objektiv erfasst. Ist es das, was irritiert? Der Blick auf das Objekt ohne den mutmaßlichen Erfahrungskodex des Betrachters? Besteht da nicht eine Analogie zur Rezeption deiner Texte? Wenn der Erfahrungshintergrund beim Leser nicht da ist, bringt er den Begriff Abstraktion ins Spiel, redet von abstrakter Literatur. HANS DANUSER :
Sofern sie nicht gleich mit dem Schimpf ,L’art L’art pour l’art‘‘ abgestempelt wird. Aber während der Arbeit, vielleicht ist das der einzige Antrieb, diese nicht zu schmeißen, weiß ich eben nur: Ich möchte einen Sprengkörper, zumindest einen Feuerwerkskörper kreieren, nach allen Regeln der Kunst, den einzigen, nach denen Sprengkörper herzustellen sind – l’art pour l’art. Mehr darf ich während
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meiner Arbeit, einer Gratwanderung zwischen Kalkül und Sichtreibenlassen, gar nicht wissen, denn wüsste ich über meinen Text im Voraus bis in die feinsten Details Bescheid, entfiele das Abenteuer des Schreibens, welches jedes Erzählte an Spannung überwiegt, und ich ließe es besser sein. Umgekehrt, um auf deine Frage einzugehen: Literatur, die keine Erfahrungswerte beinhaltet, sogenannte SchrübliLiteratur, die sich selbst genügt und mich letztlich immer ausschließt, interessiert mich nicht oder nicht mehr, zumal wenn sie ohne eine Spur Sprachsinnlichkeit gewerkelt ist. Zwar beginnt auch mein Lesebeispiel von vorhin, wie letztlich jeder Text, relativ abstrakt, mit einer Behauptung: „Aus großer Höhe zukünftige Vergangenheit“. Einem Paradoxon erst noch. Mehr, als dass es um eine Sicht aus großer Höhe geht, erschließt sich vorerst nicht. Aus der Sprachtektonik konkretisiert sich Seiten später mit der Figur des ,Reisenden‘ der Ansatz einer Anekdote, was sich automatisch ergibt, sobald ich eine Figur auftreten lasse, die hier jedoch durch die Ergänzung „falls diese Annahme wieder aufgenommen werden soll“ umgehend infrage gestellt wird. Anstelle von ,Delta‘ habe ich also einfach den ,Reisenden‘ gesetzt. Wenn Sie als Zuhörer oder Leser den ,Reisenden‘ auch wollen, diese Figur brauchen, um mit dem Text klarzukommen, ist es ,der Reisende‘, aber es ist eine Setzung, und durch die Ergänzung wird klargestellt, dass ,der Reisende‘ nicht mit dem Autor identisch ist. Das mag spitzfindig klingen, es klarzustellen ist aber wichtig, weil Kritiker, die vorgeben, es eigentlich besser zu wissen, ständig in die Falle trampen, dass sie den Protagonisten eines Textes (der in diesem Falle, im Gegensatz zu allem anderen, das stetig weiter ausgeschmückt wird, im ganzen Buch nirgends beschrieben wird, kein Gesicht bekommt, es sei denn, Sie als Leser geben ihm eines) mit dem Autor gleichsetzen, jeden unangenehmen Charakterzug an einer literarischen Figur automatisch dem Autor ankreiden; bei einem Text in der Ich-Form ist das leider die Regel. – In unserem Beispiel entwickelt sich aber bereits mit der abstrakten Beschreibung, einzig durch die Reihung all dieser wunderbaren Wörter, mit denen der Geologe Gestein benennt, so etwas wie ein Stück Anekdote, längst bevor klar wird, da bewegt sich jemand durch eine ,Landschaft‘, konkret von einem Pass zum Gipfel, bei Ihnen vielleicht, mehr oder weniger präzise, eigne Bergerfahrungen evozierend, von denen ich nichts weiß. Mir – ich mag Steine sehr, von der Struktur her, ihren Schichtungen und Verwerfungen; ich hatte im Geologieunterricht seinerzeit aber Mühe, sie zu bestimmen, weil dafür das normierte Farbsehen mitentscheidend ist, sodass nicht mal sie benetzen meinem Farbempfinden weiterhalf –, mir evoziert der Ausschnitt nicht irgendeine Wegerfahrung, sondern die Tour vom Glaspass auf den Piz Beverin, meinen Hausberg in Graubünden, auf dem ich schon Hunderte Male war, ohne dass die Faszination nachlässt. Sollten Sie diese Exkursion irgendwann selber machen, werden Sie den Berg mit seinem geologischen Material, das im Text als Wort-Farbvaleurs vor Ihren Augen in der Luft zu schwirren scheint, wiedererkennen. Beim Zuhören ist Ihnen sicher der fast schockartige Einschnitt im Text aufgefallen, wo plötzlich das Wort ,Flysch‘ – die Bezeichnung für
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ein älteres Gestein – auftaucht und der Text kippt, indem das Wort beim ,Reisenden‘, vielleicht weil er – und mit ihm wohl auch der Leser – von dieser Erosionswüste genug hat, ein anderes Wort evoziert: ,Phlox‘, das ihn mit der Frage „Hob einst nicht das Märchen so an?“ für einen Moment in seine Kindheit zurückversetzt – und aus dem Reisenden damit eine Person macht, ihr eine Vergangenheit gibt. Doch sobald der Reisende – „so die Annahme beibehalten werden soll“ – die Augen wieder öffnet, ist erneut nichts als Erosionswüste um ihn, befindet er sich statt auf grüner Trift weiter im unwegsamen Sprachfels … HANS DANUSER : Ein Aspekt interessiert mich noch im Verhältnis von Sprache und Fotografie, im Prozess des Machens und des Betrachtens: Ich sehe in einem Augenblick ganz viele Dinge und speichere sie gleichzeitig zu einem Bild im Gehirn oder auf einem Film ab. Wenn ich nun all das, was ich in diesem kurzen Moment erfasste, beschreiben müsste, bräuchte ich unglaublich lange. Wie geht der Schriftsteller damit um? Er setzt den Augenblick nach und nach um, wie wenn bei einem Bergsturz – bleiben wir beim Erosionszyklus – ein Stein nach dem andern ins Rollen kommen würde. Was ich damit sagen will: Eine Fotografie kann, wie das Auge, ein komplexes Szenarium von vielem gleichwertig in Bruchteilen von Sekunden unauslöschlich abspeichern, zum Bild generieren. Die Sprache …
… ist linear, setzt mit dem ersten Wort einen Akzent, verwandt der Musik. Die simultane Präsenz einer Fotografie ist das Gegenteil der linearen Erzählzeit eines Textes; und so unterschiedlich werden sie auch gefertigt: Während du als Lichtbildner – deine langen und intensiven Vorbereitungen ausgeklammert, aber die sind ja für uns beide unabdingbar – mit deinen Apparaten per Knopfdruck unwiederbringliche Augenblicke festhältst, als Künstler im für dich richtigen Augenblick flüchtige Lichtmomente einfrierst, entstehen meine Texte in Zeiträumen von Jahren. Gotthold Ephraim Lessing spricht in Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie vom „Transitorischen“ der Literatur, im Gegensatz zu den „coexistirenden Compositionen“9 der Malerei – die Fotografie gab es damals ja noch nicht –, wo es für den Künstler gelte, den günstigsten Moment zu wählen und diesen abgezirkelten Moment der Handlung zum künstlich verlängerten Augenblick so zu nutzen, dass dank unserer Einbildungskraft das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten werde (wobei, jedenfalls empfinde ich das so, auch ein Bild eine Art von Bewegung auf der Fläche zulässt, ja verlangt, will ich mich ernsthaft in ein Kunstwerk vertiefen, das Werk, das fürs Auge zwar mit einem Lidschlag erfassbar scheint, für mich, indem ich es mit dem Auge erwandere, frei und ohne dass mir jemand eine Richtung vorgibt – es sei denn, der Künstler zwingt mir diese in der formalen Gestaltung auf –, gewissermaßen neu erschaffen; erst recht gilt das bei der Plastik, die sich erst erschließt, wenn ich den Raum ergründe). – Doch zurück zur Musik mit ihrem Zeitablauf, fortschreitend von A nach B Klänge in Bewegung setzend, ihnen Raum gebend, bis sich am Ende, gleichsam in
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einer Art verzögertem Blick, daraus ein Ganzes ergibt, das beglückt oder verstört und lange nach Konzertschluss noch in einem nachklingen kann: faszinierend – und zeitraubend, wie ich merke, wenn ich mich mit Mahlers Sinfonien auseinandersetze, gar schon, wenn ich verschiedene Interpretationen vergleiche. Das musikalische Gedächtnis ist genau genommen nicht sehr lang. Selbst wenn Sie im Umgang mit Musik geübt sind, können Sie, von Ausnahmen wie beispielsweise Dirigenten abgesehen, aus dem Fluss der Musik beim Zuhören, so, dass Sie es aufschreiben könnten, jeweils kaum ein paar Takte tatsächlich im Ohr speichern; an Themen können Sie sich etwas länger erinnern, nie aber an einen Sinfoniesatz in seiner ganzen Komplexität. Leuten, die klagen, dass meine Sätze allein schon wegen ihrer Länge Mühe bereiten, empfehle ich, wie man das im Konzert im Vertrauen in die musikalischen Gesetzmäßigkeiten ganz selbstverständlich macht, sich einfach von meiner Sprache tragen zu lassen (beim Zuhören ist das leichter als beim Lesen, wo die Versuchung groß ist, dass ich bei der kleinsten Irritation, wenn ich glaube, etwas nicht verstanden zu haben, zur Kontrolle zurückblättere – und mich damit aus dem Sprachfluss ausklinke). Sprache entwickelt sich, ähnlich wie die Musik, von einem Ton zum nächsten, Wort um Wort fortschreitend, bis daraus ein Klangbild, eine Sprachlandschaft wird, während des Lesens oder Zuhörens im Kopf Bilder generierend, die sich durch den Fortgang des Textes mit jedem neu hinzukommenden Detail dauernd modifizieren. In dem Moment aber, wo durch einen Text hervorgerufene Bilder da sind, sich Ihnen im Hinterkopf eingebrannt haben, werden Sie diese nicht so leicht wieder löschen können wie einen Ton, der verklingt, selbst die grellste Dissonanz noch, selbst wenn Sie beim Hören kurz zusammenzuckten. Deine Ausführungen zielen also darauf, dass Lesende oder Zuhörende laufend mit Bildern konfrontiert werden, die sie angeregt vom Gehörten selber produzieren, und dass der gelesene Text möglicherweise auch solche Bilder hervorholt, die zensuriert im Unbewussten versunken sind. Dieser Prozess könnte demnach ein Grund sein, warum gewisse Rezensentinnen und Rezensenten mit Passagen von Helldunkel derart Mühe hatten und sie so abrupt ablehnten, anders als bei meinen Bildern, von denen dein Text ausgeht und die nie solch massive Proteste und bewusste Fehldeutungen auslösten. HANS DANUSER :
Vielleicht liegt es daran, dass Sprache, indem sie langsam voranschreitet – zum Lesen braucht es die lange Weile – und sich erst nach und nach etwas ergibt, in einer anderen Weise Bilder hinter den Bildern weckt und diese einem dann, indem ich den Subtext, den ich beim Betrachten mitlese, als das Bild hinter dem Bild mit beschreiben kann, so nahegehen, zu nahe, dass man sich, wie schon zu Zeiten der alten Griechen, mit den bekannten Mitteln dagegen wehrt. Viele von deinen Bildern rufen in mir, ich hab’s bereits gesagt, einen ganzen Sturm oft wenig erbaulicher Bilder ab, die ich zwar zu verdrängen versuchen kann, die RETO HÄNNY:
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ich aber, ob es mir passt oder nicht, geprägt durch die christliche Ikonografie, einfach in mir trage. Aufgefallen ist mir das während meiner Beschäftigung mit den Medizin- und Pathologieserien aus IN VIVO, mit denen ich im Mittelteil von Hell dunkel arbeitete. Indem sich mir beim ,Bilderlesen‘ verschiedene Zeiträume überblendeten, können im Text nun Personen aus ganz unterschiedlichen, weit auseinanderliegenden Epochen im Diskurs aufeinandertreffen. Während ich beispielsweise diesen ungeheuer eindrücklichen kahlen, geschundenen Kopf aus IN VIVO ,beschreibe‘, der des Toten, dessen Genick gebrochen ist, geraten Fürst Myschkin, eine Romanfigur aus Fjodor Dostojewskis Idiot, der Kunstmaler Francisco de Goya,, einer der schwärzesten Bildsetzer, und der hellwache lebende Autor John Berger als Museumsbesucher in einen heftigen Disput über das Bild Der tote Christus im Grabe von Hans Holbein d. J., weil mich die Leiche, eigentlich ist es nur das Fragment einer Leiche, eben an Holbeins Werk und dessen Hintergrund, die aus dem Rhein gefischte Wasserleiche, gemahnt – und mir gleichzeitig meinen toten Großvater evoziert, wie er mit leicht abgeknicktem Kopf in der Schlafkammer auf einem Brett aufgebahrt dalag, unfassbar für den Buben, dem jener bislang wichtigste Bezugsperson war, die auf seine Fragen plötzlich nicht mehr antwortet. – Sicher ist eins: Bilder entwickeln sich im Kopf, bei jedem und jeder andere, die, welche man, durch Erfahrung gespeist, in sich trägt; die Sprache – die deiner Bilder wie meiner Sätze – ruft sie nur ab. Möglicherweise ist der Schock bei Bildern, mit denen wir als Teil unserer Kultur aufgewachsen sind, die wir gespeichert haben, ohne dass uns das richtig bewusst ist, von vornherein weniger groß, als wenn dieselben Grausamkeiten über die Lektüre eines ungewöhnlichen Textes in unser Hirn gelangen, wo wir sie dann selber bebildern müssen, wie du uns vorhin erklärt hast. HANS DANUSER :
RETO HÄNNY: Ich staune, welche Ansammlung brutalster Scheußlichkeiten, von denen es in der Kunst des christlichen Abendlands nur so wimmelt, wir im Lauf der Zeit verinnerlichen, Bildwerke im Dienste einer Religion, die sich als eine der Liebe und Versöhnung ausgibt; noch vor der Kreuzigungstafel des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald, etwas vom Unerbittlichsten und Entsetzlichsten, was ein Künstler je geformt hat, können Leute verzückt und Trost findend im Gebet versinken; aber dabei kann man ja die Augen schließen – um handkehrum, geschockt von einer Textpassage, in einem Abwehrreflex den Autor der Pornografie und Gewaltverherrlichung zu bezichtigen. Aber bei einem Bild muss ich nicht einmal wegschauen, ich kann mich in seine formale Interpretation flüchten oder bei einem harmloseren Detail verweilen, denn noch in der grässlichsten Folterdarstellung (das wurde mir bewusst, als ein Schwarzafrikaner, mit dem ich im Kunsthaus Bilder hütete, mich im Saal des Nelkenmeisters auf die in der spätmittelalterlichen Kunst zur Schau gestellten Grausamkeiten hinwies, wo, wie ihm auffiel, die Häscher immer dunkelhäutig sind, plattnasig oder als Judenkarikaturen mit dem
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obligaten übermächtigen Zinken im zur hämischen Fratze verzerrten Gesicht) gibt es am Fuße des Kreuzes oder verschämt in eine Bildecke verbannt bestimmt ein paar Blümchen, ein knabberndes Häsli oder zwei schnäbelnde Vögelchen – wunderschön. Auch Helldunkel, als haptischer Gegenstand, schaut wunderschön aus, wie ein edel gefertigtes Kästchen, darin der Autor ein Arsenal an Werkzeugen, Materialien, Spielangeboten und so weiter bereitgelegt hat – um daran zu erinnern, dass Bücher einst was Wertvolles waren, ist das Ganze in einen edlen Schuber geschoben. Doch zu sehen ist bei der edelsten Buchschatulle erst mal wenig, allenfalls Oberfläche, Kunsthandwerk; Büchermachen war einst eine Kunst. Um die in einem Buch schlummernden Bilder zum Leben zu erwecken, braucht es Sie, die Leser, welche arbeitsteilig gewissermaßen die eine Hälfte der Mühe zu übernehmen haben, Ihre Bereitschaft vorausgesetzt, sich auf das darin Zurechtgelegte schutzlos einzulassen. Franz Kafka sprach vom Buch als der Axt, das gefrorene Meer in einem zu spalten.10 Denken wir hier weiter: Wie geht man persönlich mit Neuem um, wie mit Dingen, die einem wirklich nahegehen? Als ich die Arbeit im Bereich Anatomie begann, musste ich mir Zeit lassen. Ich tastete mich mit meinem Auge heran, manchmal blinzelte ich, um nicht das volle Licht aufnehmen zu müssen. Ich war mehr als ein halbes Jahr regelmäßig dort, bevor ich die erste Fotografie des sezierten Körpers machte. Ich arbeitete mich sukzessive in die Anatomiesäle und in die Werkstätten, wo am toten Menschen gelehrt wird, hinein. Es war eine langsame Annäherung mit dem Ziel, radikal in meinen fotografischen Bildprozess einzusteigen. Wenn ich dich jetzt lesen hörte oder selber lese, ist das alles wieder und sofort da. Man kann ja nicht nur ein wenig zuhören oder lesen. HANS DANUSER :
Kann man sehr wohl, weil du aber mit der ,beschriebenen‘ Materie so vertraut bist, ruft der Text die dir vertrauten Bilder ab, ziemlich sicher weit mehr als die von dir fotografisch festgehaltenen und schließlich für IN VIVO ausgewählten, denn in jedes einzelne von ihnen sind, in einem Sekundenbruchteil fixiert, unzählige deiner Eindrücke während der Auseinandersetzung mit der Materie gebündelt, die mein Text in dir vergegenwärtigt. Was ich vorlas, dauerte beim Vortrag immerhin gut elf Minuten – nicht lange, im Vergleich zum ungleich längeren Schreibprozess, auch wenn es, wie man in Gesprächen nach Lesungen feststellt, Leute gibt, die, durch den Klick mit der Computermaus getäuscht, ohne sich was zu denken, annehmen, Sätze, wie komplex auch, entstünden ungefähr in der Zeit, die ich fürs Vorlesen benötige; gut, da Autoren bekanntlich nicht die flinksten Schnelltipper sind, sondern sich viele mit dem System Adler begnügen, Kreisen, Stechen, mit zwei Fingern, wird man wohl etwas länger gebraucht haben für so eine Passage, vielleicht so dreißig Minuten … (Gelächter) RETO HÄNNY:
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SPRACHKLANG UND SPRACHMATERIAL Wir sprachen bis jetzt vorwiegend über Bildmotive. Doch einen Bereich deines Schreibens möchte ich noch vertiefen, auf den du auch bereits kurz eingegangen bist: Als ich dir vorhin zuhörte, meinte ich, Musik zu hören. Wie stark denkst du während des Schreibprozesses an Musik? Du rhythmisierst deine Texte beim Vortrag stark, spielst mit dem Tempo, mit Höhen und Tiefen, registrierst deine Sätze wie ein Organist … HANS DANUSER :
Ganz einfach: Ich arbeite laut, hab das Flaubert abgeschaut, der in seinem ,Gueuloir‘ so mit seinen Sätzen rang, sie zur Erprobung von Rhythmus und Klang über die Seine brüllte, denn beim präzisen lauten Arbeiten, beim Lesen, eigner wie auch fremder Texte, die das vertragen, sowie beim Musikhören, das für mich zur täglichen Arbeit gehört, lerne ich eine Menge für und über meine Arbeit; bei Mahler und der Neuen Wiener Schule so gut wie bei Debussy, aus dessen Prélu des allein fürs Schreiben mehr zu lernen ist als an jeder der unsinnigen Schreibuniversitäten, die zu einer Mode geworden sind … RETO HÄNNY:
Welche Bedeutung spielt dabei deine Muttersprache, der Bündner Dialekt, allenfalls vielleicht gar das Rätoromanische?
HANS DANUSER :
RETO HÄNNY: Letzteres gar keine; das einzige Romanische an mir ist mein Vorname. Den Dialekt hingegen, nicht nur den Walserdialekt von zu Hause, empfinde ich, vom Wortmaterial wie vom Klang her, als große Bereicherung; wo immer ich kann, verunreinige ich damit die Hochsprache, weil viele hochsprachliche Begriffe für mich nicht riechen, die ,Nachgeburt‘ etwa im Gegensatz zur ,Süüberi‘. Weil mein Schnabel nicht so gewachsen ist, wie ich schreibe, zwingt mich das zu einem präziseren, bewussteren Umgang mit der Sprache; Schreiben ist für mich eigentlich immer ein Übersetzen, ein Aus- und Abhorchen. Ich memoriere meine Sätze, die sich, aus einzelnen Stichwörtern, aus Wortklängen und kleinen Keimzellen herausgewachsen, in mühsamem Kampf nach einer oder zehn oder noch mehr Seiten allmählich runden, so lange und feile daran, die Syntax gelegentlich aufs Äußerste strapazierend, bis sie klingen, wie ich es haben möchte, bis die Atembögen stimmen. Robert Pinget, ein Schweizer Autor, der bis zu seinem Tod in Frankreich gelebt hat und, mit Samuel Beckett befreundet, dem Nouveau Roman zugerechnet wird, erzählte mir, ihm sei im Lauf der Jahre aufgefallen, dass letztlich fast immer das musikalische das richtige Wort sei. Voraussetzung, denke ich, für jede große Literatur, die ihre Wurzeln bekanntlich im Oralen hat. Ob James Joyces Ulysses, ein Wunderwerk an Klang, oder die Sagen meines Großvaters, die sich im Kern in Ovids Metamorphosen wiederfinden – der Ursprung ist der gleiche: Zuerst, vielleicht während sie dazu Bilder in die Höhlenwände ritzten, erzählten sich die Menschen Geschichten, um ihre Angst zu bannen.
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Wie wichtig und wunderbar Töne und Klänge beim Erzählen sind, erlebte ich, als ich in den frühen 1970er-Jahren in Marrakesch auf dem Markt einem Geschichtenerzähler zuhören durfte. Höchst fasziniert und ohne Arabisch, die Sprache der Berber oder was immer der Erzähler sprach zu verstehen, klebte ich zusammen mit den Übrigen im Kreis gebannt an seinen Lippen, stundenlang; die ellenlangen Aufzählungen der Genealogie, mit denen er sein Erzählen strukturierte und rhythmisierte, kennen wir ähnlich aus der Genesis, und vielleicht verstanden auch die andern Zuhörer dabei nicht alles, gaben sich gelegentlich wie ich einfach dem Klang hin, reimten sich ihre eigne Geschichte. Unsere Erinnerung, unser Gedächtnis folgt keineswegs der konsekutiven Grammatik, die vorgaukelt, alles sei so simpel, dass es in drei Zeilen auf dem Handydisplay Platz habe. Erinnerung, Empfinden, auch der Traum übrigens, funktionieren auf andere Weise. Hören Sie einem Betrunkenen zu, und Sie werden merken, dass er nicht linear erzählt. Seine Sprache kreist, er schweift ab, kommt vom Hundertsten ins Tausendste und am Ende meist doch wieder dahin zurück, von wo er ausgegangen ist. Mehr oder minder gilt das für jede freie Rede. Das Schwierigste bei der Arbeit an einem Text ist zu merken: Wie weit kann ich ihn instrumentieren, daran herummalen, drübermalen? Früher, vielleicht weil die Euphorie in geringerem Konflikt mit der größer werdenden Sprachskepsis stand, ging es leichter. Heute wollen Texte oft nicht mehr wachsen. Man arbeitet daran, versucht, wie man sagt, Fleisch auf den Knochen zu packen, streicht am Ende aber immer mehr weg, bis auf dem Blatt nichts mehr ist oder der schäbige Rest mit einem Klick zum Verschwinden gebracht werden kann. Kürzen, einer meiner Grundsätze bei der Arbeit, hilft immer; aber manchmal halt auch nicht. Wenn wir die Tischmetapher nochmals bemühen, so kann ich an dem Tisch da noch ein bisschen mehr schleifen, dort weiter dran formen und noch ein paar Intarsien mehr einpassen, damit möglichst viele sehen, was für ein Tisch mir vorschwebt. Oder ich kann abstrahieren, bis vom Tisch eine Senkrechte, eine Senkrechte und drüber eine Waagrechte bleibt. Wie entwickelte sich denn der Text, den wir hörten, über die rund zwei Jahre der Arbeit? Zunächst gab es deinen Beitrag für Wildwechsel, dann kam die Einladung nach Klagenfurt, wo du Guai gelesen hast, danach kam die Schlussredaktion an Helldunkel. Wie muss ich mir das Wechselspiel vorstellen, was waren die Auslöser vom einen zum nächsten?
HANS DANUSER :
Nach dem Auftrag für den Katalogbeitrag, bei dem ich, wie erwähnt, fast kapitulierte, dauerte der eigentliche Schreibprozess bei Helldunkel sogar weniger als zwei Jahre – für mich eine sehr kurze Zeit. Schneller ging’s nur während der Zürcher Unruhen 1980 nach dem Schlag eines Gummiknüppels, den mir ein Polizist hinters Ohr verpasste und mir damit das Bewusstsein raubte. Auf dem Heimweg in einem Außenquartier erwischt, als vermeintlicher Rädelsführer in RETO HÄNNY:
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verschärfte U-Haft gesetzt, was nach horriblen vierundzwanzig Stunden auf der Polizeiwache die reinste Erholung war, auch wenn man dann für Tage rund um die Uhr isoliert in der Zelle festsaß, fing ich an, da man in der Situation, um nicht ganz zu verblöden, etwas tun muss, die Eindrücke niederzuschreiben, die in den vergangenen Tagen gemachten Erfahrungen und sich mir eingebrannten Bilder, auch weil ich wusste, dass, wenn ich da wieder rauskomme, ohne sie notiert zu haben, sehr viele der Bilder von der Euphorie, draußen zu sein, gelöscht würden. Zürich, Anfang September, vor allem die zentrale Reportage, ist wirklich in fünf Tagen entstanden, in einem ,Klick‘, wenn Sie wollen, der Rest war nur noch Ausarbeiten. Bei Helldunkel war zunächst gar nichts da, außer mein Wunsch, aussteigen zu dürfen, den Hans imperativ konterte: „Du hast den Auftrag angenommen, führ ihn also aus. Wie, das ist dein Problem.“ Mein Glück war, dass Lars Müller später als geplant in Urlaub gefahren war und länger fortblieb; bei seiner Rückkehr hatte ich dann schon so viel Material, dass ich für den Wildwechsel nur noch auszuwählen brauchte, wie bereits geschildert. Auch bei diesem Projekt arbeitete ich während des Schreibprozesses schon mit meinem Lektor, der meine Texte zu Gesicht bekommt, lange bevor sie fertig sind; als wacher, kluger, mir grundsätzlich geneigter Gegenleser ist er eine Art Medium, aber keine Öffentlichkeit, die ein Text während des Entstehens nichts angeht. Dann kam diese Einladung nach Klagenfurt – nachdem ich als Greenhorn beim allerersten Wettlesen, noch vor Erscheinen von Ruch, meinem Erstling, dort war und seither alle Einladungen abgelehnt hatte, ließ ich mich von Kollegen überreden, in die Arena zurückzusteigen: „Du musst einfach wieder mal an die Öffentlichkeit, statt ewig in deiner Klause zu basteln.“ Ich kannte das Ritual: Eine Reihe von Autorinnen und Autoren lesen Unveröffentlichtes vor, eine Kritikerschar macht sich über das eben Gehörte her, dank der Fernsehübertragung ist im Gegensatz zu andern Preisvergaben, wo im Verborgenen gemauschelt und lobbyiert wird, beim Bachmann-Wettbewerb, zumindest solange die Jury die Texte nicht im Voraus bekam, alles halbwegs transparent abgelaufen: Öffentlich war zu verfolgen nicht nur, wie ein Autor über seine Sprache strauchelt, sondern mit nicht geringerem Vergnügen, wie Juroren, gerade angesichts schwierigerer Texte, des Öfteren tüchtig auf die Nase fielen, die unangreifbaren Pfauen, mit Gelächter aus dem Saal quittiert, sich dabei mächtige Blößen gaben. In der Rückschau ist zu fragen, weshalb du den und nicht einen andern Ausschnitt wähltest. Es hätte ja auch der Anfang von Helldunkel sein können. Wolltest du die Provokation?
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RETO HÄNNY: Für den Wettbewerb musste ich einen in sich geschlossenen, radikalen Text haben. Statt eine Erzählung zu wählen wie Dutzend andere oder gar einen Romanausschnitt, der nicht auf eignen Füßen steht und somit gleich durchfällt, ging ich anders vor: Ausgehend von dem extrahiert als Backslash auf dem Seziertisch liegenden Bein, montierte und verdichtete ich aus dem Material des
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Mittelteils von Helldunkel analog der strengen Struktur eines I Ging-Zeichens, das sich aus sechs übereinanderliegenden durchgehenden oder gebrochenen Strichen zusammensetzt, einen Text bestehend aus sechs kleinen Absätzen, als Motto vorangestellt den erwähnten Satz zum Zeichen Kuâi, was nach dem I Ging unter anderem ,Durchbruch‘ bedeutet, aber auch das ,Schöpferische‘; für mich jedoch – darum mein Titel – versteckt sich dahinter, vom Klang her angesichts des Bildes viel naheliegender, das Wort guai, der Plural von italienisch il guaio: Schmerzschrei, Weh, laute Klage; zur Illustration zwei Beispiele aus Dante Alighieris Divina Com media: „Quivi sospiri, pianti, e alti guai / Risonavan per l’aere senza stelle“ (Inferno III, 22–23); „Guai a voi, anime prave“ (Inferno III, 84).11 Hans Danusers Bild gab es für die Juroren beim Wettlesen in Klagenfurt natürlich nicht, mein Text sollte ja keine Bildlegende sein. Neben dem Zeichen als Vorgabe für die Textstruktur wählte ich – man will ja immer Geschichten hören – als anekdotisches Moment das mittelalterliche Motiv des Totentanzes. Im Gegensatz zu damals, wo er als Knochenmann dargestellt wurde, wählte ich für den Tod einen von seinen Reisen und Frauen schwadronierenden widerlichen Lebemann, wie ich ihn von einer Vernissage im Ohr hatte; selber schlaganfällig und als Pathologe dem Leben auf der Spur, seziert und seziert er, bis er nichts mehr vor sich hat, außer einem Haufen unansehnliches Gewebe; insgesamt eine stark komprimierte Prosa – nach dem Grundsatz ,Kürzen hilft immer‘. Man liest beim Ingeborg-Bachmann-Preis maximal dreißig Minuten, wenn ich meinen Text auf höchstens vierundzwanzig Minuten kürze, ärgere ich die Juroren damit sechs Minuten weniger, und sie selber kommen in der Stunde, die jedem Autor für Lesung und Diskussion eingeräumt wird, umso länger zum Zuge; Adolf Muschg hatte mir in Kenntnis des Textes gesagt: „Preis wirst du damit keinen machen können, aber es werden dich wieder einige hören, und es wird darüber geredet werden“ – eine wunderbare Herausforderung, wobei mir für den Vortrag sehr zugutekam, dass ich am Vorabend der Abreise in der Tonhalle den Pianisten Krystian Zimerman hörte: Genau wie der, das Publikum überfallend, kaum recht auf dem Stühlchen ohne die kleinsten Fisimatenten mit den Valses nobles et sentimentales von Maurice Ravel loslegte, grell in die Musik stürzte, um das Stück in fahlstem Pianissimo ausklingen zu lassen, hatte ich den Text zu präsentieren. Dass es mit dieser weder einfachen noch ganz einfach zu ertragenden Prosa zum Bachmann-Preis reichte, zehn Jahre nach Hermann Burger erstmals wieder im ersten Wahlgang und das letzte Mal einem Schweizer: Umso schöner; über die Folgen schweigt man besser. Hier sehe ich erneut eine Parallele zur Fotografie. Man kann ihr je nach Ort, wo sie gezeigt wird, eine eigene Aussage geben. Ein Bild in einem privaten Raum, in einem Museum, im White Cube oder in einer Industriehalle erschließt sich dem Betrachter immer wieder anders, dennoch ist es ein und dasselbe Bild. Das heißt, ob ich Guai als eigenständigen Text oder als Teil von Helldunkel lese, ist zweierlei und doch das Gleiche.
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Gewiss, das Große spiegelt das Kleine und umgekehrt. Meine Arbeit besteht aus kleinen ,Bildern‘, die als Teil Ausdruck des Ganzen sind, wie ich umgekehrt hoffe, dass das Ganze in jedem Detail enthalten ist, sodass Passagen daraus für sich stehen können. In unterschiedlichem Licht, wenn du willst. Und unterschiedlich wirkend. Ähnlich, wie wenn man ein Bild im Atelier oder im Museum sieht. Das erlebte ich als Kunsthirte oder eben Aufseher im Zürcher Kunsthaus, mit dem Glück, mich so über die Jahre praktisch jeden Tag mit Alberto Giacometti auseinandersetzen zu können; manche seiner Plastiken wurden mir gute Kollegen, bei denen ich immer wieder verweilte, wenn mich etwas ärgerte. Man stellt dann fest: Die gleiche Plastik ändert sich fortwährend, in erster Linie je nach Licht – und sie geht kaputt, ist mit einem Schlag tot in dem Moment, wo im Kunsthaus jeweils die Beleuchtung eingeschaltet wird. Ich hatte insofern Glück, als ich die Räume vor Öffnen des Museums inspizieren musste, und ging drum so früh wie möglich hin, vor allem wenn die Tage länger wurden und das Morgenlicht vom Pfauen her die zerschrundenen Figuren verzauberte, ihnen Kontur gab, statt sie mit symmetrisch ausgerichteten Scheinwerfern von rechts und links platt zu klopfen. Aber nicht nur je nach Beleuchtung ändern sich die Kunstwerke, sie spiegeln auch die Stimmung, in der ich bin. Es gab Tage, an denen ich bestimmte Werke nicht mehr sehen mochte oder über sie hinwegsah, etwa, weil mich die Präsentation der GiacomettiSammlung so ärgerte, dass mir die Werke derart leidtaten und ich sie nicht mehr wahrnehmen konnte. Am schönsten sind Kunstwerke am Ort ihres Entstehens, im Atelier. Ein Beispiel: Der Künstler Schang Hutter, den ich in Berlin oft besuchte, hatte als Werkstatt eine alte Fabrik in Kreuzberg, verrußt, dreckig. Er arbeitet vorwiegend mit Holz; seine Werke wuchsen einfach auf dem Abfall aus Sägemehl und Hobelspänen. Als ich den mir bekannten Werken in einer Ausstellung begegnete, war ich geschockt: Auf die glatte Parkettfläche der Galerie versetzt, hatten sie keinen Halt mehr, keinen Boden unter sich. Schang wusste gleich, dass er für die Präsentation im Museum noch vor der Vernissage zwischen Fußboden und Plastik Sockel bauen musste. Möglicherweise ruhen darum auch Giacomettis Plastiken auf unterschiedlich mächtigen Sockeln. Wer die Fotos oder Filme von Ernst Scheidegger kennt, weiß, wie das Atelier und die Figuren an der Rue Hippolyte-Maindron in Paris ausschauten. Wie ein Kunstwerk ändert sich auch ein Text je nach Umfeld, wirkt unterschiedlich, je nachdem, ob ich ihn für mich lese oder einem Freund vortrage oder ob Sie ihn gesprochen in einem Theater hören, wo Sie selber im Dunkeln sitzen, anders wiederum, wenn Sie ihn zu Hause beim Bügeln hören oder ihn lesen, während nebenher Musik läuft. Er wird seine Farbe ändern. RETO HÄNNY:
Ich führe das weiter, es gibt verschiedene Typografien, Schriftgrößen, Grauwerte. Ich kann an der Typografie erkennen, aus welcher Zeit ein Text stammt, denn jede Zeit hat ihr eigenes Schriftbild, ihr eigenes Verständnis für die Darstellung der Sprache. Welche Rolle spielt das bei dir? HANS DANUSER :
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Eine enorme. Für mich ist ein Buch erst fertig, wenn ich es als haptischen Gegenstand gern in die Hand nehme. Neunzig Prozent der heutigen Bücher sind rein äußerlich schon so hässlich hingeschludert, dass ich sie nicht mehr anfassen mag, dabei unterschieden Verlage sich früher, indem jeder stolz sein Gesicht wahrte; heute pflegen das allenfalls ein paar Kleinverlage oder Reihen wie die Bibliothek Suhrkamp und in Frankreich noch wenige der großen, die mit spartanischen, rein typografischen Umschlägen aus der farbigen Beliebigkeit herausstechen. – Aber lassen Sie mich noch eine Stufe zurückgehen, zum Zeichen. Ein Kind beginnt beim Spielen irgendwann, mit einem Stift traumverloren Striche in den Sand oder aufs Papier zu kritzeln, ,schreibt‘, längst bevor es lesen kann, zumindest, wie es ihm dann beigebracht wird – vielleicht haben aber wir einfach seine Sprache vergessen und können das Geschriebene darum nicht mehr lesen, obwohl die Zeichen sich kaum von den Elementen des lateinischen Alphabets unterscheiden, mit denen wir unsere Worte schreiben, die wir zu verstehen meinen: Senkrechte, Waagrechte, Schrägen und Kreissegmente nach links und nach rechts sowie der Kreis als ganzer. Diese paar einfachen Elemente sind es, mit denen ich als Autor arbeite. Jedes Wort, das ich daraus bilde, umgibt wiederum ein riesiger Hof, ist mit Bedeutung besetzt, aufgrund der Erfahrungen für jede und jeden von uns mit einer nicht ganz identischen. Diese Unschärfen – ich hab’s schon erwähnt – sind das Schöne bei der Kommunikation und erschweren sie zugleich. Typografie war einst eine Kunst. Wenn Sie Inkunabeln anschauen, frühen Buchdruck, sehen Sie, wie die Seiten mit größter Sorgfalt gestaltet sind, jede leicht anders, alle in sich stimmig. Satzspiegel, Schriftgröße und Durchschuss in Harmonie. Heutzutage spielen beim Buchdruck nicht einmal mehr Trennregeln eine Rolle, beispielsweise, dass maximal drei Trennungen hintereinander stehen dürfen, keine auf der ersten oder letzten Zeile. Und wissen Sie, was Hurenkinder und Schusterjungen sind? Oder der Grauwert einer Seite? Diesen Grauwert sehen Sie am leichtesten, wenn Sie ein Buch auf den Kopf stellen. Heute schauen die Seiten meist aus, als ob man mit Schrot auf sie geschossen hätte, derart durchlöchert ist das Schriftbild, wo einst Typografen, vor allem die Handsetzer, die Schrift mit ihren Wortzwischenräumen und den Satzzeichen so fein ausrichteten, dass Seiten, sobald man die Augen leicht zukneift, einer harmonisch grauen Fläche gleichen. Hinzu kommt, dass jede Sprache ihren eigenen Grauwert hat, wie ich feststellte, als ich mit einem Freund, dem Typografen und Designer Felix Humm, der heute an der Uni Lugano unterrichtet, in Mailand einen kurzen Text zu einem opulenten viersprachigen Buch machte: Der gleiche Text in Deutsch, Französisch, Italienisch und amerikanischem Englisch, gesetzt und gestaltet vom gleichen Designer nach gleich strengen Kriterien, ergab vier völlig unterschiedliche Grauwerte. Am schönsten und ausgewogensten der des italienischen Textes, an letzter Stelle steht der englische, dessen Schriftbild bei den vielen Großbuchstaben und Kürzestwörtern richtiggehend verhackstückt wirkt. Alles Fragen der Textpräsentation, die mich sehr RETO HÄNNY:
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interessieren; wer sich als Autor damit beschäftigt, rennt sich bei Verlagen heute schnell den Kopf ein. Das ist verständlich bei dem finanziellen Druck, der heute alles bestimmt. Außerdem sieht es so aus, als ob das formal Strenge, Klare im Zeitalter des Webdesigns gar unerwünscht sei. – Aber bevor du dich über den Grauwert einer gedruckten Seite freuen oder ärgern kannst, gibt es doch den ganzen Arbeitsprozess von der Materialsammlung bis zum druckfertigen Text. Wie gehst du vor, ganz konkret? HANS DANUSER :
Am Anfang steht bei mir die Handschrift mit Bleistift, früher für ganze Abschnitte, meist auf karierten Blöcken im Format A5, seit ich mit dem Computer arbeite, sind es die Notizen. Weil ich schlecht tippe, schrieb ich die Notate, wenn die Korrekturen unübersichtlich wurden, mit der Maschine ein erstes Mal ab, mit genügend Zeilenabstand, um mit meiner immer kleiner geratenden Handschrift zwischen den Zeilen weiterzuarbeiten, beschrieb die Ränder, hängte an die getippten A4-Seiten Blätter im Format A5 und Ergänzungen dazu auf A6 an, richtige Ausklapporgien ergaben sich manchmal, bevor alles, um die Übersicht zu behalten, in einem weiteren Durchgang ins Reine getippt wurde. Mühsam, aber daran abzulesen meine Arbeitsweise; weit besser als heute, wo mir der Computer stets den fertigen Text vortäuscht, indem er mir stets saubere Seiten präsentiert, wobei ich die einzelnen Überarbeitungsstufen zwar zwischenspeichern und Passagen ausdrucken kann, um handschriftlich darauf weiterzukorrigieren und das Geänderte danach wieder in den Computer zu übertragen, dabei immer weit über die handschriftlichen Korrekturen hinausgehend. Bevor ich einen Text abgebe, eigentlich bereits während der Arbeit, will ich ihn mit der Wahl der richtigen Schrift, mit Satzspiegel, passendem Durchschuss und entsprechenden Absatz-Zwischenräumen etc. typografisch durchgestalten; erst so merke ich, ob er funktioniert, auch wenn er im Druck, solange der Verlag nicht meinen eigenen Satz übernimmt, wiederum anders aussieht. Mir ist einfach wichtig, dass ein Text gestaltet ist. Ich habe keine Mission, ich mache; ich bin, wenn Sie wollen, so etwas wie Sprachklempner – Poesie kommt vom griechischen poi¯esis (ποίησις), und das Machen, das Verfertigen, das Dichten heißt für mich in erster Linie Verdichten, Aufladen. Oder, um Paul Valéry zu zitieren, „dass ich nicht habe sagen, sondern habe machen wollen, und dass es diese Absicht des Machens ist, die das gesagt haben wollte, was ich gesagt habe“.12 Literatur, wie ich sie verstehe, ist mittels Zeichen geschaffene Wirklichkeit; meine, im Unterschied zu jenem Realismus als Ideologie, die jeder mit dem Anspruch der ausschließlichen Wahrheit gegen seinen Nachbarn ins Feld führt; eine schnell mal blutige Angelegenheit. – RETO HÄNNY:
Wenn ich da weiterdenke, so hat die Kunst in den 1980er-Jahren nicht nur der Fotografie einen neuen Raum geöffnet, sondern auch der Literatur.
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In diesen Zusammenhang gehört gewiss auch der Prozess der Drucklegung von Helldunkel im Suhrkamp Verlag. Das Buch wurde, wie du bereits angedeutet hast, auf deinen Wunsch hin außerhalb des Verlags gestaltet, hatte also kein ,FleckhausDesign‘, sondern ging durch die Hände von Lars Müller, der zuvor Wildwechsel gemacht hatte. Ich erinnere mich, dass Siegfried Unseld eine Fotografie aus IN VIVO als Frontispiz wünschte, was du vehement ablehntest. Es war das Bild von der Kühlturmtasse. – Wir hören gleich noch die entsprechende Textpassage. Helldunkel trägt den Untertitel Ein Bilderbuch, aber es gibt in dem Buch kein einziges Bild. Es ist die Sprache, welche die Bilder zeichnet. Ich machte damals den Vorschlag, das Buch, statt ihm ein Frontispiz beizulegen, in einen Bildkörper einzufassen, einen Schuber eben, mit einer Fotografie aus den FROZEN EMBRYO SERIES (1998–2000) … RETO HÄNNY: … Dieser Ausschnitt aus einer vom Hellen ins Dunkle spielenden Eisformation war dann die Brücke für Siegfried Unseld; damit konnte er leben – und wir bekamen so das wohl schönste Buch, das der Verlag je veröffentlichte; in den edlen Schuber geschoben sind als einzige Konzession auf dem Leinen des Buchrückens fein gedruckt Autor und Titel zu lesen. – Eine kleine Ergänzung: In Helldunkel gibt es zwar kein Bild im eigentlichen Sinne, im letzten der sechs Abschnitte des Mittelteils aber das Zeichen aus dem I Ging, ein Bildzeichen …
Zum Schluss noch die Frage nach dem Einfluss unserer Gespräche über die Jahre auf deinen Schreibprozess – oder sind es doch eher die Bilder, die Fotografien selbst und die eigene Arbeit, auf die man sich stützt, und alles andere ist Hintergrundgeräusch? HANS DANUSER :
Der Gedankenaustausch war für mich in mehrfacher Hinsicht wichtig; es gab ihn, wie du richtig sagst, lange vor meiner Arbeit an Helldunkel. Seit Mitte der 1970er-Jahre trafen wir uns ja regelmäßig, zusammen mit dem Künstler Klaus Lutz (1940–2009), um uns nächtelang über unsere Arbeit auszutauschen. Wir sprachen dabei, wenn ich mich recht erinnere, vorwiegend über Strukturen, weniger über Inhalte. Jeder hatte ja sein eigenes Metier, seine eigenen künstlerischen Ziele. Die strukturellen Fragen jedoch waren spartenübergreifend. Unsere Zusammenarbeit ging insofern weiter, als ich später regelmäßig bei dir im Böcklin-Atelier auftauchte, um dir Passagen aus Entstehendem vorzulesen – oft hilft allein schon das Vorlesen, ohne dass viel dazu gesagt zu werden braucht, damit man merkt, wo es weiterzufeilen gilt. Der Austausch mit dir während der Arbeit an Wildwechsel und Helldunkel war darüber hinaus auch rein sachlich nötig, um mich über deine Fotografien und deren Hintergrund zu informieren – so du dies nicht verweigertest und man die Informationen anderswo beschaffen musste, in Spezialbibliotheken etwa, das InterRETO HÄNNY:
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net gab es noch nicht. So vergrub ich mich richtiggehend in Geologiebücher und medizinische Fachliteratur, von Anatomieatlanten bis zum Pschyrembel, der Bibel der Mediziner. Selber bringt man seine Erfahrungen mit, fühlt sich als wacher Beobachter seiner Zeit und hat sein Bildarsenal im Kopf, das alles genügt jedoch nicht. Da ich von deinen Fotos als der ,Welt‘ ausging, brauchte ich zwar kein Atomkraftwerk zu besuchen, keinen Kühlturm von innen zu sehen noch mich in eins der Wissenschaftsinstitute vorzuarbeiten. Um mit deinen Bildwelten zurande zu kommen, war es jedoch nötig, sich die passenden Jargons anzueignen – staunend, was für wahnwitzige Wörter man beispielsweise allein beim Studium chirurgischer Bestecke findet, Wörter wie Kryoextraktor, die einem schon im Hirn wehtun, ohne dass man weiß, wozu die Instrumente dienen. Daneben, wie erwähnt (aber das galt nicht nur für diese speziellen Arbeiten, denn jedes neue Projekt ist eine Reise ins Unbekannte, an dessen Ende – Claude Simon sagt es in seiner Nobelpreisrede besser, als ich es formulieren könnte – „die Erschöpfung des Reisenden steht, der diese unerschöpfliche Landschaft erforscht, der die annähernd ähnliche Karte, die er von ihr entworfen hat, betrachtet, und der halb beruhigt ist, weil er so gut wie möglich auf seinem Marsch bestimmten Regungen und Antrieben gefolgt ist, und wenn man um jeden Preis eine Lehre aus seinem Unterfangen ziehen will, dann sage man, daß wir weiterhin vorankommen im Treibsand“13), rüstet man sich mit einem literarischen Handgepäck, das heißt, überzeugt, dass Literatur aus Literatur entstehe – was gibt es schon Neues? Beckett bringt es am Anfang von Murphy auf den Punkt: „The sun shone, having no alternative, on the nothing new“14 –, schaut man sich in der Weltliteratur um, vom Alten Testament und der Dantes Commedia, zwei fabelhaften Fundgruben und Baedekern, bis zu mir wichtigen zeitgenössischen Texten, den Klassikern der Moderne und deren Lehrmeistern sowie ein paar Arbeiten vorwiegend aus dem Umfeld des Nouveau Roman. HANS DANUSER : Das ist ein schöner Übergang, um wieder die Literatur zum Zug kommen zu lassen. Als zweiten Teil deiner Lesung wähltest du die Passage, die sich ursprünglich auf das hier sichtbar an der Wand hängende Bild aus dem Inneren eines Atomkraftwerks bezog.
Zu Beginn las ich Ihnen aus dem Schluss von Helldunkel, als Abschluss jetzt den Anfang, zumindest etwas daraus, ausgehend vom allerersten Bild aus IN VIVO, von Hans, wie er bereits erwähnte, mit „Kühlturmtasse“ betitelt; ohne dieses Stichwort ist es für mich so etwas wie ein – wenn auch eher bedrohliches – Schöpfungsbild, nach den Erodierungen des Schlusses in gewissem Sinne die Situation, der Moment noch vor der Trennung des Flüssigen vom Festen oder von Weich und Hart, eine feuchte Angelegenheit jedenfalls. Im Buch setzt der Text ein mit einer paraphrasierten kurzen Zitatmontage aus dem Ulysses, die ich überspringe. RETO HÄNNY:
HANS DANUSER :
Vorhang auf für die Literatur.
