Tanz in Bildern: Plurale Konstellationen der Fotografie 9783839464625

Gelagert in Kartons, versammelt in Mappen und Alben, gedruckt oder digitalisiert in Arrangements, Sequenzen und Serien:

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German Pages 304 Year 2022

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Tanz in Bildern: Plurale Konstellationen der Fotografie
 9783839464625

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Publiziert mit Unterstützung der Deutschen Forschungs­gemeinschaft

Bibliografische Information der Deutschen National­bibliothek Die Deutsche National­bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.ddb.de abruf bar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und straf bar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro­ver­f ilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Gestaltung und Satz: Milchhof, Berlin, Carsten Stabenow und Andreas Töpfer, http://milchhof.net Lithografie: buchgut, Berlin | Schrift: Berthold Akzidenz Grotesk, Miller Text Gedruckt auf Munken Lynx 120g / 240g | Druck und Verarbeitung: UAB Overprintas, Vilnius, Litauen Lektorat und Bildrecherche: Estrella Jurado und Daniela Sopala | Übersetzung: Julia Biel Print-ISBN: 978-3-8376-6462-1 | PDF-ISBN: 978-3-8394-6462-5 https://doi.org/10.14361/9783839464625 Buchreihen-ISSN: 2747-3120 | Buchreihen-eISSN: 2747-3139

Isa Wortelkamp (Hg.) Tanz in Bildern Plurale Konstellationen der Fotografie transcript Verlag

TanzScripte hrsg. von Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein Band 66 Print-ISBN 978-3-8376-6462-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6462-5

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Isa Wortelkamp Ein Foto tanzt selten allein. Zur Einführung in plurale Konstellationen der Fotografie

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Choreografien des fotografischen Archivs I. Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

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Choreografien des fotografischen Archivs II. Costanza Caraffa Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

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Helene Herold Bewegung im Bilde bewahren. Tanzfotografie im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin

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Frank-Manuel Peter Der „entfesselte“ Aby Warburg – Tanzfoto-Serien von Erfurth bis Umbo

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Patrick Primavesi Chorisches Tanzen und Bilder in Serie – zur (Foto-)Geschichte der modernen Bewegungschöre

123

Melanie Gruß Sozialistische Tanzbild-Produktion – Umdeutung und Instrumentalisierung von Tanz und Fotografie in der DDR

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Janine Schulze-Fellmann Zigarettenalben – Archive und Bewegungsbühnen des Tanzes Ta n z i n B i l d e r n . Plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

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Katja Schneider Bilder in Büchern. Zu den drei Auflagen von Hans Brandenburgs Der moderne Tanz

189

Lucia Ruprecht Absolutes Substitut: Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und Sebastian Drostes Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase (1923)

207

Eike Wittrock Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

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Gerald Siegmund Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

249

Gabriele Brandstetter Collection der Künste – Tanz und Fotografie am Beispiel von Vera Skoronel und Charlotte Rudolph

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Anna Pawel „Malerische Stellungen durch lebhafte Bewegung verbinden.“ Antikenrezeption als plurale Bildkonstellation zwischen Kunst und Tanz

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Gabriele Klein, Franz Anton Cramer The Source Code. Künstlerische Forschung als Übersetzung von Tanzgeschichte in digitale Bildwelten Isa Wor telkamp (Hg.)

Ein Foto tanzt selten allein. Zur Einführung in plurale Konstellationen der Fotografie Isa Wortelkamp

Ein Stapel von

Als ich Kind war, schenkte mir meine Mutter

Sammelbildern

einen kleinen Stapel von Fotografien mit Tanzmotiven. Damals reizte mich vor allem die Größe der Bilder, die gut in meine Hände

passten, sich in immer wieder andere Reihen, Paaren oder Gruppen anordnen ließen. Auf dem Umschlag dieses Buches sind sie wiederum als Bild zu sehen. Wie zufällig, beinahe wie geworfen, sind sie auf einer Fläche verteilt. Und doch treten die Bilder unwillkürlich in Beziehung zueinander: in der Lineatur der Arme, der entgegengesetzten Rückbeugung der Oberkörper oder der mal hell, mal dunkler ausfallenden Farbgebung der Kostüme. Die weißen Rahmungen und unterschiedlich ausgerichteten Formate der teils verdeckten Bilder strukturieren und rhythmisieren die Ansammlung. Ein Tanz in Bildern. Die Bilder gehören zu einem der sogenannten Zigaretten­ alben, die neben anderen Formen der Sammelbildalben in den 1930er Jahren publiziert wurden. Diese hier, insgesamt sind es dreißig, sind nicht einsortiert, zählen aber zu der Bildersammlung aus dem um 1934 erschienenen Zigarettenalbum Die Tanzbühnen der Welt der Dresdner Tabakfabrik Eckstein-Halpaus. Von goldfarbenen Rändern umrahmt, erscheinen die Bilder dort eingebunden in eine miniaturhafte Galerie, die wir mit unseren Blicken durchwandern und im geräuschvollen Blättern der mit Pergamentpapier getrennten Seiten fortbewegen. In dem bei Ebay erworbenen Exemplar suche ich die mir geschenkten Sammelbilder, vermutlich ein Set, und finde sie mit den dazugehörigen Nummerierungen und Bildtiteln. Gabriele Dalgren etwa, eine auf dem abgebildeten Stapel (s. Umschlag) gut sichtbare Tänzerin im Blumenkleid, gehört, wie auf der Rückseite vermerkt, zur „Nr. 5“ der „Gruppe 1: Die Tanzbühnen Deutschlands“.

Abb. 1 ► Im Album ist ihr Bild gleich auf der ersten Seite in der Mitte der unteren Reihe platziert. Wie die anderen Bilder auch, ist es von zwei goldenen Rändern umrahmt und damit wie eine kleine Kostbarkeit präsentiert. Ebenfalls in goldener Schrift ist links unter dem Rahmen die Zahl „5“ vermerkt und eine Zeile darunter fett der Name der Tänzerin sowie eine Zeile tiefer und etwas kleiner gedruckt die Angabe „Ballettmeisterin am Stadttheater Bremen“. Zu dem Fotografen,

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

S e i t e 1 a u s d e m Z i g a r e t t e n a l b u m D e r k ü n s t l e r i s c h e Ta n z , D r e s d e n : E c k s t e i n - H a l p a u s G m b H c a . 19 3 4 © R o l a n d H o r n .

dessen Nachname „Pietsch“ neben dem vollständigen Namen der Tänzerin in weißer, aber kleinerer Schrift rechts unten auf dem Bild vermerkt ist, gibt es keine weiteren Angaben. Auch die weiteren Bilder meiner Sammlung sind im Album alle an ihrem Platz, eingeordnet in fünf „Gruppen“, in die das Album unterteilt ist: „Die Tanzbühnen Deutschlands“, „Die Tanzbühnen des Auslandes“, „Das Tanzpodium“, „Die Revue- und Varietébühne“ und „Der Tanz auf dem Parkett“. Die Unterteilung und die durch Format und Farbgebung angepasste Ästhetik der Fotografien strukturieren und homogenisieren die Erscheinungsformen des Tanzes, die – an­ ders als durch den sogenannten freien Tanz und den Ausdruckstanz

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Isa Wo r t e l k a m p

vertreten – eher gefällig wirken. Die Namen der Tänzerinnen und Tänzer sind teils weniger bekannt oder nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Vergessenheit geraten. Der Zugang zu den ‚Tanzbühnen der Welt‘ vermittelt sich in den Sammelbildalben über die ‚Welt der Dinge‘, Gebrauchswaren, zu denen neben Zigaretten auch Schokolade, Kaffee oder Wasch­mittel zählen und in denen die Bildbeilagen als Werbemittel kursier­ten. Produziert als Serie zu unterschiedlichsten Themen wie Tiere, Pflanzen, Geschichte, Erfindungen oder auch Kolonien sollen sie zum Kauf der Produkte anreizen. In den Sammelbildalben vor­genommene Kategorisierungen reflektieren ästhetische und gesellschaftspolitische Perspektiven, mit denen auch nationale und kulturelle Ein- und Ausgrenzungen einhergehen. Eine wichtige technische Voraussetzung zur umfangreichen Reproduktion von Sammelbildern war die Chromolithografie, eine Weiterentwicklung der um 1800 eingeführten lithografischen Drucktechnik, die es ermöglicht, eine Vielzahl farbiger Drucke schnell und kostengünstig herzustellen. Etwa zur gleichen Zeit wird im Rahmen der Industrialisierung der Bild- und Papierherstellung auch das Sammelbildalbum zu einem Produkt, das enorme Popularität und massenhafte Verbreitung erfährt. Sammelbilder erscheinen als ‚originale Abzüge‘ oder als gedruckte Wiedergaben, die zur Be­ stückung der dafür vorgesehenen Alben produziert werden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gehen Firmen dazu über, eigene Alben für ihre Sammelbilder herzustellen, die in ihrer Ordnung meist einem Thema folgen und zusätzlich Informationen zu den Abbildungen liefern. Das Sammeln schließt eine mobile und flexible Praxis im Umgang mit den Bildern ein, angefangen beim Kauf des Produkts, der Entnahme aus einer Packung oder Schachtel, dem Betrachten, dem Drehen und Wenden, dem Tauschen oder Aufbewahren, bis hin zum Einkleben und Einheften des Bildes in das Album und seiner Betrachtung. Das Medium gibt den Bildern, die mittels Fotoecken oder Klebung fixiert werden, eine festgelegte Ordnung vor. In einer historischen Perspektivierung dokumentieren sie jedoch auch den Wandel der Wertschätzung, die bestimmten Themen, Personen­ gruppen und einzelnen Personen bzw. Persönlichkeiten entgegen­ gebracht wird. In diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist der Aspekt der Vernetzung, wie ihn Anke Kramer und Annegret Pelz in dem von ihnen herausgegebenen Buch Album. Organisa­ tionsform narrativer Kohärenz hervorheben. Das Album bildet

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

ihnen zufolge „ein künstliches Ensemble von Elementen mit einer zufälligen und situationsbedingten Ordnung.“ Diese spezifische Organisationsform führt unterschiedlichste Gegenstandsbereiche zusammen und „transformiert alles in ein kohärentes ästhetisches System.“ Voraussetzung für die ordnungs- und sinnstiftende BilderPraxis ist die noch leere Fläche des Albums (lat. weiße Farbe, weiße Tafel), in dem die Rahmen der Bilder noch zu füllen sind. Auch die Betrachtung des Albums ist wesentlich durch die materielle und haptische Dimension des Mediums bestimmt. Nicht nur die durch die Leserinnen und Leser zu leistende Fertigstellung bzw. Vervollständigung, sondern auch die in der Lektüre vollzogene Praxis des Bildsehens ist von der strukturellen Organisation und materiellen Beschaffenheit des Albums geleitet. Blatt für Blatt ist ein Wenden der Seiten erforderlich, die in ihrem Aufbau den Blick auf mögliche Leerstellen und damit auf eine Lücke in der Sammlung lenken und dabei gleichzeitig an eine mögliche Geschlossenheit appellieren. Auf diese Weise erzählt das Album als Medium des Sammelns, aber auch der Sichtbarmachung und der Sichtung eine Geschichte in Bildern, die sich zwischen einer geschriebenen und noch zu schreibenden Geschichte entspinnt – eine gesammelte, getauschte und geklebte Geschichte. Warum die Sammelbilder meiner Mutter keinen Eingang in ein Album gefunden haben, ist ungeklärt. Von ihr erfahre ich, dass ihr Vater starker Raucher war und die sogenannten Bilderbeilagen, bei dem Kauf einer Stange Zigaretten (mit-)erwarb und seiner Frau, welche die Kultur des Bildersammelns pflegte, weitergab. Konstellationen von

Die Vielfalt der Bilder, die Möglich­

Tanzfotografien

keiten der An- und Zuordnung, die Beziehungen, die sich durch den spezifischen medialen und materiellen

Kontext der Fotografien ergeben, sowie die in Form und Inhalt an­ gelegte Praxis des Bildsehens: Das Sammelbildalbum steht exem­ plarisch für die plurale Konstellation der Tanzfotografie wie sie in dieser Publikation präsentiert und diskutiert werden. Die Rede von der Pluralität verweist auf ein wesentliches Merkmal der Tanz­ fotografie, die nicht nur in und als Bild, sondern in Konstellationen erscheint, mithin in Bildern, die sich aufeinander beziehen, die neben- und miteinander in Bewegung geraten. Durch das Motiv der Bewegung ist Tanzfotografie dazu prädestiniert, den Plural, welcher

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Isa Wo r t e l k a m p

bereits der Fotografie als Medium der Reproduktion inhärent ist, in Szene zu setzen. Dabei vermag sie sowohl mit ihrem eigenen ‚Abbild‘ – als fotografischer Abzug – als auch mit anderen Bildern in Beziehung zu treten. In Zweier- und Dreierkonstellationen oder seriellen Arrangements treten die Fotografien sowohl bild- als auch bewegungsästhetisch in Beziehung zueinander. Die Aufnahme und der Abzug mehrerer Bilder, deren Auswahl und Anordnung zur weiteren Verwendung und Veröffentlichung dienen, kennzeichnen ein fotografisches Vorgehen, das dem Problem der Darstellung von Bewegung gewidmet ist. Neben jenen Effekten, die eine ein­ zelne Fotografie zu evozieren vermag, akzentuiert das Neben- und Miteinander mehrerer Fotografien thematische oder sequenzielle Konzepte von Bewegung. Zwischen den Fotografien des Tanzes – in der ihnen eigenen ästhetischen Logik und im Kontext ihrer medialen und materiellen Form – und dem fotografierten Tanz – der choreografischen Komposition der einzelnen Bewegungsfiguren – entstehen Relationen, die sich als plurale Effekte der Tanzfotografie in unserer Wahrnehmung des Tanzes ein- und forttragen. Diese Thematik schließt an den 2015 von mir gemeinsam mit Tessa Jahn und Eike Wittrock herausgegebenen Sammelband Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne an, mit dem eine wesentliche Grundlage für einen historiografischen Umgang mit Tanzfotografie als Bild, das einer eigenen medien­ spezifischen ästhetischen Logik folgt, geschaffen wurden. War ein zentrales Anliegen bereits damals, Tanzfotografie in ihren jeweiligen Sammlungs- und Präsentationskontexten und damit als Bild im und als Plural zu verstehen, so werden in den im vorliegenden Band versammelten Beiträgen diese pluralen Konstellationen selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Die Beiträge gehen zurück auf die Videokonferenz gleichen Titels, die ich vom 28. bis 30.1.2021 gemeinsam mit Patrick Primavesi am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig in Kooperation mit dem Tanzarchiv Leipzig e. V. und der Universitätsbibliothek Leipzig veranstaltet habe. Hintergrund der konzeptionellen Ausrichtung bilden die von mir im Rahmen des Heisenberg-Programms der Deutschen Forschungsgesellschaft vorgenommenen Untersuchungen zur Tanzfotografie der Moderne. Die unmittelbare Anbindung des Forschungsprojekts an das Tanzarchiv Leipzig e. V. ermöglichte auch einen wertvollen Zugang zu Dokumenten der Tanzfotografie, die sich insbesondere durch die Diversität der medialen Publikationskontexte auszeichnen.

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

Die Fotografien von Charlotte Rudolph zeigen (Proben-) Szenen aus der Choreografie „Die Seherin“ aus dem Zyklus „Frauentänze“ (1934) von Mary Wigman. In allen drei Fotografien sieht man Gruppierungen von sieben Frauen, die jeweils unterschiedlich positioniert sind. Der Raum, in welchem die Fotografien  entstanden, erinnert an ein Fotostudio. Man könnte daraus schließen, dass die Fotografien einzelne Probenszenen festhalten. Die Reihenfolge der Szenen  bestimmt dadurch die Reihenfolge der Fotografien. Die Tänzerinnen tragen lange Röcke, sowie hoch geschlossene, langärmlige Oberteile und Kopfbedeckungen. Die Kleidung erinnert an die von  Ordensschwestern. Das Licht, was in jeder Fotografie von vorn und von den Seiten auf die Tänzerinnen trifft, verstärkt den satinierten, glänzenden Effekt  der Stoffe. Neben den neutralen Gesichtsausdrücken der Tänzerinnen fallen vor allem die eckigen, beinahe geometrisch wirkenden Posen der Arme und  Hände auf. Die Haltung der Hände in den ersten beiden Fotografien erscheint beinahe kultisch, was zusätzlich durch die Mehrung der Schatten an der  hinteren Wand verstärkt wird. Die Oberkörper stehen unter konstanter Spannung, die Körper wirken, trotz ihrer vermeidlichen Statik, sehr dynamisch und  kraftvoll. In der linken Fotografie stehen die Tänzerinnen leicht versetzt in zwei Reihen (von links nach rechts). In der vorderen Reihe befinden sich vier, in der  hinteren drei Tänzerinnen. Ihr nackten Füße stehen vermutlich breitbeinig, die Arme sind waagerecht zu den Seiten ausgestreckt, die Handinnenflächen  zeigen nach außen, die Hände der Frauen in der hinteren Reihe berühren sich. Eine Ausnahme bildet hier Mary Wigman. Ihre Augen sind geschlossen, ihr  Mund leicht geöffnet. Die Hände hält sie mit der Handinnenseite zu sich vor ihre Brust, ihre Finger berühren sich.

Die zwei Postkarten zeigen Motive aus Choreografien der lettischen Künstlerin Sent M’ahesa. Die unter dem bürgerlichen Namen Else von Carlberg in  Riga geborene Ausdruckstänzerin war zeitgenössischen Künstlern Inspiration für ihre Malerei und Skulpturen. Bis heute gilt die Tänzerin als Ikone des  Expressionismus und ist vor allem für ihre zweidimensional wirkenden Choreografien bekannt. Bei den Fotografien handelt es sich um Aufnahmen der  deutschen Fotografin Wanda von Debschitz-Kunowski, die um 1909 entstanden sind.

In der mittleren Fotografie haben sich die Tänzerinnen V-förmig aufgestellt, das Standbein ist das innere Bein, das Spielbein ist leicht nach vorn aufgesetzt.  Mary Wigman steht im Zentrum. Die Hände aller Tänzerinnen sind angewinkelt über den Kopf gestreckt, die Handinnenflächen zeigen nach vorn zum  Betrachter, die Daumen beider Hände berühren sich.

Die Abbildungen der Serie eint der Körper der Tänzerin als geometrische Rahmung und Struktur. Die Positionierung und Ausrichtung der Gliedmaßen  ergeben klare Linien, die in ihrer Weiterführung die Fläche des Hintergrundes unterteilen und gliedern. Accessoires wie Armreifen betonen die  statischen Posen und verstärken die Linienführung. Von einer präzisen und ausdrucksstarken Formensprache zeugt nicht nur die von geometrischen  Formen und Linien durchzogene Kleidung, sondern auch die jeweilige Ausrichtung des Körpers. Die Haltung der Tänzerin verharrt dabei durchwegs in  absoluten und in sich geschlossenen Posen, die von starken Kontrasten und klaren Grenzen leben. Statt fließender, leichter Bewegungen setzen die  Fotografien auf die Betonung räumlicher Anordnungen sowie eine zentral ausgerichtete Führung des Blickes.

In der rechten Aufnahme haben sich die Tänzerinnen in zwei Reihen zu je drei Frauen leicht versetzt aufgestellt (von rechts vorn nach links hinten). Das  Standbein ist bei allen das rechte, das Spielbein ist erneut nach vorn aufgesetzt. Die Ellenbogen beider Arme sind vom Körper weggestreckt, die linke Hand  tippt an die Stirn, die rechte liegt auf der Brust auf. Mary Wigman steht links etwas außerhalb der restlichen Tänzerinnen. Sie vollführt dieselbe Pose,  erscheint auf der Fotografie allerdings verschwommen. Die Markierungen auf der mittleren und unteren Fotografie verweisen auf Bildausschnitte, welche etwa im Hinblick auf eine Publikation erstellt werden  sollten.

Sent M’ahesas Körper ist auf allen Fotografien zentral ausgerichtet; das Gesicht dabei entweder zur Seite geneigt oder die Augen geschlossen. Der Blick  wird zentral auf die nackte Körpermitte – den unbedeckten Bauch – gelenkt.

                                                                Alexandra Latzel

In der Aufnahme im Querformat ist die Linie des knieabwärts hinter dem Körper auf dem Boden liegenden Beines betont. Die Haltung des linken auf  das Knie gestützten sowie des rechten Armes, welcher das um den Kopf geschlungene Tuch vom Körper wegzieht, ergänzen einander komplementär.  Sie erzeugen gewissermaßen punktsymmetrische Flächen. Der bewegte Stoff erweitert den Körper und erzeugt eine neue Einheit von Körper und  Kleidung. Die Aufnahme im Hochformat zeigt die Tänzerin in aufgerichteter Pose. Dominant sind vor allem diagonale Linien, die sich in dem mit beiden Armen  rechts über dem Kopf gehaltenem Tambourin sowie der Dreieckform des Rockes wiederfinden lassen.                                                                Lina Winter Ein schönes Projekt, in dem  sich Themen der Tagung  wiederspiegeln bw. diese  illustrieren. Kompliment  und danke für die  informativen Kommentare  zu den Bildern! (Claudia  Fleischle-Braun)

Hans Brandenburg, Der moderne Tanz, Georg Müller-Verlag,  München 1917 (2. Ausgabe), 19.

Gut!

Ich empfehle, sich mit den  Buchverlagen auseinander  zu setzen: in welchen  Nachbarschaften ist das  Buch erschienen? Wer war  der Verleger/die  Verlegerin? (Burcu  Dogramaci)

Mary Wigman, Deutsche Tanzkunst, Carl Reiner-Verlag, Dresden 1935, 33-35.

Die folgenden vier Fotografien zeigen die Studien zur Choreografie Totenklage, entwickelt von der Tänzerin Mary Wigman (1886-1973). Auf der Rückseite der historischen Abzüge  ist in Bleistift vermerkt "Cyklus Frauentänze", der Titel der Choreografie, in deren Kontext die Fotografien entstanden sind.  Fotografiert wurden sie 1936 von Charlotte Rudolf. Der Tanz wurde noch im selben Jahr bei der Olympiade in Berlin uraufgeführt. Die Fotografin lebte wie Mary Wigman zu  dieser Zeit in Dresden und war auf Tanzfotografie spezialisiert, bekannt wurde sie, neben den Aufnahmen von Wigman, vor allem für ihre Darstellungen von Sprüngen der  Tänzerin Gret Palucca.    Die vier zu betrachtenden Fotografien zeigen 14 Tänzerinnen, die in einem V angeordnet sind, wobei die Tänzerin in der Mitte für den*die Betrachter*in als Fluchtpunkt fungiert.  Jede hat eine spezifische Pose eingenommen. Alle tragen dunkle, locker sitzende Kleider. Der Raum vermittelt einen Probencharakter. Man erkennt einen hellen Fußboden,  vielleicht Parkett, im Hintergrund eine helle Wand und an der hinteren linken und rechten Bildrückseite jeweils eine Art Belüftung oder Heizung. Man hat den Eindruck es handelt  sich um ein Übungsraum, auch weil die dunklen Belüftungen den fotografischen Stil nicht gerade unterstreichen.  Die Fotografien sind frontal mit ein paar Meter Abstand zu den Tänzerinnen aufgenommen. Sie heben sich durch ihre dunklen Kleider deutlich von Boden und Wand ab, sodass  ein starker Kontrast entsteht. Die Tänzerinnen sind von vorn beleuchtet. An die Wand werden dadurch Schatten geworfen, was mehr Raumtiefe schafft und die Tänzerinnen  illusorisch verdoppelt, wobei die Schatten einen dramatischeren Eindruck der Posen erzeugen. Trotzdem sind diese Schatten nicht besonders fotografisch betont, die echte  Szene steht im Vordergrund. 

Diskussionsbedarf ?

Im Allgemeinen machen die Tänzerinnen auf den Fotografien einen statischen Eindruck. Es gibt zwar zum Beispiel auf der zweiten Fotografie einzelne Tanzpositionen, die mehr  von Bewegung gezeichnet sind oder zumindest den Eindruck erwecken, dass hier Bewegung mit der Kamera eingefangen wurde. Aber ansonsten verharren die Tänzerinnen in  einzelnen Positionen, welche sich auch von Fotografie zu Fotografie recht ähnlich sind. Auch die Anordnungen im Raum unterscheiden sich nicht grundlegend. Nur die zweite  Fotografie grenzt sich etwas deutlicher ab, es gibt einen klaren Mittelpunkt von zwei aneinander geschmiegten Tänzerinnen, die anderen sind links und rechts gruppiert.  Die  Emotionen und Dynamiken, die der Betrachter spüren könnte, bewegen sich zwischen apathischer Trauer und ekstatischer Verzweiflung, je nachdem wie die Posen ausgerichtet  sind. 

Raum für  Gedanken...

Die Fotografien lassen sich eher dem thematischen zuordnen, eine sequentielle Abfolge ist schwer zu bestimmen. Vielleicht könnte man hier von einer Bildgruppierung sprechen,  die auf eine thematische Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gefühl hinweist, das die Szene bestimmen soll oder auf verschiedene choreografische oder anordnende  Ideen für die selbe Erzählung (verweis auf das Wort Studie im Titel).                                                                              Victoria Fielon 

Mary Wigman, Deutsche Tanzkunst, Carl Reiner-Verlag, Dresden 1935, 24-28.

Kommentare,  Anregungen ?

Sehr auffällig ist in diesen Bildern ja auch, wie  ausgeklügelt die Schatten im Hintergrund mitinszeniert  sind: ganz links werden die 7 Tänzerin fast schon  gemetrisch auf zwei symmetrische  Schattenwürfe   reduziert, während die Schatten auf dem mittleren BIld  die  Armbewegungen  der Tänzerinnen fast schon  ornamental vervielfältigen und staffeln. Ebenso  korresponiert das Glänzen der Satinstoffe mit der  leichten Reflexion des Bodens. Dies unterstreicht, so  könnte man sagen, dass diese Bilder «als komponierte  Bilder» (und nicht Dokumente) gedacht waren und als  solche rezipiert werden sollten – etwa auch, um die  Komponiertheit der Tänze zu unterstreichen?

Die Exotisierung der weißen  Frauenkörper ist ein wiederkehrendes  Motiv (Sent M'ahase, Lisa Kresse). Ich  finde es wichtig und spannend genau zu  prüfen, wie sich Ausdruckstanz auf der  Bühne (einfache Kleidung, natürliche  Bewegung etc.) zu der inszenierten  Fotografie in den Studios verhält. An  welchen Abbildungen haben die  Tänzerinnen sich bei der Entwicklung  ihrer Inszenierungen orientiert? Welche  visuelle Kultur hat sie umgeben? (Jo  Ziebritzki)

(Kristina Köhler)

Charlotte Rudolph, Mary Wigman, „Tanz der Seherin" aus Frauentänze (1934), Universitätsbibliothek  Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv, Sammlung Wigman, © VG Bild, NL 374/49.

Sent-Mahesa ist wirklich das beste Beispiel dafür, wie  albern der Moderne Tanz auch war. Die Bilder von ihr  in Brandenburg Moderner Tanz kann man aus heutiger  Perspektive kaum erst nehmen. Nicht nur dass sie  Brown facing betrieben hat (angeblich immer mit einer  Plastikwanne gereist, um die Schminke nachher  abwaschen zu können), sondern auch weil es einfach  völlig gaga aussieht was sie macht. Man kann das mit  Abstraktion und Geometrie zusammendenken, aber es  sieht oft auch nach albernen Faschingskostümen aus.  

Wanda Debschitz-Kunowski, Sent M’ahesa, (ca. 1909), Universität Leipzig, Postkartensammlung des Tanzarchivs, Signatur: NL 403/1.

(Eike Wittrock)

Die drei fotografischen Postkarten wurden vom Arbeiter Turnverlag Leipzig herausgegeben. Die auf den Rückseiten angegebenen Nummern lassen darauf schließen, dass es  sich um eine Serie handelt, die der hier abgebildeten Ordnung folgt. Der Arbeiter Turnverlag gehörte zum 1893 gegründeten Arbeiter-Turnerbund (ATB)1, ab 1919 auch  Arbeiter-Turn und Sportbund (ATSB)2,bis er 1933 von der SA besetzt und verboten wurde, bestand. Auf den Postkarten selbst kann man kein Datum finden, aber den  Zeitraum auf 1919 bis 1933 eingrenzen. Wir haben weder Namen der Tänzerinnen noch eines Fotografen, weswegen man hier auf Vermutungen oder einfacher Beschreibung  der Karten zurückgreifen muss. Unter den unterschiedlichen Bildausschnitten auf weißem Grund der Postkarten sind Titel angegeben, die vermutlich einzelne Bewegungsfiguren bezeichnen. Die Frauen  posieren in hellen hautengen Kostümen auf einem weißen Podest vor schwarzem Hintergrund. Ein Bewegungsvollzug ist den Aufnahmen nicht zu entnehmen, vielmehr  erscheinen einzelne Posen eingenommen, um eine Idee eines Tanzes zu suggerieren.

Charlotte Rudolf, Mary Wigman "Studien zu Totenklage" (1936), Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv, Sammlung  Wigman, © VG Bild, Signatur: NL 374/49.

H6982 15: „Sirenen“ In der ersten Fotografie ruhen die beiden Frauen auf dem mit einem weißen Polster ausgestatteten Podest. Die Obere sitzt erhöht über der Liegenden, mit dem rechten Arm  ein weißes Laken über der Brust haltend, während sie die andere zu der unter ihr Liegenden reicht. Diese hält in ihrer rechten Hand, zum Betrachter gewandt, eine Muschel.  Sie blickt mit einem Lächeln in die Kamera. Wir haben eine typische Motivik für Sirenen die, auf einem Stein sitzend, die Seefahrer verführen sollen, wie wir es in Gemälden  finden könnten, nur weniger nass und steinig. H6983 15: „Der Tango“ Diese Fotografie zeigt eine etwas weniger statische Pose. Beide Frauen stehen zur Kamera gewandt und bilden mit dem äußeren nach oben erhobenen einem Arm einen  Bogen. Der jeweils andere Arm ist auf die Hüfte gestützt, die Köpfe sind nach unten geneigt. Das Gewicht ruht auf dem inneren Bein während das jeweils andere nach hinten  angewinkelt aufgesetzt ist. Der ovale Bildausschnitt der Fotografie unterstreicht den durch die Figuren geformten Bogen. Mit dem Bogen scheint sich auch eine Drehung  beider Damen um die eigene Achse anzudeuten, wie sie im Tango zu finden ist. H6984 15: „Der Tanz“ Diese Fotografie erzeugt die größte Dynamik. Dies liegt an der asymmetrischen Ausrichtung der Körper, deren Gliedmaßen, einander entgegengesetzt positioniert sind. Der  gestützte Körper der rechten Tänzerin bildet damit eine leichte Spirale, welche von der linken Frau gehalten wird. Der Tanz scheint bewegt zu sein, und der drapierte lockere  Zipfel des Tuches der linken Figur suggeriert, dass er mit schwingt. Die Fotografien sind mutmaßlich zum (Werbe-) Zweck der Postkarten entstanden, höchstwahrscheinlich sogar in einer einzigen Aufnahmesituation. Titel, Reihenfolge und  Kostümierung schließen eine sequentielle Serie aus, auch wenn sie am selben Tag entstanden sein könnte, verweisen aber auf einen thematischen Zusammenhang. Dieser  Zusammenhang ersteht durch die einander ähnelnden Motive und die Gestaltung der Bilder, die den Eindruck von antiken Darstellungen von Tänzerinnen und Musen, wie  die Skulptur der Erato, erwecken. 1https://st.museum-digital.de/index.php?t=people&id=9117 2https://web.archive.org/web/20140310134025/http://www.sportmuseum-leipzig.de/Ablage-Zeitung/3-2001/seite-6_A.htm

Felix Metscher

Kommentare? Arbeiter-Turnverlag, Leipzig, Fotograf unbekannt. Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv, Postkartensammlung Signatur: NL 403/14.

Die drei Fotografien, auf denen die Balletttänzerin Anna Pavlova in der Figur des Bacchanal (1900) zu sehen ist, wurden circa  1911 von Hänse Hermann, aufgenommen.  Die Ausschnitte auf der Rückseite der Aufnahmen, auf welchen man einen Stempel und handgeschriebene Worte erkennen  kann, lassen darauf schließen, dass diese für andere Publikationstexte genutzt wurden. Neben möglichen  Buchpublikationen kursierte insbesondere eine Postkartenreihe zur Tänzerin mit Aufnahmen Hermanns. Weder den  Bewegungsmotiven noch den Angaben zu den Fotografien ist eine festgelegte Bildfolge zu entnehmen, sondern wird jeweils  durch das Medium erzeugt, in welchem die plurale Fotokonstellation abgebildet ist.

Ähnlich «frei» und ausgelassen  anmutende Bewegungssequenzen (gen  HImmel gestreckte Arme, geöffneter  Brustkorb, Blumen im Haar) von Anna  Pawlowa sind in dem Film THE DUMD  GIRL OF PORTICI zu sehen, einem  Hollywood-Blockbuster von 1916, in dem  Pawlowa die Hauptrolle spielt. Der Film  wurde kürzlich restauriert und ist ohne  aufwändige Archivrecherchen zugänglich.  (Kristina Köhler)

Digitaler Archivgang –Tanz in Bildern

Im Bildmittelpunkt aller drei Aufnahmen balanciert vor hellem Hintergrund in einem hellen gepunkteten Kleid Anna Pavlova.  Ihr Blick ist direkt in die Kamera gerichtet und zieht die Betrachtenden in ihren Bann, kommuniziert fast schon mit ihnen.  Das Haar ist mit Blumen und Bändern verziert. Auch in ihren Händen hält sie Blumen, die durch die Bewegungen unscharf  abgelichtet sind. Auf dem dunkel gemusterten Teppichboden sind ebenso Blüten verteilt, wodurch es so wirkt, als wären  diese durch ihre Bewegungen zu Boden gefallen.

In Russels Boy  Friend (1971) gibt es  auch eine Szene, die  so ähnlich aussieht,  wo wir schon bei  Filmen sind...  Eike Wittrock

Versucht man die Fotografien in eine Reihenfolge zu bringen, dann könnten die gefallenen Blumen eine zeitliche  Orientierung geben. Im oberen Bild liegt nur eine Blüte auf dem Boden, während in den beiden folgenden mehrere ‚zu Fall  gegangen sind‘. Auch die Pose weicht von den beiden anderen ab. Während sie in diesen das rechte Bein angewinkelt die  Arme vom Körper haltend in der Balance posiert, steht sie hier mit nach hinten weisenden linken Bein auf dem rechten,  Oberkörper weit zurückgelehnt. Den rechten Arm in Richtung Decke gestreckt, Blumen haltend, lächelt Anna Pavlova fast  schon kopfüber in die Kamera. Durch den Wechsel des Stand- und Spielbeines verstärkt sich der Eindruck einer  tänzerischen Bewegung.                                                   Marie Wohlfarth

die Bilder  laufen dem  üblichen/meinem  Bildgedächtnis entgegen -  Freier künstlerischer Tanz  meets Klassisches  Ballett...spannende  Seeerfahrung

Seminarprojekt "Serielle Prinzipien der Tanzfotografie"

Hänse Hermann, Anna Pavlova, Bacchanal (ca. 1911),  Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv, NL 374/69.

Haben Sie mal versucht, rauszufinden,  was geschrieben steht?  Mich würde   schon interessieren, mit welcher  Botschaft eine solche Salomé-Postkarte  nach Weimar geschickt wurde. (Leider  habe ich es verlernt, Sütterlin zu  entziffern.) Das wäre mit Blick auf die  Nutzung und Zirkulation von TanzPostkarten interessant, aber auch  hinsichtlich der Frage, ob es hier eine  Text-Bild-Relation gibt. (Kristina Köhler)

Liebes Fräulein Ortrud! Schon lange  wollte ich Ihnen einen derartigen  Kartengruß (?) senden. Wie geht es Ihnen  allen? Kommen Sie auch zur hölle (?)?  Hier gibt es wieder viel Arbeit, wie wäre  es, wenn Sie auch mal nach Berlin kämen  u. zur D(?) gingen? Viele herzliche Grüße  Ihre Gertrud Martin. d. J. III. 08.

Gerlach, Maud Allan, The Vision of Salome (1908), Bromsilberpapier, 13,5  x 8,5 cm, Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv,  Postkartensammlung, Signatur: NL 403/1.

(Angela Deußen)

Bei den beiden Postkarten handelt es sich um Aufnahmen des Fotografen Gerlach der kanadisch-amerikanischen Tänzerin Maud Allan in ihrem Kostüm der Salomé. Außer  den vorliegenden Postkarten kursieren noch weitere, was sich auch dem Stempel auf der Vorderseite mit den Seriennummern 505/2 und 505/6 entnehmen lässt. Im  unteren linken Bildrand steht in weißer Schrift der Name der Tänzerin. Auffallend ist das mit Perlen und Glitzersteinen übersähte Kostüm, das in beiden Fotografien leuchtend in Szene gesetzt ist. Allan trägt ein horizontal um den Kopf  kreisendes Perlenband, welches an den Ohren in zwei dicke Perlenschlaufen fällt. Das Oberteil erinnert an ein mit Perlen, Steinen besetztes Bustier, welches durch  Perlenstränge locker weiter über ihren Oberkörper gesponnen ist. Auf ihren Hüften treffen die Perlenstränge auf einen Gürtel mit hellen Steinen, welcher in einen  bodenlangen Organzarock mündet. Gesäumt wird dieser mit einer glitzernden Bordüre. Die Tänzerin ist barfuß.

Anmerkungen,  Ideen ?

Auf beiden Postkarten erstreckt sich im Hintergrund ein Zimmer, welches durch die Ausschmückung wie eine Kulisse einer arabisch-konnotierten Tanzdarbietung wirkt.  Man kann Tongefäße hinter und einen Teppich unter ihren Füßen erkennen. Zudem sind ein Bett und ein Vorhang angedeutet. Dieser Blickwinkel wirkt sehr intim und  vertraut, als wäre man in das Zuhause einer Person vorgedrungen. Auf der Fotografie 505/2, hier links abgebildet, ist der Körper der Tänzerin zum linken Bildrand ausgerichtet. Ihr Gewicht ruht auf ihrem rechten Fuß, der linke ist wie in  einer Schrittbewegung leicht hinter ihr auf den Zehenspitzen aufgestellt, wobei ihre Hüfte vorgebeugt ist. Ihren linken Arm streckt sie zu ihrer linken Hüfte nach unten,  wobei sie ihre Handfläche nach hinten aufdreht und damit ihren Oberarm und ihre Schulter eindreht. Der rechte Arm ist über ihren Kopf, sozusagen gespiegelt,  ausgestreckt. Ihre Handfläche zeigt zur Decke, ihre Schulter und ihr Oberarm sind aufgedreht und ihr Blick folgt dem rechten Handrücken. Die Bewegung wirkt aufgrund  der ausladenden Armbewegung dynamisch und kraftvoll. Dazu kommt noch die Öffnung ihres Oberkörpers. Sie streckt ihren Körper weit nach oben, was Stärke und  Bereitschaft erweckt. Ihr Tanz wirkt lebhaft, extrovertiert und präsent. Auf den anderen vorliegenden Fotografie 505/6, hier auf der rechten Seite, bleibt Maud Allans Beinstellung gleich zum anderen Bild, lediglich ihre Arme haben die Position  geändert. Ihre Arme streckt sie parallel vor ihren Körper und hält ihre Hände, Handflächen nach vorne, abwehrend vor ihren Körper. Ihre Bewegung wirkt stagnierend  aber aufgrund ihrer Beinstellung doch nicht komplett unbewegt. Ihre Bewegung wirkt zart und verträumt. Als würde sie durch ihr Zimmer schreiten und tanzend träumen.                                                                        Antonia Weber

Als Anregung für die  Zukunft: Vielleicht hätten  die  Tagungsteilnehmer*innen  mit konkreteren Fragen zu  mehr "Input" verleitet  werden können... Frank-Manuel Peter 1.2.21

Kommentieren  erwünscht!

Warum  wurde der  Verein 2010  aufgelöst?

Die drei vorliegenden Fotografien von Ernst Schneider zeigen die Balletttänzerin Anna Pavlova in der Figur der Libelle. Auf der Rückseite befinden sich Markierungen  zum Ausschnitt, die auf eine mögliche Verwendung als Postkarte schließen lassen, wie zu allen drei Aufnahme existieren.

Walter Schulze, Johanna Eilert, Isadora Duncan-Schule (1906),  Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv, Signatur: NL 403/1.

Die Fotografien erzeugen vor allem durch den tiefen Aufnahmestandpunkt der Kamera eine Art Zuschauer*innenperspektive, die an eine Bühnensituation erinnert. Als  Dreierkonstellation sind die Fotografien in einen thematischen Zusammenhang zu bringen, da man das Motiv und die Situation der Aufnahme übereinstimmen. Im  Hintergrund sind in allen Fotografien eine im Nebel versinkenden Vegetation zu sehen. Alle Aufnahmen wirken diffus wolkig und erzeugen mitsamt der angedeuteten  Fauna ein feenartiges und märchenhaftes Bild. Die auf der Rückseite vermerkten Angaben lassen jedoch keine Aussage über die Reihenfolge zu.

Ernst Schneider, Anna Pavlova, o. J., Bromsilberpapier, 18 x 24 cm, Universitätsbibliothek  Leipzig, Sondersammlung – Tanzarchiv, Sammlung Mary Wigman; Signatur: NL 374/69 Weil es keine neuen Mitglieder  mehr gab. Die alten verstarben,  neue Interessenten wollten nicht  mehr fördern, sondern wissen,  was sie als Mitglied gratis oder  ermässigt bekommen, wenn sie  beitreten. Deswegen wurde  daraus die Duncan Tanz Stiftung  und der Verein aufgelöst. FrankManuel Peter

Hugo Erfurth, Lisa Kresse, Postkarte,  Universitätsbibliothek Leipzig, Sondersammlung –  Tanzarchiv, Postkartensammlung, Signatur: NL 403/1.

In der hier dargestellten Abfolge ist der Körper der Tänzerin auf dem linken Bild zunächst zum rechten Bildrand ausgerichtet. Sie kniet auf ihrer linken Seite und streckt  ihr rechtes Bein nach bildlinks weg. Oberkörper und Arme zeigen ebenfalls zum rechten Bildrand, nur ihr Blick ist zurückgewandt. Sie trägt Spitzenschuhe, ein wallendes  lockeres Kleid mit Glitzersteinen besetzt und zwei Paar schimmernde Libellenflügel. Auf dem mittleren Bild ist der Körper zum linken Bildrand ausgerichtet. Die Tänzerin sie sitzt auf ihrer rechten Ferse, linkes Bein zum rechten Bildrand weg gestreckt  und sie zieht mit beiden Armen/Handgelenken jeweils einen der zwei Libellenflügel zart Richtung Boden. Auf dem Bild ganz rechts der vorgestellten Bildkonstellation  steht Pavlova auf den linken Zehenspitzen, hat ihre Oberkörper zur rechten Bildseite gedreht und streckt ihr rechtes Bein zum linken Bildrand hin. Ihre Hüfte ist zur  Seite aufgedreht und sie hält den rechten Arm gestreckt über ihren Kopf. Die rechten Fingerspitzen sind über dem Kopf abgeknickt. Ihre linke Hand hält die vor dem  Oberkörper gebeugt. Ihr Blick folgt den rechten Fingerspitzen. Die vorliegenden Fotografien wirken durch die Begebenheit der Kulisse und der abgetrennten Posen sehr pittoresk. Es sind Standbilder, die keine Bewegung, sondern  einen Moment festhalten. Die Umrisse der Tänzerin wirken weichgezeichnet und die einzige scharf gestellte Stelle ihres Körpers liegt auf ihren Spitzenschuhen. Die  Kombination der weich erscheinenden Umrisse und die Unbeschwertheit in ihren Bewegungen lassen sie leicht und unbeschwert wirken. Sowohl ihr leichtes Kostüm als  auch die Flügel unterstreichen diesen Eindruck. Die zauberwaldähnliche ebenfalls weichgezeichnete Kulisse rundet das entstandene Bild einer nebulösen Märchenwelt  zudem ab.                                                                       Antonia Weber

Ich bin sehr  interessiert.

Die nachfolgenden zwei Aufnahmen stammen aus dem Besitz "Verein zur Unterstützung und Erhaltung der Tanzschule v. Isadora Duncan, Grunewald 1906". Der bis 2010 bestehende und bis dato älteste Verein zur Förderung des künstlerischen Tanzes in Deutschland, wurde im Februar 1906 von Elizabeth Duncan unter  dem Namen "Verein zur Unterstützung und Erhaltung der Tanzschule von Isadora Duncan e.V.," gegründet und zu den Förderern zählten u. a. der Komponist  Engelbert Humperdinck und der Schriftsteller Ernst von Wildenbruch. In mehreren Städten entstanden Zweigstellen, z. B. in Leipzig, Dresden und Den Haag. Die fotografischen Reproduktionen sind im Format von 10 x 15 cm und von einem abgerundeten Prägerand umrahmt auf hellem Karton abgedruckt. Auf der oberen  Abbildung steht unten rechts der Vermerk: Eig.: Verein z. Unterstg. u. Erhaltg. d. Tanzschule v. Isadora Duncan, Grunewald 1906; unten links Aufn. von Johanna Eilert,  womit vermutlich die fotografierte Tänzerin gemeint ist, während auf der unteren Abbildung an gleicher Stelle Walter Schulz-Friedenau, der Name und Ort des  Fotografen zu finden sind.

Die fotografischen Postkarten von Hugo Erfurth zeigen die Tänzerin Lisa Kresse. Wie den Rückseiten zu entnehmen, wurden die Postkarten vom Verlag J. Windhager,  München herausgegeben und enthalten die Seriennummer 351 und 352. Außerdem ist auf der Rückseite des Exemplars mit der Nummer 352 die mit Bleistift geschriebene  Notiz zu lesen: „gesehen April 1919 – gut aber kalt“, was auf den Besuch des/der Besitzer*in der Aufführung schließen lässt.

Das Motiv ist ein Mädchen, vermutlich eine Schülerin, die barfuß über die Wiese läuft. Sie trägt ein dünnes, helles, sommerliches Kleid mit kurzen Ärmeln, was nicht  ganz die Knie bedeckt. Auf der oberen Aufnahme ist ihr Blick direkt in die Kamera gerichtet, auf der zweiten Aufnahme gibt sie sich, vom Fotografen abgewandt,  scheinbar ganz der Bewegung hin. Durch ihr lockeres Kleid wirken die Bewegungen fließender und die Drehung, mit der damit verbundenen Dynamik, auf dem  unteren Bild, ist förmlich zu spüren. Ihre schulterlangen Haare trägt sie offen, was ebenfalls den Tanzbewegungen mehr Tiefe und Ausdruck verleiht.

Frank Thiess, Der Tanz als Kunstwerk, DelphinVerlag München, 1923 (2. Auflage), 84.

Die Fotografien sind im Vereinsprospekt der Tanzschule von Isadora Duncan (1906) abgedruckt. (Vgl. https://www.sk-kultur.de/tanz/duncan/bilder/vereinsprospekt.pdf)                                                                       Sophia Didoff

Beide Fotografien scheinen am selben Tag aufgenommen, da die Bildkonstellation im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Boden und der Wand (auch mit dem  scheinbar mit Kreide aufgezeichneten Kreis auf dem Boden) und die Belichtung bzw. das Spiel mit Licht und Schatten konstant bleiben. Auf der Postkarte mit der Nummer 351 trägt die Tänzerin einen mit Muscheln bestickten Rock und ein dazu passendes Bustier. An ihren Handgelenken befinden sich jeweils  Stoffbänder. Außerdem trägt sie Oberarm-, und Fußmanschetten und einen Hals-, Ohr- und Kopfschmuck. Ihr rechtes Bein ist über das linke gekreuzt, der Oberkörper leicht  nach hinten geneigt, der Blick entlang des nach links gestreckten Arm gerichtet, an dessen Handgelenk ein Stoffband herabhängt, das noch nachzuschwingen scheint. Der  rechte Arm ist über dem Kopf erhoben. Die Unschärfe des am Arm befestigten Stoffbandes lässt vermuten, dass sie den linken Arm nach oben bewegt hat. Die gesamte  Pose vermittelt einen luftigen Eindruck – als wäre die Tänzerin zum Abflug bereit. Das Motiv der Postkarte mit der Nummer 352 ist geprägt von dem transparenten sich im Raum entfaltendem Gewand, dessen Schal sich diagonal von rechts oben zum Fuß  der Tänzerin spannt. Helle Lichtreflexe gehen von dem Perlenschmuck und den floral-anmutende Stickereien aus. An den Handflächen sind Blüten befestigt, die noch einen  weiteren Körperschmuck bilden. Auch in dieser Pose ist das rechte über das linke Bein gekreuzt. Den Kopf nach links gerichtet, den Blick leicht zum Boden gesenkt, hält die  Tänzerin die Arme weit geöffnet nach oben. Die Bewegung scheint sich aus einer Drehung zu entwickeln und zeugt von einer Leichtigkeit, welche die Tänzerin beinahe  schwebend erscheinen lässt.                                                                     Lauren-Bastin Breuninger

S c r e e n s h o t d e s O n l i n e -W h i t e b o a r d s M i r o m i t d i g i t a l i s i e r t e n D o k u m e n t e n a u s d e n B e s t ä n d e n d e s Ta n z a r c h i v s L e i p z i g / S o n d e r s a m m l u n g e n d e r U n i v e r s i t ä t s b i b l i o t h e k L e i p z i g , erstellt von Studierenden des Leipziger Instituts für Theater wissenschaf t © Daniela Sopala .

Abb. 2 ▲ Sie sind Teil der Bestände des 1957 von Kurt Petermann gegründeten Tanzarchivs, die 2011 in die Sondersammlung der Universitäts­ bibliothek Leipzig eingegliedert wurde. Konnte die Sichtung der fotografischen Dokumente in Vorbereitung auf die Videokonferenz noch an den Tischen des Forschungslesesaals der Universitäts­ bibliothek Leipzig durchgeführt werden, so war der Zugang aufgrund der pandemiebedingten Umstände der Veranstaltung im Format einer Online-Videokonferenz ein digital vermittelter. Auf einem von Studierenden des Leipziger Instituts für Theaterwissen­ schaft eigens bereit gestellten Online-Whiteboard erhielten alle Gäste und Beitragenden der Videokonferenz die Möglichkeit, einzelne Digitalisate aus dem Archiv zu betrachten, Informationen zu den Dokumenten zu erhalten und diese selbst zu kommentieren.

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Isa Wo r t e l k a m p

Gezeigt wurde eine Auswahl aus dem tanzfotografischen Bestand des Leipziger Tanzarchivs. Dazu zählten Postkarten mit Motiven zum Tanz von Sent M’ahesa (ca. 1909), fotografiert von Wanda Debschitz-Kunowski, von Maud Allen (1908), fotografiert von Georg Gerlach oder von Lisa Kresse (ca. 1919), fotografiert von Hugo Erfurth. Außerdem waren zu sehen fotografische Papierabzüge mit Motiven zum Tanz der Anna Pavlova Bacchanal (ca.  1911), fotografiert von Hermann Hänse und Libelle (1920), fotografiert von Ernst Schneider sowie von (Proben-)Szenen aus dem Tanz der Seherin aus der Reihe Frauentänze (1934) oder Studien zur Totenklage (1936) von Mary Wigman, fotografiert von Charlotte Rudolph. Gegenübergestellt wurden diesen Formaten fotografische Reproduktionen aus Buchpublikationen, die in ihrer medialen Differenz zu den fotografischen Abzügen und Postkarten sichtbar wurden. Für die Veröffentlichungen als Postkarte oder Abbildung in einem Buch vorgenommene Markierungen von Bildausschnitten und Nummerierungen zu Reihenfolgen konnten durch die ebenfalls abgebildeten Rückseiten der Dokumente nachvollzogen werden. Neben diesen editorischen Prozessen verwiesen die Stempel der Ateliers, Signaturen in unterschiedlichen Handschriften und mit unterschiedlichen Schreibutensilien und Farben sowie Durch­ streichungen und Klebespuren, auf die Geschichte(n) und ihre Akteure hinter den Bildern. Der Besuch der auf dem Online-Whiteboard bereitgestellten Dokumente war dergestalt organisiert, dass sich alle Teilnehmenden gleichzeitig auf der Seite bewegen konnten. Informationen zu den fotografischen Dokumenten wurden über die Nutzung von Kommentarfunktionen ergänzt und erweitert. Auf diese Weise wurde die Wahrnehmung der Bilder als eine geteilte und das Wissen über sie als ein viel- und mehrstimmiges und in sich bewegliches lesbar.

Abb. 3 ► Die gewählte Form dieser Präsentation steht exemplarisch für eine plurale Konstellation von Fotografien des Tanzes, die in der Diversität und Heterogenität des Materials eine Ref lexion von Divergenzen, Korrespondenzen und Relationen zwischen den Bildern und ihren Bewegungen ermöglicht. Mit den Möglichkeiten digitalisierter historischer Fotografie wurde nicht nur ein für die Arbeit der Archive wesentlicher Bereich sichtbar, sondern auch der

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

Screenshot des O nline -W hiteboards M iro mit angezeigten B esucherinnen u n d B e s u c h e r n d e r B e s t ä n d e d e s Ta n z a r c h i v s L e i p z i g / S o n d e r s a m m l u n g e n der Universitätsbibliothek Leipzig, erstellt von Studierenden des Leipziger Instituts für Theater wissenschaf t © Daniela Sopala .

mit dieser Sichtbarkeit einhergehende Plural der Bilder auf­gerufen. Die Recherche im Internet ist zu einem festen Bestandteil der Tanzforschung geworden: das Suchen und Finden, aber auch das Sich-Verlieren in algorithmischen Ordnungen, in der unterschiedlichste Bilder in voneinander abweichenden Formaten und Farbig­ keiten, Ausschnitten und Auflösungen miteinander kombiniert werden (können). Tanzfotografie –

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dient die

ein historischer

Tanzfotografie den Tänzerinnen und Tänzern

Abriss

in Form von Fotopostkarten oder Bilder­serien auch zur Werbung für die eigene Tanzkunst;

auf der anderen Seite avanciert sie zum gewinnbringenden Geschäft der Ateliers und Verlage. Das serielle Format ist dabei für beide Aspekte von entscheidender Bedeutung, insofern die plurale Konstellation – hier: die miteinander verbundenen und aufeinander abgestimmten Motive – zum Erwerb ganzer Serien motiviert. Voraussetzung für den regelrechten ‚Foto-Boom‘ liefern die fototechnischen Entwicklungen der Chrono- und Serienfotografie sowie

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Isa Wo r t e l k a m p

drucktechnische Vervielfältigungs- und Verbreitungsmöglichkeiten. Die der Fotografie inhärente Eigenschaft zur Reproduzierbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für den Abdruck und die Anordnung einer großen Anzahl von Bildern in unterschiedlichen Medien und hat dazu beigetragen, dass auch die Tanzfotografie zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt. Tanzfotografie kursiert auf Postkarten und Plakaten, in Sammelbildalben oder Scrapbooks, in Büchern, Tageszeitungen und Zeitschriften. Dabei bestimmen die jeweiligen medialen und materiellen Kontexte gemeinsam mit den durch ihre spezifische Form nahegelegten Betrachtungs- und Handhabungsweisen die Wahrnehmung auf die Fotografien des Tanzes. Fotografische

Diesen Kontexten nachzugehen, bedeutet

Konstellationen

mitunter den Weg ins Archiv zu suchen, in

im Archiv

dem sich – wenngleich unter anderen Vorzeichen – weitere Beziehungen zwischen den

Bildern auftun. Der Zugang über das Archiv schließt den Weg und die Bewegung an einen anderen Ort ein, wodurch die Annäherung der Forschenden an ihren Gegenstand auch in ihren physischen, motorischen und sensorischen Dimensionen angesprochen ist. Das Durchwandern von Regalen, das Auswählen und Bestellen von Archivalien, das An- und Umordnen von Dokumenten impliziert Bewegungen, deren Ablauf in den Ordnungen des Archivs verankert ist. In Mappen, Ordnern und Kartons der Archive und Sammlungen sind die Konstellationen der fotografischen Dokumente abhängig von den jeweiligen Systemen der Aufbewahrung und Verzeichnung, die eigenständige Bildzusammenhänge generieren. Numme­ rie­r ungen auf Rückseiten von historischen Abzügen oder auf Trägerkartons können auf fotografische und editorische sowie archivarische Entscheidungsprozesse oder auf ehemalige Besitzverhältnisse zurückzuführen sein. Sie verweisen auf Handhabungen und Handlungen der Akteure, aus deren Händen sie stammen oder die sie ordnen, beschriften und uns zugänglich machen. Die Sichtung ist mitunter ein langsamer, schwerfälliger Prozess, denn anders als auf dem Schreibtisch eines Rechners lassen sich die auf dem Tisch des Archivs versammelten Bilder selbst nicht ohne weiteres hin- und herschieben, geschweige denn vergrößern, verkleinern oder mit einem Mausklick an- oder wegklicken. Und doch: Wie bei dem auf dem Tisch ausgebreiteten Zigarettenbildern zu sehen, eröffnen sich Beziehungen zwischen den Bildern, die dazu

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

1 Geimer, Peter: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg: Philo Fine Arts 2010, 9f.

führen können, weitere Dokumente zu sichten, hinzuzufügen, umund anzuordnen. Konstellationen werden erprobt, erweitert oder verworfen. Den auf diese Weise in Gang gesetzten Bewegungen zu folgen, bedeutet auch hier Gefahr zu laufen, den Grund eines Besuchs und der Suche aus den Augen zu verlieren. Gleichzeitig vergegen­wärtigt der Zugang zu den Dingen auch die Anwesenheit im Archiv, tritt der eigene Körper in Beziehung zu den Bildern, denen er sich nähern, die er drehen und wenden kann, wodurch die Fotografie in ihrer Qualität als dreidimensionales Objekt erfahrbar wird. Dabei können Eigenschaften der Form und Farbgebung, Spuren der Bearbeitung, des Gebrauchs und der Alterung, die in der digitalen Wiedergabe nicht erfasst wurden, sicht- und greifbar, Vermerke auf der Rückseite oder dem Karton des Bildes, die mitunter nicht reproduziert wurden, lesbar werden. Hinzukommt das Gewicht der Bilder: Ein auf Karton montierter Papierabzug wiegt meist mehr als eine Fotografie ohne Unterlage, ein Sammelbild weniger als eine Postkarte, die Seiten eines Buches blättern sich leichter als die eines Albums … Eine Sichtung geht einher mit Berührungen, die unsere Wahrnehmung auf die ein oder andere Weise affizieren. Die auf diese Weise sich formierende plurale Sichtbarkeit der Fotografie ist geprägt von einem Gefüge aus ihrer medialen und materiellen Erscheinungsform, den Praktiken der Archivierung und den sensorischen Komponenten des Archivs. ‚Fotografie‘ kann das allgemeine Phänomen bezeichnen, die Fotografie als solche, das Abstractum unabhängig von seiner konkreten Realisierung in zahllosen einzelnen Bildern – dasjenige also, was Rosalind Krauss „das Fotografische“ genannt hat. ‚Fotografie‘ meint aber auch: eine Fotografie, eine bestimmte Aufnahme, deren singuläre Bedeutung nicht mit „dem Fotografischen“ als Kollektivsingular zur Deckung kommen muss. Die verschiedenen Theorien der Fotografie stehen also vor der Herausforderung, dass sie von Foto­ grafien ausgehen müssen, andererseits aber die Fotografie in den Blick nehmen wollen.1 Auch die Tanzfotografie – als Genre mit definierbaren Merkmalen und einem eigenständigen Korpus an Gegenständen – gibt es nicht. Ihre theoretische und ästhetische Reflexion speist sich aus einer Vielzahl und Vielfalt von Fotografien, die nicht nur als einzelne Bilder bzw. Aufnahmen, sondern auch in ihren medialen und materiellen

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2 Ganz, David u. Thürlemann, Felix (Hg.): „Zur Einführung. Singular und Plural der Bilder“, in: Das Bild im Plural. Mehr­ teilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin: Reimer 2010, 7–39. 3 Vgl. Thürlemann, Felix: „Vom Einzelbild zum hyperimage. Eine neue Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik“, in: Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle. Évolution et débat actuel, hg. v. Ada Neschke-Hentschke, Löwen/Paris: Peeters 2004, 223–247. 4 Ganz u. Thürlemann: „Zur Einführung“, 14. 5

Ebd., 18.

6 Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemer­ kungen zur Photographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (frz. Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur le photographie, Paris: Gallimard 1980), 35f. Während sich diese Definition auf den ersten Teil der Abhandlung bezieht, gilt das Noema hingegen im zweiten Teil der in der Fotografie enthaltenen Dichte der Zeit: „Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas (‚Es-ist-sogewesen‘), seine reine Abbildung.“ Ebd., 105.

Erscheinungsformen und den durch sie freigesetzten Imaginationen heterogen sind. Die Betrachtung des Bildes in Verbindung zu anderen, mehreren Bildern eröffnet ein Sinngefüge, das über das ‚einzelne‘ Bild oder seine bloße Aneinanderreihung hinausgeht. Eine Orientierung für den Begriff der fotografischen Konstellationen bietet dabei die theoretische Konzeption des pluralen Bildes wie sie David Ganz und Felix Thürlemann in der Einführung zu Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart 2 vorstellen. Sie umfasst verschiedene Bildformen wie das von Thürlemann so genannte „hyperimage“ 3, ein Begriff, der sich auf die Zusammenstellung von grundsätzlich autonomen Bildern bezieht, die unabhängig voneinander entstanden und nur temporär zu einer räumlichen Anordnung zusammengefasst wurden; das „Bild-Ensemble“, ein Gefüge aus mehreren Bildeinheiten, die koordiniert geplant und hergestellt wurde und die „summierenden Bilder“, Elemente die sich in ihrer Eigenständigkeit aufgrund von lockerer kompositorischer Fügung behaupten. 4 Die Bedeutung der ausdifferenzierten Formen des pluralen Bildes für den hier vorliegenden Zusammenhang liegt dabei vor allem in ihren Auswirkungen für die Betrachtung: Das Zusammensehen von Bildern fordert vom Rezipienten zusätzlich eine Abstraktionsleistung, ein auf Gemeinsam­ keiten und Differenzen zwischen den Bildern hin ausgerichtetes vergleichendes Sehen. Dieser kognitiv orientierte Blick unterscheidet sich radikal vom ‚einfühlenden‘ oder ‚verlebendigenden‘ Sehen, das eine isolierte Betrachtung einzelner Bilder provozieren kann. [...] Mit der Zahl der beteiligten Elemente vermehren sich die Möglichkeiten solcher Zuordnungen so rasant, dass man sich fragen kann, ob plurale Bildformen nicht bisweilen auf eine systematische Überforderung des Betrachters hinauslaufen können bzw. sollen.5 Diese Überforderung ‚trifft‘ den Betrachtenden mitunter wie ein punctum, das Roland Barthes in Die helle Kammer als Modus der Wahrnehmung beschrieben hat, der vor allem durch die formalen und inhaltlichen Eigenschaften der Fotografie bedingt ist: als eine Art produktive Irritation, die dem studium als Nachvollzug der Fotografie in ihrem jeweiligen kulturellen und historischen Kontext und ihren Entstehungsbedingungen gegenübergestellt ist.6

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

7 Ebd. 8 Ruchatz, Jens: „Ein Foto kommt selten allein. Serielle Aspekte der Fotografie im 19. Jahrhundert“, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Themenheft Fotografie und Apparatur. Bildkultur und Fototechnik des 19. Jahrhunderts, Jg. 18, Nr. 68/69, hg. v. Anton Holzer, Marburg: Jonas 1998, 31–46.

Das zweite Element durchbricht (oder skandiert) das stu­ dium. Diesmal bin nicht ich es, der es aufsucht (wohingegen ich das Feld des studium mit meinem souveränen Bewußtsein ausstatte), sondern das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren. […] Dies zweite Element, welches das studium aus dem Gleichgewicht bringt, möchte ich daher punctum nennen, denn punctum meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).7 Bezieht Barthes das punctum auf die einzelne Fotografie, so wäre es im Blick auf „das Zusammensehen von Bildern“ als ein plurales punctum zu denken. Wie von Barthes beschrieben, tritt es auch hier aus einem Zusammenhang hervor – jedoch nicht dem des einen Bildes, sondern dem der Bilder. Innerhalb der bereits beschriebenen pluralen Konstellationen der Fotografie in Archiv- und Publika­ tionskontexten können dem Forschenden formale und inhaltliche Beziehungen zwischen den Bildern auf- und zufallen, die eine vorgesehene Ordnung unterlaufen. Miteinander korrespondierende oder konkurrierende Motive, voneinander abweichende oder sich wiederholende ästhetische und materielle Qualitäten und mediale Kontexte lassen ein Netz von Punkten – punctis – entstehen. Die Vertiefung einzelner und die Verbindung mehrerer, auf den ersten Blick vielleicht unverbundener Punkte zu verfolgen, vollzieht sich dabei nach mehr oder weniger zufälligen Prinzipien. Dabei spinnt sich wiederum ein Netz von Punkten, das – wie mit dieser Pub­ likation – in eine neue Konstellation der Fotografien transformiert wird. Mit den Bildern der Tanzfotografie vollzieht sich diese Transformation immer auch zwischen stasis und kinesis, zwischen der im Bild stillgestellten Bewegung und der Bewegung der stillgestellten Bilder. Die serielle Darstellung erscheint dabei als besonders geeignetes Mittel, Bewegungszusammenhänge zu vermitteln bzw. allererst herzustellen. Fotohistorisch betrachtet, relativiert sich mit dem Prinzip der seriellen Darstellung, wie Jens Ruchatz in seinem Aufsatz „Ein Foto kommt selten allein. Serielle Aspekte der Fotografie im 19. Jahrhundert“ 8 bemerkt, auch der durch die Kunstgeschichte tradierte Wert des „fruchtbaren Augenblicks“ des

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9 Ruchatz, „Ein Foto kommt selten allein“, 32.

einzelnen Bildes, dem die Eigenschaft zugesprochen wird, einen

10 Ebd., 37.

beim Betrachtenden einen Effekt von Bewegung zu erzeugen. In

11 Gleichwohl lassen sich die Momentaufnahmen von Bewegung als Tanzfotografie betrachten und folgen gestalterischen Prinzipien. Dies wäre insbesondere in den Serienaufnahmen Muybridges hervorzuheben.

der Fotografie vollzieht sich dieser Augenblick der Bewegung im

zeitlichen und räumlichen Prozess im Bild zu kondensieren, um

Augenblick der Aufnahme. Diese erscheint gelungen, wenn der Moment eines Kontinuums ‚treffend‘ erfasst und dargestellt ist. Die künstlerische Potenz, die sich in dieser Darstellung des „frucht­baren Augenblicks“ durch die einzelne Fotografie reflektiert, steht, wie Ruchatz ausführt, in einer gewissen Spannung zu der seriellen Darstellung und Fertigung in der Fotografie: „Insofern die künst­lerische Aufwertung der Fotografie mit der Feier des einzelnen Bildes einhergeht, hat sie das Phänomen der fotografischen Serie aus dem Blickfeld verdrängt.“ 9 Das Prinzip der seriellen Darstellung in der Fotografie ist zudem eng mit ihrer mechanisierten und industriellen Produktion in Serie verbunden. Ihre Entwicklung ist auf die standardisierten Formate der Stereo- und Carte de Visite-Fotografie etwa Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, die erstmals ein mechanisiertes und rationalisiertes Produktionsverfahren der Fotografie ermöglichten. Die Serienproduktion folgt dabei ökonomischen und merkantilen Interessen, zielt sie doch – wie bereits am Beispiel des Zigarettenalbums deutlich wurde – auf den Vertrieb mehrerer Fotografien und vollständiger Sammlungen. Dabei ist die Serie als Produktionsverfahren von ihrer Bedeutung als Re-Präsentationsform zu unterscheiden, die sich, Ruchatz folgend, auf eine „Anordnung von Fotografien“ bezieht, „die eine bestimmte Lektüreabfolge der Einzelbilder vorgibt (oder vorzugeben intendiert), so daß die Serie von Fotografien als Repräsentation zeitlicher Sukzession rezipiert wird.“ 10 Werden durch die Dehnung der Aufnahmezeit oder die Mehrfachbelichtung wie in der Chronofotografie bei ÉtienneJules Marey sukzessive Ereignisse der Bewegung in einem einzelnen Bild darstellbar, reihen sie sich in der seriellen Darstellung bei Eadweard Muybridge in einzelne Bilder. Wenngleich letzterer auch Bewegungsfolgen einer Tänzerin fotografisch aufzeichnet, so gilt das Interesse dabei doch eher der Analyse und Reflexion anima­ lischer und menschlicher, aus kurzen Momentaufnahmen zu einer sukzessiven Aufnahme arrangierten Bewegungsvorgänge als der künstlerischen Gestaltung eines Bewegungseindrucks, wie er die Ästhetik der Tanzfotografie um 1900 prägt.11

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

12 Ruchatz, „Ein Foto kommt selten allein“, Ebd., 39.

Mit der seriellen Darstellung wird die Bewegung in für das bloße Auge nicht wahrnehmbare „Phasen“ zerlegt, die sich im visuellen Nachvollzug der sequenziellen Anordnung imaginativ zu einer Bewegung fügen. Die Wahrnehmung von Bewegung generiert sich nicht im Fluss, sondern im Bruch bzw. Schnitt zwischen den einzelnen Bildern: Der Bedeutungszuwachs durch Sequenzierung entspringt also weniger der Vermehrung der Bilder, als den Lücken, die sich zwischen ihnen auftun. Indem sie die Intervalle selbst zu Sinnträgern macht, geht die Sequenz über das Sichtbare hinaus, das weiterhin Fragment bleibt. Damit der Zwischen­ raum als Ellipse behandelt, also interferentiell und imaginativ überbrückt werden kann, muß er jedoch zuerst als zeitliche Differenz markiert und demgemäß als ausgesparter Zeitraum erkennbar sein.12 Mit Blick auf die seriellen Darstellungen der Tanzfotografie rückt damit zum einen die imaginäre Dimension des Bild- und Bewegungssehens bzw. des ‚Tanzes in Bildern‘ in den Fokus. Der Nachvollzug von Bewegung in der Fotografie impliziert eine Re-Konstruktionsleistung, in der sich (Körper-)Wissen und Vorstellung zu einem „Tanz in Bildern“ verbinden. Dabei entspricht die durch die Anordnung der Fotografie als aufeinander folgend ausgewiesene Bewegung nicht zwangsläufig auch der Chronologie eines motorischen Prozesses. Vielmehr kann dieser sowohl choreografisch als auch fotografisch re-konstruiert sein. Über diesen bild- und bewegungsanalytischen Umgang mit der Tanzfotografie in und als Serie hinaus, weist das Konzept des Intervalls aber auch auf jene Lücken, die sich in den hier vorgestellten unterschiedlichen Publikations- und Archivkontexten zwischen den Bildern ergeben. Die historiografische Lektüre bewegt sich durch die Fotografien, deren Konstellationsform variiert, je nachdem, ob es sich um die vorgegebene Ordnung eines Sammelbild­ albums, die festgelegte Anordnung in einem Sammelband oder um die mehr oder minder lose Verbindung der auf einem Tisch archivarisch zusammengetragenen oder auf der Seite eines OnlinePortals algorithmisch angeordneten Bilder handelt. In Beziehung zu anderen Fotografien zeigt sich auch die Besonderheit der einzelnen Fotografie, die im Kontext einer Sammlung oder als singuläres

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13 Bei dem Begriff ‚material turn‘ handelt es sich um eine seit den 1980er Jahren verstärkt zu beobachtende kultur- und geisteswissenschaftliche Wende hin zu den materiellen und dinghaften Aspekten von Objekten im Kontext (immaterieller) Ordnungsfunktionen und Verwendungsweisen. Dinge werden als Akteure von Netzwerken (Bruno Latour) kultureller Prozesse verstanden, wobei eine Trennung von Subjekt und Objekt in Frage gestellt wird, die auch wissenschaftliche Praxis als einen interaktiven Prozess im Umgang mit den Gegenständen beschreibbar macht. Vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissen­ schaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010. Bennett, Tony u. Frow, John (Hg.): The SAGE Handbook of Cultural Analysis, London: SAGE 2008, 271–290. 14 Vgl. Batchen, Geoffrey: Photography’s Objects, Albuquerque: Univ. of New Mexico Art Museum 1997; Batchen, Geoffrey: Forget Me Not. Photography and Remembrance, New York: Princeton Architec­ tural Press 2004; Edwards, Elizabeth: Raw Histories. Photographs, Anthropology and Museums, Oxford; New York: Berg 2001; Edwards, Elizabeth u. Hart, Janice: „Introduction: Photographs as Objects“, in: Photographs Objects Histories. On the Materiality of Images, hg. v. dies., London/New York: Routledge 2004, 1–15. 15 Edwards u. Hart, „Introduction: Photographs as Objects“, ebd., 3. 16 Ebd., 5.

Objekt im Plural jeweils unterschiedliche Lesarten ermöglicht, befördert oder gar evoziert. Mit jedem Archivierungs- und Publikationskontext, in dem Tanzfotografien in Erscheinung treten, geht notwendig die Betrachtung ihrer spezifischen medialen und materiellen Beschaffenheit als selektier-, sammel- und handhabbarer ‚Bildkörper‘ einher. Dieser Ansatz orientiert sich an theoretischen Zugängen, die im Kontext des sogenannten material turn13 entstanden sind, innerhalb dessen die Fotografie in ihrer Eigenschaft als dreidimensio­ nales Objekt, das in einem sozialen und kulturellen Kontext existiert und kursiert, in den Vordergrund gerückt wird.14 Die Perspektive auf die Materialität der Fotografie geht dabei über ihre rein physische Beschaffenheit hinaus bzw. nimmt diese als Ausgangspunkt für die Betrachtung ihrer Bedeutung in einem größeren Bezugssystem: „a complex and fluid relationship between people, images and things“15. Die spezifische Art und Weise ihres Vorhandenseins bedingt demnach notwendig die sich auf sie beziehenden Handhabungsweisen: in den jeweiligen Formen, Handlungen und Verhandlungen. Die Wahrnehmung von Fotografie vollzieht sich, wie Elizabeth Edwards und Janice Hart betonen, in einem „larger somatic context“16, in dem unterschiedliche körperliche Beziehungen zum fotografischen Objekt entstehen können. Über die beschriebenen Konstellationen von Fotografie in Publikations- und Archivkontexten hinaus, zeigen sich diese körperlichen Beziehungen auch im choreografischen Umgang mit Fotografie als Bild von Bewegung – im Sinne eines Dokumentes des Tanzes und der Fotografie sowie ihrer wechselseitigen Übertragung. Aufführung von

Tanzfotografie ist in den letzten zwanzig

Tanz & Fotografie

Jahren implizit und explizit zum Fundus und zur Szene des zeitgenössischen Tanzes avanciert. Gemeinsam mit literarischen

Quellen, der mündlichen und schriftlichen Überlieferung oder der Tanznotation ist sie Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung mit der Re-Konstruktion des Tanzes geworden, was sich an zahl­ reichen choreografischen Arbeiten seit Ende der 1990er Jahren – etwa von Jérôme Bel, Boris Charmatz, Xavier Le Roy, Eszter Salamon, Olga de Soto oder Martin Nachbar – aufzeigen ließe. Befördert nicht zuletzt durch das Programm Tanzfonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes, die damit der systematischen Aufarbeitung der Geschichte des

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Ein Foto tanzt selten allein. Zu r E in f ü hr u ng in plu rale Kons tel l a t ionen der Fotog ra f ie

17 https://tanzfonds.de. 18 Die Aufführung ist eine Produktion von Anna Till, Barbara Lubich und situation productions und hatte am 14. und 15.7.2017 Premiere in Dresden, Theater Runde Ecke, riesa efau Dresden und war außerdem am 9. u. 10.12.2017 in Hellerau im Europäischen Zentrum für Künste zu sehen. 19 Die Videopräsen­­­tation der Aufführung fand in Kooperation mit dem Leipziger Theater LOFFT statt. 20 Zitiert nach der Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Anne Kersting, Barbara Lubich, Anna Till und Isa Wortelkamp, das am 28.1.2021 nach der Videodokumentation der Inszenierung Parallell Situation stattfand.

modernen Tanzes Vorschub leisten wollte, ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen „immateriellen Erbe“ zum wichtigen Bezugspunkt des Tanzes geworden.17 Damit verbunden ist auch Aufforderung, Dokumente der Tanzgeschichte zur Aufführung kommen zu lassen und damit in ihrem performativen Potential selbst in Szene zu setzen. In dieser Funktion werden Fotografien in der Inszenierung Parallel Situation (2017)18 der Tänzerin und Choreografin Anna Till und der Fotografin Barbara Lubich wahrnehmbar, die zum Auftakt der Leipziger Konferenz als Videodokumentation zu sehen war.19 Zur Aufführung kommt dabei die fotografische Aufnahme – wobei Aufnahme hier sowohl auf das Fotografieren, als auch auf die Fotografie des Tanzes zu beziehen ist. Die digitalen Fotografien, die vor den Augen des Publikums auf der Bühne entstehen, rekurrieren selbst auf historische Fotografien des Tanzes. Abermals sind es Sammelbilder, diesmal aus der ersten Ausgabe des Zigaretten­ albums von Eckstein-Halpaus Der künstlerische Tanz (1933), die den Auftakt der choreografischen wie fotografischen Auseinandersetzung bilden. Zwar sind diese nicht sichtbar, werden jedoch als Bildangaben zu Beginn der Aufführung gleichsam aus dem Off aufgerufen: „Erstes Bild, Seite 14, Abbildung 77, oben links; zweites Bild, Seite  9, Abbildung 49, oben rechts; drittes Bild, Seite 13, Abbildung  72, Mitte oben […].“ Währenddessen bewegt sich die Tänzerin in mal mehr und mal weniger verbunden erscheinenden Bewegungen: Kreisende Schwünge, Schritt- und Gewichtsverlagerungen münden in Balance­akten, die für einen Moment gehalten, um im nächsten wieder aufgelöst und in neue Bewegungsfiguren übertragen zu werden. Der (choreografische) Sinn der Bewegungsfiguren erschließt sich erst im Nachhinein, in der re-konstruierenden Lektüre des Albums, dessen Bilder Till zur „Ressource des Tanzes“20 geworden sind. Gerahmt, nummeriert und beschriftet versetzen sich die kleinen Bilder nun aus der Erinnerung abermals in Bewegung. Während das Sammelbildalbum in der Aufführung nur als choreo­ grafische Partitur anwesend ist, wird ein weitere Fotografie sichtbar ausgestellt zum zentralen choreografischen wie fotografischen Bezugspunkt. Dabei handelt es sich um eine Abbildung in dem von Emil Schaeffer herausgegebenen Buch Tänzerinnen der Gegenwart (1931)21, das aufgeschlagen in Augenhöhe an der hinteren Bühnenwand angebracht ist. Die Fotografie von Karl Schenker zeigt die Tänzerin Niddy Impekoven in einer Bewegungsfigur aus der 1918 aufgeführten Choreografie Schalk.

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21 Das Buch ist die vierzehnte Ausgabe der Fotobuchreihe „Schaubücher“, die von 1929 bis 1932 von dem Kunsthistoriker Emil Schaeffer im Schweizer Orell Füssli Verlag herausgegeben wurden. Dabei handelt es sich vorwiegend um fotografisch ausgestattete Bildbände zu unterschiedlichen Themenbereichen wie Kultur und Gesellschaft, Kunst, Film und Theater, Technik und Architektur, Sport und Körperkultur oder Natur und Forschung beziehen. Tänzerinnen der Gegenwart ist der 18. Band mit insgesamt 65 Abbildungen, die einleitend von Fred Hildebrandt erläutert werden. Schenkers Fotografie von Impekoven ist die 34. Abbildung, die hier neben der Fotografie einer chorischen Formation aus der Labanschule platziert ist. Umseitig ist ein Portrait der Tänzerin abgebildet. 22 Zitiert nach der Aufzeichnung des Gesprächs, ebd.

Mit dem dort fotografisch fixierten Moment der Balance ist eine Bewegungsfigur gewählt, die für Tanz und Fotografie gleicher­ maßen prekär ist: Auf dem Spiel steht der Moment des Überganges, in dem die unhaltbare Bewegung gehalten wird – „ein Zwischendrin, zwischen Spannung und Entspannung – ein Moment des Scheiterns“ wie die Tänzerin Till es erfährt; „ein Scheitern in der Suche“ für die Fotografin Lubich.22 Jeder Versuch der Tänzerin, die Balance zu halten, wird von der auf der Bühne anwesenden Foto­grafin – begleitet von einem Klicken der Kamera – digital fotografiert und simultan auf eine am linken Bühnenrand befindliche Leinwand projiziert. Schwarzweiß bleibt das Bild stehen, während sich die Tänzerin weiterbewegt, um wieder und wieder in die Balance zu kommen, sich ins Bild zu bringen. Über die Belichtung und Einstellung sowie Körperhaltung und -spannung entspinnt sich ein szenischer Dialog zwischen Tänzerin und Fotografin.

Abb. 4 ► Indem Till und Lubich einzelne Fotografien re-konstruieren, wird auch Fotografie über das Dokument der Tanzgeschichte hinaus selbst als performatives Ereignis markiert – kommt es zur Aufführung. Mehr als um eine rekonstruierende Wiedergabe, geht es dabei um eine performative Übertragung von Bewegungen, die sich in einem Gefüge von fotografischen Bildern und dem dialogischen Austausch zwischen Tänzerin und Fotografin vollzieht. Die Inszenierung des Dialoges markiert dabei die wechselseitige Beziehung von Tanz und Fotografie im Akt der medialen Übertragung von der Bewegung ins Bild. Zu beobachten sind die Prozesse der Recherche, der Ex­­plo­ ration und Revision, die jeder Aufführung – zumal des Tanzes – vorausgehen und hier Teil derselben werden. Mit dem ‚Tanz in Bildern‘ aufgeführt wird auch eine körperliche Praxis als Prozess der Annäherung. Die Fotografie, selbst als ‚Bildkörper‘ anwesend, zeigt sich in Beziehung zum forschenden Blick, der die Fotografie in seine eigene Gegenwart zu übertragen versucht. Die Referenz auf die Fotografie im Buch verweist zudem auf die Eigenschaft der Fotografie als Reproduktionsmedium, das in seinen vielfältigen Erscheinungsformen und -kontexten unser Bild vom Tanz bis zum heutigen Tag prägt. Dieses Bild wird in Parallel Situation in seiner medialen und medientechnischen Disposition

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Clemens Mar t, Anna Till u. Barbara Lubich, digitales Szenenfoto, P a r a l l e l S i t u a t i o n s , S z e n e n f o t o , H e l l e r a u 2 017.

re- und de-konstruiert. In dieser fotografischen und choreogra­ fischen Lektüre geht es weniger um das einzelne Bild, als vielmehr um jene Bewegungen, die sich zwischen den Bildern auftun. Aufgerufen wird dabei aber auch ein Bild des Tanzes, das sich durch Fotografie und als Fotografien konstituiert. Im Zentrum steht dabei nicht die Fotografie oder der Tanz als Produkt, sondern der Prozess einer choreografischen Reflexion von Geschichtsschreibung, die aus dem Dokument ebenso hervorgeht wie sie es begründet. Indem das Dokument zur Aufführung kommt und ins Zentrum einer choreographischen Praxis rückt, eröffnet es einen Raum für eine Reflexion des Verhältnisses von Aufführung und Dokument und deren Bedeutung für eine historiografische Praxis des Tanzes. Mit ihr wird das fotografische Dokument Teil eines prinzipiell unabschließbaren Prozesses, in dem es sich immer wieder neu und anders aktualisiert – pluralisiert. Eine Sammlung

Auf diese Weise generiert auch die vorlie-

von Bildern und

gende Publikation – selbst eine plurale Kon-

Texten

stellation von Bildern – eine prozessuale Lektüre der Tanzfotografie, die verschie-

dene Möglichkeiten der ‚punktuellen Vernetzungen‘ offenhält. Wenngleich sich die hier versammelten Bilder – anders als in dem

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eingangs vorgestellten Sammelbildalbum – nicht aus ihrem medialen Rahmen lösen lassen, so sollen sie in ihrer Vielfalt doch zu (Quer-)Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Formen und Formaten und ihren Inhalten anregen. Die vielfältig und vielseitig zusammengetragenen fotografischen Dokumente aus der Zeit von 1900 bis 1930 wie Bildserien, Leporelli, Zigarettenalben, Zeitschriften, Kontaktabzüge und Bücher erlauben dabei den Nachvollzug von Effekten der pluralen Konstellationen. Die Beiträge widmen sich aus tanz-, foto- und archivtheoretischer Perspektive den Konsequenzen pluraler Erscheinungsformen der Tanzfotografie für (tanz-)wissenschaftliche und künstlerische Betrachtungs- und Handhabungsweisen. Von besonderer Bedeutung in der Konzeption sind die Bedingungen und Auswirkungen archivarischer Aufbewahrungsformen von Tanzfotografien sowie die choreografischen Ordnungen der Archive selbst, die ihrerseits rhythmisiert und strukturiert sind. Wie die choreografischen Ordnungen und Handlungsprozesse der Archive unseren Umgang mit Fotografien gestalten, veranschaulichen Cos t anza Caraf fa und Armin Linke in Text und Bild zu Beginn dieses Sammelbandes. Entlang Fotografien Linkes der Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz – Max Planck Institut diskutieren sie in einem Dialog Arbeitspraktiken und Präsentationsformen im Umgang mit den „Foto-Objekten“ des Archivs. Die künstlerische Auseinandersetzung Linkes aufgreifend, entwickelt Caraf fa die choreografischen Dimensionen des Archivs in ihrem anschließenden Beitrag weiter, indem sie die räumlichen und zeitlichen Strukturen des Archivs als eine (Tanz-)Notation vorstellt, die durch verschiedene Akteure und Aktionen in eine Choreografie transformiert werden. Mit den choreografischen Dimensionen archivarischer Praxis beschäftigt sich auch Helene Her old . In ihrem Beitrag werden Formen der Auf bewahrung und Verzeichnung in ihren Auswirkungen auf mögliche Bild- und Bewegungsfolgen anhand von Tanzfotografien aus dem Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste reflektiert. Vorgestellt wird zunächst ein Leporello (1935), der eine festgelegte Reihenfolge von Fotografien Genja Jonas von Gret Palucca enthält. Sie vergleicht ihn mit drei lose verbundenen fotografischen Abzügen Ursula Richters von Mary Wigman (1924), wo bild- und bewegungsästhetische Ge­­ staltungen, Notizen der Tänzerin auf Vor- und Rückseiten sowie

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Informationen zum Tanz auf eine mögliche Ordnung schließen lassen. Dass das Archiv mit seinen spezifischen Praktiken der Katalogisierung und Verzeichnung selbst ein Wissen um die Bilder generiert, zeigt auch der Beitrag von Frank- M anuel Pe ter . Im Zentrum seiner Betrachtung stehen bislang noch unerschlossene Papierbögen mit in Reihen angeordneten Miniaturabzügen von Tanzfotografien Otto Umbehrs (ca. 1935). In einer akribischen Recherche geht Peter Fragen zur Datierung, zu Herkunft, Format und Form der Anordnung zweier Bögen aus dem Tanzarchiv Köln auf den Grund und re-konstruiert die Bilder schließlich selbst zu einer fortlaufenden Bewegung. Einem nicht nur formal, sondern auch motivisch plural konzipierten Phänomen der Tanzfotografie widmet sich Pa t r ick Primavesi in seinem Beitrag zur medialen Repräsentation chori-

scher Bewegungsformationen. Ausgehend von Fotografien zu Bewegungschören Rudolf von Labans (1929–31) und den Studien zur Totenklage von Mary Wigman (1934) skizziert er das fotografische Spektrum von spontanen Gruppenaufnahmen über ornamentale Chorformationen bis hin zu Massenbildern. In den fotografischen Konstellationen der Bewegungschöre und ihrer fotografischen Reihung in und als Serie wird die plurale Verfasstheit des Sehens selbst reflektiert. Welche Veränderung die Wahrnehmung von Fotografie durch die Einbettung in mediale Kontexte erfahren kann, dis­kutiert Mel an ie G r u ß in ihrem Beitrag zur Instrumentalisierung von

Tanz und Fotografie in der DDR. Gegenstand ihrer Betrachtung sind die Fotografien Siegfried Enkelmanns in der von 1947 bis 1950 erschienen Wochenzeitschrift „Berliner Palette“ sowie die im staatlichen Auftrag produzierten Fotoserien diverser Tanzfeste und Tanzveranstaltungen aus den Beständen des Tanzarchivs Leipzig. Erkennbar wird eine Bildsprache, die sich durch die permanente Wiederholung ideologisch aufgeladener Motive auszeichnet und in dieser Pluralität wirksam wird. Mit der politischen Inanspruchnahme von Tanzfotografie beschäftigt sich auch Janine Schulze -Fellmann in ihrer Be­­ trachtung der Zigarettenalben, die in Deutschland unmittelbar vor und nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland publiziert wurden und deren homogenisierende Struktur und Ästhetik dem modernen Tanz ‚seine Spitze‘ nimmt. Am Beispiel Der künstlerische Tanz von Eckstein-Halpaus (ca. 1933) arbeitet

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sie bild- und bewegungsanalytische Korrespondenzen heraus, die sich innerhalb einzelner Seiten des Albums ergeben. Ein anderes Medium sind die Buchpublikationen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum modernen Tanz entstehen und teils über 100 fotografische Reproduktionen enthalten. K a t j a S c h n e i d e r widmet sich mit Der moderne Tanz von Hans

Brandenburg (1913/17/21) dem wohl prominentesten Beispiel und untersucht aus editionshistorischer Perspektive konzeptionelle Entscheidungen und Hintergründe für die Auswahl, Anordnung und Reihenfolge der Abbildungen. Anhand von Briefwechseln zwischen Verlegern, Tänzerinnen und Tänzern zeichnet sie so die Geschichte hinter den Bildern der Bücher Brandenburgs nach, die mit ihren fotografischen Konstellationen auch unsere Wahrnehmung des Tanzes bedingen. Auch Lucia Ruprecht widmet sich der Tanzfotografie als Abbildungen in einem Buch. Sie legt in ihrer Betrachtung von Anita Berbers und Sebastian Drostes Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase (1923) den Fokus auf die ästhetische Logik der Fotografien von Dora Kallmus. Diese folgt für Ruprecht einer fetischistisch orientierten Repräsentation des Tanzes als statische Pose, die als „absolutes Substitut“ die Idee einer Fotografie von ‚Tanz als Tanz‘ ersetzt. In ihrer Reihung im Buch eröffnen sich mit den Abbildungen nicht Bewegungen, sondern „Haltepunkte des Gestellten“, mit denen das Buch schließlich selbst als Fetischobjekt greif- und lesbar wird. Eike Wi t t rock untersucht das wiederkehrende Motiv der

Hände als serielle Darstellung effeminierter Gesten am Beispiel der Fotografien des Tänzers Joachim von Seewitz (ca. 1920), die sich in seinen Beobachtungen zu einem „Lexikon queerer Haptik“ kon­stellieren. Als ein Eintrag können die „Faggy Gestures“ gelten, die Wittrock in unterschiedlichen Publikations- und Archiv­ kontexten betrachtet und in ihren Dimensionen transhistorischer Berührung auslotet. G e r a l d S i e g m u n d widmet sich den Sprüngen Gret

Paluccas in der Fotografie von Charlotte Rudolph (1924). In ihren perspek­tivischen Verzerrungen und Schattenwürfen unterlaufen sie für ihn ein Verständnis der Fotografie als Medium der Selbsttransparenz, nach dem sich die Qualität einer Fotografie an der ‚ge­­lingenden‘ Repräsentation eines Tanzes oder einer Tanzästhetik bemisst. Siegmund beschreibt Rudolphs Fotografien der springenden Palucca

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in Anlehnung an Walter Benjamin in ihrer Qualität als ein „OptischUnbewusstes“, das sich durch die fotografischen Darstellungs­mittel als Sichtbarmachung des Unsichtbaren konstituiert. Für G a b r i e l e B r a n d s t e t t e r überträgt sich in den Fotografien Charlotte Rudolphs in der ausbalancierten Gestaltung von Licht und Schatten, von Haupt- und Übergangsmomenten der „Eindruck des perfekten (Tanz-)Moments“. Am Beispiel der fotografischen Aus­einandersetzung mit der Tänzerin Vera Skoronel (ca. 1927) untersucht sie, wie Tanz und Fotografie „beweglich und zugleich stillstellend, konstellativ im Dialog sind, und damit eine Art Bündnis der gegenseitigen Überlieferung eingehen.“ Sie zeigt, wie sich in der (Dreiecks-)Beziehung von Tanz, Fotografie und Betrachtung Bilder des Tanzes konstellieren und – wie in ihrem Text – neu konstelliert werden – als eine „Re-Collection von Tanz-Fotografie“. Als eine solche Re-Collection kann auch An j a Pawe l s Beitrag zur Antikenrezeption als plurale Bildkonstellation zwischen Kunst und Tanz gelesen werden, die sich in der Fotografie dokumentiert findet. Pawel zeigt in ihrem Beitrag anhand verschiedener Beispiele wie die bildende Kunst zu Dokumenten der Rezeption des antiken Tanzes wird sowie umgekehrt der Tanz die Kunst inspiriert. Gabriele Klein und Franz Anton Cramer widmen

sich in ihrem Beitrag einer zeitgenössischen Tanz-Praxis künstlerischen Forschens als „Re-Aktualisierung von Tanzgeschichte“. Am Beispiel der choreografischen Auseinandersetzung Jochen Rollers mit der Choreografin und Tanzpädagogin Gertrud Bodenwieser (1890–1959) zeigen sie nicht nur auf, welcher Stellenwert Foto­grafie innerhalb der über diverse Medien und Materialien überlieferten Tanzgeschichte zukommen kann, sondern wie diese selbst als Medium der Inszenierung dieser choreografischen Auseinandersetzung genutzt wird – so zu sehen auf der Webseite „The Source Code“ (2014), in der das Projekt, fotografisch dokumentiert, selbst zu einer pluralen Konstellation von Bildern wird. Auf diese Weise setzt der Band die Sammlung von Bildern und Texten fort, die mit der Videokonferenz „Tanz in Bildern. Plurale Konstellationen der Fotografie“ ihren Anfang nahm. Dass dies möglich ist, verdanke ich der Heisenberg-Förderung der Deutschen Forschungsgesellschaft. Die Konferenz und die Publikation er­­­­ folgten ausgehend von der Anbindung meiner Forschungsstelle am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, durch

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dessen inhaltliche und strukturelle Verbindung zum Tanzarchiv Leipzig  e. V. und den Austausch mit Patrick Primavesi wertvolle Anregungen ausgingen. Für die zuverlässige administrative Abwicklung möchte ich Christiane Richter, der Sekretärin des Instituts, danken, für die sorgfältige Betreuung und redaktionelle Bearbeitung des Sammelbandes den wissenschaftlichen Hilfskräften Estrella Jurado und Daniela Sopala sowie für die Über­ setzungsarbeit Julia Biel. Ich bedanke mich bei allen Beitragenden, die diesen Sammelband mit Text und Bild bereichert haben sowie bei den Grafikern Carsten Stabenow und Andreas Töpfer vom Milchhof Atelier Berlin für die Gestaltung des Buches. Diese greift mit den grafisch abgesetzten Abbildungsverweisen eine Eigenschaft pluraler Konstellationen der Fotografie auf, zum Blickwechsel anzuregen und Beziehungen zwischen den Bildern zu suchen und zu finden. Abschließend noch ein redaktioneller Hinweis: Es war den Autorinnen und Autoren freigestellt, wie sie mit der Frage gendersensibler Sprache umgehen möchten. Dies führt dazu, dass in dem Band verschiedene Formen des Umgangs Verwendung finden.

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Choreografien des fotografischen Archivs I Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

Durch die Auseinandersetzung mit seinem eigenen Archiv und anderen Medienarchiven stellt der Fotograf und Videokünstler Armin Linke die Konventionen der fotografischen Praxis in Frage. Er benutzt die Fotografie als Interaktion mit den Betrachtenden, um eine aktive und kritische Ref lexion zu ermöglichen. Sein Interesse für das innere Funktionieren von Institutionen ist eng verknüpft mit seinen Untersuchungen zur Gestaltung der natürlichen, technologischen und urbanen Umwelt. Dabei sucht er den Austausch mit verschiedenen Institutionen und Personen aus dem Bereich der Kunst, der Architektur, der Geschichte, der Philosophie und der Wissenschaft. Mit Costanza Caraffa, der Leiterin der Photothek am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut, tauscht er sich seit geraumer Zeit über die Fragen des Fotoarchivs aus. Von 2019 bis 2022 ist er Artist in Residence am Kunsthistorischen Institut in Florenz. In seiner Arbeit hat sich Linke immer wieder mit Tanz und Choreografie beschäftigt: in der Zusammenarbeit mit Choreo­ grafinnen und Choreografen wie William Forsythe, Xavier Le Roy, Virgilio Sieni, oder Meg Stuart, aber auch im Sinne eines Interesses für Körper und Bewegungen im Raum sowie auf einer eher metaphorischen Ebene. Vor diesem Hintergrund hat er sich für den vorliegenden Beitrag auf Bilder aus der Photothek des Kunst­ historischen Instituts in Florenz konzentriert. Die hier vorgestellten Fotografien sind größtenteils im Rahmen des Workshops Modali­ ties of Photography 2019 entstanden. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit den Videostills, die den folgenden Beitrag von Costanza Caraffa „Choreografien des fotografischen Archivs  II“ begleiten und auf ein Interview aus dem Jahr 2018 zurück­gehen. Armin Linke hat diese Bilder in einem Dialog mit Costanza Caraffa kommentiert, in dem es um Fotoarchive, Choreografie im Sinne von Gesten, Archiv- und Arbeitspraktiken, Bewegungen im Umgang mit den Bildern, aber letztlich auch um seine Idee der Fotografie geht. Dieses Gespräch fand am 16. Februar 2022 auf Zoom statt.