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KÜHLTURMTASSE Draußen regnet es. Draußen geht man durch den Regen, mit eingezogenem Kopf, eine Hand schützend über den Augen und dabei weiter vor sich schauend, ein paar Meter weit vor sich, ein paar Meter nassen Asphalts; es ist kalt, der Wind weht Hier dringen weder Sonne noch Wind noch Regen ein Nochmals zurückgeblättert. Draußen schneit es. Über den dunklen Asphalt des Gehsteigs jagt der Wind in Wellen feine, trockene Kristalle, nach jeder Bö sich in weißen Linien, Parallelen, Gabelungen und Spiralen absetzend, sofort wieder verweht, sofort wieder von flach über den Boden dahinfegenden Wirbeln ergriffen und abermals reglos daliegend; wieder neue Spiralen, Wellenlinien, wirbelnde Arabesken, aufs neue verweht. Man geht, den Kopf ein wenig tiefer einziehend, die Hand fester an die Stirn pressend, die Hand, die die Augen schützt und gerade noch ein paar Zentimeter Boden vor den Füßen erkennen läßt, ein paar Zentimeter Grau in Grau, in dem die Füße im Wechsel erscheinen und sich wieder nach hinten zurückziehen Draußen. Wessen Füße Die Farbe des Himmels immer noch das gleiche grenzenlose Weiß. Es ist noch Tag. Grenzenlose Einsamkeit. Die Straße verlassen. Weder Wagen auf der Fahrbahn noch Wachpersonal Innen. Außen Es regnet. Oder es schneit. Schneeschauer, in Häuserschluchten niederpeitschend. Man muß mit eingezogenem Kopf gehen, mit noch etwas tiefer eingezogenem Kopf, sich die Hand, die die Augen schützt, vielleicht gar beide Hände, etwas fester an die Stirn drückend, ähnlich einem Fotografen, wenn der, in der einen seine Hasselblad unters Auge gehoben, mit der anderen störendes Licht vom Sucherschacht abschirmt, die Hände so vors Gesicht haltend, daß sie vor einem, als schmaler Ausschnitt, gerade noch ein paar Quadratzentimeter knirschenden Schnees erkennen lassen. Oder spräche man besser von Eistreiben? Der Reisende, an einer Kreuzung angekommen, einen Fuß im Rinnstein, den andern auf dem Randstein des Gehsteigs, zögert und sucht mit dem Blick die
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Schilder, die die Namen der Querstraßen anzeigen müßten. Vergebens: die blauen Emailschilder, Straßenschilder haben blau zu sein, sind nicht da, oder sie sind zu hoch angebracht, außerhalb des Blickfelds, und die Nacht ist zu finster; und der dichte Flockenfall blendete den bald, der sich darauf versteifte, den Blick zu heben. Außerdem würde ein Straßenname kaum eine brauchbare Auskunft geben in dieser Stadt, die man nicht kennt Links geht es in eine Querstraße, die gleichfalls verlassen ist, von den gleichen gleichförmigen Fassaden gesäumt, hohen flachen Fassaden, die in kaum merklicher Krümmung ohne jede Variante unbegrenzt aufeinanderfolgen, von schweren Pfählen abgesteckt oder Pfeilern. Das alles kann aber Täuschung sein; vermutlich ist der Reisende – falls diese Annahme beibehalten werden soll – am Ort geblieben. Jedenfalls, ziemlich weit voneinander entfernt zwar, aber in regelmäßigen Abständen, die gleichen Straßenlaternen wie vorhin, deren dünne Helle den schrägen Fall der Flocken beleuchtet, hellt. Die weißen, dicht gedrängten, eiligen Lichtpartikel ändern plötzlich die Richtung; nachdem sie fürs Auge ein Weilchen annähernd lotrechte Striche zeichneten, schwenken sie fast in die Waagrechte, verharren plötzlich, beginnen, wenn der Wind brüsk umspringt, in die entgegengesetzte Richtung zu stöbern, in einer zur gegenüberliegenden Seite geneigten Bahn gleichen Gefälles, die sie nach zwei drei Sekunden wieder aufgeben, um heftig durcheinanderwirbelnd nach und nach ihre ursprüngliche Orientierung anzunehmen, mit der sie in wiederum beinahe parallelen Strichen Schraffuren zeichnen, bei längerer Betrachtung, wenn vom Wind gereizt die Augen überzulaufen beginnen, zu Schlieren verwischend, die von links nach rechts den erleuchteten Fenstern entlang schauerartig die erhellte Zone durchziehen Weder Fenster noch Straßenlaternen sind auszumachen – was heißt hier also erhellte Zone. Das Ganze vermutlich Resultat einer Bewußtseinstrübung Es ist finster; die Flocken nur noch sichtbar, wenn sie in den Schein einer Gaslaterne geraten. In regelmäßigen Abständen, die in dem Maße, wie sie sich nach hinten entfernen, immer kürzer zu werden scheinen, ist die Straße, wenn man so will, durch hellere Zonen abgesteckt, wo die Dunkelheit mit unzähligen winzigen weißen Flecken, aufschlagenden Spritzern ähnlich, getüpfelt ist: den von der Vielfalt dichter Flocken-
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vorhänge einzig sichtbaren Schleierfetzen, welche im Windsog hinundhergerissen herabsinken, herniederschwebend Lichthöfe bildend, von fallender Bewegung belebte Helligkeitswolken, blasser werdend in der Tiefe der langen, von den beiden parallelen Fassadenflächen gebildeten Passage. – Aber gleichen diese Schummerungen, diese Lichtzeichnungen nicht vielmehr windhosenähnlich aufsteigenden Nebelschlieren, da und dort, nach und nach bald überall so dicht und hell, daß sie das gegenüberliegende, genauer, das in Dunkelheit versackend dahinterliegende Gebäude, gußeiserne Laternenpfähle, einen verspäteten letzten Passanten, ja, die Straße insgesamt, so es sich überhaupt um eine Straße handeln sollte, vollkommen verhüllen; genauer: die Begrenzung des in seiner Dimension nicht eindeutig zu bestimmenden Platzes, seine hinter Dunkelheit verborgen ihn unüberwindlich umschließenden Fassaden, windschief, wie zu vermuten ist, denn kaum von ungefähr werden sie links wie rechts vom Betrachter in regelmäßigen Abständen abgesichert durch steil aufragende Stützpfeiler, massiv, nach oben auseinanderfliehend, im Höherstreben sich etwas verschlankend, und so, durch ihre leichte Neigung nach rechts – die links verlieren sich knapp über Grund im Schummer – den Eindruck des bedrohlich dem Einsturz nah aus dem Lot Geratenen erweckend. In gewisser Höhe über Niveau sind die Pfeiler zusätzlich von einem waagrecht sich nach hinten abstützenden Querbalken verstärkt, gewissermaßen also, falls von den erkennbaren Teilen aufs Ganze geschlossen werden darf, gereiht eine Arkade hoher, mächtiger und auch wieder sehr schlanker, oben sich in Düsternis auflösender A. Aber ob es sich nun um eine ausgestorbene Geschäftspassage handelt – der Eindruck, diese krümme sich kontinuierlich leicht ab, vermutlich eine durch die raffinierte, irritierende Lichtführung bedingte Täuschung – oder ob es eher ein von überdimensionierten Laubengängen gesäumter Boulevard ist, von dem aus sich unter günstigeren Bedingungen flüchtige Einblicke in ebenso weit- wie nirgendshin führende Straßenzüge böten, die im rechten Winkel von dem hinwegstrebten, den man gerade entlanggeht; vielleicht – in der trüben Atmosphäre, die über allem lastet, alles in Ungewißheit hüllt, ist alles möglich – nichts weiter als der expressiv komponierte Ausschnitt eines verregneten Innenhofs, umstellt von gewaltigen, einem kursiven A gleich aus den Mauern vorspringenden Pilastern – oder sind es doch freistehende Pfeiler? Ebensogut, selbst wenn nirgends ein Opfertisch auszumachen ist, nirgends der Griff eines in den Fels gerammten Schwerts aus dem Grund ragt – der Blick aufs Allerheiligste ist vernebelt –, könnte es sich bei dieser Architektur um einen Tempel handeln, eine Kapelle, ihrer jede
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Vorstellungskraft übersteigenden Größe nach wohl eher um eine Kathedrale, eine, der es durch das den Kriegswirren zum Opfer gefallene Dach schifft; San Galgano vielleicht, Andrej Tarkowskijs Galgano, in dessen Vierung dieser sich vor den leeren Chor, dessen acht Joche, die einst das Kreuzrippengewölbe über dem Altar trugen, mit doppelten schmucklosen Architraven ins Leere ragen, das Anwesen seiner Kindheit, einen Bauernhof, bauen ließ, einen russischen, unter dem mächtigen Rund der ausgebrochenen Rosette und dem Gleichmaß der Spitzbogenfenster verloren im Raum als Puppenstube wirkend, und wo aus der Tiefe, aus dem um Mauerrippen und, von den Seitenschiffen her, um die mächtigen Kreuzpfeiler dräuenden Nebel, plötzlich ein Schimmel auftaucht, der lautlos auf den Betrachter zugaloppiert, über ihn hinweg, links aus dem Bild – was auch immer: die Wirbel weißer Partikel, der von unsichtbarer Lichtquelle beleuchtete Flockenfall, verhindern, darüber hinaus irgend etwas zu unterscheiden; geblendet von den feinen Kristallen, ist man gezwungen, den Blick zu senken, zum schwarzen Grund Ist es also nicht doch Regen? Niedertosender Platzregen, der, von Windböen gepeitscht, die Wasseroberfläche eines sich hinten im Dunst verlierenden Kanals, Teil eines Hafenbeckens vielleicht, aufrauht, kräuselt, wellt; von innen nach dem Rand, vom Rand nach innen. Regen ist hier ständiger Gefährte, tagaus tagein der treueste Begleiter. Wolken Regen Feuchte Düsternis. Ein Lidschlag, und jede Optik hat sich in diesem Klima beschlagen; Brillenträger haben sich daran zu gewöhnen, solcherart Witterungsunbilden ausgesetzt ihren Weg durch ein Gesprüh von Tröpfchen hindurch finden zu müssen, die das Umfeld, die Landschaft – so davon, geblendet, unvermittelt von einem Extrem ins andere gewechselt, vom Innern an die Helle, überhaupt etwas zu erhaschen wäre – sogleich zerlegen, zerstückeln, vernebeln, zu einem Zerrbild, in dessen Mitte, was aber heißt inmitten solchen Dampfens und Waberns schon Mitte, man mühsam nach Orientierungspunkten sucht: Man ließe sich besser von seinem Gedächtnis leiten Die Norm, wie gesagt, ist hier der Regen. Regen, der genau genommen keiner ist. Es ist zerstäubtes Wasser: Hommage an die Langeweile, wie, in Ölzeug gehüllt nicht von ihren gewohnten Gängen abzubringen, die einen schwärmen werden; dem Rheumatiker, ohimè, ist’s Gift, das endlose Gesträz und Geniesel, aber Euphoriker, das ist bekannt, überfordern sich schnell – Sumpf scheint ihnen geheiligtes Land, durchlaufen von Formen des Lebens, die, dem Sumpf eingeboren, vom Sumpf
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nichts wissen und vermutlich noch nie von einem Sumpf gehört haben –, und Hypochondern ist kein Anlaß zum Jammern zu nichtig. Alle Schleusen geöffnet, als ergösse sich der wie zu einem Stück verhärtet auf Turmspitzen und Giebeln aufliegende, jeden Moment mitsamt seinen niedertosenden Wassermassen alles unter sich zermalmend herabzustürzen drohende Himmel als übervoller, überschwappend auf die Erde klatschender Brunnen: und es war finster auff der Tieffe; und der Geist schwebet auff dem Wasser – wo auch? Das ist kein Himmel, eine triefende Schieferplatte lastet auf der Landschaft. Zwischen Wolken und Erde immer drangvollere Enge, dunkel und mit Wasser gesättigt, von irrealen Lichtwürfen spärlich aufgehellt; mittendrin meint man im Dampfen, von Regenstrichen umgeben, in der Dunkelheit hier und da huschende Gestalten auszumachen, einen Augenblick später sich in Phantome auflösend. Das ist kein Regen, das ist die totale Vereinnahmung des Raums. Die Mär vom philosophierenden Spötter, wem konnte die nur einfallen, und wo? Der Zyniker in seiner Tonne, im Nu klatschnaß, mit klapprigen Zähnen, hätte hier kaum lange den boshaften Spötter gespielt, ohne den zartesten Sonnenstrahl, als der letzte Verwaiser tief unten, zwischen mächtigen Stützpfeilern, im düster dampfenden Kessel eines gegen oben sich verengenden Zylinders gefangen In diesem Moment geht das Licht aus. Einen Lidschlag lang. Blendende Finsternis Die folgende Seite ist weiß
aus Helldunkel, arrangiert nach S. 9–23 © Reto Hänny 2012 / Suhrkamp Verlag 1994
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1: Einladung zur Lesung von Reto Hänny in der Ausstellung „Hans Danuser. Delta“ von 1996 im Kunsthaus Zürich, Quelle: Archiv Hans Danuser.
ANMERKUNGEN
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Reto Hänny, Helldunkel. Ein Bilderbuch (Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1994). Zu den von Reto Hänny verwendeten Werken von Hans Danuser gehören die Serien LANDSCHAFTEN (1993–1996) und darauf aufbauend EROSION (2000–2006). Zudem nimmt Hänny in seiner Publikation auch Bezug auf IN VIVO (1980–1989), die Schrift-Bild-Installation INSTITUTS
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BILDER (1990–1993) an der Universität Zürich Irchel und auf die Ausstellung „Wildwechsel“ im Kunstmuseum Graubünden von 1993. Reto Hänny, „Verwirrungen eines Mitteleuropäers in Mitteleuropa“, mit einer Fotosynthese von Krzysztof Pruszkowski, in Du, Nr. 2 (Februar 1990), 14–15, 26–29; Reto Hänny, Am Boden des Kopfes. Verwirrungen eines Mitteleuropäers
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in Mitteleuropa (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991). 4 Anonymus, I Ging, 43: Kuâi, zit. nach Richard Wilhelm (Hg.), I Ging. Das Buch der Wandlungen (Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1924), 114. 5 Roland Barthes, Die helle Kammer. Bemer kungen zur Photographie, übersetzt von Dietrich Leube (Frankfurt Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985); französische Originalausgabe: Roland Barthes, La chambre claire (Paris: Gallimard, 1980). 6 An der Ostwand von Hans Danusers Atelier befanden sich zum Zeitpunkt des Gesprächs folgende drei Werke horizontal nebeneinandergehängt: LANDSCHAF TEN II (1993–1996), Fotografie auf Barytpapier (II 1 – II 3), je 150 × 140 cm. 7 Vgl. Raymond Roussel, Locus Solus, von Stefan Zweifel entziffert, kommentiert und aus dem Französischen übertragen (Berlin: Die Andere Bibliothek, 2012). Vgl. zu Roussels sprachlichem Verfahren auch Raymond Roussel, Comment j’ai écrit certains de mes livres (Paris: J.-J. Pauvert, 1963 [1935]). 8 Paraphrasiert nach: Novalis, Friedrich von Hardenberg, „Monolog“ [1799/1800], in idem, Werke, hg. von Gerhard Schulz, 4. Aufl. (München: C. H. Beck, 2001), 426–427, hier 426: „Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – sie machen eine Welt für sich aus – sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge.“ 9 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie [1766], hg. von Friedrich Vollhardt (Stuttgart: Reclam, 2012), 27 und 116. 10 „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“. Franz Kafka, Brief an Oskar Pollak, 27. Januar 1904, in idem, Briefe 1902–1924, hg. von Max Brod (New York: S. Fischer, 1958), 27.
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„Dort klangen Seufzer, Klagen, laute Schreie / hin durch die Luft, die kein Gestirn erhellt“ (Inferno III, 22–23); „Weh euch, verachtungswürdge Seelen!“ (Inferno III, 84). Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, übersetzt von Ida und Walther von Wartburg, kommentiert von Walther von Wartburg (Zürich: Manesse Verlag, 2004 [1963]), 70 und 72. Zur Auslegung des Zeichens im Sinne des I Ging vgl. Reto Hänny, Helldunkel (siehe Anm. 1), 139–140. 12 « Si donc l’on m’interroge; si l’on s’inquiète (comme il arrive, et parfois assez vivement) de ce que j’ai ‹ voulu dire › dans tel poème, je réponds que je n’ai pas voulu dire, mais voulu faire, et que ce fut l’intention de faire qui a voulu ce que j’ai dit. » Paul Valéry, „Avant-propos au sujet du Cimetière marin“, in Gustave Cohen, „Essai d’explication du Cimetière marin“ [1933], in Paul Valéry, Œuvres, hg. von Jean Hytier, Bd. 1 (Paris: Gallimard, 1957), 1503. 13 Paraphrasiert nach der Nobelpreisrede von Claude Simon vom 9. Dezember 1985. Originalzitat: „Aussi ne peut-il y avoir d’autre terme que l’épuisement du voyageur explorant ce paysage inépuisable, contemplant la carte approximative qu’il en a dressée et à demi rassuré seulement d’avoir obéi de son mieux dans sa marche à certains élans, certaines pulsions. Rien n’est sûr ni n’offre d’autres garanties que celles dont Flaubert parle après Novalis: une harmonie, une musique. A sa recherche, l’écrivain progresse laborieusement, tâtonne en aveugle, s’engage dans des impasses, s’embourbe, repart — et, si l’on veut à tout prix tirer un enseignement de sa démarche, on dira que nous avançons toujours sur des sables mouvants.“ Claude Simon, „Conférence Nobel 1985“, in Wilhelm Odelberg (Hg.), Les Prix Nobel. The Nobel Prizes 1985 (Stockholm: Almqvist & Wiksell, 1986), 210–221, hier 221. 14 Samuel Beckett, Murphy [1938] (New York: Grove, 1957), 1.
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ZEITBILD NEW YORK Hans Danuser, ALPHABETH CITY II, 1984, Fotografie/Analog in Silbergelatine auf Barytpapier, 9-teilig (II 1–II 9), je 40 × 50 cm (Ausschnitte). Aufgenommen in Alphabeth City/Lower East Side in Manhattan/New York 1984.
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HANS DANUSER UND PHILIP URSPRUNG ATELIERGESPRÄCH
Philip Ursprung und Hans Danuser im Ateliergespräch während der Seminarsitzung vom 22. Mai 2009, Foto: Patrizia Munforte.
Hans Danuser und Philip Ursprung diskutieren über den künstlerischen Status von Fotografie im 20. Jahrhundert unter der Perspektive der diversen Wechselbeziehun gen von Gattungen und Medien moderner und zeitgenössischer Kunst. Ein Fokus liegt dabei auf dem Spannungsverhältnis von Fotografie als autonomer Kunstform und Fotografie als Medium und Rezeptionsorgan anderer Kunstgattungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Unter Bezugnahme auf die 2003/2004 gezeigte Ausstellung „The Last Picture Show: Artists Using Photography, 1960 –1982“ kon zentrieren sich die Betrachtungen auf Schlüsselmomente eines sich wandelnden foto grafischen Selbstverständnisses zwischen den 1960er und frühen 1980erJahren. Schwerpunkte sind unter anderem die Rolle der Fotografie in der Konzeptkunst, die Entwicklung und Bedeutung serieller Konzepte in der Fotografie und Temporalitäts konzepte in den Bildkünsten seit den 1980erJahren.
MEDIALE POSITIONEN IN DER KUNST UND FOTOGRAFIE NACH 1950 Wir vertiefen heute das Wechselspiel der unterschiedlichen Medien in der Kunst, so in etwa ab den 1950er-Jahren. Dies immer mit Blick auf dessen Auswirkungen auf das Verständnis der Fotografie und deren ,Neuerfindung‘ – so unsere These des Seminars – in den 1970er- und 1980er-Jahren. In diesem Zusammenhang werden wir auch vertieft auf die Ausstellung „The Last Picture Show: Artists Using Photography, 1960–1982“, die Ende 2003 bis Anfang 2004 in Minneapolis im Walker Art Center zu sehen war, eingehen.1 Während der Seminarvorbereitung war für mich interessant, dass auch die Kunst als solche in den 1960er-Jahren in einer Krise steckte. Vielleicht war das eine Chance, dass in der Zeit die Fotografie als Medium von den Künstlern aufgegriffen wurde? HANS DANUSER :
Ich würde nicht von ,Krise‘ sprechen, sondern von einer Konkurrenzsituation unter den künstlerischen Medien. Die lange Zeit der Vorherrschaft der Malerei ging zu Ende, eine Phase, die vom mittleren 19. bis zum mittleren 20. Jahrhundert gedauert hatte. Um 1950 zweifelte noch niemand daran, dass der großformatigen amerikanischen Malerei die Führungsrolle gebührte. Hier ist in erster Linie an Jackson Pollock zu denken. Dann Mark Rothko, Barnett Newman und Willem de Kooning. Sie standen für den „Triumph der amerikanischen Malerei“2 nach einer fast hundertjährigen Phase der französischen Dominanz. Nicht Paris, sondern New York war nach dem Zweiten Weltkrieg das Zentrum der Kunstwelt.
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER :
Spielt auch der Gestus der Malerei eine Rolle?
PHILIP URSPRUNG : Die Geste – damals sprach man auch vom ,Akt‘ und der ,Action‘ – in der Malerei war zentral. Sie zeugt von der Präsenz des künstlerischen Autors im Werk, sie zeigt die Malerei nicht nur als Resultat, sondern auch als Pro-
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zess. Harold Rosenberg beschreibt die Malerei als Bühne, auf der die Künstler auftreten, eine Arena, in der sie handeln.3 Ich erinnere mich an die Fotografien von Hans Namuth, die Pollock beim Malen zeigen. Ich hatte beim Betrachten der Fotografien fast das Gefühl, er male für den Fotografen. Waren diese Fotografien wichtig für die Rezeption seiner Malerei?
HANS DANUSER :
Ja, wer die Fotos einmal gesehen hat, der wird die Gemälde Pollocks gar nicht mehr anders sehen können denn als Spuren von Handlung, als Raum, innerhalb dessen der Künstler sich bewegt hat. Die Fotos waren 1951 in der tonangebenden amerikanischen Kunstzeitschrift Art News zu sehen und prägten das Image von Pollock und der amerikanischen Action Painting (Abb. 1). PHILIP URSPRUNG :
Wie hat sich dieses Verhältnis von Fotografie als Teil der Rezeption der Malerei weiterentwickelt? HANS DANUSER :
1: Hans Namuths S/W-Fotografien zu Robert Goodnoughs Artikel „Pollock Paints a Picture“, in Art News 50, Nr. 3 (Mai 1951), 38–39.
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Pollock produzierte nach 1951 nur wenig und starb schon 1956. Schon damals trat die jüngere Generation von Künstlern in Erscheinung. Künstler wie Robert Rauschenberg, Jasper Johns und Allan Kaprow suchten nach Alternativen zur Dominanz der Malerei und interessierten sich für die Ausweitung des Bildraums. Ihr Medium war die Collage, und die Fotografie spielte darin eine entscheidende Rolle, denn sie erlaubt, verschiedene Ebenen der Repräsentation zu verbinden. Ausschnitte aus Zeitungen, Werbung und vor allem auch Fotografien wurden mit der Malerei kombiniert. Rauschenberg und Kaprow führten Kunstwerke theatralisch auf, Kaprow prägte den Begriff des Happenings. Gerade diese ephemeren Kunstformen waren auf die Fotografie angewiesen.4 PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER :
Inwiefern?
PHILIP URSPRUNG : Kaprows Happenings konnten, außer für die wenigen Beteiligten, nur mittels fotografischer Reproduktion wahrgenommen werden. Von Anfang an waren die Happenings, die Performances, die Aktionen, wie immer man diese Formen von Kunst auch bezeichnen mag, untrennbar mit dem Medium Fotografie verbunden. HANS DANUSER : Das wäre ein klarer Gegensatz zum Schauspiel. Das Theater lebt ja gerade von der Aufführung, und die Fotografie, die das dokumentiert, kann diese nicht ersetzen. Man weiß dank diesen Fotografien heute, wie zum Beispiel Gustaf Gründgens ausgesehen hat, als er den Mephisto spielte, aber das ist eine Nebensächlichkeit. Das Schauspiel lebt von der immer wiederholbaren Einmaligkeit des Moments auf der Bühne. Die Performance in der Kunst, die genügt sich nicht. Sie muss dokumentiert sein.
Das Schauspiel braucht den Text, das Libretto, die Partitur und kann danach beliebig oft aufgeführt werden. Es wäre allerdings kaum möglich, eine Geschichte des Theaters oder des Films nur anhand von Bühnenfotos oder Standbildern zu erzählen. Auch die Happenings und Performances haben in der Regel eine Anleitung in Form von Texten oder Diagrammen – bei Kaprow heißen die Anleitungen score –, aber diese haben allenfalls den Charakter von Skizzen oder Konzepten. Ohne die Realisierung ist das Happening nicht wirksam – und ohne eine Dokumentation nicht sichtbar.
PHILIP URSPRUNG :
2: Andy Warhol, Writer Donald Barthelme Posing for Harper’s Bazaar, „New Faces, New Forces, New Names in the Arts“, 96, Nr. 3019 (Juni 1963), aus Time Capsule 21, 1963, 1 von 13 Filmstreifen aus einem Passbildautomaten, Silbergelatine-Abzug, Filmstreifen: 20 × 4,1 cm, The Andy Warhol Museum, Pittsburgh, Inv.-Nr. TC21.73.162–TC21.73.174.
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Die Fotografie wird somit dank und mit der Performance ein eigenständiger Teil der Kunst. Was war ihre Rolle in der Pop Art?
HANS DANUSER :
PHILIP URSPRUNG : Fotografie, technische Reproduktion überhaupt, ist für die Pop Art interessant, weil sich darin die Alltagswelt der Konsumgesellschaft spiegelt. Die Pop Art wurzelt tief in den Konventionen der Malerei. Es sind weniger die Eigenschaften des Mediums Fotografie, für die sie sich interessiert, als ihre Funktion als billiges, rasch herstellbares, omnipräsentes Medium in den frühen 1960erJahren. Andy Warhols Auseinandersetzung geht sicherlich am weitesten. Er interessierte sich für die Serien, die in Porträtautomaten hergestellt werden, später für Film, ab den 1970er-Jahren für Polaroids. Er interessierte sich für die Farbe Silber, die natürlich mit der Materialität von Fotografie zusammenhängt (Abb. 2). Er interessierte sich für ihre Beziehung zur Sterblichkeit, zum Tod, in dem Sinne, dass sie einmalige Ausschnitte aus dem Leben fixiert und zwischen ,Wirklichkeit‘ und Fiktion vermittelt.
MEDIALE WECHSELBEZIEHUNGEN, SERIALITÄTSKONZEPTE UND KÜNSTLERISCHE AUTONOMIE IN DER FOTOGRAFIE Ab wann wird die Fotografie als Medium, also als Vorlage zur Weitertransformation in ein malerisches Bild, benutzt?
HANS DANUSER :
PHILIP URSPRUNG : Diese Tradition reicht zurück bis in die Anfänge der Fotografie im mittleren 19. Jahrhundert. Die meisten Historienmaler oder Panoramamaler haben Fotografien als Vorlagen verwendet, für Pflanzen, Tiere, Gesichter von Menschen, Landschaften, Architektur, Uniformen, architektonische Details etc. Aber die Fotografie, erstellt von Spezialisten oder manchmal auch den Künstlern selber, war ein Hilfsmittel.
Das änderte sich im 20. Jahrhundert, zum Beispiel mit dem Aufkommen der Collage, ich denke an John Heartfield. HANS DANUSER :
Ja, für Dada, den Konstruktivismus und den Surrealismus hat die Fotografie einen ganz anderen, eigenen Status.
PHILIP URSPRUNG :
Gibt es Beispiele für Fotografen, die im 19. Jahrhundert für Maler gearbeitet haben?
HANS DANUSER :
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Der berühmteste ist Eugène Atget, der ein riesiges Inventar von Hintergrundaufnahmen zusammengestellt hat (Abb. 3).5 Mit diesen Fotografien hätte man später sozusagen diejenigen Viertel von Paris, die damals abgerissen wurden, rekonstruieren können. Und diese verkaufte er den Malern. PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER :
Der Auslöser für das Machen seiner Bilder war quasi ein Markt.
3: Eugène Atget, Coin de la rue de Seine et de la rue de l’Echaudé Saint-Germain, Paris (VIème arr.), 1911, Fotografie, Paris, musée Carnavalet.
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Ja. Ein anderes Beispiel ist Karl Blossfeldt. Er benutzte die Fotografien von Pflanzendetails als Vorlagen für die Kunstgewerbeschüler in Berlin, die Ornamente für Bauten oder Konsumobjekte schufen (Abb. 4). Nach dem Ersten Weltkrieg, mit der Veränderung des Geschmacks hin zum Stil des Bauhauses sank das Interesse der Kunden. Erst gegen Ende der 1920er-Jahre, aus der Perspektive des Surrealismus, wurden Atget und Blossfeldt als Künstler wahrgenommen und fanden Eingang in die Geschichte der Fotografie und Kunst. PHILIP URSPRUNG :
Dies war auch die Zeit, als die Fotografie sich in ihrer Bildästhetik an der Malerei orientierte. Carl Christian Heinrich Kühn zum Beispiel und seine Gruppe in Wien orientierten sich am Bildverständnis der Malerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. HANS DANUSER :
Ja. Die Ikonografie, die Ausschnitte, die sind übernommen. Die Fotografie versucht auch, Effekte der Malerei zu imitieren, etwa das Verschwommene, das dann mit Oberflächenbehandlungen gemacht wird. Die lange getrennten Fäden von Fotografie und Kunst laufen dann in den frühen 1970er-Jahren neu zusammen.
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER : Dazwischen war aber, denke ich doch, wesentlich – wie ich jetzt verstanden habe – die Zeit des Surrealismus mit Max Ernst und auch Man
4: Karl Blossfeldt, Adiantum pedatum, Haarfarn, junge, noch eingerollte Wedel, o. J., Silbergelatine-Abzug, 23,8 × 29,9 cm, langfristige Leihgabe der Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv – Sammlung Karl Blossfeldt in der Photographischen Sammlung/SK Stiftung Kultur, Köln.
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Ray, wo dann die Fotografie ein gegenüber der Malerei eigenständiger ästhetischer Bildkörper war. PHILIP URSPRUNG : Für die Surrealisten ist die Fotografie ein besonders gut geeignetes Instrument, weil es im Unterschied zur Malerei mit Wirklichkeit befasst ist, weil es ein Abdruck von Realität ist, weil es in der Verfremdung diese Transformation deutlicher machen kann als ein Gemälde, das immer schon fiktiv und konstruiert ist. Es ist stets ein dynamisches Medium, das Man Ray durch die Chemie oder Max Ernst durch die Technik des Kopierens verwandelt – es ist also mehr als bloße Reproduktion.
Könnte man behaupten: Es ist vielleicht das erste Mal, dass die Fotografie versucht, eine eigene, ihr wesensmäßige Ästhetik zu finden, sie unabhängig von der Malerei auszuloten, um sie dann der Malerei entgegenzusetzen?
HANS DANUSER :
Ja. Die Rayographien oder die Solarisationseffekte zum Beispiel sind Versuche, mit dem Medium als solchem zu arbeiten, es zu reflektieren, es als Horizont der Tätigkeit zu bewerten.
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER :
Und wann wird die Fotografie autonom?
5: Robert Frank, London, 1951, Silbergelatine-Abzug, 23 × 33,6 cm, National Gallery of Art, Washington (Frank Collection, Gift of The Howard Gilman Foundation, in Honor of the 50th Anniversary of the National Gallery of Art, Inv.-Nr. 1991.82.1).
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In den 1950er-, 1960er-Jahren kann man Protagonisten der Fotografie wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Frank (Abb. 5) nennen. Für die bildende Kunst hingegen spielen diese Fotografen nur eine marginale Rolle.
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER : PHILIP URSPRUNG : HANS DANUSER :
Sie wurden nicht in der Kunst rezipiert. Nein. Eben. Das ist doch bemerkenswert.
Ja, aber sie waren bekannt und erfolgreich, ebenso wie Ansel Adams oder Edward Weston. Ich möchte aber behaupten, dass sie alle sich an der Malerei, etwa an deren Kompositionsregeln, orientierten.
PHILIP URSPRUNG :
Das wäre nun aber wieder ein Rückschritt in der Emanzipation der Fotografie, da sie wieder dieses epigonale Verhalten einnimmt, wie das der Fotografen um 1900. HANS DANUSER :
Wenn man so will, ist diese Art von Fotografie, wie sie in den 1950er-Jahren vorherrscht, weniger autonom als die surrealistische Fotografie. Und dennoch bilden diese Fotografen die Grundlage für das, was ab den 1960erJahren geschieht, weil diese Praxis näher an der Straight Photography, der doku-
PHILIP URSPRUNG :
6: Ed Ruscha, Union, Needles, California, aus Twentysix Gasoline Stations, 1962.
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7: Hans Danuser, Installation FROZEN EMBRYO, Bündner Kunstmuseum, 2000, Fotografie auf Barytpapier, 3-teilig, je 141 × 150 cm, installiert in der Villa Planta im Lichthof und Aufgang zur permanenten Sammlungsausstellung im 1. Stock, Fotografie: H. D. Casal.
mentarischen Fotografie, der journalistischen Fotografie ist als an den Positionen der Avantgarde-Fotografie. Ich denke an Figuren wie Edward Ruscha, der aus dem Design kommt, aber sehr früh fotografiert und in den 1960er-Jahren mit seinen in hohen Auflagen verbreiteten kleinen Fotobüchern bekannt wird (Abb. 6). Das war 1965 provokant: ein Künstlerbuch mit Fotografie im Eigenverlag herauszugeben, es als Kunstwerk zu bezeichnen und dafür nur ein paar Dollar zu verlangen. Ruscha verwendet Fotografie ganz und gar nicht wie ein Ansel Adams, d. h. er betont weniger die malerischen Möglichkeiten, sondern beschäftigt sich mit der massenhaften Reproduzierbarkeit, der Schnelligkeit des Mediums und neuen Konzepten von Serialität. Von Ruscha gibt es eine Linie, die über Dan Graham, Robert Smithson dann in die Conceptual Art hineinführt, die in den 1970er-Jahren der Malerei vorübergehend den Garaus machen wird. HANS DANUSER : Graben wir noch ein wenig tiefer im Verhältnis zwischen Einzelbild und Bildserie, da ich meine, dieses Wechselspiel ist im Medium der Fotografie selbst angelegt. In meinen FROZEN EMBRYO SERIES (Abb. 7) beispielweise habe ich die Möglichkeiten des Negativ-Positiv-Prozesses der analogen Fotografie durchgespielt, indem ich von einem Negativ über Drehung und Spiegelung acht Unikate
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vergrößerte und diese in Dreier- bis Achtergruppen in den Raum stellte. Diese Fotografien sind als Einzelbild denkbar, entwickeln aber erst in der Gruppe, in der Serie, durch das sichtbare Anderssein des immer Gleichen eine einmalige Qualität. Ja, die mechanische Vervielfältigung und Manipulierbarkeit ist ein zentrales Merkmal der Fotografie. Die Variation und Repetition von ein und demselben Motiv ist seit Andy Warhol aus der Kunst, die sich mit Fotografie befasst, nicht wegzudenken. PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER : Um nun aber noch einmal auf Ed Ruscha zurückzukommen: Hätten die Serienbilder von Ruscha, etwa seine Twentysix Gasoline Stations, als Einzelbild, als einzelne Fotografie nie eine Chance gehabt, reflektiert, rezipiert zu werden?
Es braucht dieses Nebeneinander. Ich glaube nicht, dass die Aufnahmen als Einzelbild sinnvoll wären. Sie funktionieren in der Serie. Dies ist allerdings nicht zu verwechseln mit dem Konzept der Reihe, das in der Romantik
PHILIP URSPRUNG :
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wurzelt, wo das Œuvre eines Künstlers in seiner Ganzheit, in seiner Bedeutung als Entität wahrgenommen wird: Jedes einzelne Werk ist dann ein Fragment, ein Stück daraus, und die Bedeutung erhält es erst aus dem Ganzen. Manches Œuvrekonzept im frühen 20. Jahrhundert hängt damit zusammen, man denke an Paul Klee, der seine Werke nummeriert, beschreibt, ordnet, als ob er sozusagen vor dem Hintergrund seines Lebenswerks sein eigener Kartograf wäre. Es scheint, als ob es gar nicht möglich wäre, ein Meisterwerk zu schaffen, als ob die Fülle der Artefakte dieses gleichsam ersetzen müsste. Gerhard Richter, und damit sind wir jetzt schon in den 1960er-, 1970er-, 1980er-Jahren, ist auch ein typischer Fall für dieses Konzept. Er hat ebenfalls von Anfang an das eigene Werk nummeriert. Er geht davon aus, dass die Summe der Werke erst das Bild, das Gesamte, ausmacht und jedes für sich nur im Zusammenhang mit dem Rest zu sehen ist. Das ist eine wirklich romantizistische Auffassung von Reihung, die wiederum mit Ruscha gar nichts zu tun hat: Denn in seiner Logik der Serie oder Addition ist es im Prinzip egal, ob er nach 26 Gasoline Stations noch etwas schafft oder nicht. Es spielt folglich auch keine Rolle, ob es 26 oder 24 oder 19 Bilder sind. Ruscha zeigt, wie künstlich und willkürlich diese Begrenzung eigentlich ist.
8 a/b: Bernd und Hilla Becher, Anonyme Skulpturen, in Kunst-Zeitung, Nr. 2 (Januar 1969), Titelseite, 2–3. Erschienen zur Ausstellung „Anonyme Skulpturen. Fotos industrieller Bauten“, Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 1969.
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Die Zahl 26 ist ja so etwas wie eine Unzahl. Sie hat als Zahl keine Bedeutung, denke ich. Wie ist das bei den Arbeiten von Bernd und Hilla Becher? Haben sie ihre Werke auch nummeriert?
HANS DANUSER :
Nein. Die Bechers sind irgendwie dazwischen, würde ich sagen. Sie beginnen in den 1950er-Jahren mit Dokumentationsfotografien zu Industriearchitektur, in einem Moment, wo die Schwerindustrie und die Zechen im Ruhrgebiet allmählich abgebaut werden. Die meisten ihrer Aufnahmen zeigen Fabriken, aus denen kein Rauch mehr aufsteigt, aus denen die Arbeiter verschwunden sind. Die Bechers gehen wie Archäologen vor, die eine verschwindende Kultur registrieren (Abb. 8). Sie halten die Zeugen der verschwindenden Industrie in Serien fest, wie eine Taxonomie von vergleichbaren Fragmenten einer verschwundenen Vielfalt. Es ist ihnen ganz wichtig, dass jedes Objekt, jede Zeche an diesem oder jenem Ort, jedes Arbeiterhaus in diesem oder jenem Kontext, identifiziert ist. Ohne die Bildlegende würden die Aufnahmen formalistisch. Das heißt nicht, dass nachher, in dem Moment, wo das als Kunst rezipiert wird, also ab den frühen 1970er-Jahren – eben als man durch Ruscha und andere sich daran gewöhnt hat –, dass dann die Bildtitel wegfallen und keine Beachtung mehr finden. Man kann vielmehr sagen, dass bei ihnen beides verschwimmt. Es gibt eine minimalistische Art, die Serie als etwas zu sehen, wo die Einzelteile unter sich austauschbar sind. Bild 1 kann Bild 3 werden, Bild 26 kann Bild 5 werden. Und natürlich durchzieht das Werk der Bechers auch ein romantischer Impuls, der sich auf die Industrieruine bezieht. Diese Gebäude verlangen unser Mitleid, während die Tankstellen weniger pathetisch geladen sind. Zugleich ist das Œuvre der Bechers auch darauf angelegt, verschiedene Wahrnehmungsweisen von Kunst und Wissenschaft zuzulassen. Ihre Fotografien funktionieren auf mehreren Ebenen, bis sie sich verselbstständigen und ab den mittleren 1970er-Jahren ganz als Kunst wahrgenommen werden. PHILIP URSPRUNG :
Ich denke, wir könnten nun, mit dem Blick auf die Fotografie der 1970er-Jahre, auch auf die eingangs erwähnte Ausstellung „The Last Picture Show“ zu sprechen kommen. HANS DANUSER :
„The Last Picture Show: Artists Using Photography, 1960– 1982“ ist eine Ausstellung, die Ende 2003, Anfang 2004 im Walker Art Center in Minneapolis präsentiert wurde und die Um- und Aufwertung der Fotografie als künstlerisches Medium in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Thema hatte.6 Mit Ausblicken auf die Frühzeit. Was heute selbstverständlich ist, dass Fotografie eines der Medien der bildenden Kunst ist, und wo die Begriffe zu verschwimmen beginnen, das war 1970 keineswegs selbstverständlich. Es gab bis damals viel klarere Abgrenzungen zwischen künstlerischen Medien und Gattungen. PHILIP URSPRUNG :
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Nehmen wir doch noch einmal diese Schlaufe gerade von dort, wo diese Zuordnung der Fotografie zu den angewandten Künsten von Künstlern selbst unterlaufen wird. HANS DANUSER :
Die Künstler, die in der Ausstellung „The Last Picture Show“ vertreten sind, sind alle keine Straight Photographers. Sie benutzen am liebsten Kleinbild, Instamatic oder Polaroids. Es sind nicht nur billige, einfache Medien, sie werden auch anders präsentiert – eben beispielsweise in Form von kleinen Broschüren, die man im Bus lesen, die man wegstellen, sogar wegwerfen kann. Sie stehen für die Verschiebung vom musealen Raum zu den Seiten der Kunstzeitschrift. Sie markieren den Moment, wo Fotografie in ihrer Zeichenhaftigkeit ganz selbstverständlich Teil der Kunst wird. Dies spiegelt auch das damalige Alltagsleben, das von einer Omnipräsenz von Fotos geprägt ist. Ich lebte damals, in den 1960er-Jahren, als Kind in den USA. Jede Woche flatterte Life ins Haus, eine Zeitschrift, die ganz von herausragenden Fotos dominiert war. Die Fotografie übernimmt in der Zeit fast die Rolle des Wirklichen, des ,Lebens‘. Die in Life gezeigten schockierenden Bilder aus dem Krieg in Vietnam trugen viel dazu bei, dass die amerikanische Bevölkerung sich gegen diesen Krieg zu wehren begann. PHILIP URSPRUNG :
Das ist dann auch die Zeit, wo das Fernsehen in der Wahrnehmung des Wirklichen und als Medium der dokumentarischen Kompetenz mitzuspielen beginnt. HANS DANUSER :
Ja, und dann tritt abermals eine Veränderung im Feld der Fotografie ein, welche jene Phase einläutet, in der wir uns immer noch befinden, nämlich die Fotografie, die wie ein Gemälde funktioniert, d. h. als großformatige, kostspielige Werke in sehr kleinen Auflagen. Diese Veränderung findet um 1980 statt, also in der Zeit, die auch den Beginn von deinem Œuvre markiert. In dieser Zeit passieren verschiedene Dinge parallel. Einerseits endet die Rezession der 1970er-Jahre, und es entsteht ein Markt für Fotografie, welcher dem Boom des Kunstmarkts folgt. Andererseits neigt sich die Dominanz der Konzeptkunst dem Ende zu. Gefragt sind wieder erzählerische, großformatige, farbige, expressive Kunstwerke. Cindy Sherman und Jeff Wall sind die Protagonisten dieses Übergangs, und für beide ist die Fotografie zentral. Gegen Mitte der 1980er-Jahre betreten die Schüler von Bernd und Hilla Becher die Bühne der Kunstwelt, wie Thomas Struth, Thomas Ruff, Andreas Gursky, Candida Höfer.
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Ich denke hier andererseits auch an Sigmar Polke, der zu dieser Zeit in seinen Übermalungen von fotografischen Bildern die bilderzeugenden Möglichkeiten chemisch reagierender Substanzen für die Malerei auslotet – was natürlich auch fotografische Materialprozesse in einer neuen Weise ästhetisiert (Abb. 9). Ab wann hast du dich aktiv mit Kunst befasst? HANS DANUSER :
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9 a–f: Sigmar Polke, Übermalung eines Bildes mit Berglandschaft, 1982/1990, Serie von 6 Fotografien, je 62 × 72 cm, Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), Stuttgart.
Meine eigene Begegnung mit der zeitgenössischen Kunst setzte damals ein. Ich studierte in Genf und machte ein Praktikum an der Kunsthalle Bern bei Ulrich Loock. Ich durfte 1988 bei der Ausstellung „Unbewusste Orte“ des damals völlig unbekannten Thomas Struth mitwirken, der ersten Einzelausstellung überhaupt.7 Ich sprach viel mit ihm. Er erzählte mir, wie er aus Anlass des PHILIP URSPRUNG :
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verschwindenden Düsseldorfer Hafenviertels mit dem Fotografieren begonnen hatte, wie er als Dokumentarfotograf von Gerhard Richter und Ulrich Rückriem sein Geld verdiente. Darauf folgten, Ende der 1970er-Jahre, Aufnahmen in New York und später in diversen Städten Europas (Abb. 10). Er hatte sich für ein mittleres Format entschieden – er sagte mir, dass er niemals großformatige Fotos machen möchte, weil diese Formate der inneren Logik der Fotografie widersprächen –, aber er war unsicher, wie die Fotografien in der Kunsthalle präsentiert werden sollten. Am Ende schlug Werner Schmied, der Techniker an der Kunsthalle, vor, die Fotos mit Passepartouts zu versehen und in grau gestrichenen Holzrahmen zu präsentieren. So wurde denn in den folgenden Jahren Struths Kunst präsentiert, halbwegs zwischen Konzeptkunst und malerischer Fotografie. Max Hetzler kaufte die ganze Ausstellung, und kurze Zeit später wuchsen die Formate, während die Auflagen kleiner wurden. Die Fotografie wurde behandelt wie Malerei, sozusagen als Unikat.
BEDEUTUNGSFELDER KONZEPTUELLER FOTOGRAFIE Vielleicht können wir dem Begriff ,konzeptuell‘, der im Zusammenhang mit der Ausstellungsbetrachtung mehrmals verwendet wurde, nun auf die Fotografie bezogen noch einmal vertieft nachgehen? HANS DANUSER :
Es geht um eine Fotografie, die sich von der pikturalen Tradition löst, sich als Medium innerhalb einer künstlerischen Kontinuität versteht und die eigene Historizität und Autonomie, also die eigene Geschichtlichkeit und Eigengesetzlichkeit, zum Thema hat. Die Malerei als diskursiver Horizont verschwindet in diesem Moment.
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER :
Also wird das Medium als solches zum Thema?
Weniger das Medium – das war zur Blütezeit der Malerei das Thema, der Status als Kunstwerk wurde verhandelt. Anfang der 1960er-Jahre ging es nicht mehr um die Frage ,Was ist Malerei?‘, sondern um die Frage ,Was ist Kunst?‘. Ein Kunstwerk ist dann relevant, wenn es die Geschichte der Kunst reflektiert und zugleich seine Lage innerhalb eines weiteren Kontexts. Marcel Duchamp wird deshalb zur Leitfigur der Kunst in den 1960er- und 1970er-Jahren, weil sein Œuvre sich seit jeher um die Frage der Definition von Kunst dreht. Dies erklärt auch die aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbare Faszination der damaligen Theorie für die Definition von Moderne und Postmoderne. Diese dualistische Argumentation blühte, weil sich damit die Frage „Was ist Kunst?“ fast endlos lange durchspielen ließ. Aber ab den 1990er-Jahren wurde diese Frage zunehmend irrelevant, weil es nicht mehr um die Abgrenzung der Kunst von Nichtkunst ging. Entsprechend zweitrangig wurde dann auch die Frage, ob Fotografie Kunst sei oder nicht. PHILIP URSPRUNG :
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Es dauerte dennoch eine Weile, bis die Fotografie in dieser Diskussion berücksichtigt wurde.
HANS DANUSER :
Bis etwa 1960 war die Malerei gleichsam ein Synonym für Kunst. Dann beanspruchten plötzlich andere Medien wie die Skulptur, die Fotografie, die Performance, gleichberechtigte Medien der Kunst zu sein. Die Malerei verlor das Monopol, und seither wird regelmäßig der Tod der Malerei verkündet. Und zugleich öffnen sich die Grenzen zwischen den Gattungen, namentlich auch zwischen Kunst und Architektur. PHILIP URSPRUNG :
Dann hat sich mit der neuen Betrachtung der Fotografie, die sich in dieser Zeit formuliert, auch die Architektur verändert, oder ging das autonom vor sich? Das letzte unserer vier Ateliergespräche umkreist ja mit Peter Zumthor das Thema der Architektur in der Fotografie. HANS DANUSER :
Vereinfacht könnte man es folgendermaßen formulieren: In den 1950er-Jahren geht es um die Grenzen der Malerei, in den 1960er-Jahren um die Grenzen der Skulptur, in den 1970er-Jahren um die Grenzen der Architektur. Die Kunst dehnt sich dabei immer weiter aus. Emblematisch dafür ist die Land Art um 1970. Die Land Art ist keine Kritik der Konventionen der Ausstellungen, sondern ein Symbol für die Ausdehnung der Kunstwelt. Man reist zur Vernissage im
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10: Thomas Struth, Crosby Street, 1978, Silbergelatine-Abzug, 1982, 29,5 × 40,6 cm, The Metropolitan Museum of Art, New York (Geschenk von Henry S. Hacker, Inv.-Nr. 1982.1053.1), gezeigt in der Ausstellung „Unbewusste Orte“, Kunsthalle Bern, 1987.
ATELIERGESPRÄCH
Flugzeug an! Diese Kunst braucht die räumlichen Grenzen der Institutionen gar nicht mehr. Sie braucht aber immer die Fotografie. Sie ist ohnmächtig ohne die Fotografie, weil das die Ebene ist, wo das Bild vermittelt wird und diskutiert werden kann. HANS DANUSER :
Die Fotografie bestimmt die Wahrnehmung und den Diskurs.
PHILIP URSPRUNG : Die Land Art ebenso wie die Performance wird über die Fotografie wahrgenommen. HANS DANUSER :
Hat zum Beispiel ein Richard Long selbst fotografiert?
Ja, er hat oft selbst fotografiert. Andere Künstler wie Robert Smithson oder Michael Heizer haben, sobald sie es sich leisten konnten, professionelle Fotografen engagiert. Aber um 1967, 1968 verwendet Smithson eine billige Instamatic-Kamera und macht Schnappschüsse, die konzeptuell und zeichenhaft funktionieren und für Aufsätze oder Teile seiner Non-Sites verwendet werden, nicht als auratische Unikate. Dan Graham, Sol LeWitt, Ed Ruscha, Martha Rosler, Dennis Oppenheim, Gordon Matta-Clark und Vito Acconci gehen ähnlich vor. Das Produkt sind sehr oft Serien von Fotos, die dann in Künstlerbüchern publiziert werden, oder Collagen von Bild und Text. PHILIP URSPRUNG :
Haben sie diese Fotografien dann einfach verschenkt, oder wurden die verkauft? Gab es einen Markt, oder kam dieser erst später?
HANS DANUSER :
Als autonome Kunstwerke hat zumindest Smithson sie zur Zeit ihrer Entstehung nicht verkauft. Einige fanden Eingang in den wachsenden Markt von Multiples, andere endeten im Archiv.
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER : Man kann also sagen, der Künstler dieser Zeit benutzt die Fotografie als ein autonomes Medium, aber als Teil eines Gesamtwerkes. Die Fotografie begründet sich letztlich über eine Aktion, die stattgefunden hat, oder über eine Landschaftsveränderung, die stattgefunden hat, oder eine Bewegung in der Landschaft, die stattgefunden hat. Sie ist etwas Autonomes, steht aber in einem engen Verhältnis zur Aktion des Künstlers.
Ende der 1970er-Jahre prägte Craig Owens den Begriff des „allegorischen Impulses“.8 Die Fotografie spielt darin die Hauptrolle, denn sie erlaubt es, die Bedeutung zwischen Text und Bild zirkulieren zu lassen. Es ist ein sehr fruchtbarer Begriff, der leider bald wieder aus der Diskussion verschwand.
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GEGENWARTSKUNST ALS ZEITVERLUST. FOTOGRAFIE UND KUNST SEIT DEN 1980ER-JAHREN Ich greife nun auf meine persönlichen Erfahrungen der 1970erund 1980er-Jahre zurück, als Handelnder. Für mich war interessant, wie die Fotografie auf zwei verschiedenen Ebenen wahrgenommen wurde. Man sprach das erste Mal von einer Bilderflut. Es hatte noch nie so viele Bilder gegeben. Jeder konnte fotografieren, und gleichzeitig wurden die Fotografien immer perfekter, mit neuen Emulsionen, in Farbe und Schwarz-Weiß und mit immer größeren Formaten. Auch die gestalterischen Möglichkeiten für das Bild selbst waren groß, dies analog zum heutigen Photoshop. Parallel dazu gab es die andere Wahrnehmung der Fotografie, kumuliert im Statement von Robert Frank, dass die Fotografie vielleicht nicht mehr existiere. Er wandte sich dann in Folge dem Film zu, in den 1970er-Jahren. Das hatte sich eingebrannt in meiner Zeit damals, denn wenn ich jemandem sagte, mich interessiere die Fotografie, hieß es einfach: Robert Frank hat gesagt, die ist tot. Diese Fotografie war ja auch wirklich zu Ende. Und in der Kunst selbst Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre war nochmals diese Hochblüte der Malerei, der Neuen Wilden. Ich war damals in New York, als diese gefeiert wurden. Interessant ist aber, dass parallel dazu in der Zeit – und darum heißt das Seminar ja auch „Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren“ – eben doch eine neue Generation da war, die versuchte, die Bildmöglichkeiten in der Fotografie selbst neu auszuloten, als eigenständiges Bildereignis.
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11: Jeff Wall, The Destroyed Room, 1978, gedruckt 1987, 179 × 249 × 20,6 cm, Bild: 158,8 × 229 cm, Cibachrome-Diapositiv in Leuchtkasten, National Gallery of Canada, Ottawa, Inv.-Nr. 29997.
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Ja, die Konzeptkunst – und mit ihr die zeichenhafte Verwendung von Fotografie – verlor Ende der 1970er-Jahre viel an Terrain. Um 1980 wehte ein anderer Wind. Der Neoexpressionismus, wie die Kritik es nannte, blühte. Viele Kritiker sahen darin eine reaktionäre Rückkehr. Die Errungenschaften der Konzeptkunst waren vom Tisch, es herrschte eine Kunst des Affektiven, des Nebulösen, des Pathos, des Sublimen, des großen Formats. Das alles …
PHILIP URSPRUNG :
HANS DANUSER :
… Aber das ist nun die Malerei, jetzt wieder?
PHILIP URSPRUNG : Ja, aber nicht nur, denn damals blühte auch die Installation, also die großformatige Skulptur. Aber zugleich war es eine (Rück-)Bewegung hin zu einer affirmativen Auffassung von Kunst, also der Idee, dass die Kunst nicht ein Ort des politischen Korrektivs, der Kritik sei, sondern ein Ort der Affirmation, der Feier, des Dekors. Emblematisch ist Jeff Walls The Destroyed Room von 1978 (Abb. 11). Wall, ein Kind der Konzeptkunst, sah die Ausweglosigkeit und riss buchstäblich die Wände ein. Plötzlich durfte die Kunst wieder Illusionen erzeugen, farbig sein, narrativ, einzigartig, verführerisch, schön. Die Oberfläche des Mediums wurde transparent im buchstäblichen Sinne – in Walls Transparencies9 – und im übertragenen Sinne, dass sie nicht ihre eigene Beschaffenheit reflektierte.
Was spielen da zum Beispiel die Bechers für eine Rolle, um noch einmal auf ihre Fotografie zurückzukommen? Sie setzen sich ja von der Malerei ab, indem sie eine klare, einfache Sichtweise … ich würde jetzt fast sagen, unprätentiöse Sichtweise auf die Dinge wählen?
HANS DANUSER :
PHILIP URSPRUNG : Bernd und Hilla Becher kommen ja wie gesagt von der Dokumentarfotografie her, von der Industriearchäologie aus den 1950er-Jahren. Die Ästhetik ihrer Bildserien wird aber dann im Sog der Conceptual Art in den frühen 1970er-Jahren plötzlich als künstlerisch interessant entdeckt. Es geht ihnen eigentlich wie Blossfeldt, d. h. sie rücken entgegen der ursprünglichen Intention in den Kunstdiskurs.
Dieser Aspekt ist sicher nicht zu unterschätzen, wie die nachträgliche Wahrnehmung etwas verändern kann. Man könnte sagen, dass der veränderte Blick auf die Fotografie dann auch ihre Arbeit verändert hat?
HANS DANUSER :
Ja. Sie präsentieren ihre Fotografien in den 1980er- und 1990er-Jahren ganz anders als in den 1960er-Jahren. Die Bildlegenden schrumpfen von präzisen industriearchäologischen Angaben zu knappen Ortsnamen. Die Formate werden größer, die Fotos sind in Blöcken zusammengestellt, die Inszenierungen wirken nun fast räumlich. Das Festhalten des Augenblicks, das die Fotografie so lange ausmachte, rückt in den Hintergrund gegenüber dem Festhalten des Ortes.
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Die Fotografie fungiert weniger als eine Momentaufnahme denn als eine Lokalisierung. Weil die Zeit, wenn man sich auf das Buch Empire (2000) der Theoretiker Michael Hardt und Antonio Negri bezieht,10 langsamer läuft und wir uns in einer Phase von ,ewiger Gegenwart‘ befinden, verändert sich die Beziehung zwischen Kamera und Gegenstand. Die Kamera ist weniger das statische Instrument, das im Fluss der Zeit steht, sondern beginnt, sich im Raum zu bewegen, um diese stagnierende Zeit aufzunehmen. HANS DANUSER :
Deinen Hinweis auf eine Veränderung der Zeitlichkeit finde ich
nun sehr essenziell! PHILIP URSPRUNG : Hardt und Negri vertreten die These, dass die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges langsamer abläuft, dass der geschichtliche Raum quasi schrumpft – sowohl der Raum der Vergangenheit wie derjenige der Zukunft. Laut Negri hat der Kapitalismus die Tendenz, räumliche wie zeitliche Grenzen und Differenzen zu nivellieren. Es soll quasi nur ein Hier und Jetzt herrschen. Natürlich ist dies ein vereinfachendes Modell. Aber es passt meiner Ansicht nach gut auf die Feststellung, die wir in der Kunst machen können, nämlich dass die Historizität, eben der Bezug auf die Geschichte, an Bedeutung verliert. Man stelle sich vor: Seit gut einem halben Jahrhundert sind wir mit ,Gegenwartskunst‘ konfrontiert. Im 19. Jahrhundert war ,modern‘ diejenige Kunst, die gerade im Salon zu sehen war. Heute finden wir Andy Warhols Kunst ,zeitgenössisch‘, obwohl er seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr lebt. Wenn nun die Zeit nicht mehr linear abläuft, dann ist die einzelne kleine Leica ein Anachronismus. Sie kann nur erinnern an die Zeit, als die Zeit noch lief. Sobald heute in Russland ein Meteorit einschlägt, wimmelt es zehn Minuten später von Bildern auf Youtube, eingespeist von Kameras, die jeder im Auto fix laufen lässt für den Fall, dass er einen Unfall hat. Der ,Schnappschuss‘ und damit die Kleinbildkamera verschwindet. Die Plattenkamera hingegen nicht. Möglicherweise entspricht ihre Räumlichkeit und ihre Langsamkeit, also die Tatsache, dass sie selber so viel Raum einnimmt und so lange braucht, bis sie ein Bild aufnehmen kann, dem veränderten Chronotop besser als im 20. Jahrhundert. Das Problem ist nicht mehr, dass die Dinge zu schnell gehen, sondern zu langsam oder sich nicht bewegen. Das heißt, die Kamera muss beginnen, sich um sie herumzubewegen, und die Dinge bewegen sich nun nicht mehr um die Kamera herum.
Dies erinnert mich an die Vorgehensweise damals beim IN VIVO-Zyklus. Es ist nicht mehr ein Zeitablauf, der die Bildserien strukturiert, es ist das Umkreisen eines Raumes, das den Rhythmus vorgibt. Es ist nicht mehr eine Abfolge, sondern das Ausleuchten eines Raumes, der sich nun aber aus ganz verschiedenen Räumen zusammensetzt. IN VIVO wurde in Amerika und in Europa fotografiert, und am Schluss zeigt es sich in einem Bildraum.
HANS DANUSER :
ATELIERGESPRÄCH
Ich habe dir ja mal gesagt, dass in meiner Erinnerung IN VIVO viel größere Bildformate hat, d. h. ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass es mit einer Kleinbildkamera gemacht wurde. Die Fotografien von IN VIVO sind weit weg von der Leica. Weil, wie gesagt, die Leica in den 1970er-Jahren quasi erblindet. Bei Robert Frank wirkt das dann ja fast tragisch, wie er mit dem Lichtstift versucht, noch in der Emulsion zu kratzen. Der Wechsel hin zum Film gelingt mühelos und entspannt. Aber das Kleinbild ist nicht zu retten.
PHILIP URSPRUNG :
Dieser Wechsel von der Kleinbildkamera zur Großbildfachkamera der Werbeateliers, diese Schnittstelle in den 1980er-Jahren weg vom Trashigen der Konzeptkunst mit Kleinbild- und Sofortbildkamera zu einer Fotografie in hochstehender Qualität in Optik und Filmmaterial mit großformatiger Fachkamera, wie du vorhin im Gespräch bei Jeff Wall erwähnt hast, ist sicherlich ein wesentliches Merkmal dieser Zeit. Es war Kalter Krieg. Es wurde politisch sehr, sehr hart. Der Aufbruch der On-the-Road-Generation der 1950er- und 1960er-Jahre war weit weg.
HANS DANUSER :
Jeff Wall arbeitet jahrelang an einzelnen Fotografien, inszeniert sie im Studio mittels Schauspielern, hält sie in einer Fülle von Einzelbildern fest, die er danach, fast wie ein Mosaik, am Computer montiert. Dann stellt er sie als Großdia aus, von hinten beleuchtet. Er muss dem Bild fortwährend Energie zuführen, man kann es gar nicht endgültig festhalten. Aber bei ihm ist die Fotografie in ihrer verführerischen, sinnlichen Kraft, die bis zum Panorama des 19. Jahrhunderts zurückgeht und das Kino zum Teil sogar noch absorbiert, auf den Punkt gebracht. Vielleicht ist mit dieser veränderten Zeitlichkeit auch das Bild selbst ins Wanken geraten. Das heißt, man wird dieser Zeitlichkeit mit einem trashigen Bild nicht mehr gerecht. Das Trashige ist immer auch ein Zeichen von Überfülle, von Überfluss. Die Welt der 1960er-Jahre war eine solche Phase des Überflusses, der endlosen Möglichkeiten, in der man sich das Trashige leisten konnte. Die 1980er-Jahre stehen dann unter einem anderen Druck. Der Glaube an den Fortschritt ist vorbei. Die Party ist vorüber. Das Bild wird etwas Prekäres, Rares. PHILIP URSPRUNG :
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ANMERKUNGEN
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CREDITS/ BILDNACHWEISE
Douglas Fogle (Hg.), The Last Picture Show. Artists Using Photography, 1960–1982, Ausstellungskatalog, Walker Art Center, Minneapolis (Minneapolis, MN: Walker Art Center, 2003); Douglas Fogle (Hg.), The Last Picture Show. Künstler verwenden Fotografie 1960–1982, Ausstellungskatalog, Fotomuseum, Winterthur (Winterthur: Fotomuseum, 2004). Irving Sandler, Abstrakter Expressionismus. Der Triumph der Amerikanischen Malerei (Herrsching: Pawlak, 1974); englische Originalausgabe: The Triumph of American Painting. A History of Abstract Expressionism (New York: Harper & Row, 1970). „At a certain moment the canvas began to appear to one American painter after another as an arena in which to act […]. What was to go on the canvas was not a picture but an event.“ Harold Rosenberg, „The American Action Painters“ [1952], in Sally Everett (Hg.), Art Theory and Criticism. An Anthology of Formalist Avant-Garde, Contextualist and Post-Modernist Thought (Jefferson, NC: McFarland, 1991), 55–64, hier 57; vgl. auch Philip Ursprung, Die Kunst der Gegenwart. 1960 bis heute (München: Beck, 2010), 20. Allan Kaprow, Some Recent Happenings. A Great Bear Pamphlet (New York: Some-
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thing Else Press, 1966); vgl. auch Philip Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening. Robert Smithson und die Land Art (München: Silke Schreiber, 2003); idem, Allan Kaprow, Robert Smithson, and the Limits to Art, übersetzt von Fiona Elliott (Berkeley: University of California Press, 2013). Vgl. hier Andreas Krase, „Archives du regard. Inventaire des choses. Le Paris d’Eugène Atget“, in Hans Christian Adam (Hg.), Paris. Eugène Atget, 1857–1927 (Köln: Taschen, 2008), 24–43. Siehe Anm. 1. Ulrich Loock (Hg.), Thomas Struth. Unbewusste Orte. Unconscious Places, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Bern; The Fruitmarket Gallery, Edinburgh; Westfälisches Landesmuseum Münster (Köln: König, 1987). Craig Owens, „The Allegorical Impulse. Toward a Theory of Postmodernism“, in October 12 (1980), 67–86. Jeff Wall, Transparencies, mit einem Interview von Els Barents, übersetzt von Brunhild und Rolf Seeler (München: Schirmer/Mosel, 1986). Michael Hardt und Antonio Negri, Empire (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2000).
1: © 2014 ARTNews LLC & Hans Namuth Estate / Courtesy Center for Creative Photography, University of Arizona; 2: © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / 2014, ProLitteris, Zürich; 3: © Eugène Atget / Musée Carnavalet / Roger-Viollet; 4: © Photographische Sammlung / SK Stiftung Kultur 2014; 5: © Robert Frank / Courtesy Pace/MacGill Gallery, New York; 6: © Ed Ruscha, Courtesy Gagosian Gallery; 7: © Hans Danuser; 8: © Hilla Becher; 9: © The Estate of Sigmar Polke / 2014, ProLitteris, Zürich, Foto: Friedrich Rosenstiel, Köln; 10: © Thomas Struth; 11: © Jeff Wall.
ZEITBILD NEW YORK Hans Danuser, THE PARTY IS OVER, 1984, Analoge Fotografie/ Diapositiv auf Kleinbild (24 × 36 mm) und Mittelformat (6 × 6 cm). Aufgenommen in den durch die New Yorker Kunstszene für ein paar Monate genutzten Docks am Hudson River in Lower Manhattan, New York, 1984, und der von Pan Arts organisierten Show Carnival; vgl. die Kunstzeitung der Künstlerorganisation Pan Arts in New York: Michael Curtis und Franklin Shifreen (Hg.), Pan Arts. Carnival (New York: Pan Arts/Gowanus, 1984).
HANS DANUSER UND PETER ZUMTHOR ATELIERGESPRÄCH
Peter Zumthor und Hans Danuser im Ateliergespräch während der Seminarsitzung vom 5. Juni 2009, Foto: Julieta Schildknecht.
Hans Danuser und Peter Zumthor betrachten, ausgehend von ihrem gemeinsamen, Ende der 1980erJahre unternommenen Ausstellungsprojekt „Partituren und Bilder“, ihre bisherigen künstlerischen Begegnungen unter der Perspektive der verschiede nen Möglichkeiten, Grenzen und Herausforderungen einer kreativen Reflexion von Architektur im fotografischen Bild. In ihrer Auseinandersetzung mit visuellen Wech selbeziehungen und Transferleistungen diskutieren sie unter anderem dynamische Produktionsprozesse architektonischkünstlerischer Zusammenarbeit sowie medien spezifische und materialästhetische Aspekte architektonischer und fotografischer Bilderfindung. Vertieft widmen sie sich auch der Problematik der Rezeption von Architektur durch Fotografie.
VOM SCHEITERN DER DARSTELLUNG DER ARCHITEKTUR IM BILD Ich begrüße Peter Zumthor zu unserem letzten der vier Ateliergespräche und freue mich sehr, dass auch Annalisa Zumthor-Cuorad hier ist. Wir beschäftigen uns heute mit dem Transfer von Architektur in den Bildraum mittels Fotografie und nehmen als Ausgangsbasis die Zusammenarbeit zwischen Peter und mir in den 1980er-Jahren im Projekt Partituren und Bilder (1985–1988).1 Bevor wir starten, möchte ich aber Peter für die Ehrung mit dem Pritzker-Preis gratulieren. Das wurde ja gerade erst letzte Woche öffentlich. Großartig, wir freuen uns sehr! Den Einstieg in unser Gespräch möchte ich nun so beginnen: Als in den 1980erJahren Peter und Annalisa mich für eine Zusammenarbeit ansprachen, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich ja eigentlich auch Architekturfotografie machte. Als ich mit der Fotografie begann, haben mich Arbeitsräume interessiert: die Räume, in denen die Gesellschaft damals ihr Wissen erarbeitete und Mehrwert schöpfte. Ich wollte unsere Gesellschaft über den Raum, in dem sie diesen Mehrwert generiert, darstellen. Es waren hauptsächlich Innenräume an unterschiedlichsten Orten. Es waren keine Menschen darin zu sehen. Ich zeigte in meiner Fotografie lediglich die Spuren, die die Menschen hinterlassen hatten. Das erlaubte dem Betrachter, in Gedanken durch meine Bilder hindurchzuwandern. Dies war gewissermaßen die Ausgangslage meiner Fotografie für Peter Zumthors Überlegungen zu einer möglichen Darstellung seiner ersten Bauten im Bild.
HANS DANUSER :
Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich damals das Gefühl: Architektur ist Architektur. Das Bild der Architektur hingegen ist nicht Architektur, sondern das Bild der Architektur. Gleichermaßen: Architekturgeschichtliche Gespräche über Architektur sind architekturgeschichtliche Gespräche über Architektur – und nicht Architektur. Man könnte gar von einer Kommentarallergie
PETER ZUMTHOR :
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sprechen. Und dann wurde ich angefragt, in der Architekturgalerie Luzern meine erste Ausstellung zu machen. Da hätte ich sagen können: Architektur kann man nicht ausstellen, Architektur ist. Doch da war der Reiz dieser Anfrage, der ersten Anfrage, und eine Ausstellung zu machen ist ja eine ehrenvolle Sache. Ich habe die Ausstellung „Partituren und Bilder“ genannt, das war eine Art Ausweg für mich. Die ,Partituren‘ waren dabei meine Pläne, teilweise aufbereitet für die Ausstellung. Und nicht etwa Skizzen oder Konstruktionspläne, sondern die Ausführungspläne – so, wie die Gebäude dann erbaut wurden. Das war die eine Hälfte. Für die andere, die ,Bilder‘, habe ich lange mit meiner Frau Annalisa gesprochen. Wie sollten wir da vorgehen? Die Architekturabbildungen in Zeitschriften waren uns zuwider – als würde die Kamera mit ihrem Weitwinkelobjektiv den Rachen aufsperren, um so viel Information wie möglich festzuhalten. Dabei ging der ganze Charakter des Gebäudes verloren. Wir mochten die sogenannte Schweizer Sachfotografie der 1930er-Jahre. In diesen schwarz-weißen Bildern spürt man: Die Fotografen haben sich Zeit genommen und sich mit dem Motiv auseinandergesetzt. Auch später habe ich meinen Architekten immer gesagt: „Wenn ihr ein Bild macht, macht nicht hundert, macht nur eines. Macht das Bild vom Arbeitsmodell so, als wenn ihr eure Mutter fotografieren würdet. Nicht von unten, von oben oder seitlich, sondern würdevoll, schön.“ Schön ist dein Hinweis auf das Porträt und auf die Erneuerung der Fotografie in den 1930er-Jahren. Ich meine, die einmalige Qualität der Fotografie steckt auch heute letztlich im Dokumentarischen, also in der Sachlichkeit. Ich habe damals in den 1970er-Jahren zur Vertiefung meiner Fotografie bewusst in einem Atelier für Sachfotografie und Fashion assistiert und nicht eine Kunstakademie besucht. Fotografie kann ganz präzise betrachten. Diese Kompetenzen soll die Fotografie meiner Meinung nach ausspielen – wenn sie das liegen lässt, dann hat sie eine ihrer Hauptqualitäten gegenüber den anderen Künsten vernachlässigt. HANS DANUSER :
Im Kunstmuseum Graubünden haben wir dann deine Arbeit gesehen, und obwohl ich dich nicht kannte, war mir sofort klar, dass ich dich für die Bilder meiner Bauten wollte. Es konnte nur ein Fotograf sein, der eine eigenständige Aussage macht. Die Bilder haben dann einen eigenen Wert und sind mehr als bloße Abbildungen. Ich hatte zuerst Hemmungen, dich so direkt anzufragen, doch Annalisa hat mir Mut gemacht und gesagt: „Er kann nicht mehr als Nein sagen. Jetzt lüüted mier ihm eifach aa!“ PETER ZUMTHOR :
Deine Anfrage kam genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich hatte damals den IN VIVO-Zyklus abgeschlossen, es war Zeit für etwas Neues – Zeit, meine Fotografie wieder neu zu formulieren.
HANS DANUSER :
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Wir haben dann ein, zwei Gespräche geführt, und schließlich hast du gesagt: „Mache ich.“ Da war mir dann klar, dass wir nicht mehr darüber sprechen mussten, wie du vorgehen sollst, sondern dass es jetzt deine Geschichte ist. Da gab es diesen Moment, als ich nach Zürich gefahren bin, und du hattest die erste Serie der Fotografien bei dir auf dem Boden ausgebreitet und an den Wänden aufgehängt. Die Bilder waren … stark. Das war so schön, dass ich feuchte Augen bekam. Diese wunderschönen, tiefen Schwarz-Weiß-Bilder in diesen hellen und dunklen Grautönen haben meine Erwartungen nicht nur bestätigt, sondern übertroffen. Und so haben wir dann die Ausstellung gemacht.
PETER ZUMTHOR :
Dein Besuch damals war für mich ein wunderbarer Augenblick, wie er nur da sein kann, wenn man auf ,alles oder nichts‘ hinarbeitet. Hatte ich doch bei deiner Anfrage den Vorbehalt gegenüber dem Bild von Architektur klar gespürt ... und dennoch wolltest du ja Bilder haben ... diesen Transfer von deiner Architektur ins Bild. Aber ich meine auch, noch heute: Es ist der Plan des Architekten, der wirklich das Gebäude zeigt und auch zeigen soll, oder dann das Modell. Aber sicher nicht die Fotografie. HANS DANUSER :
Das ist ein schöner Standpunkt, wenn man sich einig ist: Du bist Fotograf, und ich bin Architekt, und du kannst etwas, was ich nicht kann, und umgekehrt.
PETER ZUMTHOR :
Vielleicht war diese Transparenz und Klarheit in der gegenseitigen Erwartung das Geheimnis und die Basis für das Gelingen? Vielleicht hat mir dies den Raum für meine Art der Fotografie geöffnet. Sicher aber bist du ein hohes Risiko eingegangen. Es hätte auch schiefgehen können, wenn du dich in den Arbeiten nicht mehr erkannt hättest. Wenn du dein Bauwerk gar nicht so gesehen hättest. Vielleicht war diese Skepsis notwendig, sodass ich gezwungen war, neue Wege zu gehen ... und nicht zu vergessen, auch die Architektur ist in der Zeit neue Wege gegangen.
HANS DANUSER :
Für uns Architekten war das Feld damals weit offen. Der letzte große Architekt einer von Skandinavien beeinflussten Generation war Ernst Gisel gewesen. Es gab viele andere, auch gute, aber die großen Bauten haben uns nicht interessiert. Wenn aber Jacques Herzog ein Bad umgebaut hat, haben wir miteinander darüber gesprochen. Das war die Stimmung zu der Zeit. Kunst am Bau hingegen hat mich nicht interessiert.
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1: Hans Danuser, Peter Zumthor – Therme Vals, I, 1998, Silbergelatine auf Barytpapier, 9-teilig auf Grundformat 50 × 40 cm.
PRODUKTIVE WECHSELBEZIEHUNGEN IM ENTWURF Für dein Atelier in Haldenstein2 hast du aber mit Künstlern zusammengearbeitet. HANS DANUSER :
Ja, mit Matias Spescha. Ich habe mir überlegt, wie das Haus von innen aussehen soll. Es müsste etwas Weiches sein, etwas, das atmet. Aus einer Inspiration heraus meinte ich, es müsste wie ein Spescha-Bild sein. Oder viel eher: Es ist ein Spescha-Bild. Meine Anfrage hat er zunächst abgelehnt, um dann doch noch zuzusagen. Den Preis, den er vorangeschlagen hat, konnten wir aber nicht zahlen. Ich habe ihm gesagt: „Matias, ich hätte sehr gerne mit dir gearbeitet, aber das können wir uns nicht leisten. Wir machen etwas anderes.“ Am nächsten Tag hat er zurückgerufen und gemeint, da ließe sich doch was machen. Er hat dann zwei Churer Malerfreunde mitgenommen, sie haben das Atelier zu dritt gemalt, und er hat nur einzelne Ecken gemacht, um den Preis niedrig zu halten. PETER ZUMTHOR :
Du hast dann doch auch bei der Caplutta Sogn Benedetg3 mit Künstlern zusammengearbeitet? HANS DANUSER :
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2/3:
Genau. Matias Spescha hat mir mal gesagt, es sei sein Lebenstraum, einmal eine Kirche auszumalen. Ich baute gerade die Kapelle in Sumvitg, und Matias ist in Trun aufgewachsen, das ist dort gleich um die Ecke. Also habe ich ihn ins Atelier eingeladen und ihm gesagt, wir bräuchten ein großes, abstraktes Panorama. Matias hat sich das Modell angeschaut und nach fünf Minuten gesagt: „Du hast überall die Holzstützen stehen. Das Bild ist schon gemalt, du hast es schon gemacht. Ich habe nichts mehr zu tun.“ Ich merke heute zum ersten Mal, dass ich ihm nicht geglaubt habe. Aber er hatte recht.
PETER ZUMTHOR :
HANS DANUSER :
Du hattest dich bereits für die Farbe entschieden?
Ja, ich hatte mich für eine silberne Wand entschieden. Ich habe dann trotzdem den Farbplaner Jean Pfaff zurate gezogen. Er hat auf die Rückseite der Stützen Farbstreifen aufgeklebt, die das Licht auf die silberne Wand reflektierten. Die Farben erschienen und verschwanden mit der Sonne. Wir haben uns dann gemeinsam für die Farbe Weiß entschieden, denn wir haben uns eingeredet, dass das den gewünschten Effekt bewirken würde. Aber das Weiß ist der natürlichen Farbe der Holzstütze zu ähnlich, also war das Resultat eigentlich … nichts – oder fast nichts. Jean Pfaffs Intervention hat mir gezeigt, dass meine Arbeit eigentlich schon vorher fertig war und keiner weiteren Zutat mehr bedurfte. PETER ZUMTHOR :
II 1, 2.
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III.
Die Reflektion des Lichtes von der Rückseite der Holzstützen zurück auf die Silberwand wäre eigentlich schon genug gewesen. HANS DANUSER : Trotzdem hat sie einen Prozess ausgelöst. Diese Entscheidungsfindung ist auch in meiner Kunst immer wieder Thema.
Was hat dich denn an meinen Gebäuden interessiert, dass du die Arbeit machen wolltest?
PETER ZUMTHOR :
Bis dahin hatte ich meine Kunst in einer Art White Cube ausgeübt, vergleichbar mit den Naturwissenschaften im Labor. Es war so etwas wie ein Feldversuch. Ich wollte wissen, ob ich mit ihr ins Feld gehen kann und sie dem Leben aussetzen.
HANS DANUSER :
PETER ZUMTHOR :
Du hättest dafür jede x-beliebige Architektur nehmen können.
Es stand nie zur Debatte, andere Architektur zu fotografieren. Es war, wie ich eingangs sagte, dein Blick auf meine Fotografie, der mich dazu brachte, diese selbst neu wahrzunehmen, und natürlich deine Architektur. Sicher hatte es auch damit zu tun, wie du die Architektur, so sah ich es – salopp gesagt –,
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entschlackt hast. Auch hat mich fasziniert, dass du die Materialien sprechen lässt und dass sich mit diesen deine Ideen weiterentwickeln konnten. Die Materialauthentizität deiner Bauten kam meinem Verständnis von Fotografie entgegen. Deine ersten drei Bauten4 tragen ihr Inneres auf der Haut. Hier konnte ich meine im IN VIVO-Zyklus erarbeitete Bildsprache anwenden: das akribische Abtasten der Oberflächen. Diese fotografische Konzentration auf die Materialstruktur der Oberfläche hat mich bei allen Bauten interessiert, auch später bei meiner Arbeit zur Therme Vals (Abb. 1–9). Ich konnte mich damit identifizieren, denn in meiner Fotografie ist es ähnlich. Das Silberkorn gibt ihr die Farbe und setzt die Konturen, aus denen heraus ein Bild entsteht. Ich konnte Sogn Benedetg gerade noch in der Schlussphase fotografisch im Entstehen begleiten und den Bauprozess miterleben. Trotzdem war das Resultat schon prädestiniert – wie bei einer Fotografie, die nur noch entwickelt wird. Und dann natürlich – essenziell in der Fotografie – das Licht. Wie sich das Licht in deiner Architektur bewegt, das war eine Steilvorlage für das Licht in meiner Fotografie. PETER ZUMTHOR :
Du hast Schwarz-Weiß-Bilder gemacht.
Ich war erst unsicher. Ich habe zu Beginn parallel in SchwarzWeiß und in Farbe gearbeitet. Wenn ich Architektur betrachte, die sich über die
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IV 1.
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Farbe und nicht über das Material formuliert, könnte ich mir vorstellen, dass in einer Schwarz-Weiß-Fotografie etwas verloren geht. Wenn man den Pavillon von Le Corbusier in Zürich mit all seinen Farbtableaus betrachtet, merkt man, dass eine Schwarz-Weiß-Fotografie davon nichts bringen würde. Man sollte aus all den Möglichkeiten schöpfen, die da sind, und nicht versuchen, ein Prinzip durchzuziehen. Aber ich würde behaupten: Ich kenne keine überzeugenden Schwarz-Weiß-Fotografien der Architektur von Herzog & de Meuron und keine überzeugenden Farbfotografien der ersten Bauten von Peter Zumthor, von dir. Ich glaube, das Material deiner Bauten war ausschlaggebend für Schwarz-Weiß. Durch die Grautöne bekamen die Bilder eine Durchlässigkeit, die dem entsprach, und: Das Silberbromid hat auch eine Farbe, es ist eine Abstraktion, die sich über das Material zeigt. Eine Mischung aus Abstraktion und … PETER ZUMTHOR : HANS DANUSER :
eine Bereicherung.
Konkretheit. Genau. Dieser Dialog mit deiner Arbeit war für meine Arbeit
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8/9:
Nicht nur für dich. Es war beidseitig. Das ist das Schöne: Jeder Fotograf, der etwas kann, sieht die Welt anders. Das sieht man dann in den Bildern. Ich sehe, was du dort gesehen hast: Dieser Holzzaun und die Kapelle, die gehören zusammen. Das habe ich dir nicht gesagt, das hast du gesehen. Ich habe beim Lesen des Essays von Philip Ursprung zum ersten Mal realisiert, dass deine Bilder zu einer Mythologisierung meiner Bauten geführt haben. Deine Nebelbilder sind schuld, dass Professoren der Architekturgeschichte die Caplutta für einen Massivbau halten und erst beim Besuch herausfinden: Das ist ja eigentlich ein leichter Bau! Deine Fotografien haben über zwanzig Jahre die Wahrnehmung meiner Architektur bestimmt. Da haben die Leute in England oder Amerika gesagt: „Der Zumthor, das ist doch der mit dieser geheimnisvollen Kapelle im Nebel.“ Nicht: „Der Architekt, der die Kapelle dort oben gebaut hat.“ Die Vermittlung passiert über das Bild. Da hast du mir keinen Gefallen getan. Rückwirkend kann man sagen, warum zum Teufel habe ich dich ausgewählt?
PETER ZUMTHOR :
Was soll ich sagen. Wenn man Häuser baut, weiß man, dass Bilder für deren Wahrnehmung sehr wichtig sind. Zu Bauhaus-Zeiten begannen die Architekten zu verstehen, dass Bilder die Rezeption eines Hauses prägen. In den 1980er-Jahren hat eine zweite Professionalisierung dieses Dialogs stattgefunden.
HANS DANUSER :
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10–12: 3 Doppelseiten mit Fotografien der Kapelle Sogn Benedetg in Sumvitg von Hans Danuser aus dem „Fotoessay III. Hans Danuser“ in Du, Nr. 5 (Mai 1992), 62–67.
Wie hat sich nach unserer Zusammenarbeit in Partituren und Bilder dein Verhältnis zu den neuen Bildern deiner nachfolgenden Bauten entwickelt? Es ist ein sehr angespanntes Verhältnis. Ich habe das schon oft diskutiert, im Büro, auch mit meinen Kindern, brauchen wir eine Homepage oder keine, brauchen wir Fotos oder keine, und dann sage ich immer: Die Häuser reichen aus. Ich bin ein leidenschaftlicher Architekt, das reicht. Trotzdem komme ich nicht darum herum, meine Arbeiten in der Welt zu zeigen. Meine Gebäude sind Anlass für ein Bild, aber sie sind nicht das Bild. Ich hätte gerne, dass die Leute zu meinen Bauten hingehen, aber nicht nur aus dem Grund, dass sie den Bildern misstrauen. Wir haben vorhin beide vom Material gesprochen in unseren Arbeiten, doch was ist geschehen? Die Bilder wurden aus dem Zusammenhang genommen und zu Ikonen stilisiert. Neoromantische Architektur eines Einsiedlers in den Bergen. Ich versuche, dieser Verselbstständigung der Bilder Widerstand zu leisten. Ich schätze den Diskurs, der sich darum dreht, dass die Architektur in drei Dimensionen operiert, während der Fotografie nur zwei zur Verfügung stehen. Aber ich muss mit Bildern arbeiten, da führt kein Weg dran vorbei. PETER ZUMTHOR :
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Nicht nur die Fotografie hat sich über die Zeit verändert, sondern auch die Medien. Als ich die Arbeiten zu deiner Architektur machte, waren die Medien, die Architektur zeigten, noch nicht so klar definiert wie heute. Auch die Publikationen haben eine Geschichte. Ich erinnere mich an die Aufregung, als ich beim Du im Heft Pendenzen. Neuere Architektur in der deutschen Schweiz 1992 über dich und Herzog & de Meuron auf der Autorschaft beharrt habe (Abb. 10–12).5 Sie wollten meine Bilder zu deinen Bauten haben, und ich hatte klar dargelegt, in welchem Rhythmus und in welcher Größe sie gedruckt werden sollten. Marco Meier, der damalige Chefredakteur, hat gesagt, das sei ihnen noch nie vorgekommen. Ich habe ihnen ein Layout abgegeben, in der die gesamte Serie in einer bestimmten HANS DANUSER :
13: Layoutskizze von Hans Danuser zum „Fotoessay III. Hans Danuser“ in Du, Nr. 5 (Mai 1992), 62–67.
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Reihenfolge abgebildet war (Abb. 13). Warum: Ich ergehe Architektur. Ich komme nicht in einen Raum und bleibe stehen, sondern ich bin immer in Bewegung. Die Augen fokussieren die verschiedenen Details, und in unseren Köpfen entsteht aus diesen zusammengesetzten Bildern das dreidimensionale Gebäude. Spannend wird es, wenn man das einzufangen versucht. Das funktioniert nur mit einer Sequenz, und es wäre für mich undenkbar gewesen, nur ein einziges Bild von einem Raum zu machen. Darum habe ich auch auf dieser Dramaturgie beharrt. Es gab eine Diskussion, und am Schluss habe ich gesagt: „Ihr könnt ungeniert jemand anderes schicken, um die Bauten von Peter Zumthor zu fotografieren.“ Doch sie wollten meine Bilder und haben sich darauf eingelassen. Nun sind Partituren und Bilder Geschichte, und es kann auch ein einzelnes Bild publiziert werden. So wie ein einzeln publiziertes Filmstill auf den ganzen Film verweisen und diesen einem in Erinnerung rufen kann. Aber zu Beginn musste es bis ins Layout festgelegt werden, um fotografisch dann wirklich die Essenz zeigen zu können und den Transfer zu versuchen. Davon bin ich noch heute überzeugt. Der Transfer von der Architektur ins fotografische Bild ist so eine Möglichkeit. Dann gibt es noch den Transfer der Architektur in die Sprache. Der Transfer in die Sprache ist für mich ungefährlich, denn er konkurriert nicht mit dem Gebäude, sondern schafft eine eigene Welt. Beim Lichtbild des Fotografen oder Filmers sehe ich die Gefahr, dass der Betrachter geneigt ist, es für die Wirklichkeit zu halten. Das ärgert mich. Gute Texte über Häuser begrüße ich hingegen. Am besten würde mir gefallen, wenn mein Haus beiläufig in einer guten Erzählung vorkommen würde. Eugen Gomringer, der Vater der konkreten Poesie, hat mir ein Büchlein geschickt. Da kommt die Kolumba beiläufig drin vor, das ist nicht schlecht.6 PETER ZUMTHOR :
HANS DANUSER : Reto Hänny hat in seinen Texten, in seinem Buch über meine Bilder seinerseits sehr starke Bilder, auch neue Bilder evoziert. Er hat ein eigenständiges Sprachbild geschaffen. Da hat die Literatur eine ähnliche Kraft wie die Kunst.
INSPIRIEREN, DARSTELLEN UND VERMITTELN. BILDFINDUNGSPROZESSE IN ARCHITEKTUR UND FOTOGRAFIE Meine architektonische Arbeit war Anlass für deine fotografische Arbeit, die wiederum Anlass für Reto Hännys literarische Arbeit war. Jede Arbeit weist eine eigene Kraft auf. Ich sehe das auch bei der zeitgenössischen Musik. Ein paar hundert Jahre lang gab es die Sonatenform, da wusste man, wie sie aufgebaut wird. So gab es viele formale Gerüste, an denen man sich abarbeiten konnte. Heute suchen die zeitgenössischen Komponisten ihre Themen zusammen, PETER ZUMTHOR :
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um sie zum Anlass für neue Kompositionen zu nehmen. Es braucht diese Anregung in irgendeiner Form. Für mich kamen diese Anregungen in den 1970er-Jahren aus der Kunst, beispielsweise aus einer Beuys-Ausstellung. Ich bin da hingepilgert, und nach einer Stunde im Museum musste ich raus, sofort nach Hause, arbeiten! Das war großartig. Heute kommen die Anregungen eher aus der zeitgenössischen Musik der letzten fünf bis zehn Jahre. Es ist die Experimentierfreudigkeit, der Umgang mit dem Klang und dem Material, die mich inspirieren. Ich hätte Mühe zu sagen, was mir diese Anregung gibt. Interessant ist, dass wenn ich eine Arbeit abgeschlossen habe, ich meine direkte Umgebung wieder wie neu wahrnehme und daraus dann wieder neue Bilder entwickeln kann.
HANS DANUSER :
Anregung ist das eine Stichwort, aber deine fotografische Arbeit über meine ersten Bauten hat mir auch etwas zurückgegeben. Bestätigung. Vor zwei Wochen habe ich mir überlegt: Was sage ich bloß den Leuten vom Pritzker-Preis, wenn ich mich dafür bedanke? Ändert dieser Preis mein Leben? Na, mein Leben sicher nicht, oder? Alles geht weiter wie bisher. Und da merkte ich: Das stimmt gar nicht, es hat sich etwas Grundlegendes geändert. Der Preis hat einen größeren Freiraum rund um mich herum produziert, in dem ich mich bewegen kann, ohne gleich kämpfen zu müssen. Ich glaube, ich kann jetzt noch ein bisschen besser träumen als vorher. Das habe ich gesagt und mich bedankt.
PETER ZUMTHOR :
Das berührt … ,Bestätigung‘ als Wort kann ja auch eine negative Konnotation haben, trotzdem braucht es sie eben doch, auch bei mir, um ein Thema abzuschließen und einen Schritt zum nächsten Projekt zu machen. Sie generiert Raum. Für mich war ein wichtiger Wendepunkt die erste große Museumsausstellung im Aargauer Kunsthaus 1989.7 Diese Reflexion hat es mir ermöglicht, IN VIVO auch gedanklich abzuschließen und Neues anzufangen. Dein letztes Projekt, dass du, Peter, vollendet hast, war die Kolumba in Köln.8 Wie bist du mit der Bildfindung vorgegangen? HANS DANUSER :
Nun, ich fürchte, ich habe kein Konzept, sondern ich versuche, gute Fotografen zu engagieren, in der Presse nur wenige gute Bilder zu verwenden, grundsätzlich wenig zu publizieren, damit die Bauten für sich sprechen und nicht die Bilder von ihnen – aber eigentlich sind das alles sehr defensive Handlungen, und sie gelingen mir nur schlecht. Die Bilderflut kann ich nicht kontrollieren. Für mich ist es nach wie vor das Beste, wenn meine Bauten mit einer fotokünstlerischen Arbeit interpretiert werden. PETER ZUMTHOR :
Man hört ja zunehmend von Architekturbüros, die mit Fotografen zusammenarbeiten und dann doch ganz präzise Vorstellungen haben von HANS DANUSER :
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den Perspektiven und Farben. Dabei wird aber vernachlässigt, dass auch der Zufall vor Ort, im Bau selbst und der Augenblick eine sehr wichtige Rolle spielen. Ich weiß, dass das so gemacht wird, und habe mich dagegen entschieden. Die Fotografie, wie auch die Architektur, ist schließlich keine Wissenschaft. Unsere Arbeit im Atelier ist zuerst eine Bilderarbeit. Wir erträumen uns die Gebäude über Jahre in allen Details und schauen uns die Bilder dann an. Dieser Prozess wird von vielen Plänen unterstützt. Es ist eine Arbeit an den Bildern im Kopf und im Herzen. Sie helfen uns, den Bau früh zu sehen und zu formen. Wir ändern die Materialien, die Lichter und die Schatten, bis es stimmt. Die Bilder kreieren wir im Atelier, mit Modellen und Sonnenlicht. Bei mir gilt die Regel: Es darf nicht mehr als zehn Prozent Photoshop sein, sonst ist es zu einfach. An einzelnen Details kann man etwas machen, aber nicht zu stark, sonst wirkt das Bild schnell tot. Diese Bilder werden gerne mit Werbebildern verwechselt. Sie haben aber einen ganz anderen Zweck, es sind unsere Arbeitsbilder, unsere Arbeitsmethode. Pläne und Bilder werden parallel entwickelt, nicht zuerst das eine, dann das andere. Die zweite Bilderarbeit, und die machen wir auch, ist das Produzieren von Bildern für Bauherren und Kommissionen. Die gilt es dann zu überzeugen, für die machen wir die verführerischsten Bilder einer möglichen Realität, wie im Theater. Doch sie bleiben Mittel zum Zweck. Sie werden durch die Gebäude ersetzt, und wenn man Glück hat, sind die Gebäude noch ein Stück besser als die Bilder.
PETER ZUMTHOR :
Deine Häuser könnte man auch als ein Theaterstück von Shakespeare verstehen, das immer wieder aufgeführt wird. Mein Blick damals auf deine Architektur war stark von den 1980er-Jahren geprägt. Ich sehe es als eine Bestätigung für die Qualität der Bilder, dass sie jetzt, wo du den Preis gewonnen hast, wieder angefragt werden. Den Leuten ist gar nicht bewusst, dass es alte Bilder sind. Es wäre doch interessant, wenn jede Generation einen anderen Aspekt deiner Architektur aufgreifen würde und neue Bilder daraus entstünden.
HANS DANUSER :
Wenn wieder mal ein Künstler wie du kommen würde und einen völlig neuen Blick auf meine Häuser entwickeln würde – das wäre das größte Kompliment für meine Architektur.
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ANMERKUNGEN
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CREDITS/ BILDNACHWEISE
Architekturgalerie Luzern (Hg.), Partituren und Bilder. Architektonische Arbeiten aus dem Atelier Peter Zumthor 1985–1988, Fotos Hans Danuser, Ausstellungskatalog, Architekturgalerie Luzern; Haus der Architektur Graz (Luzern: Architekturgalerie, 1988). Das Atelier Zumthor, in Haldenstein, Graubünden zwischen 1985 und 1986 geplant und erbaut, enthält Wandmalereien von Matias Spescha. Die Kapelle Sogn Benedetg in Sumvitg, Graubünden entstand zwischen 1985 und 1988 als Gemeinschaftsarbeit von Peter Zumthor und Annalisa ZumthorCuorad. Hier wird Bezug genommen auf die drei Bauten von Peter Zumthor, die in der Publikation Partituren und Bilder von Hans Danuser fotografiert wurden. Dazu gehören die Kapelle Sogn Benedetg in Sumvitg, das Atelier Zumthor in Haldenstein und die Schutzbauten über römischen Funden in Chur. Hans Danuser, „Fotoessay III. Hans Danuser“, in Du, Nr. 5 (Mai 1992), 49–52, 54–59, 61–67, 70–72.
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Eugen Gomringer, Eines Sommers Sonette. A Summer’s Sonnets (Dozwil: Edition Signathur, 2008). Aargauer Kunsthaus (Hg.), Hans Danuser. In Vivo. 93 Fotografien, Ausstellungskatalog, Aargauer Kunsthaus (Baden: Lars Müller, 1989). Bis zum Zeitpunkt der Publikation des Gesprächs sind u. a. noch folgende Bauten von Peter Zumthor entstanden: Wohnhäuser Annalisa und Peter Zumthor, Oberhus und Unterhus, Leis, Vals, Graubünden, Schweiz, 2006–2009; Steilneset, Memorial to the Victims of the Witch Trials in the Finnmark, Vardø, Norwegen, 2007–2011; Serpentine Gallery Pavilion, London, England, 2010–2011; Werkraum Bregenzerwald, Andelsbuch, Österreich, 2008–2013; für einen ausführlichen Überblick vgl. Peter Zumthor, Bauten und Projekte 1985–2013, hg. von Thomas Durisch, 5 Bde. (Zürich: Scheideggger & Spiess, 2014).
© 2014 der Werke von Hans Danuser: Hans Danuser; 10–12: © Du Kulturmedien AG 2014.
ZEITBILD NEW YORK Hans Danuser, THE PARTY IS OVER, 1984, Analoge Fotografie/ Diapositiv auf Kleinbild (24 × 36 mm) und Mittelformat (6 × 6 cm). Aufgenommen in den durch die New Yorker Kunstszene für ein paar Monate genutzten Docks am Hudson River in Lower Manhattan, New York, 1984, und der von Pan Arts organisierten Show Carnival; vgl. die Kunstzeitung der Künstlerorganisation Pan Arts in New York: Michael Curtis und Franklin Shifreen (Hg.), Pan Arts. Carnival (New York: Pan Arts/Gowanus, 1984).