B i l d n a c h w e i s : 1– 8 : © A r m i n L i n k e , M a i l a n d / B e r l i n . N a c h b e a r b e i t u n g v o n G i u l i a B r u n o .

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Choreografien des fotografischen Archivs I

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , P h o t o t h e k , Z e t t e l k a t a l o g „ G r a p h i k “ , D I F_ 0 0 0 4 61_12 , 2 018 .

C o stan z a C araffa

Wir beginnen mit der ersten Fotografie der Sequenz, die uns in den Raum einführt, in welchem die Inszenierung stattfindet: die​ Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz.

Abb. 1 ▲ A rmin L inke

Hier sieht man die Überwachungskamera, welche die eintretenden Körper aufzeichnet. Sie erinnert mich an ein Periskop – so als sei der Körper des Zettelkastens ein Unterseeboot, aus welchem das Sehrohr herausschaut.

CC

Das ist eine wunderbare Idee: Wir sind es nicht, die mit dem Öffnen der Schubladen in den Zettelkasten hineinsehen; der​ Zettelkasten betrachtet uns, als seien wir Fische im Meer!

AL

Mir gefällt das Schild mit der Aufschrift „Graphik“, welches die Existenz der Videokamera weiter hervorhebt. Auf den anderen Möbeln gibt es eine kleine Ausstellung von Videoprojektoren und

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Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

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Choreografien des fotografischen Archivs I

anderen historischen Geräten. Wie schön es ist, dass diese so funktionale Videokamera mit gleicher Würde in die Serie der anderen Objekte aufgenommen wurde: Sie ist beinahe historisiert, während sie weiterhin das Bild aufnimmt, wie Du sie anblickst. CC

Hier sehen wir eine meiner Kolleginnen, die eine Schachtel mit Fotografien aus dem Regal nimmt. ◄

AL

Abb. 2 

Ich mag die Geste des Herausziehens der Schachtel aus dem Regal, genauso die Schlaufen, welche diese mechanische Bewegung erst ermöglichen; auch die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gleichgebliebenen Schachteln gefallen mir sehr. Was man nicht sieht und was schwierig ist, in einer Fotografie festzuhalten, ist das Klassifikationssystem und seine komplexe Choreografie, die Du mir damals erklärt hast. Durch die Geste des Ziehens wird einem auf physischem Wege bewusst, wie die Schachteln angeordnet und nach Regionen und Epochen unterteilt sind, und wie in dieser Ordnung auch die Prozesse eines italienischen und deutschen Nation Building verwoben sind: eine Art geopolitische Geschichte der Entstehung dieses Archivs.

CC

Mir gefällt diese Idee der Bewusstseinsfindung des Klassifikationssystems, in der Tat hat es wenig Sinn, eine Schachtel aus den Regalen zu nehmen, wenn Du das System nicht verstanden hast.

AL

Im Inneren des Mikrokosmos einer einzelnen Schachtel gibt es dann eine andere Ordnung oder Sequenz, die für sich eine Choreog­rafie ist. Denn die thematischen Konvolute im Inneren einer jeden Schachtel sind, wie Du mir erzähltest, nicht geordnet, sondern jede Mappe ist eine Art Improvisation, sie bildet die Spur der letzten Kunsthistorikerin oder des letzten Kunsthistorikers ab, die sie konsultierten. Die Mappe in ihrem Inneren kann ungeordnet scheinen, es ist aber keine Unordnung. Dargestellt wird die letzte Interaktion, die letzte Choreografie.

CC

Du sprachst von Improvisation. Das lässt mich an eine wichtige Sache denken: die Frage nach dem richtigen Platz einer jeden Fotografie im Inneren des Archivs. Dafür gibt es eine Notation im

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , P h o t o t h e k , H a n d l u n g e n i m F o t o a r c h i v : S y s t e m a t i k u n d r ä u m l i c h e O r d n u n g , D I F_ 0 0 0 6 6 6 _15 3 , 2 019 .

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Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , P h o t o t h e k , H a n d l u n g e n i m F o t o a r c h i v : B e i m K a t a l o g i s i e r e n , D I F_ 0 0 0 6 6 6 _ 5 8 3 , 2 019 .

Sinne einer (Vor-)Schrift, einer Transkription von Instruktionen zu Bewegungen und Gesten im Raum des Archivs. Diese Notation erfordert allerdings einen erhöhten Grad an Improvisation von Seiten der Archivarin oder des Archivars. Er oder sie muss nämlich immer wieder den mentalen Verlauf rekonstruieren, den er oder sie sich vielleicht selbst vor zehn Jahren erdachte, als die Fotografie das erste Mal verortet wurde. Jedes Mal also, wenn Du eine Fotografie zurückstellen musst, nachdem Du sie für eine Arbeit verwendet hast, weißt Du im Voraus nicht mit mathematischer Sicherheit, welches ihr präziser Platz ist. Es gibt keine 1:1-Korrespondenz zwischen den Schachteln und den einzelnen Fotografien, weil die Schachteln einen variablen Inhalt haben. So werden die Neu­ erwerbungen auf Grundlage des Klassifikationssystems auf die Schachteln verteilt. Dies macht es von Zeit zu Zeit notwendig, den Inhalt der Schachteln zu sichten, aufzuteilen und neue Schachteln anzulegen. Um den richtigen Platz einer Fotografie zu bestimmen, benötigt es sozusagen einer Verknüpfung der Informationen auf

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Choreografien des fotografischen Archivs I

dem Fotokarton und der Informationen (beispielsweise Sektion, Künstlerin oder Künstler, Thema oder geografische Verortung), welche zur Verfügung stehen, wenn Du Dich vor dem Regal befindest, wenn Du die Geste ausübst, eine Schachtel herauszunehmen  – nicht zur Konsultation, sondern zum Wiedereingliedern einer entsprechenden Fotografie. Dies gibt der Agenzialität der Archivarin oder des Archivars einen ungemeinen Wert. AL

Hier sind Archivarinnen und Archivare bei der Arbeit zu sehen. Der Tisch wird zu einer Art Timeline, es erinnert mich an die Arbeit des Filmschnitts. ◄

CC

Abb. 3

Du hast die Interaktion zwischen zwei Personen festgehalten, die sich über die Fotografien unterhalten. Ihre Gesten interagieren miteinander, aber auch mit den Gesten und Körperteilen der ab­ gebildeten Statuen. Die Hand der Archivarin tritt zum Beispiel auf der linken Seite in die Szene ein und bildet somit einen Gegenpol zum Fuß in der Fotografie. Der Dialog zwischen Händen und Füßen erfolgt auf mehreren Ebenen, sowohl im realen, fotografisch festgehaltenen Raum der Photothek, als auch in den Fotografien auf dem Tisch.

AL

Wir sind nun beim Workshop angekommen, den wir 2019 in der Photothek hielten. Im Falle des ersten Bildes müssten wir vielleicht eher von Theatralik oder Dialektik sprechen, als von Choreografie. Für mich ist die Idee interessant, dass das Vor­ handensein der Fotografien als gegenständliche Drucke zum Komponieren und Choreografieren auf dem Tisch es erst ermöglicht, sie als dialektischen Funken zu nutzen, um eine Diskussion anzuregen. Die Körperlichkeit der Drucke lässt die Arbeit mit einem Auszug aus dem Archiv auf dem Tisch zu. Die Komposition der Bilder ist ein Think Tank-Moment.

Abb. 4 ► Abb. 5 ►►  CC

Ich liebe diese Bilder, weil sie eine solche Konzentration vermitteln, es scheint, als höre man die Geräusche der arbeitenden Köpfe. Man sieht die sich kreuzenden Blicke, die Korrespondenz der Gesten. Für mich ist die Idee grundlegend, dass mit diesen Fotografien etwas gemacht wird. Die Frage, die ich mir stelle, ist nicht „Was

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A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , Wo r k s h o p „ M o d a l i t i e s o f P h o t o g r a p h y “ , D I F_ 0 0 0 5 9 9 _1, 2 019 .

sind die Fotografien?“, sondern „Was macht man mit den Fotografien und was machen sie mit uns?“. AL

Ganz intuitiv, wenn ich ein Buch oder eine Ausstellung mache, schaffe ich eine Choreografie von Bildern. Ich nehme den Ausdruck eines Fotos im DIN A4-Format und beginne zu arbeiten. Die Fotografien physisch vor mir zu haben, ermöglicht eine effektivere Arbeit als im Digitalen. Du kannst Dich auf mehreren Ebenen bewegen, Du kannst sie übereinanderlegen, sie nebeneinanderlegen, sie im Raum überlagern. Ein Programm stattdessen, wenn auch 3D, hat eine lineare Logik, die keine wahre Bewegung im Raum zulässt. Die Art und Weise, so mit den Händen zu interagieren, wie wir es auf den beiden Fotografien sehen, ist intuitiver. Sie umfasst nicht nur die Sehkraft, doch auch den Tastsinn.

CC

Vorhin sprachen wir von Notationen: Wir sind hier dabei, die Notationen der Photothek anzuwenden, weil es das Ziel des Workshops war, einige Deiner Fotografien auszuwählen und zu ihnen die entsprechenden Trägerkartons nach den bestehenden

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Choreografien des fotografischen Archivs I

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , Wo r k s h o p „ M o d a l i t i e s o f P h o t o g r a p h y “ , D I F_ 0 0 0 615 _ 42 , 2 019 .

Konventionen der Photothek zu erstellen. Einige der Teilnehmenden waren mit den internen Katalogisierungstechniken der Photothek nicht vertraut und das Experiment hatte zum Zweck, die Taxonomien und Prozesse der Produktion von Fotografien im Archiv gemeinsam zu reflektieren. Der Tanz, der aus den Korrespondenzen unserer Gesten entstand, ist ein zweitrangiges Ergebnis, die wesentliche Choreografie im Zentrum des Workshops war die des Fotokartons. Wir versuchten, die normative Notation der Photothek auf auktoriale, künstlerische Fotografien verschiedener Sujets anzuwenden, die nicht mit den üblicherweise in der Photothek katalogisierten Fotografien (dokumentarisch, oft anonym, im Bereich der italienischen Kunst) vereinbar sind. AL

Die nächste Fotografie bezieht sich auf den Moment des Herausnehmens von Fotografien aus einer Archivbox. Es ist ein bedeutungsvoller Moment, denn jede Extraktion entspricht sozusagen einem Potenzial. Die Kiste als Objekt präsentiert sich mit offenem Deckel, sie ist inszeniert: Der Fotograf hat entschieden, sie

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Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , P h o t o t h e k , H a n d l u n g e n i m F o t o a r c h i v : F o t o s c h a c h t e l , D I F_ 0 0 0 6 6 6 _ 47 8 , 2 019 .

zu öffnen, um ihre Funktionalität zu demonstrieren. Auch das dargestellte Objekt ist eine Kiste, und so sehen wir eine offenstehende Kiste in einer geöffneten Kiste.

Abb. 6 ▲ CC

Stimmt, der Fotograf hat die Kiste zwar geöffnet, aber zur gleichen Zeit ist es die Archivarin (von der eine Hand zu sehen ist), oder in anderen Fällen eine Kunsthistorikerin, welche die Schachtel öffnete: Die selbe Geste kann unterschiedliche Valenzen haben, sofern sie von verschiedenen Akteuren, die hier wie im Theater zusammenarbeiten, durchgeführt wird. Die Tänzerinnen und Tänzer, die sich in diesen Bildern bewegen, sind immer mindestens zu zweit, die Archivarin oder der Archivar bzw. Nutzerinnen und Nutzer sowie der Fotograf.

AL

Das ist sehr wichtig, es ist eine gemeinsame Arbeit und eine stetige Verhandlung: Der Fotograf oder die Fotografin fotografiert nicht nur die Realität, sondern die Realität mit sich selbst darin; er

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Choreografien des fotografischen Archivs I

oder sie befindet sich im Zentrum der Inszenierung und handelt laufend mit den anderen Akteuren und Elementen, wie in einer Improvisation. Es war noch vor der Pandemie, aber um quasi eine subjektive Aufnahme aus der Sicht der Archivarin zu realisieren, musste ich eine Art Sicherheitszone um ihre Person betreten. CC

Diese weiteren Abbildungen zeigen die Hand meiner Kollegin in einer fast andächtigen Geste, als sie Dir die Fotografien zeigt, welche als Geschenk des Kunsthistorikers Aby Warburg an unser Institut gelangten.

Abb. 7 ► AL

Abb. 8 ►►

Ja, hier wurden die Hände inszeniert. Diese Fotografien haben wir auf einer Ablage in der Photothek vor dem Fenster zur Piazza Santissima Annunziata geschossen. Ich habe versucht, das daher kommende natürliche Licht zu betonen.

CC

Lass uns in Bezug auf die Hände einen Blick auf die Video­ stills des langen Interviews in mehreren Etappen werfen, welches Du 2018 mit mir geführt hast. Ich habe sie als Abbildungen für mein Essay ausgewählt.

AL

Wir können hier von zwei Dingen sprechen: Die Bilder, die auf den Fotografien zu sehen sind, welche Du in den Händen hältst sowie Deine Gesten an sich. Beginnen wir dort, wo Du die Rekonstruktion des Innenraums der Kirche zeigst (Caraffa Abb. 2). Was wir in der Kirche sehen, ist bereits eine Choreografie: Die einzelnen Episoden des Gemäldezyklus repräsentieren Körper im Raum. Es sind verschiedene Räume, die wie Theaterkulissen funktionieren. Die Szenografie wechselt und es folgt der nächste Akt, einer nach dem anderen. Gustav Ludwig, wenn ich mich recht an den Namen des Autors erinnere, macht hier etwas, das einer Art Photoshop gleichkommt, richtig?

CC

Ja, es ist eine Art Photoshop-Rekonstruktion. Wir befinden uns um 1900, Carpaccios Leinwandgemälde wurden bereits im 19.  Jahrhundert aus der kleinen Kirche Sant’Orsola in die Galleria dell’Accademia überführt. Gustav Ludwig rekonstruiert die ur­­ sprüngliche Sequenz, indem er Fotografien der einzelnen Szenen in ein Holzmodell klebt, das dann aus verschiedenen Blickwinkeln erneut fotografiert werden kann. Die neuen fotografischen Abzüge auf mattem Papier eignen sich, wie ich im Essay erkläre, dazu, den architektonischen Teil zeichnerisch zu ergänzen.

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Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , P h o t o t h e k , Z e i g e n , D I F_ 0 0 0 6 6 6 _16 6 , 2 019 .

AL

Ich fahre mit unserer Übung einer äußerst freien Anwendung von Begriffen aus der Choreografie, dem Theater und dem Tanz fort. Wir haben hier Bilder, also Fotografien von Gemälden, die Personen darstellen, welche im Raum choreografiert wurden. Wie ein richtiger Bühnenbildner schafft Ludwig mit dem Holzmodell eine Szenografie und positioniert dann die Fotografien der Gemälde im Raum, als seien sie Darsteller, die eine Geschichte erzählen; abschließend verifiziert er, wie sie sich mit der Szenografie des Gemeinsamen, der Kirche, verzahnen. Er inszeniert also den ursprünglichen choreografischen Kontext. Diese Inszenierung von Figuren im Raum existiert auf verschiedenen Ebenen: in den Bildern; im Rekonstruierungsversuch von Ludwig selbst, der die Gemälde in seinem szenografischen Modell anordnet; und dann bist dort Du und es ist an Dir, die Rekonstruktion zu nehmen, sie auf den Tisch zu legen und sie anderen Bildern einzelner Gemälde oder von Architektur gegenüberzustellen Der Tisch wird zum neuen Raum für eine Choreografie.

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Choreografien des fotografischen Archivs I

A r m i n L i n k e : K u n s t h i s t o r i s c h e s I n s t i t u t i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , P h o t o t h e k , H ä n d e i m F o t o a r c h i v, D I F_ 0 0 0 6 6 6 _18 8 , 2 019 .

CC

Genau, es gibt auch eine Inszenierung auf der Ebene des Tisches, wo ich die Fotografien zuvor ausbreitete, wie in einer Choreografie. Außerdem haben wir eine weitere theatralische Geste – wenn wir bei dieser Metapher bleiben wollen – die daraus besteht, ein Element aus dieser Bühne herauszunehmen und zu pointieren.

AL

Und tatsächlich nehme ich Dich auf und interviewe Dich, aber es ist kein klassischer Dokumentarfilm: Es geht nicht darum, zu dokumentieren, wie Du eine bestimmte Recherche durchführst. Du hast die Fotografien für das Interview auf den Tisch gelegt und versuchst meiner Videokamera zu erklären, wie eine Kunsthisto­ rikerin oder ein Kunsthistoriker, der sich mit diesen Fotografien beschäftigt, gearbeitet hat, oder arbeiten würde. Du bist dabei, es zu inszenieren oder wir sind es sogar beide, die diese Inszenierung vornehmen.

CC

Es handelt sich um ein choreografisches Re-Enactment der alltäglichen Gestik sowohl der Archivarinnen und Archivare, als auch der Nutzerinnen und Nutzer, aber zeitgleich ist es nicht nur

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Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

eine Mimesis von Gesten, die sich im Archiv vollziehen, sondern für das künstlerische Projekt gemacht. Es ist eine Form von „cultural display“, die wir in den letzten Jahren perfektionierten – ich denke hier an den Artikel von Corinne A. Kratz, „Rhetorics of Value: Constituting Worth and Meaning through Cultural Display“, der 2011 im Journal of the Society for Visual Anthropology erschienen ist. Bei unseren auf den Tischen komponierten Präsentationen gibt es einen performativen Aspekt, in welchen wir viel investieren, dem wir viel Wert zusprechen, im Sinne von Kratz und der „rhetorics of value“. AL

Und dann sind dort die Muster des Tisches, der Bluse, die blaue Farbe der Handschuhe: Auch diese Aspekte faszinieren mich.

CC

Ich wählte die folgende Fotografie (Caraffa Abb.  3, S.  56) wegen der komplexeren Geste der Hand, die sich hier an die Oberfläche der Fotografie annähert, um ihren Inhalt zu erklären.

AL

Diese Geste ist interessant, weil sie eine Art Reframing erzeugt; Du zeigst nicht nur darauf, es ist, als würdest Du ein Teilstück des Bildes analysieren. Normalerweise wird davon ausgegangen, eine Fotografie sei zweidimensional. Wir jedoch nähern uns geistig einer Fotografie, wir beachten ihre Details, wir befinden uns in einem ständigen Prozess des Zoomens, wir machen letztlich das, was ein Körper im Raum tut. Die interessantesten Fotografien sind diejenigen, die mehrere Ebenen der Lesbarkeit ermöglichen, fast stratigrafisch. Wären wir vor Ort in der Kirche, täten wir dasselbe: Wir gingen zunächst in die Mitte, würden uns dann ein Detail aus nächster Nähe ansehen, Selbiges vielleicht auch aus der Ferne, weshalb wir uns in die entfernteste Ecke begeben würden, um die Gesamtheit zu verstehen. Danach könnten wir zurückkehren, um die Architektur innerhalb des Gemäldes zu betrachten. All das würden wir mit unserem Körper tun, der sich dabei im Raum bewegt. Hierbei scheint es, als würden wir uns ständig mit einer Steadycam bewegen, manchmal wechseln wir die Kamera und dann nehmen wir vielleicht ein Mikroskop, ganz intuitiv, ohne sich bewusst zu sein, da uns das automatisch wiederfährt – all das leistet unser Körper. Dies ist ein höchst ausgeklügelter Prozess, dessen wir uns nicht immer bewusst sind, der die Beobachtung in einem realen Raum sowie die Beobachtung einer Fotografie verbindet. Und diese Hand verbildlicht einen Prozess, den wir unwillkürlich ausführen – eine Sache, die ich meinen Studierenden immer erklären muss!

CC

Es gibt noch eine weitere Ebene: Wie gesagt führe ich dieses Re-Enactment für das Interview mit Dir und für Deine Videokamera

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Choreografien des fotografischen Archivs I

durch, aber wir haben noch nicht unmittelbar über Deine Agenzia­ lität gesprochen – also die Tatsache, dass Du den Bildausschnitt änderst, Dich neben oder vor mich stellst, Du bist es, der mit der Kamera teils näherkommt, teils sich entfernt. Auch das ist eine Art von Interaktion im Raum. AL

In dieser Komposition habe ich zum Beispiel entschieden, mich mit meiner Kamera so zu positionieren, dass der Tisch zu einer Oberfläche wird, auf die man von oben blickt, ganz als wäre ich ein Flugzeug oder ein Heißluftballon, wie bei Luftbildern oder in einer Vedute aus der Vogelperspektive. Ferner gibt es zwei weitere Ebenen: die Fotografien auf dem Tisch und Deine Hände, die zu Städten oder Türmen in der Landschaft werden.

CC

Wir kommen nun zum letzten Videostill (Caraffa Abb. 4, S.  57). Im Vergleich zu den anderen hat sich die Position Deiner Kamera hier verändert. Du stehst nicht mehr neben, sondern vor mir, und dieses Ändern der Position unterstreicht Deine Agenzialität. Außerdem zeigt das Bild zwei wichtige Aspekte: Die beschriebene Rückseite der Fotografie und die Geste des Zeigefingers, der auf die indexikalische Eigenschaft der Fotografie verweist. Die Rückseite enthält Informationen, Metadaten, und mehr: Diese Fotografien stammen von einem Kunsthändler, demnach findet man eine Beschreibung der Objekte, aber auch einen Hinweis zum Preis in verschlüsselter Form, zuweilen sogar die Adresse der Kundin oder des Kunden.

AL

Es handelt sich um Informationen, die wir forensisch nennen könnten. Sie erlauben eine Rekonstruktion des kulturellen und sozialen Werts des dargestellten Objekts. Ein wirtschaftlicher Wert in einem kulturellen System, ebenso wie eine Geografie der Verbreitung dieser Objekte.

CC

Doch sie erlauben uns vor allem, die Verwendungen dieser Fotografien zu verstehen. Aus meiner Sicht handelt es sich bei dem, was Du eben erwähntest, um eine sekundäre Ebene. Primär geht es mir darum zu verstehen, wie die Fotografien Teil einer viel umfassenderen Praxis waren, und zwar der des Kunstmarkts. In anderen Worten: Was waren die fotografischen Praktiken im Kunstmarkt? Die Fotografien wurden genutzt, an Kundinnen und Kunden versandt, mit Notizen versehen, archiviert, erhielten manchmal eine Nummer, die dem abgebildeten Objekt entsprach. Sie dienten als Archiv und sie verkörperten gleichwohl das Archiv dieser Kunsthändlerin oder dieses Kunsthändlers.

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Armin Linke im Gespräch mit Costanza Caraffa

AL

Mich beeindruckt immer sehr zu sehen, inwieweit ihr diese Beschriftungen zu lesen und zu entschlüsseln wisst. Einmal sagtest Du mir, dass ihr in vielen Fällen auch die verschiedenen Handschriften der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Photothek wiedererkennen und zuordnen könnt: Auch die Schrift ist ein Produkt eines sich auf einer Oberfläche bewegenden Körpers. Wir können die Beschriftungen auch als Notation deuten, die eine Landschaft auf der Rückseite der Fotografie oder des Trägerkartons bildet: Manchmal folgen diese Notationen in einem Archiv gewissen Regeln, manchmal gibt es jedoch keine und so erzeugen die Notationen mehr zufällig fast musikalische Kompositionen nach John Cage.

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Choreografien des fotografischen Archivs I

Choreografien des fotografischen Archivs II Notationen und eloquentia corporis in der Photothek Costanza Caraffa

Dieser Essay handelt von verschiedenen Begegnungen: den Begegnungen von Foto-Objekten und weiteren Handelnden in einem fotografischen Archiv; der Begegnung zwischen dem Fotografen und Videokünstler Armin Linke und mir als Kunsthistorikerin und Leiterin der Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz; sowie meiner Begegnung mit dem Choreografischen, die ich der Tanzwissenschaftlerin Isa Wortelkamp zu verdanken habe. Meinem Aufsatz ist ein Beitrag von Linke vorangestellt, „Choreografien des fotografischen Archivs I“, der aus seinem visuellen Essay und einem kommentierenden Text von uns beiden besteht. Linkes Fotoessay mit Aufnahmen größtenteils aus dem Jahr 2019 sowie die von mir hier verwendeten Videostills aus einem Interview von 2018 sind von meinem eigenen Beitrag nicht trennbar – allerdings nicht im herkömmlichen Sinne des Verhältnisses zwischen Text und Bild. Wollte ich Linkes Bilder als Illustrationen benutzen, um das vorgeschriebene Thema des Choreografischen im Foto­archiv anzugehen, könnte ich mich entlang der gesamten Bildabfolge rein linear und deskriptiv bewegen. Als Kunsthistorikerin und Leiterin eines Archivs von Dokumentarfotografien für die Kunstgeschichte könnte ich etwa damit anfangen, die unterschiedlichen Inszenierungsstrategien der fotografierten Kunstobjekte zu besprechen. Dabei könnte ich den sichtbaren, aber vielleicht auch nicht so substantiellen Unterschied zwischen Fotografien des flüchtigen Tanzes und der Dokumentation statischer Monumente hinterfragen: Sind denn Monumente wirklich so statisch? Oder ich könnte in die Dimension des Archivs hineingehen, um darzustellen, wie Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in einem Fotoarchiv arbeiten, wie sie die Fotografien benutzen, welche Gestik damit verbunden ist. Ferner könnte ich in einem ideellen Austausch mit der spezialisierten Leserschaft dieses Buches das Choreografieren von Fotografien auf den Schreibtischen der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern als visuelle Argumentation analysieren; diese Praktiken könnten ihrerseits mit den fotografischen Praktiken von Tanzforscherinnen und Tanzforschern verglichen werden. Dabei würde es sich häufig als sehr schwierig erweisen, die Gestik der Archivarin oder des Archivars von der Gestik der Wissenschaftlerin oder des Wissenschaftlers zu unterscheiden. Stattdessen werde ich mich im Folgenden auf eine andere Perspektive konzentrieren, indem ich den Blickwinkel auf das Archiv nicht von außen, sondern aus dem Inneren des Archivs selbst richte.

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

1 Dazu kommt als Moment der kollektiven Interaktion der Workshop Modalities of Photography, den Armin Linke und ich am 16. September 2019 in Florenz in der Photothek veranstaltet haben. Die Fotografien in Linkes visuellem Essay „Choreografien des fotografischen Archivs I“ wurden größtenteils im Rahmen dieses Workshops aufgenommen.

Denn das Archiv, das ist ja eine der Prämissen des vorliegenden Bandes, ist häufig der Kontext bzw. das Umfeld, in dem die Begegnung mit Fotografien stattfindet. Hier spreche ich vor allem über analoge Fotoarchive, wenngleich es genauso berechtigt wäre, über OnlineDatenbanken und digitale Praktiken zu sprechen, sind diese doch auch Archive, in denen sich choreografische Dimensionen erkennen ließen. Noch ein Caveat: Ich neige dazu, was auch im Folgenden geschieht, über das Fotoarchiv, die Praktiken des Fotoarchivs und sogar mein Fotoarchiv zu sprechen, da ich häufig situativ argumentiere. Natürlich meine ich aber Fotoarchive im Plural. Was mich bewegt, ist nicht so sehr eine Idee der Fotografie oder des Fotoarchivs, sondern vielmehr die Pluralität von Fotografien und Fotoarchiven in ihrer Einzigartigkeit. Nichtsdestotrotz rekurriere ich jetzt auf ein Archiv, auf mein Fotoarchiv sozusagen, die Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz, sowie auf die Bilder der eloquentia corporis aus der Fotoabfolge von Linke, um die Arbeit im Fotoarchiv von Innen darzustellen. Darstellen ist hier das richtige Wort. In diesem Beitrag beschäftige ich mich eher wenig mit den fotografierten Objekten, der eigentlichen raison d’être für die Gründung und das Bestehen unserer Fotoarchive. Fotografien in Archiven wie der Florentiner Photothek sind wegen ihres visuellen Inhalts, wegen der dargestellten Objekte gesammelt worden: Sie dienten und dienen (immer häufiger nach ihrer Umwandlung ins digitale Format) als bildliche Surrogate der abgebildeten Kunstwerke. In meiner Arbeit bin ich vielmehr an den Foto-Objekten selbst interessiert, weswegen ich immer wieder versuche, von dem abzusehen, was in ihnen indexikalisch dargestellt ist; und ich bin auch an der Darstellung des Archivs interessiert. Schon seit einer Weile beschäftige ich mich mit Agenzialitäten im Ökosystem des Fotoarchivs: Foto-Objekte und weitere Archivstrukturen, aber auch Archivarinnen und Archivare. Angeregt durch den Austausch mit Wortelkamp habe ich begonnen, über die Arbeit im Fotoarchiv als eine Choreografie nachzudenken. In diesem Text präsentiere ich versuchsweise erste Überlegungen. Dabei stütze ich mich auf die Erfahrung der Interviews, die Linke vor allem im Herbst 2018 mit mir realisiert hat.1 In diesen langen Gesprächen vor der Videokamera habe ich praktisch alles erzählt, was ich über meine eigene Photothek wusste – und auch bis dahin nicht wusste. Denn auf fast sokratische Art und Weise hat mich Linke in einem Prozess der Erkenntnisgewinnung begleitet, bei dem mir selbst klar wurde, wie weit ich in meiner Rolle als Leiterin

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Costanza Caraffa

2 Van Eikels, Kai; Matzke, Annemarie M. u. Wortelkamp, Isa: „Bewegung“, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. v. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch u. Matthias Warstat, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler, 2005, 33–42; Brandstetter, Gabriele: „Choreographie“, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, 52–55. Als meine eigene Einführung zum Thema der Tanzfotografie diente der Band: Jahn, Tessa; Wittrock, Eike u. Wortelkamp, Isa (Hg.): Tanzfoto­ grafie: historiografische Reflexionen der Moderne, Bielefeld: transcript 2015 und insbesondere der darin enthaltene Aufsatz von Isa Wortelkamp: „Blinde Flecken. Historiografische Perspektiven auf Tanz­ fotografie“, 175–186.

der Photothek, als Archivarin und Wissenschaftlerin, mit meinem eigenen Körper und meinem eigenen Tun dastehe. Das Gespräch mit Linke, das diesem Aufsatz vorausgeht, gewährt Einblick in den Prozess der Interaktion mit dem Künstler. Diese Erfahrung hat eine wichtige, zusätzliche Facette zu meinem konzeptuellen Ansatz der Agenzialität von Fotografien, aber auch von Archivarinnen und Archivaren gebracht. Mit dieser eloquentia corporis im Sinne der antiken Rhetorik und als Komplementär zur Rede (denn ich habe natürlich auch etwas gesagt) inszeniere ich im Interview die Handlungen des Fotoarchivs, die auch Handlungen von Archivarinnen und Archivaren oder von Benutzerinnen und Benutzern sein könnten.2 Dieses choreografische Re-Enactment der zum Teil seriellen Gesten unseres Alltags findet meistens zu einem speziellen Anlass statt. In dem hier besprochenen Fall war es für das Interview mit Linke, aber es hätte eine Evaluierung sein können, bei der ich unserem Fachbeirat die Arbeit in der Photothek präsentiere; oder ein Kuratorium, bei dem es einen zusätzlichen Schwierigkeitsgrad gibt, da dort selten Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaftler sitzen, sondern Leute aus der Wirtschaft und Zivilgesellschaft, die häufig die verbreitete Meinung teilen, dass Archive staubig und alte Fotografien uninteressant seien. Andere Male handelt es sich um Gruppen von Studierenden oder Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fächern. Von der Wirksamkeit der Inszenierung hängen sehr häufig die Anerkennung des Wertes der Fotografien, die Legitimation eines Fotoarchivs und letztlich seine eigene Existenz ab. Dank der Interviews mit Linke bin ich mir der Wirksamkeit bewusster geworden, die eine solche performative Präsentation durch choreografierte Bewegungen im geordneten Raum des Archivs entfaltet.

Abb. 1 ► Es folgen einige Informationen über die von mir geleitete Photo­thek, die hier exemplarisch als Szene choreografischer Praktiken dient und mir somit die maximale Selbstreflektion und Positionalität erlaubt. Die Photothek wurde 1897 zusammen mit dem Kunst­ historischen Institut in Florenz gegründet. Dieses war als eine Art Arbeitsstation nah an den Originalen (den italienischen Kunstwerken

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

Armin Linke: Costanza Caraf fa , Interview in der Photothek des K u n s t h i s t o r i s c h e n I n s t i t u t s i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t , 2 018 , Videostills, © Armin Linke, Mailand / Berlin. Nachbearbeitung : Giulia Bruno.

und Monumenten, auf die sich damals eine breite Sparte der Kunstgeschichte konzentrierte) für Wissenschaftler vor allem aus dem deutschsprachigen Raum gedacht, auch wenn es von Anfang an für Kolleginnen und Kollegen aus der ganzen Welt offen war. Fotografien waren am Ende des 19. Jahrhunderts schon das Hauptmedium der kunsthistorischen Forschung3 und das Anlegen einer Sammlung an fotografischen Dokumentationen daher naheliegend, wie die parallele Gründung der Institutsbibliothek. Seitdem sam3 Hamber, Anthony J.: A Higher Branch of the Art. Photographing the Fine Arts in England 1839 – 1880, Amsterdam: Gordon and Breach, 1996; Johnson, Geraldine A. (Hg.): Sculpture and Photography: Envisioning the Third Dimension, Cambridge: Cambridge Univ. Press, 1998; Caraffa, Costanza (Hg.): Photo Archives and the Photographic Memory of Art History, Berlin: Deutscher Kunstverlag, 2011; Hamill, Sarah u. Luke, Megan R. (Hg.): Photo­ graphy and Sculpture: The Art Object in Reproduction, Los Angeles: The Getty Research Institute, 2017.

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melt die Photothek dokumentarische Fotografien, die meistens Werke der italienischen Kunst und Architektur zeigen; mit ihren 630.000  Fotografien (Zahl Februar 2022, stetig wachsend) ist sie eine der wichtigsten Fotosammlungen für das Studium der ita­ lienischen Kunst und Architektur. Hierin besteht gleichzeitig der Wert und gleichsam die Einschränkung des Wertes dieses Foto­ archivs, denn dokumentarische Fotografien stehen ganz unten im Wertesystem der Kunstgeschichte, die auf Ideen wie Autorschaft, Unikat und Werk bzw. Kunstwerk gegründet ist. Diese Begriffe prägen nicht nur die Kunstgeschichte, sondern viele andere Disziplinen sowie die Wertesysteme der Museen und letztlich auch des Kunstmarktes. Damit hängt die grundsätzliche Entwertung zusammen, die solche Fotoarchive wie die Florentiner Photothek

Costanza Caraffa

4 Vestberg, Nina Lager: „Archival Value. On Photography, Materiality and Indexicality“, in: Photo­ graphies, 1 (1), 2008, 49–65.

häufig erfahren: Hier sehen auch viele Kolleginnen und Kollegen keine multiplen Originale, sondern lediglich Massen von meistens anonymen, sowieso reproduzierbaren Bildern, reine Darstellungen der fotografierten Kunstwerke. Auf der anderen Seite werden wir immer häufiger mit dem „contemporary repackaging of erstwhile ephemeral and disposable photographic prints“ konfrontiert, die einen neuen „archival value“ erhalten.4 An dieser Stelle möchte ich damit beginnen, die Prinzipien der Choreografie konkreter auf meine Analyse der Arbeit in der Photothek anzuwenden. Geleitet von der Idee von Choreografie als ein Regelwerk für die Organisation von Bewegung in Zeit und Raum fange ich also mit dem Raum an, um die Choreografien des fotogra­ fischen Archivs besser nachzuvollziehen. Mein Ziel dabei ist auch, den Wert der fotografischen Objekte über die Wertesysteme der Kunstgeschichte und der Museen hinaus zu explorieren. Die Szene ist ein Palast des 16. Jahrhunderts, der Palazzo Grifoni Budini Gattai an der Piazza Santissima Annunziata in Florenz, in dem sich die Photothek seit 2010 befindet. Hier findet die Inszenierung der Fotografien statt, die in Boxen und Regalen nach einer Systematik im Sinne eines zeitlichen und räumlichen Arrangements choreografiert sind. Der Systematik entspricht eine räumliche Ordnung der Photothek, die durch Inschriften an den Regalen (z. B. zu den Sektionen Architektur oder Malerei) vermittelt wird. Diese Systematik und räumliche Ordnung gelten für die Benutzerinnen und Benutzer wie auch für die Archivarinnen und Archivare. Die Fotoboxen selbst sind beschriftet und diese Beschriftungen informieren an erster Stelle über die entsprechende Sektion der Systematik. Im Folgenden beschreibe ich telegrafisch die Sektionen: Die größte Sektion ist die Malerei, die gleich zwei Räume einnimmt. Innerhalb dieser Sektion erfolgt eine Gliederung nach Epochen: Romanik, Gotik, Renaissance, Barock, 19. Jahrhundert. Hier zeigt sich sofort ein Problem, denn es gibt zwischen dem Barock und dem 19. Jahrhundert keinen flüssigeren Übergang, was mit den Ansätzen der Disziplin Kunstgeschichte um 1900 (als das Klassifikationssystem gestaltet wurde) sowie dem Standort Florenz zu tun hat. Die Sektion Skulptur ist ebenfalls nach Epochen gegliedert. Bei Malerei und Skulptur sind die Fotografien innerhalb der Epochen nach Künstlern verteilt. Dazu gibt es eine kleine, separate Sektion über italienische Kunst des 20. Jahrhunderts. In der Sektion Architektur folgt auf die Teilung nach Epochen eine Gliederung nach italienischen Regionen und Ortschaften. Die Sektion Kunstgewerbe

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

5 Dercks, Ute: „‘And because the use of the photographic device is impossible without a proper card catalog…’. The Typological-Stylistic Arrangement and the Subject Cross-Reference Index of the KHI’s Photothek between 1897 and the 1930s“, in: Classi­ fying Content. Photographic Collections and Theories of Thematic Ordering, hg. v. Chiara Franceschini u. Katia Mazzucco, Visual Resources, 30.3, London: Routledge 2014, 181–200. 6 Siehe www.khi.fi.it/ de/photothek/bestand.php sowie die Benutzerordnung https://www.khi.fi.it/pdf/ institut/Informationen_ zur_Benutzung.pdf (zuletzt geprüft 02.03.2022). 7 Brandstetter: „Choreographie“, 53.

ist ganz anders, nach Materialien organisiert. Die etwas besondere Sektion Antike, hier im Sinne der Archäologie als Hilfswissenschaft der Kunstgeschichte, ist ihrerseits nach Architektur, Skulptur und Malerei strukturiert.5 Diese Systematik spiegelt die Periodisierung der (italienischen) Kunst, wie sie die deutschsprachige kunst- und kulturhistorische Tradition des 19. Jahrhunderts und vor allem die Werke Jacob Burckhardts fixiert hatten, wider. Und dazu gibt es sozusagen mehrere Tanznotationen, nach denen die Bewegungen der menschlichen Akteurinnen und Akteure im geordneten Raum der Photothek sich richten müssen. Andersrum gesehen: Diese Notationen regeln auch die Mobilität der Foto­grafien oder Foto-Objekte selbst innerhalb des Archivs. Die Notation für die Benutzerinnen und Benutzer steht auf der Webseite,6 wo die Sektionen beschrieben sind. Es gibt dann interne Notationen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die erklären zum Beispiel, wie die Epochen definiert sind. Zu dieser Regelung kann es dann auch Ausnahmen geben, wie der Fall von Lorenzo Ghiberti veranschaulicht. Die Grenze zwischen Gotik und Renaissance wird in der Notation mit dem Geburtsjahr 1401 definiert. Auch wenn er 1378, also viel früher als 1401 geboren wurde, gilt Ghiberti am Kunsthistorischen Institut in Florenz – wenige Schritte vom Baptisterium und seiner Paradiestür entfernt – natürlich als ein Künstler der Renaissance. Das zeigt, wie vorsichtig eine Notation zu interpretieren ist: Als „präskriptives Notat einer Aufführung“ lässt sie doch „stets Lücken: Zwischenräume, die offen sind für die Deutung sowohl durch die Tänzer als auch durch die Betrachter.“7 Schließlich gibt es auch eine Notation, welche die Arbeit der Photothek im digitalen Umfeld, d. h. in der Datenbank APS-Desktop regelt (ich meine hier die interne Version zur Erfassung der Fotografien durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, nicht die Digitale Photothek als Frontend für die Benutzerinnen und Benutzer). APS-Desktop bietet bei der Katalogisierung Erläuterungen an, beispielweise folgende Erläuterung zum Feld a8515 „Signatur“ als Angabe zur Sektion (z. B. „Mal. Ren.“ für „Malerei Renaissance“): „Signatur aus Liste übernehmen. Nur die in der Liste aufgeführten Signaturen sind zulässig. Falsche Eingabe verhindert das Speichern des Dokumentes. Wird eine neue Signatur benötigt, muss diese durch den Datenbankadministrator in die Liste aufgenommen werden“. In anderen Worten: bei Bedarf kann die Notation geändert werden, aber nur durch die autorisierte Person, die daher eine Autorität ausübt. Interessanterweise erfolgt die wissenschaftliche Katalogisierung in

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Costanza Caraffa

8 Bove, Jens; Heusinger, Lutz u. Kailus, Angela: Marburger Informations-, Dokumentations- und Administrations-System (MIDAS), hg. v. Bildarchiv Foto Marburg, München/ Leipzig: K.G. Saur 2001. 9 Zur notwendigen Kompetenz, aber auch Improvisationsfähigkeit der Archivarinnen und Archivare äußere ich mich ausführlich in dem hier vorangestellten Gespräch mit Linke „Choreografien des fotografischen Archivs I“. 10 Das Verbundprojekt wurde 2015–2018 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert (https://www. khi.fi.it/de/forschung/ photothek/foto-objekte/ index.php, zuletzt geprüft 02.03.2022). Projektpartner waren neben der Photothek des Kunsthistorischen Instituts in Florenz – Max-PlanckInstitut, das Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin sowie die Kunstbibliothek und die Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Die Ausstellung lief zwischen dem 16. Februar und dem 27. Mai 2018 in der Kunstbibliothek am Kulturform in Berlin (https:// www.khi.fi.it/de/aktuelles/ ausstellungen/2018-02unboxing-photographs.php, zuletzt geprüft 02.03.2022). 11 Siehe https://vimeo. com/510742598 (zuletzt geprüft 02.03.2022).

APS- Desktop selbst nach einem eigenen Regelwerk, dem in Deutschland verbreiteten Standard MIDAS.8 Wie schon angesprochen, würde eine Behandlung der digitalen Aspekte den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Schließlich ist erwähnenswert, dass die Fotoschachteln nicht nummeriert sind. Also um die richtige Position einer einzelnen Fotografie in der Systematik, in den Räumen und in den einzelnen Schachteln zu definieren, muss man diese Regelwerke, diese Nota­ tionen sehr gut kennen, aber manchmal frei interpretieren können.9 Bisher habe ich die Photothek als Szene der Suche im Bestand und Benutzung der Fotografien vorgestellt, aber es gibt auch eine Back­ stage, wo die Bearbeitung oder anders gesagt die Produktion der Foto-Objekte stattfindet, bevor sie zur Konsultation gestellt werden. Die Fotografien von Linke geben schon einen Einblick hinter die Kulissen. Einen regelrechten Tanz im Fotoarchiv zeigt die Video­ installation An den Rändern, rau von Johannes Braun und Toby Cornish (die als Kollektiv JUTOJO firmieren). Die Video­installation entstand im Rahmen des Verbundprojektes Foto-Objekte  – Foto­ grafien als (Forschungs-) Objekte in Archäologie, Ethnologie und Kunstgeschichte und wurde 2018 zusammen mit weiteren künstlerischen Interventionen auf der Ausstellung Unboxing Photo­graphs. Arbeiten im Fotoarchiv gezeigt.10 In einer Präsentation, die weite Teile der Videoinstallation zeigt und auf Vimeo zu sehen ist, legen Braun und Cornish offen, wie sie die entsprechende Notation Schritt für Schritt konzipiert haben.11 Ihr Interesse galt den Gesten der Archivarinnen und Archivare, aber auch den Fotomaterialien sowie den Soundkulissen in vier unterschiedlichen Fotoarchiven. Es war selbst für uns lehrreich zu sehen, wie seriell diese Gesten sind. Handschuhe anziehen, Fotoschachtel aus dem Regal ziehen, schieben, Karteikartenkataloge öffnen, blättern, Fotokartons beschriften, stempeln, Fotografien kleben, messen, scannen: Jede derartige Handlung geschieht selten einmal, sie wird eher mehrmals hinter­ einander als Serie wiederholt, um die Massen des Archivs zu bewältigen. Dieselben Gesten kommen ferner in verschiedenen Archiven vor und werden in verschiedenen Kontexten wiederholt. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht eine erstaunliche Kreativität der Gesten gibt.

12 Zu den bahnbrechenden Publikationen gehören: Schwartz, Joan M.: „‘We Make Our Tools and Our Tools Make Us’: Lessons from Photographs

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Über diesen Punkt in Zusammenhang mit Tanz und Choreografie nachzudenken, ist extrem anregend, da auch beim Tanz Serialität alles andere als im Widerspruch zur Kreativität steht. Die Serialität der Gesten im Fotoarchiv wird häufig durch das Tragen von

Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

for the Practice, Politics, and Poetics of Diplomatics“, in: Archivaria, 40, Ottawa: ACA 1995; Pinney, Christopher: Camera Indica: The Social Life of Indian Photographs, London: Reaktion Books/Chicago: University of Chicago Press, 1997; Edwards, Elizabeth: Raw Histories. Photographs, Anthropology and Museums, Oxford: Berg 2001; Edwards, Elizabeth u. Hart, Janice (Hg.): Photo­ graphs Objects Histories. On the Materiality of Images, London/NewYork: Routledge 2004. Siehe für einen Überblick Caraffa, Costanza: „Photographic Itineraries in Time and Space. Photographs as Material Objects“, in: Handbook of Photography Studies, hg. v. Gil Pasternak, London: Bloomsbury 2020, 79–86.

Handschuhen betont. Wenn ich heute die im Jahr 2017 entstandenen

13 Caraffa: Photo Archives; Bärnighausen, Julia; Caraffa, Costanza; Klamm, Stefanie; Schneider, Franka u. Wodtke, Petra (Hg.): Photo-Objects. On the Materiality of Photographs and Photo Archives in the Humanities and Sciences, Berlin: Edition Open Access/Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 2019; Bärnighausen, Julia; Caraffa, Costanza; Klamm, Stefanie; Schneider, Franka u. Wodtke, Petra (Hg.): Foto-Objekte. Forschen in archäologischen, ethnolo­ gischen und kunsthisto­ rischen Archiven, Bielefeld/ Berlin: Kerber 2020.

mehr als Quellen. Sie sind dreidimensionale, materielle Objekte mit

14 Caraffa, Costanza: „Manzoni in the Photothek. Photographic Archives as Ecosystems“, in: Instant Presence. Representing Art in Photography. In Honor of Josef Sudek (1896–1976), hg. v. Hana Buddeus, Katarína Mašterová u. Vojtˇech Lahoda. Prag: Artefactum, 2017, 121–136; Edwards, Elizabeth: „Thoughts on the ‘Non-Collections’ of the Archival Ecosystem“, in: Photo-Objects, 67–82.

der Systematik, Inventarbüchern und Zettelkatalogen sowie den

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Videoaufnahmen von Braun und Cornish nochmal betrachte und sie neben die Fotografien und Videos von Linke stelle, fällt mir ein Detail auf: In der Projektlaufzeit von Foto-Objekte haben wir meistens weiße Baumwollhandschuhe getragen, die mittlerweile von (häufig blauen) Latex- oder Nitril-Handschuhen ersetzt wurden. Eine sich ändernde Archivpraxis hat hier gleichsam als Kostümbildnerin gewirkt. Die Etymologie von Choreografie verweist auf den chorus: Die Arbeit im Fotoarchiv (und natürlich auch die Zusammenarbeit bei einer Ausstellung) ist in der Tat immer eine chorale, kollektive Arbeit. Den Hintergrund meines methodischen und theoretischen Zugangs bildet die Materialität der Fotografien und der fotogra­ fischen Archive. Fotografien sind nicht nur flache, zweidimensionale Bilder. Sie sind auch nicht nur Quellen, obwohl ihre Würdigung als Quellen in vielen Disziplinen als eine Errungenschaft zu sehen ist – hier sind Kunstgeschichte und Tanzforschung vergleichbar. Aus meiner Sicht sind allerdings Fotografien mehr als Bilder und einer räumlichen und zeitlichen Dimension. Sie werden beschriftet, geschnitten, auf Karton geklebt, katalogisiert, manchmal auch zerstört, sie tragen die materiellen Spuren ihrer Biografien oder Itinerare bzw. der verschiedenen Bedeutungen und Funktionen, die sie über die Zeit angenommen haben. Dieser Diskurs hat seine Anfänge in den 1990er Jahren am Schnittpunkt von (britischer) visueller Anthropologie, (kanadischer) Archivforschung und material culture studies12 und mittlerweile viele Disziplinen erreicht.13 Fotografien oder vielmehr Foto-Objekte existieren demnach in sozialen und kulturellen Kontexten und einer dieser Kontexte ist das Fotoarchiv. Fotoarchive selbst sind mehr als die Summe der in ihnen aufbewahrten Objekte: Sie sind Ökosysteme, in denen die Fotografien mit anderen Organismen, wie den Boxen und Etiketten, den Regalen, digitalen Tools agieren und interagieren.14 Dazu gehören auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie die Archivarinnen und Archivare. Letztere beschränken sich nicht darauf, Fotografien aufzubewahren, sie produzieren vielmehr die fotografischen Dokumente und Objekte, indem sie sie auswählen, transformieren, auf Karton montieren, bereitstellen, katalogisieren, zur Digitalisierung selektieren – oder auch nicht. Erst durch diese Aktionen werden die Foto-Objekte (zum Beispiel in einem Archiv wie der Photothek)

Costanza Caraffa

15 Cook, Terry u. Schwartz, Joan M. (Hg.): Archives, Records, and Power, doppeltes monografisches Heft von Archival Science: International Journal on Recorded Infor­ mation, 2 (1-2), Dordrecht: Kluwer Academic Publish­ e­ rs 2002; Schwartz, Joan M.: „Coming to Terms with Photographs: Descriptive Standards, Linguistic ‘Othering’ and the Margins of Archivy“, in: Archivaria, 54, Ottawa: ACA 2002, 142–171; Schwartz, Joan M.: „The Archival Garden: Photographic Plantings, Interpretive Choices, and Alternative Narratives“, in: Controlling the Past: Docu­ menting Society and Insti­ tutions: Essays in Honor of Helen Willa Samuels, hg. v. Terry Cook, Chicago: Society of American Archivists 2011, 69–110; Cook, Terry: „‘We Are What We Keep; We Keep What We Are’: Archival Appraisal Past, Present and Future“, in: Journal of the Society of Archivists, 32 (2), 2011, 173–189.

zu wissenschaftlichen Fotografien. Archivarinnen und Archivare

16 Die Ergebnisse sind hier dargelegt: Costanza Caraffa: „From ‘Photo Libraries’ to ‘Photo Archives’: on the Epistemological Potential of Art-Historical Photo Collec­ tions, in: Photo Archives and the Photographic Memory of Art History, hg. v. Costanza Caraffa, Berlin/ München, Deutscher Kunstverlag 2011, 11–44; Costanza Caraffa: „‚Wenden!‘ Fotografien in Archiven im Zeitalter ihrer Digitalisierbarkeit: ein Material Turn“, in: Rundbrief Fotografie. Analoge und digitale Bildmedien in Archiven und Sammlungen, 71, Stuttgart: Fototext 2011, 8–15.

die Fotografien in Freihandaufstellung platziert sind. Mittlerweile

treffen alltäglich Entscheidungen, welche die Foto-Objekte und ihre möglichen Benutzungen, ihre Affordanz prägen.15 Diese beiden Ebenen, die Agenzialität der Foto-Objekte und die Agenzialität der Archivarinnen und Archivare, müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Es ist aus der Kombination dieser beiden Perspektiven, dass sich die wirklich interessanten Fragen ergeben: Was machen die Leute mit Fotografien? Was machen die Fotografien mit den Leuten? Ferner wäre mein eigener Ansatz ohne die verschiedenen Kooperationen der letzten Jahre mit Künstlerinnen und Künstlern undenkbar. Dabei möchte ich nicht nur auf Linke sowie Johannes Braun und Toby Cornish hinweisen, sondern zum Beispiel auf Joachim Schmid und Elisabeth Tonnard, die bereits 2016 im Rahmen einer kurzen, intensiven Residenz in unserer Photothek gearbeitet haben. Ebenso anregend war der Austausch mit Antonio Di Cecco, Guido Guidi, Ola Kolehmainen, Akram Zaatari. Ich komme auf das erwähnte Interview mit Linke von 2018 zurück, um meine Anwendung der oben skizzierten theoretischmethodischen Linie kurz vorzuführen. Das Interview begann in den Räumen der Photothek im ersten Obergeschoss (s. Abb. 1), wo sind wir im Erdgeschoss, in der Sektion Cimelia Photographica, in der besonders wichtige oder seltene Fotografien auf bewahrt werden. Im Video habe ich eine Serie von Fotografien gleichsam choreografisch auf dem Tisch arrangiert.

Abb. 2 ► In dem im Videostill fixierten Moment ziehe ich aus diesem Zusammenhang ein Foto-Objekt, das ich in den Händen halte, damit Linke mit seiner Kamera meine Erklärung besser nachvollziehen kann. In diesem choreografischen Re-Enactment verfolge ich diesmal den Prozess der wissenschaftlichen Untersuchung dieses fotografischen Konvoluts zurück.16 Auf der Fotografie, die ich in den Händen halte, sind Fotografien der Gemälde des Renais­sance-Malers Vittore Carpaccio aus dem Zyklus der Heiligen Ursula in Venedig zu sehen. Genauer gesagt denkt man, fotografische Reproduktionen der Gemälde (und nicht zum Beispiel Zeichnungen oder Stiche) zu sehen, man hat allerdings den Eindruck, dass

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

Armin Linke: Costanza Caraf fa , Interview in der Photothek des K u n s t h i s t o r i s c h e n I n s t i t u t s i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t : H ä n d e , 2 018 , Videostill, © Armin Linke, Mailand / Berlin. Nachbearbeitung : Giulia Bruno.

diese Fotografien im Raum, in einem dreidimensionalen Gefüge stehen. Es gibt auch eine gezeichnete Partie sowie Inschriften auf dem Fotokarton. Alle Fotografien auf dem Tisch kommen aus dem Nachlass des Kunsthistorikers Gustav Ludwig. In den folgenden Minuten des Videointerviews führe ich unseren Weg zur Lösung der Frage vor. Weitere Foto-Objekte aus derselben Fotoschachtel „Mal. Ren. / Carpaccio / Sant’Orsola“ wurden herangezogen, welche ein Holzmodell zeigen. Dieses Holzmodell reproduzierte die schon 1806 aufgelöste Kapelle der Scuola di Sant’Orsola in Venedig, während die Gemälde in die Galleria dell’Accademia gebracht worden waren. Um seine Rekonstruktion der ursprünglichen Reihenfolge zu visualisieren, klebte Ludwig Fotoreproduktionen der einzelnen von Carpaccio gemalten Szenen in das Holzmodell und ließ es von verschiedenen Perspektiven fotografieren – eine Parallele zur Technik der Rekonstruktion von Tanzchoreografien anhand von fotografischen Serien. Die zweite Serie der bearbeiteten, auf mattem Papier aufgezogenen Fotografien diente als Basis für die zeichnerische Rekonstruktion des gesamten Raumeindrucks. Hier kommt eine weitere, nicht-schriftliche Notation zum Einsatz, welche den Rara-Status der Fotografien definiert: Diese Foto-Objekte befanden sich ursprünglich im Bestand, in der erwähnten Schachtel im ersten Obergeschoss, allerdings wurden sie mittlerweile in den

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Costanza Caraffa

Armin Linke: Costanza Caraf fa , Interview in der Photothek des K u n s t h i s t o r i s c h e n I n s t i t u t s i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t : G e s t i k , 2 018 , Videostill, © Armin Linke, Mailand / Berlin. Nachbearbeitung : Giulia Bruno.

Cimelia Photographica eingegliedert. Diese neue Konstellation entspricht einer Aufwertung. Die Rekonstruktionen wurden am Ende in Gustav Ludwigs posthumen Buch über Carpaccio von 1906, aber auch in meinen Publikationen sowie in Linkes Buch Modalities of Photography veröffentlicht, 2019 wurden sie zudem in Stuttgart in der Ausstellung Image Capital von Armin Linke und Estelle Blaschke gezeigt.17 Die Videostills dokumentieren weitere Aktionen im Umgang mit Foto-Objekten in einem wissenschaftlichen Fotoarchiv, das Zeigen zum Beispiel erfährt verschiedene Deklinationen wie Heranzoomen und Framing.

Abb. 3 ▲ 17 Ludwig, Gustav u. Molmenti, Pompeo: Vittore Carpaccio: la vita e le opere, Mailand: Hoepli 1906, 100–106; Balduzzi, Matteo (Hg.): Armin Linke. Modalities of Photography, Mailand: Silvana Editoriale 2020, 38; https://www. kunstmuseum-stuttgart.de/ ausstellungen/kubus-sparda-kunstpreis-2019 und die zugehörige Projektseite: http://image-capital. com/ (zuletzt geprüft 02.03.2022).

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Die Geste des gestreckten Zeigefingers als Verweis auf die Indexikalität der Fotografie kann sich auch auf eine Rückseite beziehen, auf der kein visueller Inhalt steht, sondern schriftliche Informationen.

Abb. 4 ► Schriftliche und visuelle Elemente zusammen mit den materiellen Spuren auf den Foto-Objekten erlauben wiederum, die Benutzungen der Fotografien zu untersuchen, in diesem letzten Fall fotografische

Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

Armin Linke: Costanza Caraf fa , Interview in der Photothek des K u n s t h i s t o r i s c h e n I n s t i t u t s i n F l o r e n z – M a x - P l a n c k- I n s t i t u t : Z e i g e f i n g e r, 2 018 , Videostill, © Armin Linke, Mailand / Berlin. Nachbearbeitung : Giulia Bruno.

Praktiken im Kunstmarkt.18 In diesen Videostills ist allerdings noch viel mehr kristallisiert: Wie es schon im Gespräch mit Linke klar 18 Caraffa, Costanza u. Bärnighausen, Julia (Hg.): Photography and Art Market around 1900, monografisches Heft von Mitteilungen des Kunst­ historischen Institutes in Florenz, 62.1, Florenz: Centro Di edizioni 2020. 19 Siehe https://www. khi.fi.it/de/aktuelles/ veranstaltungen/2020/01/ objects-of-migration-photoobjects-of-art-history.php sowie http://www. seedsforfuturememories. com/objects-of-migrationphoto-objects-of-arthistory-encounters-inan-archive/ (zuletzt geprüft 02.03.2022).http://www. seedsforfuturememories. com/objects-of-migrationphoto-objects-of-arthistory-encounters-in-anarchive/; ferner Goldhahn, Almut u. Ricciardo, Massimo: „Objects of Migration—Photo-Objects of Art History. Encounters in an Archive“, in: Visual Anthropology, 34.4, 2021, 339–367.

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wird, bin ich in diesem Re-Enactment nicht alleine, der Künstler ‚tanzt‘ mit mir und die Bedeutungen entstehen aus dieser gemeinsam geschriebenen Choreografie. Ich kenne meinen Teil und wiederhole Gesten, die ich schon tausend Mal gemacht habe; er kennt sich mit der Kamera aus; aber die Interaktion, die hier entsteht, enthält auch einen gewissen Grad der Improvisation. Plurale Konstellationen der Fotografien entstehen auch in Projekten wie Objects of Migration, Photo-Objects of Art History: Encounters in an Archive. Diese Installation des Künstlers Massimo Ricciardo wurde seit 2017 wiederholt in der Photothek inszeniert und soll bald in einem Concept Book thematisiert werden.19 Ricciardo hat zusammen mit Thomas Kilpper ein Archiv von Objekten der Migranten angelegt, die er buchstäblich auf den Stränden Siziliens gesammelt hat. In der Installation hat Ricciardo diese Objekte in einen Dialog mit Foto-Objekten der Photothek gebracht. Daraus entsteht wirklich eine ganz neue Konstellation. Eine Choreografie entfaltet sich vor der Kulisse der Photothek selbst mit den streng aussehenden Schachtel­ wänden. Die in der Szenografie inkorporierte Macht des Archivs scheint zunächst die fragilen Objekte aus dem Migrationskontext zu

Costanza Caraffa

erniedrigen, fast zu vernichten. Diese reagieren aber auf den beinahe unheimlichen Zusammenprall mit den scheinbar sauberen Strukturen der Photothek und fangen an, eine eigene, enorme Energie auszustrahlen. Die Installation, bei der wir von Archivarinnen und Wissenschaftlerinnen temporär zu Kuratorinnen werden, zeigt, dass die Potenziale eines Fotoarchivs am besten exploriert werden können, wenn man Foto-Objekte wirklich ernst nimmt und gleichzeitig bereit ist, die Wissenschaftlichkeit und die Strukturen des Archivs in Frage zu stellen. Denn selbst wissenschaftliche, scheinbar harmlose Fotoarchive partizipieren vor allem mit der Kulturtechnik der Taxonomie am kapitalistisch-kolonialen System, aus dem letztendlich auch Kriege, Diskriminierung und Migration hervorgehen. Zum Schluss möchte ich in dieser inszenierten, sehr freien Anwendung des Choreografiebegriffs noch ein wenig experimenteller werden. Die Anregungen, die von der Tagung und auch aus dem Austausch mit Linke hervorgegangen sind, haben mich dazu gebracht, über die Choreografie der Spuren auf dem Fotokarton nachzudenken. Meine letzte Abbildung zeigt den Scan eines großformatigen Fotokartons aus einer Serie wieder aus dem Nachlass von Gustav Ludwig.

Abb. 5 ► Eine Reihe von Spuren ist hier zu sehen, die das Foto-Objekt über den visuellen Inhalt hinaus ausmachen. Diese Spuren gehen zum Teil auf den ursprünglichen Entstehungskontext zurück, also die Zeit, in der Gustav Ludwig diese Rekonstruktion eines Freskenzyklus im Palazzo dei Camerlenghi in Venedig erstellt hat. Die Fresken von Bonifazio Veronese waren schon damals, um 1900, in verschiedenen Museen zerstreut, während der Palast zerstört war. Auch in diesem Fall handelt es sich um eine Collage, eine Kombination von Zeichnung und eingeklebten Fotografien. Auf der Tafel, welche die Gestaltung einer Wand in einem der Säle rekonstruiert, bringt Ludwig verschiedene Informationen zusammen: Datierungen aus Archivdokumenten zusammen mit Angaben, wo sich die verschiedenen Teile des Freskos befinden (die meisten Teile in der Galleria dell’Accademia in Venedig, das rechte Feld war damals in Wien); Angaben für den Zeichner („tenersi più in basso a destra“ bei dem gezeichneten Bogen rechts); Hinweise auf die Phase der Reproduktion in seinem Buch („bereits reproduziert“ oben rechts). In der Mitte oben befindet sich Ludwigs

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

H i s t o r i s c h e Vo r l a g e : G u s t a v L u d w i g s R e k o n s t r u k t i o n d e r Wa n d m i t G e m ä l d e n v o n B o n i f a z i o Ve r o n e s e i n d e n R ä u m e n d e s P a l a z z o C a m e r l e n g h i i n Ve n e d i g , v o r 19 01, A l b u m i n a b z u g , l a v i e r t e Z e i c h n u n g , 41, 6 x 5 3 , 5 c m ( K a r t o n ) , K H I I n v. - N r. 8 3 9 2 , © D i g i t a l l a b o r K H I , F l o r e n z , 2 011.

Anweisung zur Reproduktionstechnik: „Das Ganze in Platindruck ausgeführt retouchiert und harmonisiert giebt dann ein vorzüg­liches Cliché.“ Spätestens hier wird klar, dass in einem Archiv nicht nur Informationen, sondern Wissen sedimentiert werden.20 Das bestätigt die zweite Ebene der auf dem Fotokarton hinterlassenen Spuren, welche die Archivbiografie dieses Foto-Objekts dokumentieren: Die Inventarnummer 8392 oben links, die Angabe der Sektion „Mal. Renaiss.“ (Malerei Renaissance) zusammen mit der früheren Signatur „Ma XVI“ (Malerei 16. Jahrhundert – die Systematik hat auch eine eigene Temporalität), sowie verschiedene Beschriftungen bis hin zu der digitalen Repronummer fld0003721x_p. Letztere ist in dem hier verwendeten Scan noch nicht zu sehen, da sie auf dem Karton 20 Cook, Terry: „From Information to Knowledge: An Intellectual Paradigm for Archives“, in: Archivaria, 19, Ottawa: ACA 1984–1985, 28–49.

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erst nach dem Scannen notiert wurde. Diese Ebenen ent­sprechen auch zeitlichen Schichten – nicht nur zwei Schichten allerdings, denn die Spuren der wiederholten Bearbeitung im Archiv sind mit verschiedenen Zeitschichten verbunden. Eine dieser Spuren ist der

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rote Punkt oberhalb der Inventarnummer. In der Photothek werden rote Punkte verwendet, um darauf hinzuweisen, dass dieses eine Foto-Objekt schon in der Datenbank katalogisiert worden ist (was nicht für den ganzen Bestand der Fall ist, der seit 1993 Schritt für Schritt elektronisch erfasst wird). Dazu gibt es auch eine Notation: ein Merkblatt als Wordtabelle mit Angabe der Ziffern, aus denen die (meistens sechsstelligen) Inventarnummer besteht; und eine Liste der mit der jeweiligen Position verbundenen Personen. Aus dieser Notation können wir lernen, dass ein roter Punkt oben links über der ersten Ziffer auf meine Vorvorgängerin Irene Hueck und ein roter Punkt oben mittig auf den stellvertretenden Leiter, nach 2004 auf die stellvertretende Leiterin hinweist. Denn interessanterweise ist der rote Punkt nicht mit der Person, sondern mit der Stellung im Organigramm verbunden und wird gleichsam vererbt. Die heutige stellvertretende Leiterin hat die Position des roten Punktes von ihrem Vorgänger übernommen. Es folgt oben rechts die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Photothek, auch diese Position des roten Punktes wird jeweils von der Vorgängerin vererbt. Weiter in der Liste folgen Kolleginnen und Kollegen, die außerdem an der Katalogisierung beteiligt sind. Auch hier haben manche die roten Punkte von früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übernommen. Aus konservatorischen Gründen verwenden wir schon längst bei den Cimelia Photographica keinen Filzstift mehr, sondern einen roten Buntstift. Es gibt allerdings nicht nur rote Punkte, sondern auch zum Beispiel einen roten Stern, er wurde am Anfang im Rahmen von Werkverträgen verwendet. Die sehr vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DFG-Projektes, mit dem am Anfang des Jahrhunderts die systematische Digitalisierung der Bestände begann, benutzten alle ein rotes Dreieck. Für unsere Praktikantinnen und Praktikanten wurde ein grauer Punkt in Bleistift bestimmt. Dieses System hat auch mit Hierarchien zu tun, da die roten Punkte in Filz nicht mehr entfernt werden können, während man bei den Praktikantinnen und Praktikanten die Möglichkeit der Korrektur behalten möchte. Die roten Punkte werden auch auf den Karteikarten des Karteikartenkatalogs übertragen, womit ein neues Kapitel beginnen könnte, denn die Karteikartenkataloge folgen einer eigenen Notation. Das Videointerview mit Linke von 2018, aus dem die hier gezeigten Videostills stammen, aber auch die performativen Präsentationen, die wir in der Photothek zu verschiedenen Anlässen gestalten, sind

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

21 Kratz, Corinne A.: „Rhetorics of Value: Constituting Worth and Meaning through Cultural Display“, in: Journal of the Society for Visual Anthropology, 27 (1), 2011. 22 Vestberg: „Archival Value“. 23 Cook, Terry u. Schwartz, Joan M.: „Archives, Records, and Power: From (Postmodern) Theory to (Archival) Performance“, in: Archival Science: International Journal on Recorded Information, 2 (2), hg. v. Terry Cook und Joan M. Schwartz, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers 2002, 171-185, hier 183–184. 24 Lee, Jamie A.: Producing the Archival Body, London: Routledge 2021, 1. 25 Ebd., 9. Kursiv im Original.

alle Formen von „cultural display“. Sie produzieren, wie Corinne A. Kratz für den musealen Kontext dargelegt hat, eine eigene „rhetorics of value“.21 Diese Rhetorik erlaubt uns, den Wert („archival value“)22 von dokumentarischen Fotografien und Archiven zu demonstrieren. Die dabei zur Schau gestellte eloquentia corporis besteht in einer performativen Wiederholung, ja in einem Re-Enactment der seriellen Gesten, mit welchen Archivarinnen und Archivare unter Anwendung von Notationen oder „scripts“23 die Fotografien in einem (wissenschaftlichen) Archiv prägen und produzieren. Über die Gesten und die Notationen nachzudenken, rückt die Agenzialität und die Körper der Archivarinnen und Archivare in den Vorder­grund. Was passiert, wenn wir auch über das choreografische Re-Enactment an sich nachdenken? Diese Frage ist in einem kürzlich erschienenen Buch von Jamie A. Lee impliziert, das uns herausfordert, „to look closer at the bodies – human and non-human, as well as bodies of knowledge – that produce and are produced by archives“. 24 Diese wirkungsvoll formulierte Anforderung fasst die Fragen zusammen, die sich mir in den letzten Jahren, und spätestens seit meinen Interviews mit Linke, mit zunehmender Deutlichkeit gestellt haben. Lee verknüpft in ihrer Person multiples Fachwissen und Gesichtspunkte aus den kritischen Archivstudien, der Produktion sozial engagierter Dokumentarfilme, der Gründung und Betreuung von LGBTQ+ „community archives“. Ein wichtiger Bestandteil dieser facettenreichen Praxis ist relatio­ nales Storytelling. Aus dieser mit dem eigenen Körper erlebten Erfahrung „to tell and listen“ ist Lees Herangehensweise entstanden: I became aware of the body in the telling and how nuanced gestures might relate to the archival record, including to influence and shape what I call the archival body. The archival body is comprised of multiples histories, stories, and bodies of knowledge. These, together, constitute the archives. I am especially interested in the everyday experiences that are so often overlooked in documentation efforts.25 Dieser Ansatz erweitert das postmoderne Verständnis des Archivs als Ort von Ordnung und Macht, wie schon für Fotoarchive Autorinnen wie Elizabeth Edwards und Joan M. Schwartz vorgeschlagen hatten. Für Lee sind Archivdokumente „alive and in continuous motion“, während Archive als „bodies of knowledge“ widerspenstig und „as tools of

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Costanza Caraffa

26 Ebd., 39-41.

both oppression and liberation“ anzusehen sind.26 Damit Archive ihr

27 Ebd., 116-117.

inklusives Potenzial als Orte der Mannigfaltigkeit entwickeln können,

28 Ebd., 35.

ist es angebracht, Archivpraktiken aus dem Standpunkt des Körpers

29 Ebd., 126. Kursive im Original.

zu überdenken. Der Ausgangspunkt für dieses kritische Bewusstsein ist ein weit gefasster und komplizierter Begriff des Körpers, der

30 Ebd., 28.

vom Menschlichen und Körperlichen bis hin zum Gesamtkorpus der

31 Ebd., 19.

archivierten Dokumente, Erinnerungen und Geschichten reicht, die zusammen den „archival body“ bilden.27 In diesem Diskurs spielen Technologien und Kulturtechniken als prothetische Körperverstärker eine wichtige Rolle. Postmoderne Archivstudien hatten bereits die angebliche Objektivität von Archivarinnen und Archivaren hinterfragt. Lee erweitert diese Kritik durch die entschiedene Fokussierung auf die Körper der Archivarinnen und Archivare, deren Hände aus der klassischen Archivtheorie gelöscht wurden, während gerade die serielle, automatische Wiederholung der angelernten Gesten einer ‚korrekten‘ Archivierung zu ihrer vermeintlichen professionalisierten Neutralität beiträgt.28 Eine phänomenologische Analyse von wiederholten und gewohnheitsmäßigen Handlungen im Archiv soll für Lee letztlich in eine emanzipatorische Praxis hineinfließen: Archivists must question the scripts – the tacit knowledges – that inform the stories being told and those that we subsequently tell ourselves. […] Interrogations of the archival body might, therefore, elucidate the scripts and normalized archival practices and practices of embodiment in order to highlight the somatechnical capillary spaces through which transdisciplinary methodology can emerge.29 Storytelling, serielle Gesten und Notationen, Bewusstwerdung der eigenen körperlichen Handlungen als Archivarin und Wissenschaftlerin: in diesem kreativen, interaktiven Prozess wird möglich, „to reimagine what the records could do“. 30 Lee fordert uns auf, die Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, die mit der täglichen und wiederholten Ausführung der Gesten des Archivs einhergehen. Ihre dekonstruktive Strategie („introduce uncertainties in everyday​ archival practices that are oriented in time, space, and the body“) 31 kann für die Zukunft der Fotoarchive richtungsweisend sein; sie macht die Archivarbeit nicht einfacher, aber sicherlich nachhaltiger.

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Choreografien des fotografischen Archivs I I Notationen und eloquentia corporis in der Photothek

Bewegung im Bilde bewahren. Tanzfotografie im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin Helene Herold

1 Vgl. Jahn, Tessa; Wittrock, Eike u. Wortelkamp, Isa (Hg.): Tanzfotografie. Histo­ riografische Reflexionen der Moderne, Bielefeld: transcript 2016, 16–17.

Bilder von Bewegung. Dokumente, die eine Kunstform zeigen, welche mit ihrer und durch ihre Flüchtigkeit lebt. Nur der Moment zählt. Galt es diesen in der Fotografie des Tanzes festzuhalten, geht es heute darum, die Dokumente zu bewahren. In diesem Beitrag soll die Tanzfotografie der frühen 1920er und 1930er Jahre aus archivarischer Perspektive betrachtet werden, denn im Zusammenspiel mit historiografischen Überlieferungen bilden sie den Kern der Geschichtsschreibung, die sich mit den Bildern von Bewegung befasst.1 Als Archivarin im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin (AdK), beziehe ich mich hier vor allem auf die Erfahrungen, die ich mit den Beständen machen darf, die mein täglicher Arbeitsgegenstand sind. Vor allem in den Beständen des Mary-Wigman-Archivs, des Gret-Palucca-Archivs und des Valeska-Gert-Archivs begegnen mir viele Tanzfotografien der 1920er und 1930er Jahre, die bereits vielfach von interessierten Nutzer*innen eingesehen wurden, für die Tanzforschung von Bedeutung waren und immer wieder in Ausstellungen oder für Publikationen gefragt sind. Welche Aufgabe stellen die Aufnahmen bewegter Körper an den/die Archivar*in im Umgang mit ihnen? Welche FotoKonstella­tionen begegnen uns im Archiv? Was macht eine Reihe von Bildern, die Bewegungsabfolgen zeigen kann, zur Serie? Was macht Tanzfoto­grafie zu einem derart besonderen Forschungs- und Archivgegenstand? Das Foto an sich ist ein typischer Archivgegenstand als Zeugnis vergangener Zeiten. Das Thema Tanzfotografie ist ein besonders spannendes, da in diesem Gegenstand zwei Dinge miteinander verwoben werden, die kaum gegensätzlicher sein oder, anders betrachtet, sich kaum besser ergänzen könnten: die flüchtige Kunstform Tanz und die Fotografie, das Medium, welches Augenblicke auf Papier festhält, um sie nicht verstreichen zu lassen. Für den/die Archivar*in sind bei der Bearbeitung eines Fotos, neben dem Gesamtzusammenhang in dem das Foto steht, nämlich der gesamte Bestand in den es eingeordnet ist, und der historiografische Kontext, in den das Foto eingebettet ist, zwei Ebenen von besonderer Bedeutung im Umgang mit Tanzfotografien: Zum einen ist der Fotoabzug ein Objekt, das aus empfindlichem Material besteht und daher besondere Handhabung und Lagerungsbedingung für sich beansprucht. Zum anderen ist das Foto als Trägermedium künstlerischer Inhalte zu betrachten, die es für die Nachwelt und die interessierten Nutzer*innen zu bewahren und recherchierbar zu machen gilt.

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Bewegung im Bilde bewahren. Ta n z f o t o g r a f i e i m A r c h i v D a r s t e l l e n d e K u n s t d e r A k a d e m i e d e r K ü n s t e , B e r l i n

2 Vgl.: Kuhlmann, Christiane: Bewegter Körper – mechanischer Apparat. Zur medialen Verschränkung von Tanz und Fotografie in den 1920er Jahren an den Beispielen von Charlotte Rudolph, Suse Byk und Lotte Jacobi, Frankfurt/M.: Lang 2003.

Zwei Fragen stellen sich bei der Bearbeitung der Tanzfotografie im

3 Besonders anschaulich dargestellt etwa bei van Banning, Nicky: „Angehaltene Bewegung. Die Tanzfotografien des Fotostudios Merkelbach“, in: Tanzfotografie. Historio­ grafische Reflexionen der Moderne, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp, Bielefeld: transcript 2016, 96–111, hier 98. Die Abbildung des Fotostudios Merkelbach aus dem Jahr 1919 zeigt wunderbar die Tänzerin Johanna Wittrock, die sich an einen Ständer anlehnen muss, um in der Pose auf einem Bein verharren zu können, bis ausreichend Belichtungszeit verstrichen ist.

sich aber alle auf die 1920er bis 1930er, einige bis in die 1940er Jahre

4 Rudolph, Charlotte: Tanzphotographie, Berlin: Akademie der Künste, um 1925, Gret-PaluccaArchiv Nr. 6082.

Zuge der archivarischen Verzeichnung immer: Wen sehen wir auf den Bildern und wer hat die Aufnahme gemacht? Die Fotos aus der frühen Zeit des Ausdruckstanzes in Deutschland sind überwiegend von Charlotte Rudolph, Ursula Richter, Genja Jonas, Hugo Erfurth, Siegfried Enkelmann oder dem Atelier Robertson. Sie sind in verschiedenen Formaten und unterschiedlichem Umfang vorhanden, lassen datieren. Für die Tanzfotografie bedeutsame Jahre. Die Technik ist nun so weit, dass einige Kameras leichter in Gewicht und Handhabung und die Aufnahmetechnik aufgrund dessen sowohl beschleunigt als auch verändert und verbessert werden.2 Es bedarf nicht mehr zwingend einer langen Belichtungszeit, die es notwendig macht, dass das Fotomodell, der Belichtungszeit entsprechend, möglichst unbeweglich in einer Pose verharrt.3 Bilder können jetzt, dank der neuen Technik, in der Dauer eines Wimpernschlags gemacht werden. Der Fotogegenstand muss nicht mehr stillstehen, die Tänzer*innen können sich vor der Kamera bewegen. Auch vor dieser technischen Neuerung wurden schon Tänzer*innen in Bewegung abgelichtet, etwa Loïe Fuller bereits Ende des 19.  Jahrhunderts, doch nun wird das ganze Verfahren der Ablichtung von Tanzbewegungen als Fotografie ein ganzes Stück einfacher und – analog zu den Kameras – auch handlicher. Jetzt kommt es speziell auf das Zusammenspiel von Tänzer*in und Fotograf*in an, denn der/die Fotograf*in betätigt in einem Moment den Auslöser, der die nächste Bewegung bereits vorausahnen lässt, damit bestimmte Sequenzen einer Bewegung eingefangen werden können. Die Veränderungen in der Technik bedingen auch, dass serielle Bilder einer besonderen ästhetischen Qualität möglich werden. Auch wenn die Bewegung vor der Kameralinse mitunter eine gewisse Unschärfe zur Folge hat, so wird es genau dadurch möglich, Bewegung zu erkennen, denn Unschärfe ist ein Beleg für das Belichten einer Bewegung. Charlotte Rudolph hält fest: Tanzphotographie ist nur möglich, wenn sie während der Bewegung erfolgt. […] Wenn auch nicht jeder Moment als Bild geeignet ist, ist er doch zum Studium des Bewegungsvorgangs interessant. […] Um den richtigen Moment muss man sich gänzlich auf den jeweilig verschiedenen Rhythmus der Tänzer einfühlen können und vor allen Dingen ein Verständnis für Tanz haben.4

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5 Eine Bemerkung am Rande: Betrachtet man die weiter oben genannten Namen der Fotograf*innen stellt sich auch die Frage: Wäre es womöglich, zu untersuchen, inwiefern es dem Foto anzusehen ist, ob eine Frau oder ein Mann den Fotoapparat auslöst? Gibt es in der Perspektive und der Art der Fotografie einen Unterschied? Gibt das Bild neben der von Fotograf zu Fotografin unterschied­ lichen fotokünstlerischen Handschrift auch divergierende Perspektiven auf das Fotoobjekt – etwa eine Tänzerin – zu erkennen? Der Gedanke ergibt sich bei der Beschäftigung mit der Thematik zwangsläufig und verdiente eine ausführlichere gender ­t heoretische Betrachtung. Vgl: Katharina Steidl (Hg.): Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie, in: Fotogeschichte, Heft 155, 2020, wo den Erkenntnismöglichkeiten einer (queer-)feministischen Fotografiegeschichte nachgespürt wird.

Typisch für die Aufnahmen der frühen 1920er und 1930er Jahre ist nach wie vor das Setting im Fotoatelier, direkt im Tanzstudio wird nur selten fotografiert. Die Fotograf*innen nutzen oftmals inszenatorische Möglichkeiten des Lichts, der Retusche oder des spezifischen Ausschnitts, um ihre Tanzfotografien zu gestalten. Die moderne Kameratechnik lässt die Möglichkeit zu, den besonderen Blick der Fotograf*innen auf die tänzerische Bewegung wiederzugeben und Momente von Bewegung einzufangen, die in statischen, gestellten Bildern, wie sie bis dahin der Kamera­ technik geschuldet waren, nicht entstehen können. Nicht zu unterschätzen sind hier, wie durch Rudolph bereits benannt, der Anspruch an das Auge und das fotografische Gespür. Die im Archiv vorliegenden Abbildungen zeigen unterschiedlichste Bildinhalte: Die Tänzer*innen posieren stehend auf zwei Beinen oder balancierend auf einem Bein oder befinden sich gar mit beiden Beinen in der Luft in einer Sprungbewegung. Vermuten lässt sich, dass es eine besonders große Leistung war, einen Sprung, der nur im Bruchteil einer Sekunde ein gutes Motiv bietet, auf­­­zu­ nehmen. Die Bewegungsabfolgen der auf beiden Beinen stehenden Tänzer*innen, die in dieser Haltung notwendigerweise eher getragene Posen einnehmen, bieten vermutlich mehr Möglichkeiten, eine Pose aus der Bewegung heraus scharf einzufangen, da sich das Objekt weitaus langsamer als etwa eine springende Tänzerin bewegt.5 Uns begegnen Ganzkörperaufnahmen der Solist*innen und Detailfotos, ergänzt durch Bilder auf denen die Künstler*innen Masken tragen oder andere Requisiten nutzen, bis hin zu Bildern, auf denen nicht nur ein/e Tänzer*in im Fokus steht, sondern Gruppenarrangements von mehreren Tänzer*innen gezeigt werden. Und sie begegnen uns in unterschiedlichsten Formationen: als Einzelbilder unsortiert, als Bildergruppe nummeriert, in Form von Kontaktbögen, die selbst eine Foto-Pluralität verkörpern, in Serien und in Alben. Letztere geben eine festgelegte Reihenfolge vor, die in der archivischen Arbeit mit Tanzfotografien ein Glücksfall ist, da es leichter fällt, die Fotos etwa einer bestimmten Choreografie zuordnen und bestimmen zu können, wenn sie schon in einer gewissen Abfolge vorliegen. Der Idealfall wäre, wenn die Bilder dann auch noch eine Beschriftung hätten aber auch so ist eine vorgegebene Reihenfolge der Bilder eine Arbeitserleichterung. Auch in Leporellos sind Fotografien im Archiv in einer vorgegebenen Bildfolge anzutreffen. Der Leporello als Objekt ist, wie

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das Album, für die archivische Arbeit günstig, da darin die Fotos bereits in Serie und in einer festgelegten Reihenfolge auftauchen. Die Reihenfolge ist mutmaßlich durch das Fotostudio und den/die Fotograf*in festgelegt, womöglich auch nach Vorgaben der abgelichteten Tänzerin oder des Tänzers erstellt worden. Daran lassen sich heute für interessierte Nutzer*innen, Forscher*innen und Künstler*innen, die ins Archiv kommen, um sich die Unterlagen der Ausdruckstänzer*innen unseres Jahrhunderts anzusehen, Bewegungsabläufe in Bilderfolgen ablesen. Derlei serielle Konstellationen finden sich in den Beständen der Tanzarchive des Archivs Darstellende Kunst der AdK etwa dreißig Mal. Diese Faltblätter oder Faltbücher, je nach Umfang und Beschaffenheit, sind eine besondere Form des Objekts und der Präsentation von serieller Fotografie.

G e n j a J o n a s : G r e t P a l u c c a , L e p o r e l l o m i t K o p f s t u d i e , o . O . , 19 3 5 , v e r m u t l . S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 5 , 5 x 7, 6 c m , F o t o s v o m L e p o r e l l o © H e l e n e H e r o l d , A k a d e m i e d e r K ü n s t e , B e r l i n , G r e t- P a l u c c a - A r c h i v N r. 37 5 9 .

Abb. 1 ▲ und 2 ►

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Die Leporellos sind meist in handlicher Form praktisch quadra­ tisch anzutreffen. Sie können aus gefalteter schwarzer Pappe als Trägermaterial bestehen oder sind hochwertig in textile oder lederne Einbände gefasst. Die ziehharmonikaähnlichen Falt­papiere bergen in der Regel Fotoserien in sich. Das serielle Prinzip der Foto­ grafie wird in die medienspezifische Struktur des Leporellos ein­ gebunden und ergibt somit nicht nur ein besonderes Archivobjekt, da die Fotografien, die sonst zur sogenannten „Flachware“ zählen, in eine sehr reizvolle Darstellungsform eingebunden werden, sondern birgt gleichzeitig Informationen für die interessierten Nutzer*innen und Wissenschaftler*innen bezüglich der Abfolge einer Bewegungssequenz in sich. Dieses Phänomen lässt sich im Archiv der AdK vor allem in den Beständen von Mary Wigman und Gret Palucca finden. Dort zeigen sie überwiegend Bildfolgen von den Solistinnen und den von ihnen choreografierten Gruppentänzen. Zum Teil ist die Qualität der Bilder und der aufgenommenen Posen derart gestaltet, dass sie aus dem medialen Kontext isoliert und schnell aufeinanderfolgend gezeigt, wie ein Daumenkino fungieren könnten. Auch von Bewegungsstudien, die vermutlich keine Bewegungsabfolge zum Ziel hatten, sondern die reine bild­ästhetische Wirkung versuchen wollten, gibt es Leporellos. Warum es diese überlieferten Leporellos als Darstellungsform von fotografischen Serien in einigen Archivbeständen gibt, ist bislang unklar. Alle Leporellos stammen, wie oben schon erwähnt, aus dem gleichen Zeitraum und entspringen der gleichen Kunst­sparte. In anderen Beständen der Archivabteilung Darstellende Kunst der AdK lassen sich solche Objekte nicht finden. Das Vorkommen im Bereich des Ausdruckstanzes ist auffällig, der Hintergrund der Entstehung lässt sich nur vermuten: Womöglich wurden die Leporellos von Künstler*innen genutzt, um potentiellen Auftraggeber*innen zeigen zu können, was sie erwartet, wenn sie diese für Auftritte buchen. Heute würde man sie als eine Art Show­reel, eine kurze Sammlung von Arbeitsproben, bezeichnen können. Aber vielleicht, von der fotografischen Seite aus betrachtet, waren die Leporellos auch eine Werbemaßnahme der Fotograf*innen, um den Tänzer*innen die Aufnahmen in einer besonderen Form überreichen zu können. Wie gestaltet sich nun der archivarische Umgang mit Tanzfotografie? Bei der Verzeichnung von Fotografien, gleich ob Einzelaufnahmen oder Serien, müssen selbige so beschrieben

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werden, dass interessierte Nutzer*innen die Bilder recherchieren können. Dabei stellen sich diverse Fragen, die so beantwortet werden, dass die Informationen zu einem Objekt verständlich in einem recherchierbaren Datensatz der Archivdatenbank münden. Zugrunde liegen hier sowohl bildästhetische, also auch tanzästhetische Merkmale, die die Bilder zeigen und die zur Orientierung bei der Bearbeitung und Verzeichnung dienen können. Fällt die Zuordnung bei einem Leporello, einer geregelten Ordnung, noch relativ leicht, so ist die Verzeichnung ungeordneter Bestände nicht selten weitaus aufwendiger. Wen sehen wir auf dem Bild? Was wissen wir über den/die Fotograf*in? Ist ein Stempel oder eine Prägung hinterlassen worden? Was sind die wichtigen, nennenswerten Merkmale der Bilder? Wissen wir um welche Choreografie und welche/n Tänzer*in es sich handelt? Wurde ein Datum auf der Fotografie vermerkt, ggf. in einer Handschrift, die dem/der Künstler*in zuzuordnen ist, in deren/dessen Bestand das Foto eingegliedert ist? Wenn nicht, lässt sich aufgrund des Alters der zu erkennenden Person und der Gesamtgestaltung der Aufnahme abschätzen, wann das Foto gemacht worden sein kann? Wer war der/die Fotograf*in? Lässt sich dann durch den Überblick auf den Gesamtbestand, etwa via Programmhefte, rekonstruieren, wann das Stück wo und wie oft aufgeführt wurde? Lässt sich so auch der Zeitraum eingrenzen, in dem das Bild entstanden sein kann? Fragen wie diese stellen sich bei der Verzeichnung eines Fotos oder einer Fotoserie im Archiv. Die Wahrnehmung und das Wissen der Archivar*innen sind bei der Bearbeitung von künstlerischen Beständen von besonderer Bedeutung, haben die Archivar*innen doch die Aufgabe, das Kulturgut so zu behandeln und zu bearbeiten, dass es so lange wie möglich in gutem Zustand bleibt und gleichzeitig via Datenbank gut recherchierbar und nachnutzbar ist. Eine genaue Beschreibung des Objekts ist für die Recherchen der interessierten Nutzer*innen unerlässlich. Unverzeichnetes Material ist nicht recherchierbar und somit quasi nicht existent. Was geschieht im Archiv, wenn dem/der Archivar*in die Fotografien und Bilderserien in den Beständen in keiner festgelegten Reihenfolge begegnen, wenn die plurale Konstella­ tion ungeordnet in Erscheinung tritt? Nicht selten passiert es im Archivalltag, dass die Materialien in loser und vermeintlich ungeordneter Form an das Archiv übergeben werden. Beim Schriftgut ist es dann besonders wichtig, die Reihenfolge der Papiere in

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den Vor- oder Nachlässen der Künstler*innen möglichst in der Ordnung zu belassen, in der die Unterlagen im Archiv eintreffen. Auch vermeintliche Unordnung kann für die Künstler*innen einen Sinn gehabt haben, den es zu bewahren gilt. Bei Fotografien ist das Vorgehen – im Gegensatz zur Handhabung von Schriftgut wie beschrieben – in der Regel fallabhängig. Hier müssen die Bilder nicht zwangsläufig in der Ordnung bleiben, in der sie ins Archiv eintreffen. Je nachdem wie die Fotografien ins Archiv gelangt sind, ist es durchaus denkbar, dass sie, wenn sie lose oder nicht in irgendeiner Art fixiert sind, durcheinandergeraten sein können. Kennt man den Ablauf einer Choreografie durch andere Zeugnisse, so lässt sich die genaue Reihenfolge einer Foto­serie wieder herstellen und die Fotografien können, nachdem sie durch­ ein­andergeraten sind, wieder in ihre Reihenfolge gebracht werden. Zur Orientierung können dann, neben dem Bildformat des Abzugs, bild- und bewegungsästhetische Merkmale, die an den Fotografien abzulesen sind, dazu dienen, Serien und Bilder einer Choreografie zu erkennen. Die bildästhetischen Merkmale betreffend, ist es möglich, anhand des Kostüms, der Frisur, aber auch am Bildhintergrund, an der Beschaffenheit des Bodens und an den Licht-/Schattenverhältnissen abzuleiten, dass es sich um Bilder einer Serie handelt. Die bewegungsästhetischen Merkmale betreffend, lassen sich anhand der erkennbaren Körperhaltungen ablesen, ob eine Bewegungsabfolge vorliegt, die etwa mit gleichem Schwung (dann erkennbar etwa an schwingenden Röcken) oder mit gleicher Ruhe vorgeführt wurde. Die Fotografien von Ursula Richter etwa, die Mary Wigman mit der Choreografie „Abendliche Tänze / 3 Elegien“ zeigen, scheinen alle am selben Ort entstanden zu sein, was darauf hinweist, dass die Bilder aufeinander folgend gemacht wurden. Die Künstlerin trägt auf allen Fotos das gleiche Gewand und dieselbe Frisur. Auch die gleichmäßig ruhig anmutende Bewegungsästhetik deutet darauf hin, dass die Bilder von einer Bewegungsabfolge stammen und daher als Serie betrachtet werden können. Ein eindeutiger Hinweis wird durch eine Notiz auf dem Bild oder auf der Rückseite der Fotos gegeben, die durch die Hand der Tänzerin selbst hinterlassen wurde. Mary Wigman hat – wie der handschriftlichen Notiz zu entnehmen ist – selbst vermerkt, dass es sich um die „Abendlichen Tänze / 3 Elegien“ handelt. Um die Serialität der Fotos zu bekräftigen, vermerkt sie den Titel des Zyklus auf allen Bildern, recto oder verso.

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U r s u l a R i c h t e r : M a r y W i g m a n , A b e n d l i c h e T ä n z e / 3 E l e g i e n , 19 24 , v e r m u t l . S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , v e r s c h i e d e n e M a ß e c a . 9 x 14 b i s 2 3 , 5 x 2 8 c m , A k a d e m i e d e r K ü n s t e , B e r l i n , M a r y - W i g m a n - A r c h i v N r. 316 _ 0 01– 0 0 3 .