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„Wenn nun ein Medium nicht mehr essentiell die kulturelle Quelle der Informa tionen ist, verwandelt es sich in eine Kunstform. Es ist mehr als eine Koinzidenz, daß der Abstieg der Fotografie als Massenmedium vom Aufstieg der Fotogalerien, Veranstaltungen zur Geschichte der Fotografie, Kunsthochschulstudiengängen und hohen Versteigerungspreisen für Vintage Prints begleitet wurde.“ (Wolfgang Kemp) 1 „Denn auch wenn die Fotografie 1839 erfunden wurde, entdeckt wurde sie erst in den sechziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts – das heißt, die Fotografie als Essenz, als Fotografie an sich.“ ( Douglas Crimp) 2
JOACHIM SIEBER „… DASS SICH DIE GRENZEN VERWISCHT HABEN.“ – SCHAUPLÄTZE UND STRÄNGE DER FOTOGRAFIE IN ZÜRICH, 1975–1990 *
NEUE WEGE POSTMODERNER DIVERSITÄT – DIE FOTOGRAFIE IN DEN 1980ER-JAHREN Die 1980er-Jahre stellen in der Schweizer Fotografiegeschichte in verschiedener Hinsicht eine Zeit des Umbruchs dar. Die klassische Fotoreportage war auch in der Schweiz in den 1970er-Jahren endgültig an ein Ende gekommen. Der fototheoretische Diskurs zog die „Authentizität des Dokuments“ und die „Wahrheit des Augenblicks“ in Zweifel.3 Zudem war für die aktuellen Nachrichten aus der Welt das Fernsehen als visuelles Leitmedium zuständig, und illustrierte Zeitschriften wurden nach der Einstellung der tonangebenden Zeitschrift Life (1936–1972) als Wochenmagazin immer seltener. Insgesamt internationalisierte sich in diesem Prozess das Geschäft mit den Bildern und führte zu weniger Aufträgen an Fotoschaffende, da Eigenproduktionen der Zeitschriften rarer wurden. Diese Entwicklungen hatten zur Konsequenz, dass sich Fotografinnen und Fotografen neu zu orientieren begannen. Während einige die Branche gänzlich verließen oder sich, wie Robert Frank, dem Film zuwandten, nutzten andere vermehrt die Ausstellung als primäres Medium, um fotografische Arbeiten zu präsentieren. Es ist also kein Zufall, dass in den späten 1970er-Jahren und den 1980er-Jahren zahlreiche Fotogalerien eröffnet wurden und eine wachsende Zahl von Kunstmuseen Fotografie in ihr Programm aufnahmen. In diese Zeit fällt die Gründung der Schweizerischen Stiftung für die Photographie (1971, heute Fotostiftung Schweiz), der Zürcher Galerie zur Stockeregg (1979), des Bieler Photoforums PasquArt (1984), des Genfer Centre de la Photographie (1984), der Galerie Saint-Gervais in Genf (1984), des Fotoforums Luzern (1986) und der Berner Foto Galerie (1988). In Zürich gab es zudem einige kleinere Galerien, die bereits in den späten 1970er-Jahren vor allem Ausstellungen zeitgenössischer Fotografie veranstalteten, so die Work Gallery, die Nikon Galerie und die Galerie 38. Neben diesem institutionellen Wandel spielte die Verbreitung in Buchform auch ab Mitte der 1980er-Jahre eine wichtige Rolle für eine neue Rezeption der Fotografie. Tonangebend waren dabei in der Schweiz der Lars Müller Verlag aus Baden, die Edition Patrick Frey und der aus dem Verlag Der Alltag entstandene
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Scalo Verlag aus Zürich. Sie sorgten mit ihren neuartigen Publikationsformen dafür, dass die zeitgenössische Schweizer Fotografie internationale Anerkennung fand.4 Doch lassen sich angesichts dieser Entwicklung zentrale Persönlichkeiten und Schulen der 1980er-Jahre in der Schweiz herausarbeiten? Die Frage muss mit einem „eher nicht“ beantwortet werden. Es kann vielmehr von einem Pluralismus der Stile gesprochen werden, der jedoch trotz seiner Heterogenität insgesamt stark von einem allgemeinen Aufbruch in der zeitgenössischen Kunst beeinflusst war. Dies beruht auf dem bereits in den 1960er-Jahren begonnenen Einbezug des Mediums in die Kunstwelt und der experimentellen Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Fotografie. Diese Entwicklung manifestierte sich durchschlagend an der konzeptuell nach Medien sortierten documenta 6 von 1977, an der die Fotografie mit der Ausstellung „150 Jahre Fotografie“ zu einem Schwerpunktthema gemacht wurde.5 In der Städtischen Galerie zum Strauhof in Zürich wurden bereits ab Mitte der 1970er-Jahre mehrere medienübergreifende Ausstellungen präsentiert, die in ihrer Wirkung bis auf die 1980 ausgerichtete Gruppenausstellung „Saus und Braus“ wohl noch immer unterschätzt werden und in diesem Kontext besonders hervorzuheben sind.6 Die von Bice Curiger kuratierte Schau stellte neben einem fulminanten Manifest einer neuen Generation von Künstlerinnen und Künstlern auch einen „Kristallisationspunkt neuer Tendenzen im Bereich der Fotografie“7 dar. Diese zeichneten sich unter anderem dadurch aus, dass die Fotografie im Zuge eines gewandelten Selbstverständnisses in eine Vielfalt von künstlerischen Ausdrucksmitteln Eingang fand. Inszenierung, spielerischer Umgang mit dem Medium und seine direkte Selbstreflexion waren gefragt: „An die Stelle des Findens trat das Er-finden von Bildern“.8 Objektivität und Wahrheit verloren in diesem Zusammenhang ihre einstige Bedeutung, und die Fotografie wurde als neues Medium der Subjektivität der Kunstschaffenden verstanden – wie es auch der Kunstkritiker Douglas Crimp aus zeitgenössischer Perspektive beobachtete, wenn er diese Neuerung essentialistisch als „Fotografie an sich“ bezeichnete.9 Die Grenzen zwischen Fotografie und anderen künstlerischen Medien wurden durchlässig. Dies zeigt sich etwa in den Werken von Urs Lüthi, Manon (Abb. 31–33) oder Fischli/Weiss (Abb. 62), die für ihre künstlerische Arbeit Fotografien verwendeten, sich jedoch am „zero-point of style“10 aufstellten und so mit ihrer ästhetisch unambitionierten Fotografie die herkömmlichen Wertmaßstäbe der ,guten‘ Fotografie unterwanderten und gleichzeitig neu definierten.11 Parallel dazu lassen sich internationale Strömungen verorten, die auch die Schweizer Fotografie nicht unberührt ließen. Nan Goldins neue Art der Reportage etwa, die mit einem direkten autobiografischen Fokus eine „Exotik des Privaten“12 aufzeigt, lässt sich in Ansätzen auch in Werken von Cécile Wick (Abb. 29, 30) oder Iren Stehli und Ernst Spycher (Abb. 48, 49) nachzeichnen. Diesen intensiven, emotionalen (Selbst-)Darstellungen gegenüber steht eine kühle, präzise und konzeptuell verankerte Fotografie, die, ausgehend vom deutschen Künstlerpaar Bernd und Hil-
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1: Titelblatt des Katalogs zur Ausstellung „Fotografien“ von 1975 in der Städtischen Kunstkammer zum Strauhof, Zürich. Dasselbe Sujet wurde als Einladungskarte verwendet, Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.900.3.3. 2: Doppelseite von Heinz Hebeisen im Katalog zur Ausstellung „Fotografien“ mit der Werkserie Werden – Sein – Vergehen, o. S., Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.900.3.3. 3: Doppelseite von Dieter Meier im Katalog zur Ausstellung „Fotografien“ mit der Werkserie Personen von 1974 (12 von 48 Fotografien, je 37 × 50 cm), o. S., Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.900.3.3. 4: Doppelseite von Barbara Davatz im Katalog zur Ausstellung „Fotografien“ mit den Werkserien Portrait einer Schweizer Firma, 1973, Zwillinge, 1975, und Sardische Landschaften, 1972, o. S., Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.900.3.3.
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5: Einladungskarte der Ausstellung „Fotografien II“ von 1979 in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.64.3.1.3.1. 6: Einladungskarte der Ausstellung „Fotografien III“ von 1982/1983 in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Zürich, Fotografie: Vladimir Spacek, ohne Titel, aus Der Bau, 1972, Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.64.3.1.3.1.
la Becher, an die Sachlichkeit der 1920er-Jahre anknüpft. Dieser Wandel der Wahrnehmung erlaubte es auch einigen Schweizer Fotografen, strenge Sachlichkeit und subjektives Statement in fruchtbarer Weise miteinander zu verbinden. Nicolas Faures kitschkritische Werke zur Schweizer Landschaft, aber auch Hans Danusers Analyse der gesellschaftlichen Tabuzonen, in der er zu einer suggestiven, irritierenden Bildsprache findet, zeugen davon. Auch Hannes Ricklis (Abb. 56) inszenierte Studioaufnahmen von Naturphänomenen, Peter Hunkelers (Abb. 38) an die Konzeptkunst der 1960er- und 1970er-Jahre angelehnte Fotoinstallationen und Vladimir Spaceks (Abb. 6, 59) Visualismus von Licht- und Schattenspielen gründen auf dieser reduzierten, doch aufgeladenen Formensprache. Obwohl diese unterschiedlichen Stränge in der Schweizer Fotografie der 1970erund 1980er-Jahre zu finden sind, kann nicht von einem simplen Fortschrittsmodell gesprochen werden. Es herrschte vielmehr eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vor, indem die klassische Reportagefotografie und Epigonen der Finsler-Schule parallel zu neuen konzeptuellen und künstlerischen Ideen standen. Mit diesen disparaten Themenfeldern steht die Schweiz nicht allein. Auch in Deutschland gab es neben der ab den 1980er-Jahren und bis heute überaus erfolgreichen Düsseldorfer Fotoklasse etwa die sogenannten Autorenfotografen um André Gelpke, Heinrich
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7: Jurierung der Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Zürich, 1982. Vladimir Spacek, Sibylle Heusser und Guido Magnaguagno (v. l.) betrachten die Papierbögen des Werks Projektion II von Felix Stephan Huber. 8: Jurierung der Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Zürich, 1982. Werke an der linken Wand von Lisa Enderli (vgl. Abb. 42–45), unterhalb der Fenster von Dan Flury (vgl. Abb. 39) und am Boden ausgelegt nicht zugeschrieben. 9: Jurierung der Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Zürich, 1982. Werke an der linken Wand nicht zugeschrieben, am Boden ausgelegt von Felix Stephan Huber (vgl. Abb. 36).
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Riebesehl aus Otto Steinerts Fotoklasse an der Folkwangschule für Gestaltung in Essen und Michael Schmidt, die entgegen der konzeptionellen Auffassung der Fotografie der Becher-Schüler stärker herkömmliche sozialdokumentarische Darstellungsformen der Fotografien überdachten und aus subjektivem Blickwinkel weiterentwickelten. So erstaunen die zwei disparaten Titel der Bielefelder Fotosymposien zu Beginn der 1980er-Jahre auch nicht im Geringsten: „Zwischen Ereignis- und Wirklichkeitsfotografie“ und „Fotografie als eigenständige künstlerische Aussage“ (zweites resp. viertes Symposium, 1980 resp. 1982).13 Rückblickend lässt sich allerdings konstatieren, dass Neuerungen im Umgang mit dem Medium Fotografie mehrheitlich durch Kunstschaffende erkundet wurden. In dieser postmodernen Diversität der Fotografie seit den 1980er-Jahren scheint also gegenüber den früheren Jahren der „Kunst-Strang“14 vorherrschend zu sein. Dies beschreibt auch der damalige Fotokurator und Kunsthistoriker Guido Magnaguagno: „Als die Bilderflut schon ins Unermessliche gestiegen war, kam unverhofft der Frühling der ,künstlerischen Photographie‘“.15 In Zürich gehörte die Städtische Galerie zum Strauhof zu den zentralen Orten dieses „Frühlings“, indem in den 1970er- und 1980er-Jahren mehrere innovative Ausstellungen präsentiert wurden. Mit der Rekonstruktion der Ausstellung „Fotografien III“, dem Blick auf ihre Vorgänger „Fotografien“ und „Fotografien II“, einer Rückschau auf die Ausstellung „Wichtige Bilder“ im Museum für Gestaltung Zürich und der Betrachtung des zeitgenössischen Mediendiskurses soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie sich die Fotografie in der damals untergründig sehr lebendigen Zwingli-Stadt präsentiert hat.
VORGÄNGE DER REKONSTRUKTION Der Künstler und Fotograf Hans Danuser initiierte als Visiting Artist der Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich 2009 die Recherche zur Fotografie in Zürich in den 1970er- und 1980er-Jahren. In mehreren Ateliersitzungen wurde in einer kritischen Revision in Zusammenarbeit mit Studierenden darüber diskutiert, inwieweit im Zürich der 1970er- und 1980er-Jahre von einer Neuerfindung der Fotografie durch Kunst, Kunstkritik, Kunstgeschichtsschreibung und Literatur gesprochen werden kann. Zentral war in diesem Zusammenhang neben mehreren dokumentierten Ateliergesprächen mit KunsthistorikerInnen, Künstlern und Schriftstellern die Aufarbeitung der Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof im Winter 1982/1983.16 Die Ergebnisse der Ausstellungsrekonstruktion waren erst ernüchternd, da festgestellt werden musste, dass bis auf die Einladungskarte, die Preisliste der Werke und das Plakat keine weiteren Dokumente mehr auffindbar waren (Abb. 6, 64). Bei einem erneuten Anlauf zu einer nunmehr detaillierten, möglichst abschließenden Aufarbeitung seit 2012 konnten von 24 der 30 teilnehmenden KünstlerInnen die ausgestellten Werke, eine Ausstellungsansicht (Abb. 36) und mehrere Dokumentarfotografien der vorgängigen Jurierung gesichert werden
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(Abb. 7–9). Zudem wurden die Jurymitglieder anhand eines Fragenkatalogs interviewt und die Archivbestände zur Ausstellung sowie diverse Presseerzeugnisse zur Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren im Zürcher Stadtarchiv, im Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA), im Archiv des Museums für Gestaltung Zürich und in der Fotostiftung Schweiz konsultiert. Das wohl aussagekräftigste Archivmaterial im Zürcher Stadtarchiv zur Ausstellung „Fotografien III“ scheint jedoch verloren; exakt zwischen den Jahren 1981 und 1984 fehlen die Archivkisten aus unerfindlichen Gründen. Nachforschungen an der Zürcher Hochschule der Künste (früher: Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich), im Helmhaus, dem Amt für Hochbauten (früher: Hochbauinspektorat) und im Stadthaus ergaben auch keine weiteren Hinweise, wo sich die Archivalien heute befinden könnten, wenn diese nicht bereits in den 1980er-Jahren vernichtet worden sind, wie Max Schultheiss, Leiter der Abteilung Archivierung und Recherche im Stadtarchiv, vermutet. Da der Ausstellung „Fotografien III“ (1982/1983) zwei Ausstellungen vorausgegangen waren, wurden von diesen ebenso vorhandene Dokumente gesammelt. Von „Fotografien“ (1975) liegt nun der Ausstellungskatalog (Abb. 1–4) und für „Fotografien II“ (1979) der Vernissagetext des Schweizer Fotokurators Guido Magnaguagno vor (Abb. 63). Zudem konnten im Stadtarchiv von beiden Ausstellungen die Einladungskarten und Künstler- bzw. Preislisten sowie die Plakate ausfindig gemacht werden (Abb. 1, 5). Einen Endpunkt des hier recherchierten Zeitraums (1975–1990) stellt die Ausstellung „Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz“ im Jahr 1990 dar, die in einer klar selektiven Ausstellung und einem sehr ausführlichen Katalog die neuen Entwicklungen im Umgang mit dem Medium Fotografie in der Schweiz reflektierte und diesen eine breite Plattform bot.17 Zur Analyse der Kunst- und Fotokritik – der medialen Fotografierezeption in den 1970er- und 1980er-Jahren – wurden im Tages-Anzeiger-Archiv, das sich heute in der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich befindet, die eigens vom Verlag angelegten Dossiers zum Thema ,Fotografie‘ durchgesehen, zudem wurden ausgewählte Jahrgänge der Neuen Zürcher Zeitung auf Mikrofilm sowie nationale und internationale Kunstzeitschriften konsultiert.
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DIE AUSSTELLUNGSSERIE „FOTOGRAFIEN I–III“ Die Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof Zürich von 1982/1983 legte die Vielzahl an künstlerischen Positionen im Umgang mit der Fotografie zu Beginn der 1980er-Jahre dar (vgl. Abb. 10–53).18 Sie war eine Replik auf die Ausstellung „Junge Schweizer Photographen. Reportagen – Konzepte – Experimente“, die ein Jahr zuvor von der Schweizerischen Stiftung für die Photographie im Kunsthaus Zürich präsentiert worden war. Diese Ausstellung war dahingehend kritisiert worden, dass sie stark auf „altmodische Reportage“19 und streng konzeptuelle Fotografie ausgerichtet war, also ein zu einseitiges Bild des zeitgenössischen Zürcher Fotografieschaffens zeigte – die sich überlappenden Bereiche der experimentellen, künstlerischen und freien Fotografie blieben fast unbeachtet, und KünstlerInnen, die sich des Mediums Fotografie annahmen, wurden ganz ausgeblendet. Nicht so die Ausstellung „Fotografien III“. Dies bestätigt auch der damalige Juror, Vladimir Spacek, im Interview:
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René Fries, Laterne, Schweiz, 1982, S/W-Fotografie.
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11: Andreas Wolfensberger, Krakau, Nova Hutta, Neubauten, 1968, S/W-Fotografie.
12: Andreas Wolfensberger, Krakau, Nova Hutta, Neubauten, 1968, S/W-Fotografie.
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„Diese Ausstellung war eine Reaktion auf die Situation in der Fotostiftung. Walter Binder, als Präsident der Stiftung, war in meinen Augen immer sehr vorsichtig mit Ausstellungen, denn wer ausgestellt wurde, musste Renommee erlangen. Er wollte keine Sprünge machen, keine Risiken eingehen. Deswegen wollten wir etwas anderes machen im Strauhof, und die Ausstellung schien uns eine adäquate Reaktion auf die Positionen im Kunsthaus.“20 Die Ausstellung im Strauhof zeigte die Fotografie in ihrer neuartigen Vielfältigkeit an den Schnittpunkten zwischen Reportage, Konzept, Experiment und Kunst. „Fotografien III“ steht damit als dritte und letzte Ausstellung in einer Serie, die bereits 1975 begann und 1979 zum zweiten Mal realisiert wurde. Die Ausstellungsreihe21 beruhte, wie dies Bice Curiger 1975 in einem Zeitungsartikel zur ersten Ausstellung „Fotografie“ erläuterte, auf der Entwicklung, dass sich „die Grenzen verwischt haben“: Ab Mitte der 1970er-Jahre zeigte sich eine Durchmischung von Kunstschaffenden, die Fotografie als Medium verwendeten, und (Berufs-)Fotografen, die sich künstlerischer Darstellungsformen annahmen.22 Dies zeigt sich auch anhand der TeilnehmerInnen der ersten Ausstellung „Fotografien“, zu denen BerufsfotografInnen wie etwa Barbara Davatz, Verena Eggmann und Heinz Hebeisen sowie Künstler wie Not Vital und Dieter Meier zählten (Abb. 1–4). Bedingung der Ausstellungen war, Fotografien auszustellen – nicht (Berufs-)Fotografen. Der Fokus lag somit verstärkt auf der Diversität der Objekte und nicht den Urhebern derselben. Federführend für die Realisierung der Ausstellungsserie war Helen Bitterli, die Leiterin des Strauhofs von 1974 bis 1987. Die Ära von Helen Bitterli am Strauhof war geprägt von dem Bestreben, der zeitgenössischen Kunst und Fotografie eine alternative museale Ausstellungsmöglichkeit zu bieten. Denn, wie sich die Leiterin heute selbst erinnert, junge Fotografieschaffende konnten damals sonst in keinen anderen öffentlichen Institutionen ausstellen. So wurde die ab 1976 dreigeschossige Ausstellungsfläche23 mit Präsentationen bespielt, die rückblickend für die 1970er- und 1980er-Jahre prägende Titel tragen wie „Frauen sehen Frauen“24 (1975), „Video-Workshop“ (1981), „Serien, Variationen, Zyklen“ (1981) und natürlich die aus dem Schweizer Kunstgeschehen nicht mehr wegzudenkende medienübergreifende Ausstellung „Saus und Braus“ (1980), kuratiert von Bice Curiger.25 Die freie Plattform für zeitgenössische Kunst und Fotografie aus Zürich bot auch die Möglichkeit zu neuen künstlerischen wie auch kuratorischen Experimenten. Die Architektin und damalige Jurorin der Ausstellung „Fotografien III“, Sibylle Heusser, erinnert sich: „[Der Strauhof, J. S.] war damals wohl ein Ort, an dem ganz besondere Ausstellungen stattfinden konnten – etwas ab vom Hauptinteresse des breiten Publikums und im Zentrum des Interesses von Künstlern und Künstlerinnen – […] alles Veranstaltungen, die nirgendwo sonst als in diesem intimen und nicht im Auge des Taifuns stehenden Ort hätten stattfinden können. So ist denn der damalige Strauhof so etwas wie ein für Zürich äusserst wichtiger ,Freiraum‘ gewesen.“26
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13–16: Walther (Peter) Gartmann, aus Strassenbilder 1–8 (Zürcher Bahnhofstrasse), 1980/1981, S/W-Fotografie, 8-teilig.
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Diese Qualität des Strauhofs verfolgte Helen Bitterli genauso bestrebt wie unprätentiös. Doch rückblickend scheinen am Strauhof die Voraussetzungen gegeben gewesen zu sein, dass sich ein neuer Geist junger KünstlerInnen und FotografInnen in ihrer Vielfalt und Qualität entfalten konnte. So schrieb bereits im Oktober 1975 die Fotografiezeitschrift Nikon News: „Helene [sic] Bitterli, die Initiantin der Kunstkammer, will mit dieser Schau [die Ausstellung ,Fotografie‘, J. S.] junge Schweizer Fotografen einem breiten Publikum vorstellen und gleichzeitig einen Schritt zur Anerkennung der künstlerischen Fotografie wagen.“27 Die Resonanz der KünstlerInnen auf die Ausstellungsrekonstruktion von „Fotografien III“ war unterschiedlich: Einige konnten sich noch gut an die Ausstellung erinnern, wenige fanden sie unwichtig – viele kamen direkt auf die Rolle vom Strauhof in dieser Zeit zu sprechen. Es war die Zeit von Apocalypse Now28; die Welt war ,böse‘: Man kämpfte für etwas Neues, oder man kehrte ihr den Rücken und fokussierte auf sich selbst als solitäres Individuum – wie dies etwa Nan Goldin mit ihrem radikal autobiografischen Fokus vorgab oder Michael Schmidt als Vertreter der sogenannten „Autorenfotografen“29 (Klaus Honnef) der BRD sich in sozialdokumentarischer Weise dem Berliner Quartier widmete. So war in der Ausstellung „Fotografien III“, deren KünstlerInnen und FotografInnen meist noch heute aktiv sind,30 auch ein starker thematischer und gattungsspezifischer Pluralismus auszumachen. Es dominierte die Schwarz-Weiß-Fotografie neben einigen Fotoinstallationen und wenig Farbfotografie, etwa von Dan Flury (Abb. 39) und Daniel Huber (Abb. 40, 41). Urs Stahel schreibt dazu zwei Jahre später: „Die Farbfotografie wird offenbar wegen ihrer Realitätsnähe und ihres Verschleisses in Werbung und Medien weiterhin als problematisch empfunden.“31 Die Abkehr vom fotografischen Positivismus war greifbar, „[v]ielfach haben die Serien Themen, die von der persönlichen Sicht des Fotografen bestimmt sind“.32 Es ist bezeichnend, dass die einzelnen Werke meistens aus mehreren Fotografien bestanden, wobei das moderne Prinzip der „Kontiguität“ vertreten wurde: Die Serien bestehen nicht aus einer klar festgelegten Reihung, „die fotografische Serie ist vielmehr stark inhaltsgebunden, sie sammelt Gruppen, Klassen, Zugehörigkeiten“, nach Kemp eine Serialität mit „archivalische[r] Tendenz“33, die sich etwa in Fördertürmen (Bernd und Hilla Becher), Cowboys (Richard Prince) oder Porträts von Firmenangestellten (Barbara Davatz) manifestiert. Denn seit eine Übersättigung durch Massenmedien wie Illustrierte und Fernsehen eingesetzt hatte, hatte das Einzelbild weitgehend seine solitäre Kraft verloren.34 Die klassische Reportagefotografie wurde demgegenüber in der Ausstellung fast nicht berücksichtigt. So thematisieren etwa die Werke von René Fries (Abb. 10) und Herbert Augsburger (Abb. 50) vielmehr Projektionen, Oberflächen und Nichtorte, aus Reportagesicht leere Bilder. Ähnlich lassen sich auch Andreas Wolfensbergers Fotografien von Krakau beschreiben (Abb. 11, 12). Oder aber es wurden – vom Film beeinflusste – bewegte Bilder gezeigt, so Walther Gartmanns körnige und unscharfe ,Schnappschüsse‘ von der Zürcher Bahnhofstrasse (Abb. 13–16). Urs Knoblauch verfolgte mit seinem Lang-
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zeitprojekt Genauer erfassen das Ziel, psychologische Erkenntnis über die Realität zu gewinnen – der Realität ihre Wahrheit abzuringen –, und erreichte dies durch die Hinterfragung der Rolle des Rezipienten und eine raumdurchdringende Kombination von Text und Bild (Abb. 17). ,Protestfotografien‘ gab es etwa von Andreas Zai, der sich der entmenschlichenden ,Betonisierung‘ von Zürich annahm, indem er Passanten geisterhaft, als verblasste, entschwindende Schatten ihrer selbst in Unterführungen auf Zelluloid bannte (Abb. 18). Olivia Heussler, die die Zürcher Jugendunruhen seit ihrem Beginn 1980 ausführlich dokumentiert hatte, zeigte eine Wandinstallation, die aktuelle politische Themen wie Macht, Überwachung
17: Urs Knoblauch, Genauer Erfassen, Fotoinstallation, 2-teilig, 18: Andi Zai, Wipkingerbrücke-Hönggerstrasse, aus 240 × 195 cm. Mobilität I–XIII, 1982, S/W-Fotografie, A3-Querformate, 13-teilig.
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19: Olivia Heussler, Ueberwachung (Sihlquai 1981), S/W-Fotografie, Vintageprint, 19 × 29 cm, auf Barytpapier und weißem Karton (29 × 41 cm) aufgezogen. 20: Olivia Heussler, Mensch (Theaterspektakel 1982), S/W-Fotografie, Vintageprint, 19 × 29 cm, auf Barytpapier und weißem Karton (29 × 41 cm) aufgezogen.
21: Olivia Heussler, Ueberwachung (Sihlquai 1981), Fotokopie, Ausschnitt auf Karton (29 × 41 cm). 22: Olivia Heussler, Mensch (Theaterspektakel 1982), Fotokopie, Ausschnitt auf Karton (29 × 41 cm).
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23–25: Barbara Davatz, aus Paare ’82, 1982, S/W-Fotografie, Vintageprints auf RC-Papier, 12-teilig, je 27,5 × 22 cm.
26: Andreas Greber, aus Zugreisen, 1980–1981, S/W-Fotografie, 6-teilig.
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und Arbeit mithilfe von medialen Doppelbildern, schwarz-weißen Xeroxkopien von vergrößerten Ausschnitten aus Fotografien und diesen Fotografien selbst, darstellte (Abb. 19–22). Damit thematisierte sie gekonnt spielerisch den Einfluss der spezifischen Materialität der Werke auf ihre Rezeption. Andreas Greber benutzte auf seinen Zugreisen ein extremes Weitwinkelobjektiv, sodass mit den abgebildeten Objekten ihr eigener Realitätscharakter durchbrochen wurde (Abb. 26). In der Ausstellung bekamen Barbara Davatz und Hans Danuser eigene Räume. Davatz zeigte der Umgebung entkoppelte, frontal aufgenommene Dreiviertelporträts von jungen Paaren, die in ihrer seriellen Konzeption als fotografische Reihungen den Verweis auf Nicholas Nixons 1975 gestartete Fotoserie The Brown Sisters nahelegen.35 Hans Danusers im Bereich zwischen Reportage und Konzept angelegte Fotografien aus der in zehn Jahren geschaffenen Serie In VIVO erschlossen eine neue Sichtweise auf das Innenleben von Atomkraftwerken, einer Tabuzone der Gesellschaft (Abb. 23–25, 27). Fotografien in Anlehnung an die Finsler-Schule waren – doch etwas erstaunlich – durch Eva Fritzsche auch vertreten, deren Siebbilder mit Schattenwürfen stark an die Neue Sachlichkeit in der Fotografie der 1930er-Jahre erinnern (Abb. 28). Cécile Wicks schemenhafte Selbstporträts, ausgeführt mit einer Lochkamera, zeugen durch Doppel- und Mehrfachbelichtungen vom zeitgenössischen Rückzug aufs Individuum, dem Fokus auf sich selbst als fragilen Menschen, durchdrungen von Einflüssen und Bildern der Gesellschaft (Abb. 29, 30). Neben diesen Experimenten mit traditionellen fotografischen Herstellungsprozessen benutzte Monika Nestler (später Monika von Rosen) die neu entwickelte Polaroid-Technik, wobei sie diese direkt auf dem Abzug durch manuelle Eingriffe, Abkratzungen oder Übermalen, manipulierte und so eine Symbiose von zeichnerischer und fotografischer Formgebung erreichte (Abb. 37). Manons inszenierte fotokünstlerische Arbeit Die spanische Wand hinterfragt die einsamen und gemeinsamen Sichtweisen zwischen Individuen, die sich mal finden, mal auseinanderdriften (Abb. 31–33). Ebenso selbstreflexiv, jedoch stark konzeptionell befasst sich Daniele Buetti in Zusammenarbeit mit Kriton Kalaitzides in der Werkserie Ueber die geöffneten Arme des Andren stolpern mit der Rezeption der Räumlichkeit durch das Medium Fotografie. Dabei kommen sie zu dem kritisch-ironischen Schluss: „Wir haben den Klotz der Fotografie mit der Überwindung der Horizontale[n] von unseren Füssen gelöst; an einem Sonntag Nachmittag, in Zürich. Kriton/Daniele, 19. Juni 1983“36 (Abb. 34, 35). Die Überformate von Felix Stephan Huber – später vom Journalisten der Neuen Zürcher Zeitung, Peter Zimmermann, als „überdimensionierte Wegwerfbilder“37 bezeichnet – erinnern an David Hockneys fotografische Collagen, die fast gleichzeitig entstanden und im Mai 1983 in der Zürcher Galerie André Emmerich ausgestellt wurden,38 und zeigen eindrücklich, wie stark sich die zeitgenössische Fotografie von der klassischen Sachoder Reportagefotografie distanziert hatte (Abb. 36). An diesen Beispielen wird ersichtlich, dass sich in den 1970er- und 1980er-Jahren das Selbstverständnis im Umgang mit der Fotografie paradigmatisch verändert
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27: Hans Danuser, A-Energie I (Zwischenlager), aus IN VIVO, 1980–1989, Fotografie auf Barytpapier, 16-teilig, auf Grundformat 50 × 40 cm. 28: Eva Fritzsche, Sieb mit Tulpen, 1980, S/W-Fotografie, 20 × 30 cm.
29: Cécile Wick, Ueber den Mond I, Anfang der 1980er-Jahre, Doppel- und Mehrfachbelichtungen auf Barytpapier, ca. 62 × 70 cm. 30: Cécile Wick, Ueber den Mond II, Anfang der 1980er-Jahre, Doppel- und Mehrfachbelichtungen auf Barytpapier, ca. 62 × 70 cm.
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hat. Durch den Eingang der Fotografie als dokumentarisches Medium in die Kunstwelt gewann die „Fotografie an sich“39 (Douglas Crimp) an Kraft und wurde vom reinen Abbildungsmedium der Konzeptkunst zum eigenständigen, vielmals auch selbstreflexiven Medium der Kunst. Die Fotografie „hat sich dabei gewissermassen selbst sensibilisiert und zu guten Stücken neu erfunden“.40 Dabei erstaunt nicht, dass viele Protagonisten der 1970er- und 1980er-Jahre von den starken Konflikten zwischen Berufsfotografen und Künstlern, die die Fotografie als „Gelegenheitsmedium“41 anwendeten, erzählen. Ein – so empfundener – ,Clash‘ von technischer und ästhetischer Handwerkskunst einerseits und künstlerischen Ideen andererseits wurde, nicht zum ersten Mal in der Geschichte neuer Fotografie, in dieser Auseinandersetzung klar sichtbar. Marie-Louise Lienhard beobachtete bereits 1975,
31–33: Manon, aus Die spanische Wand, 1982, S/W-Fotografie, 12-teilig, je 70 × 50 cm.
34, 35: Daniele Buetti und Kriton Kalaitzides, aus Ueber die geöffneten Arme des Anderen stolpern, 1982/1983, 24 S/W-Fotografien, je ca. 21 × 15 cm, heute in einer kleinen Bookletform zusammengefasst.
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dass im Bereich der „bildnerischen Gestaltung“ ein Trend unverkennbar wurde: „derjenige zur Fotografie. […] Eine neue Fotografengeneration begreift ihr Medium auf eine neue selbstbewusstere Art als persönliches und künstlerisches Ausdrucksmittel.“42 Doch gleichzeitig schrieb etwa die Fotografin Verena Eggmann selbst zu ihren Werken: „Die ausgestellten Bilder sind Fotografien, keine Kunstwerke.“43 Die Ambivalenz im Umgang mit der Fotografie machte weder vor KünstlerInnen noch vor FotografInnen halt: War im einen Lager die Selbstbehauptung gegenüber den übrigen Kunstmedien vorherrschend, war im anderen die Neupositionierung innerhalb des Mediums Fotografie selbst gefordert, die sich zwischen ,dokumentarischer‘, ,sachlicher‘, ,experimenteller‘, ,konzeptueller‘, ,künstlerischer‘, ,journalistischer‘ oder ,freier‘ Fotografie bewegte. Doch zugleich entstanden eben gerade durch diesen starken Konflikt neue Ideen und neue Freiräume, da das Fotografische in seiner Vielschichtigkeit und Variabilität durch die Fotokunstschaffenden in neue Bereiche vorstoßen konnte. Die Serialität der Fotografie, die aufkommende Farbfotografie und ihre großen Formate, da nicht mehr für Buch-, Zeitschriftenformat gedacht, waren Zeichen dieser Veränderung. Diese vollzog sich Anfang der 1970erJahre, aber, so musste sich 1985 auch Guido Magnaguagno, Mitglied der Schweizerischen Stiftung für die Photographie, eingestehen: „Auch wir von unserer sakrosankten Stiftung für die Photographie taten nur langsam die Augen auf, und als wir förderungswillig und -fähig waren, machten die ersten Galerien bereits wieder zu.“44
DER AUFTAKT ZUR FREIEN FOTOGRAFIE Doch neben den Verkaufsausstellungen in Galerien, etwa in der Nikon Galerie an der Schoffelgasse 3, den auf Kunst wie auch Fotografie ausgerichteten Orten Work Galerie von Philippe Vogt an der Trittligasse 24 und Susan Abelins Galerie 38, woraus 1989 das Photo Forum Zürich entstand, war schon vor 1980 die Stadt Zürich mit Stipendienvergaben im Bereich der Fotografie tätig geworden. Die unjurierte Zürcher Weihnachtsausstellung in der Züspa, bei der die Stadt Zürich auch verschiedene Stipendien vergab, wurde seit den 1970er-Jahren ein wichtiger Ort für die Neue Figuration in der Malerei, aber auch für die freie Fotografie. „Durch die juryfreien Ausstellungen hat es auch viele Künstler ,hervorgespült‘, die eher Art Brut gewesen sind – die das Establishment aufgemischt haben – Fotografie ist auf eine Weise auch eine Art Brut gewesen, in einem Außenseiterfeld“, erinnert sich Guido Magnaguagno.45 So gewannen denn auch viele FotografInnen und KünstlerInnen, die mit dem Medium Fotografie arbeiteten, um 1980 Stipendien und Atelieraufenthalte.46 Einige Stipendien waren gekoppelt an eine Gruppenausstellung in der Städtischen Galerie zum Strauhof, damit hatten die FotografInnen die Möglichkeit, erstmals museal präsentiert zu werden. Oft wird behauptet, dass sich in der Schweiz ab Mitte der 1970er-Jahre ein Wandel in der Ausstellungspraxis vollzog: Neue Fotogalerien entstanden, Kunstmuseen
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36: Felix Stephan Huber, Projektion I, 1982, S/W-Fotografie, 240 × 360 cm, Privatbesitz Marlyse Brunner, Zürich. Ausstellungsansicht, „Fotografien III“, Städtische Galerie 37: Monica von Rosen Nestler, Häutung IV, zum Strauhof, 1982/1983. März 1979, Polaroid, Polacolor 2, Typ 88 Film, manipuliert durch Abkratzung.
38: Peter Hunkeler, Ohne Titel, 1981, Fotoinstallation, Polaroid Type 55 pos/neg, vergrößert auf Ilford Multigrade, 7-teilig, je 23 × 29,5 cm.
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integrierten zeitgenössische Fotografie in ihre Sammlung, und es wurden Stiftungen für die Fotografie gebildet.47 Doch dies galt zu Beginn nur sehr bedingt für die freie Fotografie. Für die etablierten Meister der Fotografiegeschichte wurden Einzelausstellungen ausgetragen, und Vintage-Prints wurden teuer gehandelt. Demgegenüber mussten sich die jungen FotografInnen um Ausstellungsmöglichkeiten bemühen, um wahrgenommen zu werden. Dabei war Zürich kein Einzelfall. Diese Schwierigkeit fand sich auch in Deutschland, wo es nach der zeitgenössischen Aussage von Klaus Honnef die von ihm gruppierten „Autorenfotografen“ schwierig hatten, sich zu etablieren. Denn im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, wo die Fotografie als selbstverständlicher Bestandteil der Museen wahrgenommen und vonseiten der Universitäten und von öffentlichen wie privaten Stipendien sowie durch eine breite Käuferschicht gefördert worden sei, befand man sich in Deutschland noch am Anfang.48 Die Museen hätten versagt, und auch das Verlagswesen sei einer avancierten Fotografie nicht günstig gestimmt gewesen. Es lässt sich hierbei insgesamt allerdings resümieren, dass kulturelle und museale Orte für die zeitgenössische Fotografie in Deutschland – die Spectrum Galerie in Hannover (1972), die Fotogalerie Wilde in Köln (1972) und die Photogalerie Lichttropfen in Aachen (1974) sowie das vereinsbasierte Museum für Photographie in Braunschweig (1984) – sich schon im kleinen Umfang Mitte der 1970er-Jahre etabliert hatten.49 Offizielle Museumsabteilungen, die sich der historischen Fotografie annahmen, gab es jedoch etwa mit der fotografischen Sammlung im Stadtmuseum München (1963) bereits ab Mitte der 1960er-Jahre. Vermehrt entstanden in den 1970er-Jahren auch Sammlungsbereiche mit einer Ausrichtung auf zeitgenössische Fotografie, darunter die fotografische Abteilung des Museum Ludwig in Köln (1977) und das Museum Folkwang in Essen mit der Integration der Kol-
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lektion von Otto Steinert (1978). Doch es erstaunt nicht, dass noch 2004 Ute Eskildsen konstatiert: „Die Diskrepanz zwischen der Anzahl der Produzenten und denjenigen, die sich als Kritiker, Kuratoren oder Lehrende mit Fotografie befassen, ist immer noch gewaltig.“50 Die Skepsis gegenüber den neuen Strängen in der zeitgenössischen Kunst zeigt sich auch in der Medienberichterstattung zur zeitgenössischen Fotografie. Denn obgleich sich die Fotografie in den 1980er-Jahren in der Kunstszene als künstlerisches Medium etablieren konnte, so war in der Gesellschaft ihre Rolle als klassisches Dokumentationsmittel noch mehrheitlich präsent. In der bürgerlich-liberalen Tageszeitung Neue Zürcher Zeitung wurden Fotografieausstellungen nicht im Kulturbund, dem Feuilleton, sondern unter der Rubrik „Verschiedenes“ oder „Stadt Zürich“ abgehandelt und zumeist von einem ,fachfremden‘ Journalisten wie etwa Peter Zimmermann verfasst. Bereits 1978 nimmt dieser gegenüber der zeitgenössischen Fotografie äußerst kritische Journalist Stellung. Zum Grossen Photopreis der Schweiz schreibt er folgende scharfe Kritik:
39: Dan Flury (dan f. progin), 3er-Serie, aus Stille Welten, 1982, Diapositive, per Cibachrome-Verfahren vergrößert und entwickelt.
40: Daniel Huber, In der Galerie Walcheturm, 1982, Farbfotografie, C-Print, 25 × 35 cm. 41: Daniel Huber, Im Atelier, 1980, Farbfotografie, C-Print, 25 × 35 cm.
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42–45: Lisa Enderli, aus Mein Tagebuch, 1982, Vintages auf RC-Papier, Silbergelatine-Abzüge, 4-teilig, je 40 × 50 cm, Fotostiftung Schweiz, Winterthur, Inv.-Nr. 1000.35.029–032.
46, 47: Urs Walder, Ohne Titel, 1981, S/W-Fotografie, Serie mit Nikon F2, 180er-Objektiv auf 400 ASA-Film (mit Frontallicht & Ringblitz) fotografiert, je 19,5 × 28,5 cm.
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48, 49: Ernst Spycher, aus Kitty N. Y. C., Anfang der 1980er-Jahre, Farbfotografie, hergestellt auf Kodak Ektachromefilm im KB-Format.
„Wie bei den beiden Vorgängern 1974 und 1978 [sic!] sind Aufwand und Ertrag nicht zur Uebereinstimmung gekommen. […] Das Thema hiess ,Kreative Schweiz heute‘ […]. Die Erwartung, dass Arbeiten eingereicht würden, die sich mit der Kreativität auf Gebieten wie der Wirtschaft, der Wissenschaft und Forschung, des sozialen Bereiches, der Kunst und Kultur, Bildung, Technik, Politik, Erziehung usw. befassen, wurde nicht erfüllt. Die Jury wurde […] davon überrascht, dass insgesamt eher Arbeiten eingereicht worden sind, welche die Kreativität der Photographie zum Gegenstand haben. Es ist den Photographen offenbar weniger um die Darstellung eines Themas als um das Aufzeigen gestalterischer Möglichkeiten der Photographie gegangen. Etwas erstaunen mag dabei nur, dass die Jury davon überrascht worden ist: Das liegt doch sehr genau auf der internationalen Linie, das entspricht doch exakt der Tendenz, die seit einigen Jahren registriert werden muss, die Photographie vom dokumentaren Darstellungsmittel (mit künstlerischen Möglichkeiten) zu lösen und zur Kunst hochzustilisieren. Wen wundert es denn, wenn die Photographen darauf einspuren?“51
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50: Herbert Augsburger, Foto 3, aus Fotos 1–5, Anfang der 1980er-Jahre, S/W-Fotografie, 17,5 × 13 cm. 51: Felix Weber, Herat, Afghanistan, 1974.
Obwohl Zimmermann die Weiterentwicklung der Verwendung des Mediums Fotografie akkurat beschreibt, bringt er ihr überhaupt kein Verständnis entgegen, dies ändert sich auch im Verlauf der 1980er-Jahre in der Berichterstattung der Neuen Zürcher Zeitung nicht. Im Tages-Anzeiger verfassten zu Beginn des Jahrzehnts fast ausschließlich Martin Schaub, Film-, Fotografie- und Architekturkritiker, und Fritz Billeter, Kunstkritiker, Artikel zur Fotografie. Obgleich sie fachlich kompetent schrieben und eine offenere Haltung gegenüber dem Medium Fotografie vertraten, setzten sie als 68er einen politischen Anspruch an die Fotografie, was sich in ihrem starken Fokus auf die engagierte (Reportage-)Fotografie manifestierte. Daher hatte die künstlerische, experimentelle und freie Fotografie auch in dieser linksliberalen Tageszeitung erst einen schweren Stand. Eine neue Sicht auf die Entwicklung der Fotografie ab den späten 1970er-Jahren in den Schweizer Zeitungen und Zeitschriften lässt sich rückblickend erst durch Autoren wie Urs Stahel, Annelise Zwez, Jörg Huber oder etwa Bice Curiger und Hanna Gagel erkennen. Sie lösten sich von den bald müßigen Fragen, ob Fotografie
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52: Rudolf de Crignis, Jump, um 1979, 90 × 130 cm. 53: Rudolf de Crignis, Striptease, 1978, 9-teilig, je 17,2 × 25 cm, Privatbesitz Liliane Csuka.
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54: Robert Frank, Birmingham, Alabama, 1987, Nr. 3, 3 Silbergelatine-Abzüge auf einem Blatt, 93,3 × 47,9 cm, Collection of the Birmingham Museum of Art, Commissioned by The Birmingham News for The Birmingham News Centennial Photographic Collection.
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zur Kunst gezählt werden könne oder ob ihr ein dokumentarisches Moment innewohne. Sie interessierte vielmehr die Komplexität der Anwendungsmöglichkeiten des Mediums Fotografie, und sie überdachten dabei zumeist auch das Potenzial des vorhandenen Beschreibungsvokabulars – welches Martin Schaub prompt in einem Tages-Anzeiger-Artikel zur Ausstellung „Wichtige Bilder“ mit folgenden Worten kritisiert: „Wie schwierig es ist, vernünftig über Fotografie zu reden und zu schreiben, beweist das Buch [der Ausstellungskatalog, J. S.] auf jeder Seite. Es fehlt […] eine unverdächtige, verbindliche Sprache. Sprachliche Imitationen der Frankfurter Schule, des französischen Strukturalismus sowie der Theoretiker der Postmoderne kreieren da eine zum Teil nur schwerlich durchdringliche Sondersprache, deren polemischer Unterton das Verständnis nicht gerade erleichtert.“52 Es erstaunt also nicht, dass in der für zeitgenössische Kunst etablierten Zeitschrift Kunstforum International im Sonderheft zur Situation Schweiz von 1983 mit keinem Wort auf die Fotografie eingegangen wird. Obwohl einige Künstler wie Urs Lüthi, Rudolf de Crignis (Abb. 52, 53), Pierre Keller, Hannah Villiger oder Walter Pfeiffer mit fotografischen Werken gezeigt wurden, reichte es bei Weitem nicht für ein solitäres Überblickskapitel zur ,Fotografieszene Schweiz‘.53
55: Olivier Richon, With Oysters – and Parrot, aus A Devouring Eye, 1989, C-Print, 8-teilig, je 82 × 96 cm oder 96 × 82 cm. 56: Hannes Rickli, Erosionsmodell V, aus Honigland, 1990, C-Print, 98 × 122 cm, aufgezogen auf Aluminium.
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57: Christian Vogt, Big Weekend Movie, aus Innenräume, 1987–1990, Silbergelatine-Abzüge auf RC-Papier, je ca. 65 × 225 cm.
58: Bernhard Voïta, o. T., 1989, 140 × 140 cm. 59: Vladimir Spacek, aus Innenzeit, 1988, Installation, 22-teilig, je ca. 59 × 60 cm, Installation ca. 180 × 600 cm, Kunstmuseum des Kantons Thurgau, Kartause Ittingen, Warth. 60: Roland Schneider, aus Zwischenzeit, 1987/1988, Historisches Museum Olten.
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61: Balthasar Burkhard, Porträts (Mario Merz), 1989, Fotografie auf Papier, Glas, Eisen, je ca. 100 × 100 cm.
RÜCKBLICK UND STATEMENT ZUR SCHWEIZER FOTOGRAFIE DER 1980ER-JAHRE: DIE AUSSTELLUNG „WICHTIGE BILDER. FOTOGRAFIE IN DER SCHWEIZ“ Dieser Herausforderung einer Übersicht nahmen sich Urs Stahel und Martin Heller in ihrer Verkaufsausstellung „Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz“ von 1990 im Museum für Gestaltung Zürich an (Abb. 54–62 als Werkauswahl). Die Präsentation gibt für die 1980er-Jahre einen zugespitzten Überblick, welche Bilder für das vergangene Jahrzehnt eine zentrale Rolle spielten. Entscheidend hierbei war die Rede von „Bildern“ – ein geschickter Schachzug, sich den herkömmlichen Bestimmungen von ,Kunst‘ und ,Fotografie‘ zu entziehen und auf die allgemeine Relevanz von Bildern aufmerksam zu machen. In einem Zeitungsartikel wird dazu konstatiert: „Fotografisch thematisiert wird ein inneres Bild […]. Soweit hat sich bisher nur die reine Kunst gewagt.“ Das Fotobild suche hier in der Auseinandersetzung mit der Gegenwart einen neuen Platz zwischen zwei festgefahrenen Fronten: „dem oft belanglosen Zeitungs- oder Werbebild und der geheiligten Museumsfotografie“.54 In der Zeitschrift Bau + Architektur wird zur Ausstellung erwähnt, dass „dabei […] bewusst kein grundsätzlicher Unterschied gemacht [wird, J. S.] zwischen ,angewandter‘, ,freier‘ oder ,künstlerischer‘ Fotografie – Kategorien, die der medialen Wirklichkeit längst nicht mehr entsprechen [würden, J. S.].“55
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Peter Fischli/David Weiss, aus Photographs, 1988/1989.