Abb. 3–5 ▲ ►►

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Besonders herausfordernd ist es für Archivar*innen, wenn Fotografien weder beschriftet sind, noch in einer vorgegebenen Reihenfolge im Archiv ankommen, beispielsweise als vermeintlich unsortierter Stapel, lose in etwa einem Briefumschlag oder in einem Karton versammelt. Hier besteht, wie bereits erwähnt, die Möglichkeit, dass die Bilder beim Transport durcheinandergerutscht sind. Eine Reihenfolge muss hier bei der Erschließung der Fotografien nicht gleich vergeben werden. Es lässt sich eine Konvolut-Verzeichnung vornehmen, die vermerkt, wie viele Bilder unter einer Signatur zu finden sind, ohne sie gleich in eine feste Reihenfolge zu bringen. Doch spätestens, wenn die Bilder digitalisiert werden, bekommen alle Fotografien eine eindeutige Signatur. Diese fortlaufende

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Nummern-Reihenfolge der Digitalisate muss aber nicht die Abfolge der Bilder oder den tatsächlichen Bewegungsablauf wiedergeben. Die Gruppierung der Bilder, die als Serie anmutet, lässt sich mit­unter in verschiedenen Konstellationen denken. Bilderserien, die etwa in den Beständen von Palucca und Wigman im Archiv der AdK zu finden sind, zeigen oftmals auch Bewegungs- oder Sprung­studien, die nicht unbedingt eine choreografisch tänzerische Reihen­ folge haben müssen und dennoch aus einer Bilderserie stammen. Was macht die Serie nun zur Serie? Müssen sich an den Bildern Bewegungsabfolgen erkennen lassen, die, würde man sie schnell hintereinander zeigen, eine Art Daumenkino-Effekt abbilden können? Die auf dem Bild erkennbare Bewegungsabfolge kann nicht das einzige Merkmal einer Bilderserie sein. Noch viel mehr Hinweise deuten auf die Zusammengehörigkeit von Bildern hin, die sie zu einer Serie werden lassen. In welcher Konstellation die Bilder eine Reihenfolge ergeben, könnten mit Gewissheit nur die Fotograf*innen oder die Tänzer*innen sagen, die an der Herstellung der Fotografien beteiligt waren. Unserem heutigen Auge bleibt da zuweilen die indiziengeleitete Vermutung bzw. Spekulation und der erfahrungsgeleitete Mut zur Kreativität, in den Bildern eine Reihenfolge festlegen zu wollen. Die Tanzfotografien in den Archiven geben einen Eindruck in vergangene Zeiten, in das Werk von Tänzer*innen und auch in den Stand der Medientechnik. Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, ob ich als Archivarin den Blick der Betrachter*innen auf die Bilder von Bewegung lenke? Hat die archivarische Ordnung Konsequenzen für die historiografische Praxis? Beeinflusse ich durch die Ordnung und damit einhergehende Reihenfolge von Fotografien, die ich ungeordneten Bildern gebe, um sie archivgerecht aufbewahren zu können, womöglich die Forschenden, die sich explizit mit der Abfolge von Bewegung beschäftigen? Meine Antwortet lautet: ja und nein. Die Verzeichnung von originärem Archiv­ material bringt grundsätzlich große Verantwortung mit sich. Eine von den Künstler*innen gegebene Ordnung gilt es zu bewahren, da sich darin immer Spuren ihrer Arbeit finden lassen. Sicherlich gibt der/die Archivar*in jedoch bei der Bearbeitung der Fotografien eine Ordnung, sprich Reihenfolge der vorhandenen Fotografien allein dadurch vor, dass die Bilder ja physisch aufbewahrt werden und dazu archivgerecht verpackt werden müssen. Das bedeutet konkret, dass die Fotografien einzeln in Fotohüllen eingetütet und dann so in

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DIN A4 Mappen verpackt werden, dass sie liegend aufbewahrt werden können. Liegend gelagertes Material behält länger seine Form, stehendes ermüdet mit der Zeit und bekommt dadurch mechanische Schäden wie etwa Knicke. Das genannte Maß DIN A4 haben die wenigsten Fotografien, es entspricht aber den Archivkästen in denen im Magazin meterweise das Archivgut gelagert wird und die mitunter kleinen Fotografien müssen in diese Ordnung ein­ gefügt werden. Das Material muss dabei möglichst gleichmäßig und rutschsicher übereinander, ggf. auch nebeneinandergelegt werden, damit die Mappen stabil in den Archivkästen liegen können und sich das Material nicht gegenseitig beschädigt. All das trägt zur Langlebigkeit des Materials bei. Man muss aber dabei bedenken, dass die Ordnung, die Fotografien wie oben bereits ausgeführt, im Zuge der archivgerechten Verpackung bekommen, nicht zwingend auch die ursprüngliche Reihenfolge der Bewegungsabläufe und der Fotografien sein muss, aber sein kann. Fingerspitzengefühl und Weitblick sind hier gefragt, um plurale Konstellationen und die ursprüngliche Ordnung möglichst beizubehalten. Ursprünglich meint hier zum einen die Reihenfolge in der die Fotografien ins Archiv gelangt sind, da sie auch wenn nicht auf den ersten Blick ersichtlich, eine Reihenfolge haben können, zum anderen bezieht es sich auf die Ordnung, die den Bildern unter Umständen von dem/derjenigen gegeben wurde, von dem/der das Archiv das Material erhält. Diese Person kann der/die Künstler*in selbst sein, und dann ist davon auszugehen, dass er/sie die Bilder in der ‚richtigen‘ Reihenfolge auf bewahrt hat. Diese soll bewahrt werden. Die Archivarbeit unterliegt einer gewissen Logik, für die es den Blick auf die Tanzfotografie und der Bewahrung selbiger offen zu halten gilt. Für die Forschung bedeutet dies, dass es im Archiv, gerade wenn man sich Bilder ansieht, die keine vorgegebene Reihenfolge haben, sinnvoll ist, das Archivmaterial zunächst einmal in der Reihenfolge zu belassen, die den Forschenden und der interessierten Öffentlichkeit im Lesesaal des Archivs aus den Magazinbeständen vorgelegt wird. Hilfreich ist es immer, das Gespräch mit den Archivar*innen zu suchen, welche die Fotografien bearbeitet und eine Gesamtschau auf das gesammelte Archivmaterial haben. Der Austausch kann Fragen beantworten, andere Fragen aufwerfen und dadurch neue Sichtweisen ermöglichen. Bewegung in Bildern zu bewahren ist eine schöne, interessante und zugleich herausfordernde Aufgabe im Archiv. Tanzfotografien sind Dokumente,

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die Geschichte erzählen und bezeugen. Diese gilt es zu erhalten, damit sich noch viele Generationen nach uns mit dem wunderbaren Phänomen Tanzfotografie im greifbaren Bild, ob im Album, im Leporello oder in loser Reihenfolge, beschäftigen können.

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Der „entfesselte“ Aby Warburg — Tanzfoto-Serien von Erfurth bis Umbo Frank-Manuel Peter

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1 Der Titel spielt auf die Ausstellung „Die entfesselte Antike: Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel in Hamburg“ (mit gleichlautend betitelter Begleitpublikation von Marcus Andrew Hurttig) an, die 2011 in der Hamburger Kunsthalle und 2012 im WallrafRichartz-Museum & Fondation Corboud in Köln gezeigt wurde. Warburgs Begriff der „Pathosformel“ hat auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Tanzfotografien Verwendung gefunden. Ich sehe in der hier zunächst nur vorzustellenden „seriellen“ Tanzfotografie und „pluralen“ Sichtbarkeit einen plausiblen Ansatz, über eine erweiterte Anwendung der Pathosformel auf die sich nicht mehr nur im Moment einer Einzelaufnahme, sondern in Bewegungsabfolge aus­­ drückenden menschlichen Affekte nachzudenken: sozusagen eine „Entfesselung“ des statischen Kunstwerks. 2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung genderspezifizierender Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten selbstverständlich gleichermaßen für alle Geschlechter. 3 Vgl. beispielsweise die erste Abbildung zum Kontakthof-Kapitel in: Müller, Hedwig; Servos, Norbert u. Weigelt, Gert: Pina Bausch: Wuppertaler Tanztheater. Von Frühlings­ opfer bis Kontakthof, Köln: Ballett-Bühnen-Verlag 1979. Ohne Seitenzählung. 4 Thorausch, Thomas: „Ein Moment im Lauf der Zeit: Die Fotografen Bernd Uhlig und Gert Weigelt im Gespräch mit Thomas Thorausch“, in: Tanzdrama, Nr. 56, München: Kieser 2001, 30–33, 32.

Traditionell sieht der forschende Blick auf Fotos, die Tanz zeigen, entweder aus kunstwissenschaftlicher Perspektive das mit dem Foto realisierte Kunstwerk, oder sucht aus tanzhistorischem Interesse Aussagen über den Tanz, der im Foto festgehalten wurde. In jedem Fall ist dabei der Beitrag des Fotografen2 individuell zu bewerten und zu berücksichtigen. Die diesbezügliche Problematik tritt anschaulich bei urheberrechtlichen Fragestellungen zutage: Ist das Foto hier das Kunstwerk – oder bildet das Foto das Kunstwerk ab? Wie hoch war und ist der eigenschöpferische Anteil des Fotografen im Gegensatz zur Kreativität der Tänzer bzw. Choreografen? Um die Bandbreite zu umreißen: Leistete der Fotograf XY, der mit seiner auf dem Stativ fixierten Kamera bei Standardausleuchtung eine Tänzerin in einer gehaltenen Pose möglichst in der Bildmitte, groß und ohne Unschärfe festhalten wollte, eine eigene künstle­ rische Arbeit oder eine rein technisch-handwerkliche Aufzeichnung des Kunstwerks? Ist die „Kunst“, die auch der Laie auf den ersten Blick bei diesem Bild zu erkennen glaubt, nicht vielleicht ausschließlich die des darstellenden Künstlers? Und im äußersten Gegensatz dazu: Wenn ein Meister der kreativen Tanzfotografie wie Gert Weigelt Tanz fotografiert, beispielsweise Kontakthof von Pina Bausch, dann ist das doch aller Wahrscheinlichkeit nach per se Kunst? Aber wieviel Anteil an der Kreativität dieses Fotokunstwerks bleibt dann eigentlich noch für den Choreografen oder krea­ tiven Tänzer?3 Eine nicht unproblematische Konkurrenzsituation entsteht: Manch etabliertem Choreografen ist ein dokumentierender Fotograf lieber, dessen Ziel es ist, die Idee des Choreografen so abzubilden, wie sie auch das Theaterpublikum sehen kann. Und manch künstlerischer Fotograf ist naheliegender Weise unglücklich, wenn er befürchten muss, dass seine Werke überwiegend wegen des Abbildungswertes des Tanzkunstwerkes betrachtet werden. Für Weigelt ist der Aspekt des Dokumentarischen „die Ursache einer ganz großen Frustration. Man versucht tolle Bilder zu machen, das wird sicherlich hin und wieder anerkannt, aber wenn genug Zeit vergangen ist, spielt die Qualität keine Rolle mehr, weil alles Zeugnis geworden ist und man froh ist, dass es da ist.“4 Für das frühe 20. Jahrhundert ist es natürlich sehr unwahrscheinlich, dass gleich mehrere Fotografen eine Tanzaufführung – vielleicht bei der Haupt- oder Generalprobe – gesehen und dabei viel fotografiert haben, so dass man nun heute je nach Interesse zwischen eher künstlerisch oder dokumentarisch orientierter

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5 „1908 nahm ich […] als erster Photograph die Tänzerinnen Wiesenthal und Sent M’ahesa in schnellen Bewegungen und Sprüngen bei künstlichem Licht auf; von Superpan und Lichtstärke 1,5 ahnte damals kein Mensch etwas.“ Hugo Erfurth in: Schöppe, Wilhelm u. Erfurth, Hugo (Hg.): Meister der Kamera erzählen wie sie wurden und wie sie arbeiten, 2. Aufl., Halle-Saale: Knapp 1937, 46.

Fotografie auswählen könnte. Licht- und Kameratechnik waren

6 Rudolph, Charlotte: „Das tänzerische Lichtbild“, in: Tanzgemeinschaft, Jg. 2/1930, 1. Vierteljahresheft, 4–6. Vgl. auch Rudolph, Charlotte: „Tanzphotographie“, in: Schrifttanz, Jg. 2/1929, 28f.

Tänzer bezahlt werden.

7 Peter, Frank-Manuel: „‚Das tänzerische Lichtbild‘: Hugo Erfurth als Doku­ mentarist des frühen Ausdruckstanzes“, in: Hugo Erfurth 1874–1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, hg. v. Bodo von Dewitz u. Karin Schuller-Procopovici, Köln: Wienand 1992, 44–52 und Abb. 432–455.

für Bühnenfotos damals zumeist noch unzureichende Voraussetzungen, um Tanz ‚szenisch‘, also während der Aufführung auf der Bühne gut zu fotografieren. Kammer- oder Podiumstänzer, die Protagonisten des modernen – eben ‚freien‘ – Tanzes, traten zudem in der Regel nicht auf den Bühnen der Theater, sondern auf von Theateragenturen nur für den Tag der Aufführung angemieteten Konzertpodien auf. Fotos von ihnen wurden meistens im Studio des Fotografen aufgenommen, gut ausgeleuchtet, mit gehaltener Pose wegen der längeren Belichtungszeit – und mussten in der Regel vom Liegt von einem in einem Fotostudio aufgenommenen Tanz nur eine einzige Aufnahme vor, beispielsweise von Anita Berber, aufgenommen von Dora Kallmus, muss der Betrachter unter Umständen eine Entscheidung treffen, ob er es eher als Kunstwerk ansehen will oder daraus vor allem Informationen über den Tanz Anita Berbers zu erhalten hofft. In den seltenen Fällen von Fotoserien des frühen 20. Jahrhunderts ist allerdings die dokumentarische Information über den Verlauf eines Tanzes von besonderer, naheliegenderweise meist vorrangiger Bedeutung für die Tanzforschung. Ab 1908: In schnellen

In der großen Retro­

Bewegungen und Sprüngen

spektive des Museums

bei künstlichem Licht 5 – Erfurth und die Schülergeneration

Ludwig in Köln für den Fotografen Hugo

Erfurth im Jahr 1992 wurden auch dessen „tänzerische Licht­ bilder“ gewürdigt, so betitelt damals unter Bezugnahme auf einen Aufsatz seiner Meisterschülerin Charlotte Rudolph von 1930. 6 Nach einem kurzem Rückblick auf die Bewegungs- oder Chrono­ fotografie von Eadweard Muybridge und Etienne-Jules Marey und auf die völlig in Vergessenheit geratenen Aufnahmen von Lichtpunkten am Körper einer tanzenden Tänzerin durch Louis Soret 1885, die sogenannte „photographie chorégraphique“, wurden damals Erfurths Tanzaufnahmen insbesondere anhand der Serien von verschiedenen Tänzen vorgestellt, die das Deutsche Tanzarchiv Köln unter anderem im Nachlass der Tänzerin Clotilde von Derp besitzt.7 Sie sind zu einer Zeit entstanden, zu der wegen der technischen Voraussetzungen sonst vor allem einzelne, gehaltene Posen fotografiert wurden, die für den Abdruck und die Vermarktung möglichst gestochen scharf sein mussten. Deshalb stellten die von Erfurth bei

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8 Laban, Rudolf von: Ein Leben für den Tanz: Erinnerungen, Dresden: Reißner 1935, 11.

Kunstlicht und während des Tanzens aufgenommenen Fotos mit ihrer gewollten Bewegungsunschärfe ein Novum dar. Sie weisen natürlich eine sehr starke künstlerische Komponente auf, könnten aber auch als wichtige tanzhistorische Quellen für das Verständnis eines Tanzes und der konkreten tänzerischen Bewegung angesehen werden. Die filmische Dokumentation des Tanzes hatte sich erst noch zu ent­ wickeln, und Laban formulierte sogar noch 1935: „Kaum hat man einen ordentlichen Sprung gemacht, ist man der Maschine schon entwischt, und wenn man sich flink herumdreht, so sieht die blöde Maschine nichts als eine formlose Wolke.“8 Zur Verdeutlichung dieser Mischung von künstlerischer und dokumentarischer Aussage in Erfurths Aufnahmeserien hier nochmals Beispiele aus diesen Serien von von Derp aus dem Jahr 1912.

Abb. 1 ► Abb. 2 ►► Abb. 3 ►►► Der graubraune Untersatzkarton ist ca. 21 x 13 cm groß und jeweils mit Erfurths datiertem Schlagstempel blind geprägt. Dieser Karton erlaubt eine geeignete Handhabung, denn das eigentliche Foto ist vor Fingerabdrücken, Knickspuren etc. geschützt. Die Abzüge selbst sind ca. 6–8 cm hoch und ca. 4,5–6 cm breit und wirken eher wie Verkleinerungen denn als Kontakte. Rückseitig unten mit schwarzer Tinte eine Archivnummer von Erfurth,  – sehr zum Kummer der Archivare und Forscherinnen oft in stark lückenhafter Nummernfolge: Hier war vermutlich entweder der Fotograf oder die Tänzerin nicht mit dem einen oder anderen Ergebnis einverstanden. Oben ist mit Bleistift eine moderne Ordnungs- und Verzeichnungsangabe angebracht, in diesem Fall von der Hand von Patrizia Veroli, welche den Bestand einst noch in Privatbesitz gesichtet und geordnet hat. In der folgenden ‚Generation‘ von Tanzfotografen, in den 1920er Jahren, wurde es dann üblich, kleinformatige Serien von Aufnahmen einzelner Tänzer herzustellen, insbesondere wohl in der Hoffnung auf Auswahl und Bestellung größerer Abzüge durch die Tänzer. Manchmal wurden sie durch das Wort „ROHDRUCK“ (entweder als Gummistempelabdruck auf der Bildseite oder als Lochstanzung der Buchstaben) im Sinne heutiger Wasser­ zeichen vor nicht autorisierter Reproduktion geschützt. Dies betraf nicht nur die berechtigte Sorge vor unerlaubten, d. h. unvergüteten Abdrucken, sondern auch vor Reproduktion als Fotoabzug:

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H u g o E r f u r t h : C l o t i l d e v o n D e r p , 1912 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , c a . 8 , 2 x 6 , 2 c m a u f K a r t o n c a . 21, 0 x 13 ,1 c m , D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , B e s t a n d 5 6 , 2 . 8 .1.

Die Originalabzüge beim namhaften Fotografen waren deutlich teurer als durch Dritte angefertigte Reproduktionen, die sich auch von den kleinen Auswahlfotos herstellen ließen. Und die Tänzer benötigten für Bewerbungen, Presseberichte, Freunde, Schüler und Verehrer immer wieder gute Fotos von sich, kauften also oft nicht

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H u g o E r f u r t h : C l o t i l d e v o n D e r p , 1912 , R ü c k s e i t e , D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , B e s t a n d 5 6 , 2 . 8 .1.

nur einen einzelnen Abzug pro Aufnahme für sich selbst. In den über 500 Nachlässen und Sammlungen im Deutschen Tanzarchiv Köln finden sich manche Beispiele solcher „Auswahlserien“. Erfurths bereits erwähnte Meisterschülerin Charlotte Rudolph fertigte entweder kleine lose Abzüge von ihren Fotoserien an oder Abzüge im

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H u g o E r f u r t h : C l o t i l d e v o n D e r p , 1912 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , c a . 8 , 2 x 6 , 2 c m a u f K a r t o n c a . 21, 0 x 13 ,1 c m , D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , B e s t a n d 5 6 , 2 . 8 .1.

Postkartenformat (mit Schlagstempel signiert), diese manchmal in einem kleinen Album zusammengestellt. Hans Robertson und sein Mitarbeiter und Nachfolger Siegfried Enkelmann sind die nam­ haftesten anderen Tanzfotografen, die solche Serien als Leporellos oder Fotoalben zusammengefügt haben.9

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9 Beispiele solcher Serien sind in der Forschungsliteratur abgebildet, vgl. u. a.: Müller, Hedwig: Mary Wigman: Leben und Werk der großen Tänzerin, 3. unveränd. Aufl., Weinheim/ Berlin: Quadriga-Verl. 1992; oder: Erdmann-Rajski, Katja: Gret Palucca: Tanz und Zeiterfahrung in Deutsch­ land im 20. Jahrhundert; Weimarer Republik, Natio­ nalsozialismus, Deutsche Demokratische Republik; Zugl.: Stuttgart, Univ., Diss, 1999, 1. Aufl., Hildesheim: Olms 2000. 10 Wie das rechteckige Format und die teilweise noch sichtbare Filmperforation beweisen.

Freihändig mit der

Als bisher unbekannte Forschungsge-

Kleinbildkamera bei

genstände erstmalig vorstellen möchte

den Proben – Umbo

ich hier Fotoserien aus dem nächsten Jahrzehnt. Die Kameras waren leichter

geworden, der Rollfilm setzte sich durch, die Lichtstärke der Studio­ beleuchtung war wesentlich höher und das Filmmaterial wurde deutlich lichtempfindlicher. Der Bauhaus-Schüler Otto Umbehr, der sich Umbo nannte und in den 1920er Jahren mit seinen Por­­trätaufnahmen (z. B. von Valeska Gert) Wege einer neuen Ästhetik ging und dann Fotojournalist und Mitbegründer der Agentur Dephot wurde, fotografierte in den 1930er Jahren u. a. Tänzer und Tanzgruppen bei den Proben ohne Stativ, also aus freier Hand. 1943 ist nicht nur das Berliner Tanzarchiv, sondern auch Umbos eigenes Archiv im Krieg zerstört worden. Wie durch ein Wunder haben zwei der Ordner mit kleinen Kontaktabzügen überlebt, und in einem davon waren rund 80 Bögen mit jeweils bis zu 37 aufgeklebten Miniaturabzügen aus dem Tanzbereich. Es handelt sich also um insgesamt über 2.000 Aufnahmen. Jeder Bogen ist mit „umbo-archiv“ gestempelt, mit Bleistift mit einer „L-Nr“ versehen, und die einzelnen Aufnahmen sind durchnummeriert. Mehrere Bögen wurden in den 1970er oder 1980er Jahren ausgeliehen und nicht zurückgegeben und befinden sich heute in den Sammlungen des TAL in der Universitätsbibliothek Leipzig; 77  Bögen befinden sich im Deutschen Tanzarchiv Köln. Zwei davon, Bogen L/228 (Wigman mit Gruppe) und L/231 (Palucca; auf einer Aufnahme sind in einer Pausensituation auch deren Schülerinnen zu sehen) sollen hier näher betrachtet werden. Ich bezeichne sie als „Kontaktbögen“, obwohl sie der durch die spätere Praxis geprägten Vorstellung von Kontaktbögen nicht entsprechen und keinen durch Auflegen der Negative belichteten Bogen Fotopapier zeigen, sondern einzeln auf einem Papierblatt angeordnete und aufgeklebte Kontaktfotos. Ein Vorteil dieses „Einzelbild-Verfahrens“ besteht für den Betrachter darin, dass der Wechsel zwischen den durch die entsprechende Haltung der Kamera im Hoch- oder Querformat gemachten Aufnahmen10 beim Aufkleben ausgeglichen werden kann und man den Bogen dann ggf. nicht drehen muss. Ein Nachteil könnte darin bestehen, dass bei losen Aufnahmen nicht nur eine Auswahl stattgefunden haben, sondern auch die Reihenfolge verändert worden sein könnte.

Abb. 4 ►

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D e r „ e n t f e s s e l t e “ A b y Wa r b u r g – Ta n z f o t o - S e r i e n v o n E r f u r t h b i s U m b o

U m b o : M a r y W i g m a n u n d i h r e Ta n z g r u p p e , S i l b e r g e l a t i n e , K B - K o n t a k t a b z ü g e ca . 2,6 x 3,8 cm, montier t auf Papierbogen ca . 28,4 x 22,3 cm, D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , B e s t a n d 2 01, L / 2 2 8 © V G B i l d - K u n s t , B o n n .

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Abb. 5 ► Ein weiterer Unterschied zu den o. g. Alben und Leporellos mit kleinformatigen Aufnahmen besteht darin, dass diese Kontaktbögen von Umbo nicht für die Tänzer, sondern für sein eigenes Archiv bestimmt waren. Beide Bögen weisen kleine Kreuze bei einzelnen Fotos auf und bestätigen durch diese (vermutlich vom Fotografen, möglicherweise aber auch von den Tänzern getroffene) Auswahl die beabsichtigte Nutzung der gekennzeichneten Aufnahmen in Vergrößerungen, entweder für die Abgebildeten oder für eine Verwendung als Pressefotos. Bei den Palucca-Fotos ist zudem auf einem von ihnen ein Ausschnitt für eine Vergrößerung eingezeichnet (s. Abb. 5). Sowohl für das verzeichnende Archiv, als auch für die Forschung stehen zunächst Bestimmungsfragen im Vordergrund: Wie sind die Aufnahmen zu datieren und welche Tänze sind auf den Fotos abgebildet? Was bei dem Bogen der Wigman-Probenfotos (s. Abb. 4) vielleicht zuerst auffällt, ist das mit markant gezackten Streifen versehene Kostüm Mary Wigmans. Es wurde 1986 zu Wigmans 100. Geburtstag durch die bunte 70-Pfennig-WigmanBriefmarke sehr bekannt, welche die Grafikerin Karin BlumeZander nach einem Foto von Albert Renger-Patzsch von Wigman im Tanz in der Stille aus den Herbstlichen Tänzen (1937) geschaffen hat. Aber kann man deshalb die Fotos auf „1937 oder danach“ datieren? Aufgrund der Bekleidung der Gruppentänzerinnen möchte man zunächst annehmen, dass die Reihenfolge auf dem Bogen nicht der Aufnahmereihenfolge entsprechen könne. Es sieht so aus, als wäre das erste Bild vorangestellt, also vorgezogen worden und würde eigentlich aus der (dann) zweiten Tanzfolge stammen. Leider sind die Kleinbildnegative (Rollfilm) von Umbo, die im Gegensatz zu den in den 1910er und 1920er Jahren üblichen Einzelnegativen die Überprüfung einer Reihenfolge erlauben würden (und auch, ob eine Auswahl getätigt wurde), kriegsbedingt nicht mehr erhalten. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass Umbo eine Probensituation fotografiert hat, die Kostüme deshalb zunächst vernachlässigt, sich auf die Beschriftungen Tanz der Seherin und Kampflied einlässt und die Aufnahmen mit Fotos anderer Fotografen sowie mit Programmzetteln und Kritiken vergleicht, zeigt sich ein anderes Bild. Der Bogen berichtet von Proben für einen Tanzabend von Wigman und ihrer Tanzgruppe:

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D e r „ e n t f e s s e l t e “ A b y Wa r b u r g – Ta n z f o t o - S e r i e n v o n E r f u r t h b i s U m b o

Umbo: Gret Palucca , Silbergelatine, KB-Kontaktabzüge, ca . 2,6 x 3,8 cm, montier t auf P a p i e r b o g e n c a . 2 8 , 4 x 2 2 , 3 c m , D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , B e s t a n d 2 01, L / 2 31 © VG Bild- Kunst, Bonn.

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11 Choreographie: Ruth Boin. 12 Also ohne den zweiten Solotanz Wigmans aus diesem Zyklus, Tanz der stillen Freude. Kostüme: Elis Griebel. Zur Tanzgruppe gehören u. a. noch Gretl Curth, Annemarie Grashey, Erika Klütz, Jutta Lucchesi, Gisela Sonntag und Erika Triebsch. 13 Rydberg, Olaf: Die Tänzerin Palucca, Dresden: Reißner 1935. Abb. 14.

Der Tanzzyklus heißt Frauentänze und ist 1934 entstanden. Die 32  Aufnahmen gehören zu folgenden Tänzen: Totenklage (1) Hexentanz (2–10) Tanz der Seherin (11–26) Kampflied 11 (27–32) Die Programmzettel belegen, dass die Reihenfolge vielleicht der Probenfolge, aber nicht der Aufführungs-Abfolge in den – Anfang 1935 – auf der Tournee getanzten Tänzen entspricht. Das Programm („Mary Wigman und ihre Tanzgruppe“) wurde im ersten Teil mit dem Kampflied, getanzt von Ruth Boin, Gretl Curth und Drucilla Schroeder und zwei weiteren Schülerarbeiten eröffnet, gefolgt von Wigmans Soli Sommerlicher Tanz und Sturmlied aus dem Zyklus Schwingende Landschaft. Nach der Pause folgte der Zyklus Frauentänze mit den Tänzen Hochzeitliche Reigen, Mütterlicher Tanz, Totenklage, Die Seherin, Hexentanz.12 Die Tourneeproben fanden vermutlich im Dezember 1934 statt, was an Wigmans Tagebüchern überprüft werden könnte, und die Fotos wären damit gut zu datieren. Die meisten der Informationen sind also zusätzlich seitens des Archivs als bewahrender Institution dieser „pluralen Konstellation von Tanz“ für die Verzeichnung in der Datenbank recherchiert und somit hinzugefügt worden. Ob sie seitens der Forschung korrigiert und ergänzt werden können, wird sich zukünftig erweisen. Nicht immer steht allerdings bereits bei der ersten Erfassung genügend Zeit für Recherchen zur Verfügung, und der jeweils neu eingetroffene Bestand muss zunächst in einem ersten Schritt mit allgemeinerer Beschreibung erfasst werden. Die triste Mondschein­-

Noch schwieriger als bei dem

sonate – Fragen der

Wigman-Kontaktbogen ist es bei

Be- und Verzeichnung

der Bestandsverzeichnung, wenn, wie bei dem Palucca-Kontakt­

bogen, seitens des Fotografen gar keine Titel von Tänzen notiert wurden (s. Abb. 5). Vor allem die zentrale Serie mit 26 Aufnahmen sollte anhand von Vergleichen und durch Nachschlagen in der Literatur zugeordnet werden können. Im Palucca-Buch von Olaf Rydberg von 1935 findet sich ein Foto aus (in) einer vergleichbaren Serie.13

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14 Erdmann-Rajski: Gret Palucca, Abb. 62.

Ein Tanztitel ist dort auch nicht angegeben, und als Fotografin ist

15 Jarchow, Peter u. Stabel, Ralf: Palucca: Aus ihrem Leben - über ihre Kunst, Berlin: Henschel 1997, Abb. auf 85.

mit der Aufnahme Nr. 8 des Umbo-Kontaktbogens überein, d. h.

16 Stabel, Ralf: Tanz, Palucca! Die Verkörperung einer Leidenschaft, Berlin: Henschel 2001, 312.

Hilde Schlitter genannt. Kostüm und Haltung Paluccas stimmen eine Nennung eines Tanztitels bei Rydberg hätte als Verweis in der Katalogisierung genügt, und jede Datenbankrecherche nach diesem Tanz würde zukünftig auf Umbos Kontaktbogen verweisen. Ein zur Abbildung bei Rydberg identisches Foto (die Struktur der Wand­ fläche im Hintergrund beweist es) findet sich auch bei ErdmannRaj­ski, welche den Palucca-Nachlass in der Akademie der Künste in Berlin genutzt hat, und dort gibt die Bildunterschrift Improvisation zur Mondscheinsonate einen Hinweis auf den Titel des Tanzes.14 Erstaunlicherweise wird das Foto, das doch schon 1935 publiziert ist, hier auf 1937 datiert und als Fotografin Genja Jonas benannt. Dies ist auf die Bildquelle, Paluccas Nachlass zurückzuführen. Auch in der Palucca-Monographie von Peter Jarchow und Ralf Stabel15 kommt ein Foto mit diesem Kostüm und dem Titel Mondscheinsonate (M.: Ludwig van Beethoven) vor, doch wird dieser Tanz im Text und im Werkverzeichnis auf 1942 datiert, und als Fotograf dieser Aufnahme ist Enkelmann ausgewiesen. Auch im Werkverzeichnis der Palucca-Biographie von Ralf Stabel gibt es Beethovens Mondschein­ sonate (Sonate cis-Moll, op. 27, Nr. 2) erst im Jahr 1942.16 Wie Wigman kann auch Palucca ein Kostüm mehrfach verwendet haben. Auch kann es sich um einen weiterentwickelten Tanz handeln. Die Fotos von Umbo sind nur drei Archivnummern später aufgenommen worden als die von Wigman und ihrer Gruppe, könnten also auch noch vom Dezember 1934 oder von Anfang 1935 stammen. Das passt zu Rydbergs Veröffentlichung und lässt als Tanz eine neue Kreation aus dem Programm der Spielzeit 1934/35 in Rydbergs Palucca-Werkverzeichnis vermuten. Jedenfalls handelt es sich nicht um den Tanz zur Mondscheinsonate von 1942, und das Jahr 1937 ist auch falsch. Ob die Vergleichsaufnahmen von Hilde Schlitter oder Jonas stammen, bedarf ebenfalls der Überprüfung. Die These, dass Will Grohmann – der Palucca so nahestand, dass er 1935 für sein Buch über sie ein Pseudonym wählte, noch dazu mit Olaf Rydberg einen nordisch klingenden Namen – die Jüdin Jonas möglicherweise nicht namentlich nennen wollte, kann sofort wieder fallen gelassen werden: Er hat auch Fotos von Jonas in seinem Bildnachweis aufgelistet. Auch die These, dass Grohmann im Produktionsprozess des Buches versehentlich bei diesen Fotos einen falschen Namen angegeben haben könnte, klingt nicht plausibel,

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17 Schmidt, Werner u. Kupferstich-Kabinett Dresden (Hg.): Künstler um Palucca: Ausstellung zu Ehren des 85. Geburtstags: Ausstellungskatalog, Dresden: Staatliche Kunstsammlungen Dresden 1985, 30, 42f.

wenn man bedenkt, dass er als (promovierter) Gymnasiallehrer

18 Atanassow, Alexander: Genja Jonas: Eine Dresdner Lichtbild­ nerin, Dresden: Kunstblatt-Verl. 2013, 174, 175.

scheinsonate von diesen Leporellos, ebenso die irrige Datierung

19 Stabel: Tanz, Palucca!, 311. 20 Schmidt u. Kupferstich-Kabinett Dresden: Künstler um Palucca, 30. 21 Ebd. 22 https://archiv.adk. de/objekt/1824996 (zuletzt geprüft 03.03.2022).

und Kunsthistoriker arbeitete und an genaues, wissenschaft­ liches Arbeiten gewöhnt war. Es bleibt fast nur der Verdacht, dass zumindest die Fotos in Leporello Nr. II in Paluccas Nachlass gar nicht von Jonas angefertigt wurden. Immerhin stammt die für die frühe Aufnahmezeit offenbar falsche Bezeichnung Mond­ 1937. Und die acht vergrößerten Reproduktionen davon sind erst für die Ausstellung „Künstler um Palucca“ im Kupferstich-Kabinett Dresden (1987) angefertigt worden.17 Da Palucca sich daran er­innerte, dass alle Aufnahmen bei Jonas an einem Tag gemacht wurden, die drei Leporellos aber mit 1935, 1937 und 1937 im Katalog bezeichnet sind, könnten auch alle drei von 1935 stammen. Sicher muss das eine Album tatsächlich aus dem Jahr 1935 sein, denn offenbar sind auch aus diesem Album Tanzfotos (Tanzportraits) im Buch von Rydberg 1935 verwendet worden (und als von Jonas stammend ausgewiesen). In seiner Monographie zu Jonas bildet Alexander Atanassow 2013 zwei der Fotos im fraglichen Kostüm aus Paluccas Nachlass im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste mit der Bildunterschrift „bei der Improvisation zum Fotografieren, in Anlehnung an den Valse Triste nach der Musik von Jean Sibelius, 1937“ ab.18 Laut Werkverzeichnis bei Stabel hat Palucca tatsächlich einen Tanz, nämlich Nachtfantasie, zum Valse Triste von Sibelius getanzt  – allerdings erst 1941.19 Woher die Information stammt, dass diese Improvisation, die laut Dresdner Ausstellungskatalog und Paluccas Aussage (1987) „alle an einem Tag“20 entstanden wären und nur zu einer einzigen Musik (bis die Platte „nur noch krächzte“21) nun zum Valse Triste von Sibelius fotografiert wurden und doch nicht zur Mondscheinsonate von Beethoven, geht aus dem Buch leider nicht hervor. Die Archivdatenbank des Archivs der Akademie der Künste verzeichnet aktuell die Fotos in Paluccas Nachlass zunächst mit den Dresdner Angaben von 1987 („Improvisation zum Fotografieren in Anlehnung an den Tanz ‚Mondscheinsonate‘ nach der Musik von Ludwig van Beethoven, Fotograf: Genja Jonas […] siehe auch Leporello 1937“) mit folgender Anmerkung: „Bei den mit ‚Mondscheinsonate‘ betitelten Fotos handelt es sich um ‚Triste‘ – Die ‚Mondscheinsonate‘ wurde von Palucca erst 1942 getanzt. Zu diesem Zeitpunkt lebte Genja Jonas schon nicht mehr.“22 Ein Nachweis für die Zuweisung des Tanztitels Triste

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D e r „ e n t f e s s e l t e “ A b y Wa r b u r g – Ta n z f o t o - S e r i e n v o n E r f u r t h b i s U m b o

23 Vgl. Schmidt u. Kupferstich-Kabinett Dresden: Künstler um Palucca, 40. 24 http://www.deutsche fotothek.de/documents/ obj/30114130 (zuletzt geprüft 03.03.2022); vgl. auch https://saxorum. hypotheses.org/2642 (zuletzt geprüft 03.03.2022). 25 Schmidt u. Kupferstich-Kabinett Dresden: Künstler um Palucca, 42.

ist dort bisher nicht nachzulesen; von Valse Triste (Sibelius) ist hier jedenfalls nicht die Rede, und Triste wurde von Palucca laut Werkverzeichnis zu Musik von Eric Satie getanzt. Hatte diese Musik darüber hinaus überhaupt etwas mit diesem Tanz zu tun? Sollte man nur von einer „Improvisation“ sprechen und weder Titel noch Musik angeben? Und wie kommt eine Aufnahme von Jonas, 1937 entstanden, als Foto von Schlitter in ein Buch, das schon 1935 erschienen ist? Und kann man dem Dresdner Katalog von 1987 überhaupt vertrauen – wo doch dort zum Beispiel die bronzene Wigman-Büste (Portraitmaske) von Laurent Friedrich Keller aus Paluccas Besitz dem Bildhauer Ernesto de Fiori zugeschrieben wird aufgrund mündlicher Überlieferungen (immerhin bei Erwähnung einer Gegenmeinung, dass sie von Hermann Haller stammen könnte)?23 Die Bücher von 1987 bis heute lassen also einige Fragen offen. Der Archivar nutzt geflissentlich heute auch das Internet zur Informationsbeschaffung. Die bekannten Suchmaschinen finden zumindest für „Palucca Mondscheinsonate“ drei Fotos: 1) Die SLUB / Deutsche Fotothek veröffentlicht im Internet ein Foto aus der Serie in diesem Kostüm mit folgenden Informatio­ nen: „Foto: Jonas, Genja, um 1925“, „Gret Palucca tanzend, Improvisation zur ‚Mondscheinsonate‘ von Ludwig van Beethoven. Fotografie von Genja Jonas aus der Sammlung Gret Paluccas. 39,2 x 29,3 cm“, „Staatliche Kunstsammlungen Dresden (SKD), Kupferstich-Kabinett, Signatur/Inventar-Nr.: Palucca Nr. II/31“ und stellt die originalen Informationen von 1982 als Scan von einem Microfiche zur Verfügung, bei welchem die Reproduktion der Leihgabe von Palucca durch Martin Würker 1982 im Kupferstichkabinett und bereits damals die Datierung „um 1925“ vermerkt sind. 24 Für Skeptiker stellt sich anhand dieser Informationen die Frage, warum 1982 das Foto Nr. 31 bei der Reproduktion aus Paluccas II. Album auf die Mitte der 1920er Jahre datiert wurde, wenn in diesem Kupferstichkabinett fünf Jahre später bei der Ausstellungseröffnung dasselbe Album II als „beschriftet: Genja Jonas 1937“ ausgewiesen wird?25 2) Wahrscheinlich haben die prähistorischen menschlichen ‚Jäger-und-Sammler-Gene‘ im Laufe der Zeit eine Variante mit einem ausgeprägten persönlichen Selbstdarstellungstrieb ent­ wickelt. Ganz abgesehen von allen fürstlichen Kunstsammlungen: Schon im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert legten viele Menschen nicht nur Poesiealben, sondern auch Sammelalben (scrapbooks)

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26 Laut eigenen Angaben, zitiert bei Wikipedia mit Stand von 2019: https://de.wikipedia. org/wiki/Pinterest (zuletzt geprüft 03.03.2022).

mit kleinen Stichen und Lithographien aus Büchern, später vor

27 https://www. pinterest.de/pin/ 491314640594203857 (zuletzt geprüft 03.03.2022).

zeigen konnten. Wie bei jeder Modeströmung entstand eine Ver-

28 https://www. pinterest.de/pin/ 491314640594204088 (zuletzt geprüft 03.03.2022).

sich heute in Archiven finden. Aktuell könnte man im Hinblick auf

allem mit aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittenen Xylo­ graphien und anderen Zeitungs- oder Zeitschriftenillustrationen (insbesondere dann Fotoabbildungen) an, die sie ihren Freunden gleichs- und Konkurrenzsituation. Auch auf diese Weise sind übrigens plurale Konstellationen von Tanzfotografien entstanden, die ‚soziale Medien‘, das ‚Teilen‘ von Abbildungen und die Hoffnung, durch viele ‚Follower‘ eine eigene Bedeutung zu erlangen, vielleicht von einem ‚Pinteresse-Gen‘ sprechen. Und letztlich handelt es sich bei der billigenden Nutzung der aus kommerziellen Vermarktungsinte­ ressen zur Verfügung gestellten Plattformen auch darum, die Funde mit einem gewissen Stolz vor anderen Usern als eigene Sammlung zu präsentieren. Pinterest hat weltweit 300 Millionen Nutzer. 26 Es verwundert also nicht, dass man dasselbe Foto der SLUB noch einmal mit der Überschrift „Mond“ und den Angaben „Jonas, Genja: Palucca – Zur Mondscheinsonate, um 1925“, natürlich ohne Quellenangaben, bei Pinterest wiederfindet. 27 Für soziologische Studien mag das interessant sein – der Tanzforschung bringt es nichts. Aber Fehlinformationen werden im Internet natürlich unnötig verbreitet. 3) Dieselbe „ana san“ (aktuell: 1.691 Follower, sie selbst folgt 1.498 anderen Usern) hat ein weiteres Foto der Serie unter der Überschrift „Tanzen“ und wieder ohne Quellenangabe eingestellt: „Jonas, Genja: Gret Palucca tanzend, Improvisation zur ‚Mondschein­ sonate‘, Bl. 37.“28 „Bl. 37“ meint die Nr. 37 aus dem Album II, wie auf S. 43 des Dresdner Katalogs abgebildet. Wie geht denn das Archiv nun bei der Verzeichnung von Umbos pluralen Konstellationen der Fotos von Paluccas Tanz, Bogen L/231 um? 34 Jahre Forschungsliteratur zu Palucca ebenso wie das Internet helfen nicht weiter. Wie viele Stunden soll ein Archivar eigentlich aufwenden, um ein Feld eines Datensatzes für zukünftige Nutzer der Datenbank korrekt auszufüllen und nicht noch im Mondschein vor dem Computer zu sitzen? Wie viele der bisher aufgefundenen, durchaus widersprüchlichen Informationen sollten eingetragen und der Forschung als Hinweise an die Hand gegeben werden? Fazit: Ohne ein Tanzarchiv kommt die Forschung und das ihr „zuarbeitende“ Archivpersonal hier also nicht weiter. Man geht an die Archivalien, in diesem Fall an die Sammlung zu Palucca

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29 „Der deutsche künstlerische Tanz“ in: Die Kunst, Bd. 71, H.6/ 1935, München: Bruckmann, 189.

im Deutschen Tanzarchiv Köln, und in wenigen Minuten liegen

30 Peter, Frank-Manuel: Valeska Gert: Tänzerin, Schauspielerin, Kabaret­ tistin – Eine dokumen­ tarische Biographie, 2.  durchges. Aufl., Berlin: Ed. Hentrich 1987, 53, 56–57. Vgl. ebd. auch die acht Aufnahmen aus Suse Byks filmischer Aufzeichnung des Tanzes Kupplerin auf 37.

sche Tanz“ ein Foto von Palucca im fraglichen Kostüm abgebildet.29

brauchbare Informationen vor: In der Zeitschrift Die Kunst vom März 1935 ist in einem Text mit dem Titel „Der deutsche künstleriEs handelt sich exakt um die Aufnahme Nr.  30 vom Kontakt­bogen L/231, nur ein wenig am Rand beschnitten. Bezeichnet ist die Ab­ bildung im Druck mit „Fot. Umbo“ und mit „Palucca: Elegie“. Elegie war also der Name des Tanzes, zumindest damals, 1935, bei Umbos Aufnahmen. Und wenn man dann einen passenden Programm­ zettel der Tournee vom Anfang 1935 heraussucht, zum Beispiel vom 13. Februar 1935 in Hannover (Beethovensaal der Stadthalle), dann findet man als Programmpunkt 7 unter der Überschrift Dunkle Klänge die Einzeltänze Triste (E.  Satie) und Elegie (O.  Respighi). Und nicht Beethoven also oder Sibelius, vielleicht nicht einmal Satie, sondern offensichtlich Ottorino Respighi bot 1935 den musikalischen Rahmen. Damit ist die Erwartungshaltung der Datenbanknutzer aber noch nicht vollständig befriedigt und somit die Mühe des Archiv­ personals bei der Erschließung mit dem Bogen L/231 noch nicht zu Ende. Bei der letzten Reihe der Palucca-Fotos (mit dem weißen Kleid) gibt es ebenfalls Ähnlichkeiten mit Fotos aus Rydbergs Buch, wie ein Vergleich von Umbo Nr. 32 mit Abb. 33 (Charlotte Rudolph) bei Rydberg nahelegt. Aber eine Fortsetzung hierzu würde in diesem Rahmen zu weit führen. Die mögliche Nähe

Aus Filmen kann man in Ermange-

der seriellen Tanz­f oto­-

lung geeigneter Standfotos einzelne

grafie zur filmischen Dokumentation

Momentaufnahmen herausziehen, den Film sozusagen anhalten. Ich

habe das vor Beginn des digitalen Zeitalters Anfang der 1980er Jahre mit alten 35mm-Filmen in der Stiftung Deutsche Kinemathek getan und mit der Fotokamera gegen eine Lichtquelle Einzel­ aufnahmen herauskopiert, um die Mimik und Gestik von Valeska Gert in Spielfilmen wie Nana oder Die Freudlose Gasse aufzuzeigen.30 Liegen nun viele Einzelaufnahmen eines Tanzes vor, so bietet sich quasi das umgekehrte Verfahren an, um die angehaltene Bewegung wiederzugewinnen: aus den Kontaktfotos einen Animationsfilm herzustellen. Dafür wird allerdings eine gewisse Anzahl von Aufnahmen benötigt. Eine große Schwierigkeit besteht zudem in den zu großen zeitlichen (nicht fotografierten) Lücken im

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31 Die Ergebnisse sind aktuell in der Tagungsdokumentation zu sehen: https://vimeo.com/manage/ videos/514234194 (zuletzt geprüft 03.03.2022). Sie sollen zukünftig im Loop auf der Seite https:// www.deutsches-tanzarchiv. de/archiv/nachlaessesammlungen/u/umbo (zuletzt geprüft 03.03.2022) gezeigt werden. 32 Vgl. Suhr, Werner: „Der Tanz in der photographischen Wiedergabe“, in: Photo- Graphik, Nr. 24, Berlin 1939, 17; Starke, Herbert: „Tanz im Atelier“, in: Das Atelier des Photographen / Gebrauchs­ photographie, Nr. 45, Berlin 1938, 11.

Ablauf eines Tanzes und, gerade im Fall von Umbo, in der freihändigen Nutzung der Handkamera: Der Fotograf wechselte während des Tanzes den Standort, und auch die Veränderung der Höhe der Kamera bei gleichem Standort erschwert die Konstruktion eines Films aus den einzelnen Fotos. Ruckartige Wechsel wirken störend im Tanzverlauf. Bei den Wigman-Aufnahmen wurde für den ‚Film‘ eine Beruhigung des Bildes versucht, indem die Fußleiste an der Wand des Tanzstudios als einheitliche Horizontlinie festgelegt wurde, weswegen nach dem vertikalen Verschieben einzelner Aufnahmen am oberen oder unteren Rand dieser Fotos Korrekturen vorzunehmen waren. Entstanden sind sehr kurze filmische Eindrücke aus je einem Solotanz Wigmans und Paluccas – in der Hoffnung, der Forschung mit dieser neuen Sichtweise auf die pluralen Konstellationen von Tanzfotografie Anregungen geben zu können und der eloquentia corporis noch einmal das Wort zu erteilen.31 Ein Zeitgenosse von Umbo hat an der klassischen Aufnahme­ situation im Studio des Fotografen (und nicht im Tanzstudio) festgehalten, mit auf dem Stativ fixierter Kamera und bereits in den 1930er Jahren mit einer 15.000-Watt-Lichtanlage: Enkelmann.32 Seine gestochen scharfen, gut ausgeleuchteten und unter Einbeziehung von Schatten künstlerisch gestalteten Tanzfotos wurden die am meisten abgedruckten Tanzfotos in Deutschland von den 1930er bis in die 1960er Jahre. Im Deutschen Tanzarchiv Köln befindet sich sein Nachlassarchiv, zu dem zwei Schubladen mit senkrecht stehenden, alphabetisch geordneten Originaltüten und darin aufbewahrten über 30.000 losen Kontaktabzügen von Tanzfotos gehören, durch Personenregister und Archivnummernregister erschlossen. Auch dies sind plurale Konstellationen von Fotografien, wie sie in den Archiven geduldig auf ihr forschendes Publikum warten.

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Chorisches Tanzen und Bilder in Serie — zur (Foto-)Geschichte der modernen Bewegungschöre Patrick Primavesi

1 Laban, Rudolf von: „Vom Sinn der Bewegungschöre“ (1923/1926), in: Schrifttanz, Jg. 3, H. 2, 1930, 25–26, hier 26.

In den Bewegungschören der Weimarer Republik tanzten Laien und Professionelle, Frauen und Männer, jüngere und ältere, oft auch zusammen und weitgehend unabhängig von den Körperbildern, die im Gesellschaftstanz, im Volkstanz und im Ballett tradiert wurden. Ein gemeinsames Tanzen aus Lust an der Bewegung, zumeist im Freien, auf Wiesen, an Stränden oder in öffentlichen Parks, zunehmend vor Publikum, auf Bühnen und schließlich bei Festspielen und politischen Veranstaltungen. Wie aber wurden diese Bewegungschöre organisiert? Wie sahen sie aus? Welches Bild können wir uns heute von dieser historischen Praxis und auch von ihrer späteren Verwicklung in den Gemeinschaftskult des Faschismus machen? Gab es Wechselwirkungen zwischen den chorischen Formationen und ihrer medialen Repräsentation? Orientiert an diesen Fragen und anhand einiger Beispiele wird zu zeigen sein, dass mit den Bewegungschören zugleich ein plurales Sehen entwickelt wurde, das sich besonders in der Tanz-Fotografie manifestierte. Mit den Übergängen und Differenzen zwischen Bewegungschören und Massenchoreografien kommen aber auch die politischen Kontexte der pluralen Konstellationen von modernem Tanz in den Blick. Zur Entwicklung

Mit dem Tanzen in Gruppen

der Bewegungschöre,

und Chören handelt es sich

quer zum Ornament der Masse

um ein gemeinsames Teilen des Raumes und damit um eine

elementare Form des Sozialen, was bereits 1923 der Tänzer und Choreograf Rudolf von Laban als eigentlichen Sinn der Bewegungschöre hervorgehoben hat: Die heute am meisten soziale Form – und um soziale Formen handelt es sich vor allem; denn der Bewegungssinn, der das Ich mit dem Umraum verknüpft, ist keine Privatsache – ist der Bewegungschor, der die Gemeinschaft auch im Tanz erleben lässt.1 Daraus folgt bei Laban die Tendenz, den Raum des sich bewegenden und damit plastisch ausbildenden individuellen Körpers selbst schon als eine Sphäre des Gemeinsamen zu begreifen. Wird die Ausbildung des Körpers als Voraussetzung für ein aktives Gestalten des Raumes verstanden, erscheint der Bewegungschor als ein besonders geeignetes, vielleicht sogar als notwendig empfundenes Mittel und Medium

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C h o r i s c h e s Ta n z e n u n d B i l d e r i n S e r i e – zur ( Foto-) Geschichte der modernen Bewegungschöre

2 Ebd. 3 Vgl. Gleisner, Martin: Tanz für alle. Von der Gymnastik zum Gemeinschaftstanz, Leipzig: Hesse und Becker, 1928. 4 Böhme, Fritz: „Der Radius des Tanz­ kunstwerks“, in: Der Schein­ werfer, Jg. 1, H. 11/12, 1928, zit. n.: Der Scheinwerfer (Reprint/Auswahl), hg. v. Erhard Schütz u. Jochen Vogt, Essen: Klartext 1986, 263–267. 5 Ebd.

dieses Prozesses. So schrieb Laban an gleicher Stelle und mit Bezug auf die „körperkulturellen Sehnsüchte“ seiner Zeit: „Die Bildung von Bewegungschören ist daher nicht nur einer von vielen Wegen, die die neuzeitliche Körperbildung geht, sondern heute der einzig mögliche Weg. Das gilt für Erwachsene und Kinder […].“2 Sei es zum Ausgleich der einseitigen Belastungen des Körpers im Schul- und Berufsleben, sei es als eine Feier der Lebensfreude – die von Laban und seinen Schülern und Schülerinnen, insbesondere Martin Gleisner, Jenny Gertz und Albrecht Knust propagierte Arbeit am „Tanz für alle“3 galt dem Bewegungschor als einer universalen Praxis der Körperbildung. Die Chöre konnten aber auch als Repräsentation nationaler Gemeinschaft verstanden werden, wie im 1928 erschienenen Essay „Der Radius des Tanzkunstwerks“ des Tanzkritikers Fritz Böhme: […] die auf künstlerischem Gebiet gefundenen Geschmacksformen werden so am ehesten Eingang in die Menge finden und über das Sehen der Werke hinaus zu einer aktiven Betätigung der neuen Gebärde führen. […] Und so wird eines Tages aus dem Nebeneinander und Gegeneinander der vielen Richtungen unserer Zeit, aus dem Suchen nach der Synthese bei der Formung – der Kampf um den Bewegungschor entstehen. Wer dort siegt, wird schließlich den Stil der Gebärde der kommenden Zeit bestimmen.4 Als Haupttendenz der Bewegungskultur seiner Epoche sieht Böhme das „Gruppenmäßige“, wodurch eine umfassende Artikulation des „Volkes“ zu erreichen wäre: „Wollte aber die Bewegungschor-Idee sich des Volks bemächtigen, so läge hier ein Instrument vor zu einem formmäßig neuen Ausdruck der Volkspsyche.“5 Die im Pathos dieser Formulierung übersteigerte Hoffnung auf den Bewegungschor als Inbegriff einer neuen Volksgemeinschaft wurde schließlich mit der Etablierung des nationalsozialistischen Staates zum Programm erhoben: Die Idee einer tanzenden, sich in Bewegung konstituierenden Gemeinschaft wurde, wie andere Formen von Ausdruckstanz, unter Mitwirkung vieler Künstler und Künstlerinnen der Ästhetik des ‚Dritten Reiches‘ angepasst und instrumentalisiert. Mitte der 1930er Jahre hatten die Bewegungschöre ihren Modellcharakter aber schon wieder verloren. So wird deutscher Ausdruckstanz bis heute eher mit einer solistischen Praxis assoziiert, vor allem mit den ‚Stars‘ Mary Wigman, Gret Palucca und Harald Kreutzberg.

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Patrick Primavesi

6 Vgl. dazu Müller, Hedwig u. Stöckemann, Patricia (Hg.): „… jeder Mensch ist ein Tänzer.“ Ausdruckstanz in Deut­ schland zwischen 1900 und 1945, Gießen: Anabas 1993; Kant, Marion u. Karina, Lilian: Tanz unterm Haken­ kreuz. Eine Dokumentation, Berlin: Henschel 1996 und 1999; Guilbert, Laure: Danser avec le IIIe Reich. Les danseurs modernes sous le nazisme, Brüssel: Editions Complexe 2000.

Auf die Perspektive des Individuums, seiner Position und ‚Gesin-

7 Die hier formulierten Überlegungen gehen aus von einem mehrjährigen Forschungsprojekt am Tanzarchiv Leipzig, dessen Ergebnisse in einer umfangreichen Quellen­ edition erscheinen werden: Bewegungschöre – Körper­ politik im modernen Tanz, hg. v. LIGNA u. Patrick Primavesi, Leipzig: spector books 2022 (in Vorbereitung). Siehe auch bereits Hardt, Yvonne: „Ausdrucks­ tanz und Bewegungschor im Nationalsozialismus. Zur politischen Dimension des Körperlichen und Räumlichen im modernen Tanz“, in: Diehl, Paula (Hg.): Körper im Nationalsozia­ lismus. Bilder und Praxen, München: Wilhelm Fink 2006, 173–189.

tion mindestens so komplex sind wie im Verhalten einzelner Persön-

8 Franko, Mark: „Dance and the political. States of exception“, in: Dance Discourses, hg. v. Susanne Franco und Marina Nordera, London/ New York: Routledge 2007, 11–28, hier 19. 9 Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouverne­ mentalität II, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006 und Geyer, Christian (Hg): Biopolitik: Die Positionen, Frankfurt/M. Suhrkamp 2001, sowie Agamben, Giorgio: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. 10 Fleig, Anne: „Körper-Inszenierungen:

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nung‘ blieb auch die Frage nach der politischen Bedeutung des Tanzes in Deutschland lange fixiert. Mittlerweile konnte das oft klischeehafte Bild des mit der Macht sympathisierenden Tänzers differenziert und die Beteiligung von Künstlerpersönlichkeiten auch an antisemitischen Maßnahmen (wie etwa dem Ausschluss jüdischer Schüler und Schülerinnen) genauer analysiert werden.6 Weniger untersucht sind jedoch die Geschichte, Bedeutung und mediale Repräsentation der Bewegungschöre sowie die Frage nach den politischen Aspekten dieser Praxis, deren Ideologie und Funklichkeiten.7 Wie Mark Franko im Hinblick auf Wechselbeziehungen zwischen Tanz und Politik bzw. dem Politischen betont, produziert Tanz(en) nicht nur Modelle von Identität, sondern auch von sozialem Verhalten, im Sinne einer „Choreopolitik“ zwischen Kontrolle und Selbstermächtigung. Franko plädiert für die Überwindung des Konflikts zwischen Praxis und Ideologie, zwischen einer ‚formalistischen‘, auf Technik und Ästhetik beschränkten Perspektive und der Reflexion historischer, kultureller und politischer Kontexte. Mit den Strukturen des Politischen ist Tanz nicht weniger verknüpft als mit denen von Religiosität und Ritual: „[…] politics is as closely and substantially connected to dance in the real world as dance itself is connected to ritual in anthropology.“8 Auch im Hinblick auf die Annäherung des Ausdruckstanzes an die Massenästhetik des NS-Staates bleibt zu unterscheiden zwischen der Politik der Ideologien, der Repräsentation von Machtverhältnissen sowie der Instrumentalisierung des Tanzes und einer Politik des Körpers, die seine Disziplinierung und Inszenierung bestimmt. Nach Michel Foucault steht der Begriff Biopolitik oder auch Biomacht für den Einfluss moderner Staaten auf das körperliche Leben des einzelnen, durch Prozesse der Regulierung, Normierung und Selektion.9 Darüber hinaus verweisen Körperinszenierungen auf politische und kulturelle Normen und Werte, sie „veranschaulichen, modifizieren oder hinterfragen zentrale gesellschaftliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster wie Natur/ Kultur, Männlichkeit/Weiblichkeit oder Realität/Fiktion.“10 So manifestieren auch die diversen Erscheinungsformen von Tanz eine jeweils spezifische, mit gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Kontexten verknüpfte Körperpolitik, die nicht notwendig Intentionalität und bewusste Strategien der Akteure voraussetzt. C h o r i s c h e s Ta n z e n u n d B i l d e r i n S e r i e – zur ( Foto-) Geschichte der modernen Bewegungschöre

Begriff, Geschichte, kulturelle Praxis“, in: dies.; u. Fischer-Lichte, Erika (Hg): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen: Attempto 2000, 13. 11 Diehl, Paula: „Körperbilder und Körperpraxen im Nationalsozialismus“, in: dies.: Körper im Natio­ nalsozialismus, 9–30, hier 17. Vgl. auch Ramsay, Burt: Alien Bodies. Representa­ tions of modernity, ‘race’ and nation in early modern dance, London/New York: Routledge 1998, 84–120. 12 Seit Anfang der 2000er Jahre arbeitet auch die Gruppe LIGNA mit ihren Radioballetten an Choreografien der Zerstreuung. Vgl. dazu LIGNA: An Alle! Radio Theater Stadt, Leipzig: Spector Books 2011.

In der Zeit der Weimarer Republik avancierte der Körper insgesamt zum „Ort sozialer Ordnung, zum Raum der Verwirklichung des menschlichen Könnens und zum Hoffnungsträger einer neuen Gesellschaft“ – und diese körperpolitische Utopie wurde im natio­ nalsozialistischen Körperkult radikalisiert, mit der Konstruktion eines „Volkskörpers“ ebenso wie mit einer auf „Reinheit“ zielenden Rassen- und Hygienepolitik.11 Die Frage also, ob und inwieweit die Bewegungschöre der Ästhetik und der Organisation des faschis­ tischen Systems entsprachen, ist allein noch nicht ausreichend, um die politischen Aspekte der Chorarbeit zu erfassen. Die Entwicklung der unterschiedlichen bewegungschorischen Formen macht einen erweiterten Begriff des Politischen und der Körperpolitik erforderlich – im Hinblick auf die Sozialität des Raumes im Tanz, die Disziplinierung und Inszenierung von Bewegung in Gemeinschaft. In welchem Verhältnis aber steht die Körperpolitik der Bewegungschöre zu den medialen Strukturen und Effekten ihrer Dokumentation und Verbreitung? In den 1920er Jahren ging die Arbeit mit Bewegungschören von Laban, der als Mitbegründer des modernen Tanzes gilt und auch die Tanzschrift der Kinetografie bzw. Labanotation etabliert hat, bald auf viele Schüler und Schülerinnen über, die selbst unterrichteten und Chöre leiteten. Durch die Körperkultur der Weimarer Republik wurde das Tanzen in Gruppen zum Ausdruck von kollektivem Engagement, als Bestandteil der neuen Tanzpädagogik sowie der Ästhetik und Aisthesis des modernen Tanzes. Verbreitet hat sich dieses kollektive Element in Wechselwirkung mit den technischen und ästhetischen Neuerungen der Fotografie. So konnte die medial gesteigerte Faszination, die von der rhythmischen und räumlichen Koordination vieler Körper ausgeht, auch zur Etablierung einer totalitären Körperpolitik beitragen. Parallel zum ideologiekritischen Narrativ, das die Entwicklung des deutschen Ausdruckstanzes in der Gleichschaltung der Körper enden sieht, reicht die Fotogeschichte der Bewegungschöre von spontanen Gruppenaufnahmen über ornamentale Chorformationen bis hin zu Massenbildern, die in monumentaler Starre alles Individuelle auflösen. Neben dem quantitativen Faktor, der mit einer größeren Anzahl von Beteiligten nur noch abstrakte Muster produziert, ist aber auf den Grad an Uniformität in der Bewegung zu achten. So kann schon in kleinen Gruppen eine Vereinheitlichung von Körperbildern entstehen, während andererseits auch bei Chören mit vielen Beteiligten Effekte von Diversität und Zerstreuung möglich sind.12

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13 Sontag, Susan: „Faszinierender Faschismus“, erster Teil übers. von Mark Rien, in: dies.: Im Zeichen des Saturn, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, 96–118, hier 112f.

Soziologische und psychologische Erklärungen haben die Sehnsucht moderner Individuen nach einem geordneten Ganzen analysiert und abgeleitet von den Lebensverhältnissen im frühen 20. Jahrhundert. Als deren Resultat galt ein isoliertes und ano­nymes, von traditionellen Bindungen entfremdetes Dasein in einer durch ständige ökonomische und politische Krisen geprägten Mas­sen­gesellschaft. Diese war, wie die Geschichte des Faschismus in Deutschland zeigt, in hohem Maße anfällig für die Manipulation durch Ideologien von Gemeinschaft und autoritärer Führung. Zur Selbstrepräsentation totalitärer Systeme gehört immer auch ein choreografisches Moment, wie Susan Sontag betont hat: […] die Darstellung von Bewegung in grandiosen und strengen Formen, denn eine solche Choreographie reflektiert die Einheit des Staatswesens selbst. Die Massen sind dazu da, geformt zu werden, etwas Gestaltetes zu sein. Daher spielen sportliche Massenveranstaltungen, die inszenierte Zurschaustellung von Körpern, eine so wichtige Rolle in allen totalitären Staaten: […] Im politischen Leben des Faschismus wie des Kommunismus wird der Wille öffentlich zur Schau gestellt, im dramatischen Wechselspiel zwischen Führer und Chor.13 Was diese ansonsten überzeugende Analyse verdeckt, sind allerdings gerade die Unterschiede von Masse und Chor sowie die Übergänge zwischen individueller, kollektiver oder von außen kontrollierter Bewegung. Diese Differenz gilt es auch im Hinblick auf die Fotogeschichte der Bewegungschöre zu beachten. Deren Darstellung entfaltet ihre Wirkung vor allem aus der Spannung zwischen individueller Körperbewegung und kollektiv erzeugtem Bildeindruck. So gab es nicht bloß die „grandiosen und strengen Formen“, von denen Sontag spricht, sondern ein breites Spektrum an Gestaltungsmitteln, zwischen choreografischer und fotografischer Praxis. Als Ausgangspunkt für eine differenziertere Betrachtung von Bildern des Chorischen kann hier die auch bei Sontag noch gegenwärtige Formel vom „Ornament der Masse“ dienen, die Siegfried Kracauer in seinem 1927 erschienenen Essay geprägt hat. Dort erkennt er in den ornamentalen Revuen der Tiller Girls den Rationalismus kapitalistischer Produktionsprozesse. Diesem habe auch das organische Körperideal der Lebensreformbewegung nicht

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14 Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M. Suhrkamp 1977, 50–63, hier 63

entgehen können. So sieht Kracauer in der rhythmischen Gymnas-

15 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Erste Fassung), in: Gesammelte Schriften, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, Bd. I, 467.

er dem auf Effizienz fixierten Taylor-System der maschinellen Pro-

16 Vgl. Klooss, Reinhard u. Reuter, Thomas: Körper­ bilder. Menschenornamente in Revuetheater und Revuefilm, Frankfurt/M.: Syndikat 1980, 107.

der 1920er Jahre noch verbreitete – Hoffnung wurde von der Re-

tik nur den hilflosen Versuch, durch „Überhöhung des Körperlichen“ und im „Rückbezug auf mythologische Sinngehalte“ die Rationalität des kapitalistischen Lebens zu verdrängen.14 Demgegenüber spricht duktion eine Überwindung des Naturzusammenhangs zu, die durch das Massenornament bereits angezeigt werde. Die Tiller Girls erscheinen bei Kracauer als Vorzeichen einer vernunftgeleiteten Veränderung der Gesellschaft. Diese – Ende Mythologisierung des Massenornaments als einem Symbol der neuen Volksgemeinschaft durchkreuzt. Die im Faschismus vorherrschende „Ästhetisierung des politischen Lebens“15 umfasste neben Relikten von Naturideologie im Rückgriff auf die Avantgarden eine erneute Verabsolutierung des Mechanischen, der das Massenornament als Auflösung individueller Körper entsprach. Auch Kracauers Diskurs über das Massenornament liegt ein visuelles Dispositiv zugrunde, das er medial zwischen Sportstadion und Wochenschau-Filmen verortet. Seine Deutung des Ornaments als Vorstufe einer fortschrittlichen Vernunft, die den neuen Menschen schaffen sollte, musste sich aber angesichts der Bildpolitik der totalitären Regime ad absurdum geführt sehen. Im Unterschied auch zu den früheren Tanzrevuen stand das perfektionierte Massen­ ornament in den 1930er Jahren bereits für eine starre, monumentale Bildlichkeit der gebändigten Masse. In den USA markierten die Filme von Busby Berkeley eigentlich schon das Ende der Theaterund Tanzrevue, mit einem glamourösen „Balanceakt zwischen Ökonomie und Verschwendung“16. Im NS-Staat, zumal in dessen von Joseph Goebbels gesteuerter Filmproduktion, überwogen da­ gegen Bildeffekte von Symmetrie und Ordnung, entsprechend einer Ästhetik des Erhabenen in der Suggestion totaler Normierung und Kontrolle. Demgegenüber bleibt jedoch an ein anderes Dispositiv zu erinnern, mit dem die Bewegungschöre eine größere Spannung zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen dynamischer Bewegung und bildhaftem Ornament hervorbringen konnten. Um die Differenz zwischen diesen Dispositiven zu verdeutlichen, sei hier zunächst noch die nach 1933 immer deutlicher werdende mediale Dimension der Massenornamente skizziert. Die in den Parteitags- und Olympiade-Filmen von Leni Riefenstahl kon­ struierte Gestalt der modernen Masse als Ornament der Macht

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17 Benjamin: Kunstwerk, in: Gesammelte Schriften, Bd. I, 467. 18 Vgl. dazu das entsprechende Kapitel aus Labans 1935 erstmals veröffentlichtem Lebensrückblick Ein Leben für den Tanz, Nachdruck, hg. v. Claude Perrottet, Bern u. Stuttgart: Paul Haupt 1989, 125–131. 19 Burghardt, Wilm: „Rudolf von Laban“, in: Die Schönheit, Jg. 22, H. 1, 1926, 4–22, hier 12f., 28f. u. 33.

zeigt besonders drastisch die Medienwirksamkeit von Choreografie, die auch Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz betont hat: In den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen, in den Massenveranstaltungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. […] Massen­ bewegungen stellen sich im allgemeinen der Apparatur deutlicher dar als dem Blick. […] Das heißt, daß Massenbewegungen […] eine der Apparatur besonders entgegenkommende Form des menschlichen Verhaltens darstellen.17 Diese These einer Korrespondenz zwischen der kollektiven Bewegung und den Apparaturen ihrer Aufnahme und Reproduktion ist nicht nur für das Ornament der Masse relevant, sondern auch für die Bewegungschöre und ihre Abbildungen. So lässt sich ein „Entgegenkommen“ der chorischen Bewegung gegenüber der Apparatur beobachten, das nicht erst bei großen Massen einsetzte und das auch nicht erst im Film sichtbar wurde, sondern bereits in der Fotografie. Gerade vor dem Hintergrund der späteren Vereinnahmung des chorischen Tanzes für die nationalsozia­listische Körperpolitik bleibt zu fragen, inwieweit die körperliche Praxis der Bewegungschöre den Möglichkeiten zunächst einer (seriellen) Fotografie entgegenkam, die auch ihrerseits nicht bloß im abstrakten Massenornament aufging. Bilder in Bewegung –

Als eigentlichen Beginn der Arbeit

Chorisches Sehen

mit Bewegungschören hat Laban selbst einen Aufenthalt 1922 in Gleschendorf bei Lübeck genannt,

wo er zum ersten Mal die Freiheit gehabt habe, mit einer größeren Gruppe nach den neuen Bewegungsprinzipien eines modernen chorischen Tanzes zu arbeiten.18 Aus dieser Phase stammt auch eine der bekanntesten Fotoserien zu den Bewegungschören, abgedruckt im Journal Die Schönheit 1926 (in einem Aufsatz über Laban von Wilm Burghardt19 ). Darin lässt sich bereits ein Wechselverhältnis zwischen chorischem Tanzen und pluralen Konstellationen in der Fotografie erkennen.

Abb. 1 ►

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Fotograf unbekannt, Bewegungschorübungen mit Rudolf Laban bei G l e s c h e n d o r f, 19 2 2 , i n : D i e S c h ö n h e i t , H . 1, 19 2 6 , 12 f . u n d 3 3 .

Auch in den folgenden Jahren bestanden die Bewegungschöre zumeist aus Laiengruppen, die vor allem für sich selbst und weniger für einen Blick von außen tanzten. So hatten die Beteiligten wohl ein anderes Verhältnis zur Produktion von Bildern als die damals schon zunehmend professionalisierten Solotänzer und -tänzerinnen, die auf eine werbewirksame Fixierung und Publikation ihres persönlichen Tanzstils angewiesen waren. Die Chor-Fotografien zeigen allerdings ein breites Spektrum, das von zufällig wirkenden Momentaufnahmen bis hin zu geometrischen Figuren und Formatio­nen reicht, die durchaus ‚gestellt‘ wirken. Solche Ein­d rücke lassen nicht nur die Zusammenarbeit mit einem Fotografen oder einer Fotografin vermuten, sondern auch eine bewusste, in der jeweiligen Gruppe verabredete Etablierung und Inszenierung von Mustern der kollektiven Bewegung. So erfahren grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Fotografie und Tanz, die sich schon im Hinblick auf den individuell tanzenden Körper stellen, in der Abbildung der Bewegungschöre nochmals eine

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20 Brandenburg, Hans: Der moderne Tanz (1913), 3. erw. Auflage, München: Georg Müller 1921, 4f.

Zuspitzung, durch eine gesteigerte Komplexität auch der Anforde-

21 Ebd., 220.

position und Kontingenz wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts

22 Laban, Rudolf von: Die Welt des Tänzers. Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Walter Seifert 1920, 259.

mit den „künstlerischen Aufnahmen“ manipuliert durch Posen, die

23 Vgl. Wolf, Norbert Christian: „‚Fruchtbarer Augenblick‘ – ‚prägnanter‘ Moment: Zur medienspezifischen Funktion einer ästhetischen Kategorie in Aufklärung und Klassik (Lessing, Goethe)“, in: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings, hg. v. Peter-André Alt u. a., Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, 373–404.

Tanz propagierten, zur Fotografie zunächst eher skeptisch, wie z. B.

rungen an das fotografische Bild. Das für die Tanzfotografie konstitutive Verhältnis von Kom-

Bewegungen zur Repräsentation eines Tanzstils und Ausdrucks im Studio still stellten. Daher äußerten sich Autoren, die den modernen Hans Brandenburg, demzufolge Fotos allenfalls den Stil und das Wesen von Tänzerinnen wiedergeben konnten, „nicht aber den Tanz, dessen Wesen ausschliesslich in der Bewegung besteht und darum von der Zeitlichkeit (wie auch von der dreidimensionalen Räumlichkeit) untrennbar ist“.20 Diese Haltung folgt der These, dass der wahre Tanz aus dem Gefühl des Körpers und dem inneren Bewegungssinn entsteht. Anders als Balletttänzer, die ihren Körper vor dem Spiegel disziplinieren, könne der wirkliche Tänzer darauf verzichten, sich „von außen“ zu sehen: „denn sein ganzer Körper ist ein einziges sich selber fühlendes und erkennendes Auge.“21 Ähnliche Vorbehalte formulierte Laban in seiner Programmschrift Die Welt des Tänzers (1920), allerdings mit einer besonderen Wendung: Es wäre noch zu bemerken, daß die Photographien der Tänzerstellungen, die ich in mein Buch aufgenommen habe, einzig den Zweck haben, den Begriff der Spannung zu illustrieren. Es soll nicht ein schöner Körper oder ein interessanter Bildeindruck gegeben werden, sondern eine Raumspannung im Tänzer. Diese Raumspannung läßt, wenn sie richtig gesehen wird, ein Vorher und ein Nachher ahnen, und wird dadurch zu einem erträglichen Andeutungsmittel tänzerischer Bewegung.22 Mit der möglichen Ahnung des „Vorher und Nachher“ verweist Laban indirekt auf die Bild- und Kunsttheorie des 18.  Jahr­ hunderts, zumal bei Diderot, Lessing und Goethe, die (mit jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung) das Prinzip des fruchtbaren Augenblicks bzw. des prägnanten Moments im Sinne eines punc­t­­um temporis formuliert hatten.23 Gerade im Vergleich der Wirkungsmöglichkeiten von bildender und poetischer Kunst zählt es zu den Qualitäten des Tableaus, Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zu verknüpfen, der Wahrnehmung sinnlich erfahrbar

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24 Rudolph, Charlotte: „Das tänzerische Lichtbild“, in: Tanzgemeinschaft, 2. Jg. H. 1, 1930 4ff.

zu machen oder zumindest der Vorstellung nahezulegen. Das kann

25 Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931), in: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, 371.

gerieren durch Spannungsverhältnisse, welche die Gleichzeitigkeit

(wie es um 1800 vor allem am Beispiel der antiken Laokoon-Gruppe diskutiert wurde) auch heißen: eine körperliche Bewegung zu sugdes Dargestellten im Moment der Betrachtung wieder in etwas Transitorisches aufzulösen vermögen. Ähnlich denkt Laban im Sinne einer komplexeren Tableau-Theorie das Foto nicht nur als erstarrtes zweidimensionales Bild einer Stellung oder Pose, sondern als Dokument einer „Raumspannung“, die mit der Andeutung von Raum- und Zeitverhältnissen eine Ahnung von der tänzerischen Bewegung geben kann. Ab Mitte der 1920er Jahre veränderten sich jedoch die technischen Voraussetzungen der Fotografie, als erstmals kleinere Apparate mit kürzerer Belichtungsdauer auf den Markt kamen. So erreichte die Tanzfotografie eine neue Stufe, das „tänzerische Bild“, worunter die Fotografin Charlotte Rudolph das tatsächlich während des Tanzens aufgenommene Bild verstand. Anders als das für Tanz etablierte „Stellungsbild“ zeigt es erstmals Momente, die nicht als eine angehaltene Bewegung auszuführen sind, sondern nur mit der Kamera fixiert werden konnten: „Momente, die wir beim Tanze nicht sehen, oder besser, nicht beachten.“24 Wenn Rudolph zugesteht, dass erst die Gewöhnung an Momentaufnahmen diesen Bereich für die Tanzfotografie erschlossen habe, berührt sie bereits jene Lücken der Bildwahrnehmung, die Benjamin wenig später im Begriff des „optisch Unbewussten“ reflektiert hat: Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ‚Ausschreitens‘. Die Photo­ graphie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse. 25 Rudolph hatte ihr Handwerk in Dresden bei Hugo Erfurth gelernt, der seit 1900 bereits an Bewegungsaufnahmen arbeitete, dafür aber noch auf die traditionellen Mittel von Malerei und Kunstfotografie zurückgriff, etwa Unschärfe zur Suggestion eines raschen Bewegungsablaufs. Im Kontakt mit Palucca und Wigman, deren Erscheinungsbild sie über

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Fotograf unbekannt, Hamburger Bewegungschor Rudolf Laban, Leitung Albrecht K n u s t , J u l i 19 31, S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 9 , 4 x 6 , 2 c m , B e s t a n d Ta n z a r c h i v L e i p z i g / Sondersammlungen der Universitätsbibliothek Leipzig.

Jahrzehnte geprägt hat, entwickelte Rudolph eine eigen­ständige Bildsprache, bei der sie explizit unterschied zwischen Haupt­momenten der größten Spannung, und Übergangsmomenten von einer Bewegung in die andere.26 Diese Mittel einer dynamisch diffe­renzierten Bildgestaltung finden sich seit Ende der 1920er Jahre zunehmend auch in der Darstellung von Tanzgruppen, bei den zumeist im Freien entstandenen Bildern von Bewegungschören. Landschaftskulissen, wie sie in der Studiofotografie auch bei Aufnahmen von Ballettposen eingesetzt wurden, kamen in der Fotografie des modernen Tanzes kaum mehr vor. Für die Bewegungschöre war aber gerade ihre Einbindung in eine ‚natürliche‘ Umge26 Kuhlmann, Christiane: „Charlotte Rudolph – Fotografin des modernen Tanzes“, in: dies., Charlotte Rudolph. Tanzfotografie 1924 – 1939, Göttingen: Steidl 2004, 6–19, hier 14. Vgl. Rudolph: „Tanzphotographie“, in: Schrifttanz, 2.  Jg. H. 2, 1929, 28f.

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bung wichtig, wie sich auch an zahlreichen Fotos zeigt. Im Kontext der Laienarbeit hielten die zumeist anonym überlieferten Aufnahmen, die wohl häufig von den Chorleitern oder -mitgliedern selbst stammten, mit der erlebten Tanzpraxis zugleich deren Bezug zur Landschaft fest, z. B. Meeresstrände und Seeufer, Waldlichtungen, Berghöhlen oder einfach Wiesen. C h o r i s c h e s Ta n z e n u n d B i l d e r i n S e r i e – zur ( Foto-) Geschichte der modernen Bewegungschöre



Abb. 2

In vielen Bildern ist die Spannung spürbar, die es zugleich nahelegt, Bewegungsabläufe zu ergänzen. So hat die Fotografie von Tanzgruppen auch den Übergang vom Einzelbild zur Sequenz bearbeitet, von der Momentaufnahme zum Bewegungsbild, an der Schwelle zum Film. Während aber filmische Aufnahmen von Bewegungschören und Tanzgruppen aufwändiger waren und kaum erhalten sind (z. B.  die Tanzszenen im Körperkulturfilm Wege zu Kraft und Schönheit von 1925/26 und einige Wochenschauen), haben Momentaufnahmen in Bildserien die chorische Tanzpraxis auf eigene Weise dokumentiert und geprägt. Von da her bleibt weiterhin zu fragen, inwieweit die Wahrnehmung dieser Serien selbst chorisch zu werden vermag im Sinne einer Auffächerung pluraler Perspektiven. Das punctum des

Durch die Arbeit von Rudolph

Chorischen und die Serie

und anderen professionellen

als Medium von Bewegung

Tanzfotografen wurde ein Vokabular der Bewegungs-

darstellung etabliert, das die Wahrnehmung der Bewegungschöre als einer eigenständigen Praxis fördern konnte. Aufnahmen von tanzenden Gruppen finden sich ab 1925 immer häufiger in Büchern, Zeitschriften und Werbeanzeigen der Schulen für modernen Tanz, denen oft auch ein Bewegungschor angegliedert war. Anders als Brandenburg, der im schon zitierten Vorwort zur dritten Auflage seines Buches Der moderne Tanz die Bedeutung der Fotos relativierte und den Eindruck von einem „Bilderbuch“ explizit vermeiden wollte, präsentierte Fritz Giese seine erfolgreiche, 1924 in erster und 1927 in zweiter Auflage erschienene Publikation Körperseele mit 116 Abbildungen demonstrativ als Bildband, in dem die Fotos dem Text vorangestellt und einzeln kommentiert sind, darunter ein hoher Anteil an Gruppenaufnahmen.27 So konnte sich die Fotografie allmählich als populäres Bildmedium des chorischen Tanzes durchsetzen, wobei allerdings zu fragen bleibt, was diese Bilder vom Gemeinsamen der Bewegung mitteilen können. Vielleicht ist dafür nicht nur auf Formationen zu achten, die den repräsenta­ 27 Giese, Fritz: Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung, 2. Aufl., München: Delphin 1927.

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tiven Effekt des Ornamentalen hervorbringen, wenn wir die Bilder auf ihre sachlichen Inhalte hin befragen und ‚studieren‘. Darüber hinaus wäre die von Roland Barthes als punctum von Fotografien Patrick Primavesi

28 Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photo­ graphie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, 68.

bezeichnete Qualität dessen zu berücksichtigen, was der Ordnung des Gezeigten zuwiderläuft: „Das punctum ist mithin eine Art von subtilem Abseits, als führe das Bild das Verlangen über das hinaus, was es erkennen läßt.“28 Im Kontrast zu den chorischen Figuren enthalten die Bewegungschor-Fotos auch scheinbar nebensächliche Details – das kann ein plötzlich den Betrachter treffender Blick sein, ein deplatziert wirkender Hut, ein Fahrrad, ein aufgewirbelter Rock oder ein fliegender Haarschopf, Hände oder Finger, die wie rätselhafte Signale an ein zukünftiges Publikum aus dem Bild herauszeigen. Wenn der Wert dieser Bilder von Bewegungschören also nicht nur darin besteht, ornamental wirkende Formationen eines gemeinsamen Tanzens zu dokumentieren, worin liegt dann ihr punctum? Bei den frühen Bewegungschor-Fotos aus Gleschendorf könnte es gerade das Moment des Ungeordneten, Nicht-Perfekten sein, was beim Betrachten auffällt. Oder das Gesicht von Laban selbst, der mit einem Gong die Gruppe anfeuert und zwischen den hoch springenden Tänzern als einziger in Richtung der Kamera schaut. Eine rhythmische Spannung in den Bewegungen der Tanzenden ist auch in der Fotoserie der Hamburger Bewegungschöre von 1931 (s. Abb. 2) zu spüren. Dazu kommt der auf der Rückseite angegebene Musiktitel „Die ‚Unvollendete‘ [Sinfonie] Schubert“, der auf das musikalische Werk verweist, als wäre es beim Betrachten der Bilder mitzuhören. Wie von Barthes vorgeschlagen, bleibt auch in diesem Fall nach dem Verhältnis zu fragen zwischen dem, was die Bilder zeigen, und dem, was sie evozieren. Sichtbar sind tanzende Körper, die zueinander in einer mehr oder weniger starken, nicht nur räumlichen, sondern zugleich zeitlichen Spannung stehen. Im Betrachten kann die Vorstellung einer Bewegung ent­ stehen, die sich zwischen den Tanzenden abspielt, von ihnen ausgeht und sie zugleich erfasst, mit sich reißt. Daher haben die Bilder der Bewegungschöre weniger mit den Aufnahmen solistischer Posen gemeinsam als mit den Bewegungsstudien von Muybridge oder Marey – so als wären die Körperpositionen Stadien einer Bewegung, die sich durch die Gruppe fortsetzt wie in der nachträglich montierten Sequenz von Bildern eines einzelnen Körpers. Fotos vom Strand an der Nordsee zeigen Tanzende in Gruppen, die einander an den Händen fassen wie bei Volkstänzen, dabei aber mit Formen spielen, die sie im Moment, aus der Bewegung heraus erfunden zu haben scheinen.

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Fotograf unbekannt, Hamburger Bewegungschor Rudolf Laban, Leitung Albrecht Knust, a n d e r N o r d s e e , c a . 19 2 9 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 18 , 2 x 12 , 2 c m , M e d i a t h e k i m C e n t r e national de la danse ( CND ) Paris / Fonds Albrecht Knust.

Abb. 3 ▲ Der Anspruch an die Praxis des kollektiven Tanzens, zugleich chorisch und rhythmisch bewegt zu sein, gilt auch für ihre von den fotografischen Bildern vermittelte Wahrnehmung. Die dazu von Rudolph beschriebene Aufgabe des Fotografen („vorausfühlen, denn das Auge sieht den Moment durch die Vermittlung des Gehirns später als der Apparat“) wurde später vor allem von Henri Cartier-Bresson reformuliert. Demnach erfordert Fotografieren in der Wahrnehmung 29 Cartier-Bresson, Henri: „Der entscheidende Augenblick“ (1952), übersetzt von Katharina Hegewisch, in: Die Wahrheit der Photographie, hg. v. Wilfried Wiegand, Frankfurt/M.: S. Fischer 1981, 275ff.

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der „realen Welt“ das instinktive, vorausschauende Erkennen eines spezifischen Rhythmus: „Hat man tatsächlich im entscheidenden Moment abgedrückt, so wird man später auf dem Abzug geometrische Muster bemerken, die man instinktiv festgehalten hat und ohne die das Bild weder Form noch Leben hätte.“29 Patrick Primavesi

30 Vgl. dazu Müller, Hedwig: Mary Wigman. Leben und Werk der grossen Tänzerin, Weinheim u. Berlin: Quadriga 1986, mit detailliertem Werk­ verzeichnis, 310–320.

Wird der Betrachter von diesem Rhythmus erfasst, kann er an der Bewegung teilnehmen, deren Komplexität in ihren einzelnen Stadien erkennen und womöglich im Zusammenhang pluraler Konstellationen wahrnehmen. Das Plurale besteht aber nicht nur in einer geordneten Vielheit, sondern auch in dem, was sich der Ordnung entzieht, das ornamentale Gefüge stört. Diese Qualität verschwindet selbst in den Bildern nicht restlos, die von einer zunehmenden Normierung der Bildwirkungen zeugen – gerade im Hinblick auf das Erscheinen der Gemeinschaft, nach 1933 immer stärker aufgeladen mit der Ideologie eines einheitlichen deutschen Volkes. Diese Entwicklung sei hier noch an einer weiteren pluralen Kon­ stellation von Bildern vorgestellt. Die darin gezeigte Choreografie ist nur bedingt der Kategorie der Bewegungschöre zuzuordnen, für die Wechselbeziehungen von Tanz, Körperpolitik und Medialität aber besonders aufschlussreich. Totenklagen

Die Klage um Tote zieht sich wie ein Leit­motiv

in Serie

durch Mary Wigmans Schaffen, ideologisch verbunden mit dem Opfer des Einzelnen für das Allgemeine, zum pathetischen Ausdruck

eines überpersönlichen Schicksals. In diesem Sinne gestaltete sie die traumatische Erfahrung der beiden Weltkriege in Solotänzen ebenso wie in chorischen Arbeiten, insbesondere der monumentalen Produktion Totenmal von 1930. Soli mit dem Titel Klage oder Toten­ klage waren Teil mehrerer Tanzzyklen (Opfer, 1931; Frauentänze, 1934; Aus der Not der Zeit, 1946).30 Dabei hat Wigman zumindest in ihren schriftlichen Äußerungen das stets auch von rituellen Elementen geprägte Motiv Totenklage in einer Weise gedeutet, die weitgehend der politischen Propaganda des NS-Staates entsprach, der sich auf den Ersten Weltkrieg als einen ‚tragischen Daseinskampf‘ zurückbezog und Totenkultveranstaltungen zur Legitimation von Aufrüstung und neuem Krieg einsetzte. Auch bei Wigman geht die Beschwörung der Toten einher mit einer Idealisierung des Opfers für die Gemeinschaft. Die erstmals 1934 aufgeführte Choreografie Totenklage hat sich in drei „Serien“ von Fotos manifestiert, die zugleich den Weg vom Gruppentanz zur Massenchoreografie anschaulich machen. Auf programmatischer Ebene grenzte Wigman ihre Gruppen­ choreografien von Labans Arbeit mit Laien-Bewegungschören ab. Das hat auch mit der Rivalität gegenüber Laban zu tun, dem sie als

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C h o r i s c h e s Ta n z e n u n d B i l d e r i n S e r i e – zur ( Foto-) Geschichte der modernen Bewegungschöre

31 Wigman, Mary: Deutsche Tanzkunst, Dresden: Carl Reißner 1935, 11f. u. 75f.

ihrem Lehrer und Förderer verpflichtet blieb, dem sie aber seit Ende

32 Ebd.

Wigman sich mit den von ihnen geleiteten Institutionen wie mit

33 Vgl. Müller: Mary Wigman, 237ff., dazu die Dokumente in Kant, Karina: Tanz unterm Hakenkreuz, 259ff.

ihrem künstlerischen Engagement der Kulturpolitik des Regimes

34 Goebbels, Joseph: Die Tagebücher, hg. v. Elke Fröhlich, Tl. 1, Bd. 3/2, München: K.G. Saur 2001, 113.

der 1920er Jahre die institutionelle und ideologische ‚Führerschaft‘ im deutschen Tanz streitig zu machen versuchte. Da Laban und

anzupassen bemühten, setzte sich diese Rivalität in den 1930er Jahren fort. In ihrem 1935 erschienenen Buch Deutscher Tanz geht Wigman ganz im Stil des herrschenden Jargons vom „Schicksal unseres Volkes“ und einem „Anruf des Blutes“ aus und versucht das „Ureigentliche deutscher Kunst“ für den Tanz zu bestimmen. So entwirft sie die Funktion des Tanzes in einem zukünftigen Theater, das als „Ort des festlichen Begehens“ der Gemeinschaft verpflichtet wäre und in neuem Sinn als „kultisch“ gelten solle.31 Dabei hätte der Gedanke des Chorischen in den „aus bewegungs- und sprechchorischen Ideen heraus entwickelten Werken“ eine neue Bedeutung für den jungen Tänzer auch im Hinblick auf seine „Einordnungsbereitschaft“.32 Dieses Leitbild findet Entsprechungen in Wigmans damaligen Choreografien. Parallel zu Labans Versuch, sein Chorreigenwerk Vom Tauwind und der neuen Freude zur Eröffnung der Berliner Diet­ rich-Eckart-Freilichtbühne (heute Waldbühne) aufzuführen, war Wigman (ebenso wie Palucca, Kreutzberg und viele weitere Persönlichkeiten des modernen Ausdruckstanzes) an der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin 1936 beteiligt. In einem kulturpolitischen Umfeld, das durch personelle Wechsel im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda dem Ausdruckstanz generell nicht mehr gewogen war,33 ließ Goebbels persönlich noch bei der Generalprobe Labans Reigenspiel verbieten. In seinen Tagebüchern notierte er dazu, dass sich die Tanzkünstler immer mehr wie Nazis aufführten, ohne wirklich etwas mit ihnen zu tun zu haben.34 Laban wurde schrittweise aus seinen Ämtern gedrängt, wohl nicht zuletzt deshalb, da die von ihm mit künstlerischen Mitteln betriebene Gemeinschaftsbildung quer stand zur Körperpolitik der Massenchoreografien, die immer aggressiver das öffentliche Leben im NS-Staat prägten. Wigman versuchte damals noch, aus ihrer Beteiligung an dem von Hanns Niedecken-Gebhard zur Eröffnung der Olympiade inszenierten Festspiel Olympische Jugend Prestige und größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Dafür nahm sie ihre Gruppenchoreografie Totenklage wieder auf, die mit einigem Aufwand an die gigantischen Dimensionen des Berliner

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Patrick Primavesi

C h a r l o t t e R u d o l p h , S t u d i e n z u r „To t e n k l a g e “ , D r e s d e n , 19 3 4 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 24 , 2 x 17, 6 c m , B e s t a n d Ta n z a r c h i v L e i p z i g / S o n d e r s a m m l u n g e n d e r Universitätsbibliothek Leipzig ; unten rechts : Charlotte Rudolph, Studien zur „To t e n k l a g e “ i n : M a r y W i g m a n , D e u t s c h e Ta n z k u n s t , D r e s d e n : C a r l R e i ß n e r 19 3 5 , 27.

Olympiastadions angepasst wurde. Die bereits im Buch Deutsche Tanzkunst 1935 publizierte Bildserie Studien zur Totenklage mit Fotos von Rudolph zeigt diese Arbeit Wigmans noch bei Proben in ihrer Dresdener Schule, wo sie seit 1934 über eine staatlich subventionierte Tanzgruppe verfügte.

Abb. 4 ▲ Zu sehen ist Wigman jeweils in zentraler Position mit dreizehn weiteren Tänzerinnen, die überwiegend schräg nach vorne zur Mitte des Raumes hin ausgerichtet stehen oder knien. Alle sind barfuß und tragen bodenlange schwarze Kleider, die meisten mit freien Armen. Einige haben die Arme vor der Brust zu einem diagonalen Kreuz verschränkt, die Hände vor den Schultern, die anderen nehmen Klageposen ein: die Arme nach vorne oder zur Seite ausgebreitet, den Oberkörper mit gesenktem Kopf nach vorne gekrümmt oder

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35 Dotzler, Leonie: „Die Deutschen Tanzfestspiele 1934. Großer Erfolg Mary Wigmans“, in: Dresdener Neueste Nachrichten, 13.  Dezember 1934 (Nr. 289), 2. 36 „Tänzerische Tagesfragen. Ein Bericht“, in: Der Tanz, 8. Jg. 1935, H. 1, zit. n. Müller; Stöckemann: „ …  jeder Mensch ist ein Tänzer“, 156–159. 37 „Deutsche Tanzfestspiele 1935 – ein erfreuliches künstlerisches Ereignis“, in: Deutsche Bühnenkorrespondenz, 4. Jg. Folge 90, 13.  November 1935, zit. n. Müller; Stöckemann: „ …  jeder Mensch ist ein Tänzer“, 159–161.

aufgerichtet. An den beiden Seiten und zur Mitte hin verbinden sich die Frauen zu Zweier- und Dreier-Gruppen, auf dem dritten Bild stehen Wigman und eine Tänzerin in der Mitte, wie in einem Paartanz eng zusammen. Im Vergleich der Bilder lassen sich ähnliche Posen und Positionen erkennen, die einen Verlauf nahelegen, der sich nicht mit der im Buch gewählten Abfolge deckt. So erscheint das hier an erster Stelle zu sehende Foto im Buch als Abschluss der Serie, was aber mit der wahrscheinlichen Ausführung der Bewegungen zwischen den Posen kaum zu vereinbaren ist. Hierfür lassen auch die auf der Rückseite mit diversen Stiften notierten, zum Teil korrigierten Zahlen keine eindeutige Interpretation zu. Jedenfalls vermittelt die Serie eine Dynamik in der jeweiligen Gruppierung, die nicht nur mit der Choreografie vorgegeben ist, sondern auch mit der Auswahl einzelner Momente durch die Fotografin zu tun hat. Damit erweist sich die von Laban erwähnte Raumspannung gerade im Hinblick auf die von Rudolph betonten Haupt- und Übergangsmomente der tänzerischen Bewegung als Wechselverhältnis zwischen choreografischer und fotografischer Komposition. Noch zwei weitere Foto-Serien zeigen Wigmans Choreografie Totenklage, die eine ebenfalls von Rudolph fotografiert, mit vier Bildern im Buch Deutsche Tanzkunst. Hier trägt nur Wigman Schwarz, die anderen silberfarben glänzende Kleider mit langen Ärmeln, vermutlich bei Endproben 1934. Die gezeigten Posen entsprechen denen der früheren Serie, wobei aber Wigman noch deutlicher hervortritt, auch durch ihre persönlicher wirkende Gestik, die linke Hand an der Brust, die rechte am Kopf. Diese erste Aufführung der Totenklage wurde bei den von Laban geleiteten Deutschen Tanzfestspielen im Dezember 1934 an der Volksbühne in Berlin gezeigt, mit den anderen „Frauentänzen“ Hochzeitlicher Reigen, Mütterlicher Tanz, Tanz der Seherin und Hexentanz. Zwar waren diese Festspiele insgesamt erfolgreich, Wigmans Choreografien wurden aber auch kritisiert. Galten sie manchen noch als Höhepunkt und Beweis ihrer Rolle als „Führerin des neuen deutschen Tanzes“35, so wurden sie von der linientreuen Berichterstattung bereits abgelehnt als eigentlich undeutsche und disziplinlose „Erscheinungen der expressionistischen Zeit“36. Bei den Tanzfestspielen 1935 wurden Wigmans Tanzgesänge als nicht genug „volkhaft“ diffamiert, wogegen die chorischen Produktionen von Lotte Wernicke (Geburt der Arbeit) und Lola Rogge (Die Amazonen) als „gesunde Entwicklung“ gefeiert wurden. 37

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Patrick Primavesi

o b e n : C h a r l o t t e R u d o l p h : S t u d i e n z u r „To t e n k l a g e “ , D r e s d e n , 19 3 4 , i n : M a r y W i g m a n , D e u t s c h e Ta n z k u n s t , D r e s d e n : C a r l R e i ß n e r 19 3 5 , 3 0 u . 3 2 ; u n t e n : F o t o g r a f u n b e k a n n t , P r o b e n z u „To t e n k l a g e “ ( a u s d e m F e s t s p i e l „ O l y m p i s c h e J u g e n d “ ) , O l y m p i a s t a d i o n B e r l i n , 19 3 6 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 2 3 , 4 x 16 , 4 c m , T h e a t e r w i s s e n s c h a f t l i c h e S a m m l u n g , U n i v e r s i t ä t z u K ö l n .