Urs Stahel und Martin Heller, die die Ausstellung konzipiert hatten, verurteilten im Handblatt wie auch in den Katalogtexten den kritiklosen und musealen Umgang mit der klassischen Sach- und Reportagefotografie und forderten zum Nachdenken über die Bilder des Alltags auf.56 Nicht aus Gründen der fehlenden Betriebsamkeit aktueller Fotografie in der Schweiz sei die Ausstellung realisiert worden, sondern weil die „Fotografie ihre Ghetto-Situation selten zu durchbrechen vermochte“.57 Jörg Huber, späterer Leiter des Instituts für Theorie an der Zürcher Hochschule der Künste in Zürich, beurteilte die Situation der Fotografie ausgehend von der Ausstellung gekonnt: „Den Aspekt des Reportagehaften/Dokumentarischen gilt es nun auszuweiten und zu vertiefen. […] Ihre Bedeutung basiert – mit Einschränkungen – primär auf dem Diskurs des Ästhetischen, Medialen und Konzeptuellen, interpretiert als medienimmanente Kategorien. Als in den 60er-Jahren diese Entwicklung in die Fotografie einbrach, war er auch und zum Teil wesentlich fundiert auf der politischen Bedeutung der Arbeit mit Bildern. Dieser Aspekt und damit auch die offene Frage nach einem möglichen Wirkungsfeld der Fotografie werden in der heutigen Diskussion kaum mehr beleuchtet.“58
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Die Kritik zielt darauf ab, dass Stahel und Heller sozialdokumentarisch arbeitende Fotografen aus ihrer kunsthistorisch geprägten Perspektive ausgeklammert hätten.59 Die Ästhetisierung des Bildes und seines Gebrauchswertes stand damit im Einklang mit der Sakralisierung des „autonomen“ fotografischen Bildes – die „Frage der kulturellen Relevanz des Bildes“,60 wie Huber weiter ausführte, blieb außen vor. In die gleiche Kerbe schlug auch Annelise Zwez’ Ausstellungskritik in der Zeitschrift Kunstforum International, in der sie am Beispiel von Hannah Villigers ,Fotoskulpturen‘ folgendermaßen argumentierte: Die Kunstfotografie habe es einfacher, „sich als eigenständiger und eigenschöpferischer Bereich zu profilieren [als, J. S.] die Bildreportage, die sich viel unmittelbarer an der Wirklichkeit reibt und damit auch viel näher an dem ist, was uns in den Printmedien und im Fernsehen täglich als ,Wirklichkeit‘ vermittelt wird“.61 Die Weiterentwicklung der Reportage sei zwar schwierig und zeitintensiv, jedoch zentral. Dies zeige sich gerade darin, dass eine überwiegende Mehrheit von zehn der sechzehn gezeigten Werkgruppen sich in einen weit gefassten Bereich der Reportage eingrenzen ließen.62 Urs Stahel beschreibt dies im Ausstellungskatalog mit dem Wiederaufkommen des „Erzählerischen im Bild“,63 doch gerade diese Abkehr von der kühlen medienanalytischen Fotografie im Einflusskreis der Konzeptkunst, gepaart mit dem von Stahel postulierten – und nicht eingelösten – Abgesang auf die ,klassische‘ Reportagefotografie, irritiert, und die Kritik von Annelise Zwez zeigt es auf: Die Neuerfindung der Fotografie in den 1970er- und 1980er-Jahren passierte gerade sehr direkt in einer kritisch-distanzierten Auseinandersetzung mit der Gattung der Reportagefotografie und ihrer künstlerischen Überhöhung. Dafür stehen Fotografieschaffende wie Balthasar Burkhard (Abb. 61), Hans Danuser (Abb. 27), Nicolas Faure, Roland Schneider (Abb. 60), Iren Stehli, Christian Vogt (Abb. 57) und natürlich Robert Frank (Abb. 54). Letzterer steht gerade mit seinem 1972 erschienenen Buch The Lines of My Hand, worin die Selbstreflexion und die Brüche verschiedener Wirklichkeitsebenen thematisiert werden, Pate für die Umbrüche in der Fotolandschaft der 1980er-Jahre.64 Robert Frank sei „das heimliche Zentrum der Schweizer Fotografie“,65 stand 1990 in der von Urs Stahel und Martin Heller erarbeiteten Standortbestimmung Wichtige Bilder – dies gilt noch heute.66 Die Ausstellung zeigt, dass es der Generation, die vor und nach 1980 beginnt, nicht mehr primär um das Experimentieren mit dem Medium Fotografie geht, sondern dass sie sich vielmehr an massenmedialen und künstlerischen Praktiken orientiert67 und sich für Fragen um den sozialen Gebrauch der Fotografie als bildgenerierendes Medium interessiert. Auch heute spricht man wieder von der „Neuerfindung der Fotografie“,68 dabei steht im Gegensatz zur künstlerischen Entdeckung der Fotografie als Medium und ihrem nachhaltigen Einfluss auf das Selbstverständnis des Fotografen in den 1970erund 1980er-Jahren vielmehr der neue Umgang mit Fotografie in der digitalen Bildund Kommunikationstechnik im Vordergrund. Neben den sozialen und ästhetischen Diskursen gab es seit der Erfindung der Fotografie vor nunmehr 175 Jahren
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fortwährend technische Neuerungen. Indes stellt sich dabei die Frage, ob Veränderungen der Herstellungsprozesse auch direkte Einflüsse auf das Arbeiten der Fotografen haben und wie sich daraus neue Stränge der Fotografie entwickeln – etwa die durch die digitale ,Demokratisierung‘ hervorgerufene zeitgenössische Aktualität der Amateurfotografie. Inwieweit sich demgegenüber das zumeist noch auf Papier gedruckte fotografische Bild als Sammelobjekt und Wertgegenstand in der Kunstwelt entwickelt, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Dass es weiterhin eine Vielzahl an Museen, Galerien und teils temporären Ausstellungsorten für Fotografie in Zürich und der Schweiz gibt, ist jedoch unbestritten und zeugt von einer kulturellen Vielfalt der Schweizer Fotografie und deren Geschichte.
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TRANSKRIPTION DER AUSSTELLUNGSDOKUMENTE
(vgl. Abb. 63–65)
63a/b: Rede von Mitjuror Guido Magnaguagno zur Eröffnung der Ausstellung „Fotografien II“ von 1979 in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Zürich, Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.64.3.1.3.1.
Zur Ausstellung „Fotografien“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof vom 26. Okt. – 24. Nov. 1979 Der jahrzehntelange Streit um den Kunstwert der Fotografie dürfte wohl für immer beigelegt sein. Doch ist ein neuer, sozusagen hauseigener, zwischen der „künstlerischen“ und der „angewandten“ Fotografie entbrannt. Während die eine als „freie“ Kunst sich zuerst einmal selber genügt, bevor sie in Ausstellungen und Fachzeitschriften eine noch immer kleine Öffentlichkeit erreicht, hat die andere Richtung das Medium in den Dienst der Werbung und der Presse gestellt oder führt es als traditionelle Atelier-Porträtfotografie weiter. Die einen sind die brotlosen Künstler mit Amateurstatus, die andern die hochbezahlten und häufig resignierten Profis. Wer für Professionalismus in der Kunst ist, kann mit diesem Zustand nicht zufrieden sein. Man hat von Kunstfotografie schon einmal leben können, wenn auch nicht in der Schweiz. Um die Jahrhundertwende fand die „bildmässige“, d. h. sich an der Malerei anlehnende Kunstfotografie mit ihren Edeldrucken die Anerkennung der Museen und die Wertschätzung eines bürgerlichen Kunstpublikums. Ende der zwanziger Jahre wurde sie aber von der „neuen Fotografie“ aus dem Feld geschlagen.
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Nachdem diese 1929 mit der „Film und Foto“-Ausstellung (als Rekonstruktion demnächst im Zürcher Kunsthaus) den öffentlichen Durchbruch geschafft hatte, kamen für Jahrzehnte die nützlichen, industriell verwertbaren Eigenschaften des Mediums in Werbung und Bildjournalismus zum Zug. Dagegen konnten sich nur noch Einzelgänger wie Jakob Tuggener behaupten. Fotografie war hierzulande fast ausschliesslich Reportage oder als Sachfotografie Teil der Werbegrafik. Der Schweizerische Werkbund schickte 1932/33 seine Schau „die neue Fotografie in der Schweiz“ in sieben Städte. Von dieser Pioniergeneration und ihrer „Schule“ ist heute aber niemand mehr dabei – die Werkbund-Tradition scheint ausgespielt zu haben. Künstlerische Fotografie ist im Aufschwung – man hat nach den Gründen zu fragen. Ist sie einfach der Ausdruck eines restaurativen Jahrzehnts, das die Errungenschaften der funktionalistischen Moderne radikal negiert, Innerlichkeit pflegt und den Künstler im Atelier oder Labor feiert? Mag sein – aber dieser Rückzug ins Private scheint berechtigt. Wohl keine Bildsprache hat sich so verbraucht, wie Fotografie als Konsumwerbung oder anspruchsloser Bildjournalismus. Die Bilderflut hat das Medium selber so kaputt gemacht, dass es wieder neu entdeckt werden musste. Kein Wunder, dass es sich bei uns noch in einer Phase des Nachvollziehens und des Suchens befindet. So wird man in dieser Ausstellung vielleicht keinen neuen Urs Lüthi entdecken, aber doch neben Epigonalem einige unbekannte Autoren, deren Namen man sich merken muss. Das Resultat dieses Ausstellungsunternehmens scheint mir zumindest so ermutigend, dass es Zeit wird, sich für bessere Infrastrukturen einzusetzen, für ein vermehrtes Engagement von Behörden und Museen, von Sammlern und Publikum. Es gibt in Zürich immerhin bereits so viele Fotogalerien, die, wie ich glaube, in sinnvoller Arbeitsteilung die Klassiker der Fotogeschichte wie die Avantgarde vorstellen. Die Jury hat der breiten Beteiligung Zürcherischer Fotografen an der Ausschreibung insofern Rechnung getragen, als sie von 179 Teilnehmern 53, also fast einen Drittel, berücksichtigt hat. Es ging ihr also weniger darum, allenfalls herausragende Werkgruppen im vollen Umfang zu präsentieren, als die heutige Fotoszene in ihrer Vielfältigkeit zu dokumentieren. Aus der Wahl gefallen sind eigentlich nur die spärlichen Reportagen alten Stils, und vielleicht wurden auch die Landschaftsfotos allzu rigoros behandelt. Es sollten keine künstlichen Grenzen und Richtlinien gezogen werden – im Gegenteil, der Pluralismus soll mit aller Gegensätzlichkeit als solcher erscheinen. Die äusserlichen Unterschiede, etwa vom Polaroid-Bildchen bis zur „Breitleinwand“, vom bunten Pop bis zur altmeisterlichen Brauntönung, vom braven Einzelbildchen zur komplexen Recherche, von der billigen Repro zum teuren Unikat lassen sich beliebig wieder in Stilen, Gattungen, Themen und Motiven finden. Die enorme Beteiligung und das gute Niveau der Einsendungen berechtigen zur Hoffnung, dass daraus so etwas wie eine all zwei Jahre hier im Strauhof stattfindende „Weihnachtsausstellung“ der Zürcher Fotografen wird. Guido Magnagnagno
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64a/b/c: Preisliste zur Ausstellung „Fotografien III“ von 1982/1983 in der Städtischen Galerie zum Strauhof, Zürich, Quelle: Stadtarchiv Zürich, V.B. c.64.3.1.3.1.
Städtische Galerie zum Strauhof Ausstellung FOTOGRAFIEN vom 9. Dez. 1982 – 8. Januar 1983 Herbert Augsburger Fotos 1–5
je Fr. 800.-- m. R.
Daniele Buetti / Kriton Kalaitzides ‚Ueber die geöffneten Arme des Anderen stolpern‘ Fr. 1’500.-Hans Danuser ,A-Energie‘ 1–6
je
Barbara Davatz Serie: „Paare ‘82“ Rudolf de Crignis ohne Titel 1–2 ohne Titel 9 teilig
400.-Preis a/Anfrage
je
350.-900.--
Lisa Enderli Bilder 1–4
je
250.--
Dan Flury ,Stille Welten‘ I–V
je
550.--
Thomas Frey ,Textil Schaufenster NY‘, 1–9
je
250.—o. R.
René Fries LATERNE – Schweiz – 1982 MAUER – Schweiz – 1982 DACHRINNE – Schweiz – 1982
400.-- m. R. 400.-- m. R. 400.-- m. R.
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Eva Fritzsche Sieb mit Tulpen Sieb mit Schöpflöffel Walther Gartmann Strassenbilder 1–8 (Zürcher Bahnhofstrasse) Benoit Gilbert Island 1–4
je
400.--
je
350.-- o. R.
je
Peter Hunkeler Ohne Titel, 7-teilig Urs Knoblauch ,Genauer erfassen‘, 2-teilig Manon ,Die spanische Wand‘
300.-400.-- o. R.
Olivia Heussler Macht (Limmatquai 1980) Ueberwachung (Sihlquai 1981) Arbeit (Zeltbau Kanzleischulhaus) Geld (Besuch Chevallaz Uni 82) Musik (Konzert Rote Fabrik 82) Mensch (Theaterspektakel 82) Ende (Knie Elephanten 82)
Felix Huber Projektion I Projektion II
je 450.-- m. R.
Martin Peer Zürich HB – Affoltern a/A (zweiteilig), 1–2
je
Urs Siegenthaler Augen-Blick
Andreas Greber Zugreisen 1–6
Daniel Huber In der Galerie Walcheturm In meinem Atelier
Monica Nestler Ohne Titel, 1–6
Preis a/Anfrage
je
je
300.-- o. R.
200.— 1’200.--
Preis a/Anfrage 7’500.--
550.-250.--
Robert Sinner 3 Fotos ohne Titel 1 Foto Vorort
je
150.-- o. R.
Ernst Spycher Kitty N.Y.C., I–IV
je
250.--
Marco Schmidli Abendland, 5 zweiteilige Fotos
je
300.--
Urs Walder ohne Titel
je
400.--
Felix Weber Agra, Indien Herat, Afghanistan Kandy, Sri Lanka
je
150.--
Cécile Wick Ueber den Mond I Ueber den Mont II
je
500.—
Andreas Wolfensberger BEI NOVA HUTA, POLEN IN NOVA HUTA, POLEN TOD IN AMSTERDAM
je
500.-- m. R.
Andreas Zai Mobilität I–XII
Preis a/Anfrage
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65a/b: Ausstellungstext „Wichtige Bilder“ zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Gestaltung Zürich, 27. Juni 1990, verfasst von Martin Heller und Urs Stahel.
27.6.1990 AMA200X/XMH/XHK Ausstellung Wichtige Bilder Fotografie in der Schweiz 28. Juni bis 26. August 1990 Seit jeher eignet der Fotografie ein besonders intimes Verhältnis zur Wirklichkeit. Dennoch glauben wir je länger je weniger daran, das fotografische Bild gebe diese Wirklichkeit richtig und objektiv wieder. In der Zahl der rund 45 Milliarden Bilder, die gegenwärtig pro Jahr auf der Erde geschossen werden, ist diese Problematik ebenso gegenwärtig wie in der Tatsache, dass die Fotografie praktisch in allen Lebensbereichen – ob privat oder öffentlich, zweckfrei oder strategisch – zur Anwendung gelangt. Diese „Welt der Bilder“ hat eine „Welt in Bildern“ gebildet, die in gleichsam fotografischem Sehen geformt und interpretiert wird. „Wichtige Bilder“ – der Titel versteht sich zuerst einmal als simple Feststellung der Bedeutung, die dem Medium Fotografie in unserer Bildkultur zukommt. Darüber hinaus aber ist er eine Behauptung. Und zwar eine zweifache: Fotografinnen und Künstlerinnen entwickeln sowohl dem sozialen Gebrauchswert als auch dem media-
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len Status der Fotografie gegenüber zunehmende Sensibilität. Daraus resultieren Bilder – „wichtige“ Bilder deshalb, weil sie auf der Bedeutung des Bildes beharren, und diese Bedeutung nicht nur postulieren, sondern auch einzulösen suchen. Solche Bilder können nur aus intensiver Auseinandersetzung mit dem Medium und der Welt entstehen; sie müssen von Dringlichkeit und Aktualität ihres Anliegens zeugen. In der Schweizer Fotografie der letzten Jahre sind in diesem Sinne neue Qualitäten entstanden. Weit über die historisch bedeutsame, inzwischen jedoch „klassisch“ gewordene Reportagefotografie hinaus fordern übersteigert inszenierte, mit Kalkül konstruierte, ironisch gebrochene und in ihrer Hartnäckigkeit bestechende Bilder die überlieferte Vorstellung von Fotografie heraus. Dank ihren klaren, durch Überzeugung getragenen Stellungnahmen ermöglichen sie eine längst fällige Auseinandersetzung und werfen neue Fragen auf. Vor diesem Hintergrund zeigen wir aktuelle Werke von Balthasar Burkhard, Hans Danuser, Nicolas Faure, Peter Fischli/David Weiss, Robert Frank, Felix Stephan Huber, Olivier Richon, Roland Schneider, Vladimir Spacek, Iren Stehli, Hannah Villiger, Christian Vogt, Bernard Voïta. Ein besonderes Anliegen war es uns, im Rahmen von „Wichtige Bilder“ auch jüngere Fotografinnen und Fotografen einzubeziehen – obschon deren Haltung sich noch nicht über die gleiche Erfahrung ausweisen kann wie die ihrer älteren Kolleginnen und Kollegen. Nadia Athanasiou, Francisco Carrascosa und Hannes Rickli nehmen deshalb unter besonderen Vorzeichen teil. Wir haben sie im Sinne eines freien Auftrages (und mit der Unterstützung des Bundesamtes für Kultur) gebeten, während rund vier Monaten eine thematisch offene, aber im weitesten Sinne reportageähnliche Arbeit eigens für diese Ausstellung zu realisieren. Nun gibt es natürlich keine hieb- und stichfeste Grenze zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Ästhetische Urteile sind immer Setzungen. Das macht sie weder überflüssig noch fragwürdig, verpflichtet jedoch zu Transparenz und zur Rechenschaft. Wir versuchen, diese Rechenschaft im Bewusstsein zu leisten, dass die Fotografie ein gestalterisches Medium unter anderen geworden ist. Ihre aktuelle Bildwelt entzieht sich zu einem grossen Teil den herkömmlichen Bestimmungen und Unterscheidungen von „Kunst“ und „Fotografie“. Entscheidend ist, was uns Bilder überhaupt zu sagen haben, und wie sie das tun. Für eine Übersicht lässt sich skizzieren: Felix Stephan Huber versucht mittels vehementer, dynamischer, expressiv-„malerischer“ Verarbeitung seiner Fotografien der grossen Spannung zwischen der äusseren räumlichen und zeitlichen Ordnung und der eigenen Befindlichkeit ein Bild zu geben. Olivier Richon nähert sich mit ausgeklügelt konstruierten Bildern der Frage, was denn Fotografien in Wirklichkeit überhaupt repräsentieren. Roland Schneider begegnete der eigenen persönlichen Krise mit Bildern der Krise der Systeme, in die wir eingebunden sind. Francisco Carrascosa trat in die Welt eines Nachtklubs, wo mit geschäftstüchtiger
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Professionalität und Sterilität Fantasien simuliert und stimuliert werden. Balthasar Burkhard präsentiert Köpfe als Angebot, sie wie eine Landschaft abzutasten, mit den Augen nicht nur zu sehen, sondern gleichsam zu fühlen. Christian Vogt zeigt Frauen „bei sich“, intim, warm und würdevoll zugleich, und demonstriert mit seinen Panoramas, dass jede Erscheinung bildhaft, rätselhaft ist und letztlich dem Schauen näher ist als dem Wiedererkennen. Hannah Villiger schafft mit dem nächstliegenden Material, dem eigenen Körper, Fotoskulpturen, die ein existenzielles Klima heraufbeschwören. Bernard Voïta, spielerisch und ernsthaft in einem, irritiert unsere Wahrnehmung der Fotografie als perspektivischen Illusionsraum. Nicolas Faure spitzt das Bild, das die Schweizer Freizeitkultur abgibt, in der zwischen Höhenrausch und Banalität schwankenden Alpenwelt zu. Hannes Rickli bemüht sich angesichts der beabsichtigten und unbeabsichtigten Naturkatastrophen gar nicht mehr darum, nach draussen zu gehen – er fotografiert die Apokalypse im Studio. Peter Fischli und David Weiss nehmen sich mit warmem Herzen und ironischen Gedanken den Orten klischierter Sehnsüchte an. Iren Stehli dokumentiert in einer intensiven, schon sechzehn Jahre dauernden Reportage all die stürmischen und ruhigen Momente einer Prager Zigeunerfamilie. Hans Danuser wagt sich an zentrale und meist sinnlich nicht mehr nachvollziehbare Vorgänge unserer Zivilisation. Robert Frank entlarvt, am Beispiel der amerikanischen Vorweihnachtszeit, etliche Heilsversprechen als ein fatales Geschäft mit unseren Hoffnungen. Vladimir Spacek erstellt in der ehemaligen psychiatrischen Klink „Bellevue“ in Kreuzlingen das fotografische Bild in sich geschlossener Innenräume und Systeme. Nadia Athanasiou konfrontiert das steinige, abweisende Malta mit seinem eigenen verblassenden Mythos. Stellt die Ausstellung siebzehn Fotografinnen und Künstlerinnen heraus, so greift das gleichzeitig – im Verlag „Der Alltag“, Zürich – erscheinende Katalogbuch viel weiter aus. Hier werden, in dieser Form erstmals, der Umgang mit der Fotografie in der Schweizer Öffentlichkeit und die letzten Jahrzehnte der Schweizer Fotogeschichte ausführlich dargelegt und kritisch kommentiert. Martin Heller / Urs Stahel
Ein Grossteil der ausgestellten Fotografien und Installationen sind verkäuflich. Bei Interesse erkundigen Sie sich bitte auf unserem Sekretariat bei Frau Helga Krempke oder Frau Doris Brem (wochentags 8.00 bis 17.00 Uhr). Ausstellung und Buch wurden in verdankenswerter Weise unterstützt durch das Bundesamt für Kultur (Werkbeiträge) sowie Arca-Swiss Phototechnik AG, Horgen und Bruno Jehle, Litho AG, Aarau.
SCHAUPLÄTZE UND STRÄNGE DER FOTOGRAFIE IN ZÜRICH, 1975–1990
KURZBIOGRAFIEN ZENTRALER PERSONEN [AUSWAHL] 69 HELEN BIT TERLI (*7.11.1924 )
Nach der Matura in Zürich begann Bitterli, Jura und Kunstgeschichte an der Universität Zürich zu studieren. Sie brach dies jedoch ab und ging 1947 nach Amerika, wo sie sich erst in Washington aufhielt und dann ihrem Mentor, dem abstrakten Expressionisten Jack Tworkov, nach New York folgte. Spätestens 1954 kehrte sie zurück nach Zürich, gründete den Zürcher Klub zur Schifflände mit, wo sich die junge Szene traf, und erwarb das Wirtepatent. 1969 begann sie, unter der Leitung von Marie-Louise Lienhard in der Kunstkammer zum Strauhof zu arbeiten. Von 1974 bis 1987 hatte sie die Leitung der Städtischen Galerie zum Strauhof inne.
BICE CURIGER (*18.7.1948 )
Kunstwissenschaftlerin, Kritikerin, Herausgeberin, Kuratorin. Studium der Kunstgeschichte, Volkskunde und Literaturkritik an der Universität Zürich. In den 1970er-Jahren Kulturjournalistin beim Zürcher Tages-Anzeiger. 1980 kuratierte sie mit „Saus und Braus“ ihre erste, heute legendäre Ausstellung in der Kunstkammer zum Strauhof, in welcher sie Bezug nahm auf die Popkultur und die Zürcher Jugendunruhen. 1984 Mitgründerin und Chefredakteurin der Kunstzeitschrift Parkett. 1993–2013 Kuratorin am Kunsthaus Zürich. Seit 2005 Herausgeberin der Museumszeitschrift Tate Etc. der Tate Gallery, London. 2011 Kuratorin der 54. Biennale von Venedig 2011. HANS DANUSER (*19.3.1953 )
Nach einer Assistenz beim deutschen Werbe- und Modefotografen Michael Lieb in Zürich 1971–1974 folgen künstlerische Experimente mit lichtempfindlicher Emulsion an der ETH Zürich. 1979–1989 Arbeit am Zyklus IN VIVO. Seit den 1990er-Jahren großformatige, raumbezogene und installative Fotoserien und transdisziplinäre Projekte in Kunst und Wissenschaft. Im Frühjahrssemster 2009 erster Visiting Artist an der Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie (TGF) am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich, anschließend Gastprofessur an der ETH Zürich. Lebt in Zürich. Teilnahme an den Ausstellungen „Fotografien III“ und „Wichtige Bilder“.
BARBAR A DAVAT Z (*27.4.194 4 )
Aufgewachsen ab 1948 an der Ostküste der USA. Skidmore College, Saratoga Springs, USA 1962/1963. Rückkehr in die Schweiz 1963. Fachklasse für Fotografie an der Kunstgewerbeschule Zürich 1965–1968. Seither freischaffend, vor allem in den Bereichen Porträt, Landschaft, Werbung, Tonbildschauen. Seit 1972 serielle, konzeptuelle Porträtserien wie Doppelgänger, Zwillinge. Eine Laune der Natur, Gsüün, Verwandtschaften, die um Fragen wie Identität, Individualität, Gruppenzugehörigkeit kreisen. Lebt in der Region Zürich.
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Teilnahme an den Ausstellungen „Fotografien“, „Fotografien II“ und „Fotografien III“.
MARTIN HELLER (*25.10.1952)
Ausbildung als Zeichenlehrer an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel und Studium der Ethnologie, Kunstgeschichte und Europäischen Volkskunde an der Universität Basel. Ab 1986 Kurator und ab 1990 Direktor des Museums für Gestaltung Zürich, ab 1997 Direktor des Museums Bellerive Zürich. Von 1999–2003 künstlerischer Direktor der Schweizer Landesausstellung Expo.02. Seither arbeitet Heller als selbstständiger Kulturunternehmer (Heller Enterprises Zürich), Autor und Ausstellungsmacher. Lebt in Zürich und Berlin. Kurator der Ausstellung „Wichtige Bilder“.
OLIVIA HEUSSLER (*18.11.1957)
Lehre als Arztgehilfin 1975–1977. Autodidaktische Aneignung der Fotografie, freie Fotografin. Aufenthalte in Zentralamerika. Hospitantin an der Fachklasse für Fotografie der Schule für Gestaltung in Zürich 1988/1989. Mitgründerin (neben Manuel Bauer, Thomas Kern, Felix von Muralt, Tomas Muscionico und Roger Wehrli) der Bildagentur Lookat Photos in Zürich 1990 sowie der Bildagentur Impactdigitals in New York 1996. Aus dem Fotojournalismus kommend arbeitet sie heute an Langzeitprojekten, die sie medienübergreifend präsentiert. Projekte in Buchform sind u. a. Jenseits von Jerusalem (1993), Schichtwechsel (1996), Gotthard, das Hindernis verbindet (2003), Der Traum von Solentiname (2009) und Zürich, Sommer 1980 (2010). Lebt in Zürich. Teilnahme an der Ausstellung „Fotografien III“.
FELIX STEPHAN HUBER (*20.9.1957)
Beginn der freien künstlerischen Tätigkeit 1982. Als Fotograf Autodidakt, neben Fotografie und Installation verwendet er auch Kommunikationsmittel wie Fax und Computer als künstlerische Medien. Lebt und arbeitet in Berlin. Teilnahme an den Ausstellungen „Fotografien III“ und „Wichtige Bilder“.
JÖRG HUBER (*1948 )
Kulturtheoretiker. Professor für Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) bis 2013, Gründer und Leiter des Instituts für Theorie; Seit den 1980erJahren Kunsthistoriker, Ausstellungsmacher und Kunstjournalist. 1990 bis 2005 verantwortlicher Leiter der Vortrags- und Seminarreihe „Interventionen“, Herausgeber des gleichnamigen Jahrbuchs und Leiter zahlreicher Forschungsprojekte an der ZHdK. Kunstjournalist während der 1980er- und 1990er-Jahre u. a. für die Zeitschrift Kunstbulletin.
SCHAUPLÄTZE UND STRÄNGE DER FOTOGRAFIE IN ZÜRICH, 1975–1990
URS KNOBL AUCH (*4.8.1947)
Berufslehre als Dekorateur, gestalterische Ausbildung an der Kunstgewerbeschule Zürich 1963–1966. Freischaffender Künstler seit 1969. Fotografische Arbeiten, Malerei und Texte im Rahmen des Konzeptes „Genauer erfassen“ seit 1970. Orts-, raum- und themenbezogene Fotoinstallationen seit 1970. Eigenes Gestaltungsatelier seit 1971. Ausbildung zum Zeichenlehrer in Zürich, Diplom 1979. Dozent an der Volkshochschule Zürich seit 1997, Thema: Fotografie und Malerei im Dialog. Kulturpublizist. Teilnahme an den Ausstellungen „Fotografien“, „Fotografien II“ und „Fotografien III“.
MARIE- LOUISE LIENHARD (*12.05.1941)
Kunsthistorikerin, Leiterin der Kunstkammer zum Strauhof 1969 bis 1974. Lebte danach bis 1987 in Washington. Ehefrau des USA-Korrespondenten für den TagesAnzeiger, Toni Lienhard, Mitarbeit am Washington Project for the Arts (WPA) und Autorin des Tages-Anzeiger-Magazins. Rückkehr in die Schweiz und Leiterin des Helmhauses Zürich 1988 bis 2001. Danach freie Autorin. GUIDO MAGNAGUAGNO (*1946 )
Kunsthistoriker und Kurator. Magnaguagno studierte Kunstgeschichte an der Universität Zürich und war von 1976 bis 2012 Mitglied der Stiftung für die Photographie (heute Fotostiftung Schweiz). Von 1980 bis 2001 war er Kurator und zuletzt Vizedirektor am Kunsthaus Zürich sowie von 2001 bis 2009 Direktor des Museums Tinguely in Basel. Seit 2011 ist er Präsident von Visarte Zürich, dem Berufsverband visuell arbeitender Künstler. Jurymitglied der Ausstellungen „Fotografien II“ und „Fotografien III“.
MANON [ ROSMARIE KÜNG] (*26.6.1946 )
Kunstgewerbeschule St. Gallen und Schauspielakademie Zürich. Entwerferin von Showkostümen 1970–1974. 1974 erster Auftritt in der Zürcher Kunstszene mit der Installation Das lachsfarbene Boudoir. Inszenierte Fotobilder, Environments, Fotoperformances. 1977–1980 lebt Manon in Paris, Schaffenspause 1983–1990. Zwischen 1994 und 1996 Atelieraufenthalte in Rom und Genua. 2008/2009 Retrospektive „Manon – Eine Person“ im Helmhaus Zürich und Swiss Institute, New York. 2008 Prix Meret Oppenheim. Manon lebt und arbeitet in Zürich und Glarus. Teilnahme an den Ausstellungen „Fotografien II“ und „Fotografien III“.
MONICA VON ROSEN NESTLER (*1.8.1943)
Studium der Innenarchitektur in Stockholm. Pressechefin im Gottlieb Duttweiler Institut GDI 1977–1980. Leiterin des Zentrums für Bürgerinitiativen COCO im Le Corbusier-Pavillon in Zürich. Workshops bei Duane Michals in Arles und Nathan Lyons in Zürich. Ab 1979 autodidaktische Ausbildung zur Fotografin. Seit 1980 freischaffende Fotografin und Publizistin. Gründung des Ateliers Text & Bild 1983.
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II JOACHIM SIEBER
Gründung des Verlags Edizioni Scala 1989, der Galerie Scala (heute La Rada) in Locarno 1993. Umzug nach Stockholm 1995, pendelt seit 2001 zwischen Schweden, der Schweiz und seit 2011 zwischen Berlin und Sörmland (Schweden). Teilnahme an der Ausstellung „Fotografien III“.
MARTIN SCHAUB (1937–20 03 )
Schaub war als Filmkritiker für diverse Tages- und Wochenzeitungen sowie als Journalist und Buchautor tätig. Erst war er bei der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dann beim Tages-Anzeiger und beim Magazin des Tages-Anzeigers, wo er auch Essays über Fotografie und Architektur veröffentlichte. Schaub war Herausgeber der Filmzeitschrift Cinema und Lehrbeauftragter für Film/Video an der Schule für Gestaltung Zürich. Architektur-, Fotografie- und Filmjournalist während der 1960er- bis 1980er-Jahre.
VL ADIMIR SPACEK (*20.1.1945)
Kunsthistoriker, Fotograf, Konzept- und Installationskünstler. Wächst in Prag auf und lebt seit 1977 in der Schweiz. 1963–1966 Medizinstudium, 1966–1972 Studium der Kunstgeschichte. 1969 beginnt Spacek, autodidaktisch zu fotografieren. Diverse Stipendien und Werkbeiträge zwischen 1978 und 1986. Lehrtätigkeit, unter anderem an der Fachhochschule Dortmund (1988–1991) sowie an der Fotoklasse der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (1990–1991). 1991–2010 Professor an der Akademie für Bildende Künste der Universität Mainz. Vladimir Spacek lebt in Weil am Rhein und Zürich. Jurierung der Ausstellung „Fotografien III“ und Teilnahme an der Ausstellung „Wichtige Bilder“.
URS STAHEL (*1953 )
Stahel studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Stahel war 1981/1982 Redaktor der alternativ-intellektuellen Zeitschrift Der Alltag. Von 1982 bis 1992 war er freier Kurator, Kunstkritiker und Redaktor der Kulturzeitschrift Du und ab 1986 bis 1992 Dozent für Foto- und Kunstgeschichte an der Höheren Schule für Gestaltung, Zürich. Von 1993 bis 2013 war er Direktor des Fotomuseums Winterthur und realisierte eine große Zahl von Ausstellungen und Publikationen zur Fotografiegeschichte. Kurator der Ausstellung „Wichtige Bilder“ und Kunstkritiker.
CÉCILE WICK (*3.12.1954 )
Lehrerseminar Menzingen 1970–1974. Studium der Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich 1975–1978. Begann 1978, als Autodidaktin zu fotografieren. Seit 1981 freie künstlerische Arbeit: Performance, Fotografie, Malerei. Studienaufenthalt in den USA 1986–1989. Seit 1998 Projekte mit Peter Radelfinger (F.I.R.M.A.). Bis heute Dozentin für Fotografie an der ZHdK, Zürich. Lebt in Zürich. Teilnahme an der Ausstellung „Fotografien III“.
SCHAUPLÄTZE UND STRÄNGE DER FOTOGRAFIE IN ZÜRICH, 1975–1990
TEILNEHMER/INNEN DER AUSSTELLUNGSSERIE „FOTOGRAFIE I–III“ UND „WICHTIGE BILDER“ Ausstellung „Fotografien“ vom 5. Dezember 1975 bis 3. Januar 1976: Barbara Davatz Verena Eggmann Daniela Gübelin Heinz Hebeisen Ursula Heller Urs Knoblauch
Dieter Meier Beat Presser Art Ringger Lukas Strebel Not Vital Frieder (Friedrich) Zubler
Ausstellung „Fotografien II“ vom 26. Oktober bis 24. November 1979: Susan Abelin Ulrich Anderegg Giorgio von Arb Herbert Augsburger Barna Bartis Eric Berni Peter Binz Mare Blaser Martin Luzius Büechi Thomas Cugini Barbara Davatz Düde Dürst Urs Eberle Rolf Edelmann Thomas Frei (Peter) Walther Gartmann Hans-Rudolf Gasser Melt Gaws Andreas Greber René Groebli Peter Guggenbühl Benedikt Güntert Suzanne Hausammann Heinz Hebeisen
Margrit Henn Raymond Höpflinger Daniel Huber Jürg Hummel Thomas Michael Hussel Beat Jordi Urs Knoblauch Katharina Krauss-Vonow Martin Linsi Georges Luks Manon Steve Miller Thomas Miller Marco Misani Doris Quarella Thomas Raschle Robert Reding Marcel Rohr Robert Sinner Katharina Schärer Jürg Schoop Peter Spoerli Herbert Spühler Lukas Strebel
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Philippe Melchior Vogt Peter Volkart
Betty Weber Peter Zeugin
Ausstellung „Fotografien III“ vom 10. Dezember 1982 bis 8. Januar 1983: Herbert Augsburger Daniele Buetti Rudolf de Crignis (gest. 2006) Hans Danuser Barbara Davatz Lisa Enderli Dan Flury (dan f. progin) Thomas (Patrick) Frey René Fries Eva Fritzsche (Peter) Walther Gartmann Benoit Gilbert (verschollen) Andreas Greber Olivia Heussler Daniel (Day) Huber
Felix Stephan Huber Peter Hunkeler Urs Knoblauch Manon Monica Nestler (von Rosen) Martin Peer (gest. 2009) Marco Schmidli Urs Siegenthaler Robert Sinner Ernst Spycher Urs Walder Felix Weber Cécile Wick Andreas Wolfensberger (Hoyhannisyan) Andreas (Andi) Zai
Ausstellung „Wichtige Bilder“ vom 28. Juni bis 26. August 1990: Nadia Athanasiou Balthasar Burkhard Francisco Carracosa Hans Danuser Nicolas Faure Peter Fischli/David Weiss Robert Frank Felix Stephan Huber
Olivier Richon Hannes Rickli Roland Schneider Vladimir Spacek Iren Stehli Hannah Villiger Christian Vogt Bernard Voïta
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ANMERKUNGEN
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Ich danke Nanni Baltzer, Hans Danuser, Bettina Gockel und Miriam Volmert für ihre wertvolle Kritik verschiedener Fassungen dieses Aufsatzes; Daniela Wegmann und Aline Juchler danke ich für die vorangegangenen Recherchen und Luca Beeler, Benjamin Bill, Aleksandra Kratki und Thomas Hänsli für die Hilfe bei der Vorbereitung der Reproduktionen. Wolfgang Kemp, Geschichte der Fotografie. Von Daguerre bis Gursky (München: C. H. Beck, 2011), 91. Douglas Crimp, „Das alte Subjekt des Museums, das neue der Bibliothek“ [1981], in Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002), 384. Guido Magnaguagno, „Neue Wahrnehmungen. Über die Schweizer Photographie der letzten Jahre“, in Du 8 (1985), 30, 41, 54, 63, 95. Vgl. Peter Pfrunder et al. (Hg.), Schweizer Fotobücher 1927 bis heute. Eine andere Geschichte der Fotografie, Ausstellungskatalog, Fotostiftung Schweiz, Winterthur (Baden: Lars Müller, 2011), 291–479. Vgl. auch den hierin enthaltenen Beitrag von Martin Jaeggi, „Essays und Experimente“, in Pfrunder et al. (Hg.), Schweizer Fotobücher 1927 bis heute, 291–297, hier 296. Zur documenta: Joachim Diederichs et al. (Hg.), Documenta 6, Bd. 2: Fotografie, Film, Video, Ausstellungskatalog, documenta, Kassel (Kassel: Dierichs, 1977); Harald Kimpel, documenta. Mythos und Wirklichkeit (Köln: DuMont, 1997). Daneben gab es in Deutschland ebenso wie in Österreich weitere paradigmatische Ausstellungen. So etwa die Ausstellung von Volker Kahmen, „Fotografie als Kunst“, von 1973 sowie die gleichnamigen Ausstellungen „Fotografie als Kunst. Kunst als Fotografie“ bzw. „Photographie als Kunst, 1879–1979. Kunst als Photographie, 1949–1979“, die Floris Neusüss gemeinsam mit Peter Böttcher 1975 bzw. die Peter Weiermair 1979 kuratiert hatten. Vgl. Herta Wolf, „Vom Nutzen und Vorteil des histori-
schen Blicks für die Fotografie. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks“, in Kunstforum International 172 (2004), 44–55; Volker Kahmen, Fotografie als Kunst (Tübingen: Wasmuth, 1973); Floris M. Neusüss (Hg.), Fotografie als Kunst – Kunst als Fotografie. Photography as Art – Art as Photography. Das Medium Fotografie in der bildenden Kunst Europas ab 1968, Ausstellungskatalog, Fotoforum Kassel, mit Beiträgen von Urszula Czartoryska, Renate Heyne, Klaus Honnef et al. (Köln: DuMont, 1979); T. O. Immisch und Floris M. Neusüss (Hg.), Die zweite Avantgarde. Das Fotoforum Kassel 1972–1982, Ausstellungskatalog, Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle (Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2007); Peter Weiermair (Hg.), Photographie als Kunst, 1879–1979, Ausstellungskatalog, Tiroler Landesmuseum, Innsbruck; Museum des 20. Jahrhunderts, Wien; Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, Bd. 1 (Innsbruck: Allerheiligenpresse, 1979) und idem (Hg.), Kunst als Photographie, 1949–1979, Ausstellungskatalog, Tiroler Landesmuseum, Innsbruck; Museum des 20. Jahrhunderts, Wien; Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, Bd. 2 (Innsbruck: Allerheiligenpresse, 1979). Zu den weiteren Ausstellungen gehörte etwa „Absage an das Einzelbild“, vgl. Ute Eskildsen und Manfred Schmalriede (Hg.), Absage an das Einzelbild. Erfahrungen mit Bildfolgen in der Fotografie der 70er Jahre, Ausstellungskatalog, Museum Folkwang Essen (Essen: Museum Folkwang, 1980), und „In Deutschland“ (1979), vgl. Klaus Honnef und Wilhelm Schürmann (Hg.), In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie, Ausstellungskatalog, Rheinisches Landesmuseum Bonn (Köln: Rheinland-Verlag, 1979); Christoph Schaden, „In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie. Anmerkungen zu einer epochalen Photoausstellung in Bonn (1979) sowie ein Interview mit Klaus Honnef anlässlich seines 70. Geburtstags“, in Frame. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Photographie 3 (2010), 180–187, auch
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abrufbar unter http://www.christophschaden.de/de/schreiben/forschen/ deutschland. Abgerufen am 02. 05. 2014. Vgl. Anm. 24. Peter Pfrunder, „Marksteine und Wegweiser. Notizen zur Schweizer Fotografiegeschichte“, in Christian Eggenberger und Lars Müller (Hg.), Photosuisse (Baden: Lars Müller, 2004), 378–431, hier 402. Ibid., 398. Vgl. Crimp, „Das alte Subjekt des Museums, das neue der Bibliothek“ (siehe Anm. 2), 381. Rosalind E. Krauss, „Reinventing the Medium“, in Critical Inquiry 25, Nr. 2 (Winter 1999), 289–305, hier 295. Deutsche Version: Rosalind E. Krauss, „Die Neuerfindung der Fotografie“, in Luminita Sabau, Iris Cramer und Petra Kirchberg (Hg.), Das Versprechen der Fotografie – Die Sammlung der DG Bank, Ausstellungskatalog, Hara Museum of Contemporary Art, Tokio; Kestner-Gesellschaft, Hannover; Centre National de la Photographie, Paris; Akademie der Künste Berlin; Schirn-Kunsthalle Frankfurt (München: Prestel, 1998), 34–42. Pfrunder, „Marksteine und Wegweiser“ (siehe Anm. 7), 400. Ibid., 404. Vgl. Martin Roman Deppner und Gottfried Jäger (Hg.), Denkprozesse der Fotografie. Die Bielefelder Fotosymposien 1979– 2009. Beiträge zur Bildtheorie (Bielefeld: Kerber, 2010), 27–35, 49–65. Pfrunder, „Marksteine und Wegweiser“ (siehe Anm. 7), 410. Magnaguagno, „Neue Wahrnehmungen“ (siehe Anm. 3), 30. Die Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof in Zürich fand vom 9. Dezember 1982 bis zum 8. Januar 1983 statt. Von dieser Ausstellung wurden, da die zeitgenössische Informationslage in Text und Bild sehr umfangreich ist, ausschließlich der ausführliche Katalog, der im Archiv des Museums für Gestaltung Zürich verfügbare Pressespiegel der Ausstellung und weitere Zeitungsartikel im Kontext konsultiert.
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Abb. 10–53 zeigen eine Werkauswahl aller KünstlerInnen, die an der Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Strauhof Zürich teilgenommen haben. Mit Ausnahme derjenigen, die verschollen sind, ihre Werke nicht mehr vorliegen hatten oder sich nicht zurückgemeldet haben, vgl. auch Künstler- und Preisliste in Abb. 64. Martin Schaub, in Tages-Anzeiger (28. 08. 1981). Telefoninterview des Autors mit Vladimir Spacek vom 19. November 2012. Vgl. Liste der Teilnehmenden im Anhang. Zur ersten Ausstellung „Fotografien“ vgl. Fotografien, Ausstellungskatalog, kuratiert von Marie-Louise Lienhard, Städtische Kunstkammer zum Strauhof, Zürich (Zürich: Städtische Kunstkammer zum Strauhof, 1975). „,Fotografien‘ lautet der Titel der […] in der Städtischen Kunstkammer zum Strauhof stattfindenden Ausstellung. Ein Hinweis also, dass man ganz allgemein sein wollte: es wurden nicht die brillantesten Arbeiten von Fotografen (der Titel der Ausstellung zwingt den TA, hier die neue Schreibweise mit ,f‘ zu verwenden) zur Kunst erhoben oder aber Kunstwerke, die sich des Mittels Fotografie bedienen, vorgestellt. Beide Richtungen sind vertreten, und zwar mit so verschiedenen und eigenständigen Proben, dass sich die Grenzen verwischt haben.“ Bice Curiger, in Tages-Anzeiger (23.12.1975), 15. cm (Autorenkürzel), in Tages-Anzeiger (06. 05. 1976), 21. Die Pionierausstellung „Frauen sehen Frauen. Eine gefühlvolle, gescheite, gefährliche Schau“ (1975) wurde von Bice Curiger kuratiert, und wie in der späteren Ausstellung „Saus und Braus“ wurden bereits hier diverse Medien – Fotos, Texte, Objekte, Filme – zu einer thematischen Gesamtschau verdichtet. Ob die Ausstellung Pate stand für die gleichnamige Publikation zur Frauenfotografie von 2001, ist nicht abschließend zu klären. Doch der feministische Blick des in der Publikation vorhandenen Essays der in Zürich lehrenden Kultur-
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und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen könnte darauf hinweisen. Vgl. Lothar Schirmer (Hg.), Frauen sehen Frauen. Eine Bildgeschichte der FrauenPhotographie, von Julia Margaret Cameron bis Inez van Lamsweerde, mit einem Essay von Elisabeth Bronfen (München: Schirmer Mosel, 2001). Vgl. Bice Curiger (Hg.), Saus und Braus. Stadtkunst, Ausstellungskatalog, Städtische Galerie zum Strauhof, Zürich (Zürich: Städtische Galerie zum Strauhof, 1980); Marcel Bleuler, Die Geschichte von der Kunst aus dem anderen Leben. Das Bild der subkulturellen Jungen Schweizer Kunst in Bice Curigers Ausstellungskatalogen „Saus und Braus“ und „Freie Sicht aufs Mittelmeer“ (unv. Lizenziatsarbeit: Universität Zürich, 2008). Schriftliches Interview mit Sibylle Heusser vom 21. November 2012. N. N., in Nikon News (Oktober 1975), 32. Erst ein Jahr später, ab 1976, konnte die Schweizerische Stiftung für die Photographie im Kommunikationsraum des neu eröffneten Kunsthaustrakts jährlich fünf bis sechs Ausstellungen organisieren (vgl. ibid.). Herbert Augsburger erinnerte sich in einem Gespräch mit dem Autor noch sehr genau an den Vorabend der Ausstellungsvernissage, als er mit einem Freund Apocalypse Now im Kino Apollo schaute und sie dieser Film nachhaltig beeindruckte. Vgl. Klaus Honnef, „Es kommt der Autorenfotograf“, in Honnef und Schürmann (Hg.), In Deutschland (siehe Anm. 5), 8–32. TeilnehmerInnen der Ausstellung „Fotografien III“, die heute noch (als FotografInnen oder KünstlerInnen) aktiv sind: Herbert Augsburger, Daniele Buetti, Hans Danuser, Barbara Davatz, Lisa Enderli, Dan Flury (dan f. progin), Thomas (Patrick) Frey, (Peter) Walther Gartmann, Andreas Greber, Olivia Heussler, Daniel (Day) Huber, Felix Stephan Huber, Peter Hunkeler, Urs Knoblauch, Manon, Monica (von Rosen) Nestler, Marco Schmidli, Urs Siegenthaler, Ernst Spycher, Urs Walder, Felix Weber, Cécile
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Wick, Andreas Wolfensberger (Hoyhannisyan). Nicht mehr aktiv: René Fries (seit 1990), Eva Fritzsche, Robert Sinner (?), Andi Zai; Rudolf de Crignis (gest. 2006), Martin Peer (gest. 2009); Benoit Gilbert (verschollen). Urs Stahel, „Zwölf Photographen und ihre Arbeiten“, in Du 8 (1985), 26. Hanna Gagel, in Tages-Anzeiger (29. 12. 1982). Kemp, Geschichte der Fotografie (siehe Anm. 1), 92, 97. Vgl. Eskildsen und Schmalriede (Hg.), Absage an das Einzelbild (siehe Anm. 5), 8. Darin wird Volker Kahmen zitiert, der bereits sechs Jahre zuvor in der Schweizer Kunstzeitschrift Kunst-Bulletin vom Verlust der solitären Macht des Einzelbildes gesprochen hat. Vgl. Volker Kahmen, „Bildfolgen und Kombinationen“, in Kunst-Bulletin des Schweizer Kunstvereins 7, Nr. 10 (10. 10. 1974), 1–8, hier 1. Vgl. Nicholas Nixon und Peter Galassi, The Brown Sisters (New York: Museum of Modern Art, 1999). Text aus der Werkserie Ueber die geöffneten Arme des Anderen stolpern (Abb. 34, 35), die heute in einer kleinen Bookletform zusammengefasst ist, o. S. Peter Zimmermann zu den Werken von Felix Stephan Huber, in Neue Züricher Zeitung, Nr. 148 (29. 06. 1990), 55. In die gleiche Kerbe schlagend, jedoch etwas differenzierter äußert sich das St. Galler Tagblatt: „Zählen diese Werke – jenseits der Grenzlinie zur Konzeptkunst – nun tatsächlich zu den bedeutenden Schweizer Fotografien, oder sind es vielleicht doch ,bloss‘ wichtige Bilder?“ Conradin Wolf, in St. Galler Tagblatt (02. 08. 1990). Caroline Kesser, in Tages-Anzeiger, „Züritip“ (13. 05. 1983), 35. Vgl. Crimp, „Das alte Subjekt des Museums, das neue der Bibliothek“ (siehe Anm. 2), 381. Magnaguagno, „Neue Wahrnehmungen“ (siehe Anm. 3), 54. Kemp, Geschichte der Fotografie (siehe Anm. 1), 91.