Wigman bemühte sich jedoch weiter darum, durch Anpassung an den Führerkult und das reaktionäre Frauenbild des Faschismus ihre Machtposition im deutschen Tanz zu behaupten. Dem entsprach ihr Buch Deutsche Tanzkunst ebenso wie die Wiederaufnahme der Toten­ klage zur Eröffnungsfeier der Olympiade 1936. So entstand eine dritte Bilderserie bei den Proben zu der extrem erweiterten Choreografie.

Abb. 5 ▲ Die Fotos lassen vermuten, dass der Ausdruck der Individuen im Stadion kaum mehr zur Geltung kam. Dem militaristischen Grundgedanken des Festspiels Olympische Jugend fügte sich Wigmans Pathos der Klage mit einem künstlichen Ritual anscheinend nahtlos ein, wie zur Beglaubigung des Aufrufs zum Opferwillen, den ein Sprecher einleitend für das Vierte Bild

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38 Diem, Carl: Olympische Jugend. Festspiel (Programmheft), Berlin 1936, 11.

„Heldenkampf und Totenklage“ vortrug: „Allen Spiels / heil’ger

39 Ebd.

Werner Stammert mit 60 Tänzern vorgeführten „Waffenkampf

40 Wigman: „‚Totenklage‘ im Festspiel ‚Olympische Jugend‘“, in: Olympische Jugend, Programmheft, 41f.

(mit Schwerttod endend)“ trat Wigman gemeinsam mit 80  Tän-

41 Ebd.

Aufruf: „Denkt der Toten, / dankt den Toten, / die vollendet /

42 Vgl. Müller; Stöckemann: „ …  jeder Mensch ist ein Tänzer“, 179–183.

Sinn: / Vaterlandes / Hochgewinn. / Vaterlandes höchst Gebot / in der Not: / Opfertod!“38 Nach dem von Harald Kreutzberg und

zerinnen für die Totenklage auf. Eingeleitet wurde dieser Teil ebenfalls durch einen Sprecher, mit einem ähnlich pathetischen ihren Kreis. / Ihnen aller Ehren / allerhöchsten Siegespreis.“39 Dieser Beschwörung des Opfers entspricht auch Wigmans im Programmheft erschienener Kommentar: Nun, diese Totenklage ist nicht gedacht als ein trauerndes Sichversenken in lebensverneinende Gefühle. Sie ist vielmehr aufzufassen als eine feierliche Totenehrung, ein Gedanke, der unserer Jugend durchaus nicht fremd ist, dem sie vielmehr in erzieherisch bewußter Ehrfurcht durch nationale Gedenktage, durch Mahn- und Ehrenmale zugeführt wird. Vor zwei Jahren habe ich mit meiner eigenen Tanzgruppe eine „Totenklage“ von den gleichen Gesichtspunkten aus geschaffen. […] „ … Es ist ein Thema, das Ihnen besonders liegt, das zu gestalten Ihnen keine Schwierig­ keiten bereiten wird …“ so hieß es bei der Auftragserteilung für das Festspiel „Olympische Jugend“.40 Wigman hatte offenbar kein Problem mit der ideologischen Vereinnahmung ihrer Produktion, verwies vielmehr auf Kontinuität, auf gleiche Gesichtspunkte. Schwierigkeiten benennt sie immerhin in Bezug auf den Raum und seinen „ungeheuren Anspruch […] an die menschliche Darstellungsfähigkeit“41. Die schließlich von Flakscheinwerfern beleuchtete Aufführung am Eröffnungsabend (und bei einigen Wiederholungssaufführungen) demonstrierte aber, dass diese Totenklage den nationalsozial­istischen Massenornamenten schließlich doch eingefügt werden konnte. Während die Probenfotos das Absurde der Veranstaltung verdeutlichen, auch alltäg­ liche Verhaltensweisen wie ein entspanntes Lagern auf dem Rasen zeigen, zählte bei der Aufführung nur noch das totale Ornament, das auch die Zuschauermassen im Stadion in eine Kultgemeinschaft verwandeln sollte. Fotos von dieser nächtlichen Zeremonie,42 die mit einigen Kinderreigen begann, lassen die pathetische

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Patrick Primavesi

Atmosphäre dieses Festspiels ahnen, mit dem die Jugend symbolisch bereits dem Krieg „zugeführt“ wurde. Wie im Vergleich der Bilderserien zu Wigmans Totenklage mit den früheren Fotos von Bewegungschören deutlich wird, manifestiert das Spektrum dieser Bilder nicht nur die Tendenz zur monumentalen Inszenierung von Gemeinschaft, sondern auch eher spielerische Formen ihrer Zerstreuung. Von den Fotoserien ausgehend, führt der Weg der Bewegungschöre jedenfalls nicht nur zur Massenchoreografie. Gegenüber der Stillstellung von Bewegung im Ornament kommt es in der Betrachtung der Bewegungschorfotos darauf an, ihren seriellen Charakter zu reflektieren. Dieser weist über das Einzelbild hinaus, so wie individuelle Bewegungen im Chor zu etwas anderem werden, den Chor aber ihrerseits verändern können. Ein mit den pluralen Konstellationen zu schärfendes Bewusstsein solcher Wechselwirkungen kann den Blick auf die Bewegungschöre erweitern bis hin zu heutigen Formen der kollektiven Bewegung (in Raves und Paraden ebenso wie bei den olympischen Spielen der Gegenwart) wie auch der Dekon­struktion ornamentaler Bewegungsmuster. Mit den hier skizzierten Verknüpfungen zwischen Choreografien, Fotografien und darauf bezogenen Bilddiskursen kann das Sehen der chorischen Bewegung selbst chorisch werden, insofern es die Fotos als und in Serien betrachtet, die nicht bloß auf Ornamente der Masse zu reduzieren sind. So reicht das Spektrum dieser Serialität von technisch bedingten und motivischen Bildfolgen über ästhetische, dramaturgische und didaktische Serien bis hin zu historiogra­phischen und (körper-)politischen Konstellationen, mit denen auch die diversen, oft widersprüchlichen Kontexte der Bilder wieder erfahrbar werden.

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C h o r i s c h e s Ta n z e n u n d B i l d e r i n S e r i e – zur ( Foto-) Geschichte der modernen Bewegungschöre

Sozialistische Tanzbild-Produktion — Umdeutung und Instrumentalisierung von Tanz und Fotografie in der DDR Melanie Gruß

1 Enkelmann arbeitete ab 1929 im Atelier von Hans Robertson in Berlin, das er nach dessen Emigration übernahm, v. a. im Bereich der Tanzfotografie, als Porträt- und Werbefoto­ graf. Vor allem in der Nachkriegszeit fotografierte er ab 1953 für die Zeitschrift Das Tanzarchiv, hg. v. Kurt Peters, oder ab 1958 für Max Niehaus’ Tanzkalender viele namhafte Tänzer. 1960 siedelte er nach München über, wo er 1978 verstarb. Vgl. nach Cacciola, Donatella: „Aus nahezu fünfzig Jahren Bühnentanzgeschichte in Deutschland nicht wegzudenken“, https:// www.deutsches-tanzarchiv. de/archiv/nachlaessesammlungen/e/siegfriedenkelmann (zuletzt geprüft 05.01.2022). 2

Zit. ebd.

Tanzfotografien sind als Dokumentation und Quellen der Tanzgeschichte seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr wegzudenken und bilden einen wesentlichen Bestandteil tanzwissenschaftlichen Forschens. Eine besondere Spannung ergibt sich dabei jedoch aus dem ausschnitthaften Charakter des Mediums, aus dem, was jede Fotografie für sich nicht oder nur vermittelt zeigt, bezogen sowohl auf eine tänzerische Bewegungsabfolge wie auch in Bezug auf den jeweiligen Entstehungskontext, der sich selten im einzelnen Bild selbst transportiert. Erst aus pluralen Konstellationen von Tanzfotografien und unter Berücksichtigung auch gesellschaftlicher, (tanz-)praktischer und ideologischer Faktoren ihrer Hervorbringung lassen sich letztlich Aussagen über deren Inhalt formulieren. Als einer der prominentesten deutschen Tanzfotografen der 1930er bis 1960er Jahre gilt Siegfried Enkelmann, dessen Fotografien in vielen Büchern und Zeitschriften veröffentlicht sind.1 Der Tanzkritiker Horst Koegler formulierte in seiner Eröffnungsrede der kurz nach Enkelmanns Tod im April 1978 im Münchner Theatermuseum gezeigten Ausstellung Sieg fried Enkelmann. Ein halbes Jahrhundert Tanz- und Ballett-Fotografie über dessen tanzfotografisches Werk: Wer sich in Zukunft darüber informieren will, was in diesem Land in den dreißiger, vierziger, fünfziger und sechziger, ja bis in die siebziger Jahre hinein an Tanz geleistet worden ist, in Enkelmanns Photos kann er es nacherleben.2 Aus heutiger Sicht muss diese Aussage relativiert werden, erweist sie sich doch lediglich für den westlichen Teil Deutschlands als treffend, nicht aber für den Tanz in der DDR im gleichen Zeitraum. Der zunächst naheliegende Versuch, sich über ein fotografisches Werk wie das von Enkelmann auf ähnliche Weise an den Tanz in der DDR anzunähern, um aus aktueller Perspektive das „gesamtdeutsche“ Bild zu vervollständigen, muss dagegen scheitern, ebenso wie die Suche nach dem Genre Tanzfotografie in der DDR ergebnislos bleibt. Dieser Umstand verdient eine genauere Betrachtung ebenso wie die bisher eher unterbelichtete Frage, welche Fotografien und Bilder vom Tanz in der DDR uns heute begegnen. Zu konstatieren ist zunächst, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium der Fotografie und ihrer

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3 Vgl. Hartewig, Karin u. Lüdtke, Alf (Hg.): Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen: Wallstein 2004, 8. 4

Vgl. ebd., 10.

5 Im Sinne einer besseren Verständlichkeit auch historischer Begrifflichkeiten wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Funktion im sozialistischen Staat nach dessen Zusammenbruch erst relativ spät und zögerlich stattgefunden hat, wobei zunächst vor allem die Presse- und Amateurfotografie und deren Lenkung in den Blickpunkt fielen, weniger dagegen medien- und bildästhetische Fragestellungen.3 Die Bildwelten des Sozialismus, so resümieren Karin Hartewig und Alf Lüdtke, wurden nach der Wende schnell überlagert und blieben nur noch als Kuriositäten einer fern scheinenden Zeit zurück.4 Diese Anmutung beschreibt auch den Blick auf einige Fotobestände des Tanzarchiv Leipzig, dem ehemaligen Tanzarchiv der DDR, in denen sich unzählige Aufnahmen und Fotoserien diverser Tanzfeste und Tanzveranstaltungen der DDR befinden, die sich motivisch ähneln und die zeitlich jeweils nur schwer zu unterscheiden sind. Sie liefern Zeugnis nicht nur für eine spezifische Auffassung und Instrumentalisierung des Tanzes, sondern auch für die Funktion der Bilder im sozialistischen Kontext und generieren damit ein politisch-ideologisch aufgeladenes Verhältnis von Bild und Bewegung. Spezifische Regularien der Bildproduktion und Bildauswahl konstituieren diese Tanzfotografien in ihrer Pluralität als Serie, die letztlich nur die Überlegenheit der sozialistischen Lebensform im „Arbeiter- und Bauernstaat“5 inszenierten und in

J u l i u s G r o ß : Vo l k s t a n z f e s t R u d o l s t a d t , 19 5 8 , F a r b f o t o g r a f i e , Ta n z a r c h i v L e i p z i g , S i g n a t u r : N L 3 8 5 / 1 / 2 .

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Melanie Gruß

6 Vgl. Huschka, Sabine: „Über das Unmögliche. Choreographierte Blicke der frühen Tanzfotografie“, in: map – media archive performance, E-Journal, 5/2014, S. 2, URL: http:// www.perfomap.de, ISSN 2191-0901, https://nbnresolving.org/urn:nbn: de:bsz:14-qucosa-172680 (zuletzt geprüft 05.01.2022) 7 Vgl. Cacciola: „Aus nahezu fünfzig Jahren Bühnentanzgeschichte in Deutschland nicht wegzudenken“. 8 Verwiesen sei hier auf Hans Brandenburgs Der Moderne Tanz. Vgl. den Beitrag von Katja Schneider in diesem Band, vgl. ebd. den Beitrag von Janine Schulze-Fellmann zu Zigarettenalben. Enkelmann selbst veröffentlichte u. a. die Fotobücher Tänzer unserer Zeit, München 1937 und Tanz der Zeit, Halle 1948.

der gesellschaftlichen Praxis installierten. Eine Annäherung an den Tanz in der DDR über dessen fotografisches Gedächtnis scheint demnach von vornherein wenig aussichtsreich. Möglich jedoch ist eine Beschreibung des Vorgangs einer doppelten Instrumentalisierung von Tanz und Fotografie in der sozialistischen Diktatur insbesondere in den 1950er Jahren, bei der eine ideologisch determinierte Bildproduktion auf eine ebenso determinierte Tanzpraxis verweist und sie über die Veröffentlichung der Bilder zugleich herstellt. ◄

Abb. 1

Tanzfotografien:

Die frühen Tanzfotografien

Zwischen Dokumentation,

der 1910er, 1920er und 1930er

Ästhetik und Körperpolitik

Jahre von Hugo Erfurth, Genja Jonas, Charlotte Rudolph oder

Siegfried Enkelmann entwickelten in Korrespondenz mit dem tänzerischen Ausdruck und dem innovativen Bewegungsvokabular eine ganz eigene Bildästhetik, die unsere Vorstellung der Tanzmoderne entscheidend prägt.6 So griff beispielsweise Enkelmann wesentliche ästhetische Merkmale des Tanzes auf und erarbeitete in den frühen 1930er Jahren unter dem Verzicht auf Requisiten an deren Stelle stattdessen die Wirkung des Lichts als gestalterisches Element die Stilistik der abgebildeten Tänzerpersönlichkeiten einfing, eine eigene Bildästhetik, so dass überhaupt erst von einer eigenständigen künstlerischen Tanzfotografie gesprochen werden kann. Diese, so Max Niehaus 1962 in Ballett im Bild, begnüge sich nicht mehr mit nackter Dokumentation sondern wolle vom Abbild zum Sinnbild des Tanzes vordringen.7 Verfügten die größtenteils in Studios und Ateliers entstandenen Fotografien weniger über dokumentarische Qualitäten, so hatten sie, verbreitet über einschlägige Abhandlungen zum modernen Tanz, Sammelbilder in Zigarettenalben und Zeitschriften oder Fotobücher, doch einen entscheidenden Anteil an der Etablierung und auch Vermarktung des modernen Tanzes als Kunstform.8 Als Neuerung in der Ästhetik der Fotografie ermöglichen diese Fotografien heute einen Zugriff auf die Tanzmoderne der ersten Jahrhunderthälfte. Dabei werden in der Momentaufnahme einer bestimmten tänzerischen Ästhetik zugleich auch spezifische Körperkonzepte im Bild durch die Zeiten transportiert, die nicht losgelöst von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht werden können, wie Gabriele Klein prägnant formuliert:

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9 Klein, Gabriele: „Tanz als Aufführung des Sozialen“, in: Konzepte der Tanzkultur. Wissen und Wege der Tanzforschung, hg. v. Margrit Bischof u. Claudia Rosiny, Bielefeld: transcript, 2010, 142f. 10 Vgl. Primavesi, Patrick; Raschel, Juliane; Jacobs, Theresa u. Wehren, Michael: „Körperpolitik in der DDR. Tanzinstitutionen zwischen Eliteförderung, Volkskunst und Massenkultur“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissen­ schaften, Heft 14/2015, 9–44, hier 11.

Tanz ist ein Ausdruck gesellschaftlicher Ordnungen. Gesten […], Körperkonzepte der einzelnen Tänze […] und choreographische Ordnungen […] repräsentieren die jeweils historisch aktuellen Machtordnungen und Herrschaftsformen. Aber sie stehen nicht nur für die jeweiligen Ordnungen des Sozialen, die Ordnungen der Macht sind. Sie bringen sie in körperlichen Praktiken auch hervor.9 Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche, die sich in kurzer Folge im 20. Jahrhundert in Deutschland ereigneten, stellt sich daran anschließend die Frage, inwiefern diese sich auch im Bereich der fotografischen Auseinandersetzung mit Tanz manifestieren und welche Umdeutungsprozesse dahingehend möglicherweise beschrieben werden können. Mit Blick auf die Rolle des Tanzes in der sozialistischen Diktatur formulieren Theresa Jacobs, Patrick Primavesi, Juliane Raschel, und Michael Wehren eine ,Körperpolitik‘, die Phänomene der Gestaltung und Regulierung von Körpern und Lebensprozessen in modernen Staaten beschreibt: Entsprechend einem erweiterten Verständnis des Politischen im Sinne von Inszenierungs-, Verhandlungs- und Konstitutionsprozessen […] können auch jene Praktiken als Medium des Politischen analysiert werden, die im Selbstverständnis ihrer Akteure oft als ‚unpolitisch‘ erscheinen. Hier geht es um Körperinszenierungen und Verkörperungen, die jeweils politische und kulturelle Normen reflektieren, etwa bezogen auf Spannungsfelder wie Natur/ Kultur, Realität/Fiktion, Individuum/Gemeinschaft oder auch Alter, Hautfarbe und Geschlecht bzw. Gender. So manifestiert Tanz in allen seinen Erscheinungsformen eine jeweils mit gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten verknüpfte Körperpolitik.10 Diese Körperpolitik schrieb sich in der DDR auch in die bildliche Repräsentation von Tanz in der Fotografie ein, die – wie der Tanz selbst – zum Instrument politischer Agitation wurde. Dabei muss die Entwicklung einer sozialistischen Auffassung des Tanzes und der damit korrespondierenden Bildersprache als Prozess verstanden werden, der mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann.

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Melanie Gruß

Die Berliner Palette

Noch vor Kriegsende erfolgte im

und die Neuformierung

Zuge der Konferenz von Jalta

des Tanzes in der DDR

im Februar 1945 die Aufteilung Deutschlands unter den Sieger-

mächten, von der auch Berlin betroffen war. In der sowjetischen Besatzungszone sollte das kulturelle Leben eines zukünftigen „Arbeiter- und Bauernstaates“ nach sowjetischem Vorbild gestaltet werden. Mit einigem Aufwand sorgte die Sowjetische Militär­ administration in Deutschland (SMAD) dafür, dass schon innerhalb weniger Monate nach dem Ende des Krieges Theater und Opernhäuser wieder öffnen konnten. Viele Tanzschaffende versuchten, an ihre Arbeit vor dem Krieg anzuknüpfen, was aber nur zum Teil gelang: Die kulturelle Infrastruktur lag brach und trotz der Bemühungen der SMAD waren die meisten Auftritts- und Probenorte zerstört, die ehemaligen Tanzkompanien aufgelöst und es fehlte an Nachwuchs. Hinzu kam die Notwendigkeit einer ästhetischen und inhaltlichen Neuorientierung auch in Abgrenzung zum Nationalsozialismus, wobei in Bezug auf die Zukunft des Tanzes zunächst ein gewisses Vakuum herrschte und eine spezifisch sozialistische Auffassung dieser Kunst- und Kulturform erst noch ausformuliert werden musste. Dahingehend aufschlussreich ist die von 1947 bis 1950 in der sowjetisch besetzten Zone Berlins erschienene, aber durchaus für Gesamtberlin konzipierte Wochenzeitschrift Berliner Palette, die über das kulturelle Angebot der Stadt wie auch allgemeine Entwicklungen in Theater, Tanz, Malerei und Musik berichtete. Die Berliner Palette stand als Stadtmagazin und Illustrierte in einer Zeit akuten Mangels auch an Papier und Druckutensilien zum einen vor der Herausforderung auf gedrängtem Raum möglichst bildreich zu berichten. Zurückgreifen konnte die Berliner Palette dabei auf das von der SMAD übernommene Bildarchiv des Berliner Scherl-Verlags, dem größten Zeitungsverlag im Berlin der Weimarer Republik. Zum anderen ging es im Zuge des Wiederaufbaus einer zertrümmerten Stadt und einer politisch noch unklaren Zukunft darum, Optimismus zu verbreiten. Der Tanz nahm dabei einen breiten Raum ein und es erschienen Beiträge zu Ballett, Gesellschaftstanz und Volkstanz aber auch zu den bekannten modernen Tänzern wie Rudolf von Laban, Harald Kreutzberg, Gret Palucca, Jean Weidt, Dore Hoyer, Valeska Gert, Marianne Vogelsang u. a. Beim Blick auf die Illustrationen fällt auf, dass überwiegend von

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11 Ohne Autor: „Tanzschöpfer am Werk“, in: Berliner Palette, 22/11. Juni, Berliner Palette 1948, ohne Seitenangaben. 12 Ebd. 13 Ohne Autor: „Tänzerfahrt über den Ozean. Harald Kreutzberg wieder Vagabund“, in: Berliner Palette, 28/15. Juli 1949, ohne Seitenangabe; und „Prägung des Persönlichen“, in: Berliner Palette, 45/11. November 1949, ohne Seitenangabe. 14 Ohne Autor: „Meister der Verwandlung“, in: Berliner Palette, 21/4. Juni 1948, ohne Seitenangabe.

Enkelmann bereits vor dem Krieg angefertigte fotografische Aufnahmen der Tänzer zum Einsatz kommen, die im Verhältnis zum Text nicht immer ganz ohne Widerspruch bleiben. Im Raum stehen im Sinne einer Orientierung und Standortbestimmung zunächst die Fragen: Wo sind die ,Helden‘ der Vergangenheit? Wer kommt zurück? So findet sich beispielsweise im Juni 1948 unter dem Titel „Tanzschöpfer am Werk“ ein zweiseitiger Artikel zu Laban mit Fotografien von Enkelmann, der mit den folgenden Worten beginnt: Wo sind sie – heißt eine Rubrik unserer Zeitschrift, die […] aus der Sturzf lut der Vergessenheit künstlerische Menschen heraushebt, die uns einst mit reichen Gaben beschenkten, und, vielfach vor Vollendung ihres Werks, von uns getrennt wurden. Zu denjenigen, bei denen die Trennung von Deutschland die verheißungsvolle, weit über das Persönliche hinausgehende Entfaltung eines Lebenswerkes unterbrach, gehört Rudolf von Laban, der nun in Amerika wirkt […].11 Nach der Würdigung von Labans Wirken für den Tanz in Deutschland, unter Auslassung seiner Verwicklung in das nationalsozialistische Regime, endet der Artikel mit dem zukunftsoffenen Satz, der mitnichten auf die fünf Jahre später folgende Ablehnung des Ausdruckstanzes durch die sozialistische Staatsführung schließen lässt: „Wir verspüren heute nicht nur Funken von seinem Schaffen, sondern einen breiten Strom der Erneuerung, der alle Bereiche der darstellenden Kunst durchdringt.“12 Ähnlich euphorisch wird in dem Artikel „Harald Kreutzberg – Meister der Verwandlung“, der sich seinem Werk und seiner Auffassung von Tanz widmet und dem weitere Artikel ähnlicher Machart folgen,13 dessen erster Auftritt im Nachkriegsberlin bejubelt: Vier Jahre voll erschütterndem Erleben sind über Berlin dahingegangen, seit Harald Kreutzberg nicht hier war – er der sonst getreulich Jahr für Jahr kam, um auch noch in das näherrückende Verhängnis hinein seine in Ernst oder Spiel aufrichtende, weil immer zur Harmonie gerundete Kunst hineinzustellen. […] Von weiter Fahrt durch Amerika ist er nun zu uns zurückgekommen.14

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Melanie Gruß

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Melanie Gruß

15 Vgl. Enkelmann, Siegfried; Kreutzberg, Harald: Tänzer Unserer Zeit, München: Piper, 1937.

Kontinuität suggeriert auch die Bebilderung mit Fotos von Enkel-

16 Zit. nach Prilipp, Beda: „Theater des Tanzes“, in: Berliner Palette, 7/18. Februar 1949.

anderer Artikel oft banal, so lassen sich zwischen den Zeilen und

17 Die angegebene Bildquelle „Lehmann, Greiser, AZ-Studio, Archiv“ konnte nicht näher identifiziert werden. Bereits 1950 erfolgte jedoch die Schließung des Theaters des Tanzes. Vgl. Müller, Hedwig; Stabel, Ralf u. Stöckemann, Patricia: Krokodil im Schwanensee. Tanz in Deutschland seit 1945, Frankfurt/M.: Anabas 2003, 41.

druckstanz, so tritt im Verlauf der drei Jahre des Erscheinens der

mann, die sich teilweise schon in dem 1937 veröffentlichten Bildband Tänzer unserer Zeit finden.15 Wirkt der Inhalt dieser und Bildern gegensätzliche Linien herauslesen. Behauptet die Verwendung der Fotografien von Enkelmann ein Anknüpfen an den AusBerliner Palette sowohl im Text als auch im Bild immer deutlicher eine Umdeutung hin zu einer sozialistischen Auffassung des Tanzes zu Tage, wie sie dann in den 1950er Jahren offiziell ausgearbeitet wird. So formuliert eine Reihe von Artikeln mit neuen, erst später in der DDR ausdefinierten Begrifflichkeiten die Suche und das Bedürfnis nach Erneuerung, wie die Berichterstattung über das von Henn Haas 1945 in Weimar begründete und dann 1946 nach Erfurt verlagerte „Theater des Tanzes“ im Februar 1949, bei der Haas zitiert wird: „Tanz muss Volksgut werden […], deshalb muss er wirklichkeitsnah, muss verständlich sein. Keine Verworrenheiten, aber auch kein Zank zwischen modern und klassisch, sondern die Synthese der Stile, wie sie aus unserem Zeitgefühl kommt.“16 Dementsprechend gestaltet sich das Bildmaterial zu diesem Beitrag mit zwei von Enkelmann stammenden Fotografien von Haas und neuen Motiven, die zwar eine ganz andere Bildsprache etablieren, gemeinsam aber dennoch ein mögliches Nebeneinander in der Synthese von klassischem und modernem Tanz etablieren.17 In der pluralen Bildkonstellation des Artikels mit der von Enkelmann in Szene gesetzten modernen Tänzerpersönlichkeit Haas und den stärker das Kollektive hervorhebenden aktuellen Bühnen- und Probenaufnahmen deutet sich jedoch bereits ein Bruch an. A r t i k e l s e i t e „T h e a t e r d e s Ta n z e s “, A u s z u g a u s d e r B e r l i n e r P a l e t t e , H e f t 7, 18 . 2 .19 4 9 , o h n e S e i t e n a n g a b e .



Abb. 2

In Anbetracht der bereits noch vor der Gründung der DDR beginnenden Entnazifizierung und politischen Umerziehung des Volkes, bei der unter der Losung ‚Die Kunst dem Volke‘ eine elitäre Kunstauffassung unterbunden werden sollte, gewinnen die Worte von Haas an Kontext. Mit der „Verordnung zur Überführung von Volkskunstgruppen und volksbildenden Vereinen in die bestehenden demokratischen Massenorganisationen“ von 1949 wurden

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18 Zit. nach Heising, Elvira u. Römer, Sigrid: Der Tanz im „künstle­ rischen Volksschaffen“ der DDR. Amateurbühnen­ tanz, Volkstanz zum Mitmachen, Remscheid: Dt. Bundesverb. Tanz, 1994, 42.

privates Engagement wie auch die Gründung bürgerlicher Volks-

19 Ebd.

einen gesellschaftlichen Auftrag, wie er unter den gesellschaftlichen

20 Ebd.

Bedingungen eines bürgerlichen Klassenstaates nie gegeben werden

21 Prilipp, Beda: „Das Dramatische Ballett“, in: Berliner Palette, 15/15. April 1948, ohne Seitenangabe. 22 Ebd.

kunstvereine verhindert. Stattdessen wurde, so formulierte das 30. Plenum des Zentralkomitees der SED rückblickend, „die Volkskunst im Verlaufe der revolutionären kulturellen Umwälzungen seit 1945 aus der Sphäre des Privaten, des Vereinsinteresses, des Dilettantentums und des leichten Zeitvertreibs herausgehoben“ und „erhielt

konnte“18. Der hier als Erfolg gepriesene Umbau der „kulturellen Massenarbeit“19 stand im Dienst der „Aufklärung und Mobilisierung der Bürger der sozialistischen Gesellschaft“20 und markierte sie als künstlerisch-agitatorische Waffe der Partei. Die vorhandenen Tanzgruppen wurden zum großen Teil an die Betriebe und Kombinate angeschlossen und der staatlichen Kontrolle unterworfen, einige bestehende Tanzschulen wie die Palucca-Schule in Dresden zu staatlichen Schulen umgebaut, private Schulen mussten schließen. In diesem Setting erhielt Jean Weidt mit der Gründung des Dramatischen Balletts an der Berliner Volksbühne den Auftrag zur Ausbildung einer jungen Tänzergeneration, über den Beda Prilipp in der die Berliner Palette berichtete. Stellt der Artikel Weidt zwar in die Tradition des modernen Tanzes, so grenzt er ihn zugleich auch davon ab, denn, so Prilipp, […] einen Unterschied wird man voraussetzen dürfen: Laban baute auf für ein zwar in einseitiger Verkrampfung vom großen lebendigen Rhythmus abgedrängtes aber von der Not noch nicht so gewaltsam erfasstes Volk: heute sind wir tief hinabgeschleudert. Laban konnte den Tanz planen als Mittel für eine neue, den Deutschen verloren gegangene Festkultur. Weidt wird aus dem Jetzt und Hier gestalten, er wird es zur Form zwingen […] und es wird als Ziel für ihn ein anderer Gedanke stehen als der Labans war.21 Dieser bleibt in der vagen Umschreibung des „Hineinwachsen[s] in eine Kameradschaft“22 relativ unbestimmt, während die begleitenden fotografischen Abbildungen deutlich an die Ästhetik des Ausdruckstanzes anknüpfen. Im Fall von Weidt zeigt sich besonders deutlich der Versuch und auch das Scheitern der Umdeutung moderner Tanzästhetik unter den veränderten politischen Bedingungen. Denn Weidt, der bereits ab 1929 in Berlin mit seinen

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Melanie Gruß

23 Weidts bürgerlicher Name war Hans, den er mit seiner Emigration nach Frankreich 1933 in die französische Entsprechung „Jean“ änderte.

Roten Tänzern sozialkritische Tanzabende veranstaltete, war durch

24 Prilipp: „Das Dramatische Ballett“, ohne Seitenangabe.

euphorisch verkündet:

25 Bezeichnenderweise gibt es in der gesamten Berliner Palette keinen einzigen Beitrag zu Mary Wigman, die ab 1946 wieder in Leipzig unterrichtete, und nur den einen bereits erwähnten zu Laban. 26 Zit. nach Heising u. Römer: Der Tanz im „künstlerischen Volks­ schaffen“ der DDR, 42. 27 Vgl. Giersdorf, Jens Richard: Volkseigene Körper. Ostdeutscher Tanz Seit 1945, Bielefeld: transcript 2014, 36; Müller; Stabel u. Stöcke­ mann: Krokodil im Schwanensee, 44.

seine Biografie für die DDR besonders interessant. Seine Rückkehr in den Osten Deutschlands nach 1945 wurde daher auch in der Berliner Palette vom 7. 10. 1949, dem Gründungstag der DDR,

Weidt, [...], kam zu uns zurück. Der Arbeiter-Tänzer, [...], ist nicht abgewichen von seinem Weg. Er blieb, was er war. [...]. Das war der Anfang: als Hans 23 Weidt noch Auto­ didakt war, ein Arbeiter, der auf das Podium gesprungen war, um zu tanzen. Vergeblich versuchte man, ihn zu klassi­ fizieren. Stellte ihn als Schüler Rudolf von Labans und der Wigman heraus. Doch er war ein eigener, ganz aus sich selber gewachsen. [...].24 Die hier betonte Abgrenzung Weidts von den führenden Protagonisten des modernen Tanzes Laban und Wigman25 schien eine kulturpolitische Notwendigkeit für die Implementierung seines tänzerischen Schaffens in die sozialistische künstlerische Produktion, wobei die grundsätzliche Ablehnung des modernen Tanzes zu diesem Zeitpunkt, wie bei Haas anklingend, offenbar noch nicht eindeutig entschieden war. So war in der Berliner Palette über die Gründung des Dramatischen Balletts zu lesen, dass hier „zum ersten Male in Deutschland – den Werktätigen eine kostenlose Ausbildung im Tanz ermöglicht“ werde und Weidt aus Laien eine professionelle Ballettgruppe zusammenstelle, die „den modernen Tanz in einer Vollendung zeigen wird, die der größten klassischen Ballettgruppe nicht nachsteht“.26 Bereits 1950 jedoch wurde Weidt aus bis heute nicht ganz geklärten Gründen nach einem Partei- und Gerichtsverfahren inhaftiert und das Dramatische Ballett unter Leitung von Aenne Goldschmidt in das Staatliche VolkskunstEnsemble der DDR umgewandelt.27 In Folge der Staatsgründung wurden Kunst und Kultur vollumfänglich der staatlichen Kontrolle unterworfen und in ideologischen Strategien instrumentalisiert. Dies hatte nicht nur Auswirkungen auf den Tanz, sondern auch auf dessen öffentliche Darstellung im fotografischen Bild. Zementiert wurden die künstlerisch-ästhetischen Vorgaben mit der Theoretischen Tanzkonferenz am 23. und 24. März 1953, die klar die Vorgaben der Kunstdoktrin des Sozialistischen Realismus für den Tanz formulierte: „Das klassische und nationale

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28 Ohne Autor: „Der sozialistische Realismus in der Tanzkunst“, in: Zur Diskussion: Realismus im Tanz, hg. v. Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten, Dresden: Verl. der Kunst 1953, 75f. 29 Ebd. 30 Ohne Autor: „Volksverbundener Tanz und Gesang“, in: Berliner Palette, 22/3. Juni 1949, ohne Seitenangabe.

Erbe auf dem Gebiet der Tanzkunst ist das klassische Ballett und der deutsche Volkstanz.“28 Dabei wurde die bereits auf der fünften Tagung des Zentralkomitees am 17. März 1951 ausgesprochene Feststellung wiederholt, „[d]er sogenannte Ausdruckstanz bedeutet[e] das Abgleiten in unbegreifbare Ausdrucksformen, Unverständlichkeit, Mystizismus und folglich Formalismus“29. Vorwegnahmen dieser Ausrichtung des Tanzes finden sich auch in einigen Beiträgen der Berliner Palette, die deutlich mit einer anderen Bildsprache verbunden sind, wie der Artikel „Volksverbundener Tanz und Gesang“ im Heft der ersten Juniwoche 1949 anlässlich des Gastspiels des Gesangs- und Tanzensembles der sowjetischen Luftstreitkräfte: Tanz ist hier gemeint als der aus den Tiefen der östlichen Volksseele hervorstechende Drang, sich in der Bewegung in Schwingung und Drehen auszudrücken: und es ist eben dieses Urwüchsige, das uns, die enger in eine die Künstlichkeit des Lebens umzirkende Zivilisation Eingekreisten, bezaubert. Dieser Elan ist noch zu spüren in der oftmals artistisch übersteigerten Kunst des großen Balletts, aber in den Tänzen wie den hier dargebotenen, die in ihren Formen der Volkskunst nahestehen, redet er unmittelbar zu uns.30 Das zum Artikel arrangierte Bildmaterial entspricht dabei nur sehr begrenzt dem im Text angesprochenen „Urwüchsigen“, sondern charakterisiert sich vielmehr im wahrsten Sinne des Wortes durch eine Uniformität, die auf einen Konstruktionsprozess verweist, in dem Volk und Tanz in sozialistischer Deutung neu verbunden und über die Bilder letztlich in der Öffentlichkeit und der künstlerischen Praxis verankert werden.

Abb. 3 ► A r t i k e l s e i t e „Vo l k s v e r b u n d e n e r Ta n z u n d G e s a n g “, A u s z u g a u s d e r B e r l i n e r P a l e t t e , H e f t 2 2 , 3 . J u n i 19 4 9 , o h n e S e i t e n a n g a b e n .

Der ,wahre‘ Ausdruck des Lebens- und Nationalgefühls wird mit dem Volkstanz neu besetzt, der sich durch die Nähe zum einfachen arbeitenden Volk auszeichnete und zudem von jedem ausführbar und somit breitenwirksam war. Der Begriff der Volkskunst

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Melanie Gruß

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S o z i a l i s t i s c h e Ta n z b i l d - P r o d u k t i o n – U m d e u t u n g u n d I n s t r u m e n t a l i s i e r u n g v o n Ta n z u n d F o t o g r a f i e i n d e r D D R

Melanie Gruß

31 Aus einem Sitzungsprotokoll vom 28.10.1949 geht hervor: „Das Sekretariat hält die Zeitschriften ‚Ost und West‘, ‚Fuffzehn‘, ‚Berliner Palette‘ und ‚Roland von Berlin‘ für nicht notwendig und ersucht die sowjetische Militärverwaltung, die Papierzuteilungen für diese Zeitschriften einzustellen.“ Zit. nach Frohn, Julia: Versuche deutsch-deutscher Literaturzeitschriften 1945–1961, https://www.bpb.de/ geschichte/zeitgeschichte/ deutschlandarchiv/139824/ versuche-deutsch-deutscher-literaturzeitschriften#footnode10-10 (zuletzt geprüft 05.01.2022). 32 Zit. nach Heising u. Römer: (1994): Der Tanz im „künstlerischen Volks­ schaffen“ der DDR, 31. 33 Vgl. Walsdorf, Hanna: Bewegte Propaganda: Politische Instrumentali­ sierung von Volkstanz in den deutschen Diktaturen, Würzburg: Königshausen u. Neumann, 2010, 196. 34 1962 wurde es umbenannt in das Staatliche Tanzensemble der DDR. 1954 wurde außerdem das Staatliche Dorfensemble unter Leitung der Choreographin Rosemarie Lettow-Schulz gegründet mit Sitz in Neetzow/ Mecklenburg, umbenannt 1972 in Staatliches Folkloreensemble der DDR.

rekurrierte dabei in sozialistischer Deutung nicht nur auf traditionelle folkloristische Formen, sondern meinte auch die aus dem sozialistischen Volk erwachsene, von Arbeitern geschaffene neue Kunst, die es in Abgrenzung zur ,Künstlichkeit‘ des Ausdruckstanzes zu entwickeln galt. Zur Propagierung eines derartigen Verständnisses von Kunst und insbesondere von Tanz schien die Berliner Palette nicht mehr das geeignete Organ zu sein und so wurde ihr Erscheinen im Mai 1950 eingestellt.31 Wurden in den staatlichen Schulen und Einrichtungen Parteikader installiert, so diente zur Steuerung des künstlerischen Laienschaffens das 1952 in Leipzig als übergreifendes Kontroll-, Organisations- und Publikationsorgan gegründete und direkt dem Ministerium für Kultur unterstellte Zentralhaus für Kulturarbeit. Die dort eingerichtete Abteilung für Tanz koordinierte die Volkstanzgruppen der Republik, deren „Hauptaufgabe“, so der Leiter des Zentralhauses Erich Janietz, „die Erziehung der Werktätigen […] zu aufrechten und aktiven Patrioten […], die mit Bewußtsein in der Gruppe wie an ihrer Arbeitsstelle fleißig, zuverlässig, schöpferisch, vorbildlich ihre Aufgabe erfüllen“32 sei. In der Abteilung Tanz war auch das 1957 gegründete Tanzarchiv Leipzig angesiedelt, das der bereits 1953 erhobenen Forderung, sich auch wissenschaftlich mit dem Volkstanz auseinanderzusetzen und sich der ideologischen Aufgabe des Tanzes bewusst zu werden,33 Rechnung trug. Parallel zu den Staatlichen Tanzschulen wurden Staat­liche Folkloreensembles ins Leben gerufen, die auf professionellem Niveau vor allem repräsentative Bühnenbearbeitungen des Volkstanzes erarbeiteten und diese national und international aufführen sollten. Dazu gehörte auch das bereits erwähnte, 1951 in Berlin aus dem Dramatischen Ballett hervorgegangene Staatliche Volks­ kunst-Ensemble der DDR.34 Einen weiteren wichtigen Bestandteil des Tanzgeschehens der Republik bildeten vom Staat verordnete jährlich stattfindende kulturelle Höhepunkte, wie die Volkskunsttage in Berlin, die Woche der Volkskunst in Leipzig, die Weltfestspiele der Jugend, die Arbeiter­ festspiele oder ab 1955 das Fest des deutschen Volkstanzes in Rudolstadt, bei denen in Wettbewerben zwischen den Tanzgruppen die

35 So hieß es in einem Aufruf aus dem Jahr 1952: „In den Wettbewerben der Volkskunst werden sich alle deutschen Laienschaffenden vereinen. [...], ihre Tänze

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inhaltlich und künstlerisch ,richtigen Darstellungen‘ prämiert wurden. Dahingehend gefordert waren lebensnahe Abbildungen der Produktionsvorgänge, der sozialistischen Lebensweise und der ,Helden der Arbeit‘.35 Ausführlich wurde in der Presse über das künstlerische S o z i a l i s t i s c h e Ta n z b i l d - P r o d u k t i o n – U m d e u t u n g u n d I n s t r u m e n t a l i s i e r u n g v o n Ta n z u n d F o t o g r a f i e i n d e r D D R

J u l i u s G r o ß : Vo l k s t a n z f e s t R u d o l s t a d t , 19 5 5 , F o t o g r a f i e , Ta n z a r c h i v L e i p z i g , S i g n a t u r : N L 3 8 5 / 1 / 2 .

werden die frohe Zuversicht unseres Volkes auf den Sieg der Friedenskräfte […] lebendig machen, und ihre Spiele werden von der neuen Arbeit, von den Schmelzern im Stahlwerk, den Kumpels im Schacht, von den Männern und Frauen auf Baugerüsten und auf Erntefeldern erzählen.“ Zit. nach: Heising u. Römer: Der Tanz im „künstlerischen Volksschaffen“ der DDR, 25. 36 Vgl. Schmid, Sabine u. Jain, Gora: „Sybille“. Zur Modefotografie in der DDR. Humboldt-Universität zu Berlin, 2011, http://edoc. hu-berlin.de/18452/8032 (zuletzt geprüft 05.01.2022). 37 Zit. nach Ulfert, Stefan: „Zentralbilder. Pressefotografie in der DDR“, 18.5.2011, https:// pressegeschichte.docupedia. de/wiki/Zentralbilder. html#Die_Institution_ der_staatlichen_Bilderwelt (zuletzt geprüft 5.1.2022)

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Volksschaffen berichtet, wobei eine ideologisch geprägte Bildsprache etabliert wird, die in der permanenten Wiederholung deutlich hervortritt und in dieser Pluralität bildästhetisch wirksam wird: Elemente wie Spruchbänder im Hintergrund, Gruppen ohne Hervortreten einzelner Individuen, fröhlich tanzende Menschen prägen das sozialistische Tanzbild, in dem sich die Ideale von Kollektiv, Arbeit und Gleichheit gepaart mit Optimismus und Lebensfreude verdichten sollten. Die Ästhetik der Bewegung tritt dabei in den Hintergrund und gehört nicht zum Bildinhalt.

Abb. 4 ▲ Bildästhetik der

Wie den tänzerischen Ausdrucksformen

(Tanz-) Fotografie

so waren auch der in die politische Agi-

in der DDR

tation eingebundenen Fotografie enge Grenzen gesetzt, die eine künstlerische

Auseinandersetzung mit dem Medium kaum ermöglichten.36 Mit Staatsgründung und Übernahme des stalinistischen Modells der ,Presse neuen Typs‘ als „schärfste Waffe der Partei“37 wurden ab Melanie Gruß

38 Ebd. 39 Stoschek, Jeannette: „action fotografie 1956–1957. Eine Fotografengruppe in Leipzig, zwei Ausstellungen und ihre aktuelle Präsentation“, http://www.perfomap. de/map2/geschichte/ action/action-fotografie (zuletzt geprüft 05.01.2022).

1950 die Grundlagen für eine marxistisch-leninistische Pressearbeit geschaffen und der sozialistische Presseapparat aufgebaut. Im Zuge dessen begann die Suche nach Bildkonzeptionen, welche, so Stefan Ulfert, „die parteipolitischen Vorgaben mit einem modernen, zeitgemäßen Bildjournalismus, auch in Konkurrenz zum Fernsehen, miteinander verbinden konnten.“38 Gemäß den Maßgaben des Sozialistischen Realismus wurden Motive gefordert, die bei

40 Die Wurzeln von ADN-Zentralbild gehen wiederum auf das bereits erwähnte Bildarchiv des Berliner Scherl-Verlags zurück, das bereits bei der Illustration der Berliner Palette zum Einsatz kam und nun in Zentralbild überführt wurde. Vgl. Ulfert: „Zentralbilder“.

gleichzeitiger Ablehnung abstrakt-formaler Bildkompositionen und

41 Zit. nach Ulfert: „Zentralbilder“.

sowie Funk und Fernsehen mit Nachrichten, Berichten, Artikeln

42 Vgl. ebd.

logische Institution definiert, „die bestimmte Erscheinungen der

43 Vgl. Stoschek: „action fotografie 1956–1957“.

gegenständlichen Wirklichkeit vom Standpunkt der Arbeiterklasse

44 Zit. nach Ulfert: „Zentralbilder“.

sehenen Fotografien der Zensur, so wirkte diese bei den meist für

45 Ebd. 46 Zu nennen sind hier u. a. Wolfgang Günter Schröter, Barbara Stroff, Kurt Hartmann, Abraham Pisarek, Hildegard Dreyer, Kurt Heine, Erich Pohl oder Erich Höhne.

experimenteller Gestaltung „lachende Menschen, ein optimistisches Bild berufstätiger Menschen und ein fröhliches Leben im Sozialismus zeigen“39, so Jeannette Stoschek. Gesteuert wurden die publizistischen Bilderwelten der DDR über die Unterabteilung Zentralbild des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, der offiziell dem Ministerrat der DDR unterstand und alle Zeitungen und Fotos belieferte.40 Als Bildagentur war Zentralbild als ideo-

auswertet“41. Unterlagen damit alle für die Veröffentlichung vorgemehrere Printmedien arbeitenden Bildreportern bereits bei den Aufnahmen angesichts drohender Konsequenzen für die beruf­ liche Stellung im Falle einer Beanstandung durch die Auswertungs­ abteilungen des ZK oder des Presseamts.42 Die starren staatlichen Vorgaben der Bildgestaltung führten in den folgenden Jahren immer wieder zu Debatten um gestellte Fotos in der im Mai 1959 zur Kontrolle, Steuerung und Koordination gegründeten Zentralen Kommission Fotografie im Kulturbund.43 Pressefotografie, so forderte das Politbüro im April 1959, hatte „das pulsierende Leben darzustellen und den Menschen zu zeigen, der die sozialistische Gesellschaft gestaltet“44 und war als „eine Form der ideologischen Arbeit“45 mit einem klaren Erziehungsauftrag versehen. Unter dieser Prämisse sind auch die im Tanzarchiv befindlichen Fotografien zu betrachten, die weder individuelle fotografische Handschriften noch ausgefallene Bildperspektiven zeigen. Viele der in den Fotoserien des Tanzarchivs genannten Fotografen waren u. a. auch im Bereich der Stadt- oder Industriefotografie tätig, eine eigens auf Tanz spezialisierte Fotografie gab es nicht. 46 Die staatlich kon­ trollierte Bilderwelt sollte die Bevölkerung mobilisieren und in das politische System integrieren, was sich so jedoch nicht realisierte.

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47 Ulfert: „Zentralbilder“.

Lag das zum einen an stets knappen wirtschaftlichen Mitteln, so

48 Thurner, Christina: „Quelle Tanzfotografie. Ein Dilemma der Historiografie“, in: Tanzfotografie, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp: Bielefeld: transcript 2016, 29–40, hier 30.

politischen Systems werden, die in eine entleerte Medienpropa­

49 Müller; Stabel u. Stöckemann: Krokodil im Schwanensee, 114.

bildern, die vorgaben, diese Realität wiederzugeben.“47 Diese

50 Jahn, Tessa; Wittrock, Eike u. Wortelkamp, Isa: „Bilder von Bewegung. Eine Einführung“, in: Tanzfoto­ grafie, hg. v. dies., 12.

ließen die gesetzten Grenzen die Bilder zu Schablonen eines starren ganda mündeten. „Diese Fotografien reproduzierten über vierzig Jahre […] eine offizielle Ikonografie einer Gesellschaft“, so resümiert Stefan Ulfert, „in der sich zweifach Ideologie einschreiben sollte – zum einen in die Realität und zum anderen in Zentral­ doppelte Instrumentalisierung lässt sich auch für den Tanz in der DDR und seine fotografische Repräsentation beschreiben. War die Tanzpraxis selbst durch staatliche Eingriffe reglementiert, so auch ihre Repräsentation in der Fotografie. Christina Thurner weist mit Blick auf die frühe Tanzfotografie darauf hin, dass „das Verhältnis von Repräsentation, Vermittlung und Ereignis […] in Bezug auf […] Fotografien von Bühnenereignissen nicht so einfach und in verschiedenen historischen und kulturellen Kontexten auch jeweils unterschiedlich zu betrachten“ sei, da „[n]eben der Entstehungszeit der Bilder und den diesbezüglichen technischen Möglichkeiten […] auch Auffassungen von Autorschaft, Konzepte von Repräsentation und Haltungen zu Authentizität sowie die jeweilige Funktion von Fotografie zur Debatte“48 stehen. Dem folgend sind die als Staatseigentum geltenden Tanzfotografien der DDR, die sich in Motiv und Darstellung ähneln, nicht als Spur des Wirklichen zu lesen, sondern von politischen Interessen durchdrungen, womit sowohl der dokumentarische Charakter der Fotografie wie auch die Autor- und Urheberschaft der Bilder zur Diskussion gestellt sind. Ebenso relevant erscheint die Frage, was hier eigentlich im Bild festgehalten wurde. „Bei einer am Inhalt orientierten Kunst“, so Ralf Stabel, „blieb der Tanz Hilfsmittel und Instrument, konnte sich die tänzerische Bewegung nicht als eigenständiger theatralischer Text etablieren.“49 Nicht ästhetische Kategorien von Tanz, Bewegung oder Fotografie sind demnach Bildinhalt, sondern die sozialistische Ideologie selbst, die die Tanzbildproduktion der DDR als Serie im Rahmen der Diktatur lesbar werden lässt. Die Tanzfotografien aus der DDR können daher im Sinne einer ,WerbeStrategie‘ für den Sozialismus als ähnlich gestellt betrachtet werden, wie die Studioaufnahmen der frühen Tanzfotografie, für die Tessa Jahn, Eike Wittrock und Isa Wortelkamp in medienästhetischer Hinsicht geltend machen: „Was wir in ihr sehen, ist nie so gewesen.“50

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Melanie Gruß

51 Vgl. Vowinckel, Annette u. Wildt, Michael: „Fotografie in Diktaturen. Politik und Alltag der Bilder, in: Zeithistorische Forschungen“, 12 (2), 2015, 197–209, hier 208, https:// zeitgeschichte-digital.de/ doks/frontdoor/index/ index/docId/1436 (zuletzt geprüft 05.01.2022).

Bei dem Versuch der Annäherung an den Tanz in der DDR mit-

52 Vgl. Müller; Stabel u. Stöckemann: Krokodil im Schwanensee, 168.

werde, gleichzeitig aber auch komplexe Bildpraxen entstehen, die

53 Vgl. Krull, Edith u. Gommlich, Werner: Palucca, Berlin: Henschel 1964; Schumann, Gerhard: Palucca, Berlin: Henschel 1973. 54 Vgl. „Palucca – ein Leben, das dem Tanz gehört“ in: Berliner Palette, 15/14. April 1950, ohne Seitenangabe. 55 Ebd.

tels des hinterbliebenen Bildmaterials, ergibt sich eine Leerstelle. Wie wäre an eine möglicherweise andere Tanzpraxis jenseits der offiziellen Vorgaben und Bilder heranzukommen, die offiziell nicht stattgefunden hat, weil sie nicht stattfinden durfte? Annette Vowinckel und Michael Wildt machen dahingehend stark, dass die Fotografie zwar häufig für Propagandaziele instrumentalisiert einen eigensinnigen Gebrauch der Fotografie und das Umgehen jeder Form von Zensur durchaus möglich machten.51 Existierte in den Anfangsjahren der DDR zunächst keine eigene Tanzpublizistik, 52 so erschienen ab den 1960er Jahren einzelne Publikationen zum Ballett sowie 1964 ein erstes kleines Büchlein über „Palucca“, die bereits 1945 ihre Schule in Dresden mit dem Programm von 1939 wieder öffnete, und ihre Arbeit mit gewissen Einschränkungen und Kompromissen in der DDR fortführen konnte, dem 1973 mit „Palucca. Porträt einer Künstlerin“ ein weiteres folgte.53 In beiden Publikationen wird die Tänzerin Palucca der Vorkriegszeit, die mit den bekannten Aufnahmen von Hugo Erfurth, Genja Jonas oder Charlotte Rudolph bebildert ist, von der Pädagogin Palucca in der DDR abgegrenzt, die auch fotografisch staatskonform in Szene gesetzt ist. Diese Bildlogik findet sich schon in einem Artikel der Berliner Palette vom April 1950 mit dem Titel „Palucca – ein Leben, das dem Tanz gehört“54. Inhaltlich bezieht er sich nicht auf die Tänzerin Palucca, sondern auf ihre Schule in Dresden, die im Zuge der Staatsgründung 1949 verstaatlicht und damit auch den sozialistischen Vorgaben und Zwängen unterworfen wurde. Die individuelle Tänzerpersönlichkeit Palucca als Vertreterin des Ausdruckstanzes ist auch im Bild mit Abbildungen präsent. Die Bildunterschriften für die eigens für die Palette angefertigten Aufnahmen deuten jedoch an, in welcher Rolle sie 1950 zum Gründungsmitglied der Akademie der Künste wurde, als Pädagogin Palucca: Palucca diskutiert mit ihren Schülerinnen – Links oben: Gemeinsam wird ein Gruppentanz geprobt – Unten: Schülerinnen beim Gruppentanz […] – Mitte und links unten: Drei Ausdrucksstudien, die das große Können der Tänzerin Palucca zeigen (Aufn. für die Palette: v. wulfen 3, Wegener 2, DEFA).55

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56 Vowinckel u. Wildt: „Fotografie in Diktaturen“, 208.

Abb. 5 ►

57 Ebd. 58 Vgl. Lubich, Barbara: Das Kreativsubjekt in der DDR. Performa­ tive Kunst im Kontext, Göttingen 2014, 155.

A r t i k e l s e i t e „ P a l u c c a – e i n L e b e n , d a s d e m Ta n z g e h ö r t “, A u s z u g a u s d e r B e r l i n e r P a l e t t e , H e f t 15 , 14 . A p r i l 19 5 0 , o h n e S e i t e n a n a g a b e n .

Dennoch bleibt der Bezug auf ein davor, auf die Tänzerin Palucca, sowohl in der Berliner Palette als auch in den Publikationen von 1964 und 1973 über die frühen Bilder von ihr präsent und fand so wiederum auch Eingang in eine sozialistische Tanzbildästhetik, ganz wie die von Palucca selbst als Abgrenzung zum Ausdruckstanz initiierte und offiziell notwendige Bezeichnung ihres Unterrichts als ,Neuer künstlerischer Tanz‘, der an ihrem Verständnis von Tanz als Ausdruck nichts änderte. Über einen biografischen Zugriff und im Nebeneinander der Bilder aus verschiedenen Zeiten werden die Brüche sichtbar, die wiederum auf konstruktive Prozesse verweisen. Kommt die Darstellung Paluccas als Pädagogin ohne ihre Bedeutung als Tänzerin nicht aus, so auch die sozialistische Tanzbildproduktion letztlich nicht ohne Bezüge auf ein ,vor dem Sozialismus‘, wie wiederum auch die sozialistische Ideologie nicht ohne das Feindbild des Kapitalismus funktionierte. So plädiert auch Annette Vowinkel dafür, „die jeweiligen praktischen, professio­nellen und ideologischen Faktoren zu untersuchen, unter denen Fotografien produziert, verbreitet und rezipiert wurden.“56 Dabei bleibt, so Vowinkel weiter, „der Versuch, ihr Eindeutigkeit zuzuweisen, vergeblich – ganz gleich, ob dieser Versuch von diktatorischen oder demokratischen Institutionen und Akteuren ausgeht.“57 Ähnlich hat Barbara Lubich mit Blick auf den Tanz herausgearbeitet, dass das moderne Tanzerbe nie aus der DDR verschwunden war, sondern nur aus dem offiziellen Bild eliminiert wurde.58 Vor allem ab den 1970er Jahren begann über die Auseinandersetzung mit dem Werk und der Arbeit Paluccas und ihrer Schüler aber auch ausgelöst durch das Auftauchen eines Teilnachlasses Labans und dessen Überführung ins Tanzarchiv Leipzig, eine zögerliche Auseinandersetzung mit dem Ausdruckstanz in der DDR, deren Auswirkungen auch auf die fotografischen Repräsentationen von Tanz noch eingehender zu untersuchen wären. Tanz in der DDR und seine bildliche Darstellung in der Fotografie changierten als komplexe Verhältnisse im Kontext einer staatlichen Körperpolitik zwischen Abgrenzung und Assimilation, Gruppe und Individuum.

143

Melanie Gruß

144

S o z i a l i s t i s c h e Ta n z b i l d - P r o d u k t i o n – U m d e u t u n g u n d I n s t r u m e n t a l i s i e r u n g v o n Ta n z u n d F o t o g r a f i e i n d e r D D R

Melanie Gruß

146

Zigarettenalben — Archive und Bewegungsbühnen des Tanzes

1

Janine Schulze-Fellmann

1 „Tanz-Fotos geben […] nicht ein Bild von dem, was in Bewegung ‚on stage‘ geschieht, sondern eröffnen selbst eine Bewegungsbühne.“ Brandstetter, Gabriele: „Tanz! Foto – Bewegung im Kontext“, in: Tanzfotografie. Historio­ grafische Reflexionen der Moderne, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp, Bielefeld: transcript 2015, 41–50, hier 50. 2 Abraham Meyer Eckstein und sein Sohn Nathaniel Eckstein gründeten 1865 die Zigarettenfabrik Eckstein und Söhne in Göttingen. Im Jahre 1891 wurde der Betrieb nach Dresden verlagert. 1929 kam es zur Fusion mit der Firma Halpaus (Breslau)  zur Eckstein-Halpaus Zigarettenfabrik. Bald darauf wurde das Unternehmen von Reemtsma und Haus Neuerburg erworben, vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Eckstein_%26_Söhne /zuletzt geprüft 18.1.2022). 3 Ein genaues Gründungsjahr der Orami G.m.b.H. konnte nicht ermittelt werden. Die Fabrik findet sich aber im Handelsregister des Amtsgerichts Dresden unter den Jahren 1931–1937 gelistet. Vgl. https://archiv.sachsen. de/cps/suche.html? q=koehler&abteilung= Hauptstaatsarchiv%20 Dresden&bestand1= 11045%20Amtsgericht %20Dresden&offset=51 &pagesize=10 (zuletzt geprüft 18.1.2022). Einen interessanten Beitrag zu Bedeutsamkeit und Entwicklung der Tabakindustrie in Dresden liefert Sven Steinberg in seinem Aufsatz „Mohammed aus Sachsen: Die Vermarktung von ‚orientalischer. Fremdheit‘, Regionalität, Nationalismus und Ideologie in der Dresdner Zigarettenindustrie (1860–1960)“, in: Jacob, Frank u. Dworok, Gerrit (Hg.): Tabak und Gesellschaft. Vom braunen

148

1. Einleitung oder das

Als ich die Anfrage bekam, einen

Zigarettenalbum, ein

Vortrag und anschließend einen

persönliches Déjà-Vu

Aufsatz zum Themenbereich „der pluralen Konstellationen von Tanz-

fotografie“ zu halten und zu schreiben, kamen mir sofort die sogenannten Zigarettenalben in den Sinn, die zu Beginn der 1930er Jahre zu unterschiedlichsten Themen auf den Markt schwemmten. Gleich drei verschiedene Tabakfabriken machten den Tanz von ca.  1932 bis ca. 1934 zu ihrem Verkaufsmotor und lockten Käuferinnen, vor allem vermutlich aber Käufer, mit kleinen, den Zigarettenschachteln beigefügten Gutscheinen, die sich gegen Serien von Sammelbildern berühmter Tänzer:innen eintauschen ließen. Die Fabrik Eckstein-Halpaus 2 in Dresden brachte gleich zwei solcher Alben hintereinander heraus, die heute als die wohl Be­kanntesten und immer noch am Verbreitetsten gelten können: Der künstlerische Tanz (ca. 1933) und Die Tanzbühnen der Welt (ca.  1934). Eckstein-Halpaus folgte mit diesem Erfolgs­rezept der in Berlin-Pankow ansässigen Garbáty-Fabrik, die bereits 1932 mit Berühmte Tänzerinnen ihren Tabakverkauf anzukurbeln gesucht hatte. Zeitgleich mit dem ersten Eckstein-HalpausAlbum kam auch das Orami-Album Berühmte Tänzerinnen und Tänzer heraus, produziert von der in den 1930er Jahren gegründe­ ten „Orami G.m.b.H. Orientalisch-Macedonischen Cigarettenfabrik in Dresden“3. Alle hier aufgeführten vier Alben lassen sich auch heute noch – mehr oder weniger komplett – problemlos auf den üblichen Anbieterplattformen wie Ebay oder ZVAB antiquarisch erwerben. Offensichtlich trafen Tanzfotografien Anfang der 1930er Jahre einen Nerv der Zeit und müssen in ihrer damaligen Beliebtheit heutigen Fußball-Alben des italienischen Herstellers Panini gleichgesetzt werden. Tatsächlich schlug mir Isa Wortelkamp genau dieses Thema vor, verband sie doch die Zigarettenalben und meine Person mit ihrem ersten Besuch im damals noch eigenständig existierenden Tanzarchiv Leipzig, welches ich von 2000 bis zu seiner Auflösung und Übernahme durch die Universitätsbibliothek Leipzig (2011) als wissenschaftliche Geschäftsführerin leitete. Ihr und ihren damaligen Mitarbeiter:innen Tessa Jahn und Eike Wittrock, die das Archiv im Rahmen ihres gemeinsamen Forschungsprojektes zur Tanz­fotografie besuchten, präsentierte ich damals begeistert die Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

Gold zum sozialen Stigma, Baden-Baden: Nomos 2015, 183–212, 195 u. 203, wird die Orami Fabrik zwar erwähnt, genauere Angaben zu den Gründungsdaten finden sich jedoch auch hier nicht. 4 Eckstein-Halpaus GmbH (Hg.): Der künstle­ rische Tanz, Dresden ohne Datum, ca. 1933. 5 Vgl. Schulze, Janine: „Lücken im Archiv oder Die Tanzgeschichte ein ‚Garten der Fiktionen?‘, in: Original und Revival. Geschichts-Schreibung im Tanz, hg. v. Christina Thurner u. Julia Wehren, Materialien des Instituts für Theaterwissenschaft Bern, Band 10, Zürich: Chronos 2010, 147–153.

sich in der Sammlung befindlichen Alben. Tatsächlich konnte ich mich selbst nicht an diese Begebenheit erinnern, schon aber an jenen Moment, als ich das erste Mal ein solches Zigarettenalbum in den Händen hielt: Meine eigene Geschichte als Tanzwissenschaftlerin ist eng mit jenem Zigarettenalbum verbunden, welches ich auch für diesen Aufsatz ins Zentrum rücken möchte: Der künstlerische Tanz herausgegeben von der Zigarettenfabrik Eckstein-Halpaus4. Und so möchte ich meinen Aufsatz mit einer persönlichen Anekdote beginnen, die aber nicht nur um ihrer selbst willen hier einen Platz erhalten, sondern auch als ein Moment historischer Verflechtungen verstanden werden soll. Die Zigarettenalben reflektieren die gesellschaftlichen und politischen Kontexte ihrer Entstehungszeiten. Dabei unterliegt das in ihnen und durch sie vermittelte Tanzwissen stets einer ordnenden Hierarchisierung, also einem (ein-) ordnenden Blick auf das Tanzgeschehen ihrer jeweiligen Zeit. Alle Alben entstehen vor oder kurz nach der Machtergreifung der Natio­ nalsozialisten in Deutschland, also in einer Zeit, die gerade noch den Höhepunkt innovativer Tanzentwicklungen markiert, denen Zensierung und Verbote aber schon bevorstehen. Bisher wurden die Zigarettenalben eher als Ausnahmeerscheinungen bestaunt und von der Tanzgeschichtsschreibung als Bildquelle genutzt. Mir ist jedoch bisher keine gezielte Auseinandersetzung mit ihren Inhalten, ihrem (choreografischen) Aufbau oder ihrem Erscheinungs- und Rezeptionskontext bekannt. Dies soll dieser Beitrag nun ändern. Meine eigene erste Begegnung mit einem dieser Alben fällt in die achtziger Jahre, rund 50 Jahre nach dessen Erscheinen. Schon hier wurde klar, dass die Tanzgeschichte, die sich über die Zigarettenbilder vermittelte, Differenzen zur Tanzgeschichtsschreibung und -wahrnehmung der 1980er Jahre aufwiesen: Anordnungen, Bezeichnungspraktiken aber auch die dargestellten Personen sowie die Motivauswahl im Zigarettenalbum machten schon damals die Lücken im Tanzwissen der achtziger Jahre sichtbar. Diese ‚Lücken im Archiv‘5 der Tanz­geschichte verweisen auf jene Leerstellen der Geschichte, jenen Graben des (Un-)Wissens, den die politischen Entwicklungen, Krisen und Verwerfungen in der Zeit zwischen Entstehen der Alben und meiner ersten Begegnung aufgerissen hatten. Der künstlerische Tanz begegnete mir das erste Mal in Form eines Geschenkes, welches meine beste und älteste Freundin Su­ sanne von einer Großtante erhielt. In erster Linie war dieses, für uns historische Zeugnis, Spiegel unserer eigenen Sammelleidenschaft.

149

Janine Schulze-Fellmann

6 „Das Scrapbook hat keine festgelegte, archivarische Ordnung, sondern ist eine heterogene Sammlung von idiosynkratisch arran­­gierten Bildern, es finden sich leere Seiten, locker eingelegte Fotos und Kartons, […].“ Jahn, Wittrock u. Wortelkamp, Isa: „Bilder von Bewegung. Eine Einführung“, in: Tanz­ fotografie. 11–28, hier 18. 7

Vgl. Ebd.

Um den Mangel an für uns erreichbaren Tanzbüchern auszu­ gleichen, erfanden wir Anfang der 1980er Jahre das Format der „Ballettmappe“. In hübsch gestalteten Kladden oder Heftern sammelten wir alles, was wir in Zeitschriften, Tageszeitungen oder Prospekten an Tanzbildern fanden und dokumentierten alle unsere späteren Ausflüge in die Tanzlandschaft unserer Region. Unsere Ballettmappen würde man heute als scrapbooks6 bezeichnen. Neben den Abbildungen finden sich hier mühsam in stundenlangen Sitzungen in der städtischen Bibliothek säuberlich abgeschriebene Artikel aus Ballettlexikon und Ballettführer – bis auf vielleicht ein oder zwei ergänzende Bildbände, beschränkte sich damals die Zugänglichkeit eines deutschsprachigen Tanzwissens in der Provinz auf diese Publikationen. Nicht bewusst war mir damals, dass diese Form der Selbsterzählung7 (self narration) bereits mein erster Schritt in Richtung Tanzwissenschaft und Archivierungspraktiken war. Tatsächlich war unser Interesse zu dieser Zeit eher praktischer Natur: Selbst choreografierend, bildeten unsere Ballett­ mappen-Archive nicht nur unser wachsendes historisches Tanzwissen ab, sondern dienten uns von Anfang an auch als Quellen der Bewegungsfindung für eigene Choreografien. Aber sie waren – uns damals noch nicht so bewusst – viel mehr. Sie eröffneten uns eine ‚Bewegungsbühne‘, wie dies Tanzfotos einzeln oder in Serien nach Gabriele Brandstetter, im besten Falle tun. Die einzelnen Posen bewegten somit in mehrfachem Wortsinn. Zunächst, nur eine erste körperliche Resonanz, setzten die Fotografien uns und unser Denken in Bewegung: Wie kommt man in diese Pose hinein, wie löst man sie auf, in welche Bewegungsfolge könnte sie übergehen? Doch damit verbanden sich bald schon theoretische Fragestellungen. Schon allein unsere persönlichen Anordnungen und die Form der Ballettmappe als Archivierungsmethode der Bilder, aber auch die erläuternden Texte, die wir ihnen an die Seite stellten, beeinflussten unseren Blick und ließen den Bedarf entstehen, sich selbst, das eigene bestehende (Tanz-)Wissen ebenso wie die eigene Haltung dem Abgebildeten gegenüber, genauso wie das Staunen über oder auch die Begeisterung für die konkrete Fotografie, ins Verhältnis zu setzten und sich somit zu positionieren. Und so eröffneten sich eben jene Bewegungsbühnen eines Zusammenspiels von Abbildungen untereinander, im Dialog mit ihren Abbildungs- oder Sammel­ orten und ihre dort vorgenommenen Platzierungen und Systematisierungen. Dabei wiederum kann die Wahrnehmung selbst, die

150

Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

8 Eine genaue Auflagen­ zahl konnte leider nicht ermittelt werden. Man kann aber im Hinblick auf Zahlen anderer Sammelalben auch hier von einer Millionenauf­ lage ausgehen. Vgl. hierzu Kümper, Hiram: „Nichts als blauer Dunst? Zigarettensammelbilder als Medien historischer Sinnbildung – quellenkundliche Skizzen zu einem bislang ungehobenen Schatz“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Nr. 59, 2008, 492–508 und ders.: „Bevor Panini kam: Zigarettensammelbilder und das kollektive Bildgedächtnis des 20. Jahrhunderts“, in: Tabak und Gesellschaft, hg. v. Frank Jakob u. Gerrit Dworok, Reihe: Wissen über Waren – Historische Studien zu Nahrungs- und Genussmitteln, Band 1, 1. Auflage, Baden-Baden: Nomos 2015, 347–374.

stets unter dem Einfluss unterschiedlichster Interessen, Kontexte und nicht zuletzt Diskurse steht, als prägend für das Objekt der Betrachtung selbst gelten. Die Ballettmappen und schließlich auch das geschenkte Zigarettenalbum wurden zu solchen, unsere Wahrnehmung prägenden und immer wieder aufs Neue erweiternden Bewegungsbühnen für uns – aber meine Sehnsucht, selbst Besitzerin eines solchen Tanzgeschichte förmlich atmenden Objektes zu werden, wurde erst 36 Jahre später in Form eines Weihnachts­ geschenkes meines Mannes erfüllt, der damit meine Arbeit an diesem Text unterstützte. Mit diesem Aufsatz tauche ich nun also viele Jahre später erneut in den Tanzkosmos dieser Zigarettenalben ein, geleitet durch mein eigenes Tanzbild-Gedächtnis und die Wurzeln meiner eigenen choreografischen, tanzwissenschaftlichen und archivarischen Arbeit. Die Tanzgeschichte ist vorangeschritten und ihre Erzählungen haben sich erneut gewandelt. Dieses in meinem Fall biografisch bedingte Wiederholungsmoment, das erneute Ergreifen dieses Objektes, ein Wieder-Sehen, welches die Gewissheit eines Neu-Sehens in sich trägt, entspricht genau der Idee solcher Sammelalben. Sowohl ihre Nutzungs- als auch Rezeptionsform ist von Wieder-Holung bestimmt: immer wieder in die Hand genommen, durch neue Bilder ergänzt, erneut aber eben auch neu betrachtet. Mit immer zahlreicher werdenden Vergleichsmotiven, mit sich dadurch immer wieder neu bildenden Konstellationen und – wie in meinem Fall – mit immer neuen Interessen und Fragestellungen einer sich über die Jahre wandelnden Wahrnehmung, bleiben die Fotografien, einzeln oder in ihrem pluralen Zusammenspiel, stets in Bewegung. 2. Der künstlerische

Zunächst möchte ich einen statis-

Tanz formal und

tisch-analytischen Blick auf Aufbau

statistisch betrachtet

und Inhalt des Zigarettenalbums werfen, um Aufschluss über mög­

liche thematische Schwerpunkte, Hervorhebungen oder Ausgrenzungen zu erlangen. Dabei soll betont werden, dass keine anderen Tanzpublikationen je zuvor oder danach vermutlich solche Auf­ lagenzahl und eine solche Verbreitung durch alle Schichten erzielen konnten, wie diese Zigarettenalben.8 Das bedeutet, dass die in diesen Alben gezeigte Auswahl und deren jeweilige Kontextualisierung, die Anzahl von Bildern einzelner Tanzender, die Kategorisierung von Tanzstilen sowie deren Anordnung eine Hierarchisierung

151

Janine Schulze-Fellmann

9 Unter „Neuer künstlerischer Tanz“, ein Begriff der 1920er Jahre, firmierte der Ausdruckstanz, ein Begriff, der sich in dem Zigarettenalbum interessanterweise nicht findet. Gret Palucca reaktivierte in den 1950er Jahren den Begriff. Sie versuchte damit ihr Konzept des freien künstlerischen Tanzes in die für ihre Schule in Dresden ballett-orientierten Vorgaben des Politbüros der SED zu implementieren.

vornahmen, die als prägend für die Wahrnehmung einer großen

10 Vgl. Blume, Judith: Wissen und Konsum. Eine Geschichte des Sammel­ bildalbums 1800–1952, Göttingen: Wallstein 2019, 175.

Album aus vornummerierten Platzhaltern, in die sukzessive die

11 Obwohl in seinem Entstehen wichtiger Bestandteil einer machtrepräsentativen höfischen Kultur und anfänglich allein von Männern öffentlich aufgeführt, hat sich das Ballettbild des Romantischen Balletts des 19. Jahrhunderts durchgesetzt, welches die Ballerina als Objekt eines bürgerlich-männlichen Begehrens in den Mittelpunkt rückte. Fortan war das Ballett eine Kunst, die von Frauen ausgeführt – in den seltensten Fällen aber von Frauen gestaltet – wurde. Aber auch alle anderen Tanztechniken, die sich im Laufe des folgenden Jahrhunderts zu entwickeln begannen, können sich bis heute selten ganz von einer femininen Konnotation befreien. Einzige Ausnahme sind hier noch immer einzelne folkloristische Tanztraditionen (siehe dazu z. B. aktuell den 2019 in die Kinos gekommenen Film „And then we danced/Als wir tanzten“, in dem Regisseur Levan Akti die Geschichte eines jungen Tänzers des Georgischen Nationalensembles und dessen Konflikte mit den hier propagierten Bildern von Männlichkeit erzählt) sowie Tanztechniken wie Hip-Hop oder Breakdance. Tanzen in (fast) all seinen Formen wird somit seit dem

152

Sammlergemeinde und damit für das Bild des Tanzes in Deutschland gewesen sein müssen. Der künstlerische Tanz aus dem Hause Eckstein-Halpaus (Dresden) erschien ca. 1933. Eine genaue Datierung lässt sich am Objekt selbst nicht finden. Der Titel Der künstlerische Tanz ist als Oberbegriff für alle Arten von Bühnentanz (wobei hier interessanter Weise auch der Eiskunsttanz mitgezählt wird) und als Abgrenzung zum Volks- oder Gesellschaftstanz zu verstehen. 9 Typisch für die Sammelalben seit den 1930er Jahren, besteht das einzelnen Bilder fest eingeklebt wurden.10 Die Ordnung war somit fix vorgegeben. Unterhalb der einzelnen Foto-Freiflächen finden sich zum Teil kurze Angaben zum Bildinhalt, z. B. die Namen der Tanzenden sowie kurze Erläuterungen zu deren Bedeutung für den künstlerischen Tanz. Darüber hinaus finden sich auf einigen Seiten längere, meist über die gesamte Breite einer Seite und somit unterhalb mehrerer Bilder verlaufende, ausführlichere Texte. Das von mir untersuchte Album umfasst insgesamt 312 Bilder in Schwarzweiß. Von diesen zeigen 272 Bilder (87,2 %) ausschließlich Frauen. Davon wiederum zeigen 248 Abbildungen (79,8 %) solistische Tanzposen oder Portraits. Insgesamt nur 40 Bilder (12,8 %) zeigen Männer in Tanzposen (hier zum Teil gemeinsam mit Frauen) oder im Portrait. Diese geschlechtsspezifische Verteilung erstaunt nicht, gilt der Bühnentanz – und hier allen voran das Ballett – doch spätestens seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine weiblich konnotierte Kunstform.11 Zudem sind es zu Beginn des 20. Jahrhunderts und hier im Bereich des freien Tanzes bzw. der Tanzavantgarde wiederum Frauen, die Alternativen zum Klassischen Ballett oder den Showtanzformen zu etablieren wussten.12 Auch hier bilden Männer immer noch eher die Ausnahmen, wobei zur Entstehungszeit des Albums sich eine Tendenz abzeichnete, dass wieder mehr Männer auf die Tanzbühnen strebten und Innovationen vorantrieben. Eine Tendenz allerdings, die durch die politischen Umstände in Deutschland nicht mehr zum Tragen kommen konnte.13 Von den insgesamt 312 Fotoabzügen überwiegen gegenüber den nur 23 Portraitaufnahmen (7,4 %) die Tanzdarstellungen deutlich die Sammlung. Betrachten wir nun die Einteilung des Sammelalbums und seine Kategorien des Bühnentanzes. Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

19. Jahrhunderts als eine Gefahr für eine dominante hegemoniale bis toxische Männlichkeit angesehen. Damit ist diese KörperKunst aber auch gleichzeitig dafür prädestiniert, sich in regelmäßigen, historischen Wellenbewegungen widerständig zu zeigen (vgl. u. a. Schulze-Fellmann, Janine: „Tanz“, in: Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, hg. v. Stefan Horlacher; Bettina Jansen u. Wieland Schwanebeck, München: J.B. Metzler 2016, 358–369). 12 Allen voran die drei großen Tanzpionierinnen Loïe Fuller, Isadora Duncan, Ruth St. Denis, gefolgt von u. a. Mary Wigman. 13 Die Nationalsozialisten förderten zwar bis 1936 (die olympischen Sommerspiele in diesem Jahr können als Wendepunkt betrachtet werden) den Ausdruckstanz und Protagonisten wie Mary Wigman, Gret Palucca oder Rudolf von Laban, zensier­ t­ en aber deren künstlerische Arbeiten zunehmend. Äußere und innere Emigration vieler Kreativer war u. a. die Folge. Vgl. hierzu u. a. Guilbert, Laure: Danser avec le troisième Reich. Les danseurs modernes sous le nazisme, Brüssel: Éditions Complexe 2000; Karina, Lilian u. Kant, Marion: Tanz unterm Hakenkreuz. Eine Dokumentation, 2. erg. Auflage, Berlin: Henschel 1999; Müller, Hedwig u. Stöckemann, Patricia: ,  … jeder Mensch ist ein Tänzer.‘ Ausdruckstanz in Deutschland zwischen 1900 und 1945, 1. Auflage, Gießen: Anabas 1993.

Das Album splittet sich in insgesamt 14 Gruppen. Diese Gruppen geben durch ihre Schemata bereits sowohl einen tiefen Einblick über kunstästhetische Kategorien der Zeit als auch über gesellschafts­ politische Perspektiven und Ordnungssysteme: Das Album beginnt mit der Kategorie „Tänzer von Weltruhm“, die darauf folgenden neun Gruppen werden mit einer nationalen Zuordnung betitelt („Freie deutsche Tanzkunst“, „Deutsche Tanzbühne“, „Das Tanzgenie der Russen“, „Der Wienerische Tanz“, „Das tänzerische Spanien“, „Der Tanz in Frankreich und Italien“, „Englands Tanzkunst“, „Der nordische Tanz“ und „Das tanzende Amerika“). Nachgeordnet werden im kolonialen bis rassistischen Duktus „Exotische Tanzkünstler“, zu denen Künstler:innen aus Java, Japan oder Indien zählen – oder auch Tanzschaffende, wie z. B. Josephine Baker, die als „Negertänzer“ oder „Negertänzerinnen“ tituliert werden, vorgestellt. Das Album endet mit drei Gruppen, die in ihren Überschriften ohne Differenzierungen in Nation oder race-difference auskommen: „Tanz-Artistik“, „Tanzschulen“, „Der Tanz auf dem Eis“. Unterschiedliche Tanzstile und -techniken tauchen innerhalb der übergeordneten Struktur interessanterweise nicht auf. Deutschland ist das einzige Land, dem zwei Gruppen zugeordnet werden, aber nur bei der zweiten Gruppe – „Freie deutsche Tanzkunst“ – lässt sich eine stilistische Zuordnung zumindest erahnen. Die vorgegebene Struktur ist keine tanzwissenschaftliche, sondern orientiert sich an den gängigen nationalen Differenzierungssystemen, die auch für Alben, ganz anderer Sammelgebiete in dieser Zeit typisch sind. Desto interes­ santer erscheint es, die einzelnen Gruppen genauer zu betrachten, und die Bildverteilung jenseits der nationalen Zuschreibungen, nämlich im Kontext von Tanzstilen und -techniken, zu untersuchen. Allgemein betrachtet lassen sich drei Kategorien von Bühnentanz ausmachen: Klassisches Ballett, freier zeitgenössischer Tanz (Ausdruckstanz) und Showtanz. Auch hier sollen noch einmal Zahlen und prozentuale Erhebungen helfen, um sich ein Bild von der Tanzwahrnehmung und den breiten, gesellschaftlichen Tanzinteressen der Zeit zu machen. Das Ergebnis erstaunt: Fast die Hälfte aller Bilder stammen aus dem Bereich des freien zeitgenössischen Tanzes (149 Bilder, 47,8 %), während sich das Klassische Ballett und der Showtanz paritätisch den zweiten Platz teilen müssen. Beide, Ballett und Showtanz, sind mit je 73 Bildern (je 23,4 %) in dem Album vertreten. Ein Ergebnis, das erstaunt und erschüttert. Denn im Zug der bereits angedeuteten

153

Janine Schulze-Fellmann

(tanz-)geschichtlichen Entwicklungen nach 1933 wurden der freie zeitgenössische Tanz und seine Vertreter:innen zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Die hier ausgemachte Dominanz der Fotografien, die sich der Vielfalt des sogenannten Ausdruckstanzes widmen, dazu noch in einer Publikation, die sich in keiner Weise an ein Kennerpublikum wendet, sondern an die breite Gesamtbevölkerung, lässt Rückschlüsse auf die Beliebtheit und die zu diesem Zeitpunkt erzielte Breitenwirksamkeit dieser Tanzinnovationen zu. Die Tanzavantgarde erscheint 1933 im Mainstream angekommen. Seine Vertreter:innen waren populär, sie waren oder wurden mit den Sammelalben zur Popkultur! Mit ihnen ließen sich offensichtlich Verkaufszahlen steigern. Schmerzlich ist hierbei das Wissen, dass eine solche Werbe-Publikation nur wenige Jahre später ganz anders ausgesehen hätte, viele der abgebildeten Personen zu personae non gratae erklärt wurden und sogar in Lebensgefahr gerieten – und die Tanzkunst in Deutschland für eine lange Zeit belanglos wurde. 3. Die Zigarettenalben

Der künstlerische Tanz reihte sich in

als erfolgreiches

die bis dahin bereits werbewirksam

Werbekonzept

bei Eckstein-Halpaus erschienenen Alben mit den Themen „Die Völ-

kerschau in Bildern“ (1930), „Mit Eckstein durch die Welt“ (Teil 1 Inland, Teil 2 Ausland, 1932/33) und „Wunder aus Technik und Natur“ (1933) ein. Zigaretten, zunächst ein Luxus, wurden Anfang der 1920er Jahre ein maschinell erzeugtes Massenprodukt. Jede Gesellschaftsschicht konsumierte sie. Die Sammelalben hatten somit die Aufgabe, kompatibel mit den Interessen eines höchst diversen Zielpublikums zu sein. Möglichst viele Raucher:innen sollten thematisch abgeholt werden und über die Sammellust zu einem höheren Zigarettenkonsum angeregt werden. Somit musste die Auswahl der Motive, ihre theoretischen Einordnungen sowie die Bildunterschriften breitenwirksam und allgemein verständlich gestaltet sein. Dies galt eben auch für ein Album über den Bühnentanz. Aus heutiger Sicht erstaunt es nach wie vor, wie viele Tabakfabriken gleichzeitig den Tanz – und sogar die Tanzavantgarde, wie eben ausgeführt – in ihre Werbekonzepte integrierten. Daher liegt die Frage nahe, mit welchen Mitteln es gelang, die nötige Massentauglichkeit über die Darstellung und Kontextualisierung zu erzielen. Hierfür soll zunächst ein kurzer Blick auf die die Fotografien kommentierenden Texte geworfen werden.

154

Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

14 Auszug aus der Einleitung zum Sammelalbum „Der künstlerische Tanz“, 1933, ohne Seitenangabe.

4. Einleitungs­-

Im Zentrum der Sammelalben, die rund um

text und Bild-

den Tanz herauskamen, steht das Bild. Die

unterschriften

Texte sind auf das Nötigste reduziert. „Der künstlerische Tanz“ beginnt mit einem ein-

seitigen Einleitungstext, der Aufgabe und Nutzen der Tanzkunst innerhalb des Zeitkontextes kurz umreißt: […] Wenn wir nun eine Bildersammlung „Der künstlerische Tanz“ als Werbebeilage für unsere bekannten Qualitätszigaretten Halpaus-Rarität, Eckstein Nr. 5 und Ulmenried herausbringen, so geschieht es vor allem, um in die Schwere der Gegenwart einen Moment heiterer Beschwingtheit hineinzutragen. Dient doch eine gute Zigarette dem gleichen Ziel. Mögen diese Augenblicksbilder der heutigen Tanzkunst das Verständnis für das allen Völkern gemeinsame Ideal von rhythmischer Schönheit, seelischer Lauterkeit und sittlicher Vollkommenheit vermitteln und vertiefen, und zugleich unseren Anhängern eine rechte Sammlerfreude bereiten.14 Der Text reduziert – allen voran den stark vertretenen freien zeitgenössischen Tanz – in seiner künstlerischen und gesellschaftlichen Wirkkraft auf seine Wahrnehmung als eine ‚beschwingte‘, allein auf Schönheit zielende Unterhaltungskunst, die den Rahmen eines ‚sittlichen‘ In-Erscheinung-Tretens nicht verlässt. Somit banalisiert das Sammelalbum, noch bevor der erste Blick auf die Bilder fällt, den Tanz, vor allem den freien Tanz und negiert seine, ihm durchaus innewohnenden, gesellschaftskritischen bis politischen Anliegen. 4.1 Bagatellisierung der Extreme

Wie sehr die Texte dazu dienen zu ‚glätten‘ und Differenzen zu verf lachen, soll anhand einzelner Beispiele kurz erläutert werden. Dabei gehen

die simplifizierenden Texte auch mit einer harmlosen bis unspezifischen Bildwahl einher. Ist einem das gängige Bildarchiv der einzelnen Protagonist:innen durch andere Publikationen vertraut, fällt auf, dass die hier platzierten Bilder zwischen hübscher Pose und Starportraits à la Hollywood-Filmstars changieren. Besonders deutlich wird dies bei jenen durchaus in ihrer Zeit als extrem zu bezeichnenden Tänzer:innen, die nicht zuletzt durch Tabubrüche auf der Bühne auf sich aufmerksam machten, indem sie

155

Janine Schulze-Fellmann

15 Eckstein-Halpaus: Der künstlerische Tanz, 11.

Rollenbilder, Schönheitsideale, Körperästhetiken und -stereotype

16 Ebd., 14.

den z. B. Valeska Gerts und Anita Berbers Arbeiten durch betont

17 Ebd.

prüde Fotografien in diesem Zigarettenalbum repräsentiert. Die

18 Vgl. hierzu den Beitrag in diesem Band von Lucia Ruprecht: Absolutes Substitut: Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und Sebastian Drostes Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase (1923)

gewählten Bildmotive lassen nichts von ihrer Radikalität erahnen

19 Vgl. hierzu u. a. Weickmann, Dorion: „Die Geschlechter im Tanz – ein Bild entsteht“, in: dies.: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580–1870), Frankfurt/M. /New York: Campus 2002, 315–357.

aber auch Klassenunterschiede ihrer Zeit thematisierten. So wer-

und fallen kaum auf und schon gar nicht aus dem Rahmen der übrigen abgebildeten Tanzposen oder Portraits. Einzig die Bild­ unterschriften lassen darauf schließen, dass diese beiden Tänzerinnen eine solitäre Stellung jenseits des Mainstreams einnahmen, ohne jedoch in irgendeiner Weise explizit zu werden. So heißt es unter einem von zwei Fotos die Gert in ihrem Stück Alt Paris (1922) zeigen: „Valeska Gert [,] eine der bedeutendsten, aber auch eigenartigsten Tänzerinnen der Gegenwart, die in scharf satyrischen Tanzszenen die Widersprüche unseres Lebens aufzeigt und geißelt.“15 Noch extremer angepasst scheint die Präsentation von Anita Berber. Sogar mit insgesamt drei Bildern in dem Album vertreten, setzen die Texte eher auf das Drama und die Exotik ihres frühen Todes, „auf einer Orientreise“16. Ihre Tänze werden verhalten kritisch als „eigenartige Schöpfungen“ umschrieben, „die in den modernen Tanz eine besondere Note hineintragen.“17 Wer die Fotos ihrer „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“18 kennt, muss bei diesen braven, wenn auch bekannten Abbildungen schon sehr genau hinsehen. Beiden Tanzstilen werden die Texte sowie die Bildauswahl in keiner Weise gerecht. Sie vermitteln einen Hauch von Exotik und Exaltiertheit, aber wir erfahren weder etwas über ihre Tanz­ ästhetiken und -philosophien, noch werden uns ihr ‚Anders-Sein‘ und die Normen, an denen sie offensichtlich gemessen werden, nähergebracht. 4.2 Sexistische bis rassistische Tendenzen

Viele Texte lesen sich heute sexistisch bis rassistisch und reproduzieren einen männlichen begehrenden Zuschau-

erblick auf die Tänzerinnen. Ihre künstlerischen Leistungen bleiben zumeist hinter Lobpreisungen ihrer Jugendlichkeit und Schönheit zurück. Die Texte erinnern unangenehm an den pornographischen Blick des 19. Jahrhunderts, wie er uns aus dem Romantischen Ballett historisch vertraut ist19 und die Frauenkörper, um mit Laura

156

Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

20 Vgl. Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Weiblichkeit als Maskerade, hg. v. Liliane Weissberg, Frankfurt/M.: Fischer 1994, 48–65. 21 Eckstein-Halpaus: Der künstlerische Tanz, 11. 22 Ebd., 16. 23 Ebd., 17. 24 Ebd., 16. 25 Ebd., 43. 26 Ebd., 42.

Mulvey20 und deren Theorie des männlichen Blicks (the male gaze) zu argumentieren, zu bloßen Objekten, auf ein ‚to-be-looked-atness‘ reduziert. Hier eine Auswahl an Bildunterschriften: –  „Lucy Kieselhausen, charmante Tänzerin, ziert die deutsche Tanzkunst durch ihr Können und ihre Anmut.“21 – „Claire Bauroff, verbindet wienerische Beschwingtheit mit Anmut der körperlichen Erscheinung […]. […] anmutige Kunsttänzerin mit eigener Note.“22 – „Chinita Ullmann, die in Köln tätige, rassige Tänzerin, halbsüdamerikanischer Herkunft.“23 – „Tatjana Barbakoff, eine durch Mischung asiatischen und europäischen Blutes besonders reizvolle tänzerische Erscheinung von raffinierter Geschmackskultur.“24 – „La Jana, bildschöne Tänzerin, erzielte durch große Begabung und zähen Eifer besondere Erfolge.“25 – „ Josephine Baker, die tanzbegabte Negerin, deren Tänze und Extravaganzen in Europa Aufsehen erregten.“26 Nur die wenigsten Namen dieser Aufzählung sind heute noch Teil gängiger tanzhistorischer Diskurse. Und so sind die Zigarettenalben häufig einziger noch existierender Fundort für vergessene bis – in späteren Jahren durch die Nazis – verleumdete Tänzer:innen. Für die Tanzforschenden sind sie wahre Fundgruben, für erste und zum Teil einzige Spuren künstlerischen Schaffens im Deutschland der 1930er Jahre. Die Texte stellen die Schönheit, Grazie und, etwas versteckter, auch die Begehrenswürdigkeit ins Zentrum und minimieren so den ersten Eindruck des Albums, dass hier tatsächlich allein der Tanz selbst gemeint sein könnte. Sie sprechen jene rauchende Kundschaft an, die sich weniger für die Kunst als die ihn repräsentierenden Körper interessieren: Frauenkörper. Und die Dominanz an abgebildeten Frauen, bekommt in diesem Kontext einer Gender-Marketing Strategie à la „Sex sells!“ einen schalen Beigeschmack. Der Tanzdiskurs der hier über die Texte aufscheint, spiegelt einen Genderdiskurs, der spätestens mit der Etablierung professioneller Tänzerinnen auf der Bühne einsetzt, sich im 19.  Jahrhundert und seinen bürgerlichen Idealen verfestigt und seinen langen Arm noch bis in unsere Tage auszustrecken weiß. ‚Schöne Frauen‘ bildeten ein immer wieder auftauchendes und zentrales Thema von Sammelalben. So finden sich in den zwanziger

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27 Vgl. hierzu Blume, Judith: Wissen und Konsum. Eine Geschichte des Sammelbildalbums 1800–1952, Göttingen: Wallstein 2019, 282, Fußnote 174.

und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts neben Alben von Tänzerinnen und Schauspielerinnen ganz explizit Sammelalben wie Frauen – Schönheit und Anmut (Kosmos Zigarettenfabrik/Dresden), Die schönsten Frauen der Welt (Greiling Zigarettenfabrik Dresden 1932), Die Frauen, die der Schönheit Krone tragen (Aurelia Zigarettenfabrik 1933) – und schließlich wollte der Tabakriese Reemtsma noch 1952 mit Die bezaubernde Frau: eine Kulturgeschichte des Weibes die Kultur der Sammelalben wieder beleben, allerdings dann erfolglos.27 5. Choreografie der

Der letzte Abschnitt dieses Textes

Bilder: Anordnung

nimmt nun die Bilder und ihre

und Korrespondenzen

Anordnungen in den Blick. Dabei steht die Betrachtung von Bewe-

gungen im Zentrum, unabhängig vom angenommenen Geschlecht oder dem Tanzstil der Abgebildeten. Dabei wird sich nicht auf Einzelbilder konzentriert, sondern immer auf ganze Seiten. Es wird deutlich werden, dass die Bilder innerhalb eines solchen Zigarettenalbums durch ihre Ordnungsvorgaben und die enggeführte Nachbarschaft zu vorausgehenden oder folgenden Fotografien nur als Serien und damit in Korrespondenz zueinander wahrgenommen werden können. Diese Korrespondenzen ergeben sich aber nicht nur durch die ordnenden Überschriften oder die sie verbindenden Tanzstile. Vielmehr finden sich diese innerhalb der fotografisch fixierten Posen und Bewegungsmomente. Mittels choreografischer Prinzipien wie Synchronität, Parallelität, Counterpart und Spiegelungen treten die Bilder einer jeweiligen Seite in einen Dialog. Über die durch die Anordnung gezielt gesetzten Sichtachsen wandert unser Blick zwischen den Fotografien umher, stellt Ähnlichkeiten und Verbindungen her und lässt über das Zusammendenken der Einzelbilder, über das Denken in Reihen und Gruppen, Bewegung im Kopf entstehen. Anhand ausgewählter Serien sollen die in dem Album wiederkehrenden Ordnungsprinzipien veranschaulicht werden. 5.1 Wahrnehmung in Serien

Die Bilder des Sammelalbums weisen zunächst einmal eine sehr redundante Anordnung auf. Jede Seite ist identisch aufgebaut und bietet Raum für überwie-

gend sechs, auf wenigen Seiten fünf oder nur vier Fotografien im gleichen Format. Unterscheidungen finden sich nur im Hoch- und

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Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

Querformat, was aber durch das nahezu quadratische Grundformat der Fotoabzüge in den Maßen von 5,5 x 6 cm kaum auffällt.

Abb. 1 ▼ Die lineare, serielle Anordnung ist ganz typisch für die Sammelalben der dreißiger Jahre und spiegelt die modernen Produktionsbedingungen der Zigarettenindustrie wider, wie Judith Blume dies in ihrer Dissertation zu „Wissen und Konsum“ sehr plastisch aufzeigt: Die Bildarrangements dieser Alben legten keine sich vertiefende Rezeption eines einzelnen Bildes oder Bildtableaus nahe, sondern die Wahrnehmung einer seriellen, vorbeiziehenden und scheinbar nicht endenden Reihe von Bildern.

S e i t e 2 5 a u s d e m Z i g a r e t t e n a l b u m D e r k ü n s t l e r i s c h e Ta n z , D r e s d e n : E c k s t e i n - H a l p a u s G m b H c a . 19 3 3 , f o t o g r a f i e r t v o n T i v a d a r N e m e s i .

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28 Blume, Judith: Wissen und Konsum, 176.

Im Hin und Her zwischen Gesamtstruktur und einzelnen

29 Ebd., 177.

gleichenden Blick: Die einzelnen Bilder […] wurden vor der

30 „Mögen diese Augenblicksbilder der heutigen Tanzkunst das Verständnis für das allen Völkern gemeinsame Ideal von rhythmischer Schönheit, seelischer Lauterkeit und sittlicher Vollkommenheit vermitteln und vertiefen, und zugleich unseren Anhängern eine rechte Sammlerfreude bereiten.“ Vgl. Eckstein-Halpaus: Der künstlerische Tanz, Einleitungstext, ohne Seitenangabe.

Folie des Genre-Spezifischen […] wahrgenommen.28

31 Vgl. Blume, Judith: Wissen und Konsum, 73. Interessanterweise existieren einzelne Alben (Isa Wortelkamp ist im Besitz eines solchen) des künstlerischen Tanzes, die nicht geklebt, sondern gesteckt sind. Dieses Exemplar scheint jedoch eine Ausnahme zu sein. Anders als in den frühen Sammelalben, führen de facto die Nummerierung und die Textunterschriften so oder so zu einer vorgegebenen Ordnung.

Komponenten provozierte die Präsentationsform einen ver-

Die durchrationalisierten und standardisierten Arbeitsprozesse rund um Produktion und Distribution von Zigaretten, „fand […] in der Herstellung und dem Vertrieb der die Zigaretten begleitenden Bilder ihre Fortsetzung.“29 Diese damit einhergehende Gleich­ förmigkeit der durchgetakteten Arbeitsprozesse spiegelt sich aber auch in den langen, scheinbar unendlichen Bildreihen der Alben, die wiederum ein Wissen in Serie produzieren. Blättert man das Album ungezielt durch, so schwankt die Wahrnehmung der Bilder zwischen Monotonie und Wiederholung des immer Gleichen und der gleichzeitigen Suche nach Variationen und Ausnahmen. Die einzelnen Tanzenden, die einzelnen Tanzstile, verlieren ihre Individualität hin zu einer Verallgemeinerung – jenem eindimensionalen Tanzbegriff und seiner Wirkung, wie ihn der einführende, entleerende Text zu Beginn des Albums festschreibt. Der Tanz wird, wie es unter den Folgejahren in Deutschland unter den Nationalsozialisten und den Folgen des zweiten Weltkriegs dann rigoros der Fall sein wird, auf ein dekoratives bis harmloses, ja sogar universelles völker­ verbindendes Schönsein reduziert.30 Anders die ersten Sammelalben Ende des 19. Jahrhunderts, die sich gerade durch nicht-lineare Darstellungen auszeichneten: Hier werden die Bilder eingesteckt, anstelle geklebt und die Reihen­ folge der Bilder ist frei wählbar. Somit ließen sich individuell immer neue Korrespondenzen oder Bilddialoge erzielen, in dem die Bild­ anordnungen umgesteckt wurden. Der Blick konnte immer wieder neu zwischen den Abbildungen mäandern.31 5.2 Blickachsen und ‚SeitenChoreografien‘

Dieser erste Eindruck einer ermüdenden bis überfordernden Bilderreihung ‚am laufenden Band‘, verliert sich, nimmt man sich Zeit für eine bewegungsanalytische

Betrachtung der einzelnen Seiten des Buches. Die entindividualisierende Massen-Reihung, weicht dabei einer Wahrnehmung choreografisch motivierter Bildordnungen. Der zweite Blick lässt das Auge in eine tiefer liegende Dimension des Zigarettenalbums gelangen, die sich jenen eröffnet, denen es gelingt, das ‚Fließband‘

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Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

der vorbei rauschenden Bilder zu stoppen, sich dem Rhythmus des Umblätterns von Fotoseiten und dazwischen geschichteten, raschelnden Pergamentseiten zu entziehen, um sich, im Innehalten, in die Bewegtheit der Motive hinein ziehen zu lassen. Erst dann taucht man wirklich ein, in die Geheimnisse der ‚Seiten-Choreografien‘: denn die Einzelbilder lassen, im Zusammenwirken, ihre jeweiligen Seiten zu den bereits beschriebenen Bewegungsbühnen werden. Gemeinsam, als Paare, Terzette oder Gruppen in den Blick genommen, ergeben sich auf jeder Seite Raum-Choreografien. Diese formieren sich aus korrespondierenden Kopf- und Körperhaltungen, synchronen Posen und parallelen Bewegungen. Folgt man den Blickrichtungen der Abgebildeten und der Richtung ihrer Bewegungen, so ergeben sich Diagonalen und Kreuzungspunkte zwischen den Einzelfotografien, die die Augen auf dem Papier nachzeichnen. Dynamiken ergeben sich zwischen den Bildern, Spannungen und Gegenspannungen lassen sich im Zusammenspiel der Körper-Bilder erahnen. Die Bewegung entsteht im Kopf und die Haltungen auf den Einzelbildern beginnen ineinander überzugehen und ihre Rahmen und mit ihnen ihre Erstarrung zu sprengen. Um diese Wahrnehmung nachvollziehbar werden zu lassen, nehme ich einzelne, repräsentative Seitengestaltungen in den Fokus und erläutere die für Der künstlerische Tanz typischen Bewegungsfolgen und choreografischen Anordnungen. 5.2.1 Fokus: Einzelne Körperteile

Zunächst soll der Blick auf Bildserien gelenkt werden, deren abgebildeten Posen das Auge auf einzelne Körperteile und deren Bewegungsgestaltung lenken.

Abb. 2 ► In dem von mir gewählten Beispiel sehen wir drei Fotografien der russischen Tänzerin Olga Spessiva nebeneinander angeordnet, auf denen jeweils besonders die Armhaltung ins Auge sticht. Alle drei Haltungen entsprechen nicht dem typischen Repertoire des klassischen Balletts. Gemeinsam sind ihnen eine eher angulare bis spitze Beugung in den Ellenbogen und das Ineinandergreifen beider Hände, was in allen drei Posen zu einer erhöhten Spannung im Brustmuskelbereich führt. Wandert der Blick nun über alle drei Bilder hintereinander weg, egal in welche Richtung, so ergibt

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Seite 25 mit Einzeichnungen der Autorin aus dem Zigarettenalbum Der künstlerische Ta n z , D r e s d e n : E c k s t e i n - H a l p a u s G m b H c a . 19 3 3 , f o t o g r a f i e r t v o n T i v a d a r N e m e s i .

sich – mit dem Effekt eines Daumenkinos oder einer Chronofotografie vergleichbar – eine Bewegungsfolge, die die Posen nahezu filmisch ineinander übergehen lässt.

5.2.2 Korrespondenzen in den Raumformen

Anders verhält es sich mit dem Zusammenspiel der Einzelbilder, wenn diese weniger als choreografische Folge gelesen werden,

sondern vielmehr als ein synchron agierendes Ensemble. Hier entsteht eher der Eindruck eines Neben- statt eines Hintereinanders der Bewegung. Der im ersten Beispielbild (Yvonne Georgi) bereits ablesbare, sichelförmige Bogen, der sich zwischen linkem Fuß und linker, erhobener Hand über die Rücken- und Nackenlinie verlaufend in den Raum spannt, wiederholt sich in der Fotografie daneben (Gertrud Leistikow). Hier schwingt die Tänzerin mit ihrer linken Hand einen Schal über sich. Dieser wird, im Sich-Aufwölben, zu einem sichelförmigen Raumobjekt. Der Schattenwurf des tanzenden Körpers doppelt sich und betont die somit das Bild dominierende Raumfigur. Gemeinsam mit der Abbildung Georgis betrachtet – entsteht, über die sich entsprechenden und als synchron wahrgenommenen Bewegungsspuren im Bildarrangement, der Eindruck eines Zusammentanzens.

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Zigarettenalben – Archive und B e w e g u n g s b ü h n e n d e s Ta n z e s

S e i t e 13 m i t E i n z e i c h n u n g e n d e r A u t o r i n a u s d e m Z i g a r e t t e n a l b u m D e r k ü n s t l e r i s c h e Ta n z , D r e s d e n : E c k s t e i n - H a l p a u s G m b H c a . 19 3 3 , f o t o g r a f i e r t v o n T i v a d a r N e m e s i .

Obwohl solitär und unabhängig voneinander aufgenommen, entwickelt sich über die Bildinhalte, die Bildanordnung und unsere Wahrnehmung eine Korrespondenz, die diese beiden Fotografien aus der sonst auf der Fotoseite herrschenden Heterogenität der anderen Motive heraushebt.

Abb. 3 ▲ Eine weitere Besonderheit der Bildanordnung innerhalb der Zigarettenalben ist das Schaffen von Blickachsen oder besser -diagonalen. Jeweils die sich in den Ecken der Seiten befindenden Fotografien bauen entweder über die Blickrichtung der Tanzenden oder aber über korrespondierende Arm-, Bein- oder Körperbeugungen eine Beziehung zueinander auf. Sie wenden sich einander zu oder in Form (scheinbar) abwehrender Gegenbewegungen voneinander ab. Mittels solcher Blickachsen bricht die Monotonie der Reihung 32 Vgl. Blume, Wissen und Konsum, 213–215.

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auf und der Blick wird kreuz und quer zwischen den Fotografien hin und her gelenkt.32 Janine Schulze-Fellmann

Seite 22 mit Einzeichnungen der Autorin aus dem Zigarettenalbum Der künstlerische Ta n z , D r e s d e n : E c k s t e i n - H a l p a u s G m b H c a . 19 3 3 , f o t o g r a f i e r t v o n T i v a d a r N e m e s i .

Abb. 4 ▲ 5.2.4 Multiple Korrespondenzen – Den Blick vervielfältigen

Ganz besonders bewegt erscheinen jene Seiten der Alben, die verschiedene Ordnungsstrate-

gien miteinander vereinen und so immer neue Bild- und damit Bewegungsverknüpfungen und Raumkonstellationen erkennen und entstehen lassen. Sie eröffnen vielfältige Perspektiven für unser Sehen. Betrachtet man nun noch die von mir in der Abbildung eingezeichneten Parallelen, Synchronitäten und Spannungen zwischen den auf dieser Seite nur fünf Abbildungen, so fällt noch etwas anderes auf: Während das Bild ganz oben links (Li Ihlenfeld) zu fast allen anderen Bildern in Bewegungsdialog tritt, bleibt das Foto

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Seite 23 mit Einzeichnungen der Autorin aus dem Zigarettenalbum Der künstlerische Ta n z , D r e s d e n : E c k s t e i n - H a l p a u s G m b H c a . 19 3 3 , f o t o g r a f i e r t v o n T i v a d a r N e m e s i .

Abb. 5 ▲ diagonal gegenüber, ganz unten rechts (Julian Algo und Elli Holmberg), solistisch für sich. Als einzige Aufnahme, die ein Paar zeigt, zieht die Aufnahme zusätzlich Aufmerksamkeit auf sich, weil die auf ihm zu sehende Pose mit keinem anderen Bild auf der Bewegungsebene zu korrespondieren scheint. Die zugewandte Haltung des Paares und der geschlossene Kreis, den ihre sich berührenden Hände über den Köpfen bilden, schließt ihre Körper von dem sonstigen Tanzgeschehen auf dieser Seite förmlich ab. Allein ihr Bild in den Blick nehmend, werden die anderen vier Fotografien zu einem Ensemble, das den Hintergrund des Solistenpaares bildet. Geschichten entstehen. Die Monotonie des ersten Blicks weicht der Kreativität des zweiten.

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33 Vgl. Blume, Wissen und Konsum, 215.

Es eröffnet sich ein Denken in Bewegung, welches aber nüchtern betrachtet nur eine klassische Werbestrategie der Kataloge der Zeit aufgreift. Diese experimentierten bereits auf ganz ähnliche Weise mit solchen Blickchoreografien. Ziel war es auch hier, durch eine Fülle an Produkten und somit an Abbildungen zu beeindrucken. Der Überforderung der Käufer:innen durch diese Produktmassen wurde auch hier durch eine Lenkung der Aufmerksamkeit mittels inszenierter Bildkorrespondenzen entgegengewirkt.33 Für die tanzwissenschaftliche Perspektive schaffen die erläuterten Anordnungen der Fotografien in Zigarettenalben aber genau jenen Effekt, der das in ihnen stillgestellte Tanzen wieder in Bewegungen und Raumspannungen überführt und damit eben jenes Faszinosum für einen choreografischen ebenso wie für einen bewegungsanalytischen Blick beinhaltet. Eine Faszination, die mich bereits bei meiner ersten Begegnung mit diesem Zigarettenalbum zu fesseln wusste – ohne, dass ich dies bereits damals hätte benennen oder gar analysieren können. Doch zurück zum Objekt der Betrachtung: Stellen wir uns nun noch vor, dass die Alben am Anfang leer waren und die Bilder in kleinen Gruppen und in zufälliger Reihenfolge erst nacheinander eingeklebt wurden: Jedes der Bilder konnte erst sukzessive mit den anderen Fotos in Kommunikation treten. Bei sechs Bildern pro Seite sind die Kombinationsmöglichkeiten des Zusammenwirkens mehr als vielfältig (wer will, mag dies berechnen). Welches Foto als allererstes auf der jeweiligen Seite eingeklebt wurde, war Zufall, bzw. unterlag dem Vorgehen der jeweils sammelnden Person. Diesem Bild galt für kurze Zeit die alleinige Aufmerksamkeit. Zu dieser Abbildung wurden alle nachfolgenden Fotografien ins Verhältnis gesetzt, bis sie selbst, wie alle folgenden Bilder auch, nur noch im Zusammenspiel zu diesem oder jenen wahrnehmbar waren. 6. Fazit und

Die Zigarettenalben bilden absolute Ausnahme­

Schluss

materialien innerhalb der Tanzforschung und -geschichte. In der Analyse und vertieften Auseinandersetzung mit ‚meinem‘ Zigaretten­

album wurde mir noch einmal bewusst, wie sehr mein eigenes Bild- und Körpergedächtnis, wie sehr meine Memoria durch diese ‚Zigarettenwerbung‘ geprägt wurde – und heute durch einen kritisch-distanzierten Blick ergänzt wird. Was aber macht diese Publikation noch heute so faszinierend? Sie besticht vor allem

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34 Greenaway, Peter: The Historians Book 39 – The Rise and Fall of Gestures Drama, Paris: Éditions Dis Voir 2009, 9. Vgl. auch Schulze: Lücken im Archiv, 153.

durch ihre Bildfülle und die vielen hierin abgebildeten Künstler:innen, die nie ihren Weg in die aktuelle Forschungsliteratur fanden. Im Mittelpunkt steht dabei das Bild – bzw. die Bilder in Serie. Ihr Zusammenspiel oder besser Zusammentanzen, lassen Bewegungen spür- und sichtbar werden. Sie ermöglichen aber, in ihrer Historisierung und Kontextualisierung, auch Erzählungen von Bewegung. Die Texte des Albums hingegen halten kaum einer tanzhistorischen oder -wissenschaftlichen Prüfung stand. Sie fallen weit hinter die den Fotografien und ihren Arrangements inhärenten eschichte(n) zurück. Spannend sind bis heute auch das Nebeneinander der verschiedenen Tanzstile und die Pluralität an Körperinszenierungen, die sich in den Abbildungen zeigen. Der künstlerische Tanz ist eine historische Momentaufnahme, seine Einleitung spricht von den „Augenblicksbildern“, die hier vereint sind. Für viele Fotografien und die auf ihnen abgebildeten Personen mag dieser Begriff zu­­treffen, für andere Bildmotive scheint ein Überleben im Tanz­ gedächtnis und der Geschichtsschreibung längst gesichert. Am Ende bleibt vor allem das Erstaunen über die Popularität, die der Bühnentanz genossen und über die Aufmerksamkeit, die er über ein solches Werbeorgan erhalten hat. Wäre es heute noch denkbar, dass z. B. Panini anstelle von Fußballspielern den Bühnentanz in all seiner Vielfalt erneut zum Bildthema macht? Wie sähe ein solches Album heute aus? Und welche Blicklenkungen, welche Tanzdiskurse würden hier zu finden sein? Und wie sähe es mit den Sexismen und Rassismen heute aus? Auch solche Fragen kommen in den Sinn, lasse ich das Zigarettenalbum, sein archiviertes Bildgedächtnis und die mit ihm immer wieder neu und immer wieder anders lesbaren Tanzgeschichte(n) vor meinem inneren Auge vorbeiziehen. Ein Zitat von Peter Greenaway kommt dabei in den Sinn, das mich schon seit vielen Jahren begleitet. Es verweist auf ein Verhältnis zu Geschichte und Vergangenheit, welches vor allem durch Bewegungen gekennzeichnet ist, die ein Vorwärts und ein Weitergehen suggerieren: A woman and three men gestured with much portent­ ousness to suggest the Passing of History. With a waving and scooping motion they encouraged History to pass on by. Sometimes slow, sometimes fast, sometimes diffidently. History for them never stopped moving.34

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Das Zigarettenalbum „Der künstlerische Tanz“ ist eines dieser Objekte, die (meine) Tanzgeschichte(n) und das Nachdenken darüber in Bewegung versetzt, in Bewegung hält.

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Bilder in Büchern. Zu den drei Auflagen von Hans Brandenburgs Der moderne Tanz Katja Schneider

1 Schur, Ernst: Der moderne Tanz. Mit 16 Kunstblättern, München: Gustav Lammers 1910, 122 Seiten. Das Copyright des Verlegers ist datiert 1909. 2 Neben der Tanzschule von Elizabeth Duncan behandelt Schur noch das russische Ballett am Beispiel der Pawlowa und der Eduardowa. Zum Vergleich: Zwei frühe englischsprachige Publikationen widmen sich neben Duncan, St. Denis und Maud Allan auf breitem Raum auch dem Ballett und den Ballets Russes: Flitch, J. E. Crawford: Modern Dancing and Dancers. With eight illustrations in colour and many [40] in black and white, Philadelphia: J. B. Lippincott Company/London: Grant Richards Ltd. 1912, 228 Seiten (vertreten sind auch Revue-Tänzerinnen wie Letty Lind, Leonora, La Otero, La Guerrero) sowie Caffin, Caroline und Charles H.: Dancing and Dancers of Today. The Modern Revival of Dancing as an Art. With numerous [47] Illustrations, New York: Dodd, Mead and Company 1912, 301 Seiten (hier vertreten sind auch Sacchetto und Grete Wiesenthal). 3 Brandenburg, Hans: Der moderne Tanz. Mit 129 Reproduktionen nach 54 Zeichnungen von Hugo Böttinger, Dora Brandenburg-Polster, J. Grandjouan, Erwin Lang, Alexander Sacharoff und nach 75 Photographien, München: Georg Müller o. J. [1910] (161 Seiten Text); „Zweite, vermehrte Auflage“ o.J. [1917] mit 126 Fotos und 201 Seiten Text im gleichen Satzspiegel; „Dritte, stark umgearbeitete und erweiterte Ausgabe. Fünftes bis siebentes Tausend“ 1921 mit 48 Zeichnungen und 123 Fotos sowie 236 Seiten Text in neuem Satzspiegel (Titel im Folgenden abgekürzt als DMT). Zu Publikationen zum modernen Tanz und

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Die pure Anzahl der Abbildungen in Der moderne Tanz von Hans Brandenburg, erschienen 1913 im Münchner Georg Müller Verlag, macht das Buch zu einer Pionierpublikation, obwohl die Titel­ formulierung drei Jahre zuvor bereits von Ernst Schur verwendet worden war.1 Schur war wie Brandenburg Zeuge der frühen Entwicklung des neuen Tanzes, seit in der Nachfolge von Isadora Duncan der Beruf der selbständigen Tänzerin (es waren vor allem Frauen) ergriffen wurde und die frühen Protagonistinnen die neue Kunstform ausprägten: die „Traumtänzerin“ (Magdeleine G.), Rita Sacchetto, Ruth St. Denis, Gertrude Barrison, die Schwestern Wiesenthal. Beinahe jede der bei Schur genannten2 verfolgte einen eigenen Weg und individuellen Ansatz. Damals war eine reiche Fülle tänzerischer Manifestationen entstanden, die in diesem ersten Buch kanonisiert wurde. Die Publikation des 1912 verstorbenen Lyrikers und Kunstpublizisten Schur erschien 1910, die Auswahl an neuen Künstlerinnen reicht bis 1908. Seit diesem Jahr begleitete Brandenburg die Entwicklungen im Tanz – speziell mit seinem Buch in drei Auflagen bis 1921.3

Abb. 1 ► Diese drei Bücher, die 1913, 1917 und 1921 erschienen sind, bilden mit ihren insgesamt rund 160 Fotografien ein als kanonisch rezipiertes Archiv des Tanzes dieser Zeit.4 Vor allem Fotografien und Text fanden in Tanzgeschichtsschreibung und -wissenschaft viel stärkere Berücksichtigung als die Zeichnungen, die, ebenfalls auf Kunstdruckpapier, zwischen die Textseiten eingeschossen wurden. Brandenburg selbst problematisierte in seinem Text, dass die Fotografie eine herausragende momenthafte Komposition kreiere, die dem Tanz nicht gerecht werden würde: Man hat gesagt, dass photographische Aufnahmen moderner Tänzer und Tänzerinnen meist schöner seien als ihre Tänze selbst, weil ihnen der Einzelmoment gelänge und das Ganze nicht. In Wirklichkeit aber eignen sich die guten modernen Tanzleistungen schlecht zu photographischen Aufnahmen, weil sie im Gegenteil schön im Ganzen ihrer Bewegungsform und oft in keinem ihrer Einzelaugenblicke sind.5 In der Forschung wird Brandenburgs ablehnende Haltung gegenüber dem Medium der Fotografie, die er im Übrigen mit anderen Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

zur Tanzfotografie siehe einschlägig: Wortelkamp, Isa: Bilder von Bewegung. Tanzfotografie der Moderne, Marburg: Jonas 2022, zu Brandenburgs Publikation speziell Kap. II. 3.2 (im Erscheinen). 4 Vgl. Derra de Moroda, Federica: The Dance Library 1480 – 1980. A Catalogue, München: Wölfle 1982, Nr. 457: „The most important book on the Modern German Dance“. 5

DMT 1917, 16.

6 Vgl. Schneider, Katja: „Bewegung wird Bild. Der freie Tanz der Wiesenthals und die Tanzphotographie“, in: Mundart der Wiener Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal, hg. v. Gabriele Brandstetter u. Gunhild OberzaucherSchüller, München: K. Kieser 2009, 215–250, hier 238–242, sowie Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp: „Bilder von Bewegung. Eine Einführung“, in: Tanzfoto­ grafie. Historiografische Reflexionen der Moderne, hg. v. dies., Bielefeld: transcript 2015, 11–27, hier 12. Zur Rezeption von Tanzfotografien vgl. auch Wortelkamp: Bilder von Bewegung, 2022 (im Erscheinen). 7 Wittrock, Eike: „Formlose Dokumentation. Revision von Hugo Erfurths Fotografie des Götzendienstes von Mary Wigman“, in: Tanzfotografie, hg. v. Jahn, Wittrock u. Wortelkamp, 82–95, hier 88. 8 Wortelkamp, Isa: „Blinde Flecken. Historiografische Perspektiven auf Tanzfotografie“, in: Tanzfotografie, hg. v. Jahn, Wittrock u. Wortelkamp, 175–186, hier 180. 9

DMT 1921, 5.

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Inhaltsverzeichnis der ersten Auflage von H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z , 1913 .

Tanzpublizisten der frühen Ära des modernen Tanzes teilt6, begründet mit seiner Skepsis gegenüber der „medienspezifische[n] Stillstellung der Bewegung“7 sowie der „Festlegung von Bewegung auf einen bestimmten Moment“8. Brandenburg bekräftigte seine Bewertung noch einmal in der Ausgabe von 1921 – und das angesichts der verbesserten fotografischen Technik und der deutlich gesteigerten Verbreitung von Tanzfotografien: Auf Fotografien, so hält er fest, „lege ich keinen Wert, sie können höchstens Geschmack, Stil, Menschentum und allgemeines Niveau der Tänzerinnen andeuten, nicht aber den Tanz, dessen Wesen ausschließlich in der Bewegung besteht und darum von der Zeitlichkeit (wie auch von der drei­ dimensionalen Räumlichkeit) untrennbar ist.“9 Katja Schneider

10 Brandenburg, Hans: München leuchtete. Jugend­ erinnerungen, München: Herbert Neuner 1953, 266.

Brandenburgs intensive Verwendung von Fotografie bei gleich-

11 Vgl. „Verzeichnis der vergriffenen Bücher“, in: 25 Jahre Georg Müller Verlag München, Jubiläumskatalog, München im Oktober 1928, 71–126, hier 76.

eine auffallende Friktion. Zumal die Initiation Brandenburgs in

12 Brief Brandenburg an Müller, 22.06.1914, Typoskriptdurchschlag, 3 Seiten, Nachlass Hans Brandenburg, Monacensia Literaturarchiv; alle zitierten Briefe Brandenburgs in Folge © Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, HB Sammelstück No. 18–27.

stehengeblieben, „festgenagelt wie durch einen Blitz“10. Von dieser

13 Die für die Sonderbund-Ausstellung in Köln 1914 geplante Uraufführung konnte kriegsbedingt nicht stattfinden. Das „tragische Wort- und Tanzspiel“ wurde 1921 in Brandenburgs – nach dem Tod Georg Müllers Ende 1917 – neuem Verlag Walter Seifert in Stuttgart und Heilbronn (Inhaber: Otto Weber) publiziert, bei dem Brandenburgs Freund Theodor Etzel Cheflektor war. Dort publizierten, neben Etzel selbst, Brandenburgs Freunde aus dem BonselsVerlag Bernd Isemann und Hans Reiser, auch der Münchner Kulturphilosoph und Tanzpublizist Rudolf von Delius; dorthin hatte Brandenburg auch Labans Die Welt des Tänzers (1920) vermittelt. Vgl. Brandenburg, Hans: München leuchtete, 111f. u. 269, sowie Brandenburg, Hans: Im Feuer unserer Liebe. Erlebtes Schicksal einer Stadt, München: Herbert Neuner 1956, 65f. Vgl. auch Brief Laban an Brandenburg 19.11.1919, HS, ein gefaltetes Blatt, Laban, Rudolf von, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München, sowie das Verzeichnis von Günther Emig http://www. guenther-emig.de/index. php/im-internet/miscellen/ 17-walter-seifert-verlag-

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zeitiger Abwertung dieses Mediums an sich in derselben Publikation, wie sie in den erwähnten Zitaten deutlich wird, erzeugt die moderne Tanzkunst via Fotografie passiert sein soll, wie er in seinen Erinnerungen retrospektiv beschrieb: 1908 habe er Fotos von den Schwestern Wiesenthal im Schaufenster gesehen und sei Begeisterung für die fotografische Abbildung und deren quasi am eigenen Leib erfahrenen Wirkmächtigkeit gibt es in Brandenburgs Der moderne Tanz kein textuelles Echo. Einblicke in dieses Paradox sowie mögliche Gründe für seine ablehnende Haltung gegenüber dem Medium der Fotografie liefern Briefe des Autors an seinen Münchner Verleger Georg Müller, die eine Auseinandersetzung über Bebilderung und Ausstattung des Buches belegen. Aus Ascona schrieb Brandenburg im Juni 1914 an seinen Verleger, bei dem bereits ein Roman (1909) und zwei Gedichtbücher (1912 und 1913) von ihm sowie das Großgedicht Hymne an den Grafen Zeppelin (1910) erschienen waren11 und für den er seit 1910 als Mitherausgeber der postumen Werkausgabe Otto Julius Bierbaums arbeitete. Müller hatte auch die Bestände und Rechte an Brandenburgs Publikationen in dessen gemeinsam mit seinem Schwager Waldemar Bonsels und dem Freund Bernd Isemann betriebenen E. W. Bonsels Verlag erworben. Brandenburg fordert: Es dürfen keine von den Bildern, die ich ausgesucht habe, weggenommen und keine hinzugefügt werden. Auch die Verteilung auf die Tafeln und die daraus resultierenden Vergrösserungen und Verkleinerungen müssen sich genau nach meinen Angaben richten. Es handelt sich hierbei nicht um Ausstattungsfragen, nicht um etwas, das sich der Verleger eventuell vorbehalten kann, sondern um Kompetenzen, die nur ich selber, auf Grund meiner Tanzstudien, besitze.12 Brandenburg war auf den Monte Verità gereist, um mit Rudolf von Laban, Mary Wigman und Gertrud Leistikow sein Stück Der Sieg des Opfers einzustudieren.13 Laban leitete damals die mit Henri Oedenkoven und Ida Hofmann dort gegründete Schule für Kunst und war wie schon 1913 wieder aus München nach Ascona ge­kommen, ebenso Schüler*innen aus seiner Münchner Tanzschule. Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

stuttgart-und-heilbronn (zuletzt geprüft 3.1.2022).

Brandenburg lud neben Gertrud Leistikow auch junge Hamburge-

14 Vgl. Brief Laban an Brandenburg, 09.05.1914, HS, 6 Seiten, Laban, Rudolf von, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. Siehe Brandenburg: München leuchtete, 470–493.

Laura Oesterreich, die als Tänzerinnen Karriere machen sollten

15 Siehe Fußnote 3.

lichen Protagonisten.14 Parallel zur künstlerischen Produktion

16 Aus Briefen von Georg Müller geht hervor, dass er mit Einband und Umschlag von Brandenburgs Roman Chloe oder Die Liebenden den Autor von der Qualität seiner Buchausstattung überzeugen und ihm eine Freude machen wollte: „[…] denn er ist einer der schönsten, die ich jemals gemacht habe“. Brief Müller an Brandenburg, 10.05.1909, Typoskript, 2 Seiten, Monacensia Literaturarchiv, (23 Briefe an Hans Brandenburg), alle zitierten Briefe Müllers in Folge © Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, Müller, Georg III/Konv.

rinnen auf den Monte Verità ein: Gertrud und Ursula Falke und und ab der zweiten Auflage von 1917 im Text und mit Abbildungen vertreten sind, sowie Käthe Wulff, ab 1918 mit Suzanne Perrottet Ko­­leiterin von Labans Schule in Zürich. Leistikow sollte in Branden­ burgs Tanztragödie die Titelrolle übernehmen, Wigman den männarbeitete Brandenburg an der Erweiterung seines Tanzbuches Der moderne Tanz für die „zweite, vermehrte Auflage“15, wobei, wie der zitierte Brief nahelegt, vor allem die Bebilderung Probleme ver­ursachte. Menge und Aufteilung der Bilder im Buch waren für Brandenburg ein steter Quell des Ärgers, dauerte zu diesem Zeit­­ punkt die Auseinandersetzung zwischen Verlag und Autor doch schon über ein Jahr an und trübte ein bis dahin positives Verhältnis.16 In den in seinem Nachlass im Monacensia Literaturarchiv vorhandenen zehn Briefen, die Brandenburg zwischen Mai 1913 und Juni 1914 an seinen Verleger richtete, forderte er Honorare ein, beschwerte sich über das hohe Briefporto für Einschreibesendungen, weil seine Briefe „gleich serienweise verloren gehen“17, und er beklagte Verzögerungen in der Buchproduktion. Vor allem aber ist sein Kampf um die Hoheit

17 Brief Brandenburg an Müller, 10.04.1914, Typoskriptdurchschlag, 1 Seite, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

über die Bebilderung stets Thema. Brandenburg ging es um Anzahl,

18 Brief Brandenburg an Müller, 08.05.1913, Typoskriptdurchschlag, 2 Seiten, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

[s]ein Wissen eingeschmuggelten Bildes der Pawlowa“18, misstrauisch

19 Briefe Brandenburg an Müller, 06.05. (Typoskriptdurchschlag, 2 Seiten)/08.05. /11.05.1913 (Typoskript­ durchschlag, 4 Seiten), Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. 20 Brief Brandenburg an Müller, 11.05.1913, Typoskriptdurchschlag, 4 Seiten, Nachlass Brandenburg, A III / Konv., Monacensia Literaturarchiv München. Mit der Anzahl

173

Präsentation und Reproduktion von Illustrationen und Fotografien. Schon für die erste Auflage von Der moderne Tanz, die im Herbst 1913 erschienen war, wollte er Bildauswahl, Reihenfolge und Layout allein bestimmen. Damals war Brandenburg wegen eines „ohne​ geworden und sehr erzürnt, da die russische Tänzerin anscheinend nicht seiner Auffassung von modernem Tanz entsprach. Außerdem hatte der Verlag eine ganze Reihe Fotografien und 71 Zeichnungen einfach weggelassen.19 Liest man die Briefe und Brandenburgs Publikationen aus philologisch-textwissenschaftlicher Perspektive, dann markiert die Kontroverse Grenzlinien und Zuständigkeitsgebiete, die von der jeweiligen Seite auf unterschiedliche Weise definiert werden. Der Verlag reklamierte das Recht der Entscheidung über die Ausstattung des Buches für sich, wozu neben Größe, Papierauswahl, Bindung etc. auch die Illustrationen gehörten. Brandenburg schied jedoch die „Illustrationsfrage“ von der „Ausstattungsfrage“20 und beharrte darauf, nur er könne kompetent über die Bebilderung Katja Schneider

und Auswahl seiner Bilder setzte sich Brandenburg durch, ging aber auch Kompromisse ein – ein Bild der Pawlowa ist allen drei Auflagen vertreten.

entscheiden. Seine leidenschaftliche Auseinandersetzung darüber

21 „Vor allem, welch unvergleichlichen Blick er für Qualität hat, und wie durch seinen künstlerischen Leiter Paul Renner das ‚Georg Müller Buch‘ mit seiner unverwechselbaren Ausstattung und handwerk­ lichen Vollendung entsteht und zu einer bis heute gültigen Marke wird. Der einmalige Zusammenklang von Schönheit des Materials und inhaltlichem Anspruch ist oft nachgeahmt, doch nur selten erreicht worden.“ Freeden, Eva von; Fischer, Jürgen; Schmitz, Rainer: „Vorbemerkung“, in: Sein Dämon war das Buch. Der Münchner Verleger Georg Müller, hg. von Eva von Freeden u. Rainer Schmitz, München 2003, 7–16, hier 11. Auch Brandenburg würdigte retrospektiv: „Die Ausstattung aller Publikationen, dem Graphiker Paul Renner anvertraut, war mustergültig und befriedigte, frei von Experimenten, jeden bibliophilen Anspruch.“ Brandenburg: München leuchtete, 328.

retrospektiv ausgerichtet, mit bestens ausgestatteten und auf

22 Brief Müller an Brandenburg, 16.6.1910, Typoskript, 1 Seite, Müller, Georg III/Konv., Monacensia Literaturarchiv.

durchzieht die Briefe an seinen Verleger. Georg Müller hatte in München 1903 seinen Verlag gegründet. Sein rasch wachsendes Verlagsprogramm war einerseits Vollständigkeit bedachten Klassikerausgaben, teils innovativ ediert (Goethe, Lenz, Hölderlin, Montaigne, Casanova), sowie einer Fülle von Neuausgaben und zahlreichen Reihen aus Literatur- und Kulturgeschichte. Andererseits widmete er sich der zeitgenössischen Literatur von Bierbaum über Strindberg bis Wedekind, auch der Entdeckung junger Autoren (Döblin, L. Frank, Musil). Er beschäftigte bedeutende Illustratoren. Beispielhaft war sein Engagement auf dem Feld der Buchausstattung, vom regulären Programm bis hin zu bibliophilen Luxusausgaben. So zählte er zu den prägenden Protagonisten einer neuen Buchkultur seit 1900.21 Er war auch dem völlig neuen Thema Tanz sehr aufgeschlossen und antwortete auf Brandenburgs Angebot: „Das Tanzbuch interessiert mich sehr. Aber man müsste glaube ich erst einmal die Illustrationen sehen. Können Sie diese zum Teile einmal zusammenstellen.“22 Dass das Buch überhaupt als Projekt in Erwägung gezogen wurde, so lässt sich folgern, verdankt sich letztlich auch fotografischen Abbildungen. Der Widerspruch zwischen Brandenburgs Statements im Buch, in denen er der Fotografie die Fähigkeit abspricht, den modernen Tanz zufriedenstellend abzubilden, auf der einen Seite und dem sehr umfangreichen Fotoanteil in allen drei Ausgaben, den anhaltenden Streitereien mit dem Verleger in den Briefen und auch seiner ursprünglichen Begeisterung für das neue Medium auf der anderen

23 Brandenburg: München leuchtete, 266.

Seite, signalisieren ein Paradox.

24 Ebd. 267.

der Forschung bereits hingewiesen wurde, lassen sich auch auto-

25 Vgl. zu dieser Anekdote Schneider: „Bewegung wird Bild“, 215f.

poetische Gründe bestimmen.

26 Brief Brandenburg an Müller, 13.05.1913, Typoskriptdurchschlag, 4 Seiten, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. 27 In München, „der Stadt, in der man wie in keiner anderen der

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Neben ideologischen Gründen dafür, auf die wie erwähnt in

Beschaffungsfragen

Nicht nur die Repräsentation des Tanzes in der Fotografie, also die ästhetische und medienkritische Ebene, stellte für Brandenburg ein Problem

dar, schon ganz profan die Beschaffung von Fotos erwies sich als problematisch. Das Medium war jung, Tänzer*innen nutzten es zur Selbstvermarktung. Man bekam die Fotos entweder direkt Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

Welt Begeisterung und Verständnis für Tanzkunst besitzt“ (DMT 1917, 14) debütierten nach Rita Sacchetto 1905 und Sent M’ahesa 1909 innerhalb weniger Jahre eine Vielzahl von Tänzer*innen. „Jene Blüte zeigte sich nirgendwo so deutlich und rein wie in München. Es war die Zeit, wo Gertrud Leistikow, Alexander Sacharoff, Clotilde von Derp, Sent M’ahesa und Rudolf von Laban, die inzwischen in alle Welt zerstreut sind, hier gleichzeitig lebten und wirkten (DMT 1921, 211).“ Vgl. die DANCE History Tour im Rahmen des Münchner Festivals DANCE 2019 und 2021, www.dance-muenchen.de (zuletzt geprüft 4.1.2022)

bei den Produzent*innen/Fotoateliers, bei den Künstler*innen

28 Siehe Fn. 65.

gesichtet.26 München war ein Geburtsort des neuen freien Tanzes27,

29 Postkarten Alexander Sacharoff an Hans Brandenburg, 4.10./13.12.1912/09.01.1913, Nachlass Hans Brandenburg, Monacensia Literaturarchiv, Sacharoff Alexander AI / 1–4.

und auch die Tanzfotografie hat sich hier parallel reich entwickelt,

30 Mary Wigman an Johann Adam Meisenbach, 11.01.1915, Postkarte, in: Dörr, Evelyn (Hg.): Also, die Damen voran! Rudolf Laban in Briefen an Tänzer, Choreographen und Tanzpädagogen. 1. Band, Norderstedt: BoD – Books on Demand 2013 (LabanEdition; 3), 116. Es könnte sich um Fotos aus den eingelagerten Materialien der Münchner Laban-Schule handeln oder um (beim Fotografen noch vorhandene oder nachanzufertigende) Abzüge von Aufnahmen des Münchner Ateliers Hanns Holdt. Dessen Archiv befindet sich heute im Deutschen Theatermuseum, München. 31 Brief Laban an Brandenburg, 26.03.1920, HS, ein Blatt, Laban, Rudolf von, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

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oder kaufte sie in Kunsthandlungen ein. Wie zum Beispiel in der Münchner Buch- und Kunsthandlung Littauer am Odeonsplatz, wo der bekannte Blitz den 23-jährigen Dichter Brandenburg getroffen haben soll, als er 1908 im Schaufenster Fotos von den Schwestern Wiesenthal sah. Mag der Blitz auch einer retrospektiven Verklärung dieses Erlebnisses geschuldet sein, Brandenburg jedenfalls kaufte die ganze Bilderserie, dazu noch Tickets „für das erste Münchener Auftreten der drei unbekannten Wienerinnen“23 und beschloss, ihnen „als redender und deutender Herold voranzuziehen“24. Das bedeutete den Einstieg Brandenburgs in die Tanzpublizistik.25 Die Distributionswege, über die Brandenburg an die Fotografien für sein Buch kam, wären zu untersuchen. Brandenburg hatte, als er sein Projekt 1910 plante, gerade erst begonnen, Tanzfotografien zu sammeln und in der Folge dann Illustrations­material

so dass Branden­burg naheliegenderweise viele Fotos Münchner Foto­ateliers verwendete.28 Vermehrt wurde zu Werbe- und Publikationszwecken mit Fotos gearbeitet, die nicht immer umstandslos verfügbar waren. Fünf Beispiele: Bei Alexander Sacharoff etwa hatte Brandenburg angefragt und um Besuch, Gespräch und Bildmaterial gebeten. Sacharoff war mit seinem Auftritt im Deutschen Theater und dann der Vorbereitung einer Choreografie beim Presseball beschäftigt und schickte als Antwort nur drei Foto­ postkarten und vertröstete ihn.29 Mary Wigman fragte 1915 aus Hannover ihrerseits bei Johann Adam Meisenbach an, Laban­ schüler und Fotodokumentarist der gemeinsamen Zeit in Ascona auf dem Monte Verità, ob er ihr aus München Abzüge dort entstandener Fotos von ihr schicken könnte: „Laban gebraucht die Abzüge jetzt für die Schweiz, nur ich würde sehr gern welche haben, um hier nur in Person etwas Reklame machen zu können.“30 Nach dem Krieg fragte Laban bei Brandenburg an: „Sie haben sicherlich noch ein paar Abzüge unserer Bilder aus Ihrem Tanzbuch. Mir sind fast alle Fotographien abhanden gekommen. Könnten Sie mir einige dieser Abzüge geben?“31 Brandenburg seinerseits benötigte wohl für seine dritte Ausgabe aktuelle Abbildungen von Labans Arbeit, aber Laban – der sein eigenes Buch illustrierte – konnte nicht sofort helfen: Katja Schneider

32 Brief Laban an Brandenburg, 29.04.1920, HS, sechs Seiten, Laban, Rudolf von, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. Alle Briefe Labans an Brandenburg © Münchner Stadtbibliothek/Monacensia.

Wigman verlor auf ihrer Reise eine Kiste mit wichtigen

33 Brief Brandenburg an Müller, 13.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

für Sie zurücklegen, resp. anfertigen lassen. Darüber kön-

34 Dora Brandenburg-Polster (1884–1958) hatte am Lehr- und Versuchs-Atelier für angewandte und freie Kunst (der sogenannten Debschitzschule) studiert. Sie arbeitete als Illustratorin und Malerin und hatte Brandenburg mit der Elizabeth-Duncan-Schule bekannt gemacht. Dieser musste sich gegenüber Müller gegen den Vorwurf wehren, er habe die große Zahl an ihren Zeichnungen aus Familieninteressen für das Buch ausgesucht. Brief Brandenburg an Müller, 13.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. 35 Brief Brandenburg an Müller, 11.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

Manuscripten und Bildern, deren Ersatz von mir in Eile und – in Not geschaffen werden muss. [...] Das Buch kommt nächstens in Druck und ich sende Ihnen sobald als möglich Abzüge. Die paar Fotographien, die ich habe, wünschen Webers als Illustrationen, aber ich werde einiges Wertvolles nen aber noch 3–4 Wochen vergehen. Haben Sie schon von Wigman neue Bilder?32 Die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze in Hellerau, von der Brandenburg in der Erstausgabe gerne sehr viele Fotos gehabt hätte, da er hoffte, sein Buch bei den Festspielen werbewirksam präsentieren und verkaufen zu können (was dann durch das verspätete Erscheinen des Buches verhindert wurde), winkte ab, so Brandenburg: „Die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Fotografien falsche und irreführende Vorstellungen ihrer Leistungen erregen und hat nach langem Drängen nur drei Fotografien hergegeben.“33 Im Buch wird die Arbeit in Hellerau dann auch vor allem durch Zeichnungen vertreten sein: 14 von Hugo Böttinger und eine von Dora Brandenburg-Polster mit dem Bühnenraum der Festspiele 1912.34 Um mit Fotografien, deren Potentiale für Werbewirksamkeit und Reichweite er offensichtlich anerkannte, arbeiten zu können, musste sich Brandenburg in die Abhängigkeit von Zulieferer*innen (seien es Künstler*innen oder Fotograf*innen) begeben, die ihm anscheinend widersprach und ihn in seinem Gestaltungswillen beschnitt – wie auch die Selektion durch den Verlag. An seinen Verleger schrieb er: Meine Bilderauswahl ist bis in jede Einzelheit hinein genau so meine geistige Arbeit wie der Text. Sie und Herr Renner sind garnicht imstande, zu beurteilen, welche Bilder in das Werk gehören. Sie sind weder mit dem Gegenstand vertraut genug noch haben Sie den Text genügend durchgearbeitet, um zu wissen, welch unlöslicher Zusammenhang zwischen Text und Bildern besteht.35 Für die Kuration der Bilder reklamierte Brandenburg Autoren­ rechte. Ihm ging es um Repräsentation einerseits sowie um

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Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

36 Renner war einer der ersten Buchgrafiker und wurde später berühmt als Schöpfer der Schrift Futura (1928), Autor von Standardwerken des Fachs sowie als Leiter der Meisterschule für Deutschlands Buchdrucker (1927–34). Brandenburg seinerseits mischte sich auch in die Buchgestaltung und in Fragen der Reproduktion ein: Das betraf unsachgemäß ausgeführte Klischees und die Illustration des Leineneinbands. Briefe Brandenburg an Müller, 24.07.1913 (Typoskriptdurchschlag, ein Blatt recto verso, Anschluss fehlt) und 22.06.1914, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. 37 Vgl. Schriftsteller, Verleger und Publikum. Eine Rundfrage. 10-Jahres-Katalog Georg Müller Verlag München, München 1913. 38 Briefe Brandenburg an Müller, 08.05.1913 u. 10.05.1913, Typoskriptdurch­ schlag, 1 Seite, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

Verfügung und Steuerung dieser Repräsentation andererseits. Damit begab er sich in Konflikt mit dem Verleger und dem renommierten Buchgestalter Paul Renner, der seit 1907 künstlerischer Leiter im Verlag war und 1911 Mitbegründer der Münchner Schule für Illustration und Buchgewerbe (gemeinsam mit Emil Pree­torius) sowie Leiter der Münchner Lehrwerkstätten 1914 bis 1919. 36 Renner, der zu den bedeutendsten deutschen Buchgestaltern und Typographen der ersten Jahrhunderthälfte zählt, besorgte – im Duett mit dem Verleger – die Druckausstattung und Einbände fast aller Publikationen, und das waren viele: 1913 brachte der Georg Müller Verlag 287 Neuerscheinungen und Neuausgaben heraus.37 Im Fall von Brandenburg hatte Renner, „eigenmächtig“ und ohne Wissen des Autors und anscheinend auch des Verlegers, die Hälfte der von Brandenburg gelieferten Abbildungen nicht in die Druckproben der ersten Auflage von Der moderne Tanz aufgenommen und zudem nicht die vereinbarten Farbabbildungen realisiert.38 In der Erstausgabe sind dann 75 Fotografien auf 52 Bildtafeln – „auf Glanzpapier, wie es im Illustrationsdruck leider noch immer notwendig ist“39, d.h. auf Kunstdruckpapier – seriell präsentiert, die als umfassender Bildteil an das Ende des Buches gesetzt wurden. Die Alternative wäre gewesen, die Bildseiten im Textteil einzuschießen oder die Abbildungen einzukleben.40 Bei Brandenburg werden die Fotografien deshalb nicht in räumlichem Zusammenhang mit dem Text präsentiert und darüber

39 Müller, Georg: „Einiges über Buchausstattung“, in: 1903–1908 Georg Müller Verlag München. Katalog der in den ersten fünf Jahren erschienenen Büchern, München/Leipzig 1908, S.  6 1–65, hier S. 64.

hinaus auch nicht durch direkte Verweise auf einzelne Abbildungen

40 Bei Schur zum Beispiel sind die 16 Schwarz-Weiß-Reproduktionen auf eingeschossenen farbigen Kartons wie Gemäldereproduktionen (mit umlaufender weißer Rahmung und Bildunterschrift) aufgeklebt.

Kompositionen entstehen.41

41 Vgl. zur Verwendung von Doppelseiten mit fotografischen Reproduktionen in Publikationen zum modernen Tanz, Wortelkamp, Bilder von Bewegung, Kap. II. 1.2, (im Erscheinen).

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mit dem Text verknüpft. Warum dieses Verfahren gewählt wurde, ist m. W. nicht dokumentiert; es war in jedem Fall die kostengünstigste und herstellungsökonomischste Lösung für den Druck einer großen Anzahl an Bildern. In der dritten Ausgabe werden im Bilder­anhang auch die Rückseiten bedruckt, sodass DoppelseitenBrandenburg integrierte auch einen großen Anteil an Zeichnungen und Grafik verschiedener Künstler*innen: etwa die Holzschnitte von Erwin Lang zu Grete Wiesenthal, eine Tanzstudie aus der Hand Alexander Sacharoffs und diverse Skizzen seiner Frau Dora Brandenburg-Polster. In der ersten Auflage handelt es sich um 54 Zeichnungen und 75 Fotografien, in der zweiten Auflage sind es auch 54 Zeichnungen, aber mit 126 deutlich mehr Foto­grafien, und in der dritten Ausgabe nimmt die Anzahl an Zeichnungen um knapp 10 Prozent ab, während die der Fotografien annähernd gleich bleibt. Katja Schneider

42 Brandenburg, Hans: München leuchtete, 331.

Tanz und Buch

Brandenburg zielte auf die in Text und

in Progress

Bildern repräsentierte Genese einer

43 DMT 1913, 7.

neuen Kunstform. Er schrieb sein

44 Brief Brandenburg an Müller, 22.06.1914, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

Buch im Wissen um Entwicklung und

45 Wobei zu beachten ist, dass die 2. Auflage bereits für 1914 geplant war, dann aber erst verspätet 1917 erscheinen konnte.

Ausprägung des modernen Tanzes, wie er ihn selbst erlebte und in seinen beziehungsweise für seine Publikationen reflektierte. „Meine zweifelhafte Anwartschaft auf Behandlung des Stoffes beruhte nur auf einzelnen f lüchtigen Eindrücken, auf einem kleinen Gelegenheitsartikel und einem Vortrag, und wenn es überhaupt etwas wie eine neue Tanzkunst gab oder geben konnte, so bestand sie jedenfalls zunächst nur in Ansätzen“, schreibt Brandenburg in seinen Lebenserinnerungen, „allein es war ja gerade mein Fall, ein Werdendes zu fördern und ihm die Maßstäbe schaffen zu helfen, ja für dies Werdende möglichst erst die Sprache zu finden […].“42 Entscheidend ist dabei, dass er den Anspruch auf Erkenntnis und sein Wissen an den „fortschreitenden organischen Prozess“43 des Tanzes koppelte. Seine Bücher sollten sich nicht in einer Materialiensammlung erschöpfen, sondern auf dynamische Weise Zusammenhänge deutlich machen. Sowohl der Text als auch die Bildauswahl, die Fotos – die je nach Ausgabe in der Anzahl variieren – und die Zeichnungen, wurden als integrale Einheit konzipiert und für jede Ausgabe überarbeitet. Brandenburg sah sich als un­­ angefochtenes Kompetenzzentrum für den modernen Tanz und verantwortlich für dessen publizistische Distribution. Auf Basis seiner Aufführungsbesuche und Gespräche mit Künstler*innen, die er als „Tanzstudien“44 bezeichnete, konzipierte Brandenburg seine Bücher als repräsentative und kanonische Entwicklungsgeschichte, die permanenter Überarbeitung bedurfte; nach der dritten Ausgabe, 1921, allerdings beendete er diese Chronistentätigkeit – zu Beginn desjenigen Jahrzehnts also, in dem sich der moderne Tanz weiter ausdifferenzieren und institutionalisieren sollte. Brandenburg ref lektiert in seinen drei Ausgaben immer wieder die Zeitbezogenheit sowohl der Tanzentwicklung als auch seiner schriftstellerischen Vermittlungsbemühungen. Liest man die drei Bände als eine Werkserie, quasi als ein Buch in progress, dann lässt sich ermitteln, welche Künstler*innen Brandenburg zu welchem Zeitpunkt als wichtig wahrnahm45, welchen Raum er ihnen widmete, wie er sie gegeneinander abschattierte und mitein­ ander gruppierte. Entsprechend ergeben sich aus Brandenburgs

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Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

46 Ruchatz, Jens: „Kontexte der Präsentation. Zur Materialität und Medialität des fotografischen Bildes“, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, Heft 124, 2012, Jg. 32, 19–28, hier 23. Neben den „Kontexten der Präsentation“ führt Ruchatz eine weitere systematische Ebene ein, die „Kontexte der Aufnahme“, also hinsichtlich der „indexikalischen Einschreibung der Wirklichkeit in die fotochemische Schicht“ (22).

F r a n k E u g e n e S m i t h : H a n s B r a n d e n b u r g u n d D o r a B r a n d e n b u r g - P o l s t e r, 1911, P l a t i n d r u c k m i t S i g n a t u r, 11, 9 x 17, 2 c m , N a c h l a s s H a n s B r a n d e n b u r g i m M o n a c e n s i a L i t e r a t u r a r c h i v München, © Münchner Stadtbibliothek / Monacensia, HB F 50.

kontinuierlicher Schreib- und Überarbeitungstätigkeit Rückschlüsse auf seine Pragmatik im Umgang mit dem Material. Unter Maßgabe der proklamierten Einheit von Bildauswahl und Text sind nun die Rekontextualisierungen der Präsentation der Fotografien in den drei Auflagen von Interesse. Unter „Kontexten der Präsentation“ verstehe ich mit Jens Ruchatz, „wie ein gegebenes Bild betrachtet werden soll“.46 Für diese Rezeptionslenkung fungieren die Briefe Brandenburgs an seinen Verleger als nicht-öffentlicher Paratext und sind Teil des Kontextes der Aufnahmen.

Abb. 2 ▲ Fotografien

Mit Text, Zeichnungen und Fotografien

im Kontext ihrer

etablierte Brandenburg drei Vermittlungs-

Repräsentation

systeme, denen er unterschiedliche Relevanz zusprach. Der Text bildete für den Schrift-

steller und Dichter die ranghöchste Instanz. Die Zeichnungen sind dadurch ausgezeichnet, dass viele von ihnen bei Treffen von Brandenburg und seiner Frau Dora Brandenburg-Polster mit Tänzer*innen im gegenseitigen Austausch über die Tanzkunst entstanden waren: „Ich lernte Tänzer kennen, ich lud sie zu mir ein, wir tauschten im Interesse des Werks unsere Gedanken und Erfahrungen aus. So arbeitete sich meine Frau tiefer in die Materie

179

Katja Schneider

47 Brief Brandenburg an Müller, 13.05.1913. Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. 48 Ebd. 49 Brief Brandenburg an Müller, 11.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

ein, als es anderen Künstlern bisher möglich war.“47 Zudem behielt sich Brandenburg in dieser Situation vor, zum nicht-zeichnenden Mit-Autor der Zeichnungen zu werden: „Ich konnte auf die Zeichnungen in der Weise einwirken, dass sie besonders gut und genau zu meinem Texte passen.“48 Er konstatierte einen integralen Verbund von Text und Zeichnung. Über vier Jahre habe er „einen streng einheitlichen Organismus“ und „unlösliche[n] Zusammenhang“49 geschaffen, der darin bestand, dass „die Zeichnungen viel mehr den

50 Ebd.

Text ergänzen und veranschaulichen, ja zum grössten Teil Hand

51 DMT 1921, 5.

in Hand mit dem Text entstanden sind und daher der Text nur

52 Brief Brandenburg an Müller, 11.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

deshalb so, wie er ist, und nicht anders ist, weil die Zeichnungen das Übrige sagen.“50 Die Zeichnungen konnten bereits während sie entstanden, für sein Schreiben funktionalisiert werden, die Fotografien hingegen nicht. Mit ihnen lagen Brandenburg fertige Dokumente vor, auf die er seine Sicht auf den Tanz – und darum ging es ihm – nicht einbringen konnte. Während die Zeichnung seine Perspektive produktiv ergänzen konnte, funktionierte das fotografische Dokument für ihn nur, wenn er es kuratorisch verwalten und in seinem Bedeutungsgehalt durch den Text quasi einhegen konnte. Hier deutet sich im Hinblick auf Repräsentanz und Pragmatik eine Medienkonkurrenzsituation an zwischen Textautor und Fotograf. Brandenburg erklärte seinem Verleger, der darüber möglicherweise aus Gründen der Verkäuflichkeit andere Vorstellungen hatte, und seiner Leserschaft, sein Buch sei kein Container für schöne Bilder, sondern sollte als ein Fachbuch oder Lehrwerk benutzt werden: „Dies Werk darf also nicht als Bilderbuch betrachtet werden, sondern sein Wortlaut muss von Anfang bis zu Ende durchgearbeitet werden.“51 Würde man ihn vor die Wahl stellen, so Brandenburg, „ent­­ weder alle Fotografien oder aber alle Zeichnungen auszuscheiden“, dann hätte er geantwortet, dass „höchstens die Fotografien weggelassen werden könnten“. 52 Er schätzte die Zeichnungen höher, gleichwohl nutzte er Fotografien, um durch ihre Komposition und Konstellation, Anzahl und Reihung der Bilder, instruktive Abstufungen der ästhetischen Qualitäten von Tänzer*innen vorzunehmen. Anders als die Zeichnungen, die nur reduziert, aber nicht aktualisiert wurden, wurde der fotografische Bildteil jeweils überarbeitet – was die Durchsetzungskraft des neuen Mediums bestätigt und Aufschluss über ideologische Aspekte in seinem Umgang mit den Fotografien gibt.

180

Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

53 DMT 1917, 7.

Vorrangig operierte Brandenburg mit vier Argumenten:

54 Ebd. 55 Das mag den problematischen Produktions­ umständen der Kriegszeit geschuldet sein: Verleger Müller – so schreibt er in seinen Briefen an Brandenburg – hatte schon am 13.11.1913 und am 15.01.1914 an einen Neudruck vor Weihnachten 1914 gedacht, sich aber redaktionelle Änderungen gewünscht. Zwecks Propaganda für die Erstauflage wollte er über 12000 Prospekte versenden (13.11.1913). Am 16.05.1914 regte Müller an, man könne gleich, vor Fertigstellung des Textes, „die Bilder drucken lassen“ und war offen für Veränderungen. Er schob schon am 25.08.1914 die Textkorrekturen an, auch wenn er das Buch nicht vor Weihnachten herausbringen wollte („weil jetzt Bücher überhaupt nicht gekauft werden“), aber im Falle eines raschen Kriegs­ endes produktionsbereit sein wollte. Am 12.02.1917 dann war der größte Teil des Textes „bereits imprimiert“, es fehlten nur noch die Entscheidungen über die Illustrationen. Am 03.10.1917 war die zweite Auflage dann in der Druckerei und sollte nebst Prospekt vor Weihnachten 1917 erscheinen. Briefe Müller an Brandenburg, Müller, Georg III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München.

Argument der Aktualität

Als die zweite Auflage 1917 mit Verspätung herausgebracht werden konnte, perspektivierte Brandenburg seine Darstellung als Rückschau. Im Text wird die zweite, vermehrte Auflage als aktuelles Produkt

„der Erfahrungen eines Jahres“53 bezeichnet. Diese Gegenwartsperspektive vollzieht sich in Form einer Rahmung seiner alten Kapitelgliederung mit einem „Nachtrag über Isadora Duncan“ und einem einleitenden „Vorwort“ zu den aktuellen Entwicklungen, „das den nachfolgenden Hauptteil in vielem vorwegnimmt und gar überholt, zugleich als Nachwort gelesen sein will“54. Hier bringt er Laban und Wigman textlich unter – widmet ihnen aber kein eigenes neues Kapitel –55, im Fototeil repräsentiert er sie mit 20 Abbildungen aus der Zeit bis 1914. In der dritten Ausgabe 1921 nimmt er davon noch einmal einen Anteil von elf Fotografien auf und ergänzt weitere elf neue Fotografien. Argument der Genre­ zuweisung und Relevanz für das Buch

Als Neuentdeckung kam in der zweiten Auflage Rita Aurel hinzu – textlich innerhalb des Vorworts – und wurde im Fototeil hinter Ellen

Tels und vor Jutta von Collande und damit in chronologischer Reihenfolge integriert. In der dritten Auflage 1921 wurde sie direkt im Anschluss an eine Serie früher Aufnahmen (1909/1912) von Sent M’ahesa platziert, gefolgt von Aufnahmen der Ballets Russes, und damit quasi vordatiert.

Abb. 3 ► Zugleich wird die vergleichende Charakterisierung beider Tänzerinnen im Text (identisch 1917 und 1921) nun durch die Doppel­ seitenkomposition 1921 verdeutlicht. Der gemeinsame Bezugspunkt wird zum einen durch das aufwendige Kostüm und den damit einhergehenden speziellen Schauwert, zum anderen durch die Silhouetten- und Posenhaftigkeit der Darbietung betont. Das sei mehr Theater als Tanz:

D o p p e l s e i t e 2 6 / 27, S e n t M ’a h e s a u n d R i t a A u r e l , i n : H a n s B r a n d e n b u r g , D e r m o d e r n e Ta n z , M ü n c h e n : G e o r g M ü l l e r, 19 21.

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Katja Schneider

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Bilder in Büchern. Z u d e n d r e i A u f l a g e n v o n H a n s B r a n d e n b u r g s D e r m o d e r n e Ta n z

Katja Schneider

56 DMT 1917, 19 und DMT 1921, 58f. (Hervorheb. i. O.). 57 Amort, Andrea (Hg.): Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne, Berlin: Hatje Cantz 2019, 345. 58 Brief Brandenburg an Müller, 13.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. Die beiden Fotos in der ersten und zweiten Auflage (eines von ihr, eines von der Gruppe) fehlen in der dritten Ausgabe. Die vier Zeichnungen von drei Stücken werden 1917 und 1921 auf drei Zeichnungen von zwei Stücken reduziert. 59 Ebd. Tatsächlich waren es dann insgesamt in DMT 1913 (und auch in DMT 1917) neun Fotos. 60 Ebd. Zu Leistikow und Brandenburg siehe de Boer, Jacobien: „,Sie lieber Hans Brandenburg‘. Gertrud Leistikow and Hans Brandenburg“, in: Dance Research, Vol 34, No 1 (summer 2016), 30–46. Zum Leistikow-Nacktfoto in DMT 1921 siehe Siegmund, Gerald: „Empfindung und Riss. Körper, Raum und Wahrnehmung in Tanzfotografien von Gertrud Leistikow und Grete Wiesenthal“, in: Tanzfoto­ grafie, hg. v. Jahn, Wittrock u. Wortelkamp, 129–138.

Rita Aurel gehört insofern etwa der ästhetischen Gattung der Sent M’ahesa an, als sie sich des Tanzes zu bestimmten Zwecken bemächtigt, und, ohne also eine eigentliche Tänzerin zu sein, doch solche Gebiete, die mit dem des Tanzes zusammenhängen, auf notwendige und fruchtbare Art bebaut. [...] die Vollendung ihrer Bewegung rein als Geste und selbst das Fehlen einer vordringlichen Mimik überzeugen, dass hier ihre Begabung auf dem Gebiet eines zukünftigen Theaters liegt.56 Argument der Quantität

Ellen Tels, „erste Exponentin des modernen Tanzes, die eine professionelle Tanzgruppe gründete“57, die in der ersten und zweiten Auflage genannt und gezeigt wird (von Moskau aus tourte sie 1913 europaweit),

wertete Brandenburg als die Künstlerin mit den besten Gruppentänzen. Leider hatte er von ihr keine guten Fotos; Brandenburg verhandelte im Mai 1913: „Die Leistungen der Ellen Tels werden in meinem Text von allen bisherigen Gruppentänzen am höchsten eingeschätzt. Alle Fotografien dieser Tänze aber sind bis auf eine schlecht und nichtssagend. Es ist aber unmöglich, dass diese wichtigen Tänze nur in einer einzigen Abbildung gezeigt werden.“58 Argument der Qualität

Vor dem Debüt von Clotilde von Derp 1910 wurden diverse Werbemaßnahmen unternommen, basierend auch auf Fotos von Stephanie Ludwig und Wanda von Debschitz-Kunowski, auf denen die Tänzerin

in Schreit-Posen und in innovativen Tanzkleidern inszeniert ist. Von diesen bringt Brandenburg eines sowie drei Serien des tanzfotografisch innovativen Hugo Erfurth von 1912, insgesamt „etwa ein Dutzend Fotografien“59, obwohl er Derp als Tänzerin nur eine begrenzte Bedeutung zuerkannte. Von Gertrud Leistikow, die er als die „bei weitem grösste Solotänzerin“ schildert, nimmt er nur drei Fotografien (ebenfalls von Hugo Erfurth) auf, „weil ihre Eigenart in Fotografien garnicht festgehalten werden kann und hier eben die Zeichnung einsetzen muss.“60 In der dritten Auflage dann reduziert er bei Derp auf acht Fotos und erhöht bei Leistikow auf neun plus ein Aktbild. Auch bei den Solo-Motiven Alexander Sacharoffs hat er auf drei verzichtet. Zudem kennzeichnet er Derp und Sacharoff als historische Figuren, insofern er aktuelles Bildmaterial ihrer Auftritte in der Schweiz nicht aufnahm oder nicht zur Verfügung hatte (die

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61 Umfassende Werkbiographien und eine Fülle an Fotografien finden sich in Peter, Frank-Manuel u. Stamm, Rainer (Hg.): Die Sacharoffs. Zwei Tänzer aus dem Umkreis des Blauen Reiters, Köln: Wienand 2002. Vgl. das Auftrittsverzeichnis des Sacharoff Archivs des Deutschen Tanzachivs Köln: https:// www.sk-kultur.de/tanz/ sacharoff/seiten/auftritte. html (zuletzt geprüft 3.1.2022)

weltweiten Auftritte starten 1920)61, weshalb sie fotografisch einge-

62 Brandenburg: München leuchtete, 265, sowie DMT 1917, 197.

dem Münchner Hof-Atelier Elvira und wurde 1902 oder 1903 ange-

63 Dies formuliert Brandenburgs Text verschiedentlich. Auch Schur 1910 beginnt mit einem Bild der Duncan. Vgl. hierzu Wortelkamp, Bilder von Bewegung, Kap. II. 3.1.

froren blieben in ihren Tänzen der frühen Münchner Zeit bis 1914. Resonanz zwischen Individualität und Serialität

Kuratorische Kategorien bei der Selektion und Kombination der Fotografien wären genauer zu analysieren. Brandenburg eröffnet seinen Bildteil mit Isadora Duncan. Die hatte er 1908 in

München, bei einer Aufführung der Kindertanzschule, tanzen sehen und dann noch einmal 1913 in Berlin zur Aktualisierung der zweiten Auflage.62 Das einzige Duncan-Foto aller drei Auflagen stammt aus fertigt, in der frühen Zeit nach ihrem Münchner Deutschlanddebüt. Es rückt in seiner Singularität die Duncan, als Begründerin des neuen freien Tanzes, in eine historische Distanz.63 Auch in seiner fototechnischen Statik und zart-reduzierten Bewegungssprache – speziell im Kontrast zu den unmittelbar folgenden Bilder-Serien der Schwestern Wiesenthal. Ein fulminantes, auch als Fotopostkarte

64 Einen breiten Überblick über die Tanzfotografien der WiesenthalSchwestern bietet Fiedler, Leonhard M. und Lang, Martin (Hg.): Grete Wiesenthal. Die Schönheit des Körpers im Tanz, Salzburg: Residenz 1985.

verbreitetes und vielfach abgedrucktes Motiv, bei dem fünf Beine in

65 Mit der zweithöchsten Anzahl an Motiven (22) ist in DMT 1913 Hugo Erfurth vertreten, der Meister der frühen Tanzfotografie. Zu den Münchner Fotograf*innen – Wanda von Debschitz-Kunowski (9), Stephanie Held-Ludwig (6), Heinrich Hoffmann (10) u. a. – kommt in DMT 1917 prominent Hanns Holdt (17) hinzu, der seit 1912 in München arbeitet und fast alle Protagonist*innen des modernen Tanzes fotografiert hat. Vgl. die Digitale DANCE History Tour im Rahmen des Festivals DANCE, 6.–16.05.2021, www.dance-muenchen.de (zuletzt geprüft 3.1.2022).

mit 25 Fotos der weitaus am häufigsten im Buch vertretene Foto-

66 Zu Brandenburgs Foto-Kombinatorik, und speziell am Beispiel der Schwestern Wiesenthal siehe Wortelkamp, Bilder von Bewegung, Kap. II. 3.2.1.

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der Luft schweben, ein Fuß sich dreht, stammt aus der von Brandenburg 1908 gekauften Serie von Momentaufnahmen, die der Wiener Fotograf Rudolf Jobst unter vollem Sonnenlicht auf einem Tennisplatz aufgenommen hatte (die Linien waren wegretuschiert).64 Das Atelier Jobst (und damit Motive der Schwestern Wiesenthal) ist graf.65 Brandenburg schafft – aus dieser einen Serie (des LannerSchubert-Walzers) und der vielen anderen Wiesenthal-Motive aus weiteren Bilderserien – in seiner eigenen seriellen und komposito­ rischen Anordnung Blickinstruktionen und tanzästhetische Resonanzen, was bereits dadurch deutlich wird, dass er auf der zweiten Seite des Bildteils, der ersten Wiesenthal-Seite, das genannte Motiv mit einem darüber stehenden anderen Motiv derselben Serie kombiniert, das deutlich schlechter reproduziert ist. Das Kriterium ist hier also nicht Bildqualität, sondern Bewegungssprache.66

Abb. 4 ► Was die fotografische Repräsentation der Labanschule und Mary Wigmans betrifft, konnte Brandenburg 1917 zunächst nur auf Fotos des Münchner Ateliers Hanns Holdt aus dem Jahr 1914 zugreifen sowie auf sein eigenes Fotoalbum, das er zur Erinnerung an die Katja Schneider

67 Meisenbach ist in DMT 1917 prominent mit 17 Aufnahmen vertreten. Im Vergleich zu den – heute kanonischen – farbigen Autochromplatten aus dem Nachlass von Suzanne Perrottet (im Kunsthaus Zürich) handelt es sich bei Brandenburgs eigenen Fotos und Abbildungen im Buch um weniger qualitätvolle Schwarz-Weiß-bzw. Sepia-Abzüge. Vgl. https:// opac.kunsthaus.ch/libero/ WebOpac.cls?VERSION= 2&ACTION= AUTHOR&RSN= 78931&DATA= ZUR&TOKEN= zR8NeFQx869045&Z=1 (zuletzt geprüft 3.1.2022).

Seite aus einem Fotoalbum von Hans Brandenburg, hier Mar y Wigman am Ufer des L ago Maggiore, fotografier t von Johann Adam Meisenbach, 1914 , © M ü n c h n e r S t a d t b i b l i o t h e k / M o n a c e n s i a , H B   F  19 .

gemeinsame Zeit auf dem Monte Verità zusammengestellt hatte. Die Aufnahmen der Tanzimprovisationen und Gruppenarrangements stammen vom Laban-Schüler Johann Adam Meisenbach.67 Die Komposition der Wigman-Motive in weißem Tanzkleid am Seeufer im Bildteil des Buches entspricht nun nicht mehr der Reihenfolge und Anordnung im privaten Album, auch wenn Brandenburg sie alle übernommen hat. Auch haben die im Album prominent mit Rotstift-Kreuz markierten Motive der Laban-Gruppen nicht alle ins Buch Eingang gefunden; die meisten, auch nicht angekreuzten freilich schon. In der schon erwähnte Doppelseiten-Komposition durch Druck der Abbildungen auf Vorder- und Rückseiten in der Ausgabe von 1921 wird, bei reduzierter Anzahl der Motive, wiederum

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68 Die formiert nun mit der neu aufgenommenen Sprungaufnahme von Gertrud Leistikow im Freien eine Doppelseite zum Thema Nackttanz in der Natur. Vgl. Siegmund: „Empfindung und Riss“. 69 Das erste Buch, das auf Laban hinweist und auf seinen Tafeln „in Mattkunstdruck“ auch Fotos der Labanschule präsentiert, ist Winther, Fritz: Körperbildung als Kunst und Pflicht. Vorwort von Prof. Aug. Forel, München: Delphin 1914. 70 Brandenburg an Müller, 11.05.1913, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. G r u p p e n a u f n a h m e d e r L a b a n s c h u l e a u f d e m M o n t e Ve r i t à , a u s d e m F o t o a l b u m v o n H a n s B r a n d e n b u r g , f o t o g r a f i e r t v o n J o h a n n A d a m M e i s e n b a c h , 1914 . D i e s e s M o t i v e i n e r A u f n a h m e s e r i e w u r d e n i c h t i n B r a n d e n b u r g s P u b l i k a t i o n 1917 ( B i l d t e i l S e i t e 74 ) ü b e r n o m m e n . © M ü n c h n e r S t a d t b i b l i o t h e k / M o n a c e n s i a , H B   F  19 .

teilweise die Abfolge der Wigman-Motive variiert. Damit wird die Tänzerin Wigman im Buch tanzhistorisch-archivalisch ausgezeichnet im Kontext der Konstellation 1914 auf dem Monte Verità. Denn Brandenburg hat aus seiner Publikation 1921 alle (bis auf eine)68 damaligen Gruppenaufnahmen der Labanschüler*innen ausgeschieden, auch die mit Laban selbst. Motive der Sommerschule 1914  – und die Demonstration der Arbeit der Münchner Schule zuvor, ebenfalls 1914 fotografiert von Hanns Holdt69– werden aktualisierend ersetzt durch Tanzübungen der Zürcher Labanschule.

Abb. 5 ▲ Brandenburgs Umarbeiten hatte den Anspruch, mit der Entwicklung des modernen Tanzes Schritt zu halten – in Text, Zeichnung und fotografischer Abbildung. Dabei hatte er die Distribution seines Werks durchaus im Blick und ärgerte sich, dass die erste Auflage nicht wie geplant zu den Hellerauer Schulfesten im Juni 1913 fertig geworden war. „Ausserdem können diese neuen Schulfeste und jeder Monat so Neues bringen, dass ein Umbau des Werkes nötig wird.“70 Die Umstellungen, die Brandenburg vornahm, reagierten zunächst auf quasi tagesaktuelle Entdeckungen, entsprechende

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Katja Schneider

71 Brief Brandenburg an Müller, 22.06.1914, Nachlass Brandenburg, A III/Konv., Monacensia Literaturarchiv München. 72 Textsatz und „Platten der neu hinzugefügten Bilder“ seien auf dem Stand von Sommer 1914, bemerkt Brandenburg in seiner Vorbemerkung vom März 1917. Er habe am Ganzen nichts mehr geändert, denn „die Kriegsjahre ließen die Entwicklungen, die ich schilderte, scheinbar stillstehen“. DMT 1917, [6]. 73 DMT 1921, Vorwort, 1–5, hier 1.

Neubewertungen des Bestandes und auch auf spezielle Publika. Ziel war es, im Verbund von Text und Abbildungen aktuell zu bleiben: Ich schrieb Ihnen, dass ich, um mein Werk auf der Höhe der Zeit zu erhalten, 10 alte Tafeln ausschalten und 30 neue einfügen muss, und fragte Sie, ob Sie damit einverstanden sind. Ich bitte dies nun zu beantworten, Sie hatten mir ja schon 20 neue Tafeln zugestanden, und um mehr handelt es sich ja also nicht, da die 10 wegfallen. [...] Ehe Sie mir die Erfüllung dieser mehr als berechtigten Wünsche nicht klar garantieren, kann ich Ihnen Manuskript und Bilder nicht schicken.71

74 Ebd.

Der Brief datiert vom 22.06.1914. Er ist die letzte Quelle in diesem

75 DMT 1921, „Vorwort“, 1–5, hier 2 (Hervorheb. i. O.).

Brief konvolut. Hier, bei den Vorbereitungen zu seiner zweiten Auflage, befand sich Brandenburg tatsächlich auf der Höhe der Zeit – wäre das Buch wie geplant 1914 erschienen.72 Für die dritte Auf lage 1921 tauschte er Aufnahmen von Gertrud Falke aus, nahm Bilder der Tänzerinnen Niddy Impekoven und Edith von Schrenck neu auf, auch die Schule Magda Bauer und drei Beispiele der Lohelandschule sowie zwei seltsam duncanesk-jugendstilhafte Fotos eines Harfentanzes Primavera der 1919 gegründeten Münchner Tanzgruppe um Andreas P. Scheller und Jutta von Collande. Weitere Protagonistinnen wie etwa Valeska Gert – die seit 1917 auftrat und dabei auch fotografisch vielfältig dokumentiert war – fehlen allerdings. In der dritten Auflage verkündet Brandenburg auch den vorläufigen Abschluss seines Projekts: „Es darf gesagt werden, dass der moderne Tanz das vorliegende Buch geschaffen hat und sich in ihm vielleicht auch seines eigentlichen Sinnes und letzten Zieles bewusst geworden ist. Die Entwicklung des modernen Tanzes gelangte inzwischen zu einem Abschluss […].“73 Die Serialität und Offenheit des Bildteils – wobei die Bildauswahl in Vielem der Vorkriegszeit verhaftet blieb – ist in der Lage, „spätere Erweiterungen zu vertragen“74, was Brandenburg auch für seinen Text in Anspruch nimmt, aber nicht mehr realisiert. Er proklamiert nämlich auch, „dass über den modernen Tanz nur ein Buch möglich und dass dieses schon geschrieben ist.“75 Somit lässt das erstmals erstellte Namens- und Sachverzeichnis die Ausgabe von 1921 quasi als abgeschlossenes tanzhistorisches Kompendium erscheinen.

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Absolutes Substitut: Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und Sebastian Drostes Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase (1923) Lucia Ruprecht

1 Schnakenberg, Sabine: Dora Kallmus und Arthur Benda. Einblicke in die Arbeitsweise eines foto­ grafischen Ateliers zwischen 1907 und 1938, Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Kiel 2000, 61.

Mein Aufsatz widmet sich dem Verhältnis von Tanz und Fotografie

2 Vgl. ebd., 54–60; deswegen die Signatur „d’Ora-Benda“ auf den Aufnahmen der ersten Werkphase. Auch wenn eine technische Ausbildung zur Fotografin Anfang des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich war, wäre es für die Amateurfotografin Kallmus nicht unmöglich gewesen, eine solche zu erhalten. Sie entschied sich stattdessen, Theoriekurse an der Wiener Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt zu belegen. Kallmus war Mitglied des Wiener Photo-Clubs, hospitierte einen Sommer lang in der Nähe von Wien bei dem Fotografen Hans Makart und erhielt 1906 ihre Gewerbeberechtigung als Fotografin. Sie absolvierte von Januar bis Juni 1907 ein dreimonatiges Praktikum im Berliner Atelier von Nicola Perscheid, wo sie dessen damaligen Assistenten Benda kennenlernte und für ihr Projekt eines eigenen Ateliers gewinnen konnte.

Namen und Ruhm vom treffsicheren Inszenierungstalent seiner

3 Vgl. ebd., 98: „Sein [d.h. Bendas] Arbeitsanteil an der einzelnen Aufnahme beinhaltete die genaue Beobachtung der von Kallmus gelenkten und provozierten wechselnden Äußerungen des in das Ambiente eingepassten Kunden vor der Kamera, dessen Bewegungen und Mienenspiel er schon deshalb mit äußerster Konzentration zu verfolgen hatte, weil er und nicht Kallmus jede einzelne Aufnahme der Sitzung exponierte.“ 4 Vgl. Faber, Monika: Madame d’Ora: Wien – Paris. Porträts aus Kunst und Gesellschaft

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bei einer Fotografin, die zumindest zu Beginn ihrer Karriere genau genommen keine Tanzfotografin war, obwohl ihr Œuvre nicht wenige Aufnahmen von Tänzerinnen und Tänzern umfasst. Denn in der Werkphase, um die es im Folgenden gehen wird, sehen wir Posen statt Bewegung. Gemeint ist Dora Philippine Kallmus, deren Atelier d’Ora (oder auch Madame d’Ora), 1907 in Wien gegründet, Eigentümerin bezog. Während Kallmus sich auf die „gestalte­ rischen Aspekte“1 der Atelierarbeit konzentrierte, Kundinnen und Kunden betreute, entspannte und drapierte, war es ihr Assistent Arthur Benda, der sich mit allen technischen Belangen der Bildproduktion befasste. 2 In genauer Abstimmung mit der Bildregie von Kallmus kümmerte sich Benda um die Exposition und bediente die Kamera in der Aufnahmesituation.3 Die komplementäre und überaus erfolgreiche Zusammenarbeit von Kallmus und Benda dauerte bis 1926. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits ein neues Atelier in Paris, wohin sie 1922 umgezogen waren, ein Wechsel, den Benda letztlich nicht guthieß und der ihn zum Rückzug nach Wien bewog. 4 Erst nach dem zweiten Weltkrieg verließ Kallmus den Kontext ihrer Ateliers, fotografierte in Flüchtlingslagern und erstellte die zwei herausragenden Arbeiten ihres Spätwerks: die sogenannten Schlachthof-Serien und die Serie zum Grand Ballet du Marquis de Cuevas, beide um die Mitte der 1950er Jahre in Paris und Monte Carlo entstanden, als sie schon über siebzig Jahre alt war.5 In den 1920er Jahren jedoch war Kallmus berühmt für ihre glamourösen Modeaufnahmen und ihre Gesellschafts- und Künstler*innen-Porträts, darunter viele ikonisch gewordene Bilder von Tänzerinnen und Tänzern. Neben Aufnahmen von Anna Pavlova, Niddy Impekoven, Yvonne Georgi, Harald Kreutzberg und anderen finden sich in ihrem Werk auch diverse Fotografien von Anita Berber und Sebastian Droste, die im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen werden. Ein Teil dieser Fotos ist 1923 in Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase im Wiener Gloriette Verlag erschienen. Der Buchtitel nimmt den exakten Titel des Programms auf, mit dem das Paar durch Theater, Bars und Varietés tourte und im Winter 1922/23 in Wien seine größten Triumphe feierte. Es sind sechzehn Abbildungen von Berber und ihrem zeitweiligen Tanzund Ehepartner Droste, die für den Band herausgesucht wurden.6 Absolutes Substitut : Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und S e b a s t i a n D r o s t e s D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e ( 19 2 3 )

1907 – 1957, Wien: Christian Brandstätter, 1983, 31. 5 Kallmus war zum Katholizismus konvertierte Jüdin. Sie wurde von den Nationalsozialisten enteignet, versteckte sich während des dritten Reichs in Südfrankreich und verlor ihre Schwester im Holocaust. Es ist davon auszugehen, dass diese Erfahrungen Einfluss auf ihre fotografische Ästhetik nach 1945 hatten. Zur späten Ballettfotografie und ihrer verstörenden Nähe zu den Schlachthausbildern, vgl. Sykora, Katharina: „Das Morbide und das Exzentrische. Brüchige Texturen und liminale Figuren bei d’Ora“, in: Machen Sie mich schön, Madame d’Ora. Dora Kallmus, Fotografin in Wien und Paris 1907–1957, hg. v. Monika Faber, Esther Ruelfs u. Magdalena Vukovi´c, Wien: Brandstätter 2017, 253–267. 6 Es gibt keinen Beleg, aus dem hervorgehen würde, wie diese Auswahl zustande kam, ob Berber und Droste sie alleine trafen, ob Kallmus involviert war, oder ob der Verlag die Bilder ausgesucht hat. Da das Buch keinen Herausgeber*innen-Namen angibt, ist vermutlich davon auszugehen, dass Berber und Droste zumindest ein Mitspracherecht hatten. 7 Kempe, Fritz: Nicola Perscheid, Arthur Benda, Madame d’Ora, Hamburg: Museum für Kunst und Gewerbe, 1980, 30. 8 Jenˇ c ík, Joe: Anita Berber. Studie, aus dem Tschechischen von Silke Klein, hg. v. Martin Stiefermann (MS Schrittmacher), München: K. Kieser 2014, 23. 9 Amort, Andrea: „D’Oras Vorliebe für kapriziöse Tanz-Posen. Fünf Mikrostudien“, in: Machen Sie mich schön, Madame

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Wie auch alle anderen Fotografien, die Kallmus gemeinsam mit Benda in den 1920er Jahren von Tänzerinnen und Tänzern erstellte, sind auch diese in ihrem Studio entstanden und hatten keinesfalls die Intention, Bewegung im tänzerischen Vollzug wiederzugeben. Noch in den 1950er Jahren, als Kallmus ein Interesse an Bewegungsaufnahmen entwickelt hatte, schreibt sie in einem Brief an ihren Vertrauten und späteren Nachlassverwalter Willem Grütter über ihre Arbeit mit der Cuevas-Kompanie: Wie die Flöhe entspringen mir die Tänzer ohne ihr Ver­ schulden […] ich tröste mich in meinen Depressionsanfällen, daß dies meine letzte große Arbeit ist […] ich weiß nur, daß ich im Leben kaum mehr Lust haben werde, je ein Ballett wieder zu sehen.7 Mit Blick auf diese Entwicklung erstaunt es nicht, dass sich die Aufnahmen von Berber und Droste auf nur sehr reduziert tänzerische Arrangements konzentrierten. Kallmus wählte als Motiv beispielsweise nie „die große vierte Position“, die als „einzigartiges Merkmal“ von Berbers Choreografien beschrieben und mehrfach bildlich festgehalten wurde. 8 Des Weiteren ist es nicht überraschend, dass Kallmus die Statik ihrer Aufnahmen mit einer durch die Spezifik von Pose, Kleidung und manchmal auch Accessoires hergestellten Theatralität auflud, da eine solche  – in Gradierungen – auch ihre Gesellschaftsporträts auszeichnete. So schreibt etwa Andrea Amort: Im Fall von d’Ora hat man es mit einer Künstlerin zu tun, die aus tanzhistoriografischer Sicht dann interessant ist, wenn sie theatralische, fantasievolle Foto-Kunst erzeugt. […] Mit der Wiedergabe dynamischer Bewegung als Dokument hat dieses Unterfangen aber meist wenig zu tun.9 Was wir vor uns haben sind Porträts von Berber und Droste, die entweder unbekleidet oder in auffallende Kostüme gehüllt sind und wenig raumgreifende, jedoch markante Ganz- oder Halb­ körperposen einnehmen, von denen nicht klar ist, ob sie so auch auf der Bühne zu sehen waren.10 Damit besetzt Kallmus eine Position der Bewegungs-aversiven Fotografie weniger von Tanz als von Tänzer*innen, die nicht auf fehlenden technischen Möglichkeiten, Lucia Ruprecht

d’Ora. Dora Kallmus, Fotografin in Wien und Paris 1907–1957, hg. v. Monika Faber, Esther Ruelfs u. Magdalena Vukovi´c, Wien: Brandstätter 2017, 117–127, hier 117. 10 Kallmus habe, so Amort, „ausgefeilte Posen festgehalten, die scheinbar Typisches zu den jeweiligen Tänzen suggestiv mittransportieren. Es gibt keinen Beweis dafür, dass auch nur eine dieser Posen exakt in den Tänzen zu sehen war.“ Die Foto-Pose sei mithin nicht der Tanz, „aber sie bewirbt ihn.“ Ebd., 122 u. 124.

sondern auf einer ästhetischen Entscheidung beruhte.11 Diese steht klar im Gegensatz zu den Auffassungen von Tanzdenkern wie Hans Brandenburg oder Rudolf von Laban, die den medialen Status von Tanzbildern abwerten,12 beziehungsweise an Fotografie nur in dem Maße interessiert sind, in dem sie eine „Raumspannung“ zu illus­ trieren vermag, die ein „Vorher und Nachher“ erahnen lässt und somit zu einem „erträglichen Andeutungsmittel tänzerischer Bewegung“ werde.13 In Abgrenzung zu solchen Einschätzungen von Foto­grafie als defizitärem Ersatz oder Andeutungsmittel von Tanz vertritt Kallmus eine Ästhetik des absoluten Substituts, so meine These: Die Aufnahmen ihrer ersten Werkphase lassen die Logik einer immer schon ungenügenden fotografischen Repräsentation von Bewegung hinter sich, um zusammen mit den raffiniert platzierten Körpern

11 Vgl. Töpfer, Karl: Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1910– 1935, Berkeley: University of California Press 1997, 376.

diese Repräsentation selbst als das Eigentliche in Szene zu setzen.14

12 „Bilder zu geben kann aber nicht die Aufgabe der Tanzkunst sein, weil sie damit nichts Besonderes, ihr allein Eigenes gäbe.“ Brandenburg, Hans: Der moderne Tanz, München: Georg Müller 1921, 58. Ich danke Katja Schneider für diesen Hinweis.

unabhängig bleibt. Da diese Herangehensweise ein vermeintlich

13 Laban, Rudolf von: Die Welt des Tänzers: Fünf Gedankenreigen, Stuttgart: Walter Seiffert 1920, 257.

Kallmus folgt hier einer Herangehensweise, die über die Assoziierung der Abgebildeten mit ihrer Profession zwar noch auf den Tanz referiert, diesen jedoch „vollständig substituiert“15 und so von ihm Primäres – die Abbildung von Tanz als Tanz – mit einem vermeintlich Sekundären  – der Abbildung von Tanz als Pose – ersetzt, möchte ich sie eine fetischistische nennen. In der Wechselwirkung mit der ihrerseits schon fetischistischen Ausrichtung der Arbeiten von Berber und Droste entsteht so eine überaus effektvolle Synergie. Die Tänze des Lasters,

Berber und Droste stiegen auf Kall-

des Grauens und

mus’ Interesse an Arretierung nicht

der Ekstase im Buch 14 Somit gilt für Kallmus’ Arbeiten in hohem Maße, was Isa Wortelkamp generell für den die dokumentarische Funktion komplementierenden künstlerischen Anteil von Tanzfotografie beschrieben hat: „[P]hotography goes beyond the depiction and fixation of a ‘real’ moment and can be seen as an artwork that follows the artistic perspective of a photographer“. Wortelkamp, Isa, „Scratches, Holes, and Spots. Decay and Disappearance of Early Dance Photography“, in: Text, Image, Performance, Forum Modernes Theater 32/2, hg. v. Jan Lazardzig, Tübingen: Narr Francke

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und auf der Bühne

nur ein, sie scheinen die inszenierte Statik der Aufnahmen für ihre Pub-

likation sogar noch weiter betont oder sich zumindest nicht gegen sie entschieden zu haben, insofern der Verlag ihnen ein Mitspracherecht gewährte. Denn wenn es, soweit das zu erschließen ist, eine Auswahl an Aufnahmen zum jeweils selben Kostüm und Tanzthema gab, wurden die posenhaftesten und am wenigsten dynamischen Fotografien herausgesucht.16 Nachzuvollziehen ist das beispielsweise an den im digitalen Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek einzusehenden Fotografien zum Tanz Astarte, von denen eine zurückgenommenere anstatt einer exaltierteren Standpose ausgewählt wurde.17 Die sechzehn „Photobildnisse“18 des Buches zeigen Berber und Droste auf drei Aufnahmen zusammen, auf zwei Aufnahmen ist Droste alleine zu sehen, die restlichen elf widmen sich Soloposen von Berber. Es fällt Absolutes Substitut : Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und S e b a s t i a n D r o s t e s D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e ( 19 2 3 )

Attempto 2021, 254–263, hier 254.

auf, dass die Fotografien alle vor schlichtem Hintergrund gemacht

15 Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg: Rowohlt 2006, 393.

der Zeit nicht untypisch ist. Sie bieten jedoch eine große Spannbreite

16 Es ist festzuhalten, dass die Dramaturgie der Aufnahmen in ihrer Anordnung der Körper, der Blickrichtung, der Auswahl der Accessoires usw. mit Sicherheit sowohl den Vorstellungen von Berber und Droste als auch denen von Kallmus entsprach, wobei die Ansichten der Fotografin und ihres Assistenten sehr wahrscheinlich ausschlaggebend waren. Zur von Kallmus und Benda dominierten Situation der „Beratungsgespräche“ im Atelier d’Ora, vgl. Schnakenberg: Dora Kallmus und Arthur Benda, 81. 17 Vgl. Abbildung 1, auch Mediennummer 00339015, „Bildnis in Nackttanzpose ganze Figur stehend, 3/4 links“ statt Mediennummer 00501247, „Die leicht bekleidete Anita Berber in Tanzpose, mit Kopfschmuck“. https://onb. wg.picturemaxx.com/? 16756386081222671803 (zuletzt geprüft 10.1.2022). 18 Berber, Anita, Droste, Sebastian: Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, Wien: Gloriette 1923, 73. 19 Schnakenberg: Dora Kallmus und Arthur Benda, 83. 20 Berber, Droste: Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, 17.

sind: ein Vorhang, ein Stück Parkettboden, so, wie es für Aufnahmen an Kostümierungen – einschließlich der fast nackten Körper – die womöglich nur teilweise den Garderoben entsprachen, die Berber und Droste in ihren Tänzen des Lasters trugen. Die Aufmerksamkeit auf Kleidung war zentral für Kallmus, die, so hat es Sabine Schnakenberg dokumentiert, ihre Kundinnen und Kunden intensiv zu ihren Outfits beriet. Schnakenberg zitiert aus dem Katalog einer frühen Ausstellung von Kallmus’ Mode- und Porträtfotos im Jahr 1913: Es entspricht nicht der Eigenart der Künstlerin, mit den kargen Behelfen, welche die jeweilige Mode bietet, zu ar­­beiten. Mit losen, verschiebbaren Konturen nur erreicht sie ihre Zwecke, es ist daher unerläßlich, daß die Personen, speziell Damen, die von ihr portraitiert zu werden wünschen, weiche Stoffe, Pelze, Müffe, Abendmäntel, Shawls, Hüte etc. zur Aufnahme mitbringen, aus welchen Mme. d’Ora ihrer Individualität entsprechend künstlerische Bildnisse schafft.19 Dass diese losen, verschiebbaren Konturen nichts mit dem Wunsch nach dem Evozieren von Dynamik im Stillstand zu tun haben, sondern in ihren letztlich starren Arrangements dem folgen, was oben schon als eine fetischistische Logik bezeichnet wurde, wird noch zu betrachten sein. Den Angaben des Bildarchivs der österreichischen Nationalbibliothek zufolge wurden die Fotografien zwischen 1920 und 1922 aufgenommen, erschienen zunächst in Zeitschriften und, so kann angenommen werden, als Postkarten, um dann 1923 kurz nach den Wiener Auftritten im Gloriette-Buch, das diese Auftritte weniger dokumentierte als vielmehr mit einem künstlerisch bleibenden Anspruch versah, publiziert zu werden. Neben den Fotografien enthält das Buch Gedichte von Berber und Droste, einen kurzen Essay und die sogenannten „Legenden“20 der Tänze, ebenfalls von Droste, alles in expressionistisch-assoziativem Duktus; des Weiteren drei gezeichnete Selbstporträts von Berber, die ihren Kopf in stilisiertem Profil zeigen; sieben Zeichnungen von Harry Täuber, der Figurinen zur Bühnenausstattung beisteuerte, sowie einen erklärenden Essay des letzteren zu dieser Ausstattung, und schließlich noch einen weiteren Essay des Wiener Journalisten Leopold Wolfgang

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21 Vgl. Bildarchiv der österreichischen Nationalbibliothek, Mediennummer 00323972, „Anita Berber in einem langen Kleid mit tiefem Ausschnitt und Kopftuch.“ https://onb. wg.picturemaxx.com/? 16756386081222671803 (zuletzt geprüft 10.1.2022), und Fischer, Lothar: Anita Berber, Göttin der Nacht. Collage eines kurzen Lebens, Berlin: edition ebersbach 2006, 61. 22 Ebd., 99. Das Buch listet sechzehn Tänze, die bei Tanzabenden jedoch nicht vollständig und vermutlich auch in unterschiedlichen Kombinationen gezeigt wurden. Für eine Nachtvorstellung in den Kammerspielen Wien am 28.12.1922 werden elf Tänze genannt: Pritzelpuppen, Byzantinischer Peitschen­ tanz, Kokain, Märtyrer, Selbstmord, Vision, Ägyptischer Königssohn, Morphium, Haus der Irren, Astarte und Die Nacht der Borgia. Der Nachmittag, Wien, Donnerstag, 28.12.1922, 4. Soweit dies feststellbar ist, beziehen sich die Fotografien des Buches auf Pritzelpuppen, Byzan­ tinischer Peitschentanz, Kokain, Märtyrer, Selbst­ mord, Vision, Astarte und möglicherweise Morphium. 23 Vgl. die Dokumente zum Wiener Kritikerstreit, die Martin Stiefermann und sein Team zusammengetragen haben, unter Tanzfonds Erbe, Projekte 2013: Martin Stiefermann / MS Schrittmacher: Anita Berber – Retro/Perspektive, „Archivfunde“, https:// tanzfonds.de/projekt/dokumentation-2013/anita-berber-retroperspektive/ (zuletzt geprüft 10.1.2022). 24 Maßgeblich sind die Arbeiten Lothar Fischers, denen die erstmalige Veröffentlichung von substanziellem Archivmaterial zu verdanken ist; neben Anita Berber. Göttin der Nacht auch Anita Berber. Tanz zwischen Rausch

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Rochowanski, der eine Tirade gegen das sich für moralisch überlegen haltende bürgerliche Publikum von Nackttänzen beisteuert. Eindeutige Zuordnungen der Fotografien zu den einzelnen Tänzen sind nicht immer möglich. Die zehnte Abbildung im Buch etwa, die Berber sitzend in einem schlichten, tief dekolletierten Kleid zeigt, hat vermutlich gar nichts mit Die Tänze des Lasters zu tun, sondern ist ein schon im Herbst 1920 angefertigtes Rollenportrait von ihr, wahrscheinlich im Part der Lorenza im Film Der Graf von Cagliostro von Reinhold Schünzel. 21 Die Premiere des legendären Wiener Gastspiels von Berber und Droste, bei dem sie ihr Tanz-Programm zeigten, fand am 14.  November 1922 im Konzerthaus Wien statt; ein als einzige Vorstellung beworbenes Ereignis, dem dann doch noch viele weitere Vorstellungen folgten.22 Das Gastspiel war von Skandalen begleitet. Es ging nicht nur um die Entblößung der Darstellen­den, es entbrannte auch ein Kritikerstreit darüber, dass die musikalische Begleitung des Tanzes Selbstmord Beethovens Cis-Moll Sonate missbrauche; ständige Pressemeldungen beschäftigen sich mit Vertragsbrüchen des Tanzpaares, die nicht wie abgesprochen nur in einem weiteren, sondern in mehreren Etablissements auftraten, dazu kommen Diebstahlsvorwürfe an Droste, der wohl versucht hat, so die ausufernde Kokainsucht der beiden zu finanzieren.23 Gerade die populäre Berber-Forschung hat sich lange auf die, bei dieser Tänzerin nicht anzuzweifelnde, enge Verflechtung zwischen skandalöser Kunst und skandalösem Leben gestützt und ist insofern großenteils biografisch ausgerichtet. 24 Die Wiener Auftritte schöpften die publikumswirksamen Korrespondenzen zwischen der Ausstellung des Körpers und der des Privatlebens in der Tat so eindrücklich aus, dass eine das Bühnengeschehen überschreitende Performance entstand, die von Journalisten und Rezensenten kommentiert und weitergeschrieben wurde. Karl Töpfer spricht von der „most complex, significant, and memorable relation between nudity and dance to emerge between 1910 and 1935“. 25 Diese Beziehung zwischen Nacktheit und Tanz bleibt mehrschichtig und nicht-eindeutig auch dadurch, dass sich Berber aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Bühne nie vollständig auszog, 26 dafür aber umso mehr diskursiven Spekulationen Raum bot, die die Sichtbarkeit des weiblichen Körpers während der ersten großen Emanzipationswelle nach 1900 zum Politi­ kum machten. Kate Elswit hat dies zum Anlass genommen, die Absolutes Substitut : Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und S e b a s t i a n D r o s t e s D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e ( 19 2 3 )

und Tod. 1918 – 1928 in Berlin, Berlin: Haude & Spener, 1984. Vgl. auch Trimborn, Jürgen: „Tänze der Erotik und der Ekstase: Anita Berber (1899–1928)“, in: Tanzen und tanzen und nichts als tanzen. Tänzerinnen der Moderne von Josephine Baker bis Mary Wigman, hg. v. Amelie Soyka, Berlin: Aviva 2004, 91–104. Wie schon zu Lebzeiten Berbers wurde allerdings auch vielfach mythisiert, man denke an Titel wie Mel Gordon: The Seven Addictions and Five Professions of Anita Berber: Weimar Berlin’s Priestess of Depravity, Los Angeles: Feral House 2006. Demgegenüber zeigen neue tanzwissenschaftliche Zugänge, dass Berber nicht nur sensationelle Nackttänzerin, sondern auch ernstzunehmende Choreografin war. Martin Stiefermanns und Brit Rodemunds ausführlich recherchiertes choreografisch-wissenschaftliches Projekt Retro/Perspektive hat hier Bemerkenswertes geleistet. 25 Töpfer: Empire of Ecstasy, 83. 26 Ebd. 27 Elswit, Kate: Watching Weimar Dance, New York: Oxford University Press 2014, 62. 28 Vgl. ebd., 73. Zum epistemischen Wechsel um 1900 vom sexuell produktiven zum sexuell (zu) konsumierenden Körper in Richard von Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis (1886), einer Hauptschrift des Fetischismus, vgl. Stoff, Heiko: „Richard Freiherr von Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis (1886). Oder: Die Ordnung der Unordnungen als Markt der Lüste“, in: race&sex: Eine Geschichte der Neuzeit. 49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen, hg. v. Jürgen Martschukat u. Olaf Stieglitz, Berlin: Neofelis 2016, 279–286.