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II JOACHIM SIEBER
42 Marie-Louise Lienhard, „Einleitung“, in Fotografien, Ausstellungskatalog, kuratiert von Marie-Louise Lienhard, Städtische Kunstkammer zum Strauhof, Zürich (Zürich: Städtische Kunstkammer zum Strauhof), 1975, o. S. 43 Werk-/Preisliste zur Ausstellung „Fotografien“, 2, in Jahresbericht der Städtischen Kunstkammer zum Strauhof (1975), o. S. (Stadtarchiv Zürich, V.B. c.64.3.1.3.1.). 44 Magnaguagno, „Neue Wahrnehmungen“ (siehe Anm. 3), 41. 45 Interview des Autors mit Guido Magnaguagno vom 28. November 2012. 46 FotografInnen, die ein Stipendium von der Stadt oder dem Kanton Zürich im Zeitraum von 1970 bis 1984 erhalten haben: Studien- und Werkbeiträge des Kantons Zürich: Heinz Hebeisen 1975, 1976; Rudolf de Crignis 1976, 1977, 1979; Walter Pfeiffer 1977; Manon 1978, 1979, 1980, 1982 (Atelier Paris); Hans Danuser 1979, 1983; Vladimir Spacek 1979, 1980, 1981; Beat Streuli 1979, 1984; Verena Eggmann 1981; Daniel Huber 1981, 1984; Cécile Wick 1982, 1984; Daniele Buetti 1984; Stipendium für bildende Kunst der Stadt Zürich: Vladimir Spacek 1978, 1979, 1983; Walter Pfeiffer 1980 (Atelier New York, beworben als Grafiker); Manon 1980 (Atelier Paris), 1982; Thomas Patrick Frey 1981 (Atelier New York); Hans Danuser 1983, 1984 (Atelier New York), 1985. Viele Fotografen stellten auch an den unjurierten Ausstellungen der Züspa aus, die 1975, 1977, 1980, 1982 und 1986 stattfanden. (Angaben gemäß SIKART Lexikon zur Kunst in der Schweiz, http://www.sikart.ch/. Abgerufen am 23. 05. 2014.) 47 Pfrunder, „Marksteine und Wegweiser“ (siehe Anm. 7), 398. 48 Vgl. Klaus Honnef, „Stichwort Autorenfotografie“, in Deppner und Jäger (Hg.), Denkprozesse der Fotografie (siehe Anm. 13), 34; Bettina Gockel, „Introduction. Looking back from the ,October Moment‘ to the ,FSA Moment‘ in American Photography“, in idem (Hg.), American Photography. Local and Global Contexts, Studies
in Theory and History of Photography 2 (Berlin: Akademie Verlag, 2012), XI– XXXIII. Vgl. auch generell idem (Hg.), American Photography. Local and Global Contexts, Studies in Theory and History of Photography 2 (Berlin: Akademie Verlag, 2012). 49 Vgl. Gisela Parak, „Schöne Neue BRD? Autorenfotografie der 1980er Jahre“, in idem (Hg.), Schöne Neue BRD? Autorenfotografie der 1980er Jahre, Ausstellungskatalog, Museum für Photographie Braunschweig (Braunschweig: Museum für Phototgraphie, 2014), o. S. 50 Ute Eskildsen, „Fotografieren, auch eine Frage der Mentalität. Ein Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks“, in Kunstforum International 172 (2004), 208–217, hier 213. 51 Peter Zimmermann, in Neue Züricher Zeitung, Nr. 263 (11./12. 11. 1978), 49. 52 Martin Schaub, in Tages-Anzeiger (30. 06. 1990). 53 Vgl. Kunstforum International 63/64, Nr. 7–8 (Juli/August 1983). Einzig Urs Lüthi wird in einem monografischen Kapitel in diesem Themenband zur Situation Schweiz präsentiert, die übrigen Fotografen und Fotografinnen sind im sehr vagen, rein bildbasierten Kapitel „Bildanthropologie Schweiz ’70–’80“ aufgeführt oder unter der Rubrik „Aktueller Kunst-Führer Schweiz“ (vgl. ibid., 98–107, 270–299, 307–329). 54 Claudia Hürlimann, in Berner Zeitung (12. 07. 1990). 55 N. N., in Bau + Architektur (Juni 1990). 56 Vgl. Handblatt zur Ausstellung „Wichtige Bilder“ im Museum für Gestaltung Zürich vom 27.6.1990 (vgl. Abb. 65); vgl. Martin Heller, „Beschreibe, was du siehst! “, in Urs Stahel und Martin Heller (Hg.), Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz, Ausstellungskatalog, Museum für Gestaltung, Zürich (Zürich: Der Alltag, 1990), 3–10; vgl. Urs Stahel, „Fotografie in der Schweiz“, in Stahel und Heller (Hg.), Wichtige Bilder, 147–240. 57 Annelise Zwez, „Wichtige Bilder“, in Kunstforum International 110 (November/ Dezember 1990), 304–307, hier 305.
SCHAUPLÄTZE UND STRÄNGE DER FOTOGRAFIE IN ZÜRICH, 1975–1990
58 Jörg Huber, „Wichtige Bilder. Zur zeitgenössischen Schweizer Fotografie“, in Kunstbulletin 7/8 (1990), 36–39, hier 38, 39. 59 Vgl. Pfrunder, „Marksteine und Wegweiser“ (siehe Anm. 7), 408–409, Anm. 33. 60 Huber, „Wichtige Bilder“ (siehe Anm. 58), 38. 61 Zwez, „Wichtige Bilder“ (siehe Anm. 57), 306. 62 Vgl. ibid., 305. Annelise Zwez führte zudem aus, dass die übrigen TeilnehmerInnen Porträts, inszenierte Orte und Verfremdung verwendeten, um vom Abbild zum Inhalt zu gelangen. 63 Stahel, „Fotografie in der Schweiz“ (siehe Anm. 56), 210. 64 Robert Frank, The Lines of my Hand (Zürich; Frankfurt; New York: Parkett/ Der Alltag, 1989 [1972]). 65 Stahel, „Fotografie in der Schweiz“ (siehe Anm. 56), 138, zit. nach: Pfrunder, „Marksteine und Wegweiser“ (siehe Anm. 7), 422. 66 Robert Franks tragende Rolle für die (schweizerische) Fotografiegeschichte
CREDITS/ BILDNACHWEISE
wurde dieses Jahr (2014) sinnbildlich mit dem renommierten Sonderpreis der Roswitha-Haftmann-Stiftung bestätigt. 67 Kemp, Geschichte der Fotografie (siehe Anm. 1), 99. 68 Die Zeitschrift European Photography wollte in einer Umfrage von zwölf international wirkenden Foto-, Kunst- und Medienexperten wissen, worin die Entwicklungen zeitgenössischer Fotografie bestünden. Vgl. Geoffrey Batchen et al., „Die Neuerfindung der Fotografie – ein Mosaik“, in European Photography 33, Nr. 92 (Winter 2012/2013), 3–7. 69 Die Auswahl bezieht sich vorwiegend auf den Kontext der detailliert aufgearbeiteten Ausstellung „Fotografien III“ in der Städtischen Galerie zum Stauhof in Zürich von 1982/1983. Zusammengestellt aufbauend auf den Angaben gemäß dem Index der Schweizer FotografInnen der Fotostiftung Schweiz, http://www.fotostiftung.ch/. Abgerufen am 23. 05. 2014.
© 2014 bei den Ausstellungsteilnehmer/Innen: Herbert Augsburger, Daniele Buetti, Hans Danuser, Barbara Davatz, Lisa Enderli, Peter Fischli/David Weiss, René Fries, Eva Fritzsche, Walther Gartmann, Andreas Greber, Olivia Heussler, Daniel Huber, Felix Stephan Huber, Peter Hunkeler, Urs Knoblauch, Manon, dan f. progin, Olivier Richon, Hannes Rickli, Monica von Rosen Nestler, Roland Schneider, Vladimir Spacek, Ernst Spycher, Christian Vogt, Bernhard Voïta, Urs Walder, Felix Weber, Cécile Wick, Andreas Wolfensberger, Andreas Zai. 1–6, 63, 64: Stadtarchiv Zürich; 7–9: © Verena Eggmann/c/o Bernd Steiner, CH-8415 Berg a.I., Foto: Verena Eggmann; 65: Archiv von Hans Danuser; 54: © Robert Frank / Courtesy Pace/ MacGill Gallery, New York, Foto: Sean Pathasema; 61: © 2014 Nachlass Balthasar Burkhard.
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DAS EIGENE IM FREMDEN – PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN Die Welt der Fotografie in der Schweiz war zutiefst ambivalent, als ich sie Ende der 1970er-Jahre, zuerst mit bloßer Neugierde und dann mit ersten Texten, etwa zu belgischen Sozialwohnungen in Fotografien von Sophie Ristelhueber und François Hers oder zu anonymen Hochzeitsfotografien, zaghaft und mit der Zeit selbstbewusster betreten habe. Die Veröffentlichungen erster Texte in der Frauenzeitschrift Annabelle, in der Berner Kulturzeitung Zytglogge oder im volkskundlichsoziologischen Heft Der Alltag weisen darauf hin, dass es damals keinen zentralen Medienplatz der Auseinandersetzung mit Fotografie gegeben hat. In der Schweiz sicher nicht, aber auch international waren Magazine, die sich vertiefend mit Fotografie auseinandersetzten, eine Rarität.1 Dieser Eindruck von Ambivalenz entstand in meiner Erinnerung durch verschiedene Ursachen: Auf der einen Seite war die Fotografie in einer Identitätskrise. Sie hatte definitiv ihre erste und zentrale Aufgabe, das visuelle Berichten über die Welt, ans Fernsehen abtreten müssen. Gleichzeitig war sie über den zunehmenden Einsatz von Fotografien in der Kunstwelt irritiert, vor allem über die Art und Weise des Gebrauchs, der offensichtlich von anderen Prämissen ausging, als das in der Tradition der Fotografie bisher vorgesehen war. Auf der anderen Seite wurden die angestammten Räume enger: Die Zeit der großen, aus der Welt berichtenden Zeitschriften und Buchverlage ging langsam zu Ende. In der Folge wurden die journalistischen Aufträge an Fotografen kleiner, schneller und knapper. Es ist deshalb auch die Zeit, in der Auftragsfotografen anfingen, ihr editoriales Betätigungsfeld zu verlagern, zum Beispiel, indem sie neu für Jahresberichte von Unternehmen arbeiteten. Und gleichzeitig existierten noch kaum Räume, in denen die Fotografie ein anderes Verständnis, mögliche neue Rollen hätte austesten können. Zeitgenössische museale Ausstellungsräume gab es in Zürich kaum, Non-Profit-Räume wie heute praktisch gar keine. Die städtischen Institutionen Helmhaus und besonders der Strauhof waren große Ausnahmen in einer aus heutiger Sicht sehr kargen Infrastruktur.2 Zwei, drei Galerien halfen ebenfalls mit, der Fotografie eine Plattform zu bieten.3
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Es waren auch kaum Geldquellen vorhanden, die ein Feld der Erkundung, Erforschung, der Diskussion ermöglicht hätten. Die Stipendienlage war in gewisser Weise eine Krux: Künstler gaben im Eidgenössischen Stipendium für Kunst ein, Fotografen im Eidgenössischen Stipendium für angewandte Kunst. Wo aber sollten künstlerische, forschende FotografInnen ihre Projekte eingeben? Bei der angewandten Kunst wurden sie abgelehnt, weil sie weder dokumentarisch noch anderswie ,angewandt‘ waren, und bei der freien Kunst in der Regel ebenso, weil hier der Umgang mit Fotografie lange Zeit kaum ernst genommen wurde. Sie fielen also zwischen Stuhl und Bank. Nur selten haben damals Künstler mit fotografischen Arbeiten bereits ein eidgenössisches Kunststipendium erhalten. Urs Lüthi war 1972 der allererste und lange Zeit der einzige unter ihnen.4 Hans Danuser wiederum bekam 1984 das New Yorker Atelier der Stadt Zürich zugesprochen.5 Diese materiellen, infrastrukturellen Schwierigkeiten verdeutlichen, wie unsicher, unklar die Lage angesichts eines schleichenden, versteckten Wandels war, der das Sehen und Verstehen und dann auch das Erstellen von Fotografie grundsätzlich in ein neues Licht rückte. Eine zusätzliche Verschärfung, ja fast eine Verquälung erfuhr die Fotoszene in der Schweiz Mitte der 1980er-Jahre. Es baute sich eine heftige Spannung zwischen der Schweizerischen Stiftung für die Photographie mit Sitz am Kunsthaus Zürich (seit 2003 ist sie in Winterthur beheimatet und nennt sich seither Fotostiftung Schweiz) und dem 1985 neu eröffneten Musée de l’Elysée in Lausanne auf. Der umtriebige Charles-Henri Favrod, damals Präsident der Schweizerischen Stiftung für die Photographie, baute das Elysée offenbar mehr oder weniger hinter dem Rücken der eigenen Stiftung in Zürich zum neuen ständigen Museum für Fotografie in der Westschweiz um.6 Das ungeschickte Vorgehen vergraute die Wetterlage einer eher schwachen Fotoszene noch stärker. Diese Ambivalenz war bis zur Ausstellung „Wichtige Bilder“, die Martin Heller und ich im Frühsommer 1990 am Museum für Gestaltung eingerichtet hatten, deutlich spürbar (Abb. 1). Und sie hielt weit darüber hinaus an. Die Erwartungshaltungen an diese Ausstellung waren hoch und vielfältig. Zum einen, weil es seit der Ausstellung der Schweizerischen Stiftung für die Photographie 1981 im Kunsthaus Zürich und seit der dritten Strauhof-Ausstellung zur Fotografie 1982/1983 keine große Übersichtsausstellung mit Fotografie aus der Schweiz mehr gegeben hatte, zum anderen, weil etwas in der Luft lag, weil die Nerven wegen der andauernden Identitäts- und Auftragskrise strapaziert waren. Das Zusammenführen von fotofotografischen und kunstfotografischen Positionen der 1980er-Jahre in der Ausstellung und im Begleitbuch,7 auf der einen Seite mit Fotografen wie Roland Schneider, Christian Vogt, Vladimir Spacek, Hans Danuser, auf der anderen Seite mit KünstlerInnen wie Hannah Villiger, Olivier Richon und Fischli/Weiss, führte zu Aufschreien und Protesten. Die Ausstellung wirkte wie ein Ventil, um angestautem Ärger, aber auch latenter Unsicherheit Luft zu verschaffen. Lautstark wurde die eigene Position hervorgehoben und die andere Position ,schlechtgemacht‘, wurde Fotografie gegen Kunst und Kunst gegen Fotografie ausgespielt. Beide Lager schenkten
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sich wenig. Hugo Loetscher, Schriftsteller, in diesem Zusammenhang jedoch vor allem früherer Redaktor der Kunstzeitschrift Du, bat mich zur persönlichen Aussprache auf seine Terrasse in der Zürcher Altstadt.8 Allan Porter, der ehemalige Chefredaktor des Magazins Camera, zum Gespräch in seine Luzerner Wohnung. Mein Angebot zur Aussprache mit Alberto Flammer, dem damaligen Teamleader der Tessiner Fotografie, wurde ausgeschlagen. Alle drei bekundeten Mühe mit den künstlerischen Positionen und mit der grundsätzlichen Problematisierung des fotografischen Schaffens. Umgekehrt fragten mich einige der KünstlerInnen, wes-
1: Cover des Katalogs zur Ausstellung „Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz“ im Museum für Gestaltung, Zürich, 1990. Gestaltung: Robert & Durrer, Zürich.
halb in der Ausstellung auch Dokumentarfotografen gezeigt würden. Vehemente Statements wie ,Ich bin Künstlerin und keine Fotografin!‘ oder ,Das ist Kunst, keine Fotografie!‘ haben sich stark in meiner Erinnerung festgesetzt. Am besten jedoch illustriert der Artikel von Niklaus Flüeler in der Weltwoche die damalige Situation. Er benutzte die kurze Sommerüberlappung von „Wichtige Bilder“ mit der großen Magnum-Ausstellung am Kunsthaus Zürich zu einem ganzseitigen Artikel mit dem Titel „Grösser als Magnum ist keine Photographie“ und ergänzte im Untertitel „Was wirklich Wichtige Bilder sind, zeigen zur Zeit zwei Ausstellungen in Zürich“.9 Flüeler kritisiert darin ausführlich die Ausstellung und das Buch Wichtige Bilder und konstatiert unter anderem, dass sich der Autor (Urs Stahel) unglücklicherweise in der Unterscheidung von Fotografie und Photographie verheddere. Das „erkenntnistheoretische Brimborium“ erweise sich als fragwürdig
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und bedeutungslos, zumal man nun im Kunsthaus Zürich sehen könne, was tatsächlich wichtige und bedeutende Fotografie sei. Der Titel des Artikels gab seine Vorliebe überlaut preis: Flüelers Kritik an „Wichtige Bilder“ kulminierte in der Feststellung, dass es die Leistung von Magnum sei, eine „unerschrockene, sozial und mitmenschlich engagierte Dokumentation alltäglichster Wirklichkeit zu liefern“, diese „Wirklichkeit ungekünstelt und ungeschminkt, aber mit höchstem handwerklichem Können, persönlichem Engagement und Einsatz bis an die Grenzen des physisch und psychisch gerade noch Ertragbaren unerschütterlich zu dokumentieren“.10 F und Ph: Die beiden Schreibweisen standen damals (und manchmal heute noch) für zwei Welten, für zwei Vorstellungen dessen, was Fotografie ist. F in der Regel für die progressive, Ph für die herkömmliche Sicht- und Gebrauchsweise. Ich habe selten ein Feld kennengelernt, in dem laufend und mit derart großer Vehemenz darüber gestritten wurde, was die Fotografie ist, und vor allem, was sie zu sein hat! Die Heftigkeit der Sollbehauptungen nahm parallel mit der Fragilität der Situation zu. Je weniger klar war, welche Fotografie und welche Wirklichkeit gemeint waren, desto lauter wurden die Stellungnahmen. Es ist nicht ganz einfach zu benennen, was für Haltungen durch die beiden Schreibweisen verkörpert wurden. Es handelte sich weit eher um einen dussligen Gefühlsunterschied zwischen Fotografie und Kunst, zwischen herkömmlicher und neuer Fotografie, zwischen Bewahrern und Erneuerern als um eine scharfe kognitive, beschreibbare Abgrenzung. Vermutlich hing letztlich alles an einem psychologischen Faden, ging es doch um den Unterschied zwischen Angst vor Verlust des Herkömmlichen und Mut zum Neuen, Gegenwärtigen, wobei die Vertreter der Schreibweise mit Ph sich ohne Umschweife auf die Moderne, auf die Bauhauszeit der Fotografie bezogen, die selbst allerdings Fotografie immer und programmatisch mit F geschrieben hat. So diffus bereits diese beiden Felder sind – sie wären eine eigene Untersuchung, eine Art von Stimmungsgeschichte wert –, gilt es noch ein drittes Feld beizufügen: In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren wurde sehr oft von ,Creativer Photographie‘, ,Kreativer Fotografie‘ oder Mischungen der beiden gesprochen, hier nun ohne einen Überzeugungsgraben zwischen den Schreibweisen. Quasi in Stein gemeißelt hat diesen Begriff das Center of Creative Photography in Tucson, Arizona. Der Begriff tauchte eine Weile lang überall auf, doch vor allem machte er sich in den wenigen Fotogalerien breit. In Zürich besonders in der Nikon Galerie an der Schoffelgasse 3.11 Sie war ein wichtiger, zumindest ein rege besuchter Ort für zeitgenössisches fotografisches Schaffen in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren. Neben Ausstellungen von bekannten internationalen Fotografen und Fotografinnen – unter anderem von Richard Avedon, Robert Mapplethorpe, Duane Michals, Weegee – erinnere ich mich an eine Ausstellung zum Motiv „Spaghetti“. Kreative FotografInnen, kreative Art Directors verschoben ein Thema der Auftragsfotografie, hier konkret der Food Photography, in ein freies Thema, in den freikünstlerischen, kreativen Bereich. Jede/r der ausgestellten FotografInnen versuchte, so originell wie
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möglich zu sein, oft mit zweifelhaften Resultaten. Diese Ausstellung ist ein Beispiel für eine Szene, in der AuftragsfotografInnen – die in der Sachfotografie, aber auch in Mode und Werbung tätig waren – mit dem Entstehen von ersten Galerien, von Räumlichkeiten als Nebenbeschäftigung ,kreative Fotografie‘ betrieben. Ein Spielfeld, in dem das Aufeinanderprallen von gutem und schlechtem Geschmack auffälliger war als allfällige Haltungs- und Konzeptunterschiede. Einige der beschriebenen Situationen und Reaktionen haben regionalen oder nationalen Charakter, die Grundstimmung der Unsicherheit hingegen war international. Sie betraf den realen Wandel der Auftragslage, die gegenseitige Durchdringung von ,Wirklichkeit‘ und medialer Welt und den intensiven Gebrauch der Fotografie in der Kunst – alle drei Entwicklungen waren verbunden mit einer grundsätzlich neuen Einsatz- und Verstehensweise des fotografischen Bildes. Doch die Art und Weise, wie je nach Region, Land oder Schule damit umgegangen wurde, war sehr unterschiedlich. Meine persönliche Bekanntschaft mit dem sich verändernden fotografischen Verständnis in der Kunst der Schweiz begann mit der Ausstellung von Manon, der Installation Das lachsfarbene Boudoir 1974 (Abb. 2) in der Galerie Li Tobler in Zürich, und den nachfolgenden Fotoserien der Künstlerin. Mit Urs Lüthis Fotoperformances, die ich in einer winterkalten Gessnerallee in Zürich oder in der Galerie von Pablo Stähli erlebte, mit Katalogen von berühmten Ausstellungen, die ich nicht besucht hatte, wie „Visualisierte Denkprozesse“ (1970) und „Transformer“ (1974), beide im Kunstmuseum Luzern, und zwei der drei Strauhof-Ausstellungen in Zürich
2: Manon, Das lachsfarbene Boudoir, 1974, Galerie Li Tobler, Installationsansicht im Swiss Institute in New York, 2009.
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zum Thema Fotografie. Später waren Ausstellungen in der Kunsthalle Basel wichtig, unter anderen auch die „Fotowerke“-Ausstellung von Balthasar Burkhard (1983) (Abb. 3), vor allem aber die Mitarbeit an der Zeitschrift Der Alltag um 1980 und deren unbeschwerter, undogmatischer Einsatz von Fotografie, zum Beispiel eine rund 50 Seiten lange, aufregende Bildstrecke von Walter Pfeiffer in schlechtem schwarz-weißen Offsetdruck (Abb. 4).12 In diesen und ein paar wenigen weiteren ,Keimzellen‘ – in der Romandie zum Beispiel war das Média-mixte-Atelier an der École Supérieure d’Art Visuel in Genf ein Denkzentrum der zeitgenössischen medialen Kunst – wuchs ein anderes Verständnis von Fotografie heran, als es in den klassischen Foto-Orten der Schweiz gezeigt, gelehrt und diskutiert worden ist.
3: Installationsansicht von Balthasar Burkhards Ausstellung „Fotowerke“ in der Kunsthalle Basel, abgebildetes Werk: Balthasar Burkhard, Der Körper I, 1983, Fotografie auf Papier, 215 × 1320 cm. 4: Titelblatt der Zeitschrift Der Alltag. Sensationsblatt des Gewoehnlichen 4, Nr. 1 (1981), mit Fotografie von Walter Pfeiffer.
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„IM AUSKLANG DER MODERNE LERNTE DIE KUNST DAS LACHEN WIEDER“ (BEAT WYSS)13 Der Paradigmenwechsel, der uns Fotografie so anders anschauen, einsetzen und verstehen lässt, hat sich schon früher angekündigt. Zumindest der Keim dazu war bereits in den 1950er-Jahren gesetzt worden. In der Mitte des Jahrzehnts trat Robert Rauschenberg mit seinen Combines an die Öffentlichkeit. Skulpturen, in denen er Möbel, Reifen und andere disparate Materialien vereinte, sowie Malereien, die er mit Fotografien versetzte (Abb. 5). In seinen Siebdrucken der 1960er-Jahre spielte die Fotografie eine noch wichtigere Rolle. Gefundene oder selbst gemachte Fotos wurden mittels Siebdruck überlappend aneinandergereiht oder zu einem Block, einer popartigen Assemblage geformt. Auffallend ist dabei, dass er ,irgendwelche Fotografien‘ verwendet hat. Das Explosive am neuen Einsatz von Fotografien war, dass sie zuerst als außerkünstlerisches Material und als Repro-Fundobjekte in die Malerei integriert wurden und so als eine Art unkünstlerisches Realzeichen fungierten.
5: Robert Rauschenberg, Untitled, 1954, Öl, Bleistift, Farbstift, Papier, Leinwand, Stoff, Zeitung, Fotografien, Holz, Glas, Spiegel, Konserve, Korken und gefundenes Gemälde mit einem gemalten Paar Lederschuhe, getrocknetes Gras und ein ausgestopftes Dominikanisches Huhn auf einer Holzstruktur mit fünf Rollfüßen, 219,7 × 94 × 66,7 cm, The Museum of Contemporary Art, Los Angeles, The Panza Collection.
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Fast zur gleichen Zeit begann auch Andy Warhol, Siebdrucke einzusetzen und vorgefundene, ausgeliehene, selbst gemachte Fotografien in blockartige, sequenzartige Bilder zu formen. Seine Disaster Paintings (Abb. 6) von 1963 sind so eindrücklich, weil sie das ,disaster‘ durch die Wiederholung gleichzeitig verstärken und auflösen, gleichzeitig erheben und infrage stellen. Sein System der fast atemlosen Wiederholung, Aneinanderreihung von Fotografien in seinen Siebdrucken spielt mit dem Schrei und seiner Auflösung, der Behauptung und der Reduktion. Fotos werden als grell-düstere Popzeichen eingesetzt und durch die Wiederholung entikonisiert, als Reproduktion gekennzeichnet und entleert, ,entwertet‘. Douglas Crimp nannte die Siebdrucke von Rauschenberg und Warhol später eine hybride Form des Drucks, den Übergang vom Einsatz von Produktionsmitteln zum Einsatz von Reproduktionsmitteln, und machte daran erste Elemente des Postmodernen fest: „Die entleerende Wirkung, die Erschöpfung der Aura, das Anfechten der Einmaligkeit des Kunstwerkes, hat sich in der Kunst der letzten beiden Jahrzehnte beschleunigt und intensiviert. Von der Vervielfältigung von im Siebdruck hergestellten fotografischen Bildern im Werk von Warhol bis zu den industriell gefertigten, repetitiv angelegten Arbeiten minimalistischer Bildhauer – alles im radikalen künstlerischen Schaffen schien sich verschworen zu haben, um die überkommenen kulturellen Werte, genau wie Walter Benjamin gesagt hatte, zu liquidieren.“14
6: Andy Warhol, Black and White Disaster #4 [5 Deaths 17 Times in Black and White], 1963, Acryl, Siebdruckfarbe und Bleistift auf Leinwand, 2-teilig, je 261,6 × 208,9 cm, Kunstmuseum Basel, Inv.-Nr. G 1972.2, Ankauf 1972.
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7: Raymond Hains, Panneau d’affichage, 1960, abgerissene Plakate auf Zinkblech, 200 × 150 cm, Musée national d’art moderne – Centre Georges Pompidou, Paris, Inv.-Nr. AM1976-DEP19, Ankauf 1976.
Dieser Bewegung an der Ostküste Amerikas, diesem neuen künstlerischen Spiel mit fotografischen Realzeichen, der Suche nach Realitätsfetzen entsprach in Europa die Bewegung der Nouveaux Réalistes mit Jean Tinguely, Niki de Saint Phalle, Daniel Spoerri, Raymond Hains, César, Mimmo Rotella und anderen. Nicht in allem stimmte man überein, sicher jedoch in der Absicht, auf der Suche zu sein nach einem Ausweg aus den Dogmen des Modernismus, aus der Sackgasse der Abstraktion. Die Europäer waren, so ihr Gruppenname, die neuen Realisten, die nach der Moderne eine Anbindung der Kunst an die Realität suchten. Hingegen hatten sie kaum eine erklärte Haltung zum Bild. Raymond Hains und Jacques de la Villeglé schafften mit ihren Plakatabrissen, den Affiches lacérées (Abb. 7), zumindest den Spagat zwischen Informel und Neuem Realismus. Doch in New York ging das Bildverständnis weiter. Es zählt weniger, was da ist, sondern wie man es anschaut und einsetzt. Die Einheit des Bildes wird aufgebrochen, einfach oder mehrfach: in den Sehenden und das Bild, zusätzlich in das Bild und die Wirklichkeit, das Bild als Träger einer Botschaft (englisch picture), als signifiant, und das Bild als Botschaft, als Gehalt (englisch image), als signifié. Flächig wäre die Verbindung ,Wirklichkeit-
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8: Markus Raetz, Berlin, 1. 7. 81, Zum Schinkeljahr, Polaroid SX70, 10,7 × 8,9 cm, M. & M. Raetz.
Zeichen-Betrachter-Bedeutung‘ als ein variierendes Viereck darzustellen, anschaulicher jedoch wird sie räumlich gedacht, als eine Pyramide mit vier Eckpunkten, wobei wahlweise einer der vier Punkte die Spitze sein kann. Die Vorstellung des Bildes als eines nie ganz festgelegten Zeichens, das ein Eigenleben hat, auf das Betrachter projizieren, das die Wirklichkeit ,überschattet‘, ,überblendet‘, manifestiert sich in den Arbeiten Warhols und seiner Zeitgenossen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Bilder noch mit einem heiligen Ernst versehen, mit der Kraft künstlerischer Statements und Manifeste in dieser Zeit vergleichbar.15 Das Bild trat mit erstaunlicher Wucht auf, als sei es der wahre Prospekt der Welt, als sei es Gesetzestafel, Exerzierfeld oder ein Plan, eine Schablone, mit der man die Welt nicht nur zu repräsentieren, sondern auch zu dirigieren vermöge: als entspräche der weißen Leinwand die hohe, reine, absolute Zeit, der schwarzen die leere, die aufgehobene Zeit, das Nichts, der roten Leinwand die aktive, blutige Zeit, die Handlung. Abstrakte Leinwände, die jedoch höchst bedeutungsgeladen gemeint waren. Diesen Ernst, diesen Kanon, dieses Verständnis wollte man in den 1960er-Jahren brechen, denn das stimmte nicht mehr mit der eigenen Welterfahrung überein, war in der Gefühlsmischung aus existenzieller Nachkriegserschütterung (mit großem Glaubensverlust) und startender Hochkonjunktur, der später
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umfassenden Kommerzialisierung der Welt, obsolet geworden. Für viele Künstler sind die 1960er-Jahre deshalb zutiefst ein Jahrzehnt der Abkehr: von den abstrakten, reinen, nach Objektivität strebenden Gestaltungsweisen und ihrem gedanklichen Überbau, vom Werk als geschlossener, absoluter Entität; von der Vorgabe des kunstwürdigen Materials und vom Stildenken. Absage auch an die große Form, die große Erzählung, die übergreifende Wahrheit, das Absolute. An ihre Stelle trat die Einsicht in die Bedingungen des eigenen Tuns, die Beschränkung der Aussage und Erforschung der Mittel und Methoden. Was bedeutete das strukturelle Aufbrechen der Vorstellungsentität ,Bild‘ konkret für das reale gemalte und fotografierte Bild? Auf der Fotoebene manifestierte sich der Zweifel in der Form einer Absage an das Einzelbild, einer Ausrichtung hin zu Reihen, Serien, Sequenzen von Fotografien; in der Malerei als Sprengung des Gevierts, der Begrenzung des Bildes, als Auslaufen des Bildes in die Wand, in den Raum und ins Leben hinein. In beiden Handlungsweisen ging es ums Entmystifizieren, ums Entschlacken von Bedeutung, von Gefühlsschwere. Von nun an reichten Träger (Chassis, Leinwand oder Fotopapier) und eine Oberfläche (Grundierung, Farbauftrag oder Fotoemulsion) sowie ein paar Gedanken, Ideen, Versuche, Aspekte. Oder die Handlung wurde als Prozess zum Zentrum der Betrachtung und ersetzte das Resultat, sie löste das Kunstwerk als statisches Objekt in Performances, Happenings auf. Letztlich stellte die Idee das Bild in ihren Schatten. Bisweilen gingen die neuen Erkundungen der Wahrnehmung, des Bildes, gerade auch in der Schweizer Kunst, lächelnd-spielerisch-forschend vonstatten: Das Erhebende einer lichtdurchfluteten Kuppel, eines Sternenhimmels wurde von Markus Raetz mit Polaroidfilm vor Neonlicht als Salatsieb aus Plastik fotografiert und so schmunzelnd entlarvt (Abb. 8). Beat Wyss brachte dies auf die Formel: „Im Ausklang der Moderne lernte die Kunst das Lachen wieder“.16
KONZEPTUALISIERUNG DER KUNST, NEUER GEBRAUCH DES FOTOGRAFISCHEN BILDES Diese Entwicklung führte für manche Künstler zu einem eigentlichen Auszug aus dem Atelier, zum Beispiel in die Natur hinaus. Robert Smithson mit seiner berühmten Spiral Jetty (1970), Richard Long mit Walking a Line in Peru (1972), aber auch Klaus Rinke oder Hamish Fulton (Abb. 9) verließen das Atelier und die Stadt und begannen, in der Landschaft zu wandern und da ihre ephemeren Zeichen, ihre Spuren zu setzen: Spiralen, Wegmarken, Kreise, Pfade. Flüchtige Zeichen ihres Weges, der Zeit, die sie verbracht, der Tätigkeit, die sie vollbracht haben. Spuren, die dann mittels Fotografie dokumentiert wurden, weil sie sehr vergänglich waren. Zeichen, die oft nur über die Fotografie die Kunstwelt erreichten. On Kawara schickte Postkarten von seinen Handlungen, seinem Unterwegssein, seinem Da-zu-einer-bestimmten-Zeit-gewesen-Sein: I Got Up (1968–1979) (Abb. 10). Hanne Darboven begab sich auf wiederkehrende, stereotype, fast litaneiartige Reisen
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vor Ort, auf den Papieren, die sie beschrieb und mit Fotografien versah. Einen ähnlichen Weg wie die Earth-Art- oder Land-Art-Künstler beschritten die Body-Art-, Performance- oder Happening-Künstler, die das Immobile zugunsten des Mobilen, das erstarrte Objekt zugunsten der Bewegung in Raum und Zeit auflösten. Auch sie setzten Fotografie zuerst nur als reine Dokumentation ein, bis sie sie allmählich als ihr neues Medium begriffen, bis sie die Performance nur noch für die Fotografie inszenierten, bis die Fotoperformance entstand. Erinnert sei hier besonders an die Ausstellung „Transformer: Aspekte der Travestie“ im Kunstmuseum Luzern (1974), die vom transformierten Ich und vom transformierten Bildverständnis handelte,
9: Hamish Fulton, Mankingholes on the Pennine Way, 1973. 10: Installationsansicht von I Got Up in der Ausstellung „On Kawara. 1973 – Produktion eines Jahres/One Year’s Production“ vom 31. August bis 6. Oktober 1974 in der Kunsthalle Bern, kuratiert von Johannes Gachnang.
und an Künstler und Künstlerinnen wie Urs Lüthi, Jürgen Klauke, Luigi Ontani, Valie Export, auch an Bruce Naumans Self Portrait as a Fountain (1966/1967). John Baldessari, einer der zentralen Konzeptkünstler der amerikanischen Westküste, braucht die Fotografie in seinem Werk Aligning: Balls (1972), um mit der typischen Lockerheit kalifornischer Kunst über den Wahrnehmungsprozess nachzudenken, über die Relativität der Wahrnehmung und darüber, wie beabsichtigt oder unbeabsichtigt Bedeutung entsteht. Jan Dibbets’ Werk konzentrierte sich über Jahrzehnte fast ausschließlich auf die Natur der Wahrnehmung, versuchte, den Wahrnehmungsprozess zu visualisieren, ihm eine anschauliche Form zu geben. Kenneth Josephson überlagert mit in die Bildrahmung hineingehaltenen Postkarten zwei Repräsentationen von Wirklichkeit. Luigi Ghirri formuliert mit feiner Visualität das Ein- und Ausschließen durch den Entscheid des Suchers, führt uns
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auf eine imaginäre Reise durch den Atlas und denkt früh über das Sehen von Dingen und das Sehen von Betrachtenden nach. Sigmar Polke betrieb seine skurrilen Bildcollagen und Bildreihen der 1970er-Jahre wie kleine Meisterstückchen der Ironie mittels Fotografien, Zeichnungen, Drucken und Textzitaten (Abb. 11). John Szarkowski, der Direktor des Fotodepartments am MOMA in New York, hielt 1975 in einem Artikel für die New York Times fest: „Some contemporary artists who began (at least nominally) as painters, and who have in recent years worked their way through a succession of nonpictorial art forms (happenings, conceptual art, earth works, systems art, etc.) have demonstrated a quick appreciation of the idea of photography as a technique particularly well-suited to record the infinite variegation of human experience. Such artists, having been taught by Duchamp, Tinguely and others that the act of art need not be married to the crafting of fine manufactures, have been quick to realize that a photograph can be a work of art without being a flagrantly beautiful object.“17 In diesem Statement ist ein Hauch von Abschätzigkeit zu spüren, vermutlich weil Szarkowski als Fotograf und Kurator letztlich ein Modernist geblieben ist und als solcher den perfekten Print liebt, davon abgesehen beschreibt er den Wechsel genau. Der Konzeptkünstler liebt die Idee und nicht das Objekt, er konzentriert
11: Sigmar Polke, Supermarkets!, aus Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, 1976, Gouache, Goldbronze, Lack- und Acrylfarben, Filzstift, Collage auf Papier auf Leinwand, 207 x 295 cm, Privatbesitz.
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sich auf das visuelle Denken und nicht auf das Ausarbeiten eines edlen Objekts, die Bildidee und nicht das Bildartefakt ist wichtig. Und die Fotografie wird eingesetzt wie eine Sprache: als Träger einer kulturellen Botschaft. „Bei konzeptueller Kunst ist die Idee oder die Konzeption der wichtigste Aspekt der Arbeit“, hielt Sol LeWitt fest, „wenn ein Künstler eine konzeptuelle Form von Kunst benutzt, heißt das, dass alle Pläne und Entscheidungen im Voraus erledigt werden und die Ausführung eine rein mechanische Angelegenheit ist. Die Idee wird zu einer Maschine, die die Kunst macht.“18
„THE PICTURES GENERATION“ 19 Während Ende der 1960er- und zu Beginn der 1970er-Jahre die erste Generation der Konzeptkünstler am Werk war, formierte sich in den amerikanischen Colleges eine neue Generation. Sie ging seit der gleichnamigen Ausstellung 2009 im Metropolitan Museum in New York als „Pictures Generation“ in die Geschichte ein. Hierzu noch einmal John Szarkowski. Er beschrieb das Phänomen in fotografischer Hinsicht so: „The addition of photography to the liberal-arts curriculum was a phenomenon particularly marked in the United States: in the three years between 1964 and 1967 the number of colleges and universities that offered at least one course in photography increased from 268 to 440. In Europe, in schools such as Hans Finsler’s Kunstgewerbeschule in Zurich and Otto Steinert’s Folkwangschule in Essen, pedagogical styles continued to emphasize a relatively rigorous concentration on conventional craft virtues, and students of photography were more likely to be educated with future commercial artists and graphicarts specialists than with painters and traditional printmakers.“20 Weiter führte er aus, in den USA sei die Kunstausbildung stark vom Gedankengut und Beispiel von László Moholy-Nagy beeinflusst gewesen. Eine bemerkenswerte Anzahl von Fotografielehrern, die die neuen Lehrpläne der 1960er-Jahre geschrieben haben, seien vormals Studenten des New Bauhaus, des Institute of Design in Chicago, gewesen. Douglas Eklund, Kurator und Autor von „The Pictures Generation 1974–1984“, argumentierte in die gleiche Richtung: „The immediate trigger for the emergence of the Pictures group was the massive boom in college education during the late 1960s, which unleashed on the world huge numbers of artists, highly educated and trained professionally, in the 1970s.“21 Studenten und Studentinnen seien durchs ganze Land gereist, um Schule für Schule zu testen. In dieser Zeit habe sich die Kunsterziehung komplett verändert, Studenten und Lehrer verstanden sich als gleichwertig, Colleges mussten cutting edge sein. Das vielleicht eindrücklichste Beispiel ist die Gründung von CalArts, dem California Institute of the Arts in Los Angeles, das 1970/1971 mit finanzieller Unterstützung von Walt Disney startete. Der
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erste Direktor der Schule, Paul Brach, stellte gleich zu Beginn John Baldessari als Professor ein. Baldessari warf alle bisherigen Richtlinien über Bord: „You can’t teach art, that’s my premise. […] We just eliminated grades. We had pass/fail. You can’t use grades as a punishment.“22 Vor allem aber unterrichtete er die Studenten mit einem humoristischen Unterton über seine eigene Konzeptkunst, führte kleine failures als Thema ein (wie in Aligning: Balls zum Beispiel), warf alle bisherigen ästhetischen und Haltungskriterien über Bord und lehrte seine Studenten, mit gefundenem Fotomaterial, mit Reproduktionen zu arbeiten: „I was very interested in found photography, and I could talk for hours about that.“23 Diese Generation dachte viel stärker vom gedruckten, gebrauchten, gefundenen Foto her als von der herkömmlichen Außenwelt, der sogenannten Realität. Ihre Künstler waren auf der einen Seite Konsumenten der neuen Medienkultur, von Film und Fernsehen, Popmusik und Magazinen, auf der anderen Seite waren sie an Roland Barthes, Michel Foucault, Julia Kristeva und anderen geschult und betrachteten genau diese Medienwelt mit cooler Distanz.24 Die USA und der Rest der westlichen Welt wandelten sich gerade von einer Bedürfnis- zu einer Konsumgesellschaft und weiter zur Guy Debord’schen „Société du spectacle“.25 Diese Generation bringt das Bild zurück in die Kunst, nach der fast ikonoklastischen Verweigerung des Bildes durch Minimal Art und Concept Art, aber sie verschiebt den Blick vom Nach-draußen-in-die-Welt-Sehen hin zu Fragen wie: Wer hat dieses Bild mit welcher Absicht gemacht? Welche Ideologie verbirgt sich in dieser Darstellung? Wie handfest ist seine Bedeutung? So wie Identität nicht mehr als etwas Gewachsenes, Natürliches empfunden wurde, so wurde auch das Autokratische des Bildes, die behauptende Setzung, die scheinbar fraglos auftretende Bildidentität, grundsätzlich infrage gestellt und mit Scharfsinn und Humor analysiert – und dann weiterverwertet. Rauschenberg hat es als Erster praktiziert, in den späten 70er-Jahren wurde es allgemeine Praxis: die Aneignungskunst, die Appropriation Art, mit Robert Heinecken, Larry Sultan/Mike Mandel, mit Richard Prince, Sherrie Levine und in Europa mit Hans-Peter Feldmann und Chris Marclays Collagen von Schallplattenhüllen. Das Erstellen der Fotografie wird bei diesen Künstlern nebensächlich, die Aura des Künstlerischen ist unwichtig, vielmehr geht es darum, durch den Gebrauch der Fotografie Bilder zu untersuchen, den Begriff des Originalen zu unterlaufen, die Kontextabhängigkeit des Bildes, der Fotografie zu demonstrieren. Mit der Appropriation Art betreten wir sichtbar das Medienzeitalter der Kunst. Diese ersten Vertreter des Medienzeitalters bescheren uns aber auch größere Dimensionen: Als wetteiferten sie mit den immer größer werdenden Billboards im Straßenbild, wuchsen die gemalten und fotografierten Werke von Monat zu Monat. „Blow-up“ wurde gleichsam zum Schlachtruf im Wettstreit der neuen Zeichenwelt.26
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12: Peter Knapp, Drei Minuten einer Flagge, 1964, Fotografie, 50 × 60 cm, Musée historique de 13: Balthasar Burkhard und Markus Lausanne, Fond des arts plastiques de la Ville Lausanne. Raetz, Das Papier, 1969/1970, Fotografie auf Fotoleinen, 204 × 265 cm, Installationsansicht, Hermann und Margrit Rupf-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Inv.-Nr. F 1981.006.
DAS FREMDE IM EIGENEN – BACK IN SWITZERLAND 1964 flatterten Peter Knapps 35 gefilmte und fotografierte Schweizer Fahnen auf der Expo 64 (Abb. 12); 1969/1970 thematisierten Balthasar Burkhard und Markus Raetz gemeinsam auf fünfzehn großen Fotoleinwänden die Repräsentation als Objekt – Schwarz-Weiß-Abbildungen von banalen, alltäglichen Dingen und Orten (das Atelier, die Küche, das Doppelbett, der Vorhang) wurden auf Leinwänden vergrößert und an zwei Klammern an der Wand befestigt (Abb. 13); Heinz Brand beschäftigte sich in seiner fotografisch angelegten Kunst von 1965 bis in die 1980erJahre hinein mit der Relativität des Sehens, mit der Idee, der materiellen Wirklichkeit und der Repräsentation beider; Hugo Suter ließ 1977 seinen Oberflächentaucher in neun Teilen auf das Thema des Sehens, des Wahrnehmens los; Markus Raetz baute 1979 mit leicht zerknülltem weißem Papier einen kleinen Haufen und nannte die Polaroid-Aufnahme davon Amsterdam, 2.4.79. Ein holländischer Schneeberg (Abb. 14); Gérald Minkoff schuf seine Instantfotochemogramme ohne Kamera, jeweils untertitelt mit Nach „Rayogramm, Man Ray, 1923“, 1978 oder Nach „Nude, Thomas Eakins, um 1880. The Metropolitan Museum of Art“ 1978 – es handelte sich um zeichnerische Nachbildungen von berühmten Fotografien, eingeprägt in sich entwickelnde Instantfotografien; und schließlich tauchten Fischli/Weiss 1979 erstmals mit ihrer berühmten Fotoreihe Wurstserie auf, und Hannah Villiger begann ihre Körperstudien mit der SX-70-Polaroid-Kamera (Abb. 15).
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14: Markus Raetz, Amsterdam, 2.4.79, Ein holländischer Schneeberg, Polaroid SX 70, 10,7 × 8,9 cm, M & M. Raetz.
Diese Beispiele belegen, wie früh einige Künstler und Künstlerinnen auch in der Schweiz das konzeptuelle Denken aufgegriffen und als Methode eingesetzt haben. Das stimmt jedoch nur für die Kunstwelt, weit weniger für die Fotowelt. John Szarkowski hatte mit seiner oben erwähnten Einschätzung leider recht.27 Der Umgang mit der Fotografie in den 1970er-Jahren hinkte in der Schweiz hinter den USA hinterher, weil sich die Fotoschulen deutlich langsamer als die neue Bilderwelt, die neue Medienwelt entwickelten. Von wenigen individuellen Ausnahmen abgesehen verharrte die Fotowelt der Schweiz lange Zeit auf bekannten Feldern: auf der seit der fotografischen Moderne sachlichen, exakten Dokumentation mit
15a: Hannah Villiger, Block XIX, 1990, 6 C-Prints ab Polaroid, aufgezogen auf Aluminium, 255 × 379 cm, Catalogue Raisonné 307. 15b: Hannah Villiger, Block XX, 1990, 6 C-Prints ab Polaroid, aufgezogen auf Aluminium, 255 × 379 cm, Catalogue Raisonné 308.
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16: Hans Danuser, Chemie I (Kernspin-Tomograph), aus dem Zyklus IN VIVO, 1980–1989, Bild VI 1, Fotografie auf Barytpapier, 14-teilig (VI 1–VI 14), auf Grundformat 50 × 40 cm.