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Publikumsdiskurse, die sich um Berber rankten, als Dokumente zu betrachten, die obsessiv versuchten, das umstrittene ÖffentlichWerden ihres Privatlebens ebenso wie ihrer „private parts“ ökonomisch zu fassen und sie so im System der Warenzirkulation einzuhegen, wobei dies nie bis ins Letzte gelang: Zu idiosynkratisch, zu wenig „sanitized or abstracted“ war das, was geliefert wurde, um vollständig verdinglicht und konsumierbar gemacht zu werden. 27 Diese täuschende Vermarktung des tanzenden Körpers, an der Berber dezidiert auch selbst beteiligt war, liest Elswit in Ansätzen entlang der Prämissen eines Warenfetischismus, bei dem das Objekt – Berbers Warenkörper – seine Macht über den Konsumenten konsolidiert, indem es sich der von Letzterem vermeintlich gesteuerten ökonomischen Erfassung immer wieder entzieht.28 Von Elswit ausgehend möchte ich die historische Sexualisierung von Berbers und Drostes Privat- und Bühnenverhalten weder tanzwissenschaftlich außer Acht lassen, noch ausschließlich dem populären Feld zuschreiben, sondern eine Theoretisierung vorschlagen, die analytisch noch feingliedriger verfährt, als es bisher in der Forschung geschehen ist. Dies scheint mir besonders gut über die Lektüre einer Auswahl von Kallmus’ (und Bendas) Aufnahmen möglich zu sein. Denn der zwischen Tanz, Fotografie und Medienreflexion situierte visuelle Diskurs der Kallmus-Bilder zu Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase ermöglicht ein differenziertes Verständnis der fetischistischen Logik, die die von Töpfer genannte Signifikanz des Berberschen Beitrags zur Tanzund Nacktkultur der Weimarer Republik überhaupt erst auf einem theoretischen Niveau verstehbar macht. Vier fetischistische

Auch da, wo wie auf der ersten Abbil-

Fotografien

dung des Buches (s. Abb. 1) entkleidete Körper zu sehen sind, inszenieren diese Fotografien keine natürliche Nacktheit

nach dem Vorbild der Griechenbegeisterung des neoklassizistischen modern dance einer Isadora Duncan oder der Sommerfrischen auf dem Monte Verità bei Rudolf von Laban, die auch Anita Berber selbst von sich wies. „Ich bin keine Nackttänzerin“, deklarierte sie, und dies obwohl Leni Riefenstahl um 1916 noch während Berbers Ausbildungszeit bei Rita Sacchetto schwärmte, dass ihr Körper „so vollkommen“ sei, dass das, was sie als ihre leicht bekleidete „Nacktheit“ ansah, „nie obszön wirkte“.29 Dies sollte sich in den darauffolgenden Jahren Lucia Ruprecht

29 Fischer: Anita Berber, 31.

ändern. Wie oben schon angedeutet, sind die Gradierungen von

30 Stiefermann: Anita Berber – Retro/Perspektive, „Archivfunde“, https:// tanzfonds.de/projekt/ dokumentation-2013/anitaberber-retroperspektive/ (zuletzt geprüft 10.1.2022).

schreibt der Kritiker Konta der Mittags-Zeitung am 16.  November

31 Es ist möglicherweise davon auszugehen, dass Berber überhaupt nur auf Fotografien vollständig nackt war. 32 Astarte erschien auch in Fritz Freislers Film Irrlichter der Tiefe von 1923; Stiefermann hat die Film-Stills im Trailer zum Stummfilm Der Walzer von Strauß (1925) entdeckt, vgl. Anita Berber – Retro/ Perspektive, „Archivfunde“, https://tanzfonds.de/ projekt/dokumentation2013/anita-berberretroperspektive/ (zuletzt geprüft 10.1.2022). c ík: Anita 33 Jenˇ Berber, 18–20.

Berbers Nacktheit umstritten. Mit Bezug auf den Wiener Tanzabend 1922, dass „die Berber“ im Laufe der Vorstellung immer nackter und nackter werde, bis sie im Tanz Astarte schließlich „am nacktesten“ sei.30 Von diesem Tanz wissen wir allerdings, dass Berber in ihm zwar nur wenig bekleidet, aber nicht vollständig ausgezogen war, und dass gerade das Kostüm zu Astarte (s.  Abb. 2) das feminine Vokabular fetischistischen Körperschmucks durchbuchstabierte, mit Federbusch, Pailletten-Kappe, -Zweiteiler und Glitzer-Umhang, Perlenschnüren und Taillenkettchen, dessen Anhänger als Nabelcover fungierte.31 Bewegungstechnisch wird das Aufreizende der Choreografie auf der Fotografie nur zurückgenommen dargestellt, angedeutet durch die Schrittstellung, den nach oben angewinkelten linken Arm, der die Torso-Linie modelliert, und die bei entspanntem Bauch ganz leicht nach rechts vorgeschobene Hüfte. Der bauch­ gesteuerte Bewegungsimpuls war im eigentlichen Tanz ausgeprägter, wie aus den wenigen Film-Stills von Astarte aus dem verschollenen cík, der Dokumentarfilm Moderne Tänze zu schließen ist.32 Joe Jenˇ tschechische Tänzer, Choreograf, Pädagoge, Publizist und Filmschauspieler, daneben aufmerksamer Beobachter von Berber, dem wir den interessantesten und im Rahmen von Martin Stiefermanns Berber-Reenactment-Projekt neu übersetzten Essay zu ihr zu verdanken haben, schreibt Folgendes über den Tanz: Die Tänzerin schreitet verhaltenen Schritts Stufen hinab, die aus einer imaginären Höhe herabfallen. Sie trägt einen herrlichen Umhang, der Kopf wird umfächelt von einem stolzen Büschel wertvoller Federn. Sie bleibt mit einem nachdrücklichen Pas chassé stehen und schaut sich gebieterisch um. In einer fürstlichen Geste streift sie ihren Umhang ab und erscheint halb nackt in der Bleiche des Mondes. […] Die Hüften fast stöhnend, der Bauch nach vorn gestreckt, wie ein sinnlicher Reflektor.33

Abb. 1 ► D o r a K a l l m u s ( M a d a m e d ’ O r a ) , A n i t a B e r b e r u n d S e b a s t i a n D r o s t e „ M ä r t y r e r “ , i n : B e r b e r, Anita u. Droste, Sebastian: Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, Wien: G l o r i e t t e 19 2 3 , Ta f e l I , o h n e S e i t e n a n g a b e .

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Absolutes Substitut : Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und S e b a s t i a n D r o s t e s D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e ( 19 2 3 )

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34 Ebd., 20. 35 Zu einem zeitgleichen vitalistischen Beispiel von Nacktfotografie vgl. Gerald Siegmunds überaus aufschlussreiche Diskussion des Sprung-Bildes der nackten Gertrud Leistikow auf einer Wiese, das in Hans Brandenburgs Der moderne Tanz zu finden ist. Siegmund stellt klar den „Riss“ heraus, der auch auf einer vermeintlich Natürlichkeit intendie­ renden Aufnahme zwischen Körper und Landschaft entsteht und so auf eine hochgradig kalkulierte Inszenierung schließen lässt. Und doch geht es in der Leistikow-Aufnahme um eine andere Nacktheit als die der fotografierten Berber, die auf einen individuell fetischisierten Körper abzielt. Im Gegenzug dazu schreibt Siegmund mit Bezug auf Leistikow: „Gleichsam entpersönlicht wird der Blick des Betrachters auf den nackten Körper gelenkt, der zugleich entsinnlicht und abstrahiert dargestellt wird. Der nackte Körper rückt durch diese Art der Darstellung unmissverständlich ins Zentrum der Betrachtung. Dieser Körper zeigt sich und er zeigt ostentativ auf sich, indem er von der individuellen Person absieht, die ins Allgemeine der Geometrie überführt wird. Die Verbindung zwischen dem nackten ‚natürlichen‘ Frauenkörper und der natürlichen Landschaft (genaugenommen ist auch sie bereits eine Kulturlandschaft aus Wiesen und Bäumen), stellt sich einzig und allein über die kompositorischen Elemente und Äquivalenzen zwischen ihnen her. Der nackte Körper der Frau, die auf mehrfache Weise Natur symbolisiert, und die ihn umgebende Natur beziehen sich über ihre Formen und Prinzipien aufeinander und nicht aufgrund einer körperlichen Dynamis, einer Energie, einem Schwung, der den Körper in

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Auch wenn die vollständige Beschreibung noch weitere Schritte und Sprünge bezeichnet und dabei in einer für die Zeit unüblichen cíks Fachwissen deutenden Weise Balletterminologie und auf Jenˇ einsetzt wird klar, was für einen hohen Stellenwert das vestimentäre Element in der Performance einnahm; und wie die sexuellen Reize von Kostüm und Bewegung mit einer Ausdruckshaltung gepaart waren, die Sexualität gleichzeitig indirekt und Distanz gebietend verhandelte: „Der Tanz selbst wirkte asexuell, hoheitlich unnahbar, und die Frau lachte darin alle Männer aus.“34 In der ersten Fotografie des Buches (s. Abb. 1), die Berber und Droste gemeinsam zeigt, ist Berber unbekleidet bis auf ein schmales Fußkettchen am linken Knöchel zu sehen, das auf vielen Fotoaufnahmen von ihr zu erkennen ist und vermutlich ihr Privateigentum war. Kallmus, die selbst ganze Schmuckserien fotografierte, hatte daran offenbar nichts auszusetzen. Daneben entspricht Drostes lustvolle Qual imitierende Haltung und Mimik keinesfalls gängigen, lebensphilosophisch inspirierten Darstellungen heterosexueller, nackter Männlichkeit, auch sein expressionistisch überschminktes Gesicht mit der markanten Locke stellt Natürlichkeit in Frage; während Berbers zurückgelegter Kopf mit gleichfalls dunkel geschminkten Augen eine ebenso stilisierte und zur Pose gefrorene, sexuelle Ekstase suggeriert. 35 Das Bild wird mit dem Märtyrer-betitelten Tanz assoziiert, obwohl dieser in Programmzetteln als Solo von Droste angezeigt wird.36 Eventuell sehen wir hier also eine reine Studioaufstellung, eine in Zusammenarbeit mit Kallmus entstandene, formal in den Parallelen zwischen Drostes linkem abgewinkelten Arm und Berbers knienden Beinen, ihrer Rückwärtsbeugung und seiner Seitwärtsbeugung von der Fotografin absolut durchkomponierten, oder auch, wie Amort generell zu Kallmus’ Arrangements schreibt, von ihr „verbrämten“ Pose.37 Amorts Wortwahl – „verbrämen“, d. h. im ursprünglichen Sinn den Rand eines Kleidungsstücks mit Pelz verzieren – ist nicht unpassend, deutet sie doch darauf hin, dass die Fotografin bestehendes fetischistisches Potential noch weiter ausreizte. Denn als fetischistische lässt sich die künstlich gestellte Ekstase des Fotos auch insofern beglaubigen, als dass sie auf der dritten im Buch abgebildeten Aufnahme (s.  Abb. 3) durch eine nun vollständig bekleidete Pose metonymisch fortgeführt wird, in einer wiedererkennbaren aber doch soweit verschobenen Anordnung der Körper, dass Berber und Droste die Darstellung eines gegenseitigen Strangulierens ermöglicht wird. Bild III kann aller Wahrscheinlichkeit nach dem Tanz Absolutes Substitut : Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und S e b a s t i a n D r o s t e s D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e ( 19 2 3 )

die Landschaft einschreiben würde. Der Körper wird zur Idee von Natur, die dann erscheint, wenn der Körper sich entkörperlicht und transformiert.“ Siegmund, Gerald: „Empfindung und Riss. Körper, Raum und Wahrnehmung in Tanzfotografien von Gertrud Leistikow und Grete Wiesenthal“, in: Tanzfotografie, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp, Bielefeld: transcript, 2016, 129, 138, hier 132. 36 Vgl. Der Nachmittag, Wien, Donnerstag, 28.12.1922, 4. 37 Amort: „D’Oras Vorliebe für kapriziöse Tanz-Posen“ 124. 38 Berber, Droste: Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, 27–29. 39 Ebd., 22. 40 Im Gloriette-Buch ist die Figurine zu Märtyrer von Harry Täuber zu sehen (ohne Seitenzahl), auf der der männliche Körper tatsächlich von Pfeilen durchbohrt ist. 41 Vgl. Haitzinger, Nicole u. Ostwald, Julia: „Performative Queerness in Modernity. Ida Rubinstein as Saint Sébastien“, in: corpusweb 2018. https://www.corpusweb. net/ida-rubinstein-assaint-s-bastien.html

Selbstmord zugeordnet werden, da das heftig kritisierte Stück zu Beethovens Mondscheinsonate als Duett konzipiert war. Droste spricht in der Legende zu Selbstmord von der Zweigeschlechtlichkeit eines suizidalen Mannes und somit von der Realisation, im Erdrosseln des „Weibes“ in einem „schwarze[n] seidene[n] Pyjama“ Hand an sich selbst gelegt zu haben. In expressionistischer Reduktion ist da ein Weißer Kopf Blaugemalte Augen Ein geschminkter Mund Und flammende Haare Lustknabe und Freudenmädchen […] Aufsteigen der grünen gleißenden Sünde Der grausamsten herrischsten Lust Der Triumph des Todes Des Todes der Lust ist Geschlechtlichkeit Und Qual Steilstes Emporstellen der Giftblume […] Selbstmord Selbstmord Selbstmord.38 Die zweite Fotografie im Buch ist eine Halbkörperaufnahme der Szene auf Bild III, auf der vierten Abbildung sehen wir wohl Drostes Byzantinischen Peitschentanz, im Moment, in dem er sich einen Schal zur Selbst-Flagellation vom Hals zerrt, so ist es zumindest in der Legende zu lesen.39 Was wir zu Beginn der Bildserie des Gloriette-Buches vor uns haben sind queere, sadomasochistische Szenarien selbst- oder fremd-induzierter Lust­folter. In den Legenden erscheint der Märtyrer-Tanz unter dem Titel Der Heilige Sebastian40 und bezeichnet somit eine Fetischfigur des schwulen Imaginären, die Sebastian Droste (eigentlich Willy Knobloch) nicht nur zum Namensgeber wurde, sondern zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts beispielsweise auch in Thomas Manns Tod in Venedig, in einer Collage von Alexander Sacharoff und in Gabriele d’Annunzios Le Martyre de Saint Sébastien mit Ida Rubinstein in der cross-gender Hauptrolle auftaucht.41

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42 Böhme: Fetischismus und Kultur, 376. c ík: Anita 43 Jenˇ Berber, 28. 44 Ebd., 13–14. 45 Vgl. Elswit: Watching Weimar Dance, 60–62. 46 „Er war ein großartiger Regisseur: Alles, was in Anita lag, wirkliches Gefühl, echte Leidenschaft, er machte daraus eine Sensation, einen Bürgerschreck.“ Lania, Leo: Der Tanz ins Dunkel. Ein biographischer Roman, Berlin: Schultz 1929, 154. 47 Jenˇ c ík: Anita Berber, 54. 48 Ebd., 52–53.

Wie Hartmut Böhme in Fetischismus und Kultur gezeigt hat, wird der Fetischismus im Feld der Sexualität ab der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts „zum Paradigma aller Perversionen“ entwickelt, zu einer Art Überperversion, die auch die sogenannten „Inversionen“ einschließt. Am unfruchtbaren – und sehr bald auch als degeneriert und entartet bezeichneten – Fetischismus „tritt exemplarisch die Verweigerung des Fortpflanzungsgebots und damit die Pervertierung des ehelichen Normalismus zutage.“42 Jenˇ cík schreibt über die Wiener Tänze, sie sagten dem Publikum, dass die Berber „verheiratet sei, und zwar mehr oder weniger glücklich, mehr oder weniger – weniger natürlich.“43 Weniger natürlich bedeutet hier nicht nur, dass der Ehemann homosexuell war, die oft als geschlechtslos bezeichnete Ehefrau44 prononcierte les­­­bische Neigungen hatte. Es bedeutet auch, dass Berbers vermarktete Sexualität, ob alleine oder als Teil eines Paares, die Lust am nichtorganischen Accessoire einschloss, wie es die vielfach kolportierte Erzählung der nur mit einem Pelzmantel bekleidet ausgehenden Tänzerin vielleicht auf die Spitze trieb: à la Leopold von SacherMasochs Venus im Pelz oder Arthur Schnitzlers Fräulein Else.45 Es war offensichtlich Droste, der die fetischistische Drama­ turgie von Die Tänze des Lasters maßgeblich beeinflusste.46 Damit reagierte er jedoch auf Berber, die, so Jenˇ cík, selbst eine ausgesprochene Fetischistin war. Jenˇ cík detailliert hier keine sexuellen Praktiken, aber er beschwört die persönliche Vorstellungswelt einer „Materialistin“47, die von nahezu animistischem Aberglauben geprägt gewesen sei. Fetischismus wird als exotisch-primitivistische Weltanschauung dargestellt: Es sei Berbers Angst vor dem Tod gewesen, die sie dazu veranlasst habe, sich in ihrem Boudoir „wie eine Negerkönigin“ mit dem Gegenzauber von „Götzenbildern“, „Fetischen und Flitter“ zu umgeben, nicht auf ihre eigene Kraft und ihren eigenen Willen zu vertrauen, sondern diese gleichsam auszulagern und auf allmächtige Objekte zu übertragen.48 Schon 1919 schreibt ein Kritiker des Berliner Börsen-Couriers, dass Berbers Tanz „sich nicht mehr auf das Spiel des Körpers“ verlasse, zu „Requisiten und zum Arrangement“ greife: „Sie trug von außen Mätzchen heran.

Abb. 2 ► D o r a K a l l m u s ( M a d a m e d ’ O r a ) , A n i t a B e r b e r „ A s t a r t e “ , i n : B e r b e r, A n i t a u . D r o s t e , S e b a s t i a n : D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e , W i e n : G l o r i e t t e 19 2 3 , Ta f e l V I I I , o h n e S e i t e n a n g a b e .

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49 Berliner BörsenCourier, 25.1.1919, zitiert in Fischer: Anita Berber, 40. 50 Es ist zu vermuten, dass Berber nicht nur Exotismus, sondern auch die weit verbreitete rassistische Codierung von nicht-normativer Sexualität als Implikation von Dunkelhäutigkeit aufrief, die sich in folgender Form in Klaus Manns Coming-out-Roman Der fromme Tanz (1926) findet: „Paulchen tanzte schon in der Mitte des Raumes mit dem Neger, der den großen Wollkopf, ganz hingegeben der Bewegung, barbarischschwärmerisch zurücklegte und seinem schmalen Partner das große Gesicht mit dem blutrot aufgeworfenen Mund hinhielt, als sei es zum Kusse.“ Mann, Klaus: Der fromme Tanz. Das Abenteuerbuch einer Jugend, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2010, 98. 51 Jenˇ c ík: Anita Berber, 52–53. 52 Böhme: Fetischismus und Kultur, 179. 53 Ebd., 186.

Schals, Peitsche, Beleuchtungswechsel, erglühender Stein, Pfeife, zwei Neger – damit pulverte sie ihre Nummern kitschig auf. Ihr Temperament braucht Stützen. Was gab sie aus Eigenem?“49 Wie das genau zu verstehen ist, bleibt unklar, waren die dunkel­häutigen Darsteller Mannequins oder Komparsen? Und was taten sie auf der Bühne? Der rassistisch markierte, auch um 1920 noch nach wie vor koloniale Diskurs befasst sich hier nicht mit Einzelheiten und möglichen Differenzierungen.50 Jenˇ cík beschreibt christliche, exo­tische und alltägliche Fetische im gleichen Atemzug, Berber selbst als eine „Talmigöttin“ unter „Talmigöttern“. Die Tänzerin habe sich auf ihrem Totenbett nur noch ihrer „Devotionaliensammlung“, den „Gottesmütter[n] und Christusfiguren“ zugewandt; sonst jedoch hätte sie, „und zwar in unglaublicher Zahl“, „Hasenpfoten und -schwänze, Negerketten, Berliner Flitter, Stücke zerrissener Dessous, zufällig gesammelte Nägel, Hufeisen, Stecknadeln und Hunderte andere normale Gegenstände“ verehrt, „weggeworfen von den einen und aufgehoben von den anderen mit dem angehaltenen Atem des Respekts vor der unsichtbar ausgestreckten Hand des Unbekannten.“51 Jenˇ cíks Beobachtungen verdeutlichen Böhmes These des in der Moderne von seinem kolonialen Imaginären eingeholten europäischen Fetischismus. Das Wort „Fetisch“ tauchte im Kontext der Besiedelung Afrikas durch die Portugiesen im späten 15.  Jahrhundert auf, als pidgin-Wort „fetisso,“ von lat. „factitius“, das „‚Hergestellte‘ im Gegensatz zum Natürlichen und Gewachsenen“. 52 Es bezeichnet materielle Objekte, denen für die Gläubigen magische oder dämonische Wirkmacht innewohnt. Aus europäischer Sicht wurde Fetischdienst in Böhmes Worten oft mit „pejorativen Charakteristiken der Afrikaner überhaupt verbunden“, diese seien „unsittlich, kindlich, naiv, lasterhaft, tierisch-sinnlich, grausam, barbarisch, blutgierig, fatalistisch, träge, fanatisch“ und somit einer „primitive[n], infantile[n], perverse[n] Welteinstellung“ zugehörig.53 Hier treffen sich rassistische ethnografische Einschätzungen einer primitiven Weltanschauung mit späteren psychoanalytischen Vorstellungen von sexuellem Fetischismus, die besagen, dass dessen unfruchtbare und nicht-genitale Interessen auf einer frühen

Abb. 3 ► Dora Kallmus ( Madame d’Ora), Anita Berber und Sebastian Droste „Selbstmord“ , in: B e r b e r, A n i t a u . D r o s t e , S e b a s t i a n : D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e , W i e n : G l o r i e t t e 19 2 3 , Ta f e l I I I , o h n e S e i t e n a n g a b e .

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54 „Freud identified taboo sexual practices as normal childhood behavior in which the pathological adult subject was simply stuck or frozen due to an inability to remember, conceptualize, or narrate past events. Orality, anality, fetishism, and so on became, in the Freudian itinerary, places that children visited on their way to reproductive, genital heterosexuality, but not places to stay for long.“ Freeman, Elizabeth: Time Binds: Queer Tempo­ ralities, Queer Histories, Durham: Duke University Press 2010, 8. 55 Vgl. Böhme: Fetischismus und Kultur, 386. c ík: Anita 56 Jenˇ Berber, 52.

Entwicklungsstufe steckengeblieben seien. 54 Alfred Binet war der Erste, der in Le Fétichisme dans l’amour (1887/88) den ethno­ grafischen Fetisch-Begriff auf den sexuellen Kontext übertrug – und fetischistische Praktiken noch nicht wie später Freud als stellvertretende Handlungen für einen eigentlichen sexuellen Akt ansieht, sondern als ein verabsolutiertes Partikulares. Es interessiert in der Konzeption von Binet nicht, wovon der Fetisch ein Substitut sei: Er ist in sich selbst absolut.55 Kallmus’ Fotografien von Berber und Droste funktionieren in diesem Sinn eines absolut gesetzten Partikularen. In ihrer Weigerung der Anforderung gegenüber, dass Tanzfotografie ein Eigentliches, nämlich bewegte Körper abzubilden habe, ziehen sie ihre Befriedigung aus ihrer alternativen medienspezifischen Inszenierung. Die Aufnahmen haben das Selbstbewusstsein des absoluten Substituts: Es geht um die fotografische Pose, nicht um den Tanz. Die Fotografien sind auch insofern keine Freudschen Fetische, als sie nicht das Bedürfnis vermitteln, ihre unerbittliche Konfrontation mit der eigenen Unzulänglichkeit verleugnen zu müssen. Als statische Aufnahmen des posierenden Körpers sind sie sich selbst genug. Das Selbstbewusstsein des absoluten Substituts steht hier auch für das Selbstbewusstsein der Fotografin, die ihr fotografisches Medium dem Bewegtmedium Tanz vorzieht. Kallmus distanziert sich dabei gleichzeitig von dem im Tanz dominierenden vitalistischen Diskurs, der Bewegung mit desexualisierter Natürlichkeit verbindet, um mit der Fokussierung auf künstlich stillgestellte Posen des vestimentär und sogar als nacktem noch mit einem Kettchen geschmückten Körpers eine Schaulust zu bedienen, die jene der Bühnenshow möglicherweise noch steigerte: Der sich nicht in der Bewegung entziehende Körper wird in seinen sugges­ tiven Ver- und Enthüllungen dem Blick dargeboten. In variantenreicher Künstlichkeit ersetzt der fotografisch inszenierte, erotische Fetischdienst den natürlichen Bewegungsfluss nicht nur mit dem „Grauen“, so Jenˇ cík, sondern auch mit dem Genuss der Pose.56 Auf der dreizehnten Abbildung des Buches (s. Abb. 4) zum Pritzel­puppen betitelten Tanz wird ganz deutlich, inwiefern die fotografische

Abb. 4 ► D o r a K a l l m u s ( M a d a m e d ’ O r a ) , A n i t a B e r b e r „ P r i t z e l p u p p e “ , i n : B e r b e r, A n i t a u . D r o s t e , S e b a s t i a n : D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e , W i e n : G l o r i e t t e 19 2 3 , Ta f e l I I I , o h n e S e i t e n a n g a b e .

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57 Mit Bezug auf den weitergefassten Kontext des „gestischen Imaginären“ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts bleibt zu bemerken, dass Kallmus’ Ästhetik des Anhaltens und der Pose, die Jenˇ c ík auch im Tanz der Berber beobachtet, nicht so sehr die Erhöhung des gestischen, als vielmehr die Erhöhung des erotischen Potentials des fotografisch inszenierten Körpers zum Ziel hatte. Vgl. Jenˇcík: Anita Berber, 20; Ruprecht, Lucia: Gestural Imaginaries. Dance and Cultural Theory in the Early Twentieth Century, New York: Oxford University Press 2019.

Arretierung einer schon vorausgehenden Auseinandersetzung mit

58 Berber, Droste: Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase, ohne Seitenangabe.

und in abrupter Unterscheidung aufeinander folgenden Aufnahmen

Arretierung entsprach: Das Aufwirbeln des Spitzenrocks kommt hier nicht durch den Schwung des sich bewegenden Körpers zustande, sondern ist im vermutlich mit Draht adjustierten Kostüm eingebaut und verharrt durch diese Fixierung in ausgebreiteter, die Haut der Oberschenkel durchscheinen lassender Drapierung. Auch wenn es sich bei den für das Gloriette-Buch ausgewählten Aufnahmen nicht um eine intentionale Serie handelt, zeigen sie doch immer wieder die gleiche, gewollte Statik: Als fetischistisch sind hier trotz teilweise vorhandener gestischer Entsprechungen weder eine ganz bestimmte, immer wiederholte Haltung, ein bestimmtes Accessoire zu betrachten, noch geht es um die Eröffnung imaginärer Sequenzen begehrter Bewegung, die sich aus der Reihung der größtenteils sehr heterogenen kaum konstruieren lassen. Das serielle Element der Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase besteht in den von Mal zu Mal neu ausgeklügelten Haltepunkten des Gestellten selbst.57 Zuletzt steigert sich der Genuss noch einmal durch das Zusammenbinden der Foto-Posen in einem Buch, dessen exklusivste Exemplare ihrerseits wie Fetischobjekte gehandelt wurden: Dieses Buch wurde in dem Jahre Eintausendneunhundert­ dreiundzwanzig vom Gloriette-Verlag als Luxusdruck heraus­ gegeben und in den graphischen Kunstwerkstätten von Frisch & Co. in Wien in zwei Ausgaben hergestellt. Die Exemplare 1 – 50 wurden auf Original-Japanpapier gedruckt, die in Van Dyck-Druck wiedergegebenen Photobildnisse aus dem Atelier d’Ora sind auf Naturkarton aufgezogen. Anita Berbers Handzeichnungen und Architekt H. Täubers Figu­ rinen wurden handkoloriert. Die Bücher sind in handgemalte Seidendecken mit Pergamentrücken eingehängt. Die Umschlagzeichnung entwarf Anita Berber. Die Exemplare 51 – 1000 erhielten die Photobildnisse in Van Dyck-Druck, die Handzeichnungen und Figurinen sind mit mehrfarbigen Tonplatten unterlegt. Dieses Exemplar trägt die Nummer [...].58 Mir fiel während meiner Bibliotheksrecherche leider nur ein unnummeriertes, wohl irgendwo in den Bereich zwischen 51 und 1000 fallendes Exemplar dieses außerordentlichen Tanz-FotoBuchs in die Hände.

206

Absolutes Substitut : Dora Kallmus’ fetischistische Fotografien in Anita Berbers und S e b a s t i a n D r o s t e s D i e T ä n z e d e s L a s t e r s , d e s G r a u e n s u n d d e r E k s t a s e ( 19 2 3 )

Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz Eike Wittrock

1 Sontag, Susan: „Notes on ‚Camp‘“, in: dies.: Against Interpre­ tation and Other Essays, New York: Picador 1966, 275–292, hier 281. 2 Dazu exemplarisch Halberstam, J. Jack: The Queer Art of Failure, Durham/London: Duke University Press 2011, 1–25. 3 Ein Tik Tok-Trend von 2021 zu Doja Cats „Kiss Me More“ hat geradezu eine Renaissance der limp wrist initiiert. Mack, David: „Limp Wrists Are The Best Gay Meme Of 2021“, BuzzFeed News 28.7.2021, https://www.buzzfeednews. com/article/davidmack/ kiss-me-more-limp-wristtiktok (zuletzt geprüft 10.11.2021).

„To camp is a mode of seduction – one which employs flamboyant mannerisms susceptible of a double interpretation: gestures full of duplicity, with a witty meaning for cognoscenti and another, more impersonal, for outsiders.“1 1. Is he... you know...

Im Mai 2020 tauchte in der digitalen Sphäre in mehreren Variationen ein Meme auf, das das abgeknickte Hand-

gelenk von SpongeBob Schwammkopf mit der Bildunterschrift „Is he... you know...“ versah. Schon lange zirkulierten im Internet Spekulationen um SpongeBobs Sexualität. Auch wenn der Erfinder der Figuren, Steve Hillenburg, Fragen zu SpongeBobs (Homo-)Sexualität stets abgewehrt hatte, wurde das Camp-Potenzial des gelben Schwamms in quadratischen Hosen von LGBTQI*-Personen früh erkannt.2 Jenseits der Frage, ob SpongeBob nun ‚wirklich‘ schwul sei oder nicht – im Juni 2020 bezeichnete ihn der Sender Nickel­ odeon zumindest offiziell in einem Tweet als ally, Verbündeter von Queers – zeugt das „Is he... you know...“-Meme von der Fortdauer (der Lesbarkeit) eines klassischen gestischen Codes männlicher Homosexualität: der abgeknickten Hand, auch bekannt als die limp oder broken wrist.3 Eine schlaff am Gelenk herabhängende Hand, so die Implikation des Memes, ist der Ausweis fehlender Virilität, Zeichen eines Effeminiert-Seins, das in den Körpercodes der sogenannten westlichen Kultur auf das Schwulsein ihres Trägers verweist.

Abb. 1 ► 2. Choreografische

In ihrer Studie Der gewöhnliche Homo­

Analysen

sexuelle von 1974 beschreiben Martin Dannecker und Reimut Reiche die

geheimen Techniken von (männlichen) Homosexuellen, sich in der Mehrheitsgesellschaft zu erkennen: Da die homosexuelle Minderheit aber auch außerhalb geschlossener subkultureller Räume agiert, z. B. in öffent­ lichen Grünanlagen, Bedürfnisanstalten etc. mußten Techniken entwickelt werden, die es erlauben, daß ihre Mitglieder sich gegenseitig erkennen, ohne sich den anderen zu erkennen zu geben. Diese Techniken sind, wie dies nicht anders möglich ist, der heterosexuellen Majorität entlehnt. Sie bestehen

208

Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

4 Dannecker, Martin u. Reimut Reiche: Der gewöhnliche Homosex­ uelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik, Frankfurt/M.: S. Fischer 1974, 83.

durchweg aus allgemein üblichen Verhaltensweisen. Jedoch sind sie mit einem anderen Ausdruck unterlegt, in eine andere Gebärde eingebettet. Die minimalen Differenzen werden nur dem gewahr, der gelernt hat, auf sie zu achten. Ob ein Homosexueller einen anderen Homosexuellen als solchen erkennt, ist vor allem eine Frage des timing von Gebärden. Unmerk­ liche Zeitverzögerungen, angefangen vom Fangen und Halten des Blicks bis hin zum Verzögern des Schrittes, signa­ lisieren das diffamierte sexuelle Interesse am anderen.4 Mit einem für eine soziologische Studie der 1970er Jahre über­ raschend choreografischem Blick wird der schwule Zeichenvorgang vor allem als eine Frage des timings von Gebärden beschrieben. Minimal verschobene alltägliche Verhaltensweisen, Codes, die in andere Geste eingearbeitet sind oder mit einem besonderen Ausdruck

j 0 b r 01: I s h e . . . y o u k n o w. . . , 19 . M a i 2 0 2 0 , M e m e , h t t p s : / / w w w. r e d d i t . c o m / r / g a y m e m e s / c o m m e n t s / g m i x l o / i s _ h e _ y o u _ k n o w / ( z u l e t z t g e p r ü f t 0 3 . 01. 2 0 2 2 )

209

Eike Wittrock

5 Gere, David: „29 Effeminate Gestures: Choreographer Joe Goode and the Heroism of Effeminacy“, in: Dancing Desires. Choreographing Sexualities on and off the Stage, hg. v. Jane C. Desmond, Madison: University of Wisconsin Press, 2001, 349–381, hier 350.

versehen werden, werden hier als eine spezifisch schwule Kulturtechnik verstanden, geheime Körpersprachensignale zu versenden. Das Phänomen scheint transkontinental: In 29 Effeminate Gestures: Choreographer Joe Goode and the Heroism of Effeminacy beschreibt David Gere die ungeschriebenen geschlechtsgebundenen Verhaltensnormen in den USA der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, „the physical codes that signify effeminacy“5, die sich besonders auf

6

Ebd., 357.

Hände und Arme beziehen und sich anhand verschiedener Achsen

7

Ebd., 376–377.

wie Spannung/Entspannung, Bewegung/Starrheit, Stärke/Weichheit, Funktionalität/Eleganz und Neutralität/Expressivität organisieren. Darunter ist auch die „broken wrist, a movement largely coded in the West to mean gay“6. Doch was einerseits zur Erkennung und Kontaktanbahnung eingesetzt werden kann, wird in anderen sozialen Kontexten sanktioniert. Zu Beginn seines Essays erinnert Gere sich, wie er auf einer Party für seine effeminierte Handhaltung gerügt wird. Im Verlauf des Essays tritt dann aber, vermittelt über die Analyse von Joe Goodes Solo 29 Effeminate Gestures, das subversive Potenzial dieser Gesten in den Vordergrund, das sich gerade aus ihrer Wiederholung – einer Wiederholung, die eine Differenz erzeugt – ergibt. Nicht nur in der Reihe von 29 Gesten, sondern auch in der mehrfachen Wiederholung dieser Serie in Goodes Choreografie wird die Mechanik der Gender-Performance sichtbar und die schlaffe Hand zu einer Waffe im sexuellen Befreiungskampf. Goode’s exaggerative mode of theatricality “mimes and renders hyperbolic” a set of citations, or societal instructions regarding the particularity of gender, that are, by virtue of their performance on the biologically male body, an act of resistance, a reversal of conventions, a refusal to obey the law. But the performance of effeminacy exposes more than the conventions of gender. It also uncovers the gross matter, the ugly root, of homophobia itself, rendering it visible and thereby vulnerabe to subversive attack. This configures effeminacy as a most potent weapon, as phallic power channeled in undiluted form through a limp wrist.7 Die Verbindung des schlaffen Handgelenks mit der Floskel „Is he... you know ...“ in dem SpongeBob-Meme verweist auf (männliche) Homo­­sexualität, ohne das Wort dabei auszusprechen, und situiert diese Geste so in der Epistemologie des Verstecks, die, wie Eve Kosofsky

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

8 Sedgwick, Eve Kosofsky: „Epistemologie des Verstecks“, in: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), hg. v. Andreas Kraß, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 113–143, hier 115. 9 Vgl. Sator, Klaus: „Tanz und Homosexualität. Sexuelle Identitäten hinter und auf der Bühne“, in: Invertito. Jahrbuch zur Geschichte der Homosexua­ litäten 5, Köln: Fachverband Homosexualität und Geschichte (FHG e. V.) 2003, 67–100; wie auch die meist ebenfalls von Sator ver­­fassten Einträge zu (männlichen) homosexuellen Tanzschaffenden in Mann für Mann. Biographisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und Mann-Männlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, hg. v. Bernd-Ulrich Hergemöller, Berlin: LIT 2010. 10 Olesen, Henrik: Some Faggy Gestures, Zürich: JRP Ringier 2008. 11 Peters, Kathrin: Rätselbilder des Ge­­­ schlechts. Körperwissen und Medialität um 1900, Zürich: Diaphanes 2010, 155–208, sowie Taylor, Michael Thomas: „Magnus Hirschfeld’s Institute for Sexual Science as Archive, Museum, and Exhibition“, in: Not Straight From Germany. Sexual Publics and Sexual Citizenship Since Magnus Hirschfeld, hg. v. Michael Thomas Taylor, Annette F. Timm u. Rainer Herrn, Ann Arbor: University of Michigan Press 2017, 12–36.

Sedgwick formuliert hat, der schwulen Kultur des 20. Jahrhunderts „eine übergreifende Konsistenz verliehen hat“8. Diese Epistemologie des Verstecks hat die Struktur eines offenen Geheimnisses, einer für alle sichtbaren Wahrheit, die jedoch niemand ausspricht. Die Queerness der (deutschen) Tanzmoderne scheint ebenfalls ein solch offenes Geheimnis zu sein. Viele ihrer Protagonist*innen würden heute als queer gelten, ohne dass dies damals (oder über­ raschender: heute) so benannt wurde: Anita Berber, Sebastian Droste, Dore Hoyer, Kurt Jooss, Harald Kreutzberg, Sigurd Leeder, Maja Lex, Hanns Niedecken-Gebhard, Gret Palucca, Alexander Sacharoff, Vera Skoronel, Alexander von Swaine, Max Terpis und Berte Trümpy hatten alle irgendwann in ihrem Leben gleichgeschlechtliche Beziehungen sexueller und/oder romantischer Art.9 Are they... you know... Ein nachträgliches Coming-out dieser Personen ist nicht Ziel queerer Tanzhistoriografie, wohl aber das Aufspüren queerer Sensibilitäten in ästhetischen Artefakten der Tanzmoderne. 3. Serialität

Sowohl Joe Goodes Solo, das den Anlass für Geres Analyse und Ref lexion effeminierter Gesten gibt, wie auch Henrik Olesens Some

Faggy Gestures, bei dessen Titel ich mich für diesen Text bedient habe, gewinnen ihre Evidenz aus der Serialität: von Gesten und ihren Abbildungen. Some Faggy Gestures ist der Titel eines Künstlerbuches von Henrik Olesen von 2008, das Rechercheergebnisse dokumentiert, die Olesen in seiner Ausstellung Some Gay-Lesbian Artists and/ or Artists Relevant to Homo-Social Culture in einer Reihe von Bildertafeln gezeigt hat (eine dieser Tafeln trug den Titel „Some Faggy Gestures“).10 Olesen bezieht sich in diesen Arbeiten auf Magnus Hirschfelds Zwischenstufenwand – zentrales visuelles Instruktionsinstrument von Hirschfelds Theorie der sexuellen Zwischenstufen und somit frühes Instrument eines aktivistischen Wissenschaftsverständnisses.11 Hirschfeld arrangierte auf Bildtafeln visuelle Dokumente unterschiedlicher Provenienz außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes und versammelte diese unter instruktiven Überschriften, um eine visuelle Argumentation zu entwickeln, die eine wissenschaftliche Grundlage für vielfältige sexuelle und geschlechtliche Reformen zu legen suchte. Diese Methode scheint dabei von den neuen Möglichkeiten der fotografischen Reproduktion, also der Vervielfältigung von Motiven, der Entkoppelung von ihrem ursprüng­ lichen Publikationskontext, der Vergrößerung von Ausschnitten und

211

Eike Wittrock

12 Peters: Rätselbilder des Geschlechts, 202.

dem Neu-Arrangieren geprägt. Olesen geht ähnlich vor und arran-

13 Ebd., 205–206. Vgl. auch Warburg, Aby: Bilder­ atlas Mnemosyne – The Original, hg. v. Haus der Kulturen der Welt Berlin: Hatje Cantz 2020; sowie https://www.hkw.de/de/ programm/projekte/2020/ aby_warburg/bilderatlas_ mnemosyne_start.php, (zuletzt geprüft 10.11.2021).

mente queerer Geschichte neu, in Kategorien wie „The Appearance

giert auf unterschiedlichen Tafeln historische Gemälde und Dokuof Sodomites in Visual Culture“, „Dominance“, „Cruising“, „Lesbian Visibility“ und eben auch „Some Faggy Gestures“. Letztere sind für Olesen nicht nur abgeknickte Handgelenke, sondern auch ein ausgestellter Kontrapost, bestimmte Blicke, aber auch Frisuren und Kopf bedeckungen. Motive aus historischen Gemälden bilden so Reihungen und Serien, die bewußt anachronistisch vorgehen, und Fragen über die Geschichte der Sexualitäten aufwerfen. „Faggy“ sehen [die Gesten] vielmehr in unserem heutigen Blick aus, weil sich eine Vorstellung homosexuell kon­ notierter Gebärden derart in ein kollektives Bildrepertoire eingelagert hat, dass wir sie von der Betrachtung der Bilder kaum mehr abziehen können. Auch Hirschfeld hat auf seine Weise an der Ausformulierung und Konturierung eines solchen Bildrepertoires mitgewirkt, indem er in ungebrochener Körpersemiotik Mimiken und Körperhaltungen zu Ausdrücken einer psychischen Identitätslage erklärte. Oder war es umgekehrt? Schien Hirschfeld nicht allererst ein Repertoire an Gesten benennbar gemacht zu haben, das zuvor gewissermaßen verleugnet und verdrängt jenseits der Sichtbarkeitsschwelle schlummerte?12 Auch wenn sich Hirschfelds und Olesens Bilderwände formal (und thematisch) ähneln, rückt Peters Olesens Arbeit näher an eine andere Form der visuellen Argumentation der 1920er Jahre, Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne, der mit historischer Linearität von Motiven und ihren Entwicklungen zugunsten einer Schichtung von Zeiten bricht: „Die [bei Warburg] damit einhergehende Dekontextualisierung der Bilder entspricht dem Umstand, dass die Bedeutung der Bild- oder Pathosformeln unbestimmt und wuchernd gedacht wird.“13 Im Folgenden mache ich mich also auf die Suche nach Faggy Gestures in Fotografien der deutschen Tanzmoderne, um zu beschreiben, was an der Sichtbarkeitsschwelle schlummert, und dieses durch Aneinanderreihung evident zu machen. Faggy Gestures sind, so behaupte ich, integraler Bestandteil des gestischen Imaginären der Moderne, das Lucia Ruprecht in Gestural Imagina­ ries beschrieben hat. Ruprecht erarbeitet dort einen Gestenbegriff

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

14 Ruprecht, Lucia: Gestural Imaginaries. Dance and Cultural Theory in the Early Twentieth Century, Cambridge: Oxford University Press 2019, 32. 15 Ebd., 28 u. 36. 16 Queere Lesarten sind in der deutschsprachigen Tanzwissenschaft selten, Überlegungen zur queeren Moderne fehlen fast gänzlich. Die wenigen Texte hierzu fokussieren die Figur Alexander von Sacharoff, darunter Ruprecht: Gestural Imaginaries, 169–185. In der US-amerikanischen Tanzwisssenschaft sind queere Methodologien stärker verankert, vgl. Croft, Clare: Queer Dance. Meanings & Makings. Oxford, New York: Oxford University Press 2017, sowie Desmond, Jane C.: Dancing Desires. Choreographing Sexualities On and Off the Stage, Madison: University of Wisconsin Press 2001. Vgl. auch die Special Issue von Dance Research Journal „Queering Dance Mod­­ ernisms“ (in Vorbereitung).

als Verbindungsglied zwischen körperlichem Ausdruck und Reflexion, „movement which is marked so that it becomes available for expression and reflection“14. Sie betont das queere Potenzial der modernistischen Geste, das sie – wie Dannecker/Reiche – in einer verschobenen Wiederholung und Denaturalisierung von Zeichen sieht.15 Ich möchte hier Ruprechts Einsicht folgen, jedoch in eine Seitenstraße zu ihrer Untersuchung der politischen und ethischen agency der Geste einbiegen. Es handelt sich dabei um eine jener dunklen Seitenstraßen, in denen Faggy Gestures als Erkennungszeichen dienen und zu Berührungen im Halbdunklen einladen. 4. Bittersweet

Doch ich beginne mit einem Umweg.

Memories: Love

Meine erste Begegnung mit der Idee einer

und Melancholie

queeren Tanzmoderne in Deutschland fand in tanzhistorischen Archiven in Köln,

Berlin, Salzburg und Paris statt, die ich gemeinsam mit Tessa Jahn und Isa Wortelkamp im Rahmen des Forschungsprojekts „Bilder von Bewegung“ zwischen 2012 und 2014 besuchte. Im historischen Quellenmaterial schien mir die Queerness der Tanzmoderne vollkommen evident, in der (deutschsprachigen) Tanzwissenschaft hingegen war sie mir vorher nicht wirklich begegnet. War es zu offensichtlich, als dass darüber gesprochen wurde?16 Es dauerte jedenfalls, bis sich diese Erfahrungen zu theoretischen Einsichten verdichteten. 2018 beschrieb ich diese rückblickend anhand einer Fotografie von Alexander Sacharoff in einem ‚von der Renaissance inspirierten Tanz‘ in einem Text, dessen Titel „Bittersweet Memories“ bereits die Melancholie anklingen lässt, die nicht nur in der Fotografie aufgefangen scheint, sondern auch mich beim ersten Anblick dieses Bildes befiel. Bevor ich mit der Betrachtung ein paar tuntiger Gesten der Tanzmoderne, some faggy gestures, einen weiteren affektiven Zugriff (ein sanftes Streicheln? eine leichte Berührung?) erproben möchte, führe ich die Beschreibung dieser ersten Begegnung an, da diese die Grundlagen für die weiteren Überlegungen bilden. Several years ago, in March 2013, I came across an old black and white photograph in the German Dance Archives in Cologne, which stuck with me ever since: a male dancer with a pageboy haircut, dressed in a pseudo-renaissance gown on what looks like an Oriental carpet, striking a weird submissive pose. It seemed that this photograph contained a

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Eike Wittrock

message from another time, a message not everyone would understand but that somehow seemed directed at me. When I held this photograph in my hands, it felt like I encountered evidence of a queer line of dance history I had never heard of before. Back then, I didn’t know much about what to do with it, and I went on in the archives to look at dance photographs from the beginning of the 20th century studying the relationship between art photography and modern dance.

Yet this photograph set something in motion. Since

then I have been fascinated with the idea of a queer modernity in dance, flourishing in the presumed golden age of Weimar Berlin with its libertarian sexual culture that was radically censored and cut off by the rise of Nazism and its cultural, sexual and racial politics. Through this photograph I eventually started to search for gaps and holes in (dance) history, and began to wonder about the role of queer bodies in the archive: Which evidence of queer bodies, dances and movements do archival documents contain? How can a dance register feelings or even sexual orientations? And how can one access these marginalized, minoritarian performances, which might have only worked only with innuendos and allusion in the first place? And why would one want to do that anyways? The dancer’s affectionate pose pricked me. There was some kind of abandonment or devotion – Hingebung in German, literally giving yourself to something or someone – captured in the photographic moment, that I couldn’t stop looking at. His arms opened wide in a transhistorical embrace, his face sunken, his left foot barely touching the carpet. I could have immersed myself forever into the folds of this image, following the arabesque patterns of the dress into his fingertips and back to the pattern of the carpet, trace his facial features and funny looking hair. There was something very queer – in the old and new sense – about this photograph, something so different from the image of the modern male dancer body I knew from Rudolf von Laban and the ridiculously over masculinized bodies of Ted Shawn and His Men Dancers. I saw a lust in this image that made it stand out far from all the other photographs I knew of (German) modern dance. The dancer was looking away, yet I felt he wanted to tell me something. The boyish figure, displaying his white

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

17 Wittrock, Eike: „Bittersweet Memories. Looking for Queer Evidence in the Archives“, in: Bodies of Evidence. Ethics, Aesthetics and Politics of Movement, hg. v. Sandra Noeth und Gurur Ertem, Wien: Passagen 2018, 247–257, hier 248–249. 18 Zusammenfassend hier Carolyn Dinshaw, Lee Edelman, Roderick A.  Ferguson, Carla Freccero, Elizabeth Freeman, J.  Jack Halberstam, Annamarie Jagose, Christopher S.  Nealon u. Tan Hoang Nguyen: „Theorizing Queer Temporalities: A Roundtable Discussion“, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 13, 2–3, hg. v. Jennifer DeVere Brody u. C.  Riley Snorton, Durham: Duke University Press 2007, 177–195.

neck to me, like a bird in a mating dance. Giving himself, his pose, his body to me, a future spectator; yet avoiding my gaze, softly enduring all my projections, but leaving them in a state of uncertainty. Who is he courting? Who is he dancing for? One addressee of this pose is marked in the photograph. At the top of the image, a personal dedication in slant script further sparked my fantasies: “Herrn J. von Brüsewitz. Alexander Sacharoff 27. VI. 13.” Nearly exactly a century before I encounter this image in the archive (or did it encounter me?), one man dedicated this photo to another man. A lover, a kindred spirit perhaps, I thought. Suddenly I seemed to be in touch with some kind of forefathers or forefaggots. For a moment a portal opened and I imagined what other courses history could have taken, if this had become modern dance’s idea of gender expression and performance practice. So delicate, so effeminate, so touching, so queer.17 Die sexuellen, erotischen und generell affektiven Dimensionen solcher körperlich extrem aufgeladenen Archiverfahrungen sind ein Grundzug queerer Historiografie. Roland Barthes theoretische Figur des punctum aus seiner Studie Die helle Kammer, die sowohl für foto- wie auch tanzhistorische Betrachtungen eine zentrale Rolle einnimmt, ist eine der frühesten Beschreibungen einer solchen Einschreibung der Körperlichkeit in der affektiven Reaktion der Historiker*in auf historiografisches Material: die Fotografie penetriert dort bisweilen den Betrachtenden. Carolyn Dinshaw, Heather Love, Elisabeth Freeman und andere buchstabierten die unterschiedlichen Aspekte solcher zeitenübergreifenden Kontakte im Archiv als eine spezifisch queere aus, die bei Barthes (und Michel Foucault) bereits angedeutet waren: von einer überzeitlichen Gemeinschaft, die im Blick der Historiker*innen geschaffen wird, über eine quasi-sexuelle Hingabe an das historische Material, wie auch ein melancholisches Verhältnis zu einer unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit.18 In meiner Betrachtung der Foto­ grafie von Alexander Sacharoff, der seinen (tanzenden) Körper der Kamera (und den zukünftigen Betrachter*innen seines Abbilds) darbietet, seinen Blick aber abwendet und so den zeitenübergreifenden Kontakt verweigert, habe ich mich selbst einer melancho­ lischen Betrachtung der Tanzmoderne hingegeben. Die Queerness der Tanzmoderne im Deutschland der 1910er und 1920er Jahre

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Eike Wittrock

19 Love, Heather: Feeling Backward. Loss and the Politics of Queer History, Cambridge: Harvard University Press 2007, 51. 20 Ebd., 20.

scheint so unendlich entfernt, da sie nicht nur von den National­ sozialist*innen, sondern auch von der reaktionären Sexualmoral der BRD, überdeckt und/oder ausgestrichen wurde. In dieser Hinsicht schien es mir in „Bittersweet Memories“ wichtig zu betonen, was Heather Love in Bezug auf die Unmöglichkeit der Rettung einer unrettbar verlorenen queeren Vergangenheit formuliert hat: Such is the relation of the queer historian to the past: we cannot help wanting to save the figures from the past, but their mistake is doomed to fail. In part, this is because the dead are gone for good; in part, because the queer past is even more remote, more deeply marked by power’s claw; and in part because this rescue is an emotional rescue, and in that sense, we are sure to botch it.19 Das Abgewandte in der Fotografie von Sacharoff schien mir jene Ambivalenz queerer Historiografie zu verkörpern, die für Love so zentral ist. Sacharoff selbst ist mit seinem von der Renaissance inspirierten Tanz ein Beispiel der Rückwärtsgewandtheit der queeren (Tanz-)Moderne, wie wiederum seine Pose auf dem Foto wie kaum eine andere Tanzfotografie sowohl eine Einladung als auch Widerstand zu artikulieren scheint. Die melancholische, in sich versunkene Haltung Sacharoffs gleicht so der Melancholie der queeren Historiografie, die (emotional) an einem für immer verlo­renen (Studien-)Objekt hängt, und daraus eine (gebrochene) Subjektivität formt. Eine gebrochene Subjektivität, wie Love immer wieder betont, in der queer shame das Spiegelbild von queer pride ist. Der Begriff queer, wie ja auch der deutsche Begriff schwul, sind dabei Beispiele eines reverse discourses, einer diskursiven Umwandlung, die das Stigma devianter Sexualität zur Grundlage einer neuen, vermeintlich befreiten Identität macht: In the darkroom of liberation, the “negative” of the closet case or the isolated protogay child is developed into a photo­­­g raph of an out, proud gay man. But the trace of those forgotten is visible right on the surface of the image, a ghostly sign of the reversibility of reverse discourse. 20 Loves Betonung der Melancholie und anderer ‚schlechter‘ Gefühle muss jedoch auch als kritische Intervention in verschiedene

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

21 Dannecker/Reiche: Der gewöhnliche Homo­ sexuelle, 351–356.

(miteinander verwobene) Diskurse verstanden werden: Scham, Ein­ samkeit und Selbsthass werden hier gegen Begriffe wie community und pride eines normalisierendes Queer-Diskurses eingesetzt, der zu Beginn des 21.  Jahrhunderts insbesondere in den USA vorherrscht. Scham, Einsamkeit und Selbsthass verkomplizieren darüber hinaus das Verhältnis zur Geschichte und sind Teil einer Historiografie, die einer (queeren) Fortschrittsgeschichtsschreibung widersteht, und die schmerzhaften Aspekte der Geschichte nicht bruchlos in erfolg­reiche queere Subjektivität umschreibt. Wie ist jedoch die kritische Energie Loves für den lokalen Kontext einer queeren historiografischen Perspektive auf die Tanzmoderne in Deutschland umzulenken? Weder Gemeinschaft (com­ munity) noch Stolz (pride) sind im lokalen Diskurs gängige Begriffe, sich über eine queere Gegenwart oder Vergangenheit auszutauschen. Ganz im Gegenteil sind diese im deutschen Sprachgebrauch eher mit dem faschistischen Vokabular des Nationalsozialismus verbunden. Welche*r Queer* würde schon vom Stolz seiner*ihrer Gemeinschaft sprechen? Selbsthass, so gilt es zumindest für die frühe schwule Bewegung in Deutschland, ist dabei schon immer ein integraler Bestandteil queeren/schwulen Denkens und Seins: sowohl Dannecker/ Reiches einflussreicher Studie Der gewöhnliche Homosexuelle wie auch Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt, dessen Tonspur in großen Teilen auf dieser Studie basiert, thematisieren diesen ausgiebig.21 Loves Mühen, an die Verwerfungen im Kern queerer/schwuler Identität zu erinnern, scheinen hier vergebens (vergebene Liebesmühe sozusagen). Ebenfalls scheint es weniger vonnöten, schwule Geschichtsschreibung in Deutschland an Schmerz und Verlust zu erinnern, da sich diese seit den 1970er Jahren (vornehmlich) an der Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus abarbeitet und somit Trauma, Verlust und Schmerz Kern queerer Historiografie sind – ohne diese dabei jedoch wiederum theoretisch und methodisch zu integrieren, wie Love (und andere) es tun. 5. Hände,

In diesem Aufsatz möchte ich eine andere

überall Hände

Archiv-Beobachtung vertiefen, und Modalitäten transhistorischer Berührung ausloten. Nach den ersten Begegnungen mit

fotografischen Indizien einer queeren Tanzmoderne, deren affektiven Eindruck ich in meinem Aufsatz „Bittersweet Memories“

217

Eike Wittrock

22 Der jüngere Begriff queer, der einen weiten Bereich von Sexualitäten und Geschlechtsentwürfen umfasst, die nicht der Heteronorm entsprechen, ist hier hilfreich, da sich mit ihm die Unbestimmtheiten und Uneindeutigkeiten von Sexualität und Geschlechts­ ausdruck auch in früheren Zeiten umschreiben lassen, die historisch möglicherweise keinen Namen trugen. Sedgwick beschreibt mit queer ein „open mesh of possibilities, gaps, overlaps, dissonances and resonances, lapses, and excesses of meaning when the constituent elements of anyone’s gender, of anyone’s sexuality aren’t made (or can’t be made) to signify monolithically.“ Sedgwick, Eve Kosofsky: „Queer and Now“, in dies.: Tendencies, London: Routledge 1994, 8.

versucht hatte zu beschreiben, begann sich mein Blick sukzessive

23 Julius Hans Spiegel, Egon Wüst, Joachim von Seewitz und Alexander Sacharoff. Der Nachlass von Harald Kreutzberg wäre in diesem Zusammenhang ebenfalls lohnenswert.

der Handbewegungen, die gewissermaßen eine fiebernde Sprache

24 Ohne Autor: „Neue deutsche Tanzkunst“, in: Elegante Welt 6, 1, 1917, 4–5, hier 5. 25 Ruprecht: Gestural Imaginaries, 70. Eine Festschreibung von Personen auf Begriffe und Identitätskonzepte, die wohlmöglich späteren historischen Zusammenhängen entstammen, ist historiografisch umstritten. Sowohl Ruprecht wie auch Ines Rieder, die die enge Beziehung von Tilly Losch und Hedy Pfundmayr und deren Rezeption in und Verbindung zu lesbischen Kreisen der Weimarer Zeit nachgezeichnet hat, vermeiden es, Losch als lesbisch zu bezeichnen. Ebenso geht es mir hier nicht darum, Seewitz als „schwul“ zu markieren, sondern eine tuntige Lesart von Fotografien von Seewitz zu entwickeln. Rieder, Ines: „Lesben lassen Hände

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zu schärfen. In einem erneuten Besuch im Deutschen Tanzarchiv in Köln im März 2018, in dem ich mich auf Fotografien von (queeren22) Tänzern23 konzentrierte begann ich Muster zu erkennen: Hände, überall Hände, Faggy Gestures, tuntige Gesten, die mich über die Zeiten hinweg berührten und (codierte) Signale aussendeten. Daher möchte ich in dieser Fortsetzung nun tuntigen Spuren in Fotografien jener Person nachgehen, der Sacharoff die oben erwähnte Postkarte gewidmet hat: Herrn J. von Brüsewitz, der als Joachim von Seewitz als Tänzer aufgetreten ist. Informationen zu Joachim Seewitz und seiner Tanzpartnerin Lo Hesse sind spärlich. Sie tauchen in zeitgenössischen Tanzhistoriografien selten auf, die Materialien in Seewitz’ Nachlass im Kölner Archiv sind bisher kaum bearbeitet. Berichte über das Tanzpaar finden sich weniger in Tanzschriften als viel mehr in Modepublikationen dieser Zeit, wie z. B. der Eleganten Welt, wo es heißt: „Ganz besonders hervorzuheben ist die ungewöhnliche Ausdrucksfähigkeit reden.“24 Hände, wie Lucia Ruprecht am Beispiel der lesbischen Rezeption der Tänzerin Tilly Losch festgestellt hat, können dabei nicht nur als Gesten zwischen Expression und Reflexion betrachtet werden, sondern auch als „purveyors of pleasure“25, die eine sinnliche (und lustvolle) Erfahrung vermitteln.

Abb. 2 ► Im Deutschen Tanzarchiv Köln liegt eine undatierte Aufnahme von Joachim von Seewitz und Lo Hesse, fotografiert von Hanns Holdt. Aufgeklebt auf gelb-schwarz gemustertem, dekorativem Papier ist mittig oben die Aufnahme von Hesse und Seewitz gesetzt.26 Beide stehen auf Spitze, in stilisierten Rokoko-Kostümen aus schimmernden Stoffen mit zahlreichen Pelzbesätzen. Seewitz’ Lippen treten markant und dunkel aus dem Bild hervor, sein Gesicht ist gerahmt von einer Lockenperücke, die unter einem tief ins Gesicht gezogenen Hut hervorschaut; Hesse lehnt mit geschlossenen Augen ihren Kopf auf Seewitz’ Schulter. Bemerkenswert sind die Hände: nicht nur die exaltierten Handgesten nach außen – Hesses in einer grazilen ballettösen Geste, Seewitz deutlich ausgestellter, mit abgespreiztem Zeigefinger –, auch die Fingerstellung der eng am Körper gehaltenen, verschlungenen Arme in der Mitte: ein Paar, das sich hält, aber kaum Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

sprechen. Hände und lesbische Konnotationen im Wien der 1920er Jahre“, in: Tanz der Hände. Tilly Losch und Hedy Pfundmayr in Fotografien 1920–1935, hg. v. Monika Faber u. Magdalena Vukovi´ c, Wien: new academic press 2013, 44–55. 26 Diese Fotografie zirkulierte auch als Postkarte, vgl. Peter, Frank-Manuel: „Alexander Sacharoff als Vorbild des ‚tanzenden Mannes‘: Joachim von Seewitz und Helge P. Pawlini“, in: Die Sacharoffs. Zwei Tänzer aus dem Umkreis des Blauen Reiters, hg. v. Frank-Manuel Peter u. Rainer Stamm, Köln: Wienand 2002, 249–253, hier 251.

anfasst. Wenn Seewitz und Hesse gemeinsam auftreten, scheinen sie sich kaum zu berühren – oder die Berührung ist über die Materialität des Kostüms vermittelt. Alphons Török bemerkt, dass Seewitz in Duetten konstant damit beschäftigt zu sein scheint, das Kleid seiner Partnerin (oder einen Muff) mit seinen Händen zu animieren.27 Fotografien von Seewitz entwickeln – in Serie – ein Lexikon queerer Haptik, wie z. B. eine Fotografie des Wiener Theaterfotografen Franz Xaver Setzer von Seewitz zeigt. Auch hier erinnere ich die Erregung bei der ersten Begegnung im Archiv. In den Derra de Moroda Dance Archives in Salzburg blättern Jahn, Wortelkamp

27 Vgl. Török, Alphons: Tanzabende, Wien: Der Merker 1918, 21–24.

Hanns Holdt : Lo Hesse und Joachim von Seewit z, undatier t, aufgezogene Fotografie, 2 3 x 16 c m , S i g n a t u r D T K-T I S - 37 8 3 4 , © D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n

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Eike Wittrock

und ich durch ein Album von Walter Schnackenberg und plötzlich: ein einzelnes Blatt im Oktavformat, leicht größer als A4, deren Tonalität deutlich aus dem Rahmen fällt. Eine männliche Figur, Seewitz, sitzend auf einem Kissen, in einem Satin-Kostüm mit weißem Pelzbesatz. Darunter der Titel: Puderquaste. Ein Tanz, angesiedelt im Bereich des Make-up, fluffig-weiche Materialität. Viele der Choreografien von Seewitz und Hesse verweisen auf den Bereich der Mode, oder gewinnen ihre Effekte aus dem Spiel mit stofflichen Materialitäten. Their dances relied heavily on extravagantly exotic costumes designed mostly by the Munich expressionist artist Walter

F r a n z X a v e r S e t z e r : J o a c h i m v o n S e e w i t z a l s „ P u d e r q u a s t e “ ( 19 21) , i n : Wa l t e r S c h n a c k e n b e r g : K o s t ü m e , P l a k a t e u n d D e k o r a t i o n e n , M ü n c h e n : M u s a r i o n 19 2 2 .

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

28 Toepfer, Karl: Empire of Ecstasy. Nudity and Movement in German Body Culture, 1910–1935, Berkeley: University of California Press 2017, 213. 29 Ähnlich wie in Jean Streleckis Aufnahme von Anna Pavlova im Sterbenden Schwan, vgl. Jahn, Tessa; Wittrock, Eike u. Wortelkamp, Isa: „Bilder von Bewegung. Eine Einführung“, in: Tanzfotografie. Historio­ grafische Reflexionen der Moderne, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp, Bielefeld: transcript 2015, 11–28, hier 21–23.

Schnackenberg […]. The couple favored fantastically Oriental, Venetian, Spanish, or rococo costumes that had the effect of making dance a sign of ultrarefined luxury and exquisitely privileged voluptuousness. 28 So auch die Puderquaste. Aus der Beschreibung in Seewitz choreografischem Notizbuch lässt sich entnehmen, dass diese kurze Choreografie ein (ironisches?) Spiel mit der Belebung unbelebten Materials ist: Eine ‚Dame‘ weckt die schlafende Puderquaste, und es folgt eine kurze Jagd, die in der Ausgangspose endet, möglicherweise jene die auf Setzers Fotografie abgebildet ist. Die rechte Hand ruht in der linken, und berührt sie sanft. Die Finger sind dabei elegant (exaltiert?) geöffnet, und (zufällig?) beide Handgelenke leicht abgeknickt. ◄

Abb. 3

Is he… you know… Auch die Aufnahme von Seewitz in einem Pierrot-Kostüm in Weißer Walzer (wahrscheinlich ebenfalls von Setzer) zeichnet sich durch eine fotografische Evokation von körperlich-materieller Berührung aus. Mit der Bildunterschrift „Partieller Transvestitismus eines femininen Tänzers“ versehen, wurde diese Aufnahme von Seewitz ohne weitere Angaben im Bildteil von Magnus Hirschfelds opus magnum Geschlechtskunde abgedruckt.

Abb. 4 ► Ohne hier auf diese äußerst bemerkenswerte Verkennung von Hirschfeld einzugehen, der Seewitz als Beispiel eines „Transvestiten“ nennt, und die epistemologische Funktion dieser Fotografie für Hirschfelds sexualwissenschaftliches Programm näher zu beschreiben, fällt auch hier auf, wie Seewitz’ Hände äußerste Sinnlichkeit verkörpern. Fotografisch inszeniert durch geschickte Lichtführung, unterstützt von Seewitz’ versunkenem Gesichtsausdruck und einem Spiel mit fotografischer Unschärfe im Federkragen29, wird im Bild Berührung inszeniert – als Geste, Bewegung der Hand wie auch sinnliche Erfahrung der Berührung – erneut verstärkt durch die in der Fotografie festgehaltene Materialität der Federn. Und schließlich gibt es auch von Joachim von Seewitz’ Händen fotografische Studien, wie es sie – auch das hat Ruprecht

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Eike Wittrock

30 Faber, Monika u. Magdalena Vukovi´ c (Hg.): Tanz der Hände. , 44–55. 31 Ruprecht: Gestural Imaginaries, 61, besonders Fn. 38.

herausgearbeitet – in der Tanzmoderne von vielen Künstler*innen gab, die das Gestische des Tanzes in der Abbildung beinahe körper­ loser Hände ref lektieren. Albert Renger-Patzsch und Charlotte Rudolph porträtieren Mary Wigmans Hände, E.  O. Hoppé fotografiert jene von Tilly Losch, von der es auch einen „Tanz der Hände“ gibt, von, Rudolf Koppitz Hedy Pfundmayr30, und Hans Robertson erstellte Handstudien von Dussia Bereska, Harald Kreutzberg, Raden Mas Jodjana und Hutheesing.31 Vor schwarzem Hintergrund mit starkem Kontrast fotografiert, fokussieren die Handstudien von Seewitz erneut eine Selbstberührung; jedoch weniger im Sinne eines Schaffensmythos, wie Ruprecht die Berührung in der Handstudie

„ P a r t i e l l e r Tr a n s v e s t i s m u s e i n e s f e m i n i n e n T ä n z e r s “ [ J o a c h i m v o n S e e w i t z i n We i ß e r Wa l z e r, m ö g l i c h e r w e i s e v o n F r a n z X a v e r S e t z e r, v o r 1919 ] , i n : M a g n u s H i r s c h f e l d : G e s c h l e c h t s k u n d e I V, B i l d e r t e i l , S t u t t g a r t : P ü t t m a n n 19 3 0 , 5 8 3 .

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

32 Török: Tanzabende, 21. 33 Giese, Fritz: Körperseele. Gedanken über persönliche Gestaltung, München: Delphin 1924, 180–181. Giese übernimmt den Begriff von Hirschfeld, ohne dabei jedoch die „queeren Implikationen“, die Vielfalt sexueller Handlungen jenseits einer heterosexuellen Paarsexualität mitzudenken.

Wigman von Renger-Patzsch liest, denn als zärtliche, erotische Selbstberührung, in der sich zwei Hände erkunden und stimulieren. Auffällig ist bei all diesen Fotografien von Seewitz’ Hän­­­den, dass sie eine Berührung fokussieren, die keine Partner*in impliziert, sondern mehr eine autoerotische sinnliche Erfahrung – vermittelt über die stofflichen Qualitäten des Kostüms oder gleich der eigenen Hand – ist. 6. Zwischenstufen

In zeitgenössischen Quellen, wie Giese und Hirschfeld, wird Seewitz mit dem Adjektiv des „femininen“ bezeichnet, was nicht nur als Veruneindeutigung

(heteronormativer) Geschlechtsidentität begriffen wird, sondern teilweise als gänzliche Auflösung von Körperlichkeit: Wie unterscheidet man einen Tänzer von einer Tänzerin, wenn sie nicht zusammen, sondern einzeln kommen? [Auf die Bühne natürlich…Anm. EW] Bei Seewitz gibt es keinen Körper als solchen, nur ein Fluidum, ein ewig wandelbares Etwas, das keine Eigenberechtigung hat, sozusagen zur Idee selbst wird.32 Undenkbar scheint es für Török, dass es Berührungsweisen gibt, die sich jenseits heterosexueller Paarbildung bewegen – die Möglichkeit, dass zwei feminin gelesene Körper auf der Bühne gemeinsam, vermittelt über Stoffe und Materialitäten, Sinnlichkeit und Erotik entwickeln scheint undenkbar. In eine ähnliche Richtung zielt auch Fritz Giese in Körperseele. Der androgyne Tänzer, von ihm auch als Zwischenstufe bezeichnet, gewinnt für Giese eine Schlüsselstellung im Weg zur „Objektivierung“ des Tanzes, der sich in der Rezeption von allen sexuellen Konnotationen und der Vorstellung, Tanzen sei sublimierte Reproduktion oder Anbahnung sexueller Handlungen, entfernt.33 Der blinde Fleck dieser beiden Lesarten bzw. das was hier an der Sichtbarkeitsschwelle schlummert, ist die Möglichkeit sexueller Berührungen und Sinnlichkeiten jenseits heterosexueller Reproduktion, wie eine weibliche Sexualität unabhängig von Männern, autoerotische Stimulation, und die Sexualität von Personen, die sich jenseits der binären Geschlechtermatrix verorten. Was hier als Utopie dieser Faggy Gestures aufscheint, ist eine Re-Lektüre der Abstraktionstendenz der deutschen

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Eike Wittrock

34 Freeman, Elizabeth: „Time Binds, or, Eroto­ historiography“, in: Social Text 23, 3–4, 2005, 57–68, hier 64. 35 Ebd., 66. 36 Ruprecht, Lucia: „(Mis)memory: Transmissions of Gesture in Reenactment“, in: The Oxford Handbook of Dance and Memory, im Erscheinen.

Tanz­moderne als Erforschung queerer Sinnlichkeiten. Gesten, die für den Blick der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft als ab­­­strakt und von Sinn befreit erscheinen, bekommen so einen zweiten Sinn, eine Ebene, die von ‚Eingeweihten‘ als queere Sinnlichkeit, Sexualität bzw. Erotik erkannt wird. 7. Eroto­-

Elizabeth Freeman hat den Begriff der Eroto­

historiografie

historiografie eingeführt, um den affektiven Einsatz in historiografischer Arbeit zu beschreiben. Das Schreiben von Geschichte,

insbesondere von queerer Geschichte, ist voll von Begehren und schafft Identifikation und Gemeinschaft über Zeiten hinweg, die nicht immer in gerader Linie verläuft oder einer straighten Genealogie folgt. Mit Metaphern wie „bottom historiography“ schlägt sie eine Beziehung zur Vergangenheit als (physische) Inkorporation vor, die eine „pleasurably porous relation to new configurations of the past and unpredictable futures“34 entwickelt: „historicity itself might appear as a structure of tactile feeling, a mode of touch, even a sexual practice.“35 Faggy Gestures funktionieren transhistorisch, und eröffnen eine queere Beziehung zwischen historiografischem Objekt und zeitgenössischen Betrachter*innen. Ein schweifender Blick durchs Archiv, der für queere Sinnlichkeit empfänglich ist (und möglicherweise auch eine Lust an der Serialität verspürt), wird von Körpern und Gesten im Archiv in einer Weise berührt, die eine neue Sicht auf die queere Vergangenheit eröffnet. Und diese tuntigen Gesten sind dabei meist selbst historische Zitate (oder Imaginationen/Evokationen anderer Zeiten), wie Ruprecht an Sacharoffs „limp wrist“ aufzeigt.36 8. Exotismus

„Handhaltung Derwisch“ notiert Seewitz in seinem choreografischen Skizzenbuch, aber ich sehe nur Variationen von abgeknickten Handgelenken. Dennoch, dem Eindruck eines

sich durch die queere Tanzmoderne ziehenden Musters von Faggy Gestures stellte sich bald ein weiterer Eindruck hinzu, dass diese Gesten oft mit exotistischen Bildzusammenhängen einhergingen: There is an obvious link at the beginning of the twentieth century between the ethnographic appropriation by Western dance makers of non-Western traditions, and the heightened gesturality of modernist dance. Gestures often carry specific

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

F r a n z X a v e r S e t z e r : J o a c h i m v o n S e e w i t z „ H e l i o g a b a l “ ( 19 21) , i n : F r i t z G i e s e : K ö r p e r s e e l e . G e d a n k e n ü b e r p e r s ö n l i c h e G e s t a l t u n g , M ü n c h e n : D e l p h i n 19 24 , Ta f e l 6 4 .

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Eike Wittrock

37 Ruprecht: Gestural Imaginaries, 239, Fn. 27.

narrative meanings in non-Western dance, and practitioners

38 Vgl. Boone, Joseph A.: „Vacation Cruises; or, The Homoerotics of Orientalism“, in: PMLA 110,1, 1995, 89–107. Vgl. auch besonders für die homoerotische Faszination des Mittelmeers die Wilhelm von Gloeden Rezeption. Peters: Rätselbilder des Geschlechts, 176–188.

a supposition of meaningfulness, without keeping the aspect

39 Vgl. Holt, Claire: „Dance Technique: Three Dance Gestures“, https:// digitalcollections.nypl.org/ items/510d47dc-83fd-a3d9e040-e00a18064a99, Claire Holt, „Hands of Javanese court dancer“, https:// digitalcollections.nypl. org/items/510d47dc-50e9a3d9-e040-e00a18064a99, (zuletzt geprüft 14.07.2021). 40 Vgl. auch Wittrock, Eike: „Julius Hans Spiegel. Das andere Erbe der Moderne“, in: Global Groove. Art, Dance, Performance & Protest, hg. v. Museum Folkwang, München: Hirmer 2021, 308–315. 41 Vgl. dazu exemplarisch Sepahvand, Ashkan (Hg.): Odarodle. Sitten­ geschichte eines Natur­ mysteriums 1535–2017. An imaginary their_story of Naturepeoples 1535–2017. Berlin: Eldorado Editions 2018, 23: „[The] history of the homosexual cannot be separated from the history of the Other, its construction, articulation and fragmentation into divided categories based on race, gender, class, sexuality, and origin, and its epistemological capture into the official knowledge forms that maintain these normative separations.“

of modernist dance seem to have usurped this in the form of of narrative codification.37 Auch bei Joachim von Seewitz stellt sich dieser Eindruck immer wieder, ein. Kulminationspunkt dieser Verschmelzung von Exotismus und Tuntigkeit scheint sein Solo Heliogabal zu sein, dessen Fotografie aus dem Atelier Setzer sowohl in der Eleganten Welt (18/1919), wie auch in Fritz Gieses Körperseele abgedruckt ist. ◄

Abb. 5

Dort mit der Bildunterschrift „Femininisierter Mann“ versehen, dient Seewitz als Beispiel für Gieses (verkürzte) Übertragung des Hirschfeld’schen Konzepts der (sexuellen) Zwischenstufen auf Tanz und Körperbewegung, das von Giese in diesem Band zu einer Art kulturellen Formel der Individualität universalisiert und Schlüssel zur Objektivierung von Tanz wird. Die Wahl des Heliogabal-Fotos zeugt hier jedoch auch von der engen Verbindung von Queerness mit Exotik und historischer Fantasie, in der sexuelle Transgression durch den Verweis auf entfernte Orte wie auch auf entfernte Zeiten gleichzeitig legitimiert wie auch fern gehalten wird.38 Auch das ist eine Faggy Gesture. In der Fotografie wiederum ausgestellte Gliedmaßen: Füße und Hände sind in exquisiten Posen ausgestellt, diesmal mit weniger Pelz oder Federn, dafür mit Ketten und Brokat verziert. Und auch hier wird der sehnsuchtsvolle Blick von Gesten begleitet, die – je nach Blickwinkel – antikisierend, exotisierend, oder tuntig wirken. An dieser Stelle ließen sich andere Serien von Gesten anschließen, wie z. B. zu Claire Holts Handstudien indonesischer Tänzerinnen, die sie auf Forschungsreisen in den 1930er Jahren (in durchaus queeren Umfeld von Walter Spies) aufgenommen hat, 39 oder die Faggy Gestures anderer Tänzer der Moderne, um auf die Komplexität dieser Gesten, und den unterschiedlichen Politiken ihrer Kontextverschiebungen hinzuweisen. 40 In dieser Hinsicht ist die (tanzhistorische) Verortung der Faggy Gestures zwischen Queerness und Exotismus auch eine spezifische Intervention in deutsche Queer- und insbesondere Schwulengeschichte, die ihr Verhältnis zur Konstruktion des Selbst durch Imaginationen des Anderen bisher nur in Ansätzen reflektiert hat.41

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Some Faggy Gestures, oder: Die Hände von Joachim von Seewitz

Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca Gerald Siegmund

1 Ich folge in der Beschreibung der Bilder der Betrachter*innenperspektive, aus der das Bild in Augenschein genommen wird. Dies macht für das Argument, das der Text zu entwickeln versucht, deshalb Sinn, wie hier das Optisch-Unbewusste als Effekt der Bildinszenierung im Auge der Betrachter*in entsteht, ohne dass die Tänzerin dies in ihrem Sprung beabsichtigt hätte. Aus der Sicht der Tänzerin sind die Richtungsangaben selbstverständlich genau umgekehrt. 2 Das Foto wurde 1927 in der Jahresschau „Das deutsche Lichtbild“ veröffentlicht; vgl. dazu Kuhlmann, Christiane: Bewegter Körper – Mecha­ nischer Apparat. Zur medialen Verschränkung von Tanz und Fotografie in den 1920er Jahre an den Beispielen von Charlotte Rudolph, Suse Byk und Lotte Jacobi, Frankfurt/M./ Berlin/Bern et al.: Peter Lang 2003, 39; Reproduktionen des Fotos finden sich u. a. in Kuhlmann, Bewegter Körper – Mecha­ nischer Apparat, 231 u. in Kuhlmann, Christiane: Charlotte Rudolph. Tanzfotografie 1924–1939, Göttingen: Steidl 2004, 22.

Zwei Bilder

Palucca springt. Auf einer Fotografie von Charlotte Rudolph aus dem Jahr 1924 ist aus der Perspektive der/des Betrachtenden gesehen1 der Körper der Tänzerin weit

geöffnet und beugt sich nach hinten über. Der Kopf ist optisch leicht nach links geneigt, das Gesicht nur verkürzt von unten zu erkennen. Palucca zieht ihre linke Schulter weit nach links, die beiden Arme auf Schulterhöhe maximal gedehnt und ausgestreckt, der rechte noch nach hinten oben abstehend als käme er gerade aus der hellen Wand, die das Bild nach hinten abschließt. Die rechte geöffnete Hand, deren Finger leicht nach unten zeigen, steht in Opposition zur linken Hand, deren Finger nach oben zeigen und die Sprungbewegung links aus dem Bildausschnitt hinaus abzubremsen scheint. Durch die perspektivische Verkürzung scheint der Körper wie von oben betrachtet: hingeworfen, auf dem Boden liegend wie eine leblose Puppe mit gespreizten Gliedmaßen. Während das linke Bein leicht gebeugt nach links springt, ist das rechte nur verkürzt zu erkennen: Der Unterschenkel bohrt sich als unscharfer Stumpf in die Rückwand. Ein doppelter Schatten eilt der Figur auf der linken Bildseite voraus. Im Schattenbild kann man die Position des rechten Beines erkennen, das wahrscheinlich das Absprungbein war und nun angewinkelt dem linken Bein folgt, dessen Schatten ebenso wie der Schatten des Oberkörpers das Bild bereits verlassen hat. Auf dem rechten Unterschenkel, der sich dem Blick der/des Betrachtenden frontal anbietet, spiegelt sich das Licht. Es wirft einen dunklen Schatten auf die Innenseite des Oberschenkels.2

Abb. 1 ► Palucca springt. Mit angewinkelten leicht zur Seite geöffneten Beinen, gleichsam in der Hocke steht Palucca in der Luft. Ihre beiden Arme sind gebeugt und augenscheinlich angespannt nach hinten gestreckt, die linke Hand zur Faust geballt. Der rechte Arm erscheint hinter ihrem Kopf nur verkürzt, während der linke den riesenhaften doppelten Schatten auf der linken Bildseite durchbohrt. Der doppelte Schatten, durch zwei auf der linken Seite positio­nierten Scheinwerfern erzeugt, löst die Körpermitte in eine

C h a r l o t t e R u d o l p h : G r e t P a l u c c a ,   B e w e g u n g s s t u d i e ,   D r e s d e n , c a . 19 2 5 , v e r m u t l i c h S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 5 x 7 c m , A k a d e m i e d e r K ü n s t e , G r e t- P a l u c c a - A r c h i v N r. 3 6 8 4 _ 0 01.

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Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

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Gerald Siegmund

C h a r l o t t e R u d o l p h : G r e t P a l u c c a ,  E r s t e S p r u n g - u n d B e w e g u n g s s t u d i e ,   D r e s d e n , 19 2 2 –19 24 , v e r m u t l i c h S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 5 x 7 c m , A k a d e m i e d e r K ü n s t e , G r e t- P a l u c c a - A r c h i v N r. 37 01_ 0 0 3 .

dunkle Fläche auf. Lediglich die Unterschenkel und Füße sowie 3 Das Bild wurde 1927 in der Reihe „Neue Bauhausbücher“, Band 8 Laszlo Moholy-Nagy. Malerei, Fotografie, Film veröffentlicht; Reproduktionen finden sich in Kuhlmann: Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 238 u. in Kuhlmann: Charlotte Rudolph, 9, in dieser Publikation datiert Kuhlmann die Erstveröffentlichung

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der rechte Arm und die Teile des Haars sind im Schattenbild zu erkennen. Eine gestaltlose Fläche, die die Gestalt begleitet und optisch verändert. Ihr Körper erscheint leicht nach rechts gedreht, d. h. der Absprung erfolgte im Winkel zur Kamera, die den Körper seitlich zu fassen bekommt. Paluccas Haare f liegen nach oben und nach vorne, als erfolge der Sprung rückwärts, ein kraftvoller Absprung mit beiden Beinen vielleicht, ein Sprung mit dem nach hinten getreckten Hintern in die Wand hinein, ein Sprung, der sich mit Geschwindigkeit nach Überschreiten seines Höhepunkts Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

auf das Jahr 1926 in der illustrierten Zeitschrift des Ullsteinverlages UHU, nur im darauffolgenden Absatz die Erstveröffentlichung für die Erstausgabe von Moholy-Nagys Buch auf das Jahr 1925 zu reklamieren; Kuhlmann: Charlotte Rudolph, 15. 4 William Forsythe hat dieses Gefühl in Zusammenhang mit seiner Installation White Bouncey Castle, der überdimensionierten Hüpf burg, in der die Besucher auf und ab springen, beschrieben, vgl. Siegmund, Gerald: „Choreografische Interventionen“, in: Schluss mit der Spaßkultur, Ballett International/Tanz Aktuell, Jahrbuch, Berlin: Friedrich 2001, 74.

rauschend bereits wieder nach unten bewegt. Auf dem linken Knie, das direkt in die Kamera schaut, spiegelt sich das Licht.3 ◄

Abb. 2

Palucca springt. Immer wieder. Zu springen, springen zu können, bedeutet zunächst eine immense Mobilisierung von Energie im Körper, die ihn der Schwerkraft entreißt, ihn in die Luft erhebt, wo sich die Energie eruptiv entlädt, was den Körper wieder zu Boden sinken lässt. Im Zustand des Springens kann niemand verweilen. Er ist gleichsam ein Ausnahmezustand im Körper, der ihn auf ein anderes Energieniveau hebt und ihn dabei transformiert. Der springende Körper widersteht der Schwerkraft, die ihn allem zum Trotz unweigerlich wieder einfängt. Der springende Körper springt heraus aus der alltäglichen Ordnung der Körper, ihrer Erdenschwere und ihrer raum-zeitlichen Orientierung, um

5 Jahn, Tessa; Wittrock, Eike u. Wortelkamp, Isa: „Bilder von Bewegung. Eine Einführung“, in: Tanzfotografie. Histo­ riografische Reflexionen der Moderne, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp, Bielefeld: transcript 2015, 11–28, hier 16. In einem früheren Aufsatz habe ich zwei andere Sprungbilder auf ihre ästhetische Komposition und dem damit verbundenen Tanzverständnis analysiert; vgl. Siegmund, Gerald: „Empfindung und Riss. Körper, Raum und Wahr­ nehmung in Tanzfotografien von Gertrud Leistikow und Grete Wiesenthal“, in: Jahn, Wittrock u. Wortelkamp (Hg.): Tanzfotografie, 129–138.

in der Luft, in Sekunden der Leichtigkeit und des Fliegens, ein

6 Vgl. Anm. 1 und 2; daneben fanden gerade diese Fotografien auch für Werbe- und Ankündigungsplakate für Tanzabende Verwendung, vgl. Kuhlmann: Charlotte Rudolph, 11; OberzaucherSchüller, Gunhild (Hg.): Ausdruckstanz. Eine mitteleuropäische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wilhelmshaven: Florian Noetzl 1992, 321.

Tanzens selbst aufgenommen hat und die schon zu Lebzeiten der

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Moment des Glücks vielleicht, ein Anders-sein-können zu genießen.4 Sprungbilder, Fotografien von springenden Tänzer*innen, zeigen als „markante Figuren des Tanzes“ „Effekte von Bewegung“, die die Wahrnehmung der Betrachter*innen selbst in Bewegung versetzen.5 Was ist also dran am Sprung, der ein derart beliebtes Motiv für die Tanzfotograf*innen war? Die wohl bekannteste Tanzfotografin der 1920er und 1930er Jahre, Charlotte Rudolph (1986–1983), Schülerin von Hugo Erfurth, hat in ihrer Karriere die springende Gret Palucca regelmäßig foto­ grafiert, wobei ihre Aufnahmen fast ausschließlich in ihrem Dresdner Fotoatelier, das sie seit 1924 betrieb, entstanden sind. Es handelt sich weder um Aufführungsdokumentationen noch um Trainingsauf­ nahmen, weder um Probenfotos noch um Stellungsbilder, sondern um bewusst inszenierte Fotografien, die Rudolph während des Fotografin ikonischen Status erlangt hatten.6 Vor allem die frühen, 1924 entstandenen Aufnahmen von Palucca sind schon auf den ersten Blick vielschichtig und interessant. Die Faszination entsteht wohl auch daraus, dass man zunächst nicht genau erkennt, was genau im Bild festgehalten wurde. Ein Sprung, sicherlich, doch wie genau lief der ab? Der Körper der Tänzerin konkurriert mit riesigen Schatten, während seine Gliedmaßen ein Eigenleben zu führen und sich vom Körper loszulösen scheinen. Gerald Siegmund

7 Der Begriff des Optisch-Unbewussten wurde von Walter Benjamin geprägt, vgl. Anm. 37 u. 41; Meinen Überlegungen zu diesem Thema liegt außerdem das Buch von Rosalind E. Krauss The Optical Unconscious zugrunde, in dem die Kunsthistorikerin mit Hilfe der Psychoanalyse der Spur einer anderen Moderne nachgeht, ohne dabei aber das Medium der Fotografie zu diskutieren; Krauss, Rosalind E.: The Optical Unconscious, Cambridge, MA: MIT Press 1994. 8 Das Bild findet sich in: Erdmann-Rajski, Katja: Gret Palucca. Tanz und Zeiterfahrung im 20. Jahrhundert: Weimarer Republik, National­ sozialismus, Deutsche Demokratische Republik, Hildesheim/Zürich/ New York: Olms 2000, 241; zudem ist es in dem folgenden Sammelband abgedruckt: Oberzaucher-Schüller, Ausdrucks­ tanz, 116. Die Datierungen unterscheiden sich in beiden Fällen erheblich. Gibt Erdman-Rajski 1930 und als Ort den Münchner Tanzkongress an, ist das Foto bei Oberzaucher-Schüller auf 1926 datiert. Im Internet findet sich ebenfalls die Datierung 1925/26 sowie das Bild eines Abzugs mit der handschriftlichen Signatur Robertsons: „Robertson 29“: https:// kultur24-berlin.de/ das-jahrhundert-destanzes/02-bauhaus-unddie-fotografie-9-800/ (zuletzt geprüft 22.12.2021). Beides stellt sowohl das Datum 1930 als auch den Ort der Aufnahme infrage. Da die Datierung des Fotos für meine Argumentation nicht zentral ist, gehe ich im Folgenden nicht weiter auf das Problem ein.

Die Transformation, der Sprung heraus aus der Ordnung, und die Faszination, die die Verwandlung bei den Betrachter*innen auslöst, ist Gegenstand des folgenden Textes. Im ersten Abschnitt gehe ich der vorherrschenden Lesart von Tanzfotografie nach, die davon ausgeht, dass die Fotografien von Rudolph den tänzerischen Stil der Palucca sehr gut einfangen. Dem liegt ein Verständnis von Fotografie als Medium der Selbsttransparenz von Gegenstand und Abbild zugrunde, die in ein indexikalisches Verhältnis zueinander gebracht werden. Das Bild öffnet sich auf seinen Gegenstand, die springende Palucca, gerade so, als ob sie tatsächlich vor unseren Augen springen würde. In einem weiteren Schritt werde ich diese Selbsttransparenz problematisieren und dabei auf die gestalterischen Mittel Rudolphs – die Schatten und die perspektivischen Verzerrungen – eingehen. Diese dienen mir anschließend dazu, meine These vom Optisch-Unbewussten7 zu formulieren, welches sich mit Hilfe der Darstellungsmittel Rudolphs vor den Augen der Betrachtenden artikuliert. Rudolphs Fotos faszinieren, weil sie den Sprung des Subjekts, der Tänzerin, ins Licht zum Thema machen. Die Fotos inszenieren die Erscheinbarkeit des Körpers als fotografische Selbstreflexion. Nicht die Art und Ausrichtung des Sprungs stehen dabei im Vordergrund, sondern das Auftauchen des noch leicht unförmigen Körpers im Feld des Sichtbaren. Der Körper springt hinein ins Blickfeld der Betrachter*innen, in dem er sich aus dem opaken Bildhintergrund herauszulösen beginnt ohne sich jedoch ganz von ihm ablösen zu können. Die Fotografien versuchen jenen uneinholbaren Augenblick zwischen Gestalt – und Gestalt­ losigkeit, in dem sich der tanzende Körper zu formen beginnt, nachträglich einzufangen. Sie zeigen damit abseits der Bewegungen der Tänzerin und deren Evidenz eine Bewegung, die sich erst durch die Darstellungsmittel der Fotografin erschließt. Nicht jedes Sprungfoto von Rudolph, das Palucca zeigt, löst also diese Reflexion aus. Es wäre daher unangebracht, dem Sprungbild als Typus insgesamt die Qualität des Optisch-Unbewussten zuzuschreiben. Ist diese Dimension der Wirkung abhängig von der Bildinszenierung, so lässt sie sich auch auf Sprungfotografien Paluccas von anderen Fotografen entdecken. So kann man das Optisch-Unbewusste auch auf Bildern des Fotografen Hans Robertson (1883–1950) wiederfinden, dessen Bildästhetik mit ihren Schattenwürfen und dem verengten Bildausschnitt den Techniken Rudolphs sehr ähnlich sind.8

232

Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

9 Rudolph, Charlotte: „Tanzfotografie“, in: Kuhlmann: Charlotte Rudolph, 82–83, hier 82.

H a n s R o b e r t s o n : G r e t P a l u c c a ,  D e r k ü n s t l e r i s c h e Ta n z ,  o h n e e i n d e u t i g e O r t s a n g a b e , o h n e e i n d e u t i g e D a t i e r u n g , s i e h e d a z u F n . 8 ,   B u n d e s a r c h i v, B i l d 18 3 - R 67617.

Abb. 3 ▲ Der Index der

Rudolph charakterisiert 1929 in einem Bei-

Selbstpräsenz

trag zur Zeitschrift Schrifttanz ihre Fotografien selbst als „tänzerische Lichtbilder“ und stellt sie dem „Stellungsbild“ gegen-

9

über. Musste der Tänzer beim Stellungsbild in einer Pose verharren, die dem „Wesen des Tanzes“ als Bewegung doch zuwiderlaufe, so

233

Gerald Siegmund

10 Ebd. 11 Rudolph, Charlotte: „Das tänzerische Lichtbild“, in: Kuhlmann: Charlotte Rudolph, 84–85, hier 85.

definiert Rudolph die Tanzfotografie als „Wiedergabe der Bewegung des Tänzers im Bilde, das heißt der Tänzer tanzt während der Aufnahme.“10 Rudolphs Fotografien, die sie mit einer modernen Spiegelreflexkamera machte, entstanden in ihrem Dresdner

12 Rudolph: „Tanzfotografie“, 82.

Fotostudio vor einer hellen Wand, während die Tänzer*innen

13 Ebd., 83.

improvisierten. „Das ‚tänzerische Lichtbild‘“, schreibt sie 1930 in

14 Kuhlmann: Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 39.

ihrem Text für die Vierteljahreschrift Tanzgemeinschaft, „ist also

15 Ebd.

extra für die Kamera tanzten und, wie im Fall von Palucca, sogar

jenes, das während des Tanzes aufgenommen wird. Der tänzerisch-richtige Moment und der bildmäßige richtige Moment sind vereint.“11 Das Finden des richtigen Moments, das durch Paluccas Improvisationen mit ihren unvorhersehbaren Wendungen zusätzlich erschwert wurde, versucht Rudolph durch Einfühlung in den Tänzer herbeizuführen. Der Photograph muß sich nicht nur in den Tänzer hinein­ fühlen, er muß vorausfühlen, denn das Auge sieht den Moment durch die Vermittlung des Gehirns später als der Apparat. Diese Bruchteile einer Sekunde genügen, um den falschen Moment zu erhalten.12 Das konstitutive Zu-spät der Kameraauslösung, das Verfehlen des richtigen Moments durch das Betätigen des Fingers, das doch das einfangen möchte, was gerade eben vergangen ist, überbrückt Rudolph durch Intuition und eine Art Mittanzen, das die Fotografin erahnen oder spüren lässt, was als nächstes geschehen wird. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich auch für Rudolphs Fotografien der tanzenden Palucca feststellen, dass die Bilder die Tanzästhetik Paluccas sehr gut einfangen und dem eigenen Anspruch Rudolphs, die „charakteristische Bewegung des Tänzers“13 wiederzugeben also gerecht werden. „Von den bis dato gemachten Fotografien von Gret Palucca“, schreibt Christiane Kuhl­mann in ihrer ausführlichen und detailreichen Studie zum Verhältnis von Tanz und Fotografie in der Moderne, „sind die beiden oben skizzierten Aufnahmen sicherlich diejenigen, bei denen die Foto­g rafie und der Tanz am eindrücklichsten eine künstlerische Symbiose eingehen.“14 Beide Fotografien charakterisieren „einen Hauptaspekt von Paluccas Tanzvorstellung“15, die Kuhlmann mit Referenz auf zeitgenössische Quellen wie Hans Fischer und John Schikowski als athletischen Stil definiert, voller Schwung und

234

Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

16 Schikowski, John: Geschichte des Tanzes, Berlin: Büchergilde Gutenberg 1926, 149.

Präzision, der zugleich kraftvoll und doch locker in den Glied­maßen

17 Vgl. zu diesem vielschichtigen Ansatz, der den Evidenzcharakter der Fotografie relativiert und sie als Quelle betrachtet, die es einzuordnen gilt, den Sammelband von Jahn, Wittrock u. Wortelkamp: Tanzfotografie.

innersten Erlebens.“16 Die Fotos, die Sprünge und Körperbilder

18 Vgl. Krauss, Rosalind E.: „Notes on the Index. Part 2“, in: The Originality of the Avant-Garde and Other Modernist Myths, Cambridge, MA: MIT Press 1999 [1986], 215.

wie deren Archivierungs- und Publikationszusammenhänge.17

19 Dubois, Philippe: Der Fotografische Akt. Versuch über ein theo­ retisches Dispositiv, hg. v. Herta Wolf, Dresden/ Amsterdam: Verlag der Kunst 1998, 30, vgl. auch Kuhlmann, Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 185.

sei. Jeder Stoß, jeder Sprung, jede Wendung und jede Spannung wirke, wie Schikowski schreibt, „als beseelter Ausdruck eigensten, voller spannungsgeladener Energie zeigen, sagen also etwas über Paluccas Ästhetik aus: Diese lässt sich anhand der Fotos nachvollziehen. Sie wird durch die Fotos der „historiografischen Reflexion“ anheimgestellt, die notwendigerweise die mediale Spezifik der Fotografien als Bilder von Bewegung ebenso berücksichtigen muss Kuhlmann schreibt der Tanzfotografie zunächst eine referentielle Funktion zu, die sie im indexikalischen Charakter sowohl des Ausdrucktanzes als auch der Tanzfotografie begründet sieht. Der indexikalische Charakter der Fotografie ist längst ein fester Topos der Fotografietheorie geworden. Das Medium Fotografie funktio­ niert indexikalisch, weil sich das Bild als materielle, physische Spur des Lichts, das auf einen Gegenstand fällt, herausbildet. Es ist eben jene Spur des Lichts, aufgrund deren der Zeichentheoretiker Charles Sanders Peirce die Fotografie dem Reich der indexikalischen und nicht, wie zu vermuten wäre, der ikonischen Zeichen, zurechnet.18

20 Ebd., S. 75, vgl. auch Kuhlmann, Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 187.

Durch den Moment des Auslösens der Kamera, durch den sich Tanz

21 Barthes, Roland: „Die Fotografie als Botschaft“, in: Ders.: Der entgegenkom­ mende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, 11–27, hier 12.

muliert.19 „Es ist mehr als evident“, schreibt Dubois, „die Fotografie

und Fotografie berühren, entsteht ein „unhintergehbares Gefühl der Wirklichkeit“, wie es der Fotografietheoretiker Philippe Dubois forlegt durch ihre Entstehung zwangsläufig Zeugnis ab: Sie beweist ontologisch die Existenz dessen, was sie abbildet.“20 Wie Roland Barthes in seiner Auseinandersetzung mit der Fotografie betont, findet beim Zeichentypus des Index keine Übersetzung des dargebotenen Objekts und dessen Zeichen statt. Es sei unnötig, so Barthes, zwischen einem Objekt und dem Bild von ihm ein Relais, das heißt einen Code, anzubringen; gewiß ist das Bild nicht das Wirkliche: Aber es ist zumindest das perfekte Analogon davon, und für den gesunden Menschenverstand wird die Fotografie gerade durch diese analogische Perfektion definiert. Somit tritt der Sonderstatus des fotografischen Bildes hervor: Es ist eine Botschaft ohne Code […].21 Für die Kunsthistorikerin Rosalind Krauss wird Barthes „Botschaft ohne Code“ zum Signum der modernen abstrakten Kunst der 1970er

235

Gerald Siegmund

22 Krauss: „Notes on the Index. Part 2“, 210.

Jahre: „As paradoxical as it may seem, photography has increasingly

23 Ebd., 212.

operiert fotografisch, weil sie in das Leben oder die Wirklichkeit

24 Krauss betont, dass sowohl die Fotografie als auch die moderne abstrakte Kunst als „Botschaft ohne Code“ eine dritte Operation beinhalte: die des Diskurses. Sowohl die Künstler*innen selbst als auch die Betrachtenden supplementieren die erzeugte vermeintlich zeichenlose Evidenz mit sprachlichen Äußerungen, die zum Teil auch Teil des Kunstwerks werden; ebd., 218.

selbst eingreift. Mit einer Geste der Entleerung von traditionel-

25 Kuhlmann: Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 194.

now seek to employ.“23

become the operative model for abstraction.“22 Die abstrakte Kunst

len Darstellungskonventionen und deren Codes intervenieren ihre Werke etwa in Gebäuden oder im öffentlichen Raum direkt am Ort des Geschehens, auf den sie, unmittelbar benachbart und doch auf Abstand, indexikalisch verweisen. Das Ergebnis dieser Operation sei, so Krauss, Bezeugung der Präsenz des Gegenstands, mithin dessen Evidenz. Genau hierin liegt nun für sie die Analogie zum Verfahren der Fotografie: „In the photograph’s distance from what could be called syntax one finds the mute presence of an uncoded event. And it is this kind of presence that abstract artists An Krauss’ Beobachtung knüpft auch Kuhlmann an, indem sie nun ihrerseits dem modernen Tanz, und also auch dem Tanz Paluccas, indexikalischen Charakter bescheinigt. Auch der Ausdruckstanz gründet sich auf der Entleerung traditioneller Darstellungscodes wie etwa jenem des Balletts, ohne dass die uncodierten Bewegungen nun wieder in ein neues Zeichensystem überführt würden. Gerade weil sie, ich erinnere hier an Schikowskis Formulierung zu Palucca, „als beseelter Ausdruck eigensten, innersten Erlebens“ gelten, fallen sie zusammen mit dem Leben selbst. Das, was die Tänzerin nach außen an Bewegung zeigt, fungiert als Index auf jenes sprachlose Innere, auf das sie selbstreferentiell verweist. Innen und Außen, Leben und dessen Artikulation sind transparent. Die Bewegung deutet auf sie hin und macht den tanzenden Körper damit zu seiner eigenen Referenz. Der Körper dreht sich gleichermaßen um sich selbst und erzeugt dadurch eine gesteigerte Erfahrung von sprachloser Präsenz. 24 Deshalb kann Kuhlmann sagen, daß der Fotografie des modernen Ausdruckstanzes eine doppelte indexikalische Struktur anhaftet: Die selbstreferentielle Spur des Ausdrucks im Körper und die reflektierte Spur, die sich durch den fotografischen Prozess auf dem Film abzeichnet. In dieser Überschneidung der indexikalischen Spuren liegt die mediale Schnittstelle zwischen der Körperkunst Tanz und der Fotografie.25

236

Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

26 Die Formulierung zitiert Georges Didi-Hubermans psychoanalytisch fundierte Studie zum Minimalismus Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München: Wilhelm Fink 1999; Spuren von Hubermans Reflektionen über die Abwesenheit finden sich in meiner früheren Untersuchung zur Abwesenheit als strukturierenden Modus der Wahrnehmung von Tanz: Siegmund, Gerald: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes, Bielefeld: transcript 2006. 27 Ebd., 38.

Tanz und Fotografie verweisen über den minimalen Abstand, der sie doch trennen muss, auf eine Art und Weise aufeinander, dass der eine im anderen als Analogon, wie Barthes sagt, der Wirklichkeit anschaulich wird. Schattenspiele

Ich möchte in diesem Beitrag an diese zentralen Überlegungen anknüpfen und sie an einem bestimmten Punkt umlenken. Die Transparenz der Fotos, die doch für

jede*n Betrachter*in leicht ersichtlich stark inszeniert sind, auf die Wirklichkeit der Tänzerin und des Tanzes hin, den sie abbildet, wird, so meine Lesart, an entscheidenden Stellen verdunkelt. Etwas stört die Selbsttransparenz des Tanzes und der Fotos. Die Fotos haben gleichsam einen Knick in der Optik. Auf Rudolphs Fotografien der springenden Palucca springt etwas aus dem Bild und springt uns an. Nicht nur wir schauen das Bild an, sondern auch das Bild schaut uns an und blickt zurück.26 Beim Betrachten der Fotos, und vor allem der beiden von mir ausgewählten Fotos, beschleicht mich ein unheimliches Gefühl, das ich zunächst daran festmache, dass der Körper der Tänzerin, deren Gesicht nicht zu erkennen ist, perspektivisch stark verkürzt dargestellt wird, sodass er sowohl seiner alltäglichen als auch seiner tänzerischen Funktionalität enthoben scheint. Er erscheint als eine Art zerrissener Fleck, zugleich gestaucht und doch explosiv expansiv sich vor dem Hintergrund ausbreitend, schwebend und ohne Bodenhaftung. Desweiteren fangen die Schatten und damit die Gestaltung des Lichts die Blicke ein: Riesige Schatten sind es, die den zentralen Körper nicht nur verdoppeln, sondern wie auf dem ersten Bild sogar vervielfachen und seiner visuellen Ausbreitung Vorschub leisten. „Die Wahl des Ausschnitts“, so Kuhlmann, „ist ebenso wie die Betonung des Schattens ein elementarer Bestandteil in Rudolphs Tanzfotografie.“27 Durch Vergleiche zwischen verschiedenen Abzügen des gleichen Motivs konnte Kuhlmann nachweisen, dass Rudolph den Ausschnitt oft nachträglich dadurch bearbeitet hat, dass sie den Boden im Bildvordergrund beschneidet oder in einigen Abzügen sogar ganz weglässt. Dadurch wirkt die Tanzfläche klein und beengt, der Raum geht in eine Fläche über, die durch den geschlossenen Hintergrund noch betont wird. Durch eine Kameraposition von leicht unten erscheint der tanzende Körper zusätzlich in seinen Proportionen verkürzt und verschoben. Rudolph selbst schreibt dazu:

237

Gerald Siegmund

28 Rudolph: „Tanzfotografie“, 83.

Die Bewegung des Tänzers unterliegt räumlichen Geset-

29 Kuhlmann: Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 37.

räumlichen Wirkung wiedergeben. Bei der photographischen

30 Ebd., 38.

nung“ oft beieinander […] geht der Tänzer vorwärts, den Kopf

31 Rudolph: „Lichtbild“, 85.

zen, infolgedessen muß das Tanzbild die Bewegung in ihrer Wiedergabe liegen „perspektivische Wirkung“ und „Verzeichzurück, die Arme vorgestreckt, werden die Hände zu groß, die Arme verkürzt, der Kopf verhältnismäßig zu klein. Hier liegt der strittige Punkt. Die einen lehnen die Aufnahme wegen der ‚Verzeichnung‘ ab, die anderen freuen sich der ‚perspektivischen Wiedergabe‘.28 Ohne selbst wertend in die Debatte einzugreifen, lässt sich aufgrund ihrer eigenen Fotos vermuten, dass Rudolph nichts gegen die „Verzeichnung“ einzuwenden hatte. An diesen beiden Momenten – den Schatten und den Verkürzungen – lässt sich, so meine These, eine weitere Funktion der Tanzfotografie Rudolphs festmachen, die über die Repräsentation einer Tanzästhetik hinausgeht. Die Fotos zeigen etwas, das der Tanz nicht zeigen kann, das im Tanzen nicht zu sehen ist. Wenn dies zutrifft, stellt sich die Frage, was mit der referentiellen Funktion der Fotografien geschieht, wenn durch Verkürzungen in der Aufnahme und Nachbearbeitungen der Fotografien der Körper im Bild unkenntlich wird? Wenn wir mithilfe der Kamera etwas zu sehen bekommen, was wir ohne ihre Hilfe gar nicht sehen könnten? Welche Funktion haben die Schatten, die auf den Sprungfotografien derart ins Auge springen, sodass die Köper regelrecht „mit ihrem eigenen Schatten konfrontiert“ werden?29 An Kuhlmanns Beobachtung, dass „[a]ufgrund des knapp bemessenen Bildraums […] nicht eindeutig zu entscheiden [ist], welcher Art die gezeigte Bewegung eigentlich ist“30, möchte ich eine Frage anschließen. Denn was wird hier abgebildet, wenn die „eigentliche“ Bewegung gar nicht zu erkennen ist? Was zeigt sich auf den Fotos dann anderes als die Tanzästhetik Paluccas? Wie verhalten sich die perspektivischen Verkürzungen, die den Raumeindruck auf eine Fläche reduzieren, zu Rudolphs Anspruch, „den Tänzer in jedem Moment als raum-plastische Gestalt wiederzugeben“31? Will man dem Schatten nicht nur als einen Verweis auf die Darstellungskonventionen expressionistischer Kunst und hier vor allem auf den Film verstehen, ergeben sich zunächst zwei Funktionen des Schattens, denen ich zusammen mit den Verkürzungen im Folgenden gerne nachgehen möchte.

238

Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

32 Kuhlmann notiert, das sich auf dem linken Oberschenkel der Tänzerin ein starker, später retu­ schier­t er Lichtreflex befindet, der den Platz des Lichtspots verrät; Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 34.

Der Schatten

Im ersten beschriebenen Bild erscheint

als Spur der Zeit

der Schatten riesengroß und nimmt

33 Ebd., 38–39 u. 237; Kuhlmann: Charlotte Rudolph, 24.

dehnter Oberkörper zieht den Sprung zum linken Bildrand hin,

34 Ebd., 38.

einen Großteil der linken Bildhälfte ein. Das rechte Bein der Tänzerin, das vermutlich ihr Absprungbein war, ist ab dem Knie nur verkürzt dargestellt und daher lediglich zu erahnen; ihr nach hinten übermithin also zur rechten Seite der Tänzerin. Der nach links sich beugende Körper folgt dem linken ausgestreckten Arm und dem zur linken Seite gestreckten Bein und vermittelt so den Eindruck, als spränge die Tänzerin jeden Moment über den rechten Rand über das Bild hinaus. Rudolph scheint hier mit zwei Lichtspots gearbeitet zu haben, die beide auf der rechten Seite des Bildes und auf der linken Seite der Tänzerin parallel mit Abstand zueinander positioniert gewesen sein müssen.32 Auf diese Weise entsteht ein doppelter in Größe und Farbe variierender Schatten. Die Schatten markieren mithin die Zeit der Bewegung, die in diesem Bild die Zukunft vorwegnimmt, indem sie die Bewegungsbahn vorzeichnet, auf der Paluccas Körper das Bild verlassen wird. In einem anderen Bild, das Kuhlmann ebenfalls auf 1924 datiert33, fungiert der Schatten der springenden Tänzerin als Spur der Vergangenheit und markiert eine Position, den Paluccas zum rechten Bildrand drängender Körper bereits verlassen hat.

Abb. 4 ► Die Absprungposition lässt sich nicht genau ausmachen; sie scheint von ihrer Position aus entweder mit beiden Beinen auf der Stelle oder von leicht links abgesprungen zu sein. Denn ihre parallel zueinander gehaltenen Beine, der parallel dazu gehaltene linke Arm sowie ihr Oberkörper neigen sich nach links, während der Hüftbereich den Körper nach rechts, aus der Position des Betrachters zum rechten Bildrand hinüberzieht. Der Lichtspot muss auch hier seitlich rechts von der Tänzerin platziert gewesen sein. Den zeitlichen Aspekt des Schattens betonend, schreibt Kuhlmann: „Für Charlotte Rudolph ist das Schattenspiel eine Möglichkeit, in die Fotografie das Prozesshafte der Bewegung zu integrieren.“34 Auf diese Weise inszenieren die Fotos die Zeit, die den Tanz nicht stillstehen lassen, und schließen ihre drei Aspekte Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in der Bildkomposition ein.

239

Gerald Siegmund

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Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

C h a r l o t t e R u d o l p h : G r e t P a l u c c a ,   B e w e g u n g s s t u d i e , D r e s d e n , c a . 19 2 3 , v e r m u t l i c h S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 5 , 8 x 8 , 2 c m , A k a d e m i e d e r K ü n s t e , G r e t- P a l u c c a - A r c h i v N r. 3 6 8 6 _ 0 0 5 .

Der Schatten

Eine Fotografie entsteht durch einen physika-

als Spur des

lisch-chemischen Prozess. Durch die Belich-

Mediums

tung entsteht ein direkter physischer Kontakt zwischen dem Gegenstand und dem fotogra-

fischen Material, auf dessen Oberfläche das Licht den Gegenstand eins zu eins nachzeichnet. Die Fotografie gewinnt dadurch, wie oben beschrieben, Evidenzcharakter. Diese medienspezifische Eigenschaft der Fotografie wird nun in Rudolphs Schattenspielen auf die Probe gestellt und verschoben. Zunächst ist der Schatten, jenes dunkle Negativ, das dem abgelichteten Körper beigestellt ist, an den abgelichteten Körper gebunden, der auf eine bestimmte Art und Weise ausgeleuchtet wurde. Damit wiederholt aber die Lichtinszenierung Rudolphs das Charakteristikum der Fotografie in der Darstellung selbst und verweist somit auf deren Medialität. Der fotografische Akt erzeugt eine Lichtspur auf dem filmischen Material. Er erzeugt mithin eine Art Schatten des abgelichteten Objekts auf dem Material so wie die Scheinwerfer einen Schatten des Körpers auf die Wand werfen. Der Schatten fungiert daher als Foto im Foto. Diese „doppelte indexikalische Struktur“ von der Kuhlmann spricht,35 markiert zugleich das Moment, in dem das Medium der Fotografie selbst sichtbar wird. Das Foto bildet die Realität augenscheinlich nicht nur ab. Es zeigt und reflektiert zugleich sich selbst im Schatten als Spur des Mediums auf der Darstellungsebene des Fotos. Die Medialität der Fotografie zeigt sich im Bild als Dazwischenkunft zwischen dem Bild und dessen Referenz, zwischen Abbild und Realität. Mit diesem Vorgehen taucht auf der Oberfläche des Bildes etwas auf, das den bloßen Wirklichkeitseffekt der Fotografie übersteigt. Kuhlmann selbst weist darauf hin, dass die Schatten auf Rudolphs Fotografien nicht nur auf die Anwesenheit des Referenten, des Körpers, verweisen, sondern zugleich auch „etwas anderes“ zeigen.36 Was dieses andere jedoch ist, bleibt bei Kuhlmann undeutlich. Der präsentische Akt von Tanz und Tanzfotografie scheint gestört zu werden, weil sich der Schatten und dessen Referenz, der Körper, voneinander ablösen, mithin ihr inniges indexikalisches Verhält35 Ebd., 194.

nis aufs Spiel setzen. Gegen diese genuin modernistische Vorstel-

36 Ebd.

lung eines Sehens, das sich in völliger Klarheit und Reinheit selbst

241

Gerald Siegmund

37 Vgl. zu dieser Lesart der Moderne Krauss: The Optical Unconscious, 1–30. 38 Kuhlmann: Bewegter Körper – Mechanischer Apparat, 194. 39 Benjamin, Walter: „Kleine Geschichte der Fotografie“, in: Aufsätze, Essays, Vorträge, Gesammelte Schriften Band II.1, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, 368–385, hier 371.

sieht und dabei von jeglicher Materialität des Gegenstands und des Mediums abstrahieren muss,37 so meine These, erheben die drei hier angeführten Fotos von Rudolph Einspruch. Das Medium zeigt sich. Was ist also dieses andere, das im Schatten und dessen Spiel mit den Dimensionen und Proportionen des Körpers sichtbar wird? Welche „anderen Interpretationsweisen“38 eröffnen sich, wenn man in Betracht zieht, dass die Fotos von ihrer Selbsttransparenz absehen? Der Schatten

Das Schlagwort, das ich für diese

als das Optisch-

andere Interpretationsweise bemühen

Unbewusste

möchte, ist das Optisch-Unbewusste. Walter Benjamin hat diesen Begriff

1931 in seinem Aufsatz „Kleine Gesichte der Fotografie“ geprägt, der im Zusammenhang mit seinem Passagen-Werk entstanden ist und der in der Zeitschrift „Die literarische Welt“ veröffentlich wurde. Dort heißt es über das Optisch-Unbewusste: Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des ‚Ausschreitens‘. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.39 Die Linse der Kamera sowie die Möglichkeiten der Nachbearbeitung der Abzüge, die die Fototechnik bietet, eröffnen der menschlichen Wahrnehmung eine andere Dimension. Sie bringen Verborgenes oder Vergangenes hervor, indem sie es einfangen und in der Fotografie stillstellen. Bei dieser Sichtbarmachung des Unsichtbaren handelt es sich also um ein bildgebendes Verfahren, das neben der Kamera – und dies wird bei den Fotografien von Rudolph mehr als deutlich – auch Entwicklung, Belichtung und Bearbeitung des Abzugs beinhaltet. Beides enthüllt die verborgene Textur, die die sichtbaren und erkennbaren Erscheinungen trägt, ohne dabei selbst zur Erscheinung kommen zu können. So macht die Kamera die

242

Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

40 Rudolph: „Lichtbild“, 85.

Mikrostrukturen unterhalb der bewusst wahrnehmbaren Makro­

41 Benjamin: „Geschichte der Fotografie“, 371.

rückt, die das Auge im Fluss der Zeit sofort wieder verlieren

42 Krauss: The Optical Unconscious, 179.

bild“ selbst auf diese Möglichkeit der Fotografie, indem sie sie

43 Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Abhandlungen, Gesammelte Schriften Band I.2, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, 431–469.

Tanzbilder, die uns ungewohnte Momente zeigen, d. h. Momente,

struktur der Wirklichkeit sichtbar, indem sie Details ins Licht muss. Rudolph verweist in ihrem Text „Das tänzerische Lichtzugleich problematisiert. Sie wisse nicht, schreibt sie, ob „man die wir beim Tanze nicht sehen, oder besser nicht beachten, als tänzerische Lichtbilder bezeichnen kann.“40 Scheinbar wird in solchen Bildern, die sich Rudolph zufolge jedoch seit geraumer Zeit größter Beliebtheit sowohl bei den Tänzer*innen als auch bei den Zeitungsredakteuren und Theaterleitern erfreuen, die Wiedergabe der Bewegung des Tänzers verfälscht. Irgendetwas scheint an diesen Bildern trotzdem oder gerade deshalb zu faszinieren, weil sie über das Einfangen einer typischen Bewegung, um die es der Tanzfotografie doch zu tun sein müsste, hinausgehen. Walter Benjamin sieht in diesen Details den Stoff für „Wachträume“41, die von ihnen bevölkert werden. Dennoch wirft seine Gleichsetzung des Optisch-Unbewussten mit dem Unbewussten der Psychoanalyse Fragen auf. Krauss weist zurecht darauf hin, dass eine Kamera kein Unbewusstes haben kann und dass auch das Sichtbarmachen von Mikrostrukturen keineswegs als unbewusst bezeichnet werden könne. Treten diese doch keineswegs in Konflikt mit der menschlichen Wahrnehmung. Das Unbewusste bleibt an das menschliche Bewusstsein und seine Erscheinungsformen, und nicht an die möglichst genaue Darstellung der Wirklichkeit gebunden, mit denen es in Widerstreit gerät.42 Benjamin präzisiert 1935/36 in der ersten Fassung seines weitaus bekannteren Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“43 sein Nachdenken über das Optisch-Unbewusste, das die Technik, die Apparatur dem Menschen erschließt, in dem sie es ihm gleichsam als eine Externalisation einer inneren Struktur zu schauen gibt. Darin rückt er die Produkte der Kulturindustrie, vor allem den Film, in die Nähe von Träumen oder Psychosen, die deren Wahrnehmungsweisen als Darstellungsmittel verwenden, um ans Unbewusste der Zuschauer*innen zu appellieren, sie gemeinsam in den Zustand der Halluzination zu versetzen. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie [die Kamera, G. S.], wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch

243

Gerald Siegmund

44 Ebd., 461–462. 45 Krauss: The Optical Unconscious, 180. 46 Benjamin: „Geschichte der Fotografie“, 372. 47 Didi-Huberman: Was wir sehen blickt uns an, vgl. Fn. 26.

die Psychoanalyse. Im übrigen bestehen zwischen beiden die engsten Zusammenhänge. Denn die mannigfachen Aspekte, die die Aufnahmeapparatur der Wirklichkeit abgewinnen kann, liegen zum großen Teile nur außerhalb eines normalen Spektrums der Sinneswahrnehmungen. Viele der Deformationen und Stereotypien, der Verwandlung und Katastrophen, die die Welt der Gesichtswahrnehmung in den Filmen betreffen können, betreffen sie in der Tat in Psychosen, in Halluzinationen, in Träumen. Und so sind jene Verfahrungsweisen der Kamera ebensoviele Prozeduren, dank deren sich die Kollektivwahrnehmung des Publikums die individuellen Wahrnehmungsweisen des Psychotikers oder des Träumers zu eigen zu machen vermag.44 Das Optisch-Unbewusste ist mit Krauss daher als Konstruktion zu verstehen, und zwar als Konstruktion einer externalisierten Projektion (auf die Leinwand, auf den Träger des Fotos) der mensch­ lichen Wahrnehmung als eines Sehens, dass das, was es sieht, nicht überblicken kann und daher in einen Konflikt mit sich selbst und den wahrgenommenen Formen, Figuren und Gestalten, eben mit der Wiedergabe der tänzerischen Bewegung, gerät: „in conflict as it is with what is internal to the organism that houses it.“45 Das Optisch-Unbewusste stört mithin die Selbsttransparenz der Wahrnehmung, die sich einbildet, auf der Netzhaut oder, anlog dazu, auf der Bildoberfläche die Dinge so abzubilden, wie sie im Moment des Präsens ‚draußen‘ vorzufinden sind. Worin bestünde aber nun die Wahrnehmung eines Psychotikers oder Träumers, von deren Konstruktion wir uns im Film oder im Foto gefangen nehmen lassen? Ihr Modus der Darstellung operiert mit Überblendungen, raum-zeitlichen Koexistenzen von Gegensätzen, Verdichtungen und Verschiebungen, die wie in der surrealistischen Fotografie dem Auge eine andere Ordnung der Wahrnehmung darbieten. Benjamin beschreibt den Effekt, den die frühen Fotografien, die mit ihren auratischen Porträtaufnahmen für ihn die Blütezeit der Fotografie ausmachen, auf deren erste Betrachter*innen als einen Moment des Unheimlichen. Denn diese getrauten sich nicht, die Porträts lange anzuschauen aus Furcht, die Proträtierten blickten sie aus dem Bild heraus an. 46 Nicht wir blicken das Bild an, sondern das Bild oder besser: etwas im und am Bild blickt uns an. 47 Es sind solche magischen oder

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Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

48 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemer­ kungen zur Photographie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, 33. 49 Ebd., 57. 50 Ebd., 105.

gar animistischen Momente als Nachleben kindlicher Allmachts­ phantasien, auf die die darstellerische Konstruktion eines OptischUnbewussten abzielt. Der Blick des Bildes trifft mich mit dem, was Barthes als „punctum“48, als „absichtsloses Detail“49, bezeichnet hat. Dieses punctum operiert gleichsam aus einer Spaltung heraus. Dem

51 Ebd., 106.

Barthes­chen „Es-ist-so-gewesen“50, dem die Fotografie mit ihren

52 Kolesch, Doris: Roland Barthes, Frankfurt/M./New York: Campus 1997, 106.

Realitätseffekt Evidenz verleiht, geht gleichzeitig ein Verlust einher:

53 An dieser Stelle ließen sich weitergehende Überlegungen zur fotografischen Serie von Probeaufnahmen und -abzügen über Serien von Abzügen anstellen, die als Wiederkehr, als Re-Turn des Abwesenden gelesen werden können. Die Wieder-Hinwendung zum und das Wieder-Holen des Verlorenen löst eine Serie oder eine Reihe von Substituten aus, die das verlorene Objekt jedoch immer verfehlen müssen. Mit dieser Bewegung der Wendung, der Um-, Hinund Abwendung verbindet Benjamin den Begriff des Gleichartigen, wenn er den Verlust der Aura als „die Signatur einer Wahrneh­ mung, deren ‚Sinn fürs Gleichartige in der Welt‘ […] so gewachsen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt“ bestimmt (Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techni­ schen Reproduzierbarkeit“, 440, im Orig. kursiv). Das Gleichartige, das nicht das Gleiche ist, erzeugt im Re-Turn von gleicher Art zu gleicher Art, von Sprung zu Sprung, einen (erotischen) Rhythmus, wie ihn die popkulturellen Apparate und deren Produkte (Filme, Schallplatten, Fotografien) seit der Industrialisierung massenhaft verbreiten.

Barthes, „vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat.“51

der Verlust des Gegenstands, den ich im Bild nicht mehr berühren kann, weil er längst nicht mehr existiert. „Ich erschauere“, schreibt Ich erschaure vor dem Tod, der mir zukünftig ist. Barthes Definition der Fotografie strukturiert, wie Doris Kolesch schreibt, „ein Paradox der realen Irrealität“ von räumlicher Anwesenheit und zeitlicher Abwesenheit.52 Alles, was im Bild als evident anwesend erscheint, trägt somit die Spur einer Abwesenheit. Mehr noch: Alles, was im Bild als Figur oder Gestalt erscheint, ist nurmehr das Substitut eines verlorenen Objekts, das mich aus der Abwesenheit heraus auf unheimliche Weise anspricht.53 Das abgelichtete Objekt, die Figur, der Körper der Tänzer*innen, fungiert aus dieser Perspektive heraus nicht allein als Index für die Selbstreferenz und -präsenz von Fotografie und Tanz. Es fungiert auch als Index für etwas Ver­ lorenes, das sich in der Gestalt als Auflösung oder Verschiebung der Gestalt bemerkbar macht. Eben dieses verlorene Moment zeigt sich, so meine These, in Rudolphs inszenierten Fotografien von Palucca in der Gestaltung der Schatten, den optischen Ver­ kürzungen sowie in der Dynamik der Gestalt selbst. Darum soll es im nächsten Abschnitt nun gehen. Die Erscheinbarkeit

Was geschieht also mit diesen Über-

des Körpers

legungen im Blick auf die Fotografien, die ich am Anfang dieses Textes beschrieben habe? Die kompliziert zu

beschreibenden Sprünge entwerfen einen Bildkörper, der auf der Grenze zwischen Kontraktion und Extension, Öffnung und Schließung, Darbietung und Rückzug, Zeigen und Verbergen oszilliert und dabei ein rhythmisches Pulsieren erzeugt, das die Betrachter*innen anspringt. Dieser Körper kommt auf mich zu, während er sich doch von mir entfernt. Der springende Körper, der zugleich der Wand entspringt und doch an ihr haften bleibt, gar rückwärts

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Gerald Siegmund

54 Vgl. zu Sigmund Freuds berühmten FortDa!-Spiel aus „Jenseits des Lustprinzips“ meinen Text „Erfahrung, dort, wo ich nicht bin. Die Inszenierung von Abwesenheit im zeitgenössischen Tanz“, in: Performance. Positionen zur zeitgenössischen szenischen Kunst, hg. v. Gabriele Klein u. Wolfgang Sting, Bielefeld: transcript 2005, 59–75. 55 Isabelle Drexler radikalisiert in ihrem Ansatz zur Tanzfotografie die Vorstellung, dass Tanzfotografie Bewegung nicht nur abbildet, sondern die Wahrnehmung der Betrachter*innen in Bewegung versetzt dahingehend, dass sie das Paradox „lebendige Bewegung durch Erstarrung zu erfassen“ auf die Möglichkeit der „Erschütterung von Selbstbildern“ hin und damit Momente des Affektiven sowie des Begehrens und der Lust öffnet; Drexler, Isabelle: Der Körper im Moment des Aus/Auflösens. Fotografie und Tanz, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 61.

in sie zurückstrebt, ist ein gesprungener Körper, ein Körper, dessen Gestalt Sprünge hat, die das Auge anspringen und faszinieren. Rudolph inszeniert ein Vor- und Zurückspringen zwischen hinten und vorne, oben und unten, Sprünge in die Luft, die zugleich kaum merklich ihren Höhepunkt überschritten haben und schon wieder auf dem Weg nach unten sind. Wir haben diesen Höhepunkt verpasst; etwas ist bereits geschehen und haftet dem Körper noch an. Es wird spürbar, gerade weil wir den genauen Ablauf der Bewegungen nicht mehr eindeutig rekonstruieren können. Die optischen Verkürzungen von Unterschenkeln und Armen sowie die Ausdehnung des Oberkörpers auf dem ersten Bild deformieren das Körperbild und bohren den Körper gleichsam in die hintere Wand, für einen Moment noch verhaftet in der Trennung, die ihn sichtbar macht, verhaftet im Grund, von dem er sich ablösen muss, um überhaupt sichtbar zu werden. Hände, Arme und Beine treten, springen und boxen sich aus dem Feld des Unsichtbaren hinter der Wand ins Feld des Sichtbaren, der Oberfläche des Fotos. Die Wand markiert gleichsam eine Schranke, einen Schnitt, der das Bild in einen unsichtbaren und sichtbaren Bereich teilt, der hinter dem Bild liegt. Die Körper ent-springen dem Schnitt, der das Bild konstituiert. Sie kommen von woanders her. Sie ent-falten sich im rhythmischen Pulsieren ihrer Öffnung und Schließung: Auf-Zu, Fort-Da!54 Rudolphs Nachbearbeitungen der Fotografien, um den springenden Körper näher an den Betrachter heranzuholen, ihn auf den Köper zu stoßen, betont die Flächigkeit der Bilder ebenso wie die Kamera, die stets von leicht unten fotografiert, was die obere Hälfte des Körpers wie auf dem ersten Bild staucht. Die Figur-Grund-Relation wird, während sie sich gerade etabliert, außer Kraft gesetzt, subvertiert, um etwas zu erzeugen, das in der Transparenz vom Bild und dem, was es abbildet, verborgen bleiben muss: das Erscheinen des Körpers selbst, sein Auftauchen im Gesichtsfeld der Betrachter*innnen. Die Fotografien von Rudolph fangen die Erscheinbarkeit des Körpers ein. Nicht das, was erscheint, etwa die typische Bewegung der Tänzerin, sondern die prinzipiellen Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens aus dem Optisch-Unbewussten ins Gewusste, Geformte, Gesehene sind hier Thema. Etwas leicht Unförmiges springt uns an; ein Momentum der Bewegung als Spur, das zum Momentum des Sehens wird.55 Das Foto wird nicht nur zur Spur und damit zum Index der Bewegung, sondern es wird zur Spur des Erscheinens, das bewusst nicht gesehen oder wahrgenommen

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Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

56 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Weinheim/Berlin: Quadriga 1987, 73–126, hier 103.

werden kann, weil es dem Auslösen der Kamera, ihrem konstitu­

57 Ebd., 105.

verschwimmt, sich auflöst.

tiven Zu-Spät-Kommen, entgeht. Das Erscheinen muss daher nachträglich – durch Nachbearbeitung der Abzüge – dem abgebildeten Körper supplementiert werden, mit dem Ergebnis, dass der Körper Diese Erscheinbarkeit, die die Bildinszenierungen von Rudolph auf unheimliche Weise jedoch einfangen, ist eng mit dem Medium der Fotografie verbunden. Hier kommen die Schatten wieder ins Spiel. Die Körper treten aus dem Schatten, ohne ihren Schatten abstreifen zu können. Der Körper überspringt, um mit Freud zu sprechen, die Zensurschranke und erscheint im Licht, das unweigerlich Schatten produziert. Nicht als ganzheitlicher Körper zeigt er sich, sondern als Körper, der in einzelne Partialobjekte zerfällt, von denen nicht nur die wie losgelöst wirkenden Gliedmaßen erzählen, sondern auch die Lichtreflexionen auf der Haut der Tänzerin. Die blinzelnden Lichtpunkte, die die seitlich platzierten Scheinwerfer auf der Oberfläche einzelner Körperteile – Schenkel, Nase, Knie, Handgelenk – werfen, bringen auch unseren Blick zum Funkeln. Sie blicken uns an, losgelöste Objekte der Faszination, die unsere Aufmerksamkeit fesseln, weil der Körper hier die Spuren seines Ins-Licht-Getaucht-Seins zur Schau stellt. Lacan erinnert uns daran, dass der Körper im Feld des Anderen, dessen Blick er einfangen möchte, um zum Ich zu werden, zunächst als Schatten auftaucht. Das rieselnde Licht, das den Körper umgibt und das er selbst nicht sehen kann, weil er sich mitten im Bild befindet, verwandelt den Körper in einen opaken Schirm, der als Schatten aufs Bild fällt. Der Körper erscheint und gibt sich zu sehen. Dies ist die Voraussetzung des Gesehenwerdens, dessen Kehrseite, von der her das Subjekt jedoch Anerkennung und damit Subjektstatus erlangen muss. Der opake Schirm ist der Ort der Vermittlung, von dem aus das Subjekt nach dem Auge der Betrachter*innen schielt, um dessen Blick zu fangen, damit es in einem Akt der zweiten Belichtung zum Subjekt der (bewussten) Vorstellung und Anschauung werden kann. Lacan ersetzt in einem weiteren Schritt den opaken Körper mit einem Tableau, einem Bild, das damit zum Blickfang wird, weil es uns anblickt.56 Angeregt durch Roger Caillois Theorie zur tierischen Mimikry, 57 die wiederum von der surrealistischen Fotografie inspiriert war, versteht Lacan die Subjektwerdung des Menschen also als eine Art fotografischen Prozess, in dem das Licht Schatten auf Oberflächen wirft, die die

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Gerald Siegmund

58 Es liegt nahe, Rudolphs Bilder mit Walter Benjamins in der Auseinandersetzung mit Brechts epischem Theater geformten Begriff der Geste in Verbindung zu bringen. Zeichnet seine Gesten eine „Dialektik im Stillstand“ aus, so sind Rudolphs Sprungbilder der Palucca aus einem Kontinuum herausgesprungene Bilder, die den Stillstand, der dem Medium eigen ist, dynamisieren und Bewegung und Stillstand ineinander kippen lassen, sodass die Ränder und Rahmungen des Bildes von innen heraus zu oszillieren beginnen. Die herausgelösten Fotos als Gesten gäben in Verbindung mit meiner Lektüre dann in der Tat, wie Benjamin schreibt, Zustände zu entdecken, die die Betrachtenden in „Staunen“ versetzen, gerade weil sie nichts abbilden oder wiedererkennbar machten; vgl. Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater (1)“, in: Aufsätze, Band II.2, 519–532, hier 522.

Spuren des Gegenstands tragen. Dieser wird erst durch einen zweiten Blick, den Blick eines anderen, als erneut belichtetes „Positiv“, als Ich, sichtbar. Wenn die Schatten aus Rudolphs Fotografien, wie Kuhlmann formuliert, die Körper regelrecht konfrontieren, so konfrontiert der Schatten den Körper auch mit seinem eigenen Tod, mit seiner Abwesenheit in der Anwesenheit seiner (lebendigen, springenden) Gestalt, die auch nach der doppelten Belichtung im rhythmischen Pulsieren des abgelichteten Körpers der Palucca und unseren Blicken – ÖffnenSchließen, Fort-Da! – umkreist wird. Die Schatten erinnern die sichtbare Gestalt des Körpers daran, dass er einmal auch nur ein dunkler Fleck auf der Oberfläche des fotografischen Materials war, ein dunkles, dazu hier noch ein amorphes und vielfach ungestaltes schattenhaftes Negativ, das die Konturen des Körpers verwischt und erst durch eine zweite Belichtung in ein Positiv verwandelt wurde. Der Schatten als Foto im Foto hält etwas von der Entstehung des sichtbaren Licht-Bildes im Bild fest. Damit fängt er aber auch die Möglichkeitsbedingungen des Erscheinens des Subjekts ein: dessen Erscheinbarkeit aus dem Subjekt des Unbewussten. Charlotte Rudolphs hier betrachtete Fotografien fangen die Bewegung nicht ein oder stellen sie gar durch den fotografischen Akt der Bedienung des Auslösers still. Vielmehr dynamisieren sie das Bild und setzen es in Bewegung: hinter das Bild, unter die Oberfläche des Bildes, links und rechts über den Rand des Bildes hinaus.58 Damit wird etwas in die Oberfläche des Bildes eingetragen, das die Selbsttransparenz von fotografischem Abbild und Gegenstand verdunkelt. Auf Rudolphs Bildern wird noch etwas anderes sichtbar als die Abbildung von Paluccas Tanzstil, ihrer Präzision und Klarheit oder gar ihre neue Sachlichkeit, mit der ihr Tanz gerne in Verbindung gebracht wird. Ihre inszenierten Fotografien fangen den Blick der Betrachter*innen ein, weil sie etwas vom jenem magischen Moment des In-Bewegung-Setzens und Sichtbarwerdens des Körpers in Szene setzen. Im Sprung. Palucca springt. Immer wieder.

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Palucca springt: Das Optisch-Unbewusste in Charlotte Rudolphs Fotografien von Gret Palucca

Collection der Künste — Tanz und Fotografie am Beispiel von Vera Skoronel und Charlotte Rudolph Gabriele Brandstetter

1 Radrizzani, René (Hg.): Vera Skoronel/ Berthe Trümpy. Schriften, Dokumente, Wilhelmshaven: Noetzel 2005, 115. 2 Dieser Text ist die erweiterte Version meines Beitrags „Tanz und Fotografie – Ein Dialog der Künste. Vera Skoronel und Charlotte Rudolph“ zum Katalog: Der absolute Tanz. Tänzerinnen der Weimarer Republik, hg. v. Brygida Ochaim u. Julia Wallner, Georg Kolbe Museum, Berlin 2021, 156–165. 3 Vgl. Brandstetter, Gabriele: „Ephemer/ Flüchtig“, in: Formen der Zeit. Ein Wörterbuch der ästhetischen Eigenzeiten, hg. v. Michael Gamper, Helmut Hühn u. Steffen Richter, Hannover: Werhahn 2020 (=Ästhetische Eigenzeiten 16), 95–103.

„Nichttanzen – Gibt es das überhaupt?“1 (Vera Skoronel)



Tanzfotografie begegnet uns in jenen Medien und Institutionen, die sie überliefern – in Fotoalben, in Archiven, in Museen und Ausstellungen – zumeist als Collection.2 Als eine Sammlung oder als Bestandteile von größeren Inventaren, in denen die Fotografien aufbewahrt werden. Häufig sind es Serien von Bildern, gesammelt und geordnet nach unterschiedlichen Kriterien: nach Namen der Tänzer*innen oder des Tanzstils, der Epoche; als Werk-Sammlung von Fotograf*innen; oder nach ganz anderen Kriterien, wie etwa die Vorlieben der jeweiligen Sammler*innen, die eine Collection aufgebaut haben und an ein Archiv weitergeben. Herausragende Sammlerstücke und ihre jeweilige Bewertung – ästhetisch und/ oder ökonomisch, als Kunstwerk und als Aktie interpungieren in ihrer Singularität dann die Collection, die Sammlung und die Serie des Zusammengelesenen. Aus solchen Sammlungen erwachsen die Bestände eines Archivs. Ihre historische, archivarische und editorische – katalogisierende – Bearbeitung macht sie wiederum zum Material für Ausstellungen, Kataloge und heute auch für online-präsentierte Such-Anordnungen. Wie kann Tanz – als beweglich-ephemere Kunstform3 – Gegenstand einer Collection werden? Ich verwende hier den Begriff „Collection“ in seiner mehrfachen Beziehung zum Archiv und zu einer Praxis des Sammelns, des Weitergebens und Neu-Konstellierens in der Forschungs- und Tanz-Praxis: Co-legere ist dann ein Zusammenlesen; ein Prozess, der dokumentarisches Material, Quellen unterschiedlicher Materialität und Textualität verbindet und diese mit jeder Veränderung in den Beständen neu organisiert: Erinnern, Re-Animieren von Texten, Bildern ebenso wie das zeitweise Vergessen, Zurückstellen von Einzelstücken oder Sammlungs-Serien, auch das „Altern“ und die „Renaissance“ von verborgenen Stücken im Thesaurus – Schatzkammer des Archivs – beeinflussen diese Praxis zwischen Sammeln, Archiv und Ausstellung. Das, was mit Collection hier gemeint ist, zeigt sich mithin als ein aktiver, zeitlich dynamischer und poetischer Prozess. In diesem Horizont steht die Frage, wie Tanz zum Gegenstand einer Collection werden kann; und welche Rolle der Tanzfotografie dabei zukommt. Wie lässt sich der Widerspruch verstehen, der mit einer solchen Frage aufgeworfen wird: Wenn Tanz in seiner einmaligen performativen Erscheinung als

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C o l l e c t i o n d e r K ü n s t e – Ta n z u n d F o t o g r a f i e a m B e i s p i e l v o n Ve r a S k o r o n e l u n d C h a r l o t t e R u d o l p h

4 Brandstetter, Gabriele: „On the margins of HiStories. Transfusions between document and performance“, in: Perform­ing Arts in Transition. Moving between Media, hg. v. Susanne Foellmer, Maria Katharina Schmidt u. Cornelia Schmitz, Abingdon: Routledge 2019, 169–181. 5 Vgl. Kuhlmann, Christiane: Bewegter Körper – Mechanischer Apparat. Zur medialen Verschränkung von Tanz und Fotografie in den 20er Jahren an den Beispielen von Charlotte Rudolph, Suse Byk und Lotte Jacobi, (Studien und Dokumente der Tanzwissenschaft, Bd. 4, Deutsches Tanzarchiv Köln), Frankfurt/M.: Internationaler Verlag Der Wissenschaft 2003, und Drexler, Isabell: Der Körper im Moment des Aus/Auflösens. Fotografie und Tanz, Paderborn: Wilhelm Fink 2016, sowie Brandstetter, Gabriele: „Tanz! Foto. Bewegung im Kontext“, in: Tanzfotografie. Historiografische Reflexi­ onen der Moderne, hg. v. Tessa Jahn, Eike Wittrock u. Isa Wortelkamp, Bielefeld: transcript 2015, 41–50. 6 Sykora, Katharina: „Fotografinnen zwischen Experiment und Professio­ nalität. Berufsbiografien in den 20er Jahren“, in: Fotografie und Geschichte. Timm Starl zum 60. Geburts­tag, hg. v. Dieter Mayer Gürr, Marburg: Jonas 2000, 9–29, hier 11.

Bewegungs-Kunstwerk nicht-collectivierbar ist, wie kann er dann – in Übertragung in andere Medien und Materialitäten – dennoch auf Dauer verfügbar und in rematerialisierter Form Objekt von Sammlungen werden? Neben Dingen, „Überresten“4 von Aufführungen, von Kostümen (z. B. der Ballettschuh als Sammlerstück und Souvenir) sind es Bilder, Gemälde, Zeichnungen, Skizzen, die Zeugnis geben vom immer schon vergangenen Ereignis eines Tanzes und seiner Erscheinungsform. Und seit der Erfindung der Fotografie ist es dieses Medium, das lange Zeit und bis heute in seinen digitalen Varianten ein Bilderarsenal des Tanzes hervorgebracht hat: Collectionen von Fotos unterschiedlichster Ausrichtung und Zusammensetzung ermöglichen, dass heute vergangene Tanzereignisse, Tänzer*innen-Körper und Bewegungsstile wahrgenommen werden können. Und es sind immer schon Bilder im Plural. Serien wie etwa das Zigaretten-Sammelalbum Die Tanz­ bühnen der Welt, oder Archiv-Bestände wie jene der Tanzarchive in Köln oder Leipzig. Wie Tanz und Fotografie auf diese Weise, beweglich und zugleich stillstellend, konstellativ im Dialog sind, und damit eine Art Bündnis der gegenseitigen Überlieferung eingehen, interessiert mich im Folgenden am Beispiel der Tänzerin Vera Skoronel und der Fotografin Charlotte Rudolph. Dass wir heute eine Vorstellung haben können von der Art und Weise des damals sogenannten Neuen Tanzes, von der Vielfalt der Stile und der individuellen Ausdrucksweise der Tänzer*innen, verdankt sich wesentlich der Fotografie. Sie bildet als Medium der Dokumentation und ebenso als gestaltende Kunstform gleichsam die kongeniale Partnerin, die mit der flüchtigen Kunstform Tanz in einen spannungsvollen Dialog tritt.5 Dabei ist es die Signatur der Moderne, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und noch intensiviert in den 1920er Jahren im Zeichen des Neuen manifestiert. Der Neue Tanz ist überwiegend eine Domäne der Neuen Frau; und beide Kunstformen, Tanz und Fotografie treffen sich im Freiraum von Ateliers, die in dieser Zeit zunehmend von Frauen geleitet werden, wie Katharina Sykora schreibt: „Indem die ‚Neue Frau‘ der 1920er Jahre die Fotografie zum Mittel ihrer Berufstätigkeit machte, begab sie sich auf ein sozial, medial und professionell noch weitgehend unstrukturiertes Terrain.“6 Die Eroberung eines noch weitgehend undefinierten Berufsfelds, in dem Professionalität mit Experiment einhergingen, trifft auch auf die Situation von Tänzerinnen in der Moderne der 1920er Jahre zu. So begegnen

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Gabriele Brandstetter

7 Vgl. Brandstetter, Gabriele; Brandl-Risi, Bettina u. Diekmann, Stefanie (Hg.): Hold It! Zur Pose zwischen Bild und Performance, Theater der Zeit, Bd. 89, Berlin 2012. 8 War es in der Zeit des romantischen Balletts der Fuß und der Spitzenschuh der Tänzerin, der Pars pro Toto für das Ideal und die tänzerische Körperidee einstand, so wurde es in der Zeit der Tanzmoderne die Gestik der Hände. 9 Vgl. Kuhlmann, Christiane: Charlotte Rudolph. Tanzfotografie 1924–1939, Göttingen: Steidl 2004, 15.

sich Tänzerin und Fotografin in einem medialen Raum, der ihnen künstlerisch, experimentell und sozial Spielräume lässt für einen Dialog, der ästhetisch wie technisch gleichermaßen anspruchsvoll und produktiv ist. Tanzfotografien der 1920er Jahre dokumentieren die Vielfalt der Tanzstile, und sie gestalten zugleich das Bild vom Tanz und von den Tänzer*innen der Zeit. Insofern bilden diese Fotos ein Arsenal, das gleichermaßen die je individuellen Tänzer*innenpersönlich­ keiten und den Ausdruckstanz als Bewegungskunst porträtiert. Einige Fotograf*innen bevorzugen das Porträt im Studio-Standbild, wie etwa Suse Byk, deren Lichtbilder die Persönlichkeit und den Stil von Tänzerinnen wie Valeska Gert oder Vera Skoronel meisterhaft in einer Pose komprimiert zeigen. Sie versteht es, die Energie und Zeitlichkeit der Bewegung in den Moment des „Hold it!“ 7 vor der Kamera zu bannen. Andere Fotograf*innen, wie Hugo Erfurth, Charlotte Rudolph, Trude Fleischmann, fotografieren die Tänzerin, während sie tanzt, und begegnen damit der Herausforderung, den richtigen Moment aus dem Bewegungsablauf mit der Kamera in ein Still zu verwandeln: in einem Aus/Schnitt einen Eindruck von Tanz und Tänzerin festzuhalten. Und es ist nicht nur die Pose, sondern mehr noch die Geste, die dabei auch zum Thema des Tanzes und zum Motiv der Fotograf*innen wird. Während für das Bewegungsbild die Ablichtung von schwingenden Drehungen und kraftvollen Sprüngen – bei Gret Palucca oder Vera Skoronel – zum Thema und Motiv wurde und fototechnisch ebenso wie fotohistorisch modellbildend wirkte, so war es für die Pose und die Geste das Standbild. Auch die Fokussierung auf einen bestimmten Ausschnitt des Körpers, die Isolation von bestimmten gestischen Körperzonen transportiert ein Bild des Tanzes: Die Expressivität der Bewegung von Armen und Händen regte die Fotograf*innen und Bildkünstler*innen immer wieder zu Studien der Hände und Handgesten an.8 Handstudien waren geradezu ein Thema der Bilddarstellung jener Zeit: so der 1929 gedrehte Film Hände, so die von Bildhauer Fritz Cremer modellierte Hand von Vera Skoronel, das Foto der Hände Rudolf von Labans von Hans Robertson und die Arm- und Handstudien, die Charlotte Rudolph von Mary Wigman und ihren Schülerinnen fotografisch produzierte.9

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Charlotte Rudolph : Arm- und Handstudien,

Charlotte Rudolph : Arm- und Handstudien,

M a r y W i g m a n , D r e s d e n , c a . 19 2 8 ,

M a r y W i g m a n , D r e s d e n , c a . 19 2 8 ,

S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 17, 5 x 2 3 , 5 c m ,

P o s t k a r t e , 7, 5 x 10 c m , A k a d e m i e d e r

A k a d e m i e d e r K ü n s t e B e r l i n , M a r y -W i g m a n -

K ü n s t e B e r l i n , M a r y - W i g m a n - A r c h i v,

A r c h i v, S i g n a t u r 3 9 2 © VG B i l d - K u n s t , B o n n .

S i g n a t u r 3 9 2 © V G B i l d - K u n s t , B o n n . 

Abb. 1 ▲

Abb. 2 ▲

Tanzfotografie –

Tanzfotografie, die aus dem künstleri-

ein neues Genre

schen Dialog zwischen Tänzerin und Fotografin entsteht, entwickelt sich in den 1920er Jahren zu einem eigenen

Fotogenre. Charlotte Rudolph, eine der maßgeblichen Tanzfotograf*innen dieser Zeit, schreibt 1929 über die besonderen Herausforderungen, die dieses Genre mit sich bringt: „Um all diese Forderungen, die die Tanzphotographie stellt, erfüllen zu können, mußte ich meine ganze photographische Technik vollständig umbauen.“10 Wie konnten die jeweils für den Tanzstil und die Persönlichkeit einer Tänzerin charakteristischen Bewegungen im 10 Rudolph, Charlotte: „Tanzphotographie“, in: Schrifttanz, 2. Jg., H. II Berlin 1929, 28–29, hier 29. 11 Ebd. 28.

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Bild festgehalten werden? Die entscheidende Neuerung war die Ersetzung des „Stellungsbilds“11 durch das Bewegungsfoto. Das „Stellungsbild“ oder Standfoto zwang die Tänzerin in eine Pose – und dies „bedingte ein längeres Halten der Stellung als der Tänzer Gabriele Brandstetter

12 Ebd.

gewöhnt war“12. Die Auswahl der Pose, die „aus dem Ganzen des

13 Ebd.

Tanzes als Einzelbewegung herausgerissen“13 war, beeinflusste den

14 Ebd.

Ausdruck der Tänzerin – oft in der Weise, dass die Stellung oder

15 Ebd. 29. 16 Ebd. 17 Sontag, Susan: „Fotografie. Eine kleine Summa“, in: Standpunkt beziehen. Fünf Essays, hg. v. Susan Sontag, Stuttgart: Reclam 2016, 38–42, hier 39.

Pose eher einem Ganzporträt der Tänzerin gleichkam, ihre Art des Tanzens hingegen nicht sichtbar wurde. Die Konsequenz aus diesem Kontrast zwischen dem Still des Stellungsbildes und der Tanz­bewegung lautete für Rudolph daher: „Tanzphotographie ist nur möglich, wenn sie während der Bewegung erfolgt […] das heißt der Tänzer tanzt während der Aufnahme.“14 Rudolph experimentiert hierfür mit der Kameratechnik und entwickelt ein fotografisches Konzept des Sehens, das sich auf die tänzerische Bewegung einstellt: Es geht um das Herausgreifen und bildliche Fixieren von Zeitfiguren der Bewegung. Vonseiten der Fotografin braucht es dafür Einfühlungsvermögen, ein kinästhetisches Mit-Spüren mit der Tänzerin und ihrer Art der Bewegung; und es bedarf der Erfahrung, der Kenntnis von Tanzstilen: „Um den richtigen Moment zu erzielen, muß man sich gänzlich auf den jeweilig verschiedenen Rhythmus der Tänzer einfühlen können und vor allen Dingen ein Verständnis für den Tanz haben.“15 In ihrem Essay Tanzphotographie, zwei Jahre nach der Fotoserie, die sie mit Skoronel 1927 anlässlich von deren Tanzprogramm auf dem Magdeburger Tänzerkongress im Studio produziert hatte, stellt die Fotografin Reflexionen zum fruchtbaren Moment an, der geeignet ist, das Spezifische eines Tanzes und der tänzerischen Qualität festzuhalten. Sie geht dabei analytisch vor und unterscheidet zwischen „Hauptmomenten“ und „Übergangsmomenten“: Unter Hauptmomenten verstehe ich z. B.: Moment der größten Spannung, Moment der größten Entspannung, Moment des Schwebens. Als Übergangsmoment bezeichne ich beispielsweise: Moment des Übergangs von einer Bewegung in die andere, Moment aus einer geführten Bewegung herausgegriffen, Moment aus einem kurzen Rhythmus herausgenommen.16 Susan Sontag gibt etwa 50 Jahre später in einem Essay eine Summa ihrer Fotografietheorie, in dem sie betont „ein Foto ist ein Bruchstück – ein kurzer Blick“17. Ganz im Sinne der Thesen zur Ausschnitthaftigkeit des Fotos, gelten Rudolphs Überlegungen schon damals der Frage, wie der richtige Moment mit der Kamera zu

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C o l l e c t i o n d e r K ü n s t e – Ta n z u n d F o t o g r a f i e a m B e i s p i e l v o n Ve r a S k o r o n e l u n d C h a r l o t t e R u d o l p h

18 Ebd. 38. 19 Rudolph: „Tanzphotographie“, 29. 20 Fischer, Hans: Körper-Schönheit und Körper-Kultur. Sport, Gymnastik, Tanz, Berlin 1928, 249. 21 Schikowski, John: in: Rheinische Zeitung, Köln, 04.02.1921 (Dokument im Besitz des Deutschen Tanzarchivs Köln; ich danke Frank-Manuel Peter, Tanzarchiv Köln, für wertvolle Hinweise und Informationen. Mein Dank geht auch an Judith Kuckart, die Begründerin des Tanztheater Skoronel (1984–1998), für anregende Gespräche zur Rezeption von Vera Skoronel. Im September 2021 zeigt Judith Kuckart eine Aufführung (Wiesbaden) mit dem Titel DIE ERDE IST GEWALTIG SCHÖN, DOCH SICHER IST SIE NICHT, in der sie mit Mitgliedern des Tanztheaters Skoronel einen „Reload“, einen Rückblick unternimmt).

fassen sei; und wie dadurch eine neue Art des Sehens („ein Sehen in Fragmenten“18) entsteht. Um den Hauptmoment oder auch Übergangsmomente des Tanzes vor der Kamera mit der Kamera zu erfassen, bedarf es eines spezifischen Zeit- und Raumgefühls, in Resonanz mit der Bewegung der Tänzerin. Ebenso wichtig ist die Seh-Erfahrung, die Rudolph in der Arbeit mit Tänzerinnen wie Wigman, Palucca und Gruppen-Choreografien der 1920er Jahre erworben hat. Die Fotografin muss, durch Erfahrung und spontane Einfühlung, die Kunst des Antizipierens beherrschen: Wie wird der nächste Moment der Bewegung aussehen? Rudolph nennt diese Qualität des Sehens ein „Vorausfühlen“, „denn das Auge sieht den Moment durch die Vermittlung des Gehirns später als der Apparat. Diese Bruchteile einer Sekunde genügen, um einen falschen Moment zu erhalten.“19 Der Prozess der Fotoaufnahmen eines Tanzes ist so – im Studio – eine eigenständige Inszenierung, deren Zeit- und RaumDramaturgie die Tänzerin und die Fotografin in dialogischer Ab­­ stim­­mung gemeinsam gestalten. Mit der Kamera dokumentiert Rudolph die Tänzerinnen nicht nur, sondern sie interpretiert sie. Damit koproduziert sie ein Bild der Tänzerin, das dem/der Betrachter*in bis heute eine Imagination der jeweils charakteristischen Tanzbewegung vermittelt. Die Fotos, die Rudolph von Skoronel 1927 als eine Reihe von Einzelaufnahmen anfertigt, entstehen anlässlich des Soloprogramms der Tänzerin, unter anderem mit dem Stück Die Formel (im Oktober 1927 auch in Berlin aufgeführt). In den Fotos zeigt sich jene von der Tanzkritik der 1920er Jahre betonte hohe Intensität von Skoronels Tanz, ihre „tänzerische Besessenheit“20 und zugleich ihr „neuer tänzerischer Stil“, in der „reinste[n] Form der abstrakten rhythmischen Körperbewegung“.21 Deutlich wird die hohe Spannung in den Posen und ebenso die temporeiche Dynamik der Bewegung in Drehungen und Sprüngen. Das Foto, das Skoronel im hohen Sprung zeigt, vermittelt die Kraft, die technische Virtuosität und die durch die gewinkelten Beine und Arme präzise Figuration in der Bewegung. Rudolph hält hier einen Hauptmo­ ment, einen dynamischen Höhepunkt der Sprungbewegung fest. Und sie versteht es zugleich, auch noch den Übergangsmoment mit ins Bild zu nehmen: Indem sie durch Beleuchtung und Perspektive (vermutlich auch Retusche) den Schatten der Bewegungsrichtung gleichsam vorausschickt, fängt sie auch die Zeitlichkeit im Ablauf der Sprunghyperbel ein. Zudem überträgt sich auf den/die

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Gabriele Brandstetter

C h a r l o t t e R u d o l p h : Ve r a S k o r o n e l , c a . 19 27,

Charlotte Rudolph : Gret Palucca , Dresden,

S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , c a . 8 ,7 x 11,7 c m ,

c a . 19 2 8 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 7, 4 x 4 , 2 c m ,

D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , D T K-T I S -12 24 8

A k a d e m i e d e r K ü n s t e B e r l i n , G r e t- P a l u c c a -

© VG Bild- Kunst, Bonn.

A r c h i v, N r. 370 5 © VG B i l d - K u n s t , B o n n .

Abb. 3 ▲

Abb. 4 ▲

Betrachter*in dadurch nicht nur die Dynamik und Kraft des hohen Sprungs von Skoronel, sondern auch die Leichtigkeit und Anmut ihrer Bewegung. Das fliegende Haar, der durch Armgeste, Kopf und Rückenbeugung geschwungene Bogen, der im arabesk gewinkelten Bein endet, vermitteln und bewahren im Bild den Eindruck des perfekten (Tanz-)Moments. Nicht nur die Zeitfiguration, ebenso die Räumlichkeit der Tanzbewegung bildet eine Herausforderung für die Fotografin. Rudolph platziert die Tänzerin zwar meistens in der Mitte des Fotos, zeigt sie jedoch, anders als Byk, die Skoronel frontal in einer charakteristischen Pose als Bewegungsstudie ablichtet, in seitlicher 22 Rudolph: „Tanzphotographie“, 29. 23 Ebd.

256

oder diagonaler Bewegungsrichtung. Sie ist sich bewusst, dass dabei die räumliche, „perspektivische Wirkung“22 leicht zu einer verkürzenden „Verzeichnung“23 führen könne (wobei sie auch dies als ein C o l l e c t i o n d e r K ü n s t e – Ta n z u n d F o t o g r a f i e a m B e i s p i e l v o n Ve r a S k o r o n e l u n d C h a r l o t t e R u d o l p h

24 Vgl. ebd.: „Hier liegt der strittige Punkt. Die einen lehnen die Aufnahme wegen der ‚Verzeichnung‘ ab, die anderen freuen sich an der ‚perspektivischen Wiedergabe‘. Auf diesem Gebiet werden sich wohl im Laufe der Zeiten die Ansichten noch ändern.“ 25 Skoronel, Vera: „Meine tänzerische Arbeit und Stellungnahme zur Tanzentwicklung“, zit. nach: Radrizzani (Hg.): Vera Skoronel/Berthe Trümpy, 45–47, hier 45. 26 Ebd. 46. 27 Vgl. Lämmel, Rudolf: Der moderne Tanz, Berlin: Peter J. Oestergaard 1928; Zitate aus diesem Buch gehen höchstwahrscheinlich auf Texte zurück, die Vera Skoronel verfasst hat, die ihrem Vater für das Buch zur Verfügung standen; vgl. Typoskripte von Vera Skoronel, in: Radrizzani (Hg.): Vera Skoronel/Berthe Trümpy, 45–46.

mögliches fotografisches Gestaltungsmittel gelten lässt).24 Es sind die weitausladenden Bewegungen, vor allem wenn sie in Gegenspannung unterschiedlicher Körperzonen ausgerichtet sind, die sowohl tanzästhetisch wie fotografiertechnisch am meisten herausfordern: Skoronel prägt für die tänzerische, multivektorielle Ausrichtung im Raum den Begriff der Vielstrahligkeit, „das heißt die gleichzeitige Funktion verschiedenster, oft kontrastierender Gesten und Richtungen“25. Diesen neuen Stil, der auf einem polyphonen Wechsel der Raumrichtungen durch die Arm- und Beinbewegungen und der Ausrichtung des Körpers in diverse, mehrstrahlige Raumlinien beruhte, nannte Skoronel auch „die Ausbalancierung aller Pole im Raum“26. Rudolph übersetzt diesen Tanzstil in kongenialer Weise ins fotografische Bild, indem sie das Licht-Bild (im wörtlichen Sinn) mit aller Raffinesse von Licht- und Schattenwirkungen sowie der Platzierung der Tänzerin in aufgespreizten Diagonalen zur bewegt-beweglichen Partnerin des vielstrahligen Tanzes macht: Dies zeigt sich durch die Längung des in die Diagonale gestreckten Beines und die Verlagerung des Schwerpunktes in die Gegenrichtung.

Abb. 5 ► Hier zeichnet Rudolph die polyrhythmischen Spannungen der Raumbewegung durch eine Schattenfigur nach, die sozusagen ein Double im Foto erzeugt: ein Effekt, der wie ein Nachbild im Auge der Betrachterin wirkt. Vera Skoronel

Vera Skoronel war eine der eindrucksvolls-

und der

ten Tänzerinnen der zweiten Generation

„abstrakte Tanz“

des Ausdruckstanzes. Schon sehr jung zeigte sich ihre außerordentliche Bega-

bung. Ihre Ausbildung wurde unterstützt durch ihren Vater, Rudolf Lämmel. Dieser publizierte 1928 das Buch Der moderne Tanz27, das den Diskurs über den Neuen Tanz sehr prägte und noch heute als wichtiges Dokument der 1920er Jahre gilt. In diesem Buch schreibt er auch ausführlich über seine Tochter – unter Verwendung ihrer eigenen Texte und Skizzen. Skoronel war nur kurze Zeit an der von Suzanne Perrottet geleiteten Labanschule in Zürich, wechselte dann für wenige Monate zur Tanzschule Loheland und ging schließlich zu Wigman nach Dresden. Zutiefst beeindruckt von der Persönlichkeit und dem Tanzstil Wigmans, wirft sie sich mit höchster Intensität

257

Gabriele Brandstetter

C h a r l o t t e R u d o l p h : Ve r a S k o r o n e l , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , c a . 12 x 8 , 6 c m , D e u t s c h e s Ta n z a r c h i v K ö l n , D T K-T I S -12 24 4 . © V G B i l d - K u n s t , B o n n .

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C o l l e c t i o n d e r K ü n s t e – Ta n z u n d F o t o g r a f i e a m B e i s p i e l v o n Ve r a S k o r o n e l u n d C h a r l o t t e R u d o l p h

28 Genaueres zur Biografie: s. Radrizzani (Hg.): Vera Skoronel/ Berthe Trümpy.

in ihre tänzerische Ausbildung und entwickelt schon in dieser Zeit

29 Ebd., 45.

aters Oberhausen erhält. Auch wenn ihre Arbeit wegen finanzieller

30 Ebd.

Schwierigkeiten des Theaters schon 1925 beendet werden musste,

31 Ebd.

war diese Zeit einer großen Herausforderung und Freiheit überaus

32 Ebd. 33 Vgl. Vera Skoronel in: Radrizzani (Hg.): Vera Skoronel/Berthe Trümpy, 46: „Die maschinelle Bewegung (auch ein unzutreffendes Hilfswort) ist darum der beste Prüfstein für die künstlerische Intensität des Tänzers.“ 34 Ebd. 45.

Visionen für den Neuen Tanz. Diese kann sie erproben, als sie 1924 – gerade erst 18 Jahre alt – die Leitung der Tanzgruppe des Stadtthe-

produktiv, auch für ihre pädagogische Arbeit ab 1926 mit der Meisterklasse und Co-Leitung der Tanzschule von Berthe Trümpy in Berlin.28 Skoronels Tanzstil zeichnete sich aus durch eine ihm eigentümliche Verbindung von geradezu exzessiver Intensität und zugleich großer formaler Strenge und Klarheit. Wie auch andere Tänzerinnen der zweiten Ausdruckstanz-Generation – etwa Gret Palucca oder Rosalia Chladek – verfügte auch Skoronel über das Potenzial zu hohen, kraftvollen Sprüngen (ganz im Kontrast zur bodenfixierten Art und Weise des Schreitens von Wigman). Man kann – im Vergleich von Fotos, die Palucca und Skoronel im Sprung zeigen – feststellen, dass Rudolph durch diese Art und Weise der Bewegungsfotografie ein spezifisches Muster des Tanzes der 1920er Jahre geschaffen hat, das stilbildend wirkte und nachträglich unsere Vorstellung vom Typus der Tänzerinnen, die von Wigman und nach ihr kamen, prägt: kraftvoll, dynamisch und selbstbewusst im Bewegungsausdruck. So war es Skoronels Ziel, den Neuen Tanz weiterzuentwickeln, ihn vom absoluten Tanz zum abstrakten Tanz zu führen. Worin besteht das Neue des abstrakten Tanzes? Skoronel formuliert dies 1929 in ihrer „Stellungnahme zur Tanzentwicklung“29. Sie grenzt ihren abstrakten Tanz ab vom „gefühlsbetonten Ausdruckstanz“30, vom absoluten Tanz Wigmans, der „oft noch pantomimische Grenzgebiete streift“31. Abstrakter Tanz hingegen meint: „die schärfste und reinste Kristallisierung des Tanzes an sich“32, ein Tanz, der keine literarischen, dramatisch-theatralischen Elemente mehr habe, vielmehr – mit einem (oft missverstandenen) Begriff Skoronels ausgedrückt – „maschinell“33 sei. Sie entwickelt für diese streng formalen Kompositionen neue Skalen der Armführung, die durch Polyphonie und Vielstrahligkeit charakterisiert sind. 34 Skoronels Auseinandersetzung mit dem, was für sie Neuer Tanz ist, drückt sich nicht nur in der Bewegung und Komposition von Tanzspielen aus, sondern auch in Schrift und Zeichnung. Sie beginnt sehr früh zu schreiben, formuliert detailliert die Bewegungsdramaturgien ihrer Choreografien und zudem theoretische Texte, die in der Art von Manifesten ihre Konzeption und Vision

259

Gabriele Brandstetter

35 Ebd. 36 Radrizzani (Hg.): Vera Skoronel/Berthe Trümpy, 46. 37 Vgl. „Sozusagen Lebenslauf der Tänzerin Vera Skoronel (1930)“, in: Radrizzani (Hg.): Vera Skoronel/Berthe Trümpy, 11–116, hier 115.

des Neuen am Neuen Tanz proklamieren. Ihre Schriften spiegeln einerseits die expressionistische Rhetorik und den Diskurs des Tanzes der 1920er Jahre; sie weisen darüber hinaus aber auch in eine Richtung, die das Expressionistische hinter sich lässt und auf einen neuen Begriff von Form zielt, der auch das Kollektiv – den Tanz der Gruppe – neu organisiert. Skoronels Definition des abstrakten Tanzes mit seiner Formstrenge und „Kristallisierung“35 hat manches gemeinsam mit Oskar Schlemmers Idee von „tänzerischer Mathematik“, wie er sie im Triadischen Ballett (1923) und in den Bauhaus-Tänzen (1929) realisierte. Und ihre Skalen zur Präzisierung der Bewegung im Raum, die Härte der Stoß- und Schlagrichtung der Arme, könnte man – hätte nicht ihr früher Tod und die Zäsur des NS-Regimes in der Geschichte des Ausdruckstanzes diese Entwicklung unterbrochen – als Weg lesen zur tänzerischen Arbeit Dore Hoyers und deren Intensität und Formstrenge in der Choreografie Afectos Humanos (1962). Wie ihre Lehrer*innen und Vorbilder Laban und Wigman, fertigt Skoronel Zeichnungen an, Tanzskizzen, die das Konzept und die Bewegungsabläufe ihrer Stücke dokumentieren. Schon als fünfzehnjährige in der Zeit ihres Studiums (1919–1921) an der Labanschule Zürich bei Perrottet, beginnt sie mit der zeichnerischen Ausarbeitung ihrer Ideen zum Stück Die Prophetin. Im Laufe ihrer Arbeit als Choreografin ändert sich der Stil dieser Notationen. Waren es zunächst noch farbige Tanzstudien, die das Bewegungsgeschehen in expressionistisch wirkende Figuren und einander überlagernde Räumlichkeiten übertrugen, so werden die Zeichnungen später zunehmend formaler und abstrakter. Strichfiguren und ornamental oder geometrisch gezirkelte Partituren der Raumaufteilung geben einen Eindruck von ihrem choreografischen Konzept des „abstrakten Tanzes“ und der „Ausbalancierung aller Pole im Raum“36 bzw. Ausbalancierung räumlicher Gewichte. Es sind komplexe und zugleich stilisierte Diagramme, die Zeichnung, beschreibenden oder tabellarischen Text und Bewegungsanweisung in Strichfiguren und Lineaturen vereinen. Tanzmoderne,

„Nichttanzen – gibt es das über-

Neuer Tanz – Rückblick

haupt?“37, so formulierte schon

und Neuinterpretation

die zwölfjährige Vera Skoronel ihre unbedingte Hingabe an den

Tanz. Eine Unbedingtheit, die ihre eigene Geschichte hat, in der durch Nationalsozialismus und Krieg unterbrochenen Tradition

260

C o l l e c t i o n d e r K ü n s t e – Ta n z u n d F o t o g r a f i e a m B e i s p i e l v o n Ve r a S k o r o n e l u n d C h a r l o t t e R u d o l p h

38 Untertitel des Films Pina (2011) von Wim Wenders, nach einem Zitat von Pina Bausch.

des Ausdruckstanzes. Anders dringlich, politisch bewusster und

39 Sontag: „Fotografie“, 38.

sind Teil der Geschichte des Tanzes in der Moderne. Sie bewah-

40 Ebd. 39.

zugleich verzweifelter tönt dieses Echo später bei Pina Bausch: „Tanzt, tanzt, sonst sind wir verloren.“38 Fotografien des Tanzes ren Spuren tänzerischer Bewegung, die als singuläres Ereignis unwiederbringlich vergangen ist; und sie gestalten mit der Serie

41 Ebd. 42.

der Bilder – in Posen, Gesten, Gruppen-Formierungen und choreo-

42 Genazino, Wilhelm: Der gedehnte Blick, München: dtv 2007, 40.

grafischen Anordnungen – das Image und den Kanon dessen, was

43 Ebd. 42. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Ebd.

als Tanz überliefert wird. So trägt der Dialog zwischen Fotograf*innen und Tänzer*innen dazu bei, ein Bildgedächtnis des Tanzes zu erstellen. Susan Sontag betont, dass Fotografieren zuallererst „eine Sehweise“39 sei und dass ein Foto „ein Bruchstück“ ist, „ein kurzer Blick“.40 Doch das Foto ist nie allein. Aus der Vielfalt und aus dem Plural der Bilder entsteht das, was zum Archiv der Erinnerung wird, denn: „[…] mit unwiderstehlicher Kraft bestimmen Fotos darüber, was wir von einem Geschehen in Erinnerung behalten.“41 Hier kommt der/die Betrachter*in von Fotos ins Spiel. Er/sie ist der/die dritte Partner*in dem eingangs erwähnten Dialog, der sich zwischen Tänzerin vor der Kamera und Fotografin hinter der Kamera als ein Bewegungsgeschehen entspinnt. Der/die Betrachter*in des Fotos spielt diesen Prozess der Bewegung vor und hinter der Kamera mit. Sie taucht ein in die Bildbewegung, imaginiert sie, unterbricht oder verwirft Spekulationen über das zu Sehende, etwa das Vorher und Nachher in der Sprungbewegung der Tänzerin. Der/Die Betrachter*in tritt als Dritte/r in dieses Fotoszenario ein. Es entsteht ein „Dreiecksverhältnis“42, wie der Schriftsteller Wilhelm Genazino sagt, in dem eine Verwandlung stattfindet. Denn mit jeder Betrachtung geschieht eine „Neuauslegung“43 des Bildes. Dafür bedarf es eines „gedehnten Blicks“44 – einer Sehweise, die eine eigene Zeitlichkeit und Blickbewegung in das Foto einträgt. So stellt sich eine Collection – als Vielfalt und Pluralität der Tanz-Bilder – als eine bewegliche und unvorhersehbare Konstellation her: zwischen Bildern von Bewegung, die in unterschiedlichen Rahmen, Räumen und Konfigurationen positioniert – aufgestellt und ausgestellt – werden; und die in diesen konstellativen Arrangements eintreten in eine bewegliche Liaison mit den Blicken der Vielzahl der Betrachter*innen. Hier erweist sich das poetische Potential der Collection im co-legere, im Zusammen-Lesen dessen, was (Tanz-)Fotografie zu lesen gibt: In den Figuren, dem „gedehnten Blick“45 von einander überschneidenden „Dreiecksbeziehungen“46 (Genazino)

261

Gabriele Brandstetter

47 Vgl. Schulze, Janine: „Tanzarchive sind Perpetuum Mobiles“, in: Are 100 objects enough to represent the dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz, hg. v. Janine Schulze, München: Epodium 2010, 8–13.

unterschiedlicher Blickbeziehungen im Schauraum und in der

48 Vgl. Odenthal, Johannes: Transformation statt Restauration – Versuch einer Standortbestimmung von Tanzgeschichte, Journal der Künste, Heft 10, Mai 2019, 33–35.

ergänzt durch Texte, choreografische Skizzen, Rezensionen sowie

49 Hammergren, Lena: „Many Sources, many Voices”, in: Rethinking Dance History. A Reader, hg. v. Alexandra Carter, 1. Aufl., London u. a.: Routledge 2004, 20–31. 50 Brandstetter, Gabriele: „Tanzarchive in transition. Zwischen Ausstellung und Aufführung“, in: Das Jahrhundert des Tanzes, Ausstellungs-Reader, hg. v. Johannes Odenthal im Auftrag von Akademie der Künste, Berlin und DIEHL + RITTER, Berlin: Alexander 2019, 264–298.

Bewegung der Zeitsprünge, die sich hier manifestieren. Aus dem bewegten Dialog zwischen Tänzerin und Fotografin entstehen so Bilder, ja eine Bildergalerie, die wiederum unser Bild von den Körpern, Formen, Haltungen und Gesten des modernen Tanzes prägen. Die Vielfalt und die Pluralität der Tanzfotografien generieren – durch Gemälde wie jene von Ludwig Kirchner oder Emil Nolde und Skulpturen wie jene von Georg Kolbe – jenes Archiv, aus dem Tanzgeschichte überliefert und immer wieder neu interpretiert wird. So vermischen sich Entlegenes und Vergessenes und Liebhaberstücke einer Sammlung, versammeln in neuer Konstellation Blicke und Kommentare im Gedächtnisraum eines Archivs oder Museums. Diese mobile47 und transformative48 Dimension einer Collection von Tanz-Fotografie macht sichtbar, dass es stets „many sources, many voices“49 sind, die in das historische Wissen über Tanz (und Fotografie) eingewebt sind. Dass gerade das Öffnen, Umstellen, Neu-Collagieren einer Collection das Potential birgt, Kanon zu revidieren und kanonische Verengungen der Wahrnehmung zu erweitern, zeigt sich im Wieder-Lesen, in der Re-Collection von Tanz-Fotografie. Die Entflechtung von Fixierungen – etwa auf die wenigen Kanon-Tänzer*innen des Ausdruckstanzes – durch den gedehnten und den streuenden Blick ins Archiv – birgt die Chance von Entdeckungen, von Korrekturen festgefahrener Traditionen des Wissens und der Künste, und damit Anstöße für Neuinterpretationen in Kunst und Wissenschaft. Vera Skoronel (und einmal nicht: Mary Wigman) als Stern einer Collection zu betrachten, heißt dann auch, rückblickend, Kanon und Lesarten zu revidieren, und damit das Potential von „Tanzarchiven in transition“50 zu nutzen: durch neue co-lectionen, durch Öffnung des Zeitpfeils zwischen Vergangenem, Gegenwart und Zukunft, durch eine doppelte Praxis der Wiederaneignung: als Lesart und als Tanz. Der Rückblick aus dem Heute in das Bildinventar der Archive ermöglicht ein – wenngleich stets lückenhaftes – Wissen und Wieder(er-)finden des Tanzes der Moderne. Nur so kann er erneut lebendig und erfahrbar werden.

262

C o l l e c t i o n d e r K ü n s t e – Ta n z u n d F o t o g r a f i e a m B e i s p i e l v o n Ve r a S k o r o n e l u n d C h a r l o t t e R u d o l p h

„Malerische Stellungen durch lebhafte Bewegung verbinden“ . 1

Antikenrezeption als plurale Bildkonstellation zwischen Kunst und Tanz Anja Pawel

1 Bie, Oscar: Der Tanz, 2. Aufl. Berlin: Bard 1919, 204ff. 2 Der Beitrag enthält Auszüge aus dem Kapitel 1 meiner Dissertation „Abstraktion und Ausdruck. Bildende Kunst und Tanz im frühen 20. Jahrhundert“, Berlin/ Boston: De Gruyter 2019. 3 Vgl. hierzu auch das Kapitel „Danseuses d’Herculanum“ bei Wittrock, Eike: Arabesken – Das Ornamentale des Balletts im frühen 19.  Jahrhundert, Bielefeld: Transcript 2017, 65–96.

Eine Fotografie, wahrscheinlich von Hans Arp aufgenommen, zeigt die Dada-Künstler Sophie Taeuber mit Hugo Ball und seiner Tochter Annemarie während eines Besuchs in Pompeji im April 1925.2 Das Mädchen wird neben diesen ordentlich gekleideten Erwachsenen zur Ausnahmeerscheinung. Mit fröhlichem Gesichtsausdruck und dem Oberkörper zum Betrachter gedreht, sitzt sie in Bewegung begriffen auf den steinernen Fragmenten einer alten Mauer und schlägt auf ein Tamburin. Ihr langes weißes Kleid fällt in vielen Falten über die Beine. Ihre Erscheinung pendelt zwischen einem kindlich-naiven Zeitvertreib und einer tanzenden Figur aus dem Freskenzyklus der Villa di Cicerone in Pompeji.3

A n o n y m , v e r m u t l i c h H a n s A r p : H u g o B a l l , S o p h i e Ta e u b e r- A r p u n d A n n e m a r i e S c h ü t t - H e n n i n g s i n P o m p e j i , 19 2 5 , F o t o g r a f i e , C l a m a r t , F o n d a t i o n A r p , i n : S u z a n n e P a g é , ( H g . ) : S o p h i e Ta e u b e r, A u s s t .- K a t . M u s é e d ’ a r t m o d e r n e d e l a v i l l e d e P a r i s , A u s s t . - K a t . M u s é e c a n t o n a l d e s b e a u x - a r t s L a u s a n n e , P a r i s : P a r i s - M u s é e s 19 8 9 , 12 8 .

Abb. 1 ▲

264

„ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

4 Vgl. Cieri Via, Claudia: „Aby Warburg e la danza. Come ‚atto puro della metamorfosi‘“, in: Quaderni Warburg Italia, 2–3 (2005), 63–136; Michaud, PhilippeAlain: Aby Warburg and the Image in Motion, New York: Zone Books 2004. 5 Vgl. Wismer, Beat (Hg.): Sophie Taeuber-Arp. Zum 100. Geburtstag, Ausst. Kat. Aargauer Kunsthaus Aarau, Baden: Müller 1989, 44; Pagé, Suzanne (Hg.): Sophie Taeuber, Ausst. Kat. Museés d’art moderne de la ville de Paris et. al., Paris: Paris-Museés 1989, 128. 6 Klee, Paul: Tagebücher. 1898–1918, hg. u. eingel. v. Felix Klee, Köln: DuMont Schauberg 1957, 93. 7 Für Picassos Adaption der antiken Schemata vgl.: Barasch, Moshe: „Antike und klassische Moderne. Über Pablo Picasso“, in: Faber, Richard u. Bernd Kytzler (Hg.): Antike heute, Würzburg: Königshausen & Neumann 1992, 8–18; Siehe auch weiterführend: Green, Christopher u. Daehner, Jens M. (Hg.): Modern Antiquity. Picasso, De Chirico, Léger, Picabia, Ausst. Kat. J. Paul Getty Museum u. a., Los Angeles, Calif.: J. Paul Getty Museum 2011.

Würde man das Foto in Aby Warburgs Bildersammlung der „Ninfa“ in seinen Mnemosyne Atlas einfügen, so demonstrierte es das – auch um 1925 – anhaltende Interesse am Nachleben der Bewegung in der Antike.4 Ball und Taeuber hatten beide Kontakt zu dem Choreografen Rudolf von Laban und seinen Tänzern in der Schweiz. Taeuber tanzte sogar als seine Schülerin (vielleicht in einem ähnlich locker fallenden Kleid) im Außenraum seiner Sommerschule am Monte Verità, beschloss dann aber, sich ganz der Malerei zu widmen. Nach dem Besuch in Pompeji fertigte sie eine Serie von Bildern an, in denen abstrahierte tanzende Figuren auf einer Fläche verteilt sind, die Gliedmaßen rechteckig arrangiert. Die sich gegenseitig kontrastierenden Farben des Hintergrunds und die versetzt angeordneten Körper der Tänzer evozieren eine rhythmische Dynamik. Die Malereien wurden mit der Reise nach Pompeji in Verbindung gebracht.5 Demzufolge kulminierte Taeubers Eindruck des alten Pompeji in abstrakten Kompositionen mit f lachen, schematischen Figuren und abgewinkelten Gliedmaßen. Antike Erinnerungsorte wie Pompeji waren wichtige Reiseziele für Künstler der klassischen Moderne. Paul Klee bezeugt dies in einem Tagebucheintrag zu seinem Besuch im Archäologischen Museum in Neapel im Jahr 1902: „Im Museo Nazionale fesselte mich vor allem die Pompeji-Gemäldesammlung. Als ich eintrat war ich aufs höchste ergriffen. Malende Antike, zum Teil wunderschön erhalten. Zudem liegt mir diese Kunst so nah!“6 Auch Picasso besuchte die Ruinen von Pompeji. 1917 war er für drei Monate in Rom, um mit dem russischen Ballett zu­­ sammenzuarbeiten. Gemeinsam mit Jean Cocteau, dem Tänzer Leonide Massine und Serge Diaghilev, dem Impresario des En­­ sembles, pilgerte er zu der antiken Stadt. Während es der 19. Jahrhundert-Maler Lawrence AlmaTadema, bekannt für seine detailgetreuen, üppig-blumigen Antikendarstellungen vor der Casa di Sallustio in Pompeji jedoch noch komfortabel hatte (eine Fotografie zeigt ihn auf einem Stuhl sitzend, um mit ruhiger Hand seine Zeichnungen auszuführen) kamen die Dada-Künstler und Picasso im Gegenzug ohne solche Hilfsmittel aus. Wie es (zumindest) einigen Fotografien zu entnehmen ist, ‚porträtierten‘ sie die Ideale der Antike eher durch ‚performative Praktiken‘: Obwohl sein Werk von einer intensiven Antikenrezeption gekennzeichnet ist,7 ließ sich Picasso nicht mit seinem Maler-Equipment

265

Anja Pawel

É t i e n n e -J u l e s M a r e y : F i g u r e n v o n v e r s c h i e d e n e n f o t o g r a f i s c h e n A n a l y s e n . Rekonstruktion der Schritte, in: Maurice Emmanuel: La Danse Grecque A n t i q u e d ’ a p r è s l e s M o n u m e n t F i g u r é s , P a r i s : H a c h e t t e 18 9 6 , P l a t e V.

fotografieren, sondern ‚kletterte‘ lieber zusammen mit dem Tänzer Massine auf den Architekturfragmenten herum. Die Antikenrezeption in der bildenden Kunst des frühen 20. Jahrhunderts war eher Teil eines abstrakteren, indirekteren Wahrnehmungs- sowie Artikulationsprozesses. Ein Umstand, der deren Untersuchung komplizierter macht, was der Grund sein mag, warum dieses Verhältnis noch nicht gut erforscht ist. Eine weitaus bekanntere Tatsache ist das gleichzeitig aufgekommene Interesse vieler Tänzer dieser Zeit an der Antike. Sie waren auf der Suche nach antiken „Pathosformeln“, um sich zu neuen Choreografien inspirieren zu lassen. So suchten sie gezielt Orte auf, an denen die alte Kultur direkt erfahrbar wurde, wie beispielsweise die Akropolis oder in Delphi. Die Fotografien bezeugen

266

„ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

dieses Zusammentreffen und forderten durch ihr spezifisches Bildgebungsverfahren die Tänzer dazu heraus, (meist) Posen zu kreieren, die ihr Verständnis von der Antike in einem einzigen, 8 Nelly. Dresden – Athens – New York. From the Photographic Archive of the Benaki-Museum, Athens, Ausst.-Kat. hg. v. Harder, Matthias u. Griechische Kulturstiftung, with a contribution by Irene Boudouri, München, London, New York: Prestel 2001. 9 Emmanuel, Maurice: La Danse Grecque Antique d’après les Monument Figurés, Paris: Hachette 1896.

267

prägnanten Moment am besten wiedergeben. So bspw. bei Isadora Duncan, die von Edward Steichen im Parthenon und Umgebung fotografiert wurde und sich teilweise mit ihrem Körper an die architektonische Form anpasst. Oder die griechische Fotografin Elli Sougioultzoglou-Seraidari (genannt Nelly), die unter anderem die russische Tänzerin Elizaveta Nikolska 1930, ebenfalls am Parthenon, in voller Bewegung fotografierte.8 Zunächst einmal wurde die Rezeption des antiken Tanzes jedoch vorangetrieben durch ein viel besprochenes Buch, „La Danse grecque antique d’après les monument figurés“9 von Maurice Anja Pawel

10 Vgl. Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin: Suhrkamp 2010, 288–293; Vgl. auch Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körper­ bilder und Raumfiguren der Avantgarde, Freiburg i. Br./Berlin/Wien: Rombach 2013, 64ff. 11 Catoni, Maria Luisa: „Mimesis and Motion in Classical Antiquity“, in: Bilder animierter Bewegung/Images of Animate Movement, hg. v. Sigrid Leyssen u. Pirkko Rathgeber, München: Wilhelm Fink 2013, 204. 12 Duncan, Isadora: „,The Dance of the Future‘. Talk in Berlin. March 1903“, in: Magdalena Tzaneva (Hg.): Isadora Duncans Tanz der Zukunft 130 Stimmen zum Werk von Isadora Duncan, Berlin: LiDi 2008, 30. Frederick Naerebout fasste dieses Zitat als einen Beweis auf, dass Duncan Emmanuel gelesen hatte: ders: „In search of a Dead Rat. The Reception of Ancient Greek Dance in Late Nineteenth-Century Europe and America“, in: The Ancient Dancer in the Modern World. Responses to Greek and Roman Dance, hg. v. Fiona Macintosh, Oxford: University Press 2010, 50. 13 Catoni: „Mimesis and Motion in Classical Antiquity“, 210.