Fachkamera oder auf einer Reportagefotografie, die seit den 1970er-Jahren mit stark körnigen, weitwinkligen Bildern mit schwarzem Rand operierte, aufgenommen mit 35-mm-Kameras und oft auf das neue plastifizierte RC-Papier belichtet. Es dauerte bis weit in die 1980er-, wenn nicht 1990er-Jahre hinein, bis sich die Szene der Fotografen wirklich zu bewegen begann. Zum Schluss drei Beispiele aus der Welt der Fotografie in der Schweiz, die früh den handelsüblichen Rahmen, die vorgefundene Welt- und Medienwirklichkeit hinter sich gelassen haben: Balthasar Burkhard, Hans Danuser und Robert Frank. Balthasar Burkhard (Abb. 3, 13) hat, wie bereits erwähnt, sehr früh mit Markus Raetz zusammen fünfzehn große Leinwände produziert, darunter die vielleicht aufregendste, weil konsequenteste Arbeit: Ein auf einem Holzboden aufgefaltetes weißes Leintuch wird fotografiert und das Resultat als großes Fototuch an zwei Klammern aufgehängt. 1983 demonstrierte er in der Kunsthalle Basel ein neues fotografisches Sehen und Denken mit den Fotowerken, mit vergrößerten schwarz-
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17: Robert Frank, Roots, 1996, Silbergelatine-Abzug, 50,8 × 60,96 cm, Sammlung Fotomuseum Winterthur, Ankauf mit Mitteln der Georg und Bertha Schwyzer-Winker Stiftung, Inv.-Nr. 2002-006-006.
weißen Fotokörperteilen, Knien, Armen, die teils wieder zu fast intakten, aber perspektivisch verschobenen fragmentierten Körpern zusammengestellt wurden. Hans Danuser bewegte sich mit den sieben Teilen von IN VIVO in zwei Sonderzonen hinein (Abb. 16). Einerseits betrat er mit den essayistischen Serien zu Goldraffinierung, Atomkraft, Pathologie, Chirurgie, Ronald Reagans Versuch eines ,Kriegs der Sterne‘ (Los Alamos), Tierversuchen und Gentechnologie unheimliche Felder der Gesellschaft, Tabuzonen, in denen Wissen, Wert und Macht generiert wird. Andererseits wandte er sich mit seiner Fotografie, die er absichtlich in der bisher klassischen Formatgröße hielt, einer bisher unerprobten Zwischenzone zu. Er bewegte sich wie ein reportierender, dokumentierender Fotograf in den beschriebenen Bereichen, anschließend jedoch versah er mit alchemistischer (Labor-)Hand das Beschreibende, Deskriptive in seinen fotografischen Dokumenten mit einer hohen emotionalen Bildkraft, die die Betrachter bis heute zwingt, denkend und fühlend zugleich mitzugehen. Bei Danuser wandelte sich das Dokumentieren der
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Wirklichkeit in ein Angebot und eine Herausforderung des Betrachters. Der auch bei ihm wichtige Verweis auf die Wirklichkeit wird von der intensiven Spannung überlagert, die sich zwischen Bild und Betrachter herstellt. Wir befinden uns in einem düsteren Theater gesellschaftlicher Realitäten. Es mag seltsam anmuten, Robert Frank, der einer früheren Generation entstammt und die Schweiz schon früh verlassen hat, hier an den Schluss zu stellen. Aber seine Arbeit erlaubt es, eine Position mit einzubeziehen, die im Kontext der hier angestrebten Betrachtung zu Unrecht übersehen werden könnte: die radikale Subjektivierung des einst dokumentarischen Blicks (Abb. 17). In einem Text zur subjektiven Fotografie schrieb ich über sein Werk: „[Frank, U. S.] entwirft schliesslich (in den siebziger Jahren) in hoher autobiografischer Nähe mit Fotografie und Texten kleine Lebenssituationen, die von Heiterkeit bis zur Tragik, von Hoffnung zu Verzweiflung, von Liebe zu Verlust pendeln. In einer Tiefe, die uns bisweilen den Atem nimmt, in einer Unruhe – mit angerissenen Fotos, dunklem, auslaufendem Polaroid-Rand und kritzelnder, hektischer Schrift –, die den Pulsschlag der Aufregung spüren lässt, in einer Tragik manchmal, die alles in ihren düsteren, schwarzen Schlund zu schlucken scheint. Das Werk dieses Robert Frank keucht manchmal vor Verzweiflung, stösst sich immer wieder an der Sinnlosigkeit der Wirklichkeit, der Welt, kämpft mit ihrer Absurdität, sucht eigenen Sinn, findet Licht, verliert Menschen, kämpft gegen Resignation, verlangt aus der Nacht nach Licht, Glück, unbändig, schonungslos, dürstend, leidend.“28 Diese radikale Subjektivierung schiebt Franks Fotografie in eine andere, performative, tagebuchartige Ebene, in der die gezeigte Wirklichkeit letztlich nur noch dienende Funktion hat: die Funktion, das Frank’sche Weltbild in ein oder mehrere Bilder zu fassen, zu ,verkörpern‘. In diesem Sinn versteht auch die radikal subjektive Fotografie die Fotografie als ein Zeichen, das Zeichen einer Handlung, einer Befindlichkeit, und die Reihe, die Gruppe von Fotografien als eine Vernetzung von Zeichen, die zusammen einen visuellen Text ergeben. Die Vorstellung von Fotografie als direktes, ,leibliches‘, wahres Abbild der Wirklichkeit wurde auch hier radikal herausgefordert und verneint. Ab jetzt wird Fotografie neu gedacht und neu gebraucht.
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ANMERKUNGEN
1 Ausnahmen waren: Aperture (New York, seit 1952), Creative Camera (London, 1968– 2001) oder Camera Austria (Graz, seit 1980). 2 Der Strauhof funktionierte wie eine städtische Galerie. Er war eine zentrale Anlaufstelle für zeitgenössische Kunst und Kultur. Vgl. hierzu in dieser Publikation den Beitrag von Joachim Sieber. 3 Zum Beispiel die Nikon Galerie, die Galerie 38 und die Work Gallery. 4 Siehe: Bundesamt für Kultur (Hg.), Über Preise lässt sich reden. 100 Jahre Eidgenös sischer Wettbewerb für freie Kunst (Zürich: Orell Füssli, 1999), 330. 5 Gemäß Auskunft von Hans Danuser. 6 Gemäß Auskunft von Walter Binder, Konservator der Schweizerischen Stiftung für die Photographie in Zürich, 1984–1998. 7 Das Begleitbuch – Urs Stahel und Martin Heller (Hg.), Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz, Ausstellungskatalog, Museum für Gestaltung Zürich (Zürich: Der Alltag, 1990) – enthält einen sehr umfangreichen Aufsatz des Autors, der die Fotogeschichte der Schweiz von 1960 bis 1990 aufarbeitete. 8 Die Rolle der Zeitschrift Du müsste schon lange gesondert untersucht und in ihrer fotohistorischen Bedeutung dargestellt werden. Sie ist für die Schweiz in den 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts sehr wichtig gewesen. 9 Niklaus Flüeler, „Grösser als Magnum ist keine Photographie“, in Weltwoche, Nr. 34 (24.8.1990), 55. 10 Ibid. Es lohnt sich, diesen Artikel in ganzer Länge zu lesen, weil er bewusst und unbewusst die damalige Situation sehr gut spiegelt. 11 Siehe auch Anm. 3. 12 Walter Pfeiffer, in Der Alltag 4, Nr. 1 (1981), Titelblatt, 52–99, Umschlagrückseite. 13 Beat Wyss, „Nach der Moderne – die Schweiz z. B.“, in idem (Hg.), Kunstszenen heute, Ars Helvetica XII (Disentis: Pro Helvetia/Desertina, 1992), 3–70, hier 38. 14 Douglas Crimp, Über die Ruinen des Museums (Dresden; Basel: Verlag der
Kunst, 1996), 130. Englische Originalausgabe: On the Museum’s Ruins (Cambridge, MA; London: MIT Press, 1993). 15 Ernst, wie etwa die Prägungen von Filippo Tommaso Marinetti – „Der Futurismus beruht auf einer vollständigen Erneuerung der menschlichen Sensibilität“ – oder von Kasimir Malewitsch – „Im weiten Raum kosmischer Feiern errichte ich die weiße Welt der suprematistischen Gegenstandslosigkeit als Manifestation des befreiten Nichts“ – oder von Max Bill – „Die konkrete Kunst [...] soll der Ausdruck des menschlichen Geistes sein, für den menschlichen Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe und Eindeutigkeit, von jener Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden kann.“ Wie diese und viele andere Manifeste in der Kunst des 20. Jahrhunderts präsentierten sich auch die Bilder, und so wurden sie auch ‚vernommen‘. Filippo Tommaso Marinetti, „Zerstörung der Syntax – Drahtlose Phantasie – Befreite Worte“ [1913], in Umbro Appollonio (Hg.), Der Futurismus, Manifeste und Doku mente einer künstlerischen Revolution, 1909– 1918 (Köln: DuMont, 1972), 119–130, hier 119; Kasimir Malewitsch, Die gegenstands lose Welt, hg. von Werner Haftmann (Köln: DuMont Schauberg, 1962 [1927]), 194; Max Bill, „Ein Standpunkt“ [1944], zit. nach Willy Rotzler, Konstruktive Kon zepte. Eine Geschichte der konstruktiven Kunst vom Kubismus bis heute (Zürich: ABC-Verlag, 1977), 130. 16 Beat Wyss, „Nach der Moderne – die Schweiz z. B.“ (siehe Anm. 13), 38. 17 John Szarkowski, „A Different Kind of Art“, in New York Times Magazine (13. April 1975). 18 Sol LeWitt, „Paragraphs on Conceptual Art“ [1967], in Gerd de Vries (Hg.), Über Kunst. Künstlertexte zum veränderten Kunstverständnis nach 1965 (Köln: DuMont Schauberg, 1974), 176–185, hier 177. 19 Douglas Eklund (Hg.), The Pictures Genera tion 1974–1984, Ausstellungskatalog, The Metropolitan Museum of Art, New York (New York: Metropolitan Museum of Art, 2009).
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20 John Szarkowski (Hg.), Photography Until Now, Ausstellungskatalog, Museum of Modern Art, New York; Cleveland Museum of Art, Cleveland (New York: The Museum of Modern Art, 1989), 269. 21 Eklund, The Pictures Generation 1974–1984 (siehe Anm. 19), 22. 22 Ibid., 23. 23 Ibid., 24. 24 Ibid., 17. 25 Guy Debord, La Societé du Spectacle (Paris: Buchet/Chastel, 1967); deutsche Erstausgabe: Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (Düsseldorf: Projektgruppe Gegengesellschaft, 1971).
CREDITS/ BILDNACHWEISE
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Vgl. die gleichnamige Ausstellung und den begleitenden Katalog: Tilman Osterwold (Hg.), „Blowup“. Zeitgeschichte, Ausstellungskatalog, Württembergischer Kunstverein Stuttgart; Haus am Waldsee Berlin; Frankfurter Kunstverein (Stuttgart-Bad Cannstatt: Württembergischer Kunstverein, 1987). 27 Siehe oben, Anm. 20. 28 Urs Stahel, „From Truth to Truthfulness (and from Pathos to System). The Evolution of Documentary Photography between 1950 and 1980“, in Walter Guadagnini (Hg.), Photography 3, From the Press to the Museum 1941–1980 (Mailand: Skira, 2013), 14–33, hier 17–18.
1: © Robert & Durrer, Zürich; 2: © Manon; 3: © 2014 Nachlass Balthasar Burkhard, Foto: Balthasar Burkhard; 4: © Verlag Der Alltag/Walter Pfeiffer / 2014, Pro Litteris, Zürich; 5: © Robert Rauschenberg / 2014, ProLitteris, Zürich; 6: © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc. / 2014, ProLitteris, Zürich, Foto: Kunstmuseum Basel, Martin P. Bühler; 7: © 2014, ProLitteris, Zürich, Foto: Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand Palais / Philippe Migeat; 8, 14: © Markus Raetz / 2014, ProLitteris, Zürich; 9: © Hamish Fulton; 10: © On Kawara, Foto: Balthasar Burkhard; 11: © The Estate of Sigmar Polke / 2014, ProLitteris, Zürich, Foto: Peter Schälchli; 12: © Peter Knapp; 13: © Balthasar Burkhard/Markus Raetz; 15: © Hannah Villiger Nachlass; 16: © Hans Danuser; 17: © Robert Frank / Courtesy Pace/MacGill Gallery, New York.
STEFFEN SIEGEL RÜCKKEHR NACH PHOTOPHILIA. ORTSBESTIMMUNGEN DER FOTOGRAFIE, 1970–1990
MEHR DENN JE? Fotografien sind wichtige Bilder. Um zu verstehen, dass dies mehr als eine triviale Feststellung ist, genügt es, einen kurzen Blick auf unser alltägliches Leben zu werfen. Denn sobald hier Bilder ins Spiel kommen, werden es beinahe unausweichlich fotografische sein. Ob in Wissenschaft oder Politik, Journalismus oder Kunst und schließlich auch in ganz privaten Zusammenhängen: In allen Domänen unseres Handelns haben fotografische Bilder eine prominente Position bezogen. Vermutlich ist es keine Übertreibung zu behaupten, dass beinahe alle unsere Begegnungen mit Bildern einer fotografischen Bildtechnologie verpflichtet sind – selbst dort, wo dies nicht unmittelbar ins Auge fällt. So sehen wir, ohne uns dies stets eigens klarmachen zu müssen, gewiss sehr viel häufiger die Fotografie eines Gemäldes (etwa auf einer Zeitungsseite oder in einem Ausstellungskatalog) als das Gemälde selbst. Das große Plakatmotiv, dem wir an einer Bushaltestelle begegnen können, mag zwar eine Zeichnung aus der Hand eines Werbegrafikers sein. Öffentliche Sichtbarkeit konnte es indes nur auf dem Weg fotografischer Vervielfältigung erlangen. Und spätestens mit der massenhaften Verbreitung von Mobiltelefonen führen wir alle (oder doch fast alle) immer auch eine Kamera mit uns und können mit geringem Aufwand und ohne weitere Kosten unsererseits zu Fotoproduzenten werden. Der fotografische Reichtum der vielen sozialen Netzwerke spricht hierbei eine beredte Sprache. Die Bilderflut jedenfalls, von der noch vor wenigen Jahren allerorten die Rede war, ist zuallererst eine Flut fotografischer Bilder. Wohl niemand hat dies anschaulicher zum Ausdruck gebracht als der Niederländer Erik Kessels. Realisiert zuerst 2011 für eine Ausstellung im Amsterdamer Foam, inzwischen aber auch an anderen Orten präsentiert, soll seine Installation 24 HRS in Photos gerade das zeigen, was der Titel verspricht: sämtliche während der Dauer eines Tages auf dem Internetportal Flickr hochgeladenen Fotografien. Während jedoch in einem solchen Portal die schiere Menge solcher Bilder sich im virtuellen Raum schnell verliert und allenfalls als eine abstrakte Größe unzählbar vieler Fotografien präsent bleibt, ist Kessels’ aberwitzige kuratorische Geste dazu geeignet,
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die abstrakte Idee in ein konkretes Anschauungsbild zu verwandeln (Abb. 1). Alle während der infrage stehenden 24 Stunden auf Flickr eingestellten Fotografien wurden von Kessels in kleinem Format ausgedruckt und anschließend in den Ausstellungsräumen verteilt.1 Gewiss ist die von ihm hierbei gewählte Anordnung nicht frei von einer etwas aufdringlichen Suggestion, die den Gedanken der Bilderflut zuletzt überbetont. Doch lässt sich mit einer solchen hypertrophen Fotosammlung unmittelbar in den Blick nehmen, was längst zur Voraussetzung unseres alltäglichen Bildgebrauchs geworden ist. Wenn Fotografien tatsächlich wichtige Bilder sind, so ist Quantität allein jedoch kaum mehr als ein schwaches Argument. Ob gerade deshalb in jüngerer Zeit sogleich mehrere Bücher erschienen sind, die ausdrücklich qualitative Aspekte des Fotografischen in den Blick nehmen und danach fragen, worin genau die Bedeutung fotografischer Bildlichkeit bestehen mag? Zuweilen ist von einem solchen Wert schon im Titel dieser Bücher die Rede. Am knappsten brachte dies der US-amerikanische Fotograf Jerry L. Thompson zum Ausdruck. Mit genau drei Wörtern ist sein schmaler Essayband überschrieben: Why Photography Matters.2 Unwillkürlich ist man versucht, gedanklich ein Ausrufezeichen zu ergänzen. Es mag hierbei überraschen, dass sich ausgerechnet der Fotokünstler Thompson, der in den 1970er-Jahren als letzter persönlicher Assistent von Walker Evans tätig war, in seinem Buch erst in zweiter Instanz für die ästhetische Kraft des Fotografischen interessiert, vorderhand aber epistemische Valenzen diskutiert. Doch drückt sich in einer solchen Akzentsetzung jene Widerrede aus, die Thompson schon mit der Wahl seines Titels andeutete. Denn gelesen werden soll sein kleines Buch als eine kritische Beischrift zu Michael Frieds viel diskutierter Studie Why Photography Matters As Art As Never Before.3 Die auf dem Weg einer Reduktion vorgenommene Redaktion von Frieds Buchtitel brachte diesen um seinen spezifischen Gegenstand, also die Fotografie als Kunstform, und schließlich auch um seinen Gegenwartsbezug. Doch bleibt bezeichnend genug, dass in beiden Titelformulierungen und sodann in den Texten beider Bücher über Fotografie geschrieben wird, als müsse sie noch immer verteidigt werden. Um den sonderbaren Klang dieser apologetischen Töne vollends zu erfassen, wird es genügen, für einen Augenblick nicht von der Fotografie, sondern vielmehr von anderen Medientechnologien der Moderne zu sprechen. Nur schwer jedenfalls lässt sich denken, dass Bücher erscheinen, deren Titel lauten: ,Why Film Matters As Art As Never Before‘ oder ,Why the Computer Matters‘. Ganz wie die Fotografie haben wir uns solche Technologien längst schon zu eigen gemacht. Niemand ist, jedenfalls soweit ich sehe, bislang auf die Idee verfallen, analog zu Fried oder Thompson über die Relevanz solcher anderen Medientechnologien halb beschwörend und halb verteidigend nachzudenken. Umso sprechender jedoch sind gerade diese erst jüngst entstandenen theoretischen Annäherungen an Praktiken des fotografischen Zeigens. Denn unter der Hand erinnern sie daran, dass Fotografien zwar einerseits längst schon einen Ort inmitten unseres Alltags bezogen haben,
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dass in den besonderen Kontexten von Wissenschaft und Kunst hingegen die Fotografie für lange Zeit irritierend ortlos, ja unbehaust geblieben ist. Vor diesem Hintergrund liest sich Frieds Buchtitel wie ein Fortschrittsversprechen, bei dessen Siegeszug wir als Zeitgenossen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts als interessierte und vielfach beteiligte Zeugen auftreten können. „Mehr denn je“ – tatsächlich ist Frieds Studie beides zur selben Zeit: Diagnose und Symptom. Zum einen ist sie als eine kunsthistorische Untersuchung zu einigen der am meisten beachteten Fotografinnen und Fotografen aus den zurückliegenden Jahrzehnten ein diagnostischer Beitrag zu Geschichte und Ästhetik künstlerischer Fotografie. Mit prominenten Namen wie Hiroshi Sugimoto oder Thomas Struth, Cindy Sherman oder Luc Delahaye, Thomas Demand oder Douglas Gordon, Jeff Wall oder Andreas Gursky verbindet Fried die Idee, Fotografie in eine große Erzählung der (westlichen) Kunstgeschichte einzuflechten und hierbei insbesondere das fotografische Großtableau in eine Genealogie zu rücken, die sich auf die klassische Form des Gemäldes und dessen Ästhetik zurückführen lässt.4 Doch sind solche Thesen zum anderen ihrerseits bereits symptomatisch für bestimmte Formen des Handelns mit und des Nachdenkens über Fotografie. Kennzeichnen lassen
1: Erik Kessels, 24 HRS in Photos, 2011. Installation im Foam Amsterdam anlässlich der Ausstellung „What’s Next? The Future of the Photography Museum“, 2011.
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sie sich als heteronome Ortsbestimmungen, die das Spezifische einer fotografischen Ästhetik im intermedialen Vergleich und in der Abgrenzung zu anderen (und zumeist älteren) Formen von Bildlichkeit zu fassen suchen. Ohne eigens darauf hinzuweisen, reiht sich Fried mit dem von ihm vor allem bemühten Modell der klassischen Malerei in eine Tradition des Vergleichens ein, die bis an die Anfänge fotografischer Bildproduktion zurückreicht.5
ZWANZIG JAHRE Eine Frage jedoch bleibt in Frieds umfassender Studie auf eigentümliche Weise unterbelichtet. So sehr sich der Kunsthistoriker um eine Bestimmung der Fotografie als herausragender Kunstform in unserer eigenen Gegenwart bemüht, die historischen Voraussetzungen einer solchen Entwicklung, die immerhin mit dem anspruchsvollen Programmwort „mehr denn je“ überschrieben sind, werden auf den mehr als 400 Seiten dieses Buches bestenfalls gestreift. Der Aufstieg künstlerischer Fotografie zu einer viel beachteten, teuer gehandelten und wissenschaftlich intensiv untersuchten Kunstform besitzt eine überraschend kurze Geschichte. Sie ist bislang allenfalls in Umrissen beschrieben worden. Fried selbst verweist in diesem Zusammenhang auf die späten 1970er-Jahre als eine für die jüngere Fotogeschichte entscheidende Phase, belässt es jedoch bei pauschalen Hinweisen.6 In aller Beiläufigkeit wird hier ein in der Tat erstaunlicher Zeitraum der jüngeren Mediengeschichte angesprochen. Denn schon Jahre bevor sich mit dem Einzug digitaler Bildtechnologien seit etwa 1990 die Grundlagen des Fotografischen auf radikale Weise zu ändern begannen und aus diesem Grund für eine gewisse Zeit deutlich vernehmbar vom „Ende des fotografischen Zeitalters“ geraunt wurde,7 hat sich der Blick auf die Fotografie und haben sich mit ihm die institutionellen Bedingungen des Fotografischen auf grundlegende Weise verwandelt. Ohne sogleich von einer Epoche sprechen zu müssen, lassen sich aber dennoch wenigstens versuchsweise die wenigen Jahre zwischen 1970 und 1990 als ein Zeitraum bestimmen, in dem der „Wert der Fotografie“ einer grundlegenden Neubestimmung unterzogen wurde. In diesen, wie wir heute wissen, letzten zwei Jahrzehnten der analogen Technologien des Fotografischen erlebte dieses Medium sowohl quantitativ als auch qualitativ bemerkenswerte Verwandlungen. Es blieb zwei aufmerksamen Beobachtern aus jener Zeit vorbehalten, dieser Phase einer sich zusehends steigernden Aufmerksamkeit für das Fotografische einen ebenso prägnanten wie schönen Namen zu geben: „Photophilia“ überschrieben Ben Lifson und Abigail Solomon-Godeau ein 1981 publiziertes Gespräch, in dem sie Tendenzen innerhalb der von ihnen so benannten „Photography Scene“ diskutierten.8 So wie sich bereits in den 1850er- und 1860er-Jahren, zunächst vor allem in Frankreich, eine folgenreiche Verdichtung des Interesses für die Fotografie beobachten ließ, die Lifson in dem anerkennenden Urteil „it was a terrific ten years“9 summierte, so könnten wir heute für die Zeit um 1980 in ganz ähnlicher Weise urteilen. Die infrage stehende
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Rede von einer „Fotografieszene“ nehmen die beiden Diskutanten hierbei sehr wörtlich. Solomon-Godeau sprach in diesem Zusammenhang kritisch vom Phänomen der „coterie photography“, also wörtlich einer „Cliquenfotografie“: „There is a strict continuity between photographer, photographed, and collector, critic, and dealer.“10 Zu solchen Urteilen gelangen die beiden Kritiker vor allem anhand ihrer Beobachtungen in der New Yorker Künstlerszene der späten 1970er-Jahre. Doch lassen sich die von Solomon-Godeau genannten Akteure im Feld der „Photophilia“ fraglos auch weit darüber hinaus ernst nehmen. Es sind FotografInnen, SammlerInnen, KritikerInnen und nicht zuletzt auch WissenschaftlerInnen, die in den 1970er- und 1980er-Jahren gemeinsam, getrennt von- und zuweilen sogar gegeneinander, an einer folgenreich gewordenen Neubestimmung des Fotografischen arbeiten. Infrage stand hierbei der Ort der Fotografie sogleich in mehrfacher Hinsicht: in ästhetischer, in ökonomischer, in wissenschaftlicher, in sozialer, in musealer, in archivarischer. So wenig es sinnvoll ist, solche mediengeschichtlichen Entwicklungen gegen eine ihnen vorausgehende Zeit auszuspielen, ebenso wenig lassen sich aber zugleich jene äußerlichen Kennzeichen einer ,Fotoszene‘ übersehen, die auf eine neue Form von Aufmerksamkeit gegenüber dem Fotografischen schließen lassen. Das Folgende ist kaum mehr als eine Auswahl von Stichworten. Nicht allein die Formate der fotografischen Bilder vergrößern sich in jener Zeit in auffallender Weise, um zuletzt als riesiges Tableau auf meterhohe Wände auszugreifen. Auch der kunstkritische und wissenschaftliche Diskurs nahm neue (und in gewissem Sinn durchaus großformatigere) Formen an. So erschienen innerhalb einiger weniger Jahre Essays zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, die sich (wenn auch mit unterschiedlicher Berechtigung) bis heute als Referenzwerke behaupten konnten: Susan Sontags On Photography (1977), Wolfgang Kemps FotoEssays (1978), Roland Barthes’ La chambre claire (1980) oder auch Vilém Flussers Für eine Philosophie der Fotografie (1983).11 In dieselbe Zeit fällt zudem der einflussreiche, von Victor Burgin herausgegebene Sammelband Thinking Photography (1982).12 Überdies begannen neue Journale und Zeitschriften zu erscheinen, die der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Fotografie exklusiven Raum gaben – die namhaftesten unter ihnen sind History of Photography (seit 1977), Camera Austria und European Photography (beide seit 1980), Fotogeschichte (seit 1981) sowie die nur kurzlebige französische Zeitschrift Photographies (1983–1986); oder aber Zeitschriften, die Fotografie als einen gleichberechtigten Gegenstand der kunstwissenschaftlichen wie bildhistorischen Arbeit im erweiterten bildmedialen Kontext anerkannten – namhaft sind hierfür die bereits seit 1973 erscheinenden kritischen berichte, die insbesondere in ihren frühen Jahrgängen dem fotohistorischen und -theoretischen Diskurs breiten Raum zuteil werden ließen. Außerdem begann zwei Jahre nach der von Manfred Schneckenburger kuratierten „documenta 6“ von 1977, der sogenannten Medien-documenta, auf der historische wie zeitgenössische Fotografien erstmals einen gleichberechtigten künstlerischen Auftritt erhielten,13 in Bielefeld die unter-
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dessen älteste, noch immer bestehende Reihe von seither (beinahe) jährlich stattfindenden Symposien zur Fotografie.14 Solche Schlaglichter erhellen gewiss kaum mehr als ausschnittsweise die hinter diesen Entwicklungen wirksamen Zusammenhänge. Gewiss bedarf es eines größeren Raumes, um das fraglos komplexe Gefüge aus künstlerischen, kunstsoziologischen, kunstkritischen und kunstwissenschaftlichen Entwicklungen genauer zu entfalten. Die von Lifson und Solomon-Godeau so treffend benannte Szene der „Photophilia“ schloss hierbei die sehr unterschiedlichen Felder von Kunst, Markt, Kritik und Wissenschaft in sich ein. Sie alle trugen dazu bei, dass ein Vierteljahrhundert darauf mit Michael Fried einer der wortmächtigen US-amerikanischen Kunstkritiker und Kunstwissenschaftler sich über den Rang der Fotografie als Kunstform der Gegenwart überaus optimistisch zeigen konnte. Solchen Einschätzungen vorausgesetzt waren jedoch Grundsatzfragen, deren Beantwortung in ganz wesentlicher Weise Anteil hatte an der Etablierung und Strukturierung einer „Photography Scene“, die für sich mehr als den Rang jener „coterie“ beanspruchen kann, von der Solomon-Godeau so kritisch sprach. Aus meiner Sicht waren es vor allem drei Fragen, die sich hierbei stellten: Was lässt sich mit Fotografien zeigen? Wer spricht über Fotografien? Wie lässt sich die Geschichte dieser Bilder erinnern? Wenigstens einige wenige Konturen der hierauf gegebenen Antworten möchte ich im Folgenden skizzieren.15
ZEIGEN Fotografien sind stets mehr gewesen als bloße Wiederholungen einer ihnen vorausgehenden Wirklichkeit. Bereits die ersten Kommentatoren des Fotografischen haben hierauf ebenso sensibel wie präzise reagiert.16 Denn neben der fraglos faszinierenden Kraft zur mimetischen Aneignung des Sichtbaren mithilfe fotografischer Bilder gehörte es bereits zum Standard der frühesten Fotokritik, auf die mit jeder Fotografie einhergehenden Verschiebungen, Differenzen und Brüche aufmerksam zu machen. Hierbei blieb es indes eine Frage der Perspektive, solche Phänomene als Gewinn oder Verlust zu betrachten, als wesentlich zu behandeln oder aber als marginal abzutun. Es gab und gibt noch immer gute Gründe, die infrage stehenden Beziehungen zwischen Fotografie und Wirklichkeit nicht allein als ein theoretisches Grundproblem dieses Bildmediums ernst zu nehmen, sondern die Frage danach, was Fotografie überhaupt ist, anhand ihrer spezifischen Zeigemöglichkeiten fortgesetzt zu überprüfen.17 Die Geschichte abstrakter und konkreter Fotografie ist hierbei in besonderer Weise geeignet, nicht allein spezifische Probleme und Chancen solcher Darstellungsoptionen hervorzutreiben, sondern zugleich auf Konjunkturen des Nachdenkens über Fotografie aufmerksam zu machen. Denn gerade in solchen Erkundungen der vermeintlichen Ränder des Fotografischen berühren sich ein praktisches und ein theoretisches Interesse an diesem Medium.18 Immer dann, wenn nicht bereits geklärt zu sein scheint, was ein fotografisches Bild eigent-
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2: Gottfried Jäger, Lochblenden-Struktur (Multiple Camera Obscura), 1967, Silbergelatine-Abzug, 50 × 50 cm, Auflage: DZ Bank Kunstsammlung, Frankfurt.
lich zu sehen gibt, wenn also der fraglos verführerische Automatismus des Wiedererkennens einer dem Bild äußerlichen Wirklichkeit in ebendiesem Bild aufgehoben ist, kann der Eigenwert fotografischer Sichtbarkeit in besonderer Weise ernst genommen werden. Es sind die Jahre um 1970, in denen auf besonders nachdrückliche Weise über die Prinzipien und Reichweite dieses produktiven Potenzials des Fotografischen nachgedacht worden ist. Experimentalfotografische Praktiken, die während des gesamten 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle für die Entwicklung dieses Bildmediums gespielt haben, wurden in die Richtungen der Informationsästhetik, der Kybernetik und einer apparativ-kalkulatorischen Produktionsästhetik weiterentwickelt. Vor allem die Künstlergruppe um Gottfried Jäger, Kilian Breier, Pierre Cordier und Hein Gravenhorst nahm die Idee einer sich vom mimetischen Regime lossagenden Bildlichkeit ernst und arbeitete unter dem Stichwort der „Generativen Fotografie“ an Werken, die ebendies hervortreiben sollten: das bildgebende, mithin generative Potenzial der fotografischen Prozesse.19 Analog zu den zeitgleich für Malerei, Skulptur und Installation gefundenen Formen der Abstraktion und insbesondere der Konkretion gewinnt in Werken wie Jägers Lochblenden-Bildern (Abb. 2) das Material des Fotografischen prononcierte Präsenz und hierdurch einen gestei-
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gerten ästhetischen Eigenwert. Mit einer solchen Besinnung auf das Material geht eine Reflexion der Verfahren einher. Mit beiden Gesten findet das Nachdenken über die Prinzipien dieses Bildmediums in der Zeit um 1970 einen Ort, der in den fotografischen Bildern selbst aufgesucht werden kann. Der selbst gewählte Name bringt es deutlich genug zum Ausdruck: Mit der „Generativen Fotografie“ der 1970er-Jahre kommen Produktionsverfahren ins Spiel, die nicht allein im Sinn eines Vollzugs angewendet und durchgeführt, sondern vielmehr ihrerseits zum Bildanlass genommen werden sollen. Sichtbarkeit und Reflexion sind die hierbei aufeinander bezogenen zwei Seiten derselben Medaille. Dass gerade das vermeintlich am wenigsten zeigende Bild das sprechendste sein kann, hat in ebendiesem Zusammenhang und zur selben Zeit der italienische Fotograf Ugo Mulas eindrücklich vor Augen gestellt. Die in den Jahren zwischen 1969 und 1972 entstandene Reihe sogenannter Verifiche – am besten vielleicht mit „Eignungsprüfungen“ übersetzt – stellt ähnlich wie die Arbeiten der „Generativen Fotografie“ die Leistungsfähigkeit des Fotografischen auf dem Weg fotografischer Bildproduktion auf die Probe.20 Der Ästhetik konkreter Fotografie am nächsten ist hierbei Mulas’ fünfte Verifica (Abb. 3), die unter dem Titel Die Vergrößerung auf drei nebeneinanderstehenden Tableaus drei verschiedene Konstellationen grauer Bildfelder zeigt. In einer kurzen, von Mulas selbst formulierten Erläuterung findet sich der Hinweis, dass es sich hierbei ganz links um 36 Kleinbildaufnahmen des Himmels handelt, von denen eine im mittleren Bildfeld in großem Format betrachtet werden kann und die wiederum ganz rechts als stark vergrößerter Ausschnitt zu
3: Ugo Mulas, Verifica 5. L’ingrandimento. Il cielo per Nini, 1972, Silbergelatine-Abzug.
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4: Timm Rautert, Sonne und Mond, von einem Negativ, 1972, Bromsilbergelatine, je 20 × 13,4 cm, Original/Vintagesatz (Unikat): Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden.
sehen ist. Das, was all diese fotografischen Bilder eigentlich zeigen, bleibt entweder einer hier wohl eher spekulativen Deutung des Betrachters überlassen, oder aber es muss durch eine schriftliche Erläuterung nähere Klärung finden. Mulas jedenfalls hat gewiss recht, wenn er bemerkt, dass das rechte seiner drei Bildfelder ebenso gut ein Stück Himmel wie eine Granitplatte sein könnte. Tatsächlich aber sehen wir hier wohl zuallererst die Silbersalzkörnung der Filmemulsion. Das von Mulas inszenierte Schaustück betrifft die Prinzipien des fotografischen Zeigens. Nicht zufällig ist es der fotografische Fachbegriff der Auflösung, der in doppelsinniger Weise hier vor die Augen der Betrachter gestellt wird.21 Denn als ein Bild, das stets an die technischen Bedingungen seiner Entstehung gebunden bleibt, trägt es zwangsläufig die Prägung solcher optochemischen Prozesse. Es ist hierbei sprechend genug, dass beinahe zur selben Zeit wie Mulas auch der deutsche Fotograf Timm Rautert sich in seiner zwischen 1968 und 1974 entstandenen Werkgruppe der Bildanalytischen Photographien für ebendiese jedem Bild eingeschriebenen Voraussetzungen interessierte und, weit ausführlicher noch, als Mulas dies tat, auf dem Weg des Fotografierens diese Prinzipien aufzuzeigen versuchte.22 Vom selben Negativ einmal ein Bild der Sonne und sodann eines des Mondes abzuziehen (Abb. 4) heißt, auf ebenso spielerische wie gewitzte Weise den der Fotografie unterschobenen Wahrheitswert ad absurdum zu führen. Gerade die frühen 1970er-Jah-
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re, so jedenfalls will es im Rückblick scheinen, waren eine besonders prominente Zeit für solche systematischen Zergliederungen, in denen die Fotografie als ihr eigener Gegenstand im Mittelpunkt des Interesses stehen konnte.23 Interpretieren lassen sich solche Gesten metamedialer Selbstverständigung als Versuche, das fotografische Bild selbst zum Schauplatz einer Auseinandersetzung über seine medialen Charakteristika ernst zu nehmen. In den Jahren um 1970 erlebten solche Versuche, mit Bildern über Bilder nachzudenken und auf diesem Weg Grundlagen ihrer Funktionsweise zu klären, gerade im Feld des Fotografischen eine bemerkenswerte Konjunktur.24
SPRECHEN „Eine Geschichte der Photographie“, so schrieb Alfred Lichtwark bereits 1900, „wird doch ohnehin einmal ein Kapitel in einer künftigen Kunstgeschichte bilden müssen als Abteilung der zeichnerischen Künste, und wird nicht von heute ab das Material gesammelt, so ist es nicht mehr vorhanden, wenn die immer einen Posttag zu spät aufwachende Wissenschaft sich danach sehnt.“25 Als Direktor der Hamburger Kunsthalle wusste Lichtwark sehr genau, wovon er sprach. Nach gut 60 Jahren Fotografiegeschichte hatte sich dieses Bildmedium zwar auf beträchtliche Weise weiterentwickelt, von einer akademischen Institutionalisierung war die Fotografie jedoch noch weit entfernt. Sieht man von sehr wenigen Ausnahmen ab, waren diese Bilder weder in der universitären Lehre noch im musealen Ausstellungsgeschehen in nennenswertem Umfang präsent. Gerade deshalb ragt Lichtwarks Initiative, seine Kunsthalle für die temporäre Präsentation von Fotografien zu öffnen und sich hierbei nicht zuletzt auch an fotografierende Amateure zu wenden, als eine noch immer bemerkenswerte Pionierleistung heraus.26 Zuletzt jedoch ist ein anderer Aspekt entscheidend, den der Museumsdirektor in seinem kurzen Artikel in der Photographischen Rundschau anspricht. Die Geschichte der Fotografie ist in weitreichendem Sinn eine Geschichte ihrer Materialien: der Bilder, der Apparate und der Schriften. Nicht im Blick hatte Lichtwark bei solchen Bemerkungen jene Fotoinstitutionen, die bereits im Lauf des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren, hierunter zum Beispiel die Société française de photographie in Paris (1854) oder die k. k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien (1888). Für eine öffentliche Benutzung, hierbei insbesondere auch für das fotogeschichtliche Forschungs- und Ausstellungswesen, kamen solche Institutionen indes tatsächlich erst in zweiter Linie in Betracht. Vorderhand waren sie für andere Zwecke eingerichtet worden. Ein systematisches Sammeln jedoch, das im Sinne Lichtwarks die Fotografie als einen Teil der jüngeren Kunstgeschichte ernst nimmt, lag vor allem in den Händen von engagierten Privatiers. Hierher gehören seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, wenn auch jeweils auf sehr unterschiedliche Weise, Namen wie Gabriel Cromer, Erich Stenger, Beaumont Newhall, Helmut und Alison
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Gernsheim oder auch André und Marie-Thérèse Jammes. Mit ebendiesen Namen verbinden sich zugleich die für lange Zeit maßgebenden Schriften zur Fotogeschichte. Insbesondere die historischen Gesamtdarstellungen von Newhall27 und den beiden Gernsheims,28 schließlich aber auch das Kompendium von Stenger29 können hinsichtlich ihres Einflusses in der Fotogeschichtsschreibung kaum überschätzt werden. Zugleich wird hierbei ein für das historische Wissen von der Fotografie zentrales Kontinuum sichtbar: Sammler und Autor waren zwei eng aufeinander bezogene, häufig kaum voneinander zu unterscheidende Rollen innerhalb der fotohistorischen Forschung. Man kann in einer solchen Verdichtung einen Vorläufer jener „coterie photography“ erblicken, von der Abigail Solomon-Godeau mit Blick auf die New Yorker Szene der „Photophilia“ kritisch sprach. Gerade sie ist es auch, die zur selben Zeit mit bemerkenswertem Nachdruck für eine Differenzierung des fotografiehistorischen Feldes argumentierte. In besonderer Weise sprechend ist hierbei ihr zuerst 1983 veröffentlichter Artikel „Calotypomania“,30 den sie als eine Rezension zu schreiben begann, der sich aber zuletzt in eine Generalabrechnung mit den diskursiven Standards der Fotoforschung auswächst. Äußerer Anlass ist die von André Jammes gemeinsam mit Eugenia Parry Janis verantwortete Ausstellung (samt Katalog) „The Art of French Calotype“, die als Kooperation zwischen einem Sammler und einer Kunsthistorikerin angelegt war und sich in wesentlichen Teilen auf gerade eine einzige Privatsammlung stützte – jene von Jammes.31 Zur Debatte stehen bei Solomon-Godeau nicht allein die Interessenkonflikte zwischen Sammler und Kritiker, bei denen sie mit guten Gründen vermutet, dass sie zuungunsten der Kritik ausgehen mögen. Im schlimmsten Fall, so Solomon-Godeau, könnten solche Konflikte gar nicht erst entstehen, da es der überwiegenden Zahl fotokritischer Forschung ohnehin um kaum etwas anderes gehe, als den Geschmack von Sammlern und Händlern von Fotografien zu beglaubigen.32 Dies sind weitreichende Vorwürfe, und sie mögen in manchen Aspekten auch absichtsvoll forciert formuliert worden sein. Doch geben sie zugleich eine Vorstellung davon, in welchem Umfang in den hier betrachteten Jahren zwischen 1970 und 1990 die Professionalisierung einer Beschäftigung mit der Fotogeschichte überhaupt erst ausgehandelt werden musste. Es sind Ortsbestimmungen der Fotokritik, die in diesem Zusammenhang wesentlich werden. Ein noch immer wirksamer Reflex hierauf sind die in dieser Zeit in großer Zahl gegründeten Journale einer sich als eigenes akademisches Feld überhaupt erst konstituierenden Forschung.33 Doch lässt sich die Ortsbestimmung auch ganz wörtlich verstehen. Denn die von Solomon-Godeau exemplarisch formulierte Kritik ist Teil einer Revision, die die institutionellen Voraussetzungen für Sammlung, Ausstellung und Erforschung des Fotografischen betrifft. Insbesondere ist es hierbei das Museum, das in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gelangt – und das sich mit dem Eintritt der Fotografie in diese Institution zwangsläufig verwandeln muss. Vor allem der US-amerikanische Kritiker Douglas Crimp ging bereits früh diesem
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Zusammenhang nach und verband mit der Aufnahme der Fotografie in den musealen Kontext die optimistische Erwartung, die mit dem Museum verbundenen Ideologien überwinden oder auf produktive Weise – so Crimp wörtlich – ruinieren zu können.34 Es ist das Prinzip der produktiven Zerstörung,35 das Crimp hierbei im Sinn gehabt hatte. Vor allem mit dem Namen Beaumont Newhalls verband sich zugleich eine Revision einer bereits existierenden musealen Praxis des Fotografischen. Mit der von ihm begründeten Abteilung für Fotografie im Museum of Modern Art36 hatte sich seit ihren Anfängen in den 1930er-Jahren eine genügend lange Tradition ausgebildet, um ihrerseits ideologiekritisch untersucht werden zu können. In den frühen 1980er-Jahren, so scheint es, war es höchste Zeit, die von Newhall aufgenommene und von seinen beiden Nachfolgern Edward Steichen und John Szarkowski in je sehr eigener Weise fortgeführte Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit und den hiermit verbundenen Einfluss auf die Fotogeschichtsschreibung kritisch zu befragen.37
ERINNERN Tatsächlich kann die Rolle der Museen, und hier insbesondere der Kunstmuseen, für die Ausbildung einer eigenständigen Fotogeschichtsschreibung kaum überschätzt werden. Denn trotz aller notwendigen Kritik an ihrer normierenden Funktion konnte gerade hier die Beschäftigung mit der Bildgeschichte des Fotografischen, mindestens in Ansätzen, institutionelle Voraussetzungen finden. Für die „immer einen Posttag zu spät aufwachende Wissenschaft“, von der Lichtwark im Jahr 1900 spitzzüngig sprach, war die Fotografie hingegen für lange Zeit weitaus mehr Mittel als Zweck. Denn selbst wenn Fotografien bereits im 19. Jahrhundert im Rahmen des akademischen Unterrichts der Kunstgeschichte präsent waren, so waren sie es doch vor allem als ein Instrument in anderer Sache, indes kaum je als Erkenntnisgegenstand eigenen Rechts.38 Daher sind es zunächst vor allem die technischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten, an denen das Interesse für die Geschichte der Fotografie kultiviert wurde und denen sich wertvolle Sammlungen verdanken. Innerhalb des deutschsprachigen Raumes wirkten in diesem Sinn vor allem Hermann Krone in Dresden,39 Josef Maria Eder in Wien40 und, eine Generation später, Erich Stenger in Berlin.41 Erst überraschend spät jedoch wurde auch an einzelnen Kunsthochschulen Fotografie als ein eigenes künstlerisches Fach unterrichtet und hiermit ein Interesse an der Geschichte dieses Mediums verbunden. Vor allem der in Saarbrücken, sodann in Essen unterrichtende Fotograf Otto Steinert legte eine eigene Fotosammlung höchster Qualität an, die heute den Grundstock der fotografischen Bestände des Museum Folkwang in Essen bildet. Außerdem arbeitete Steinert seit den späten 1950er-Jahren an einer Serie von Kabinettausstellungen, die in ebendiesem Haus gezeigt wurden42 und von denen einige – etwa jene zu Hippolyte Bayard43 – als fotohistorische Pionierleistungen bemerkenswert geblieben sind.
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Eine systematische Sichtung und Sicherung der Quellen sowie eine umfassende Auseinandersetzung mit ihnen innerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens war jedoch nicht der wesentliche Zweck solcher Initiativen. In einem nach wie vor lesenswerten Artikel erhob der US-amerikanische Kunsthistoriker und Fotograf Carl Chiarenza im Jahr 1979 für eine „integrative Geschichte der Bildproduktion“ die Stimme und kennzeichnete hierbei die Fotografie als einen Kreuzungspunkt vielfacher Geschichten, Diskurse und Ästhetiken.44 Die in jüngerer Zeit mit großem Nachdruck unternommenen Versuche, die Theorie und Geschichte der Bildmedien im Sinn einer ,Bildwissenschaft‘ neu zu perspektivieren,45 haben gerade hier, in der Auseinandersetzung mit dem Fotografischen, einen wesentlichen Ursprung. Fotografien entziehen sich jeder eindeutigen disziplinären Zuweisung. Sie sind Gegenstand des kunst- wie des technikgeschichtlichen Interesses. Ihre Grundlagen sind sowohl für Physiker wie für Chemiker (und jüngst auch für Informatiker) von Bedeutung. Als Quellen besitzen sie Wert für Historiker wie für Soziologen. Als Instrumente finden sie bereits seit Langem in der Archäologie wie in der Ethnologie Verwendung. Gerade indem Fotografien die tradierten akademischen Ordnungsmuster übersteigen, sind sie in besonderer Weise dazu geeignet, für das von Chiarenza postulierte integrative Verständnis von Bildgeschichte produktiv zu sein. Für die theoretisch gestimmte Grundfrage, was Fotografie eigentlich sei,46 aber auch für das historische Interesse an diesem Bildmedium war und ist eine solche Heterogenität des Gegenstands, seiner Erscheinungsformen wie seiner Funktionen eine Herausforderung. Auf diese zu antworten war jedoch keine Sache der Bildbetrachtung allein. Auf zwei verschiedenen Wegen kommen seit den frühen 1970erJahren auch die Texte in erneuerter Weise ins Spiel. Zum einen gehörte es zum Programm von Verlagshäusern wie der in New York ansässigen Arno Press oder dem K.G. Saur Verlag München, historische und nur noch schwer erreichbare Schriften mit einem Bezug zur Fotogeschichte in Reprints zur Verfügung zu stellen. So bescheiden die drucktechnische Qualität solcher fotomechanisch hergestellten Neuauflagen gewesen sein mochte, so hoch war zugleich ihr Wert für eine erneuerte Lektüre zentraler fotohistorischer Quellen. Hierbei lag der Wert solcher Neueditionen nicht zuletzt in der noch immer staunenswerten Breite des gedruckten Programms, die, was naheliegen mag, schließlich auch in gedruckten Bibliografien mündete.47 Nicht übersehen werden sollte jedoch ein ganz wesentlicher blinder Fleck solcher Kampagnen: Sie erfassten insbesondere die monografisch erschienenen Quellen zur Fotogeschichte. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass ein eigentliches Forum zur Auseinandersetzung mit dem Fotografischen jedoch nicht so sehr die Lehr- und Handbücher sowie erste monografische Versuche einer Ästhetik dieses Mediums waren, sondern vielmehr die in großer Zahl erschienenen Zeitschriften und Jahrbücher. Solche periodischen Publikationen indes wurden von den Reprintverlagen nur in unzureichender Form berücksichtigt. Eine solche zuletzt ins Unüberschaubare weisende, aber dennoch lückenhafte Sicherung relevanter Textquellen forderte einen zweiten Weg der Auseinanderset-
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zung geradezu heraus. Seit den späten 1970er-Jahren vermehrten sich in auffallendem Maß die Versuche, anhand kommentierter Textanthologien die Geschichte der Fotografie besser zu verstehen.48 Der in diesem Zusammenhang, mindestens im deutschsprachigen Raum, gewiss bedeutendste Versuch ist jene Theorie der Fotografie, die Wolfgang Kemp zwischen 1979 und 1983 in drei Bänden herausgab49 und zu der zwei Jahrzehnte darauf schließlich ein von Hubertus von Amelunxen verantworteter vierter Band erschien.50 Fraglos ist der Einfluss von Kemps Pionierleistung noch immer kaum zu ermessen. In den von ihm herausgegebenen drei Bänden, die die Jahre zwischen 1839 und 1980 erfassen, stellte er insgesamt 140 verschiedene, nicht selten gekürzte und stets von ihm kommentierte Texte zusammen, die in Form einzelner Facetten Perspektiven auf eine „Theorie der Fotografie“ eröffnen sollen. (Amelunxen fügte dieser Auswahl im Jahr 2000 noch einmal 35 weitere hinzu, die zuerst zwischen 1980 und 1995 erschienen sind.) Tatsächlich ist das Spektrum der von Kemp ausgewählten Quellen erstaunlich weit und übersteigt zuletzt den titelgebenden Anspruch, in historischer Perspektive zu einer Theorie der Fotografie beizutragen.51 Doch gerade diese Heterogenität vermittelt eine präzise Vorstellung davon, wie weit der Weg ist, der von einer solchen Vielfalt zu nehmen ist, um zu jener „integrative[n] Geschichte der Bildproduktion“ zu gelangen, die Chiarenza gerade in jenem Jahr als systematische Klammer einer Fotogeschichte als akademischer Disziplin postulierte, als Kemps Anthologie-Reihe zu erscheinen begann.