Emmanuel. Die Publikation von 1896 bot eine Vielzahl von Tanzdarstellungen, abgezeichnet von antiken Vasen und Reliefs, um aus den Posen einen ‚antiken griechischen Tanz‘ zu rekonstruieren. Darüber hinaus befinden sich in dem Buch zwei Serien von Chronofotografien von Étienne-Jules Marey. Sie zeigten jeweils eine Tänzerin: Die Erste vermittelte technische Grundlagen des klassischen Balletts, die Zweite vollführte freiere Bewegungen in einem weiten, antikisierenden Gewand. ◄

Abb. 2

Die fotografischen Serien waren vermutlich dafür gedacht, den transitorischen Charakter der Zeichnungen Emmanuels zu unterstreichen. Die Zeichnungen und ihre schriftlichen Erläuterungen wurden, kombiniert mit den Fotografien, so präsentiert als seien sie Puzzleteile, die sich in einer pluralen Konstellation zu einer vollständigen Choreografie der Antike zusammenfügen.10 Emmanuel sprach seinen Bildern dasselbe Potential des Wirklichkeitsverweises zu, wie den Fotografien von Marey, auch wenn sie, zumindest im Fall des antiken Tanzes verständlicherweise nicht das Original zeigen konnten. Maria Luisa Catoni hat gezeigt, dass altgriechische Abbildungen von Körperhaltungen (Schemata) oft vom Tanz inspiriert waren: Sie wurden von einer bewegten in eine statische Kunstform überführt und überlieferten soziale Konventionen oder Werte.11 Catoni argumentiert, dass diese Schemata den Nutzen hatten, sowohl die Vorbereitung wie auch die Ausführung einer Bewegung anzudeuten – sie sollten eine ganze Sequenz von Bewegungen eines Tanzstücks repräsentieren. Diesbezüglich bemerkte Isadora Duncan folgerichtig: „There is not one (Greek vase or bas-relief) which in its movement does not presuppose another movement.“12 Weder für den Betrachter in der Antike, noch für den modernen Tänzer repräsentierten die Bilder demnach Stasis – im Gegenteil, sie evozierten immer einen gewissen Anteil an Kinesis. Dies war es vielleicht, was Emmanuel mit Hilfe der Chronofotografien zeigen wollte. Die Schemata waren nicht nur Resultat einer Übertragung von Tanz ins Bild, sondern sollten auch dazu anregen, wiederum in Tanz übersetzt zu werden.13 Emmanuel, Marey und Duncan sahen jedoch kein Hindernis darin, aus ihren zusammengetragenen Fragmenten eine plurale Konstellation der Bilder und damit schließlich einen Tanz zu rekonstruieren, nur taten sie es auf ganz

268

„ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

14 Levinson, André: Ballet Old and New, übers. v. Susan Cook Summer, New York: Dance Horizons 1982, 26. 15 Ebd., 26–27. 16 Ebd., 30.

unterschiedliche Art und Weise, was auch auf ihr jeweils eigenes Medium zurückzuführen ist. Emmanuel durch seine Zeichnung und Schrift in Buchform, Marey im Bereich der Fotografie und Duncan im perfomativen, tänzerischen Akt im Raum. Der russische Schriftsteller André Levinson hingegen, dessen Interesse dem zeitgenössischen Tanz galt, argumentierte gegen die

17 Ebd.

vorausgesetzte Lebendigkeit solcher Bilder: „The basic inability of

18 Brandenburg, Hans: Der Moderne Tanz, München: Müller 1917, 56.

the plastic arts, sculpture and painting, to reproduce movement in

19 Hans Brandenburg hingegen sah das durchaus positiv: „Daß sie das nicht konnte, was das Ballett kann, daß sie es gar nicht können wollte, ist ihr größtes Verdienst und der eigentlichste Beginn des Neuen.“ In: ebd.

all its consecutive moments has been the fatal obstacle to attempts at restoring ancient dance forms. [...] These art forms can only fix a single instant of a movement, chiefly its beginning or end.“14 Daher, erklärte Levinson, könne der antike Tanz nur in einzelnen Posen und Positionen rekonstruiert werden, ohne dass eine „complete conception of the dynamics of dance“ erfolgen könne.15 Die Aneignung dieser antiken Posen induzierte schon das Unvermögen des Tänzers, erklärte Levinson am Beispiel Duncans.16 Er war ein Gegner von ihrer tänzerischen Wiedererweckung der Antike im Modernen Tanz. Leidenschaftlich hingegen verteidigte er die Schule des klassischen Balletts. Ihm zufolge hätte ein antiker griechischer Tanz so technisch elaboriert sein müssen, wie es nur das klassische Ballett je sein konnte.17 Ebenso wie Levinson kommentierte auch der Tanzkritiker Hans Brandenburg die Problematik der Antikenrezeption, insbesondere bei Duncan, die sich in einer ausschließlichen und daher nicht hinreichenden Konzentration auf das Bildnerische zeigte: Mit philologischer und archäologischer Rekonstruktion reihte sie Posen aneinander und gab statt der Bewegung kopierte Bewegungsmomente, die zudem nicht dem Tanz, sondern der bildenden Kunst angehören. Da sie nicht das schaffende Gesetz aus der eigenen Brust nehmen konnte, das unser Rhythmus, und nicht derjenige der Griechen, ist, blieb sie hier unfruchtbar, ob sie ihre Momente auch in eine noch so logische Folge brachte.18 Die Wiederbelebung von antiken Bildern einerseits, aber sicherlich auch ihr Barfußtanz und der Mangel an einer hinreichenden Ausbildung im klassischen Tanz19 machten Duncan zu einer höchst polarisierenden Figur, die innerhalb der Kunstszene Diskussionsstoff bot. Ungeachtet seines Interesses am Nachleben der Antike, ließ ihre Kunst sogar Warburg unbeeindruckt, obwohl sich seine

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Anja Pawel

20 Als er eine ihrer Aufführungen sah, machte er schnippische Bemerkungen über ihre nackten Beine und ihren Gesichtsausdruck, Gombrich, Ernst H.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biografie, Hamburg: Philo Fine Arts 2012, 234, Fn. 11. Vgl.: Mainberger, Sabine: Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin: Kadmos 2010, 240; Köhler, Kristina: Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz, Marburg: Schüren 2017, 132, Fn. 5. 21 Duncan: Dance of the Future, 34. 22 Ebd., Fn. 21. 23 Jooss, Birgit: „Tanz der Statuen – die Attitüden des 18. Jahrhunderts“, in: Loïe Fuller. Getanzter Jugendstil, hg. v. Jo-Anne Birnie Danzker, Ausst. Kat. Museum Villa Stuck, München/New York: Prestel 1995, 81–90; Jooss, Birgit: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit, Berlin: Reimer 1999; Quilitzsch, Uwe u. Richter, Dieter (Hg.): Lady Hamilton. Eros und Attitüde. Schönheitskult und Antikenrezeption in der Goethezeit, Ausst. Kat. Casa di Goethe, Petersberg: Michael Imhof 2015. 24 Genthe, Arnold: „Isadora. Prophet of the Dance“, in: Abraham Walkowitz: Isadora Duncan in her Dances, Girard, Kansas: Haldemann-Julius Publications 1950, ohne Seitenangabe; Vgl. Sharyn Rohlfsen Udall: Dance and American Art. A long embrace, MadisonWisconsin 2012, 244. 25 Bie: Der Tanz , 204ff. 26 Niehaus, Max: Isadora Duncan. Leben, Werk, Wirkung, Berlin: Henschel 1981, 29; Vgl. Brandstetter: Tanz-Lektüren, 111.

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Untersuchungen in Duncans Tanz perfekt zu verkörpern schienen.20 Doch auch Duncan selbst bemerkte, dass die Antikenrezeption im Tanz ihre Grenzen hatte: „To return to the dances of the Greeks would be as impossible as it is unnecessary.“21 Es war ihr also bewusst, dass der antike Tanz durch Bilder nicht wiederbelebt werden konnte; und es war ihr Anliegen, aus den Inspirationen der Antike eine neue, eigene Kunst zu erschaffen, die sie schließlich als „Tanz der Zukunft“ propagierte.22 Um einen neuen Tanz hervorzubringen, der aber auf der Antike basierte, war eine Umorientierung notwendig. Duncan benötigte neue Formelemente, die sie in einen Tanz übertragen konnte. Hinzu kam, dass sie auch keine Lady Hamilton war, die nur einzelne Attitüden vollführte, die von antiker Kunst inspiriert waren oder einfach „eingefrorene“ Posen nach Art von Tab­ leaux Vivants aneinanderreihte.23 Der Fotograf Duncans, Arnold Genthe, berichtete, dass sie sich noch nicht einmal fotografieren ließ, wenn sie sich dabei nicht bewegen durfte: „She had always refused to have photographs made in dance poses. But when she discovered that it was possible to take pictures while she was in motion, she was eager to collaborate.“24 Die fließende Bewegung stand bei Duncan demnach durchaus im Vordergrund. Wie kompensierte sie also die Abwesenheit der Bewegung im Bild in ihrem Tanz? Wie schaffte sie es, „[...] malerische Stellungen durch lebhafte Bewegung zu verbinden [...]“, wie Oscar Bie es ausdrückte?25 Welche Möglichkeiten gab es, antike Schemata innerhalb eines modernen Tanzes zu artikulieren? Das bewegte Beiwerk und die runde Linienführung der antiken Skulpturen hatten Duncan beeinflusst, den Linienfluss auch als abstraktes Konzept für ihren Tanz in den Mittelpunkt zu stellen. 1903 schrieb sie über eine Reise nach Griechenland: „This here is perfection: form, line, rhythm, this is my dance.“26 Ein Zitat Ernst Schurs aus seinem Buch Der moderne Tanz könnte diese Annahme bestärken, denn darin erklärte er die Linien des fließenden Gewandes bereits zu einem wichtigen Bewegungselement der antiken Skulptur: „Darum legten die Griechen über die Glieder das flutende Gewand; in schönen Linien fliesst es, gibt Oberflächeneinheit, und indem diese Einheit gestört wird, wirkt die Bewegung.“27 Brandenburg hob zudem immer wieder die besondere „Linien­f ührung“ Duncans hervor: „Man muß ihre fabelhafte Kunst der ‚Linienführung‘ bewundern, die alle Bewegungen zu einem „ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

27 Schur, Ernst: Der moderne Tanz, München: Lammers 1910, 15. 28 Brandenburg: Der Moderne Tanz, 200. 29 Bahr, Hermann: „Isadora Duncan“, Neues Wiener Tagblatt, 15.2.1902, 1–2; Vgl. Tzaneva: Isadora Duncans Tanz der Zukunft, 14.

fließenden Ganzen verbindet (...).“28 Und auch Duncan selbst sah wohl, wie Hermann Bahr sie zitierte, das höchste Ziel ihrer tänzerischen Leistung darin „vollkommen zur Linie zu werden“29. Die geschwungene, harmonisch wirkende Linienführung ihres Körpers diente vermutlich dazu, die einzelnen Attitüden zu verbinden. Um 1900 genoss der moderne Tanz, im Gegensatz zum klassischen Ballett, nicht den Status einer eigenen Kunstform. Es war ein Tanz ohne Vorbilder in seiner eigenen Disziplin. Lediglich die „statischen“ Schemata der Antike dienten ihm als Inspiration, sodass er weitere Legitimation in den ihm nahestehenden Künsten der Zeit suchte. Die sich schlängelnde Linie war ein wichtiges Element des Jugendstils (pflanzliche Ornamentik) und wurde, in den Künsten der Zeit stets mit Bewegung assoziiert. Für Duncan war sie eine Artikulationsmöglichkeit im Tanz, sie war graphisches Prinzip, welches sich auch in die Bewegung im Raum übertragen ließ. Die Umsetzung des Schemas einer geschwungenen Linie im Tanz hatte einen fließenden, harmonischen Ausdruck zur Folge. Die Zeichnung einer Tänzerin in antikem Gewand von Walter Crane aus seinem Buch „Linie und Form“ (von 1901), die das Schema ihrer Pose in schwungvollen Linien wiedergibt, scheint diese Auffassung passgenau zu illustrieren. ◄

Abb. 3

Der Eindruck einer geschwungenen Linienführung in Duncans Performance wird durch Beschreibungen der Amerikanerin Eva Palmer-Sikelianos bestätigt, die an der Wiederaufarbeitung von antikem Tanz und Theater interessiert war. In Kollaboration mit ihrem Ehemann, dem griechischen Schriftsteller Angelos Sikelianos organisierte sie zwei „antike“ Festivals in Delphi im Jahr 1927 und 1930. Über Duncan schrieb sie: Her arms were beautiful and the soft undulations were infinitely charming to a world which knew only the tiresome stiffness of the ballet; but there is not a single example of any work of Greek art before the fourth century which resembles Walter Crane: Tanzende Figur mit den die Bewegung beherrschenden Linien, 1901, Zeichnung, in: ders.: Linie und Form, Leipzig: Seemann 1901, 224.

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Isadora’s dancing. [...] Even in powerful dances [...] the lines of her body went into curves. She always faced her audience frankly, head and chest in the same direction. There was never the powerful accent or a strong angle, and never the isolating Anja Pawel

30 Anton, John P. (Hg.): Upward Panic. The Autobio­ graphy of Eva Palmer-Si­ kelianos. Choreography and dance studies, v. 4, Abdingon/Oxon/New York: Routledge 2019 (1993), 182; Vgl. Leontis, Artemis: „Griechische Tragödie und moderner Tanz – eine alternative Archäologie“, in: Eva Kocziskzy (Hg.): Ruinen in der Moderne. Archäologie und die Künste, Berlin: Reimer 2011, 209; Dies.: Eva Palmer-Sikelianos. A Life in Ruins, Princeton, NJ: Princeton University Press 2019. 31 Ebd., 206. 32 Ebd., 210; vgl. auch den Aufsatz von Glenn W. Most, worin er die eigentliche Entdeckung der Archaik im 19. Jahrhundert und die zunehmend positive Rezeption, der, von Winckelmann lediglich als Vorstufe zur klassischen Periode

effect of keeping the head in profile with the chest ‚en face‘ which is characteristic of archaic Greek art.30 Palmer-Sikelianos kannte Duncans Aufführungen, war jedoch selbst an einer detailgetreueren Erforschung der Kultur des antiken Griechenlands interessiert; sie strebte gewissermaßen eine Überarbeitung von Duncans Methoden an.31 Auch wenn beide Frauen sich gegen das Ballett und seine „Steifheit“, wie Palmer-Sikelianos es nannte, wendeten, unterschied sich ihre Interpretation des antiken Tanzes. Wie das Zitat zeigt, entwickelte Palmer-Sikelianos über die Interpretation der Bildnisse der archaischen Periode einen anderen Eindruck vom antiken griechischen Tanz, als Duncan es tat, die mehr an der hellenistischen Periode der Antike interessiert war. 32 Palmer-Sikelianos bevorzugte demzufolge Bewegungen die „eckig“ waren, wobei der Kopf im Profil zu sehen ist und die Brust frontal. Palmer-Sikelianos’ Überzeugung steht demnach in einem formalen Gegensatz zu Duncan. Weitaus mehr als Duncans Reinterpretation des antiken Tanzes schien sie den Tanz ihres Bruders

M a u r i c e - L o u i s B r a n g e r : S c h u l e v o n R a y m o n d D u n c a n i n M o n t f e r m e i l , 1913 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , P a r i s i e n n e d e p h o t o g r a p h i e c o l l e c t i o n s R o g e r-V i o l l e t , i n : A n n e M a r t i n - F u g i e r u . J u l i e t t e L a f f o n ( H g . ) : I s a d o r a D u n c a n . 18 77–19 2 7. U n e s c u l p t u r e v i v a n t e , A u s s t . - K a t . M u s é e B o u r d e l l e , P a r i s : P a r i s - M u s é e s 2 0 0 9 , 2 61.

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„ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

abgetanen Werke, im 20.  Jahrhundert beschreibt: Most, Glenn W. „Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg“, in: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20.  Jahr­ hundert, hg. v. Bernd Seidensticker u. Martin Vöhler: Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, 20–39.

Raymond Duncan zu schätzen: „But Raymond saw the applicability

33 Anton: Upward Panic, 183.

Stil, sind in einer Reihe nebeneinander positioniert und krümmen

34 Ebd., 224; Leontis: „Griechische Tragödie und moderner Tanz“, 211–214.

Winkeln – Kennzeichen, die die abgelichteten Tänzer wie Figuren

35 Morris, Christine: „Lord of the Dance. Ted Shawn’s Gnossiene and its Minoan Context“, in: Cretomania. Modern desires for the Minoan past, hg. v. Nicoletta Momigliano u. Alexandre Farnoux: London/New York: Routledge 2017, 111–123. 36 Erinnert sei hier auch an den russischen Theaterregisseur Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold, der die Vermittlung von Körpertech­ niken für Schauspieler von zeitgenössischen Tanz- und Gymnastiklehren (Dalcroze) abschaute. Seine Vision des modernen Schauspielers war vom Nachleben der Antike beeinflusst und er sah die Bühnenchoreografie als ein Erschaffen von plastischen Formen im Raum an. In einer bildlichen Art und Weise formte er die Körper der Schauspieler als wären sie „flach“ und „eingefroren“ sowie Teil eines Reliefs. Darüber hinaus mussten sie Übungen in geometrischen Formen absolvieren und wurden im geometrischen Zeichnen geschult. Vgl. Bochow, Jörg: Das Theater Meyerholds und die Biome­ chanik, Berlin: Alexander 2010, 16–36. 37 Vgl. zur „Flächigkeit“ im Tanz des russischen Balletts Brandstetter, Gabriele: „Die Inszenierung der Fläche. Ornament und Relief im Theaterkonzept der Ballets Russes“, in: Spiegelungen. Die Ballets

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in the theatre of these ancient Greek poses, which he had himself been copying in the Louvre; and later, when he formed classes of his own, he taught angular movements copied from archaic vases.“33 Eine solche Adaption altgriechischer Formen demonstriert eine Fotografie, die eine Schülergruppe von Raymond Duncan unter freiem Himmel zeigt: Die Tänzer tragen Gewänder in antikem ihre Gliedmaßen im Moment der Aufnahme in nahezu rechten eines antiken Reliefs erscheinen lassen.

Abb. 4



Auch die Posen des amerikanischen Tänzers Ted Shawn beschrieb Palmer-Sikelianos als „marked by Archaism“ und „angular“, mit „head and feet in profile, whilst the chest or back is presented in full width“. 34 So inszenierte sich Shawn beispielsweise in einer Fotografie, in welcher er ein Kostüm trug, das für das Stück Gnossiene (erstmals aufgeführt 1917) kreiert wurde.

Abb. 5 ► Die Vorbilder dafür hatte Christine Morris bereits in den Spiralmustern der minoischen Kunst erkannt.35 Und auch der Titel scheint an die minoische Stadt „Knossos“ zu erinnern. Um einen besonders stilisierten Eindruck der Zweidimensionalität zu vermitteln, nimmt Shawn in dieser Aufnahme eine extravagante Pose ein, die, länger durchgehalten, einen enormen Kraftaufwand bedeutet haben muss: Er steht auf den Zehenspitzen und hat die Beine zur Seite und den Oberkörper frontal zum Betrachter gedreht, etwa wie PalmerSikelianos es beschrieben hat. Die Arme treffen sich über dem Kopf, ihre Unterflächen zeigen in Richtung Betrachter. In einer regelrechten „Manie der Fläche“ treibt er die Rezeption des antiken Tanzes kunstvoll auf die Spitze.36 Wie den Berichten und Fotografien entnommen werden kann, führte die Antikenrezeption von Palmer-Sikelianos, von Shawn und Raymond Duncans Tänzern zu Posen, in denen die Glieder eckig angewinkelt und eine Flachheit des Körpers simuliert wurde, was nur auf den Einfluss von Bildern zurückzuführen Anja Pawel

Russes und die Künste, hg. v. Claudia Jeschke; Ursel Berger u. Birgit Zeidler, Berlin: Vorwerk 1997, 147–163; Schmidt, Melanie: „Tanz in zwei Dimensionen. Das Konzept des performativen Körpertableaus in Nijinskys L’Après-Midi D’un Faune“, in: Avant­ garde – Medien – Performa­ tivität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahr­ hunderts, hg. v. Marijana c; Gregor Schuhen u. Ersti´ Tanja Schwan, Bielefeld: transcript 2005, 141–164. 38 Thomas Munro differenzierte bereits zwischen Duncans Stil der „getanzten Antike“ und Nijinskys Faun. Ihm zufolge war der Faun inspiriert von Vasen und Reliefs aus dem 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr., während Duncan mehr an der hellenistischen Skulptur orientiert war. In: ders.: „‚The Afternoon of a Faun‘ and the Interrelation of the Arts“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 10/2 (1951), 109. 39 Vgl. Momigliano, Nicolette: „Modern Dance and the Seduction of Minoan Crete“, in: Seduction and Power. Antiquity in the Visual and Performing Arts, hg. v. Silke Knippschild u. Marta García Morcillo, London u. a.: Bloomsbury 2013, 4–55. 40 Vgl. Bellow, Juliet: Modernism on Stage. The Ballets Russes and the Parisian Avant-Garde, Farnham: Ashgate 2013, 14. Obwohl er in der klassischen Tanztechnik trainiert war, kam Nijinsky als Faun dem Ausdrucks­ tanz schon sehr nah. Vgl. Oberzaucher-Schüller, Gunhild: „Die Ballets Russes und Mitteleuropa“, in: Schwäne und Feuer­ vögel. Die Ballets Russes 1909–1929. Russische Bildwelten in Bewegung, hg. v. Claudia Jeschke u. Nicole Haitzinger, Leipzig: Henschel 2009, 130.

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A l b e r t W i t z e l : Te d S h a w n i n „ G n o s s i e n n e“ , 1919 , S i l b e r g e l a t i n e a b z u g , 21 x 15  c m , D e n i s h a w n C o l l e c t i o n , J e r o m e R o b b i n s D a n c e D i v i s i o n , T h e N e w Yo r k P u b l i c L i b r a r y.

ist:37 Diese Interpretation des antiken griechischen Tanzes erscheint beinahe naiv, weil die mediale Beschaffenheit der Bilder selbst, ihre Fragmentarität und Zweidimensionalität von den Tänzern offenbar unreflektiert in ihre Auffassung von antikem Tanz übertragen wurde. Das berühmteste Beispiel dieses „Flächenprinzips“ jedoch war Nijinsky’s Choreografie des Nachmittag eines Fauns (1912), 38 ein Stück dessen Kostüme ebenfalls von der minoischen Kunst 39 inspiriert waren und das weit von den Konventionen des klassischen Balletts entfernt war.40 Da zu der Choreografie zahlreiche Untersuchungen vorliegen, seien im Folgenden nur einige Details erwähnt:41 Während des elf-minütigen Stückes vermittelten die Tänzer dem Betrachter den Eindruck eines zwei-dimensionalen „ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

41 Das Ballett wurde von Ann Hutchinson Guest und Claudia Jeschke auf Basis von Nijinsky’s Notation rekonstruiert: dies.: Nijinsky‘s Faune restored. A Study of Vaslav Nijinsky’s 1915 Dance Score L’aprèsmidi d’un Faune and his Dance Notation System, Binstead, Hampshire: The Noverre Press 2010. 42 Buckle, Richard (Hg.): Dancing for Diaghilev. The Memoirs of Lydia Sokolova, San Francisco, CA: Mercury House 1960, 40–41. Vgl. Järvinen, Hanna: „Dancing without Space – On Nijinskys L’Après-midi d’un Faune“ (1912), in: Dance Research 27/1 (2009), 41. 43 „They did not like the choreography at all. They felt they were restricted and would often complain, saying such things as ‚What kind of ballet is this?…There is not a single dancing pas – not a single free movement – not a single solo – no dances at all. … We feel as though we are carved out of stone.‘“ Zitiert aus Nijinska, Bronislava: Early Memoirs, transl. and ed. by Irina Nijinska and Jean Rawlison. With an Introduction by and in Consultation with Anna Kisselgoff, Durham and London: Duke University Press 1992, 428. Vgl. dazu auch die Äußerung von Ida Rubinstein: „Everything was topsy-turvy. If the head and feet were turned towards the right, then the body was turned towards the left. Nijinsky wanted the impossible. If I had submitted to his direction I would have dislocated every joint in my body and would have been transformed into a maimed marionette!“, ebd., 406. 44 Nectoux, Jean-Michel: Nachmittag eines Fauns. Dokumentation einer legendären Choreographie, München: Schirmer-Mosel 1989, 20; ders.: „Isadora et Nijinski. Danser l’antique“, in: Imago Musicae. International Yearbook of Musical Icono­ graphy 25 (2012), 187–200.

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Bühnenraums. Sie präsentierten sich, Kopf und Bein im Profil ausgerichtet, während ihre Oberkörper frontal zum Publikum gerichtet waren. Die Tänzerin Lydia Sokolova berichtete: In order to preserve the patterns of the frieze, you had to keep your hands and arms flat in profile: to do this it was necessary to relax the hand and arm, for if you forced or tightened the gesture, the wrist fell back and the straight line from elbow to fingers was lost.42 Den Aussagen einiger seiner Tänzerinnen zufolge meißelte Nijinsky ihre Körper regelrecht in Form, wobei man unwillkürlich an das Vorbild der antiken Bildhauer denken muss. 43 Vermutlich hatten ihm allerdings Vasenmalereien aus dem Louvre als Vorbild gedient.44 Émile Jaques-Dalcroze, der Begründer der rhythmischen Gymnastik, kritisierte, dass die Choreografie des Stücks durchgehend von den statischen Posen und nicht von der Dynamik der Tanzbewegung selbst bestimmt wurde.45 Ähnlich wie Levinson und Bie kam er zu dem Schluss: Notwendig und innerlich berechtigt ist es, wenn die bildenden Künste, denen das zeitliche Nacheinander nicht zu Gebote steht, zum Ausdruck einer Synthese eine Körperstellung festhalten. Unwahr und unnatürlich wirkt es jedoch, wenn der Tänzer diese Synthese zum Ausgangspunkt seines Tanzes macht und die Bewegung dadurch vorzutäuschen sucht, daß er eine ganze Reihe solcher Haltungen, durch Gebärden verbunden, aufeinander folgen läßt, anstatt zum Urquell des plastischen Ausdrucks, zur Bewegung selber, zurückzukehren.46 Nur in Duncans Tanz bemerkte Dalcroze, im Gegensatz zu anderen, den Versuch, antike Posen dynamisch miteinander zu verbinden, weshalb er ihn als eine lebendige und überzeugende Performance hervorhob. Dieses Lob könnte Duncans bereits erwähntem, rhythmisch-dynamischem Linienschema zu verdanken sein.47 Obwohl der Ursprung des „Faun“ von Nijinsky in antiken Schemata zu finden war, empfanden viele Rezipienten das Stück als seiner Zeit voraus. So bezeichnete ein Kritiker den darin vorherrschenden Stil als kubistisch – schließlich war er geprägt durch gerade Linien, Ecken, einer flachen Erscheinung der Körper und, Anja Pawel

45 Jaques-Dalcroze, Émile: Rhythmus, Musik und Erziehung, übers. von Julius Schwabe, Göttingen/ Wolfenbüttel: Kallmeyer 1977 (unveränd., reprograph. Nachdr. d. Ausg. Basel 1921), 174: „Ich meine in ihrem Gliederspiel war stets die Haltung Ausgangspunkt und niemals die Bewegung selber.“ 46 Ebd., 175.

wie Dalcroze es schon beschrieben hatte, ein Fehlen an Bewegung.48 Inspiriert von der Antike und als „modern“ interpretiert, wurde die Performance zum ersten kubistischen Tanz.49 Palmer-Sikelianos’ Beschreibung des „eckigen Stils“ der schon eine Verbindung mit der archaischen Periode bezeichnete, findet sich darin wieder. Der antike Tanz wurde also mit Hilfe eines Vokabulars interpretiert, das aus dem Umgang mit der zeitgenössischen Kunst hervorgegangen war. Zum nächsten Stück, welches von Nijinsky choreografiert wurde, Jeux (1913), bemerkte ein Kritiker ironisch bezüglich der

47 Ebd., 174, Fn. 1.

Formung der Tänzer durch Nijinsky: „[He was] showing us his

48 Tenroc, Charles: „Nijinski va faire dans l’Après-Midi d’un Faune des essais de choréographie cubiste“, in: Comœdia, 18. April 1912; Vgl. Caddy, Davinia: The Ballets Russes and Beyond: Music and Dance in Belle-Époque Paris, Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2012, 98.

pictorial erudition by twisting the fragile limbs of [the dancers]

49 Hanna Järvinen hatte den Faun mit dem Kubismus bereits ansatzweise in Verbindung gebracht, in: dies., „Dancing without Space“, 28–64. 50 Vuillermoz, Émile: „La Saison Russe au Théâtre des ChampsElysées“, 15. Juni, in: La Mercure Musical 9 (1913), Paris, 53; Vgl. Hodson, Millicent: „Three Graces and Disgraces of Jeux“, in dies. (Hg.): Nijinsky’s Bloomsbury Ballet. Recon­ struction of Dance and Design for Jeux, Hillsdale, NY: Pendragon 2008, 12. 51 Morning Post, 26. June 1913; Vgl. Hodson: „Jeux“, 209. 52 „Nijinsky Shocks Paris with Tennis Dance“, New York Tribune, 17.5.1913; Vgl. Hodson: „Jeux“, 215. 53 Scholl, Tim: From Petipa to Balanchine. Classical Revival and the Modernization of Ballet, London: Routledge 1994, 52. 54 Caddy: Ballets Russes and Beyond, 101.

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Karsavina and Ludmilla Schollar in the name of Matisse, Metzinger and Picasso.“50 Zeitgenössische Künstler wurden also für den f lachen, eckigen Stil als Inspirationsquelle ausgemacht, den Nijinsky in seiner Wertschätzung ihrer Werke übernahm und anschließend in Tanz umsetzte. Bei Jeux, so schrieb die Morning Post, war „[...] everything (…) at an angle. [...] (It) is conceived in the vein of the Cubists. It is a triumph of angularity[...]“51. Und der New York Tribune verkündete: das russische Ballett „[...] is to choreographic art what cubism is to painting“52. Bewegungssequenzen und Positionierungen von Körpern im Raum, die der neue Tanz bevorzugte, wurden mit dem Kubismus gleichgesetzt. Duncans Tanz verstanden jedoch einige Rezipienten weiterhin als reine Rekonstruktion des antiken Tanzes, auch wenn sie alles versuchte, um ihre Kunst als eine moderne Neuschöpfung (aus dem Geist er Antike) zu vermarkten.53 Nijinsky und seine Tänzer hingegen wurden mit den modernsten Kunstbewegungen verglichen.54 Mithilfe verschiedenster Bildquellen versuchten Tänzer ihre jeweils individuelle Choreografie der Antike zu (re-)konstruieren, deren Eigenschaften meist von denen des jeweiligen Bildmediums, dass sie zum Vorbild hatten beeinflusst war. Als eine Kunstform, die noch nicht hinreichend etabliert war, half dem modernen Tanz sowie seinen Kritikern zunächst eine Verbindung zur bildenden Kunst, um verstanden, eingeordnet und akzeptiert zu werden. Geometrische Formen, Flachheit, Kuben und Ecken waren zentrale Kompositionselemente der zeitgenössischen abstrakten Kunst. Die Zusammensetzung der Fragmente von antiken Bildgesten wurde in ihrer getanzten, pluralen Konstellation zur Avantgarde. „ M a l e r i s c h e S t e l l u n g e n d u r c h l e b h a f t e B e w e g u n g v e r b i n d e n “. A n t i k e n r e z e p t i o n a l s p l u r a l e B i l d k o n s t e l l a t i o n z w i s c h e n K u n s t u n d Ta n z

The Source Code. Künstlerische Forschung als Übersetzung von Tanzgeschichte in digitale Bildwelten Gabriele Klein / Franz Anton Cramer

Die digitale Dokumentationsplattform „The

1 The Source Code war 2011, als Roller das Projekt startete, auch der Titel eines amerikanischen Thrillers (Regie: Duncan Jones; Verleih: Summit Entertainment), http://www. enterthesourcecode.com/ (zuletzt geprüft 31.08.2021).

Einleitung

2 Tanzfonds Erbe war ein Förderprogramm der Kulturstiftung des Bundes, das zwischen 2011 und 2019 circa 4,3 Millionen Euro für Projekte zur Verfügung stellte, „die exemplarisch für einen künstlerischen Umgang mit dem Kulturerbe Tanz stehen. […] Der Art der Annäherung waren dabei keine Grenzen gesetzt: TANZFONDS ERBE förderte neben Tanzproduktionen, Rekonstruktionen und Neuinterpretationen auch Lecture Performances, Ausstellungen, Installa­ tionen, Film- oder OnlineProjekte.“ Vgl. Odenthal, Johannes; Akademie der Künste, Berlin; diehl+ritter (Hg.): Das Jahrhundert des Tanzes. Ein Reader, Berlin: Alexander 2019: 316.

Jochen Roller initiiert und realisiert hat. Bodenwieser, die mit

3 https://tanzfonds.de/ projekt/dokumentation2012/the-source-code/ (zuletzt geprüft 05.07.2021).

Source Code“, online seit 2014 unter „www.the sourcecode.de“, ist das Ergebnis eines dreijährigen Forschungsprojekts zu Person und Werk der österreichischen Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Gertrud Bodenwieser (1890–1959), das der Berliner Choreograf bürgerlichen Namen Bondi hieß, entstammte einer wohlhabenden jüdischen Wiener Familie. Nach der Eingliederung Österreichs in das nationalsozialistische „Deutsche Reich“, dem sogenannten „Anschluss“, emigrierte sie 1938 und wurde nach Exilaufenthalten in Mittelamerika und Neuseeland schließlich in Sydney sesshaft. Die Ausdruckstänzerin Bodenwieser, die von den amerikanischen Tanzikonen Isadora Duncan und Ruth St. Denis inspiriert war, hatte bereits seit 1919 große internationale Erfolge gefeiert. Bis zu ihrer Emigration 1938 war sie als Professorin für Tanz an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien tätig gewesen. Bodenwieser gilt als Begründerin des Modernen Tanzes in Australien. Ihre letzte Choreografie, das Gruppenstück Errand into the Maze, wurde hier 1954 uraufgeführt. Diese Choreografie war der Ausgangspunkt für Jochen Roller, das künstlerische Forschungsprojekt zu konzipieren, dem er den Titel „The Source Code“ (sprichwörtlich: Quellcode) gab.1 Das Projekt wurde gefördert vom Tanzfonds Erbe2 und fand in den Jahren 2011 bis 2014 statt. Auf der Dokumentationswebseite des Tanzfonds Erbe heißt es dazu: Anlässlich einer Re-Creation ihres [Bodenwiesers] letzten Tanzdramas ‚Errand into the Maze‘ (1954) entstand auf der Webseite www.thesourcecode.de eine strukturierende Oberfläche, die auf die Materialien verweist, die für die Rekonstruktion in Sydney im Januar 2013 herangezogen wurden. Die Projektdokumentation […] zeigt die erste Phase von ‚The Source Code‘: die Re-Creation von ‚Errand into the Maze‘ in Australien, an der neben Roller vier Tänzer, die Videokünstlerin Andrea Keiz und die Journalistin Elisabeth Nehring beteiligt waren. Das rekonstruierte choreografische Werk wurde bewusst nicht zur Aufführung gebracht. Stattdessen wurden die einzelnen Recherche- und Probenschritte umfassend filmisch dokumentiert.3

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The Source Code. Künstlerische Forschung als Ü b e r s e t z u n g v o n Ta n z g e s c h i c h t e i n d i g i t a l e B i l d w e l t e n

4 Dazu zählen die Webseiten www.thesource code.de, www.jochenroller. de/the-source-code/, https://tanzfonds.de/ projekt/dokumentation2012/the-source-code/ sowie die Aufzeichnung der Gesprächsrunde „Archivarische & Historio­ grafische Praktiken“ zwischen Helene Herold, Andrea Keiz, Katja Schneider, Frank-Manuel Peter, Patrick Primavesi u. Isa Wortelkamp, am 30.01.2021 im Rahmen der Videokonferenz „Tanz in Bildern. Plurale Konstellationen der Fotografie“, Institut für Theaterwissen­ schaft der Universität Leipzig, 28. bis 30.01.2021, unter https://vimeo.com/ 506800074/775d7574b7 (1:35:06) (zuletzt geprüft 02.03.2022). 5 Interview 1: 27.06.2020, 1:08:47 (im Folgenden: I1); Interview 2: 12.05.2021, 01:09:36 (im Folgenden I2). Wir danken Jochen Roller für die Unterstützung unserer Untersuchung.

Der vorliegende Aufsatz fragt am Beispiel dieses Projektes nach den Praktiken der künstlerischen Forschung bei der Re-Aktuali­ sierung von Tanzgeschichte. Wir diskutieren, welche Relevanz Medien der Übersetzung (Bild, Schrift, Oralität) für die Generierung von historischem Wissen mit den Mitteln der künstlerischen Forschung haben und wie in der Durchführung des Projektes und der Darstellung der Forschungsergebnisse eine Gegenwartsrelevanz her- und dargestellt wird. Wir zeigen, welcher Stellenwert Fotografien im künstlerischen Aneignungsprozess sowie in der medialen Aufbereitung der Projektergebnisse zugesprochen wird. Die Fotografien bestehen aus drei verschiedenen Materialgruppen: gestellte Tanzfotografien, dokumentarische Bildaufnahmen aus dem Arbeitsprozess und historische Schnappschüsse. Zwischen ihnen wurde hinsichtlich ihres Aussagewertes, ihrer Bildqualität oder ihrer Ästhetik im Projekt kein Unterschied gemacht. Letzteres ist von besonderer Relevanz, weil Roller und sein Team sich gegen eine Re-Creation des Stückes entschieden hatten zugunsten einer „Recreation“, wie sie es nannten. Deren Ergebnisse wurden auch nicht als Bühnenaufführung, sondern auf einer digitalen Plattform, in Form einer Webseite, also in einer medialen Übersetzung präsentiert. Allein diese ästhetischen Entscheidungen bedingen, dass die historischen Fotografien sowie die im Forschungsprozess erstellten dokumentarischen Fotografien wesentliche Medien der digitalen Bilderwelt der erstellten Webseite sind. Unsere Untersuchung stützt sich empirisch auf die projekt­ relevanten Webseiten und fachspezifischen Diskussionen4 sowie auf zwei jeweils ca. einstündige Interviews, die wir gemeinsam mit Roller geführt haben.5 1. Das

In Rahmen des Förderungsinstrumentes „Tanz-

Material-

fonds Erbe“ ein Projekt über Gertrud Bodenwieser

korpus

durchzuführen, lag für Roller inhaltlich wie vor allem auch geografisch nahe: Durch seinen dama-

ligen Wohnort Sydney ergab sich die Möglichkeit, Archivmaterial von Bodenwieser zu sichten sowie ihre ehemaligen Weggefährt:innen direkt zu kontaktieren und persönlich zu treffen. Denn wie viele Ausdruckstänzerinnen gründete Bodenwieser nicht nur eine Tanzgruppe, die „Bodenwieser-Tanzgruppe“, und schuf choreografische Werke. Sie unterrichtete auch und organisierte Tanzabende. Generationen von Schüler:innen, Mitgliedern ihrer Tanzgruppe und

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6 Dieses Konzept von Archiv, das weniger dessen dokumentarischen Wert als vielmehr den stets neu konfigurierten Prozess der Nutzung, Aneignung und Veränderung in den Blick nimmt, wird nicht nur in den Darstellenden Künsten, sondern z. B. auch im Filmdiskurs diskutiert; vgl. hier etwa die Veranstaltungsreihen „Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart“, 2011–2013 sowie „Archive außer sich“, 2017–2020, beide Arsenal – Institut für Film und Videokunst e. V., Berlin. Vgl. auch Schneider, Wolfgang; Fülle, Henning u. Henniger, Christine (Hg.): Performing the Archive. Studie zur Entwicklung eines Archivs des Freien Theaters, Hildesheim: Olms 2018. 7 Im Interview vom Juni 2020 formuliert Roller: „Wenn ich jetzt die vier Performerinnen von meinem letzten Stück hier hinsetze, dann ist das Stück und was wir in dem Stückprozess erfahren haben, dann kommt das wieder hoch. […] Das ist halt unfassbar, wie gut das funktioniert.“ (Roller I1, 0:19:20). Und an anderer Stelle: „Also das ganze Embodied Knowledge existiert ja weiter durch die Zuschauer, die es gesehen haben, durch die Performer, die mitgemacht haben.“ (Roller I1, 0:42:08). Vgl. hierzu auch Wehren, Julia: Körper als Archiv in Bewegung. Choreografie als historiografische Praxis, Bielefeld: transcript 2016, 111–122 u. 161–167 sowie Hahn, Daniela: „‚Our method is transmission‘: the body as document in Christina Ciupke’s and Anna Till’s performance Undo, Redo and Repeat (2014)“, in: Performing Arts in Transition. Moving between media, hg. v. Susanne Foellmer, Maria Katharina Schmidt u. Cornelia Schmitz, Oxford: Routledge 2019, 182–194.

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andere Weggefährt:innen haben Material zu Bodenwiesers Leben und Wirken gesammelt und aufbewahrt. Von der ersten Konzeptidee an war das Projekt somit darauf angelegt, den Prozess der Annäherung an und der Begegnung mit einem klar umrissenen historischen Gegenstand anhand umfangreicher und heterogener Archivbestände sowie persönlicher Begegnungen mit Zeitzeug:innen mit ihrem, wie Roller sagt, „embodied knowledge“, oder, wie es im zeitgenössischen Archivdiskurs heißt, den ‚lebendigen Archiven‘ 6, zu gestalten.7 Beteiligt an dem Tanzerbe-Projekt waren neben Roller als Initiator und Verantwortlicher die Videokünstlerin und Dokumentarfilmerin Andrea Keiz, die die Bilddokumentation übernahm, und die Berliner Tanzjournalistin Elisabeth Nehring, die für Recherchearbeiten zuständig war. Zudem konnte Roller mit Nadia Cusimano, Matthew Day, Latai Taumoepeau und Lizzie Thomson vier zeitgenössische Tänzer:innen/Choreograf:innen für das Projekt gewinnen, die entweder aus Australien stammen oder während des Projektzeitraums dort lebten. Das vielgestaltige Archivmaterial, das im Rahmen von „The Source Code“ gesichtet und ausgewertet werden konnte, speiste sich aus verschiedenen Materialien, die sich in vier Bestandsgruppen einordnen lassen: 1.

Archivalien, die als eigene Bestandsgruppe im australischen Nationalarchiv in Canberra unter der Signatur A1336 verwahrt und verzeichnet sind. Dieser Bestand wurde ursprünglich von Marie Cuckson, einer Bodenwieser-Schülerin,

zusammengetragen und 1998 an das Archiv übergeben mit dem Ziel, eine möglichst umfassende Dokumentation von Bodenwiesers Wirken in Aus­­tralien bereitzustellen. Diese Materialien sind dort vollständig verzeichnet und zum Teil auch digital abrufbar.8 Sie werden ergänzt um Verwaltungsdokumente am Standort Sydney, welche insbesondere Bodenwiesers Immigration und aufenthaltsrechtliche Unterlagen betreffen. 2.

„The Source Code“ griff zurück auf private Sammlungen, die bei einzelnen Weggefährt:innen lagern. Diese Sammlungen, bestehend aus Audiokassetten, Fotografien, Briefen, Objekten wie Tanzschuhen oder Kostümen, Druckschriften usf., sind

geprägt von den subjektiven Interessen der Sammler:innen und geben indirekt Auskunft über deren emotionale Bindungen zu Bodenwieser. The Source Code. Künstlerische Forschung als Ü b e r s e t z u n g v o n Ta n z g e s c h i c h t e i n d i g i t a l e B i l d w e l t e n

8 Vgl. https://www.naa. gov.au/ (zuletzt geprüft 05.01.2022). 9

Roller, I2, 0:34:26.

10 Roller, I2, 0:34:50. 11 „Und dann hab ich mich mit ihr halt ziemlich häufig zum Tee getroffen und hab ihr halt das Ganze erzählt und das waren schon bestimmt so drei, vier Treffen. Und erst nach dem vierten Treffen hat sie gesagt, ich finde das super, ich unterstütze das (Roller, IV2, 0:24:07–0:24:18). Und an anderer Stelle: „wenn Du beim Tee auf dem Sofa sitzt, dann läuft es ja eher alles so in Ellipsen, dass es immer wieder mehr oder weniger so im Kreis geht, und es kommt immer noch eine Erfahrung und noch eine Erfahrung. Wenn Du dann Bilder dazu nimmst, wird die Erzählung ein bisschen konkreter.“ (Roller, IV2, 0:28:04–0:28:17)

Diese Bestände lagern weitgehend ungeordnet in unterschiedlichen Behältnissen wie Koffern, Kisten oder Pappschachteln. Sie wurden mehrfach medial übersetzt: zunächst analog fotografiert, um dann in das digitale Format der Webseite überführt zu werden. Hier fungieren sie als visuelle Rahmung für die ästhetische Gestaltung und taxonomische Ordnung der Webseite. Roller nennt eine solche Diversität der Materialien „queer im besten Sinne“9: Die Sammlungen folgten weder einer bestimmten medialen oder archivarischen Norm noch seien sie im Sinne einer systematischen Katalogisierung „aufgeräumt und glattgebügelt“10. Dieses Material aufspüren, einsehen und auswerten zu können, ist ein langwieriger, aufwändiger, Einfühlsamkeit und Geduld erfordernder Vorgang, wie Roller im Interview bestätigt.11 Gleichzeitig entwickeln sich über die gemeinsame Sichtung des dokumentarischen Materials persönliche Beziehungen zwischen dem Projektteam und den sammelnden Personen; durch gemeinsame Gespräche wird neues Quellenmaterial in Form von Zeitzeug:innengesprächen generiert. Hier wird der zirkuläre Prozess sichtbar, der Archivdokumente und besonders auch Fotografien auszeichnet, indem die Befragung von Bildern zu neuen Antworten, Einschätzungen und damit wieder zu neuem Wissen führt, wobei das Projektteam die spezifische historische Erzählung von Bodenwiesers Wegbegleiter:innen gegenwartsbezogen übersetzt.

Abb. 1 ▼

A n d r e a K e i z , A r c h i v m a t e r i a l b e i B a r b a r a C u c k s o n , D i g i t a l f o t o , 2 013 .

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12 Das Dokument ist nachgewiesen im National Film and Sound Archive of Australia mit drei Kopien (Katalognummer 5249-3, Signatur AVC011595). Allerdings zeigt der Film keine vollständige Aufzeichnung, sondern nur ein Fragment: „General note: Errand into the Maze is not a complete version of the work. The film cuts out before the end.“ http://colsearch.nfsa. gov.au/nfsa/search/display/ display.w3p;page=0;query=errand%20into%20 the%20maze;rec=0;resCount=10 (zuletzt geprüft 05.01.2022). 13 http://www.the sourcecode.de/the-nonreconstruction.html (zuletzt geprüft 05.01.2022). 14 Vgl. den Eintrag „The Living Art of Dance. Dance by Gertrud Bodenwieser 1920-1939. National Film and Sound Archive of Australia, Katalognummer 49191, Signatur AVC011886“, http://colsearch.nfsa.gov. au/nfsa/search/display/ display.w3p;page=0; query=sunset%20 bodenwieser;rec=0; resCount=10 (zuletzt geprüft 05.01.2022). 15 http://www.the sourcecode.de/boden wieser-embodied.html# moira-claux (zuletzt geprüft 05.01.2022). 16 „Sunset“ unter dem Kapitel „Constantly Moving“ (http://www.the sourcecode.de/constantlymoving.html#sunsetreconstruction), Moira Claux‘ Solo unter dem Kapitel „Bodenwieser Embodied“ (http:// www.thesourcecode.de/ bodenwieser-embodied. html#moira-claux). 17 Roller, I2, 0:46:40.

3.

Filmdokumente. Zwar wurden zu Lebzeiten Bodenwiesers keine Bewegtbilder aufgenommen. Von den wenigen Aufzeichnungen nach ihrem Tod ist aber die Aufzeichnung der Choreografie Errand into the Maze am bekanntesten, die der

Australische Fernsehsender ABC TV 1960 angefertigt hatte. Das Filmdokument ist jedoch unvollständig.12 Zudem zeigt es nicht die Fassung der Uraufführung und verwendet insbesondere ein neues Bühnenbild. Das Design von Max Feuerring für die Premierenfassung 1954 ist zwar auf Szenenfotos zu sehen. In der Filmfassung von 1960 kommt jedoch ein anderes Bühnenbild zum Einsatz. Zudem wurden 1960 Tänzerinnen aus dem australischen Nationalballett engagiert, die mit der Bodenwieser-Technik keinerlei Erfahrung hatten. Allein schon, weil es dieses unvollständige und in Bezug auf das Bühnenstück veränderte Filmmaterial zu Errand into the Maze gab, schien Roller und seinem Team eine Rekonstruktion unangemessen. Ganz im Gegenteil: das Projekt sollte auf eine „NonReconstruction“ hinauslaufen.13 Eine weitere Filmaufzeichnung liegt von 1969 vor. Es handelt sich um die Aufnahme einer Rekonstruktion von Bodenwiesers noch in Wien entstandenem Stück Sunset, einstudiert und gefilmt von Barbara Cuckson,14 sowie einen knapp sechsminütigen „Bodenwieser-inspired“ (so die vage Formulierung auf „The Source Code“15) Solotanz des ehemaligen Mitglieds der Bodenwieser-Company Moira Claux aus dem Jahr 1995. Die beiden letztgenannten Filmdokumente sind auf der Projektwebseite einsehbar.16 4.

Bild- und Audiodokumente, die das Projektteam selbst generiert hat. Dies geschah über den Austausch mit Zeitzeug:innen, Tänzer:innen und anderen Beteiligten – im Sinne von „oral history“ als mündliche Überlieferung

oder als körperliche Weitergabe von Tanzbewegungen, Formen, Figuren und Techniken. Als entscheidend für die künstlerische Forschungsarbeit und schließlich das Ergebnis entpuppte sich diese Arbeit mit den Zeitzeug:innen in Australien und Neuseeland, der „Bodenwieser-Familie“17, wie Roller sie nennt. Es waren, so führt er aus, insbesondere die Einblicke in deren Wissensbestände und Erfahrungshintergründe, die „The Source Code“ zu einem dynamischen, teils ergebnisoffenen und stets medial diversifizierten Prozess der Archivierung, Verkörperung und Neukonfiguration

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von Quellen und Datenmaterial machten. Vor allem aber trug „The Source Code“ dadurch auch einem wichtigen Qualitätskriterium sozialwissenschaftlicher, ethnografischer Forschung Rechnung: der gleichwertigen Beteiligung von Zeitzeug:innen als Subjekte eines Forschungsprozesses. Das aus diesen vier Bestandsgruppen von dem Projektteam gesammelte Material bezieht sich auf die Person Bodenwieser und ihre Lebensgeschichte, also etwa ihre Immigration, ihren Aufenthalt in Australien, ihre dortigen Wohn-, Arbeits- und Lebensverhältnisse. Umfangreicher und auf der Webseite zugänglich gemacht ist aber das Material zu Bodenwiesers künstlerischem Schaffen. Dieses Materialkorpus umfasst Schriften, Programmhefte, Veranstaltungshinweise, Rezensionen, Prospekte, Zeitungsartikel und verschriftete Erinnerungsprotokolle von Wegbegleiter:innen und Schüler:innen aus dem Bestand im australischen Nationalarchiv. Hinzu kommen eine Vielzahl an Fotografien, auf denen Bodenwieser, ihre Choreografien sowie Proben- und Unterrichtssituationen abgelichtet sind. Um dieses Material zu sichten und zu rahmen, fanden z. T. über Monate Treffen des Projektteams mit den Zeitzeug:innen statt.

Abb. 2 ▼

A n d r e a K e i z , A r c h i v m a t e r i a l v o n E m m y Ta u s s i g , D i g i t a l f o t o , 2 013 .

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18 http://www.the sourcecode.de/index.html (zuletzt geprüft 05.01.2022).

2. Praktiken künst­-

Im Vorwort auf der Einstiegsseite

lerischer Forschung

von www.thesourcecode.de erläu-

19 Roller, I2, 0:32:19.

historischem Material

20 Roller, I1, 0:02:27. 21 Roller, I1, 0:03:49. 22 Roller, I2, 0:18:52–0:19:30. Bronislaw Malinowski formalisierte in seiner Studie Argonauts of the Western Pacific (1922) die Methode der „teilneh­menden Beobachtung“. Malinowski, Bronislaw: Argonauten des westlichen Pazifik. Ein Bericht über Unterneh­ mungen und Abenteuer der Eingeborenen in den Inselwelten von MelanesischNeu­g uinea, Frankfurt/M.: Syndikat 1979.

im Umgang mit

tert Roller das Verfahren: „By interacting with former members of the

Bodenwieser Dance Group, I tried not only to get the dance steps right, but also wanted to understand the emotional, intellectual and political disposition of the choreographer at the time she created the dance piece.“18 Diese Treffen, die das Projektteam „quasi als oral history“19 bezeichnet, wurden vollständig video- und/oder audio­technisch aufgezeichnet. Audioaufnahmen, so weiß es die qualitative Medienund Sozialforschung, haben eine andere Qualität als Videoaufnahmen, sie sind diskreter, greifen weniger in die Gesprächssituation ein und erfordern einen geringeren technischen Aufwand. Gerade auch für die Nutzung auf der Webseite habe die Stimme als nichtvisuelles Medium einen besonderen Rang: „Deswegen haben wir dann eben manche Zeitzeuginnen nur als Audio präsent gehabt, weil es ja auf der Webseite schon nochmal eine andere Qualität hat, wenn Du nur ’ne Stimme hörst.“20 Und auch die Art der Erhebung wird vom Medium beeinflusst: „In dem Moment, wo wenn man das so macht, mit so einer professionellen Kamera, […] dann ist immer ganz klar, dass man in die Bilderproduktion geht. Und dann fangen die Leute halt an zu performen. Und das kann gut sein und für manche Zwecke eben nicht.“21 Die im Projekt generierten Audio- und Videoaufzeichnungen wurden von Keiz und Nehring auf einer Festplatte gespeichert und ein schriftliches Verzeichnis nach Datum und Namen der Gesprächspartner:innen und Inhalten der Gespräche angelegt. Der künstlerische Forschungsprozess bestand somit zunächst aus Sammeln, Generieren, Ordnen, Dokumentieren und Archivieren des Materialkorpus. Diese auch für wissenschaftliche Forschung charakteristischen Praktiken im Umgang mit Materialien haben es erlaubt, ein Narrativ aus der in diese verschiedenen Medialitäten und Materialitäten übersetzten Erfahrung zu entwickeln. Entscheidend für die Offenheit des Forschungsprozesses war hierbei die fortwährende, ausgiebige und konfrontative Auseinandersetzung mit den Zeitzeug:innen. Das dazu verwendete Verfahren war in Bezugnahme zu dem Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski (1884–1942) die „kinetic response“22, die das Projektteam als ein körper­ basiertes ethnografisches Verfahren nutzte, bei dem die im Projekt

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23 Roller, I2, 2021, 0:19:50–0:19:55.

mitwirkenden Tänzer:innen Sequenzen aus Bodenwiesers Werk

24 Roller, I2, 0:21:17–0:22:04.

stimulieren. „Unsere Idee war, wenn wir es ihnen falsch vormachen,

25 Vgl. zu diesem Zugang zur Geschichtlichkeit des Tanzes auch Huschka, Sabine: „Die Suche des Tanzes nach seiner Geschichte. Zum Umgang mit vergangenem Wissen“, in: Performance und Praxis. Praxeologische Erkun­ dungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag, hg. v. Gabriele Klein u. Hanna Katharina Göbel, Bielefeld: transcript 2017, 267–291. 26 „Das war das Prinzip, dass alles gefilmt wurde. Also, man sieht ja an den Ausschnitten eigentlich immer nur das Ende von einer Probe und dann die Reaktion der Zeitzeuginnen.“ Roller, IV2, 0:21:31–0:21:43.

tanzten, um Korrekturen und Hinweise durch Zeitzeug:innen zu zeigen sie uns, wie es richtig geht.“23 Dieser bewusst von der „originalen“ Bewegung abweichende körperliche Nachvollzug erschienen ihnen als der effektivste Weg, Formen der Verkörperung und damit die körperliche Materialisierung und Sichtbarmachung von historischen Quellen und subjektiven Erinnerungen bei den Zeitzeug:innen zu evozieren. Die Körper der Zeitgenoss:innen und das in ihnen gespeicherte Wissen erscheinen hier als Garant des Echten, Authentischen – des Richtigen.24 In diesem Vorgehen zeigt sich eine Besonderheit der künstlerischen Forschung im Tanz: Nicht nur im Unterschied zur wissenschaftlichen Forschung, die ihre Quellen genau prüft und den Umgang damit und deren Deutung intersubjektiv überprüfbar machen und offenlegen muss, und auch anders als in der künst­ lerischen Forschung in anderen Kunstsparten, wird in tanzkünstlerischer Forschung vor allem das über den Körper generierte und beglaubigte Material als evidenzerzeugend erachtet und als authentisch beglaubigt. Wie bei der Weitergabe von Stücken werden auch hier die körperliche Demonstration und der körperliche Nachvollzug, das „embodiment“, sowie die Reaktion der Zeitzeug:innen, die „kinetic response“, als die wichtigsten Erinnerungs-, Verständigungsund Dokumentationsmedien angesehen. Anders gesprochen: Die Authentifizierungsstrategie des in Archiven niedergelegten historischen Materials bedarf in diesem tanzkünstlerischem Forschungsprojekt der unmittelbaren körperlichen Her- und Darstellung. Der körperliche Nachvollzug ist es, der das Archivmaterial performativ beglaubigt und auf diese Weise evidenzerzeugend wirkt. Insofern ist der Prozess der künstlerischen Aktualisierung von Tanzgeschichte und der Erzeugung eines historischen Wissens als ein offener, Geschichten schichtender und immer neu auszuhandelnder Prozess zu verstehen, der, wie in „The Source Code“, von der ersten Projektidee und den Vorrecherchen bis zur Arbeit mit Tänzer:innen unterschiedlicher Generationen reicht.25 Fotografische Aufnahmen haben hierbei einen besonderen Stellenwert. Sie dienen als Insignien der Übersetzung in der Überlieferungskette: Das Historische sekundiert das Zeitgenössische, das Fotobild beglaubigt das im Tanzstudio über Körperpraktiken initiierte dialogische Erinnern, das selbst nur in kurzen Ausschnitten auf der Webseite dokumentiert ist.26

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27 Hanna Järvinen entwickelt diesen subjektivierten Zugang zu Tanz­geschichte in Järvinen, Hanna: „Corporeal Memories: A Historian’s Practice“, in: Choreography and Corporeality. Relay in Motion, hg. v. Thomas F. DeFrantz u. Philipa Rothfield, London: Palgrave Macmillan 2016, 247–259.

Zudem wäre es auch verkürzt, eine orale und körperbezogene Forschung als einen rein interkorporalen Akt zu verstehen, bei dem allein die körperliche Weitergabe einen Anspruch auf Authentizität erheben könnte. Vielmehr ist auch hier die Weitergabe mit dem Prozess des medialen Übersetzens eng verflochten: Gespräche und auch die Zeiten im Studio mit ihren Proben- und Korrekturvorgängen werden per Audio oder Video aufgezeichnet und fotografisch festgehalten und ergänzen so wiederum das Materialkorpus – dies in Form von Standbildern und fotografischen Dokumenten. Foto­g rafien sind somit vor allem plural konfiguriert. Sie kommentieren sich wechselseitig, um die Prozesse der Überlieferung und des Erinnerns ‚am Laufen zu halten‘ und machen sie so historiografisch fruchtbar. In ihren pluralen Konfigurationen enthalten sie ein Kontingenzversprechen zu immer neuen Sicht- und Wahrnehmungsweisen des Materials. Das auf diese Weise gesammelte, generierte und genutzte Wissen ist somit einerseits ein historisches Wissen, das eng mit Erinnerungskulturen verknüpft ist und sich in der künstlerischen Tanzforschung in den Körpern als „lebendigen Archiven“ materialisiert. Zum anderen speist sich dieses nicht nur aus verschiedenen Medien und Materialien, sondern ist ein Netzwerk von Geschichten, welches aus Dokumenten, Dialogen und körperlichen Erfahrungen, analogen und digitalen Bildwelten geflochten ist. Es bedarf der performativen, hier im tänzerischen Nachvollzug durchgeführten Beglaubigung, die wiederum fotografisch und in Bewegtbildern festgehalten ist.27 3. Die Darstellung:

Es gehörte zum Kernkonzept des Pro-

Die Webseite

jektes der „Non-Reconstruction“, den

als Aufführung

Rechercheprozess und Probenverlauf auf einer Webseite abzubilden und

keine Aufführung eines rekonstruierten Stückes anzustreben. Nach Abschluss der Recherche-, Dokumentations- und Probenarbeit wurde daher zur Präsentation des gesammelten und generierten Materials die digitale Domain www.thesourcecode.de entworfen. Sie setzt die vielschichtigen, mehrdeutigen und widersprüchlichen Aneignungsprozesse eines historischen Stücks durch das Publikum mit Hilfe einer digitalen Medientechnik in Szene: By accessing rehearsal footage, interviews, photos, letters and other testimonies, I invite the online audience to make

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28 http://www. thesourcecode.de/index. html (zuletzt geprüft 05.01.2022)

their own version of the 60-year-old dance piece. The recre-

29 Die Themenfelder sind: Madame, Lines of Lineage, The Non-Reconstruction, Constantly Moving, This Beautiful Cultural Desert, Bodenwieser Embodied, Inside the Maze, Expressive Communication, Refugee Alien, Companionship.

of the website mirrors the structure of that process – it’s a

30 Vgl. hierzu auch Salter, Andrea: „Reading time backwards? Archival research and temporal order“, in: The Archive Project, hg. v. Niamh Moore, Andrea Salter, Liz Stanley u. Maria Tamboukou, London: Routledge 2017, 100–125. 31 http://www. thesourcecode.de/ bodenwieser-embodied. html#demon-machine (zuletzt geprüft 05.01.2022).

ation process was full of errors, contradiction, analogies, theories, assumptions and interpretations. The structure complex web of references, comparisons and links.28 Die thematische Strukturierung der Webseite übersetzt die Materialität und Örtlichkeit des analogen Archivs in die Medialität und Räumlichkeit des Digitalen. Denn die Webseite ist von den Kisten und Behältnissen mit Archivmaterial zu Bodenwieser inspiriert, welche die Zeitzeug:innen in ihren privaten Beständen verwahren und dem Team im Projektverlauf zugänglich gemacht haben. Es gibt im seitlichen Menü der Webseite zehn farblich unterschiedlich markierte Buttons, die den zehn Themenfeldern der Webseite entsprechen.29 Klickt man auf einen dieser Buttons, erscheint als Hintergrundbild eine dieser Archivboxen. Auf diesem Hintergrundbild sind je Kapitel zwölf Elemente angeordnet, die sich auf unterschiedliche Aspekte des Forschungsprozesses, der Recherche und des Dialogs mit den Projektbeteiligten beziehen. Es sind Archiv­ dokumente unterschiedlichen Ursprungs und unterschiedlicher Materialität und Medialität, die den Kontext und das Anliegen des Projektes erzählen.

Abb. 3 ► Abb. 4 ►► Die Webseite verwendet jedes Dokument nur einmal, behandelt es also als ein Unikat. Jedes einzelne Dokument ist verlinkt mit anderen, thematisch verwandten oder inhaltlich ergänzenden Dokumenten in anderen Kapiteln / Boxen. So wird die wechselseitige Kommentierung des Archivs durch die dynamische Ordnung des Archivs selbst sichtbar. Dies ist zugleich ein Verweis darauf, dass Material durch anderes Material validiert, konterkariert, komplettiert oder neu- und umgedeutet wird.30 Die Zuordnung der einzelnen Dokumente zu den jewei­ligen Themenfeldern ist dabei nicht chronologisch oder biografisch organisiert. So erscheint unter der Rubrik „Bodenwieser Embodied“31 beispielsweise ein (undatiertes) Szenenfoto von Bodenwiesers Choreografie Dämon Maschine (1924), die sie noch in Österreich entwickelt hatte. Das Stück war viele Jahre im Repertoire der Bodenwieser-Tanzgruppe und hatte beim Internationalen

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32 Vgl. Veroli, Patrizia: „Le concours chorégra­ phique de 1932“, in: Les Archives internationales de la danse 1931 à 1952, hg. v. Inge Baxmann; Claire Rousier u. Patrizia Veroli, Pantin: Centre national de la danse 2006, 66–85, hier 74. Vgl. Grayburn, Patricia (Hg.): Gertrud Bodenwieser, 1890–1959: A Celebratory Monograph on the 100th Anniversary of her Birth, Guildford: Commercial Press 1990. 33 Vgl. Gedächtnisprotokoll von Emmy Steininger-Towsey im Kapitel „Refugee Alien“, http:// www.thesourcecode.de/ refugee-alien.html#emigration-of-gertrud-bodenwieser?page=1 (zuletzt geprüft 05.01.2022). 34 „By enabling the commentary function, the user can follow the thematic links I chose for the re-creation of the dance. When finishing the navigation through the online archive, a pdf map of the individual research is generated.“ http://www.thesourcecode. de/index.html (zuletzt geprüft 05.01.2022).

S c r e e n s h o t v o n K a p i t e l 7, I n s i d e T h e M a z e , D i g i t a l f o t o v o n A l a i n R o u x , w w w. t h e s o u r c e c o d e . d e , g e s t a l t e t v o n C l a u d i a H e y n e n .

Choreografiewettbewerb von Paris 1932 eine von sieben verliehenen Bronzemedaillen gewonnen.32 Dämon Maschine hat zudem einen wichtigen biografischen Bezug: Das Werk war Teil eines Revueprogramms, mit dem Bodenwieser und ihre Tanzgruppe 1939 das Einreisevisum nach Australien erhielten, wie auf der rückseitigen Beschriftung des Dokuments angemerkt ist.33 Dieser Zusammenhang wird auch im Kapitel „Bodenwieser Embodied“ hergestellt, wo ebenfalls ein Foto von Dämon Maschine zu sehen ist. Die Verbindung zwischen beiden Dokumenten erfolgt über die so genannte „commentary function“, wie der Einführungstext erläutert. 34 Ist diese Kommentarfunktion aktiviert, erscheinen auf dem betreffenden Dokument farbige Punkte oder Linien, die auf andere auf die Webseite platzierte Quellen verweisen. Auch hier veranschaulicht die Webseite die Gleichzeitigkeiten von historischen und zeitgenössischen Dokumenten in der Aneignung des choreografischen Materials. Bilder werden zur beglaubigenden Instanz auf unterschiedlichen Ebenen: der historischen Rekonstruktion, des historiografischen Nachvollzugs, der kommunikativen Annäherung und der gegenwartsbezogenen Übersetzung von Geschichte. Doch behalten sie immer auch ihre Singularität als visuelles Artefakt.

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Screenshot von Kapitel 3, The Non-Reconstruction, Digitalfoto von Alain Roux, w w w. t h e s o u r c e c o d e . d e , g e s t a l t e t v o n C l a u d i a H e y n e n .

4. Geschichts­-

Ähnlich wie die Kapitel in keiner

konzept des

linearen Zeitordnung organisiert

Projektes

sind, folgen die Beschriftungen der Quellen nicht einer klaren Ordnung:

So sind beispielsweise Datierungen eher die Ausnahme als die Regel. Auch Angaben zu den abgebildeten Personen erfolgen nur partiell. Allerdings haben die Bilder (z. B. Filmstills aus aufgezeichneten Gesprächen, Aufführungs- und Szenenfotos) auch die Funktion eines Stand-In. Man muss sie anklicken, um beispielsweise den Filmausschnitt zu betrachten, das Foto in vergrößerter Ansicht gezeigt zu bekommen oder mit der „flip“-Funktion die rückseitige Beschriftung zu lesen. Auf diese Weise verbinden sich alle zwölf Elemente eines jeden Kapitels zu einem assoziativ angelegten, dokumentarischen Geschichtsraum, der den untersuchten historischen Ausschnitt und dessen zeitgenössische Aneignung im Rahmen des Projektes „The Source Code“ abbildet. Der Untertitel Errand into Maze, Bodenwiesers Stücktitel (und 1947 bereits Titel eines Tanzstückes von Martha Graham), verweist somit zugleich auf die – hier digital erzeugten – Möglichkeiten der Durchdringung und Aneignung von Tanz-Geschichte(n) einschließlich der damit verbundenen Irrwege und falschen Fährten. Die auf die Webseite platzierten Bilder dienen nicht dazu, ein klassisches Geschichtskonzept zu verfolgen, das beabsichtigt, Geschichte möglichst echt, authentisch, vollständig und faktenreich zu rekonstruieren und darzustellen.

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Gabriele Klein Franz Anton Cramer

35 Es handelt sich dabei um The New Dance, 1960 im Selbstverlag herausgegeben von Bodenwiesers Schülerin Marie Cuckson. 36 http://www.the sourcecode.de/lines-oflineage.html#the-newdance?page=1 (zuletzt geprüft 11.07.2021). 37 Roller I2, 0:32:35–0:32:59.

Vielmehr zeichnet sich die Webseite durch das assoziative Nebeneinander von Bild- wie Textdokumenten aus und schafft auf diese Weise einen offenen Bedeutungsraum, in dem sich unterschiedliche Sichtweisen und somit auch unterschiedliche Geschichte(n) generieren lassen. Nicht die eine Geschichte, sondern, gemäß dem archivischen Prinzip der Re-Lektüren, eine momentane, eher prozesshaft oder vorübergehend zu denkende Form von Geschichte(n) sollen hier entstehen. Damit spielen jedoch Gütekriterien qualitativer Forschung wie Validität des Materials, Quellenstudium oder intersubjektive Überprüfbarkeit eine geringe Rolle. Anders als in historischer (Tanz-)Forschung geht es in diesem künstlerischen Projekt darum, die Praktiken der Aneignung der über Medien und Materialien überlieferten Geschichten sowie die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des historischen Übersetzungsprozesses, der sich zwischen analogen und digitalen Formaten bewegt, digital auf der Webseite zu erzeugen. Hierbei entsteht eine Analogie zwischen dem Kontingenzversprechen einer pluralen Bedeutungskonstellation der Bilder und der Bezugnahme auf einzelne Objekte, die oft ungenau beschrieben oder nur vage erklärt sind und damit einer unbestimmten Lesart über­ lassen bleiben. So ist im Kapitel „Lines of Lineage“ eine Druckseite aus einem Buch35 hochgeladen, die mit der unpräzisen Angabe „Book written by Gertrud Bodenwieser and published in 1960“36 beschrieben ist. Nicht die akademische Norm der Quellenangabe, sondern allein der Hinweis auf die Existenz eines Buches dient hier als – eher symbolisch gesetzter – Nachweis. Die Webseite setzt mithin gar nicht auf dokumentarische Genauigkeit, sondern spielt mit der Komplementarität der Erinnerungsformen, etwa über das Zusammenspiel von Video-, Audio- oder Schriftdokumenten sowie den körperlichen Nachvollzug. Dieses lose, netzwerkartige Zusammenspiel ermöglicht es, anstelle der Behauptung einer linearen, homogenen und eindeutigen Geschichte der Viel-Schichtigkeit von Geschichten und Materialien und der immerwährenden Vorläufigkeit archivischer Evidenz gerecht zu werden. In dieser assoziativen Auswahl und Anordnung liegt auch eine eine choreografische Dimension: „Die verschiedenen Medien zu mischen, weil die natürlich auch alle auf eine andere Weise funktionieren […] so hat ja eben jedes Medium seine unterschiedliche Textur. Und ich finde, dass das auch so eine Art von Choreografie ist, diese Texturen miteinander zu verweben.“37

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38 Vergleiche hierzu die Hinweise von Andrea Keiz in ihrem Impulsvortrag zur Diskussionsrunde „Tanz in Bildern: Archivarische und historiografische Praktiken“ am 30.01.2021 im Rahmen der Videokonferenz „Tanz in Bildern. Plurale Konstellationen der Fotografie“, Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig, 28.–30.01.2021, https://vimeo.com/ 506800074/775d7574b7, Min. 0:00–8:40 (zuletzt geprüft 05.01.2022) 39 Roller I2, 0:49:11.

Schließlich sind die Dokumente auf der Webseite sämtlich der Bild­ ebene zuzuschreiben, denn sowohl Schriftgut wie Fotomaterial und auch Film- und Videomaterial sind nicht in ihrer materialen Beschaffenheit (Fotopapier, Videokassette u. ä.), sondern in der digitalen Übertragung in ein elektronisches und immaterielles Bildformat sichtbar. Hinzu kommen Zeugnisse, die nur als Tonspur bzw. Audioaufzeichnung vorhanden und verwendet worden sind. Aber auch diese Quellen sind auf Bildmodulen hinterlegt. Insofern wurde der mediale Status aller Dokumente an die digitale Bild­ ästhetik der Webseite angepasst. Sie sind sämtlich zu digitalen Bildern geworden die, wie analoge Fotografien auch, eine räumliche Situation in ein zweidimensionales Bildformat übersetzen, ohne dabei aber haptisch verfügbar zu sein. Diese Konfiguration verweist auf die Problematik des digitalen Zugriffs und den Prozess der Entmaterialisierung und der Zweidimensionalität, wie sie die Archiv­ arbeit seit etwa zwei Jahrzehnten radikal verändern. Zugleich aber variieren diese bildgewordenen Dokumente in ihrem historiografischen Aussagewert und in ihrer quellenkritischen Komplexität. Obgleich sich also durch die mediale Übersetzung in die gewählte digitale Darstellungsweise der Bildstatus über praktisch alle verwendeten Quellen gelegt hat, blieb das Bildliche im künstlerischen Prozess zugunsten des körperlichen Nachvollzugs nachgeordnet. Zwar wurden Bildmaterialien von den Arbeitsprozessen erstellt, die vor allem die konkreten Erinnerungs- und Aneignungsvorgänge, aber auch die beständige Interaktion zwischen den Akteur:innen des Projektes illustrieren. Aber die Webseite verknüpft diese selbst generierten Fotos mit historischen Bilddokumenten von Bodenwieser, ihrem Leben und ihrer Arbeitsweise. Aufgrund dieser Verknüpfung wird ein neuer gegenwartsbezogener Prozess der Erschließung des historischen Bildmaterials ermöglicht.38 5. Zusammenfassung:

Der grundlegende Ansatz des

Künstlerische

Projektes verfolgte zwei Stoß-

historische Forschung

richtungen: Zum einen Tanzgeschichte nicht über ein Werk und

dessen aktualisierte Aufführung zu rekonstruieren, sondern über einen kommunikativen und dialogischen Prozess der Weitergabe neu zu erzeugen. Zweitens galt das Interesse der individuellen Perspektive bzw. dem „petit récit“39. Es ging bei der „Re-Creation“, und hier sowohl in der Erhebungsphase als auch bei der Konzeption der

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Gabriele Klein Franz Anton Cramer

40 Assmann, Aleida: „Der Körper als Medium des individuellen, kollektiven und kulturellen Gedächt­nisses“, in: Journal der Künste 12, Berlin 2020, 12–17.

Webseite, um die Herstellung des historischen Abstands zwischen dem beforschten Gegenstand und dem zeitgenössischen künstlerischen Zugang dazu. Das Projekt „The Source Code“ hat „oral history“ in Relation zur geschriebenen, schrift- und bildbasierten, quellen­ gestützten Geschichtsschreibung gesetzt und als wichtigeres Verfahren behauptet. Hierzu gehörte nicht nur der Verzicht auf die Musik als Mittel der ästhetischen Distanzierung, sondern auch, die vier mitwirkenden Tänzer:innen in Bezug auf Gender, Körperbau und ethnischen Hintergrund im Gegensatz zur all white Original­ besetzung von Errand into the Maze von 1954 auszusuchen. Dieses Auswahlkriterium der Diversität war eine Art Stilmittel sowohl zur historischen und politischen Distanzierung wie auch zur Entstehung eines inhaltlichen und ästhetischen Mehrwerts: Die Diversität der künstlerischen Mitarbeiter:innen geht zurück auf das Konzept der fragmentierten Geschichte und auf die Reflexionen zum Gegenstand der Recherche, in diesem Fall Bodenwiesers Migrationsgeschichte und ihre Erfahrungen von Antisemitismus, Ausgrenzung, Rassismus und Anpassung an eine neue Umgebung. Der Begriff der Bewegung wird hier übersetzt in historische, politische und soziale Dimensio­ nen. Diese Bezugnahme wird als biografisch-subjektiver Hintergrund auf der Webseite in Interviews mit den Projektbeteiligten dokumentiert. Allerdings bezieht sich diese sozialhistorische Reflexion von Antisemitismus, Ausgrenzung, Rassismus und Anpassung nur auf die ausgewählten vier Tänzer:innen/Choreograf:innen, nicht aber die Selbstpositionierung des aus Deutschland stammenden Projektteams Roller, Keiz und Nehring oder auf die Rolle der deutschen Kulturstiftung des Bundes, die dieses Projekt gefördert hatte. Archivbestände, so zeigt „The Source Code“, sind die materiale, bestandshaltende Seite der Erinnerungsarbeit; Re-Lektüre und Re-Inkorporierung von Bewegungen, deren Aktualisierung und Erneuerung sind die performativen Dimensionen, die für eine tanzhistorische künstlerische Forschung elementar sind. „Das kulturelle Gedächtnis ist wie das individuelle Gedächtnis […] auf externe Anstöße oder ‚trigger‘ angewiesen“40, schreibt Aleida Assmann. Die Choreografie Errand into the Maze fungiert hierbei wie ein kollektiver Speicher verkörperten Wissens, auf den andere Generationen, Gruppen und Individuen zugreifen, an dem sie teilhaben, den sie neu sehen, fühlen, formen, aufführen, inszenieren, kurz: der in neuen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten mit neuen Fragen reaktiviert, recreiert oder reenactet wird. Recreation meint

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41 Vgl. hierzu u. a. Nagel, Stefanie: „Living History. Ein Fenster zur Geschichte“, in: Geschichtskultur im Unterricht, hg. v. Vadim Oswalt u. Hans-Jürgen Pandel, Frankfurt/M.: Wochenschau 2020, 534–564. 42 Vgl. Baldacci, Christina: „Reenactment. ‚Umherirrende‘ Bilder in der zeitgenössischen Kunst“, in: Re-: An Errant Glossary, hg. v. Christoph F. E. Holzhey u. Arnd Wedemeyer, Berlin: ICI Berlin Press 2019, 57–67. 43 Vgl. Bolter, Jay D. u. Grusin, Richard A.: Remediation. Under­ standing New Media, Cambridge, Massachussetts: MIT Press 1999.

hier nicht, wie in der „Living History“41, eine Nachstellung historischer Ereignisse, sondern eine künstlerische Strategie und kritische Methode.42 Diese Praxis des Recreierens ist in „The Source Code“ eng mit Remediation43 im Sinne von Bolter und Grusin verbunden, insofern als ein Übersetzungsakt medialer Neugestaltung vollzogen wird. Es ist ein Übersetzungsakt, der nicht als Verlust der nicht mehr zu belebenden Tanzgeschichte zu verstehen ist, sondern einen Mehrwert erzeugt, indem in der medialen Neugestaltung etwas neu zu sehen und zu verstehen, Historisches neu einzubetten und zu ordnen erlaubt.44 Fotografien spielen hier zwar eine wichtige, aber keine entscheidende Rolle. Sie waren Trigger für eine künstlerische Aneignung von historischem Bewegungsmaterial, die vor allem in einem embodiment, in der Übersetzung von bildlichen Informatio­ nen in körperliche Erfahrung und tänzerische Sprache erfolgte. Damit ist auch die Frage nach der Tanzaufführung als dem (vermeintlichen) Original oder dem Bilddokument als Unikat

44 Zur Übersetzungs­ theorie im Tanz vgl. Klein, Gabriele: Pina Bausch und das Tanztheater. Die Kunst des Übersetzens, Bielefeld: transcript 2019, 342–395.

gestellt – und auch vom Projekt beantwortet worden. So kann die

45 Roller I2, 1:03:43.

Denn wie wäre ein Original zu definieren und festzumachen? „Also

46 Roller I2, 1:03:54.

das kann man, glaube ich, nicht beantworten“45, sagt Roller. „Also

47 Roller I2, 1:03:57.

natürlich ist es im streng genommenen Sinne – ist es nicht das

48 Benjamin, Walter: „Die Aufgabe des Übersetzers“, in: Illuminationen, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, 50–62.

Authentifizierung als Original tanzhistorisch evident und tanzwissenschaftlich relevant sein, aber für eine tanzkünstlerische Forschung war sie, zumindest in „The Source Code“, wenig hilfreich.

Original, aber was ist es dann?“46 Für den Recreationsprozess sei es auch eine wenig produktive Frage: „Und vor allem: Was nützt einem die Frage? Also es ist ja klar, das Original ist das, was damals war.“47 Doch selbst dies ist nicht so eindeutig, denn diese Annahme ist eine Setzung, die, wie Walter Benjamin bereits konstatierte, erst retrospektiv erfolgt.48 So lässt sich an ein vermeintliches histori­ sches Original der Choreografie nicht anknüpfen. Vielmehr wird es erst in der Auseinandersetzung mit dem historischen Material konturiert. Insofern ist in „The Source Code“ die tanzkünstlerische Forschung als ein Prozess der Begegnung beschreibbar mit all seinen Momenten der Annäherung und Distanzierung, der Einverleibung und Befremdung – und dies körperlich, emotional, intellektuell und dokumentarisch. In diesem vielschichtigen spannungsgeladenen Forschungsprozess entsteht etwas Neues, ein neues Original. Das Original ist damit nichts Essentielles, Gegebenes, Vorhandenes, sondern ein in Diskursen erzeugtes Artefakt, das auf seine Weise – durch die Spezifik im Umgang mit Geschichte(n)

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Gabriele Klein Franz Anton Cramer

an einem bestimmten Ort mit bestimmten Menschen – orts- und zeitgebunden ist und die geschichtstheoretisch strikte Trennung von Vergangenheit und Gegenwart auflöst — ein neues Original, so zeigt „The Source Code“, ist das einzig mögliche Original, das hier im Gegensatz zum Modell eines auktorialen Werk-Gefüges mit all seinen auratischen und imaginierten Aufladungen positioniert wird. „The Source Code“ präsentiert ein zeitgenössisches Ge­ schichtsverständnis im performativen Vollzug. So wie auch das Bewegtbild-Dokument von Errand into the Maze nicht die Erstaufführung abbildet, sondern im doppelten Sinn eine Übersetzung vollführt: tanz- und bühnenästhetisch wie medial. Die von dem Projektteam gewählte künstlerische Strategie der Non-Reconstruction ist somit bereits in dieser filmischen „Dokumentation“ umgesetzt worden. Insofern als die filmische Aufzeichnung kein Quellcode erster Ordnung ist, da sie das Bühnenstück Errand into the Maze nicht „originalgetreu“ abbildet, ist sie auch als Vorlage für eine historische Rekonstruktion des Bühnenstücks ungeeignet. Eine Rekonstruktion von Errand into the Maze ist in „The Source Code“ konsequenterweise auch gar nicht erst versucht worden. Vielmehr ist die Frage nach dem Quelltext im künstlerischen Forschungsprozess und dessen digitale Aufbereitung auf der Webseite reflektiert, indem die Frage nach der Relevanz von Quellen gestellt und das Augenmerk auf die Diversität und Komplementarität der Erinnerungsformen und deren mediale Besonderheit gelegt wird. Entsprechend sucht „The Source Code“ in den Bildern nicht nur Aussagen über Stücke, sondern zeichnet deren Fortleben in Medien, Materialitäten und Körpern nach. Bilder von Bewegung sind demnach nicht als reine Zeugnisse eines vorgängigen tänzerischen Ereignisses zu verstehen, sondern sie unterliegen vielfachen Übersetzungsprozessen, die weit über ein dokumentarisches Verhältnis von Bewegung und Bild hinausgehen. Bilder von Bewegung tauchen in „The Source Code“ als Abbilder von schriftlichen Quellen, als Aufnahmen von Proben- und Arbeitssituationen der Produktion, als Digitalisate analoger Fotografien und nicht zuletzt als Filmbilder auf. Sie beruhen auf komplexen, geschichteten und zukunftsoffenen Übersetzungen zwischen Körpern, Medien und Materialitäten und deren Wahrnehmung und Deutung. Sie sind selbst prozesshaft, beweglich und wandelbar, ebenso wie die Archive, aus denen sie stammen, in die sie zurückkehren und diese damit auch umgestalten.

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The Source Code. Künstlerische Forschung als Ü b e r s e t z u n g v o n Ta n z g e s c h i c h t e i n d i g i t a l e B i l d w e l t e n

Die Autorinnen und Autoren

Gabriele

ist Professorin für Theater- und Tanzwissen-

Brandstetter

schaft an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte sind Geschichte und Ästhetik von Tanz, Theater und Literatur vom

18. Jh. bis zur Gegenwart, Studien zur Theorie und Geschichte der Tanzmoderne (Tanz-Lektüren: Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/M. 1995, 2. erw. Aufl., Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2013), Virtuosität in Kunst und Kultur sowie die Beziehung von Körper, Bild und Bewegung. In ihren jüngeren Publika­ tionen beschäftigt sie sich mit politischen und ästhetischen Fragen zu Tanz, Choreographie und Performance sowie mit Fragen von Grenzüberschreitungen, Migration und Decolonizing Dance (u. a.: Moving (Across) Borders. Performing Translation, Intervention, Participation, hg. gem. mit Holger Hartung, Bielefeld 2017). Costanza

leitet seit 2006 die Photothek des Kunsthistori-

Caraffa

schen Instituts in Florenz – Max-Planck-Institut und war 2015 bis 2018 Koordinatorin des Verbundprojekts Foto-Objekte. Sie initiierte 2009

mit internationalen Partnern die Tagungsreihe Photo Archives (London und Florenz 2009, New York 2011, Florenz 2011, Los Angeles 2016, Oxford 2017, Florenz 2019, Basel 2022). Zu den von ihr herausgegebenen Bänden gehören Photo Archives and the Photographic Memory of Art History (München 2011), Foto-Objekte. Forschen in archäologischen, ethnologischen und kunsthistorischen Archiven (gem. mit u. a. Julia Bärnighausen u. Stefanie Klamm, Bielefeld/ Berlin 2020) und On Alinari: Archive in Transition (Mailand 2021). Franz

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt

Anton

„Choreographies of Archiving. A Cross-Cultural

Cramer

Study of Archiving Practices in Contemporary Dance“ (Projektleitung Gabriele Klein) im Rah-

men des Exzellenzclusters „Understanding Written Artefacts“ an der Universität Hamburg. Zuvor war er im Leitungsteam des Forschungsprojekts „Border-Dancing Across Time: the (forgotten) Parisian choreographer Nyota Inyoka, her oeuvre, and questions of choreographing créolité“ an der Paris Lodron-Universität Salzburg; von 2007 bis 2013 Fellow am Collège international de philosophie zu Paris. Ausgewählte Publikationen: In aller Freiheit. Tanz­ kultur in Frankreich zwischen 1930 und 1950 (Berlin 2008), Fluid

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Die Autorinnen und Autoren

Access. Archiving Performance-Based Arts (hg. gem. mit Barbara Büscher, Hildesheim 2017). Vgl. w ww.csmc.uni-hamburg.de/about/ people/people-list/cramer.html. Melanie

ist seit 2018 wissenschaftliche Mitarbeiterin am

Gruß

Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und am Tanzarchiv Leipzig e. V. Sie studierte Theaterwissenschaft, Psychologie und All-

gemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Leipzig und Paris. Mit der Dissertation Synästhesie als Diskurs. Sehnsuchts- und Denkfigur zwischen Kunst, Medien und Wissenschaft promovierte sie 2015, unterstützt durch ein Stipendium des Freistaates Sachsen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Theater-, Tanz- und Kulturgeschichte der Moderne, Verknüpfungen von Bewegungs- und Wissenskulturen sowie Schnittstellen zwischen den Künsten, Medien und Wissenschaften. Neben der Lehre am Institut für Theaterwissenschaft ist sie in diverse Projekte eingebunden (NFDI4culture, Tanz digital) und arbeitet an einem eigenen Forschungsthema zur Geschichte des Tanzarchivs Leipzig und der Tanzforschung in der DDR.  Helene

ist seit 2018 Archivarin im Archiv Darstellende

Herold

Kunst der Akademie der Künste, Berlin, wo sie für die Tanzbestände – insbesondere von Mary Wigman, Gret Palucca, Valeska Gert aber auch

Johann Kresnik, Gerhard Bohner, Susanne Linke, Reinhild Hoffmann und Arila Siegert – zuständig ist. Nach dem abgeschlossenen Magisterstudium der Geschichte und der Germanistik absolvierte sie an der Fachhochschule Potsdam das Bachelorstudium „Archiv“, das sie mit einer Arbeit zum Thema Theaterarchive abschloss.   Gabriele

ist Professorin für Soziologie der Bewegung und

Klein

Performance Studies an der Universität Hamburg und Special Professor for Ballet and Dance (Hans van Manen-Chair) an der Universität Amster-

dam. Ausgewählte Publikationen: Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie (Wiesbaden 2004); Is this real? Die Kultur des HipHop (hg. gem. mit M. Friedrich, Frankfurt a.M/2003); Choreografischer Bau­ kasten (hg., Bielefeld 2011); Dance (and) Theory (hg. gem. mit G. Brandstetter, Bielefeld 2013); Pina Bausch und das Tanztheater. Die Kunst des Übersetzens (Bielefeld 2019). Vgl. http://uhh.de/pb-gklein.

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Armin

ist ein in Berlin lebender Fotograf und Filmema-

Linke 

cher. Er war Forschungsmitglied am MIT Visual Arts Program Cambridge, Gastprofessor an der IUAV Arts and Design University in Venedig und

Professor für Fotografie an der Hochschule für Kunst und Design Karlsruhe. Seine künstlerische Praxis befasst sich mit verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit fotografischen Archiven und ihren jeweiligen Erscheinungsformen sowie mit den Wechselbeziehungen und transformativen Kräften zwischen urbanen, architektonischen oder räumlichen Funktionen und den Menschen, die mit diesen Umgebungen interagieren. Derzeit ist Armin Linke Gastprofessor an der ISIA, Urbino (IT) und Artist in Residence am Kunsthistorischen Institut in Florenz – Max-Planck-Institut.   Anja

studierte Kunstgeschichte und Philosophie in

Pawel

Braunschweig und Berlin. Sie war Stipendiatin der „Kollegforschergruppe Bildakt und Verkörperung“ und des Exzellenzclusters „Bild Wissen

Gestaltung. Ein interdisziplinäres Labor“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2019 Publikation der Dissertation „Abstraktion und Ausdruck. Bildende Kunst und Tanz im frühen 20. Jahrhundert“ bei De Gruyter. 2018 bis 2021 wissenschaftliche Museumsassistentin (i. F.) zunächst in der Neuen Nationalgalerie und dann in der Alten Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin. Zurzeit editorische Arbeit an dem Katalog der ausgestellten Werke der Alten Nationalgalerie.  Frank-

leitet seit 1986 das Deutsche Tanzarchiv Köln. Er

Manuel

war Kurator oder Mitkurator von vielen der seit-

Peter

dem über 100 Ausstellungen des Archivs und ist Autor, Co-Autor, Herausgeber, Co-Herausgeber

oder »stiller« (dienstlicher) Herausgeber von bisher 35  tanzhistorischen Monografien und drei CD-ROMS (https://www.deutschestanzarchiv.de/archiv/publikationen/). Er lehrt zudem seit 2005 im Fach Tanzwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln und ist ehrenamtlich als Vorstands- oder Ratsmitglied in mehreren Stiftungen tätig. 2022 wird eine Monografie von ihm zum Thema „Oskar Schlemmer und der Tanz“ im Wienand Verlag erscheinen.

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Die Autorinnen und Autoren

Patrick

ist Professor am Institut für Theaterwissen-

Primavesi

schaft der Universität Leipzig, das er seit 2017 als geschäftsführender Direktor leitet. Er ist im Vorstand des Tanzarchiv Leipzig e. V. und Stell-

vertretender Direktor des Centre of Competence for Theatre (CCT). Gemeinsam mit Franziska Voss (FID Performing Arts) leitet er die 2016 in der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (gtw) gegründete AG ARCHIV. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte sind Geschichte und Theorie von Theater, Tanz und Performance, Repräsentationskritik und Transkulturalität, Öffentlichkeit und Bewegung im urbanen Raum, Archive in digitalen Umgebungen. Zum Thema Bewegungschöre und Körperpolitik im modernen Tanz bereitet er derzeit (mit der Gruppe LIGNA) eine umfangreiche Quellenedition vor. Lucia

ist Professorin für Tanzwissenschaft an der

Ruprecht 

Freien Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen befassen sich u. a. mit Kulturen des Gestischen, mit Tanz in der Literatur, der

Tanzkritik im 19. Jahrhundert und mit Virtuositätsdiskursen. Ihr neuestes Buch ist Gestural Imaginaries: Dance and Cultural The­ ory in the Early Twentieth Century (New York 2019); daneben u. a. auch Dances of the Self in Heinrich von Kleist, E. T. A. Hoffmann and Heinrich Heine (Abingdon 2006), New German Dance Studies (hg. gem. mit Susan Manning, Urbana 2012) und Towards an Ethics of Gesture (hg., Special Section of Performance Philosophy 3/1, 2017). Katja

ist Professorin für Tanzwissenschaft  an der

Schneider

Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Von 2004 bis 2019 lehrte sie am Institut für Theaterwissenschaft

der Ludwig-Maximilians-Universität München, dem sie auch als wissenschaftliche Mitarbeiterin angehörte. Sie habilitierte sich 2013 mit der Schrift Tanz und Text. Figurationen von Sprache und Bewegung, München 2016. Als Redakteurin arbeitete sie für die Fachmagazine tanzdrama, tanzjournal und tanz (1992–2012), als Dramaturgin ist sie für das Münchner Festival „Dance“ tätig.

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Janine

Studium und Promotion am Institut für Ange-

Schulze-

wandte Theaterwissenschaft, Universität Gie-

Fellmann

ßen. 1995 bis 1997 Doktorandenstipendium Graduiertenkolleg „Geschlechterdifferenz und

Literatur“ an der Ludwig Maximillians Universität München. 1997 Promotion an der Universität Gießen, Thema: Dancing Bodies Dancing Gender – Tanz im 20. Jahrhundert aus der Perspektive der Gender-Theorie. 1998 bis 2000 Postdoc-Stipendium Graduiertenkolleg „Theater als Paradigma der Moderne“, an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit 1998 lehrt sie Tanzwissenschaft, -theorie und -geschichte an unterschiedlichen Hochschulen sowie seit 2000 an der Universität Leipzig. April 2000 bis Dezember 2011 wissenschaftliche Geschäftsführerin Tanzarchiv Leipzig e. V. Seit WS 2012/13 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theaterwissenschaft und im Studienbüro der Fakultät Geschichte, Kunst- und Regionalwissenschaften an der Universität Leipzig. Gerald

ist Professor für Angewandte Theaterwissen-

Siegmund

schaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er studierte Theaterwissenschaft, Anglistik und Romanistik an der Goethe-Universität in Frank-

furt am Main, Habilitation 2005 an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit der Publikation. Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes (Bielefeld 2006). Gerald Siegmund ist Mitglied der dezentralen Forschungsgruppe der DFG FOR 2734 „Krisengefüge der Künste“ (www.krisengefuege.theaterwissenschaft.unimuenchen.de). Seine Schwerpunkte sind das Gegenwartstheater und der zeitgenössische Tanz, Ästhetik, Theater als Dispositiv, Gedächtnistheorien, Theatertheorien, Performance, Intermedialität. Zuletzt sind erschienen: Theater- und Tanzperformance. Eine Einführung (Hamburg 2020) und Choreographie als Kulturtechnik. Neue Perspektiven (hg. gem. mit Sabine Huschka, Berlin 2022).

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Die Autorinnen und Autoren

Eike

ist Theater- und Tanzwissenschaftler sowie

Wittrock

Dramaturg und Kurator. Seine Forschungen zur Historiografie des europäischen Bühnentanzes, Politiken des Archivs und zu queeren und exotis-

tischen Performances präsentiert er sowohl in wissenschaftlichen wie auch in künstlerischen Zusammenhängen. Nach Stationen an der Freien Universität Berlin, Kampnagel Hamburg und Universität Hildesheim ist er derzeit Senior Scientist am Zentrum für Genderforschung der Kunstuniversität Graz. Ausgewählte Publikationen: Tanzfotografie. Historiografische Reflexionen der Moderne (hg. gem. mit Tessa Jahn und Isa Wortelkamp, Bielefeld 2015), Theater* in queerem Alltag und Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre (hg. gem. mit Jenny Schrödl, Berlin 2021). Isa

ist Tanz- und Theaterwissenschaftlerin und hat

Wortelkamp

derzeit eine Heisenberg-Stelle der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institut für Theater­ wissenschaft an der Universität Leipzig inne.

Bis 2015 war sie Juniorprofessorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Dort leitete sie von 2012 bis 2014 das Forschungsprojekt Bilder von Bewegung – Tanzfotografie 1900–1920 (Deutsche Forschungsgemeinschaft) und von 2015 bis 2016 das Forschungsprojekt Writing Movement. Inbetween Practice and Theory Concerning Art and Science of Dance (VolkswagenStiftung). Ausgewählte Publikationen u. a.: Bilder von Bewegung. Tanzfotografie der Moderne (Marburg 2022); Expanded Writing. Inscriptions of Movement Between Art and Science (gem. mit Danie­la Hahn, Christina Ciupke et al, Berlin 2019); Tanzfotografie. Historio­ grafische Reflexionen der Moderne (gem. mit Tessa Jahn und Eike Wittrock, Bielefeld 2016); Sehen mit dem Stift in der Hand – die Aufführung im Schriftzug der Aufzeichnung (Freiburg i.Br. 2006).

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