WICHTIGE BILDER Es kann nicht verwundern, dass im Jahr 1989, also genau 150 Jahre nach Veröffentlichung der ersten fotografischen Verfahren, die fotohistorische Publizistik einen bemerkenswerten Höhepunkt erlebte. Insbesondere für die jeweiligen regionalen Anfänge des Fotografischen liegen Kataloge und Studien in kaum zu überschauender Zahl vor.52 In ihrer Breite ergeben sie ein eindrucksvolles Zeugnis von der Reichweite und Geschwindigkeit der Verbreitung eines neuen Bildmediums. Doch sind diese Jahre um 1989 mehr als ein bloß äußerliches, durch den Kalender der Mediengeschichte vorgegebenes Datum. Denn zugleich ist es gerade jene Zeit, in der die hier skizzierte Phase der fotohistorischen Forschung an einen Punkt gelangt war, an dem deutlich wurde, dass neue Formen des Zugriffs auf das Material der Fotogeschichte und, hieran anschließend, neue Modelle historischer Zusammenschau erforderlich werden würden. Keine der seit den mittleren 1980er-Jahren erschienenen Gesamtdarstellungen53 verzichtet daher auf eine Reflexion der Voraussetzungen des fotohistorischen Arbeitens. Es spricht für die erlangte Breite möglicher Zugriffe, dass Antworten auf die Frage, was die Fragen einer Fotogeschichte sein könnten, sehr unterschiedlich ausgefallen sind. Gerade in jener Zeit, da die Verschiebung der medialen Grundlagen von analogen zu digitalen Bildtechnologien eine fundamentale Verwandlung aller Dimensionen fotografischer Praxis
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bedeutete, erlangen Fotografien als ästhetischer wie epistemischer Gegenstand ein vollkommen neues Maß an Autonomie. Womöglich wurde dies nirgends anschaulicher und präziser verdeutlicht als in jener Ausstellung, die bereits mit ihrem Titel eine These formuliert, die keinen Widerspruch zuzulassen scheint: „Wichtige Bilder“.54 In gewissem Sinn ist diese im Sommer des Jahres 1990 im Zürcher Museum für Gestaltung gezeigte Ausstellung der Kulminationspunkt einer etwa zwanzigjährigen Entwicklung. Die hier versammelten sechzehn fotografischen Positionen sind mehr als eine Retrospektive der seinerzeit in der Schweiz aktuellen Fotoproduktion. Zwischen dokumentarischer und inszenierender Fotografie, zwischen Porträt und Landschaft, zwischen Serialität und Einzeltableau, zwischen Klein- und Großformat, zwischen Fotografien an der Wand und solchen im Buch, schließlich zwischen Schwarz-Weiß- und Farbbildern handelt es sich zugleich um eine Zusammenschau jener Möglichkeiten, die im Gebrauch des Fotografischen zur Hand sind.55 Wichtig ist die Fotografie gerade deshalb, da sie sich nicht ohne Weiteres festlegen lässt. Dies betrifft die mit ihr vorausgesetzten Produktionsweisen, die mit ihr verbundenen Praktiken und nicht zuletzt auch das von ihr angestoßene Nachdenken. Ausstellung wie Katalog nehmen die Schweiz hierbei als paradigmatischen Fall einer Entwicklung, die in den frühen 1970er-Jahren einsetzt und in der sich die wachsende Bedeutung des Fotografischen nicht zuletzt auch an der konkreten Verortung dieser Bilder innerhalb institutioneller Gefüge ablesen lässt. Gerade deshalb ist es keinesfalls unwesentlich, dass der Katalog Wichtige Bilder von einer mit „Orte der Fotografie“ überschriebenen Aufschlüsselung beschlossen wird.56 Der von Lifson und Solomon-Godeau geliehene Begriff ,Photophilia‘ kann hierbei einstehen für eine Zeit, in der auf die Frage nach der Bedeutung des Fotografischen Antworten gefunden wurden, die in ihrer Gesamtheit auf Ortsbestimmungen für diese Bilder zielten. Hiermit einher gehen grundlegende Fragen der Institutionalisierung einer Beschäftigung mit Fotografien. Die Zahl der seither gegründeten Kunsthallen, Museen und Archive, die sich exklusiv dem Fotografischen widmen, ist nicht allein ein wichtiger Indikator der Professionalisierung einer solchen Auseinandersetzung. Denn geschaffen sind hiermit zugleich gerade jene Orte, an denen diese Arbeit einen öffentlichen Resonanzraum erhält. Der schöne Ausstellungstitel „Wichtige Bilder“ spricht es, mindestens indirekt, bereits an: Wichtig sind Fotografien nicht bereits deshalb, weil innerhalb einer kleinen Gruppe der ,coterie photography‘ hierüber Einigkeit besteht und ein solcher Rang, einmal beschlossen, auch gelten soll. Wichtig sind sie vielmehr dann, wenn sich ihre Bedeutung fortgesetzt überprüfen, diskutieren und neu bestimmen lässt. Erik Kessels’ Installation 24 HRS in Photos (siehe Abb. 1) zeigt hierbei deutlich genug, dass die Präsenz des Fotografischen längst jenes Maß überschritten hat, mit dem wir noch sinnvollerweise umgehen können. Doch wird dieser Hinweis auf die ohnehin unübersehbare Quantität von Fotografien kaum mehr als ein Ausgangspunkt sein können, um die dahinterstehenden Fragen nach der Qualität dieser Bilder, das heißt nach ihrer tiefer
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liegenden und weiter reichenden Bedeutung, neu aufzuwerfen; um also danach zu fragen, warum Fotografien auch heute noch – oder womöglich sogar mehr denn je? – wichtige Bilder sind.
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Wenigstens ist dies die Behauptung, der die Rhetorik dieser Installation folgt. Tatsächlich wurde wohl mit einem unter diesem Bilderberg verborgenen Gestell gearbeitet, das der visuellen Opulenz nachhelfen sollte. Jerry L. Thompson, Why Photography Matters (Cambridge, MA; London: MIT Press, 2013). Michael Fried, Why Photography Matters as Art as Never Before (New Haven, CT; London: Yale University Press, 2008). Für erste kritische Auseinandersetzungen mit Frieds Thesen, die in Teilen bereits zuvor in Aufsatzform vorlagen, vgl. unter anderem James Elkins, „Critical Response: What Do We Want Photography To Be? A Response to Michael Fried“, in Critical Inquiry 31, Nr. 4 (Sommer 2005), 938–956; Vered Maimon, „Michael Fried’s Modernist Theory of Photography“, in History of Photography 34 (2010), 387–395; Alex Vasudevan, „Photography and Mindedness“, in Oxford Art Journal 33 (2010), 252–257; Diarmuid Costello und Margaret Iversen, „Photography Between Art History and Philosophy“, in Critical Inquiry 38, Nr. 4 (Sommer 2012), 679–693; und schließlich auch eine erste Antwort, die Fried auf seine Kritiker schrieb: „Why Anti-Theatricality Still Matters“, in Texte zur Kunst 19, Nr. 74 (2009), 57–59. Frieds Studie liegt unterdessen auch in deutscher Übersetzung vor: Michael Fried, Warum Photographie als Kunst so bedeutend ist wie nie zuvor, übersetzt von Ursula Wulfekamp und Matthias Wolf (München: Schirmer/ Mosel, 2014). Fried bezieht sich hier insbesondere auf die klassisch gewordenen Thesen von Jean-François Chevrier, „Die Abenteuer der Tableau-Form in der Geschichte der Photographie“, in idem (Hg.), PhotoKunst. Arbeiten aus 150 Jahren. Du XXème
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au XIXème siècle, aller et retour, Ausstellungskatalog, Staatsgalerie Stuttgart (Stuttgart: Edition Cantz, 1989), 9–45; vgl. auch Peter Weibel, „Das fotografische Großbild im Zeitalter der Geschwindigkeit“, in Norbert Bolz und Ulrich Rüffer (Hg.), Das große stille Bild (München: Fink, 1996), 46–73. Für jüngere und jüngste Positionen vgl. Otto Stelzer, Kunst und Photographie. Kontakte, Einflüsse, Wirkungen (München: Piper, 1966); Aaron Scharf, Art and Photography (London: Allen Lane, 1968); Marianne Kesting, Die Diktatur der Photographie. Von der Nachahmung der Kunst bis zu ihrer Überwältigung (München: Piper, 1980); Heinrich Schwarz, Art and Photography. Forerunners and Influences (Layton, UT: Smith, 1985); Ulrich Pohlmann (Hg.), Eine neue Kunst? Eine andere Natur! Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert (München: Schirmer/Mosel, 2004); Martin Engler (Hg.), Malerei in Fotografie. Strategien der Aneignung, Ausstellungskatalog, Städel-Museum, Frankfurt a. M. (Heidelberg; Berlin: Kehrer, 2012); Dominique de Font-Réaulx, Peinture & photographie. Les enjeux d’une rencontre, 1839–1914 (Paris: Flammarion, 2012). Fried, Why Photography Matters as Art as Never Before (siehe Anm. 3), 2 und 335. Fred Ritchin, In Our Own Image. The Coming Revolution in Photography. How Computer Technology Is Changing Our View of the World (New York, NY: Aperture, 1990); William J. Mitchell, The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era (Cambridge, MA; London: MIT Press, 1992); Hubertus von Amelunxen, Stefan Iglhaut und Florian Rötzer (Hg.), Fotografie nach der Fotografie (Dresden; Basel: Verlag der Kunst, 1995); Geoffrey Batchen, „Post-Photography“, in idem, Each Wild Idea. Writing, Photography, History (Cambridge, MA; London: MIT Press,
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2001), 108–127; Fred Ritchin, After Photography (New York, NY; London: W. W. Norton, 2009). Ben Lifson und Abigail Solomon-Godeau, „Photophilia. A Conversation About the Photography Scene“, in October 16 (Frühjahr 1981), 102–118. Ibid., 106. Ibid., 110. Susan Sontag, On Photography (New York: Farrar, Straus and Giroux, 1977); Wolfgang Kemp, Foto-Essays zur Geschichte und Theorie der Fotografie (München: Schirmer/Mosel, 1978); Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie (Paris: Gallimard, 1980); Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie (GöttinGöttingen: European Photography, 1983). Victor Burgin (Hg.), Thinking Photography (Houndmills; London: Macmillan, 1982). Joachim Diederichs et al. (Hg.), Documenta 6, Bd. 2: Fotografie, Film, Video, Ausstellungskatalog, Documenta, Kassel (Kassel: Dierichs, 1977); zu den Hintergründen ausführlicher Harald Kimpel, documenta. Mythos und Wirklichkeit (Köln: DuMont, 1997). Gottfried Jäger, Jörg Boström und Karl Martin Holzhäuser, Gegen die Indifferenz der Fotografie. Die Bielefelder Symposien über Fotografie 1979–1985. Beiträge zur ästhetischen Theorie und Praxis der Fotografie (Düsseldorf: Edition Marzona, 1986); Martin Roman Deppner und Gottfried Jäger (Hg.), Denkprozesse der Fotografie. Die Bielefelder Fotosymposien 1979–2009. Beiträge zur Bildtheorie (Bielefeld: Kerber, 2010); Thomas Abel und Martin Roman Deppner (Hg.), Undisziplinierte Bilder. Fotografie als dialogische Struktur (Bielefeld: Transcript, 2013). Diese Hinweise verstehen sich als Vorbemerkungen. Denn es fällt auf, dass die bislang geschriebenen Geschichten der Fotogeschichtsschreibung sich insbesondere auf die ersten 100 Jahre dieses Mediums konzentrieren, demgegenüber die jüngeren Entwicklungen jedoch weitgehend unbeachtet lassen. Zu älteren Tendenzen der Fotogeschichte vgl. unter anderem Dennis P. Grady, „Philosophy and Photography in the Nine-
teenth Century. A Note on the Matter of Influence“ [1977], in Thomas F. Barrow, Shelley Armitage und William E. Tydeman (Hg.), Reading into Photography. Selected Essays, 1959–1980 (Albuquerque: University of New Mexico Press, 1982), 145–160; Martin Gasser, „Histories of Photography 1839–1939“, in History of Photography 16 (1992), 50–60; Mary Warner Marien, Photography and Its Critics. A Cultural History, 1839–1900 (Cambridge, MA: Cambridge University Press, 1997); Anne McCauley, „Writing Photography’s History Before Newhall“, in History of Photography 21 (1997), 87–101; Miriam Halwani, Geschichte der Fotogeschichte 1839–1939 (Berlin: Reimer, 2012). 16 Siehe hierzu ausführlich die Quellen in Steffen Siegel (Hg.), Neues Licht. Daguerre, Talbot und die Veröffentlichung der Fotografie im Jahr 1839 (München: Fink, 2014). 17 Vgl. hierzu ausführlich James Elkins, What Photography Is (New York, NY: Routledge, 2011); Steffen Siegel, „Was Fotografie ist. Zur Praxis der FotografieTheorie“, in Fotogeschichte 32, Nr. 124 (2012), 90–96. 18 Lyle Rexer, The Edge of Vision. The Rise of Abstraction in Photography (New York, NY: Aperture Foundation, 2009). 19 Vgl. vor allem Gottfried Jäger und Karl Martin Holzhäuser, Generative Fotografie. Theoretische Grundlegung, Kompendium und Beispiele einer fotografischen Bildgestaltung (Ravensburg: Maier, 1975); Gottfried Jäger, Bildgebende Fotografie. Fotografik – Lichtgrafik – Lichtmalerei. Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform (Köln: DuMont, 1988); für eine summierende Rückschau vgl. insbesondere auch Gottfried Jäger, „Generative Fotografie. Versuch einer Einordnung“, in Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung (Köln: von Halem, 2005), 427–442. 20 Vgl. zu Mulas’ Verifiche insbesondere Ugo Mulas, La fotografia, hg. von Paolo Fossati (Turin: Einaudi, 1973), 143–173; Germano Celant, Ugo Mulas, Ausstellungskatalog, Rotonda di via Besana, Mailand (Mailand: Motta, 1989); Steffen Siegel, Belichtungen. Zur fotografischen
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Gegenwart (München: Fink, 2014), 91–107; übergreifend zu Mulas außerdem Elio Grazioli, Ugo Mulas (Mailand; Turin: Mondadori, 2010). Steffen Siegel, „Ich sehe was, was du nicht siehst. Zur Auflösung des Bildes“, in Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 58 (2013), 177–202. Vgl. Herta Wolf, „Deklinationen über die Wirklichkeit der Fotografie – die theoretischen Arbeiten Timm Rauterts aus den Jahren 1968 bis 1974“, in Sandra Ullrichskötter und Herta Wolf (Hg.), Timm Rautert. Bildanalytische Photographie 1968– 1974, Ausstellungskatalog, Kunstsammlungen Chemnitz; Badischer Kunstverein Karlsruhe; Städtische Galerie im Buntentor Bremen (Köln: König, 2000), 72–85; Siegel, Belichtungen (siehe Anm. 20). Vgl. hierzu übergreifend Martina Dobbe, „,Photography Cannot Record Abstract Ideas‘ – oder: Können Fotografien bildanalytisch sein?“, in Fotogeschichte 33, Nr. 129 (2013), 5–16. Vgl. für den Zusammenhang auch Karlheinz Lüdeking, „Vierzehn Beispiele fotografischer Selbstreflexion [2005]“, in idem, Grenzen des Sichtbaren (München: Fink, 2006), 19–38; sowie die Beiträge in Fotogeschichte 33, Nr. 129 (2013). Alfred Lichtwark, „Incunabeln der Bildnisphotographie“, in Photographische Rundschau 14 (1900), 25–30, hier 30. Auch weit über den hier diskutierten Zusammenhang hinaus gehört Lichtwark zu den bemerkenswerten Figuren der Museums- und Ausstellungsgeschichte um 1900. Vgl. hierzu ausführlich Henrike Junge-Gent, Alfred Lichtwark. Zwischen den Zeiten (Berlin; München: Deutscher Kunstverlag, 2012). Dieses noch immer aufgelegte Buch erschien zuerst als Ausstellungskatalog des Museum of Modern Art. Beaumont Newhall (Hg.), Photography 1839–1937, Ausstellungskatalog, Museum of Modern Art, New York (New York, NY: Spiral Press, 1938); vgl. zu Newhalls ebenso einflussreicher wie problematisch gewordener Pionierarbeit Allison Bertrand, „Beaumont Newhall’s ,Photo-
graphy 1839–1937‘. Making History“, in History of Photography 21 (1997), 137–146; Marta Braun, „Beaumont Newhall et l’historiographie de la photographie anglophone“, in Études photographiques 16 (Mai 2005), 19–31; Allan D. Coleman, „Bringing Up Baby: Helmut Gernsheim, Beaumont Newhall, and the Childhood of Photo History“, in Anna Auer und Alistair Crawford (Hg.), Helmut Gernsheim Reconsidered. The Proceedings of the Mannheim Symposium (Passau: Klinger, 2004), 43–51. 28 Helmut Gernsheim und Alison Gernsheim, The History of Photography. From the Earliest Use of the Camera Obscura in the Eleventh Century Up to 1914 (London; New York; Toronto: Oxford University Press, 1955); vgl. zum Zusammenhang von Sammeln und Schreiben bei den Gernsheims auch Alfried Wieczorek und Claude W. Sui (Hg.), Helmut Gernsheim. Pionier der Fotografie (Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz, 2003); Coleman, „Bringing Up Baby“ (siehe Anm. 27); Alfried Wieczorek und Claude W. Sui (Hg.), Die Geburtsstunde der Fotografie. Meilensteine der Gernsheim-Collection, Ausstellungskatalog, Forum Internationale Photographie, Mannheim (Heidelberg: Kehrer, 2012). 29 Erich Stenger, Die Photographie in Kultur und Technik. Ihre Geschichte während hundert Jahren (Leipzig: Seemann, 1938); überarbeitete Neuausgabe unter dem Titel Siegeszug der Photographie in Kultur, Wissenschaft und Technik (Seebruck am Chiemsee: Herring-Verlag, 1950). Vgl. zu Stenger auch Bodo von Dewitz, „,… sich von einer Arbeit durch eine andere erholen …‘. Erich Stenger und ,seine‘ Geschichte der Fotografie“, in Fotogeschichte 17, Nr. 64 (1997), 3–18; Halwani, Geschichte der Fotogeschichte 1839–1939 (siehe Anm. 15). 30 Abigail Solomon-Godeau, „Calotypomania: The Gourmet Guide to NineteenthCentury Photography [1983]“, in idem, Photography At the Dock. Essays on Photographic History, Institutions, and Practices (Minneapolis, MN: University of Minnesota Press, 1991), 4–27.
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André Jammes und Eugenia Parry Janis, The Art of French Calotype. With a Critical Dictionary of Photographers, 1845–1870 (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1983). 32 Vgl. Solomon-Godeau, „Calotypomania: The Gourmet Guide to Nineteenth-Century Photography“ (siehe Anm. 30), 21. 33 Siehe oben. 34 Douglas Crimp, „On the Museum’s Ruins“, in October 13 (Sommer 1980), 41–57. Vgl. auch Crimps hieran anschließende Essaysammlung: On the Museum’s Ruins (Cambridge, MA; London: MIT Press, 1993). 35 Vgl. zu diesem Konzept Horst Bredekamp, Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Bau und Abbau von Bramante bis Bernini (Berlin: Wagenbach, 2000). 36 Siehe hierzu auch seine eigene autobiografische Darstellung. Beaumont Newhall, Focus. Memoirs of a Life in Photography (Boston: Little, Brown, 1993). 37 Christopher Phillips, „The Judgment Seat of Photography“, in October 22 (Herbst 1982), 27–63. Vgl. zu den noch immer wirksamen Folgen auch Ulfert Tschirner, „Historische Photographie und historiographische Reproduktion. Paradoxe Konstellationen der Photogeschichtsschreibung“, in Butis Butis (Hg.), Goofy History. Fehler machen Geschichte (Köln; Weimar; Wien: Böhlau, 2009), 147–167. 38 Helene E. Roberts (Hg.), Art History Through the Camera’s Lens (Amsterdam: Gordon and Breach, 1995); Jens Ruchatz, Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion (München: Fink, 2003); Costanza Caraffa (Hg.), Fotografie als Instrument und Medium der Kunstgeschichte (Berlin; München: Deutscher Kunstverlag, 2009). 39 Wolfgang Hesse und Timm Starl (Hg.), Photographie und Apparatur. Der Photopionier Hermann Krone. Bildkultur und Phototechnik im 19. Jahrhundert (Marburg: Jonas Verlag, 1998). 40 Halwani, Geschichte der Fotogeschichte 1839–1939 (siehe Anm. 15).
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Dewitz, „Erich Stenger und ,seine‘ Geschichte der Fotografie“ (siehe Anm. 29); Halwani, Geschichte der Fotogeschichte 1839–1939 (siehe Anm. 15). Ute Eskildsen (Hg.), Der Fotograf Otto Steinert (Göttingen: Steidl, 1999). Vgl. zum Kontext insbesondere Jörn Glasenapp, Die deutsche Nachkriegsfotografie. Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern (München: Fink, 2008). Otto Steinert und Marlis Steinert (Hg.), Hippolyte Bayard, ein Erfinder der Photographie. Aus der Sammlung der Société Française de Photographie, Ausstellungskatalog, Museum Folkwang Essen (Essen: Museum Folkwang, 1959). Carl Chiarenza, „Notes Toward an Integrated History of Picturemaking“ [1979], in Thomas F. Barrow, Shelley Armitage und William E. Tydeman (Hg.), Reading into Photography. Selected Essays, 1959–1980 (Albuquerque: University of New Mexico Press, 1982), 209–236. Horst Bredekamp, „A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft“, in Critical Inquiry 29 (2003), 418–428. Vgl. Elkins, What Photography Is (siehe Anm. 17). Vgl. exemplarisch Frank Heidtmann, Hans-Joachim Bresemann und Rolf H. Krauss, Die deutsche Photoliteratur 1839– 1978. Theorie – Technik – Bildleistung. Eine systematische Bibliographie der selbständigen deutschsprachigen Photoliteratur (München: Saur, 1980); Frank Heidtmann, Wie das Photo ins Buch kam. Der Weg zum photographisch illustrierten Buch anhand einer bibliographischen Skizze der frühen deutschen Publikationen mit Original-Photographien, Photolithographien, Lichtdrucken, Photogravuren, Autotypien und mit Illustrationen in weiteren photomechanischen Reproduktionsverfahren. Eine Handreichung für Bibliothekare und Antiquare, Buch- und Photohistoriker, Bibliophile und Photographikasammler, Publizisten und Museumsleute (Berlin: A. Spitz, 1984). Vgl. zum Beispiel Alan Trachtenberg (Hg.), Classic Essays on Photography (New Haven, CT: Leete’s Island Books, 1980); Wilfried Wiegand (Hg.), Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu
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einer neuen Kunst (Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1981); Italo Zannier und Paolo Costantini, Cultura fotografica in Italia. Antologia di testi sulla fotografia, 1839–1949 (Mailand: Angeli, 1985); André Rouillé, La photographie en France. Textes & Controverses: une Anthologie 1816–1871 (Paris: Macula, 1989). Ein wichtiger Vorläufer solcher Versuche ist die bereits 1970 erschienene Dissertation von Heinz Buddemeier, die in einem beinahe 200 Seiten starken Anhang wichtige Quellentexte zur Frühzeit des Fotografischen versammelt. Vgl. Heinz Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert. Untersuchungen und Dokumente (München: Fink, 1970), 161–341. 49 Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. 1: 1839–1912 (München: Schirmer/Mosel, 1980); idem, Theorie der Fotografie, Bd. 2: 1912–1945 (München: Schirmer/Mosel, 1979); idem, Theorie der Fotografie, Bd. 3: 1945–1980 (München: Schirmer/Mosel, 1983). 50 Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie, Bd. 4: 1980–1995 (München: Schirmer/Mosel, 2000). Leicht zu greifen sind alle vier Teile zusammen schließlich auch in einer einbändigen Neuausgabe. Wolfgang Kemp und Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie in einem Band, 1839–1995, Neudruck (München: Schirmer/Mosel, 2006). 51 Für einen enger gefassten und daher präziser fokussierten Zugriff vgl. Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie (München: Fink, 2006). 52 Da es tatsächlich unmöglich ist, die Vielzahl solcher Schriften hier nachzuweisen, sei stellvertretend einzig auf die wichtigsten Kataloge hingewiesen. Bodo von Dewitz und Reinhard Matz (Hg.), Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photogra-
phie im deutschen Sprachraum 1839–1860 (Köln; Heidelberg: Agfa Foto-Historama, 1989); Michel Frizot et al. (Hg.), 1839. La photographie révélée, Ausstellungskatalog, Musée de l’Histoire de France, Paris (Paris: Centre National de la Photographie, 1989); Janet E. Buerger, French Daguerreotypes (Chicago; London: University of Chicago Press, 1989); Chevrier (Hg.), Photo-Kunst. Arbeiten aus 150 Jahren (siehe Anm. 4); Thomas Theye (Hg.), Der geraubte Schatten. Die Photographie als ethnographisches Dokument (München: C. J. Bucher, 1989). Für eine umfassende Bibliografie siehe aber auch Siegel (Hg.), Neues Licht (siehe Anm. 16). 53 Naomi Rosenblum, A World History of Photography (New York; London; Paris: Abbeville Press, 1984); Jean-Claude Lemagny und André Rouillé, Histoire de la photographie (Paris: Bordas, 1986); Pierre Bonhomme (Hg.), Les multiples inventions de la photographie (Paris: Association française pour la diffusion du Patrimoine photographique, 1989); Bernd Busch, Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie (München; Wien: Carl Hanser, 1989); Michel Frizot (Hg.), Nouvelle histoire de la photographie (Paris: Bordas, 1994). 54 Urs Stahel und Martin Heller (Hg.), Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz, Ausstellungskatalog, Museum für Gestaltung Zürich (Zürich: Parkett/Der Alltag, 1990). 55 Vgl. hierzu unbedingt auch den Beitrag von Urs Stahel, „Fotografie in der Schweiz“, in Urs Stahel und Martin Heller (Hg.), Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz, Ausstellungskatalog, Museum für Gestaltung Zürich (Zürich: Parkett/Der Alltag, 1990), 147–240. 56 Ibid., 243–245.
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CREDITS/ BILDNACHWEISE
1: © Erik Kessels; 2: Aus Lyle Rexer, The Edge of Vision. The Rise of Abstraction in Photography (New York, NY: Aperture-Foundation, 2009), 159, © Gottfried Jäger / 2014, ProLitteris, Zürich; 3: Aus Hendel Teicher und Walter Binder (Hg.), Ugo Mulas: Fotografo 1928–1973, Ausstellungskatalog, Musée Rath Genf; Kunsthaus Zürich (Genf: Musée d’art et d’histoire, 1984), unpaginiert, © Ugo Mulas Heirs. All rights reserved; 4: Aus Sandra Ullrichskötter und Herta Wolf (Hg.), Timm Rautert: Bildanalytische Photographie 1968–1974, Ausstellungskatalog, Kunstsammlungen Chemnitz; Badischer Kunstverein Karlsruhe; Städtische Galerie im Buntentor Bremen (Köln: König, 2000), 58–59, © Timm Rautert.
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ABIGAIL SOLOMON-GODEAU THE BIG PICTURE: PHOTOGRAPHY, PHOTOGRAPHIC DISCOURSE, AND PHOTOGRAPHIC HISTORY: c. 1970s–1990s
There exist any number of difficulties in hazarding a “big picture” summarizing twenty-odd years of photographic discourses, practices, institutions, markets, and technologies. From the perspective of 2014, and given the pace of technological transformation, even the 1990s can seem a long-bygone era. But however one might want to map this twenty-odd-year period, it is unquestionably the advent of digital imaging that has been the most significant development, altering when not transforming all photographic uses, amateur as well as professional. In this respect, Raymond Williams’s concept of dominant, emerging, and residual formations seems apposite, the dominant currently represented by the digital, the residual incarnated by analog technologies.1 Even so, given that photography is always a heterogeneous and never a discrete entity, within its presumptive empire there are worlds within worlds that do not necessarily communicate with one another. What goes on when the members of the American Association of Press Photographers vote for the single “best” news photograph of the previous year has little or nothing to do with a new monograph on, say, Cindy Sherman; those who make their living photographing food for gourmet magazines do not necessarily rub shoulders with underwater photographers. Those participating in a conference on “selfies” may not be the same kind of scholars convened for one on surrealist photography, and so on. Moreover, if we consider “photography” in relation to something called “image culture,” or something called “social media,” or something called “contemporary art,” not to mention film, video, or other technologies of the image, we are in each case dealing with fields that may or may not have anything in common or much overlap. Consequently, with the exception of the specific technologies employed, even a working division between practices and discourses is complicated to map. These transformations in the medium (and thus the media) have various intersections with institutional, museological, or commercial formations. For example, the wall-sized photographs—literally big pictures—that are now a staple presence in the art world, are themselves enabled by technological developments. This spatial inflation is obviously also fueled by photography’s assimilation into contemporary art tout court, where size undoubtedly matters.2 This has facilitated the transit of
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photographs once defined within particular vernacular or editorial genres (for example, fashion, documentary, war) into art objects, a phenomenon clearly evident by the mid-1970s. On the one hand, this radical mutability of images qua images from instrumental usages to aesthetic objects is merely another aspect of the context-dependent meaning of photographic imagery in general as well as the generation of new markets, both for iPhones and at Sotheby’s. But on the other hand, the recent (post-1990s) transformation of photographs generated in the theater of war or other catastrophes (for example, Luc Delahaye, Richard Mosse, and so forth) into art objects raise serious questions about image ethics and the aestheticization of others’ suffering.3 As for the discursive spaces of photography, by which I refer to criticism and theory, university and art school courses and curricula, history of photography textbooks, monographs on individuals, exhibitions, and related production, the one self-evident observation is that all of these have increased exponentially since the 1970s.4 Nevertheless, although there is no doubt as to a quantitative increase (as one would expect), and greatly expanded geographic coverage, the only territorial boundaries that have been fully breached are those between what was once categorized—or marginalized—as photography (of any and all genres) and the contemporary art world in all its manifestations. How then to frame this twenty-five-year period without reducing it to technological determinism or overemphasizing the role of the art market? By way of this framing enterprise, and taking my cue from two critical reflections relevant to this retrospective summary, I take as one possible point of departure a special issue of the journal October from 1978 devoted to photography. In their prefatory statement, the editors observed that the medium had only recently been institutionalized within the university, museum, and market, and concluded that “Only now, we are instructed, is Photography truly ‘discovered,’ and now it is that we must set to work, establishing an archaeology, uncovering a tradition, constituting an aesthetic. It is to be redeemed, by the scholarship and speculation of our time, from the cultural limbo to which for a century and a half it had been consigned.”5 The irony of their editorial statement was also duly remarked, insofar as its authors, Rosalind Krauss and Annette Michelson, went on to note that their thematic issue was itself a manifestation of this new academic respectability and its increasing fungibility: “This special issue of October is admittedly another symptomatic response to the delayed confrontation with the puzzles and conundrums inscribed within the medium. … As such, it is open to the charge of complicity with the scholarship and speculation which are reconstituting—more surely than anything else—a status for photography as a commodity within the framework of a sector of the market economy, the sector of artistic commerce.”6 I have chosen this statement in this particular journal for several reasons. In at least two recent scholarly reflections on the current state of photographic theory and criticism, essays on the medium in the journal’s pages have been char-
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acterized as “the October moment.”7 By which is denoted perhaps a dozen or so essays that have retrospectively come to be perceived, rightly or wrongly, as a collective critique of those modernist paradigms that served to elevate and legitimize photography for art and as an object of academic/theoretical inquiry.8 Reference to “the October moment” was invoked in the introduction to a 2009 book generated from a Clark Institute conference entitled The Meaning of Photography and then reinvoked in Bettina Gockel’s introduction to her anthology American Photography. There is, however, some reason to question what is actually signified by this designation. Viewed retrospectively, the October editors’ perception of the phenomena they observed was both prescient and, if anything, understated. For who would have imagined in 1978 that one of Cindy Sherman’s photographs, then selling for less than a hundred dollars each (her work was later featured in the journal), would sell at auction in 2011 for nearly four million dollars, or that Andreas Gursky’s Rhein II (the highest-grossing photograph auctioned to date), would sell for even more?9 It is not my intention here (nor my competence) to analyze the delirious speculation, the complex mechanisms, nor even the powerful players constituting the now global art market within which photography is firmly ensconced. But it should be remembered that even in the late 1970s, in the US if not elsewhere, both nineteenth- and twentieth-century photographs were being sold for previously unimaginable prices.10 In this respect, the ascending value of photography on the market from the 1970s on has been one of the consequences of the final collapse of medium specificity as a determination of artistic or monetary value.11 In other words, if market value was once constrained by photography’s mechanical reproducibility or its lesser status within the fine arts, such limitations have been gradually and variously overcome.12 Thus, the first of the many profound shifts that have accompanied this “new discovery” of photography in 1978 is evident in its recent incarnation as simply one among other media that feature in the emporia of modern and contemporary art. This has many ramifications for those institutions—museums or departments of photography within museums, galleries, kunsthalles, and other not-for-profit spaces or publically funded institutions that were established internationally from the 1960s on under the rubric of photography. Such institutions are now confronting (or, more often, failing to confront) what one might call the challenge of photography’s sister arts—video, web-based and installation works employing either of these media in various combinations, as well as the historical legacy of various avant-gardes, from the 1920s on, within which photographic practices were a significant component. Be that as it may, and as I have suggested, whether the late 1970s and ’80s are justly characterized as the “October moment,” is arguable. Similar critiques of the assimilation of photography to art historical paradigms (as well as important historical essays on various aspects of photography) appeared concurrently in Afterimage, Screen Education, Camera Obscura, Block, Parachute, and Wedge, to mention only a
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handful of journals. Critical Inquiry had concurrently published numerous essays on the medium, although from a very different perspective. I would assume as well that comparable critical work was done in German.13 Indeed, over the previous quarter century, and especially in French, German, and other languages, there had been a steady, if not massive production of critical and theoretical texts on photography, from John Berger and Pierre Bourdieu to Vilém Flusser and, of course, Roland Barthes, whose work, like Walter Benjamin’s, remain touchstones in photographic theory. These, however, were produced and circulated for the most part outside of academic institutions consecrated to art or photography history, and had little to do with those various approaches to photography that had become progressively integrated into art history and its various institutions (in tandem with the growing and not unrelated market). Last, much of the theory (psychoanalytic, semiotic, feminist, Brechtian, poststructuralist, postcolonial, etc.) conscripted for critical purposes in photographic discourse had appeared years earlier in British publications, sometimes as texts translated from the French. Victor Burgin’s influential essays on photography did not appear in October, nor did Laura Mulvey’s “Visual Pleasure and Narrative Cinema,” an essay that virtually transformed both cinema and photography studies.14 The point to be emphasized here is that the dissemination of many of the arguments central to postmodernist photography theory and criticism in general, including critiques of modernist formalism, were engendered by and produced in the framework of a more or less politicized body of critical theory. And the primary texts, so to speak (by which I refer to a broad constellation of theoretical and philosophical texts that include Theodor Adorno, Louis Althusser, Roland Barthes, Walter Benjamin, Jean Baudrillard, Guy Debord, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault, Siegfried Kracauer, Jacques Lacan, and so forth), were not generated in or by photography as a discrete subject area. Nor should one underestimate the influence of that form of cultural studies associated with the Birmingham School, and specifically with the work of Stuart Hall, which influenced photography theory, visual studies, and artistic practice. Further, the influence of postcolonial theory and race studies fostered the work of a generation of scholars and critics of color, as well as the work of scholars from formerly colonized nations. However, and in terms of agenda setting, it is arguably Susan Sontag’s book On Photography (1977), the chapters of which were first published in The New York Review of Books as a series of book reviews, that has had the greatest influence on nonacademic, nonspecialized thinking about the instrumentalities of the medium. To broadly overstate the issue, photography as such, from Bazin and Benjamin onward, has been largely the arena of theoretical inquiry; actual practices, individual photographers, and technological accounts constitute a somewhat different discursive terrain. In this respect, the territorial division can be analogized to that between aesthetics in philosophy and those forms of academic art history that deal with objects. Accordingly, histories of photography, be they technological, artistic,
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or generic rarely refer to theoretical paradigms; conversely, writing on photographic theory is rarely concerned with the nuts and bolts of actual practice, except incidentally, monographically, or by way of example.15 It must be acknowledged also that like the primary texts in photography theory and the important post-1970s intellectual formations did not emerge from either photographic or art historical discourse, but were variously assimilated by those working on photography après coup. It remains a fact in both art historical and photography scholarship that scholars quote theorists but theorists do not quote art or photography historians.16 Why would they? And with respect to usage, it is still important to differentiate professional practices (photojournalism, advertising and fashion, paparazzi, editorial, studio and wedding photography, etc.), artistic practices of all stripes and individual, nonprofessional usages (everyone their own photographer, their own visual diarist). But under all the changing conditions of technology, discourse, and practice, the very idea of a presumptive category called “photography” has been long under pressure. For many critics, myself included, there seems little justification to think that photography constitutes a unified field, much less an ontological category. That said, perhaps the most obvious example of the instability of a totalizing notion of the medium has been the consequence of digitalization. Insofar as digital processes have so rapidly replaced analog technologies in all aspects of image production, from those made by cell phones to the most technically sophisticated cameras used in cinema, the epistemological divide between the indexical properties of the analog image and the hybrid, or entirely iconic properties of the digital image has been as momentous a technological event as was the invention of photography itself. The most cursory view of the literature reflecting on the implications of this development clearly demonstrates how the new technical regime of the digital subverts fundamental assumptions and investments in the analog image. The “classic” twentieth-century texts or more recent texts such as those published in the special issue of October were all predicated on the analogical or indexical properties of photography and are thus largely mooted by the nature and instrumentalities of the digital image. In response, analog production has now become an “artisanal” or craft-like mode of production, a stylistic signifier of “pastness” generating nostalgia or deployed for purely graphic effect. I refer not only to movies shot in black-and-white, but the black-and-white format featured in much of contemporary advertising, and still cranked out in art school darkrooms. Nevertheless, with the new conditions of image production based on this technological shift we find ourselves on an altered terrain within which the traditional assumptions and definitions of “the photographic” must now evidently be rethought. All periodizations, especially those employed to organize cultural production (even one as loose as “the 1990s”), can be only the bluntest of analytic instruments. As Williams’s tripartite model suggests, cultural production in any particular time and place, like ideological formations, are subject to mobile and shifting fields and
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forces, to unexpected shifts, to ruptures, intersections, as well as overlaps. The search for the photographic equivalent of a unified field theory, or likewise, for film or video, is surely more elusive than ever, not only because of the [then] emergence of digital technologies and their [now current] dominance, but also because the perpetual proliferation of images globally requires new forms of analysis as well as historical investigation. In this respect, even if one considers the US to have been in the forefront of assimilating photographic theory, practice, and history into academia, arts institutions, and the art market, the fact remains that photography has many other histories. The Scandinavian countries, to take an example at random, have long had a tradition of photographic research, especially within their own national contexts. Much important scholarship on photography, both historical and theoretical, remains untranslated from their original languages, and even fundamental texts such as Siegfried Kracauer’s only received full and accurate translation into English in 1993.17 Photographic archives of all kinds, in all places, remain understudied or even unexamined. But among the more troubling aspects of photographic discourse and exhibition histories then and now (especially evident in Anglophone contexts), is an overpreoccupation with the named, usually male, individual photographer, such that even a glancing look at the bibliography or exhibition history of Walker Evans, Henri Cartier-Bresson, or Robert Frank evokes the most oppressive and fetishistic paradigms of academic art history. But from my own perspective as a feminist scholar, and considering the field in terms of its scholarly production overall, whether theoretically or historically oriented, the most striking lacuna is the apparent absence of feminist theory and criticism. In this respect, we should not confuse the growing number of studies or exhibitions devoted to women photographers with that of feminist inquiry, methodology, and theoretical investigation, although both are necessary. This conspicuous absence (especially in contrast to historical, literary, and cultural studies) might now be understood as a structuring absence. By this, I refer to any number of anthologies of photography theory within which women’s contributions are notably rare, a relative disinterest in the mechanisms by which gendered subjectivities are to a greater or lesser extent shaped by image culture, the complex relations between the individual viewer and image, the coding of photographic images (conscious or not) by which the multiform components of individual and collective identities are produced or confirmed, and hardly least, the presumption of a universal white male subject as viewer if not producer throughout photographic discourse. Indeed, the unremarked but pervasive gendering of photographic discourse itself is notable. (A cursory look at the critical writing about Edward Weston, Robert Mapplethorpe, and the newly discovered Vivian Maier should be sufficient to make this point.) The various forms of subject/object relations, foundational for the construction of individual and collective subjectivity, as well as ideologies of gender, race, and other notions of difference, requires the critical lens of feminist analyses and it is therefore its marginalization that subtly shapes what can be known and what can be said.
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NOTES
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Raymond Williams, Marxism and Literature (Oxford: Oxford University Press, 1977). Williams developed this concept in relation to changing ideological formations, but it seems well adapted to describe technological developments and their transformations of culture. Prior to the 1980s, there were exhibitions in which large-scale, even wall- or mural-scaled photographic images were featured. These range from such exhibitions as those produced by Edward Steichen for New York’s Museum of Modern Art (for example, “Victory at Sea”, “The Bitter Years”, and most famously, “The Family of Man”), as well those produced as artistic statements (for example, Richard Avedon’s mural-sized group portraits made in the late 1960s). There is, as well, a prior history of enlarged photographic imagery used as an element of state propaganda projects from the early twentieth century on. Such issues and controversies (which can be traced back as early as Walter Benjamin’s closing sentences in his wellknown essay “The Work of Art in the Age of Its Technological Reproducibility”) have lost neither their urgency nor relevance, but it seems fair to say that Benjamin could never have imagined such work as Mosse’s, in which the killing fields (and killers) in the Republic of Congo are presented as art objects in glowing hues of fuchsia and magenta. The bibliography around these questions is now very long, but see for example, Georges Didi-Huberman, Images in Spite of All, trans. Shane B. Lillis (Chicago: University of Chicago Press, 2008); Susan Sontag, Regarding the Pain of Others (New York: Farrar, Straus and Giroux, 2003); Mark Reinhardt, Holly Edwards, Erina Dugganne, eds., Beautiful Suffering: Photography and the Traffic in Pain (Williamstown, MA: Williams College Museum of Art, 2007); Geoffrey Batchen, Mick Gidley, Nancy K. Miller, eds., Picturing Atrocity: Photography in Crisis (London: Reaktion Books, 2012).
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This might be nuanced in certain ways; many of the galleries consecrated to photography that emerged in the late 1970s and 1980s in NYC and other metropolitan centers closed their doors (for example, Daniel Wolf, Harry Lunn, etc.) and in some cases, their proprietors became private dealers. Others, like Pace/MacGill or the Fraenkel Gallery, flourished and developed in tandem with the contemporary art market. Moreover, the fortunes of photographic dealers and galleries is obviously linked to rises and falls in economies and stock markets. “Photography: A Special Issue,” October 5 (Summer 1978): 4. Ibid. Initially in the introduction to the anthology The Meaning of Photography, ed. Robin Kelsey and Blake Stimson (Williamstown, MA: Sterling and Francine Clark Art Institute, 2009), and further discussed in Bettina Gockel’s introduction in American Photography: Local and Global Contexts, ed. Bettina Gockel (Berlin: Akademie Verlag, 2012), xxi–xxxiii. These were largely the essays on the subject authored by Douglas Crimp, Rosalind Krauss, Christopher Phillips, Benjamin H. D. Buchloh and (journalistic disclaimer) three of my own. October also published essays on photography translated from the French, such as those by Christian Metz, Hubert Damisch, Georges Didi-Huberman, and others. Hans Danuser’s work from the 1980s until now exemplifies the contradictions of art photographers who have had to reckon with the new terms of production and exhibition, notwithstanding whether they are using analog or digital media. See for example In Vivo: 93 Fotografien, exh. cat., Aargauer Kunsthaus (Baden: Lars Müller, 1989); Hans Danuser – Wildwechsel, exh. cat., Bündner Kunstmuseum Chur (Baden: Lars Müller, 1993); Christoph Kübler, “Grenzverschiebung und Interaktion,” in GeorgesBloch-Jahrbuch 2 (1995): 163–83; Hans Danuser – Delta: Fotoarbeiten 1990–1996,
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exh. cat., Kunsthaus Zürich (Baden: Lars Müller, 1996); Hans Danuser – Frost, exh. cat., Fotomuseum Winterthur (Zurich: Scalo, 2001); Thilo Koenig, “Hans Danuser—Frost,” Kunstforum International 159 (April–May 2002): 416–17. 10 In 1981 a print of Ansel Adams’s Moonrise, Hernandez, New Mexico, sold for $71,500 at auction. 11 Which is not to say that fabricated rarity does not play its part. In keeping with the earlier histories of artistic printmaking, photographic editions (and videos) are numbered and few. Although, I hasten to add, the price of any blue-chip oil painting, be it of historical or contemporary manufacture, will still tend to command the highest prices at auction. 12 See in this respect, Sarah Parsons’s thoughtful and probing review of The Meaning of Photography, “Photography: Theoretical Snapshots, edited by J. J. Long, Andrea Noble, Edward Welch; and The Meaning of Photography, edited by Robin Kelsey and Blake Stimson,” College Art Association Reviews (May 2010), http:// www.caareviews.org. It is interesting to note that the Kelsey and Stimson text employs “meaning” in the singular, rather than plural sense, thus suggesting, at least implicitly, an ontological impulse. In his well-known essay “On the Invention of Photographic Meaning” (1975), Allan Sekula too used the singular term. However, Sekula’s was a semiological and epistemological, not an ontological argument. One of the most important points he made in that essay was that the artisanal, that is, handmade aspects of art photography (gum bichromate, platinum printing, various manipulations of negative or print incarnated in the Photo Secession) or its equivalent in the labor-intensive reproductions featured in Stieglitz’s Camera Work operated to reposition photography within the tradition of the fine arts, repudiating its mechanical reproducibility. 13 See for example the journal kritische berichte and Fotogeschichte. See also, for example, Rolf H. Krauss, Photographie als
Medium. 10 Thesen zur konventionellen und konzeptionellen Photographie (Berlin: A. Nagel, 1979); Klaus Honnef, “Thesen zur Autorenfotografie,” in Symposion zur Fotografie (Graz: Akad. Druck- und Verlagsanstalt, 1979); Marianne Kesting, Die Diktatur der Photographie. Von der Nachahmung der Kunst bis zu ihrer Überwältigung (Munich: Piper, 1980); Wilfried Wiegand, ed., Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst (Frankfurt: S. Fischer, 1981); Gottfried Jäger, Jörg Boström, Karl Martin Holzhäuser, Gegen die Indifferenz der Fotografie. Die Bielefelder Symposien über Fotografie 1979–1985. Beiträge zur ästhetischen Theorie und Praxis der Fotografie (Bielefeld: Fachhochschule, 1986); see also Urs Stahel and Guido Magnaguagno, “Neue Schweizer Photographen,” Du. Zeitschrift für Kunst und Kultur 45, no. 8 (1985): 24–67; Urs Stahel, “Fotografie in der Schweiz,” Der Alltag, no. 1 (1989): 134–88; Urs Stahel and Martin Heller, eds., Wichtige Bilder. Fotografie in der Schweiz, exh. cat., Museum für Gestaltung Zürich (Zurich: Verlag Der Alltag, 1990); Annemarie Hürlimann, “Fragment Fotografie,” in Kunstszene heute, ed. Beat Wyss, Ars Helvetica XII (Disentis: Desertina, 1992), 153–214; Joachim Diederichs et al., eds., documenta 6, vol. 2: Fotografie, Film, Video, exh. cat., documenta, Kassel (Kassel: Dierichs, 1977). 14 In terms of these particular issues, October was not particularly hospitable to feminist criticism until the 1990s, when its editorial board was enlarged. Similarly, Critical Inquiry was inhospitable to (photographic) institutional critique. These “blind spots” are, of course, reflective of the preferences or antipathies of their editors. 15 Obviously there are exceptions, especially for those textbooks intended to introduce students to some of the basic theoretical arguments. 16 One significant exception is to do with Walter Benjamin’s use of the general arguments made by Gisèle Freund in her thesis in La photographie en France au dixneuvième siècle (Paris: La Maison des
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Amis des Livres, 1936), translated and partially integrated into her 1980 book Photography and Society (Boston: David R. Godine, 1980).
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Siegfried Kracauer, “Photography,” trans. Thomas Y. Levin, Critical Inquiry 19, No. 3 (Spring 1993): 421–436.
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ZEITBILD NEW YORK Hans Danuser und Brigitta Nideröst, ADAM AND EVE IN PARADISE, 3-teilig, und THE CIGARETTE AFTER, aus STANCEL FICTION, 1984, 58 Fotografien mittels Color Xerox nach Diapositiv/Analog auf das Format 21 × 29,6 cm oder 29,6 × 21 cm Aufgenommen in Soho und Alphabeth City/Lower East Side in Manhattan, New York 1984.
DANK
Am Zustandekommen dieses Buches haben Viele mitgewirkt, denen wir für ihr Engagement und ihre Anregungen herzlich danken, ohne alle namentlich aufführen zu können. An erster Stelle sei Kaspar M. Fleischmann für seine großzügige Förderung der wissenschaftlichen Projekte, Publikationen und der Nachwuchsförderung der Lehr- und Forschungsstelle für Theorie und Geschichte der Fotografie am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich gedankt. Wichtige Impulse für das Konzept des Buches haben die Beiräte des International Advisory Boards der Schriftenreihe gegeben. Bei Nanni Baltzer, Joachim Sieber und Miriam Volmert bedanken wir uns herzlich für eine ausgezeichnete inhaltliche und redaktionelle Zusammenarbeit, wie auch bei Viviane Ehrensberger und Stefanie Saier für die Transkription der Ateliergespräche. Ein sehr herzlicher Dank gilt auch Petra Florath für die transparente Gestaltung und ebenso den Protagonisten der Künstlerszene der 1980er-Jahre, die freundlicherweise ihre Bildrechte zur Verfügung gestellt haben. Martin Steinbrück sei herzlich für seine Umsicht als Redakteur der Schriftenreihe gedankt. Katja Richter gilt unser Dank für ihre wichtige Koordinationsarbeit bei Abschluss des Buchprojekts. Nicht zuletzt danken wir den Gesprächspartnern und Studenten im Atelier sowie den Autoren für die Diskussionen über den Stand und Status der Fotografie.